1.1. Zur Periodisierung des MHD [1]

January 15, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Schreiben, Grammatik
Share Embed Donate


Short Description

Download 1.1. Zur Periodisierung des MHD [1]...

Description

MITTELHOCHDEUTSCHE GRAMMATIK

MATERIALIEN

Ass. Prof. Dr. Karin Lichtblau

WS 2006/07

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

1.

ZUR SPRACHGESCHICHTE DES MITTELHOCHDEUTSCHEN

2 / 71

3

1.1.

Zur Periodisierung des MHD

3

1.2.

Schreibung und Aussprache

3

1.3. Lautwandel AHD > MHH > NHD 1.3.1. Vom AHD zum MHD 1.3.2. Vom MHD zum NHD 1.3.3. Übungen: Sprachgeschichte

2.

MORPHOLOGIE

4 4 5 7

10

2.1. Verben 2.1.2. Schwache Verben 2.1.3. Starke Verben 2.1.4. Besondere Verben 2.1.5. Übungen: Verben

10 12 18 37 45

2.2. Substantive 2.2.1. Deklination der Substantive 2.2.2. Übungen: Substantive

49 50 53

2.3. Adjektive und Adverbien 2.3.1. Starke Deklination der Adjektive 2.3.2. Schwache Deklination der Adjektive 2.3.3. Zum Gebrauch der Adjektivformen 2.3.4. Komparation 2.3.5. Adverbien 2.3.6. Übungen: Adjektive und Adverbien

54 54 54 55 56 56 57

2.4.

58

3.

Pronomina

SYNTAX

60

3.1. Die Negation im Mhd. 3.1.1. Formen 3.1.2. Zur Negation in konjunktivischen Nebensätzen

60 60 61

3.2.

63

Zu den Genitivkonstruktionen

3.3. Eingeleitete Nebensätze 3.3.1. Mhd. Konjunktionen 3.3.2. Abhängige Sätze mit besonderer Einleitung

64 64 67

3.4. Besonderheiten der Satzfügung Sparsamkeit des Ausdrucks - Ellipsen Apokoinu Anakoluth

69 69 70 70

3.5.

71

Zum Aufbau komplexer Sätze

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

1.

3 / 71

Zur Sprachgeschichte des Mittelhochdeutschen 1.1. Zur Periodisierung des MHD 1

ALTHOCHDEUTSCH MITTELHOCHDEUTSCH Frühmittelhochdeutsch Klassisches Mittelhochdeutsch Spätmittelhochdeutsch FRÜHNEUHOCHDEUTSCH

750-1050 1050-1350 1050-1170 1170-1250 1250-1350 1350-1650

1.2. Schreibung und Aussprache Vokale und Diphtonge: Kurz- und Langvokale sind in der Aussprache deutlich zu unterscheiden! GRAPHEM

LAUTWERT

BEISPIELE

Längen: /â/, /ê/, /î/, /ô/, /û/ Lange Monophtonge: /œ/ oder /oe/ /æ/ oder /ae/ /iu/

[a:] [e:] [i:] [o:] [u:]

lân, lâzen, lêhen, mîn, an(e)bôz, mûs

lœsen maere, dorfaere iuwer, niuwe, hiuser, diutsch, diuten, tiuvel, triuwe [a] [ë/e] [i] [o] [u] jagen, sagen, lëben, loben, [ä] [ö] [ü] lobebaere, tugent, jugent, trähene, öl, künec [éi], [óu], [úo], [üe], [öu], [öi] gúote, brüeder, rüemen [ö:] [ä:] [y:] (= immer Monophtong!)

Kürzen: /a/ /ë, e/ /i/ /o/ /u/ /ä/ /ö/ /ü/ Diphtonge: /ei/, /ou/, /uo/ /üe/, /öu/, /öi/  /ie/

[íe]

líebe, íe, gíezen, míete

(= ausnahmslos Diphtong!)

Konsonanten: GRAPHEM /z/ (manchmal als Vokalen und im Auslaut

LAUTWERT /;/)

nach [s] stimmlose Spirans

/z/ Wortanfang / nach Konsonant

[ts] dentale Affrikata = nhd. [tz]

BEISPIELE ûz, daz, wazzer zuo, zît, herze

/h/ im Auslaut / in den [X] Reibelaut Verbindungen /ht/, /lh/, /rh/ (Schriftvarianten /cht/, /lch/, /rch/)

sah (aber: sëhen [sehen]), solh, durh, naht, iht, lieht, wahsen

/h/ Anlaut/Silbenanlaut vor Vokal

hûs, stahel, hœher, trähene (‚Träne’), sëhen (aber: sah [saX]

Konsonantenverbindungen /sp/ /sl/, /sm/, /sn/, /sw/

[h] Hauchlaut

/st/, s behält Lautwert = s+t ( stein, slange, smerze, swach nhd.: sch+t

/sch/ (Schriftvarianten /sk/ /sc/ /sh/)

[sch]

scœne

/ph/

[pf]

phliht, phlëgen, phant

/w/

[w] mit bilabialer Komponente

wort, winter, wâ (‘wo’)

1

nach WEDDIGE 1996, S. 7

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

4 / 71

1.3. Lautwandel AHD > MHH > NHD BEISPIELTEXTE: 1 : Glaubensbekenntnis ahd. gilaubiu mhd. ich geloube nhd. ich glaube

in got fater almahtigon an got vater almechtigen an den allmächtigen Gott

scepphion himiles enti erda schephaer himels unde der erde. den Schöpfer des Himmels und der Erde.

2 : Vaterunser ahd. Fater unsêr mhd. Vater unser werde nhd. Unser Vater

dû pist in himilum kauuihit sî namo dîn. der dû in dem himel bist geheileget sî dîn nam

Piqueme rîhhi dîn. Uuesa dîn uuillo, zuo kum an uns daz rîche dîn dîn wille

der du in dem Himmel bist geheiligt werde dein Name

dein Reich komme dein Wille

geschehe.

1.3.1. Vom AHD zum MHD Vokalismus a) i-Umlaut: z.B.: almahtigon - almehtigen Mhd. Sekundärumlaut der im Ahd. noch nicht vom i-Umlaut (Primärumlaut) a > e erfaßten Laute: a > e (auch vor /ht, hs, rw/ und vor i der zweitfolgenden Silbe) sowie Umlaut aller übrigen Vokale und Diphtonge. Umlaut vor i, î, j der Folgesilbe2 Primärumlaut germ. a > ahd. e (ahd. verhindert u.a. vor /ht, hs, rw/) Sekundärumlaut ahd. a > mhd. ä, e o>ö u>ü â > æ, ae ô > œ, oe û > iu ou > öu uo > üe

ahd. Sg. gast - Pl. gesti

z.B.: mahtig > mähtec, magadi > mägede hof - hövesch, got - götinne kunni > künne mâri > maere skôni > schoene sûri > siure loufit > löufet guoti > güete

b) ahd. /iu/ > mhd. /iu/ = [y:] z.B.: liuti > liute = [ly:te]; diutisc > tiutsch = [dy:tsch] Spätahd. Diphtong /iu/ > mhd. langer Monophtong [y:], Diphtongschreibung bleibt erhalten. c) ahd. /ea, ia/, /eo, io/ > mhd. /ie/. z.B.: hear, hiar > hier; ziohan > ziehen Diphtongische Aussprache! d) Nebensilbenabschwächung: z.B. ahd. namo, turi, gilouba > mhd. name, tür, geloube / gloube. Die im Ahd. noch vollen Vokale der nichtstarktonigen Silben werden im Mhd. zu schwachtonigem // oder fallen ganz aus (Apokope bzw. Synkope): Ausgenommen sind schwere Ableitungssuffixe wie -unge, -inne, -haft u.a.

2

WEDDIGE 1996, S. 19

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

5 / 71

Konsonantismus a) Auslautverhärtung: z.B.: tages - tac, neigen - neicte. Stimmtonverlust von /b, d, g/ im Wort- und Silbenauslaut und entsprechende Schreibung im Mhd. als /p, t, c/. b) ahd. /sk, sc/ > mhd. /sch/ z.B: ahd. scrîban > mhd. schrîben. Aussprachewandel von /sk, sc/ zum mhd. Zischlaut /sch/ im 11. Jh. geschrieben /sch/. c) Assimilationen: z.B. inbîz > imbîz; Lenisierung von /t/ nach Nasalen z.B. nante > nande. d) Kontraktionen: z.B. ahd. legit - mhd. leit, ahd. gibit > mhd. gît, mhd. slahen neben slân. Medienschwund von /b, d, g/ sowie von /h/ zwischen Vokalen mit folgender Vokalkontraktion.

1.3.2. Vom MHD zum NHD mhd.

frühnhd.

alsô vertreip er den tac. des morgens er nider lac, daz er sîn wîp trûte unz daz man messe lûte. sô stuonden si ûf vil gelîche.

also vertrib er den tag. des morgens er nider lag daz er sein weib traute untz daz man messe laute. so stunden sy auf geleiche.

(nach WEDDIGE 1996, S. 32)

Vokalismus a) Nhd. (bairische) Diphtongierung: z.B.: sîn wîp > sein weib, ûf > auf

mîn niuwes hûs > mein neues Haus

mhd. /î/ > nhd. /ei/

mhd. /iu/ > nhd. /eu/ (/äu/)

mhd. /û/ > nhd. /au/

bî > bei bîhte > Beichte mîn, dîn, sîn > mein, dein, sein gîsel > Geisel île > Eile mhd. /î/ > nhd. /ei/: sîte > Seite, lîp > Leib (nhd. /ei/ oder /ai/ kann aber auch auf mhd. /ei/ zurückgehen: mîn bein > mein Bein, seite >Saite, leip > (Brot-)Laib)

iuch > euch diuten > deuten liuchten > leuchten liute > Leute niun > neun mhd. /iu/ > nhd. /eu/ oder /äu/: hiuser > Häuser miuse > Mäuse fliuget (Inf. fliegen) > fleugt kriuchet (Inf. kriechen)> kreucht (vgl noch: „was da kreucht und fleucht“)

bû > Bau brût > Braut bûch > Bauch hûs > Haus hût > Haut mhd. /û/ > nhd. /au/: mûs > Maus (nhd. /au/ kann aber auch auf mhd. /ou/ zurückgehen: ouge > Auge)

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

6 / 71

b) Nhd. (mitteldeutsche) Monophtongierung:

líebe guote brüeder > liebe gute Brüder

z.B.: stuonden > stunden mhd. /ie/ [íe] > nhd. /ie/ [ī]

mhd. /uo/ > nhd. /ū/

mhd. /üe/ > nhd. /ü/

biegen bieten brief fliegen miete /ie/: e gilt jetzt orthographisch als Längenzeichen, daher auch zige > Ziege, vihe > Vieh, vil > viel

bluome > Blume bruoder > Bruder buoch > Buch muot >Mut suochen > suchen

güete > Güte müede > müde grüene > grün trüege > trüge slüege > schlüge

c) Nhd. Dehnung und Kürzung:  Dehnung mhd. kurzer Vokale in betonter offener Silbe:

le-ben > lë-ben, lo-ben > lō-ben.

adel, hase, jagen, heben, gëben, lësen, biber ‘Biber’, bine ‘Biene’, boge ‘Bogen’, bote, tugent, jugent, über, zügel

 Kürzung mhd. langer Vokale bestimmten Konsonantengruppen r+Kons.):

vor (ht,

brâh-te > brachte, dâhte > dachte hêr-lich > herrlich

d) Rundung, Entrundung, Senkung  Rundung bestimmter Vokale in der Nachbarschaft bestimmter Konsonanten, helle > Hölle, zwelf > zwölf, swern > schwören, leffel > Löffel, lewe > Löwe, âne > ohne, mâne > Mond, finf > fünf, wirde > Würde, liegen > lügen  Entrundung z.B. mhd. küssen, slöufe > nhd. Kissen, Schleife.

 Senkung von u und ü (md., obd.) bes. vor Nasal zu o und ö:

sune > Sonne, sumer > Sommer, besunder > besonders, geswummen > geschwommen, gewunnen > gewonnen, kumen > kommen, sun > Sohn künec > König, günnen > gönnen, mügen > mögen.

e) Öffnung geschlossener Diphtonge /ei, öu, ou/ > nhd. /ai, äu, au/, z.B. mhd. bein, böume, boum > nhd. Bein, Bäume, Baum.

Konsonantismus a) Ausspracheveränderung des /s/ vor /p, t/ im Anlaut zum Zischlaut /sch/: z.B. Stein, springen. b) Aussprache- und Schreibveränderung des /s/ vor /l, m, n, w/ im Anlaut zum Zischlaut /sch/, z.B. mhd. slange > nhd. Schlange, manchmal auch bei /s/ nach /r/ im In- und Auslaut z.B. mhd. bars > nhd. Barsch, kirse > Kirsche. c) Auslautverhärtung gilt nur mehr in der normierten gesprochenen Sprache, in der Schrift steht in allen Formen /b, d, g/ [Vgl. o.: vertreip > vertrib; wîp > weib]. d) Schwund des /w/ zwischen nhd. /au/ oder /äu, eu/ und /e/, z.B. mhd. frouwe > nhd. Frau, vröuwen > freuen. e) Veränderung des inlautenden /w/ zu /b/ nach /l, r/, z.B. mhd. varwe > nhd. Farbe, swalwe > Schwalbe. f) Verstummen oder Schwund des /h/ silbenanlautend im Wortinnern, bes. n. /r, l/, z.B. mhd. sehen > nhd se(h)en, bevelhen > befehlen. g) Aussprache- u. Schreibänderung der Verbindung /hs/ zu nhd. /ks/ , z.B. mhd. vuhs > nhd. Fuchs h) Wechsel von anlautendem /t/ zu /d/, z.B. mhd. tunkel > nhd. dunkel, aber auch umgekehrt mhd. dôn > nhd. Ton.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

1.3.3.

7 / 71

Übungen: Sprachgeschichte

3

A. Übungsprogramm:

1) Wie verändert das Mhd. den ahd. Vokalismus in End- und Nebensilben?  gar nicht  6)  Kürzung um eine More gemäß den Auslautgesetzen  12)  Abschwächung zu e (= []), soweit nicht unter Nebenton erhalten  5) 2) Falsch! Die Veränderung von Vollvokalen > mhd. e = [] findet nur in unbetonten End- und Nebensilben statt, niemals in akzentuierten Silben. Die Schreibung ä ist darüber hinaus deutliches Kennzeichen des Sekundärumlauts, der hier vorliegt. Das i der Endung (ahd. wahsit) hat im Ahd. wegen der den Umlaut hindernden Konsonantenverbindung hs noch keinen Umlaut bewirkt. Im Mhd. wird die Palatalisierung nunmehr durchgeführt. Sie ergreift nicht nur solche a-Laute, die im Ahd. nicht vom Primärumlaut betroffen wurden, sondern alle umlautfähigen Vokale, also auch o, u, uo, ou, â, ô und û, die mhd. >ö, ü, üe, öu, æ, œ, iu [y:] werden.  zurück zu  5) 3) Falsch! Lenisierung bedeutet im Gegenteil die mhd. Erweichung von t > d in der Umgebung von Sonanten (Nasale, Liquiden), die im Nhd. wieder rückgängig gemacht wurde.  Was läßt sich am Beispiel von ahd. heilag > mhd. heilec ‘heilig’ demonstrieren?  die ahd. Lenisierung von c > k vor Sonanten  8)  die Auslautverhärtung von ahd. -g > mhd. -c = [k]  10) 4) Richtig! - Warum ist ahd. choufan ‘kaufen’ zu mhd. koufen geworden, ahd. choufman dagegen in mhd. koufman und nhd. Kaufmann unverändert geblieben?  Kürzung um eine More führt gemäß den Auslautgesetzen bei â > a, bei a > e  9)  die Verbindung -an ist unbetont, so daß ahd. -an > mhd. -en werden konnte; das Grundwort der Zusammensetzung ahd. choufman trägt dagegen einen Nebenton, der die Vokalabschwächung verhindert hat  5) 5) Richtig! - Was heißt Sekundärumlaut?  die Umlautung auch der a-Laute, die im Ahd. vor folgendem i/j wegen dazwischenstehender umlauthemmender Konsonantenverbindung nicht palatalisiert wurden, zu mhd. ä, zugleich aber auch die alle umlautfähigen Vokale ergreifende Palatalisierung vor Folge-i/j  11)  die Palatalisierung von ahd. a>e vor Folge-i/j  7) 6) Falsch! Das Mhd. unterscheidet sich vom Ahd. gerade dadurch, daß die ahd. Vollvokale in Neben- und Endsilben zu e ([]) abgeschwächt wurden, soweit sie nicht unter Nebenton erhalten blieben.  Was läßt sich am Beispiel von ahd. ladunga > mhd. ladunge ‘Ladung, Einladung’ zeigen?  die Abschwächung von unbetontem Endungs-a > mhd. -e sowie die Erhaltung von nebentonigem u-  4)  die Wirkung von Sekundärumlaut und Auslautverhärtung  9) 7) Falsch! Die Palatalisierung von ahd. a > e durch Folge-i/j als einzige Form des i-Umlauts im Ahd. wird als Primärumlaut bezeichnet. Sekundärumlaut ist dagegen die Palatalisierung auch solcher a-Laute, die ahd. noch nicht umgelautet worden waren, zu mhd. ä sowie die konsequente Umlautdurchführung im Falle aller übrigen umlautfähigen Vokale.  Was zeigt sich am Beispiel von ahd. wahsit > mhd. wähset ‘er wächst’?  Abschwächung des Wurzelvokals a > ä/e  2)  Sekundärumlaut im Mhd.  13) 8) Falsch! Seit wann geht die Entwicklung der Sprache rückwärts vom Mhd. zum Ahd.? Hier liegt Auslautverhärtung (evtl. im Silbenauslaut) vor: die ahd. Media -g im Auslaut von heilag < mhd. -c ([k]) im Auslaut von heilec bzw. ahd. b d g + t > mhd. p t k + t (ahd. neigta > mhd. neicte etc.). Lenisierung heißt dagegen die Erweichung von ahd. t > mhd. d in Verbindung mit Sonanten, also etwa in ahd. zu hantôn, haltan > mhd. ze handen, haldan ‘zu Händen, halten’, allerdings nicht konsequent durchgeführt und im Nhd. wieder rückgängig gemacht.  zurück zu  11)

3

aus Bauer / Haage 1986, S. 133ff

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

8 / 71

9) Falsch! Die Beispiele zeigen sämtlich, wie die ahd. Vollvokale in End- und Nebensilben im Mhd. zu e ([]) abgeschwächt werden, als Vollvokale dagegen erhalten bleiben, wenn die Nebensilbe einen Nebenton trug: ahd. ládùnga, chóufmàn > mhd. ladunge, koufman, aber ahd. ládùnga , chóufan < mhd. ladunge, koufen. Auslautgesetze des Germ., Sekundärumlaut oder Auslautverhärtung haben hiermit nichts zu tun oder sind zwar auch wirksam, aber hier nicht relevant.  zurück zu  1) 10) Richtig! - Wie läßt sich die mhd. Verschärfung der Medien b d g > p t k vor folgendem t erklären, die im Nhd. (in der Schrift) durchgängig wieder aufgehoben wurde?  als Auslautverhärtung im Silbenauslaut  14)  als ahd. Lenisierung von mhd. p t k in sonantischer Umgebung  8) 11) Richtig! Wie nennen Sie die Erscheinung, daß im Mhd. die auslautenden Medien b d g zu den Tenues p t k geworden sind?  Lenisierung 3)  Auslautverhärtung  14) 12) Falsch! Die Kürzung von ahd. Langvokalen um eine More tritt durchaus ein, doch ist das Resultat auch dann mhd. e: ahd. lobôn, sagên > mhd. loben, sagen. D. h.: es kommt nicht so sehr auf die Länge oder Kürze der Vokale an, sondern auf deren Betontheit oder Unbetontheit. Im letzteren Falle tritt die Abschwächung ein, im ersteren nicht.  Was lehrt das Beispiel ahd. ediling > mhd. edelinc ‘Mann von Adel’?  Abschwächung von ahd. i in unbetonter Nebensilbe, Erhaltung von ahd. i in betonter Endsilbe  4)  Wirkung von Sekundärumlaut und Auslautverhärtung  9) 13) Richtig! - Wodurch läßt sich erklären, daß ahd. sâlîg, gimuati, irougen, burdi > mhd. saelec, gemüete, eröugen, bürde ‘selig, Gemüt, sich ereignen, Bürde’ geworden sind?  Sekundärumlaut  11)  Primärumlaut  2) 14) Ende des Übungsprogramms.

B. Übungen: 1) Zur Vokalabschwächung: Wie lauten die folgenden ahd. Formen im Mhd.: 1. gisungan > ............................................ 2. salbôt > ................................................. 3. skiaro > ................................................. 4. bôsi > .................................................... 5. egislîh > ................................................ 6. sougen > ............................................... 7. sagêta > ................................................ 2) Wodurch unterscheidet sich das Mhd. wohl am deutlichsten vom Ahd.? Geben Sie Beispiele an! ............................................................................................................................................................ 3) Was heißt Primärumlaut? ............................................................................................................................................................. 4) Was heißt Sekundärumlaut? ............................................................................................................................................................. 5) Welche lautlichen Erscheinungen trennen das Nhd. vom Mhd.? Geben Sie Beispiele an! .............................................................................................................................................................

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

6) Wie lauten die folgenden mhd. Wörter im Nhd.?: 1. îs > ..................................................................... 2. mûl > .................................................................. 3. schrîben > ........................................................... 4. der rise > ......................daz rîs > ....................... 5. vriunt > ............................................................... 6. schrîn > .............................................................. 7. huon >................................................................ 8. helle > ............................................................... 9. slüege > ............................................................. 10. künec > .............................................................

9 / 71

11. lîden > ............................................................ 12. rûm >............................................................... 13. tûsent> ............................................................ 14. liegen > ............................................................... 15. hiur > ............................................................... 16. ûf > ........................ ûz > ........................ 17. luot (von laden) > ............................................. 18. wirde > ............................................................. 19. âne > ................................................................ 20. lewe > ...............................................................

6) Vergleichen Sie die Sprachgestalt der beiden folgenden Texte und stellen Sie Gegensatzpaare zusammen, die die Lautwandlungen vom Ahd. zum Mhd. illustrieren. Welche sprachlichen Kennzeichen weisen den zweiten Text als frühmhd. aus? Aus dem AHD. PHYSIOLOGUS (11. Jh.):4

Aus dem MHD. PHYSIOLOGUS (12. Jh., frühmhd.):5

De pantera

Der Panther

Ein tier heizzit pantera und ist miteuuare und ist manegero bilido und ist vuile scone und ist demo drachen fient.

Dar nach heizzet ein Panthere, mit mislicher varwe, scone ist ez genuoch, dar zuo listich unde gefuoch. von dem tiere man liset, dem Drachen ist ez vient, swa ez in sihet. So daz selbe tier sich sciere sich hat gesattet von den tieren, die ez chan vahen wol, so leget ez sich in sin hool. dri tage ez slæffet: so ez danne uf stet, so rohot iz starche, von im chumet solich smache, daz niht im gelichis in der werlde suozze ist. So danne diu tier die alumbe sint, sine stimme gehorint, so samenent si sich dar nach, ze dem suozzem smache ist in gach. dem tiere si volgint, swa ez hin oder her ferit. Der Trache, so er sine stimme gehoret, in sinem liche er sich birget, daz er niht vernemen mege sine stimme an dem wege, die andiriu tier so minnot: so liget er, sam er si tot. Also tet der heilige Christ, der er wariu Panthera ist, do er gesach daz mennisclich chunne mit dem tievil bedwungen, von himil fuor er gereite mit siner mennischeite. [...]

Tes sito ist so gelegin, so ez sat ist misselihes, so legit iz sih in sin hol unde slafæt trie taga. Tene so stat ez uf unde furebringit ummezlihche lutun unde hebit so suzzen stanc, daz er uberuuindit alle bimentun. Tene so diu tier uerro unde naho tie stimma gehorrint, so samenont siu sih unde uolgen imo turih di suzzi des stanhes. Unde der dracho uuiret so uordtal, daz er liget, alsor tot si, under der erdo.

Pantera diu bezeichenet unsirin trotin, [...] und [do] er gecrucigot uuard, to raster in demo grabe trie taga, also dir tet panttera, und an demo triten tage dorstun er uon dien toton, vnde uuard daz sar so offenlihin gehorit uber alle disa uuerilt, unde uberuuand den drachin, den mihchelin tieuel.

7) Was weist den folgenden Text als früh-neuhochdeutsch aus? Etliche wichtige vrsachen / Warumb alle Menschen sich vorm Sauffen hütten sollen. / Die Erste vrsache. Die erste vrsache ist / das das Sauffen von Gott in seim Wort verboten ist. Saufen aber heisst (wie es alle vernünfftige Menschen verstehen) wenn man mehr in Leib geusst / denn die notturfft foddert / Es geschehe nun / auf wasserley weise / oder vmb wasserley vrsachen willen es geschehe / man thue es gleich aus eignem vornemen / aus gewonheit / oder jemand zugefallen / so heissts doch alles gesoffen. Gleich wie Fressen / heisst / wenn man mehr speise in Leib stecket / denn die notturfft foddert. Denn essen vnd trincken ist vns von Gott darumb gegeben / das wir den Hunger vnnd Durst damit vertreiben / vnd den Leib damit erhalten sollen / Was nun darüber geschicht / das heisst alles gefressen vnnd gesoffen / vnnd ist ein missbrauch der Creaturn Gottes / da hilfft keine entschuldigung fur. 6

4

F. Maurer (Hg.): Der altdeutsche Physiologus, Tübingen 1967 (ATB 67), S. 91f. ibid., S. 7 66 Matthäus Friedrich, Wider den Saufteufel. In: Frühnhd. Lesebuch S. 93f 5

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

10 / 71

2.

Morphologie 2.1. Verben

starke

schwache Verben

besondere Verben PräteritoPräsentien Ablaut

Ablaut

kein Ablaut aber z.T. Vokalwechsel = „Rückumlaut“

Part.Prät. -en

Dentalsuffix (Part.Prät.: -t) Dentalsuffix

Wurzelverben

athematische Bildungsweise

1. Starke Verben:  Ablaut: Formenbildung durch Veränderung des Stammvokals  Part. Prät.wird mit dem Suffix -en gebildet

Kontrahierte Verben

(vgl. Wurzelverben)

Gemischte Verben Mischung starker u. schwacher Formen: Ablaut tw. Dentalsuffix

hëlfen half hulfen geholfen geholfen

Präfix ge- sowohl bei st. als auch bei sw. Part. Prät., wenn das Verb nicht schon eine untrennbare Vorsilbe bei sich hat (geriten  vergraben).

2. Schwache Verben:  Dentalsuffix zur Bildung der finiten Präteritalformen + Part. Prät. leben - lëbe-t-e - gelëbe-t 3. Besondere Verben: a) Präterito-Präsentien:  Kennzeichen der starken als auch der schwachen Flexion: Ablaut und Dentalsuffix durfen, dürfen (bedurfen/bedürfen) suln, süln gunnen, günnen (erbunnen, verbunnen) tugen, tügen kunnen, künnen turren, türren mugen, mügen wizzen muozen, müezen b) Wurzelverben: athematische Bildungsweise7

tuon; gân / gên; sîn; stân / stên

c) Kontrahierte Verben: (vgl. Wurzelverben) haben / hân; lâzen / lân d) Mischung starker und schwacher Konjugation: bringen; beginnen e) wellen ‘wollen’: Besonderheiten aufgrund einer Funktionsverschiebung im Bereich der Modi.  MHD > NHD: a) Mhd. Konjugationsart = nhd. Konjugationsart (sehr häufig). b) Mhd. stV > nhd. swV (häufig):

mhd. stV grînen – grein > nhd. swV greinen – greinte mhd. stV smiegen – smouc > nhd. swV schmiegen – schmiegte

c) Mhd. swV > nhd. stV (selten): mhd. wîsen – wîste – gewîset > nhd. stV weisen – wies – gewiesen analog: mhd. prîsen – nhd. preisen; mhd. gelîchen – nhd. gleichen Vgl. auch nhd. Mischformen wie: dingen – bedingt, sich etw. ausbedungen haben, gedungen; stecken – stak, gesteckt; fragen – frug, fragte

d) Mhd. Doppelformen werden im Nhd. vereinfacht: mhd. stV brinnen – bran – gebrunnen + swV brennen – brante – gebrennet/gebrant nhd. swV brennen – brannte – gebrannt

„athematische Bildungsweise“: die Flexionsendung schließt (ohne Thema- oder Bindevokal) unmittelbar an die Wurzel an; z.B.: bind-e–t = Wurzel+Thema+Endung ↔ tuo–t Wurzel+Endung. 7

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

11 / 71

 Zu einigen Besonderheiten in der Verwendung mhd. Tempora und Modi 1. Futur:  wird vertreten durch das Präsens. Eventuell mit zusätzlicher kontextueller Bestimmung.8  Umschreibungen mit Hilfsverben: suln, wellen, müezen + Infinitiv werden+Inf. (mhd. selten, häufiger ab Mitte 14. Jh., frühnhd.) 2. Präteritum: Hat im Mhd. einen umfassenderen Funktionsbereich als im Nhd.: Als allgemeines Tempus für die Vergangenheit tritt es ein für nhd. Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt und ist jeweils dem Kontext entsprechend zu übersetzen. Daneben gibt es auch schon mhd. Umschreibungen für Perfekt und (seltener) Plusquamperfekt. Perfekt: Bildung mit Umschreibung (analyt., periphrastisch): Präsens von hân, sîn + Part. Prät.  hân + Part.Prät.: ich hân gesezzen - ich habe (dort) gesessen,  sîn + Part.Prät.: ich bin gesezzen - ich habe mich gesetzt, sitze, Plusquamperfekt:  Zusammensetzung mit Vorsilbe ge-: ich gesach ‘ich hatte gesehen’. Je nach Kontext ist die Verbform mit einem Perfekt oder einem Plusquamperfekt wiederzugeben, allerdings kann die Verbindung ge- + Prät. auch einfache Vergangenheit bezeichnen!  Seltener ist die Umschreibung mit dem Imperfekt von hân und sîn + Part. Prät.: ich hâte gegëben, ich was gesezzen 3. Zu den Modi: Indikativ / Konjunktiv: Wie nhd. Die Umschreibung mit modalen Hilfsverben (müezen, suln, kunnen ‚können’, mugen ‚können’, wellen) im Konj. Präsens / Präteritum ist jedoch mhd. seltener als nhd. mit laster ir gescheiden sult von guoten recken sî dâ vor müeze mich got hüeten alle tage. Möhte ich verslâfen des winters zît. 4. Zu den Genera verbi: Aktiv / Passiv: Wie nhd. Umschreibungen mit werden, sîn. 9

8

z.B.: alsô tuon ich iu morgen; dar nâch sô sihe ich schiere den stein unde den brunnen. Perf., Plusquamperf. bin/was - worden sind mhd. nur vereinzelt belegt.

9 Passivbildungen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

12 / 71

2.1.2.

Schwache Verben

 t-Suffix  Stammvokal der Präsensformen unverändert  Wechsel des Stammvokals zwischen Präsens und Präteritum bei einer Gruppe von schwachen Verben.

Formenbildung PRÄSENS Präsensflexion (Ind., Konj., Part. Präs., Inf.) stimmt in den Endungen mit den starken Verben überein, mit einer Ausnahme:  Imp. Sg.: Endung auf -e (soweit nicht apokopiert - nach r, l und n): z.B. lëbe, sëtze, suoche aber: hol, ner  st. Bildung: gip, nim, hilf  Wurzelvokal in den Präsensformen aller sw. Verben bleibt unverändert (↔ stV!) PRÄSENS Inf. (Präsensvokale) Präs. Ind. Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3. Präs. Konj. Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3.

sw. Verben lëben (ë) ich lëbe du lëbest er lëbet wir lëben ir lëbet si lëbent ich lëbe du lëbest er lëbe wir lëben ir lëbet si lëben

hëlfen (ë/i) ich hilfe du hilfest er hilfet wir hëlfen ir hëlfet si hëlfent ich hëlfe du hëlfest er hëlfe wir hëlfen ir hëlfet si hëlfen

st. Verben bieten (ie/iu) nëmen (ë/i) ich biute ich nime du biutest du nimest er biutet er nimet wir bieten wir nëmen ir bietet ir nëmet si bietent si nëment ich biete ich nëme du bietest du nëmest er biete er nëme wir bieten wir nëmen ir bietet ir nëmet si bieten si nëmen

graben (a/e) ich grabe du grebest er grebet wir graben ir grabet si grabent ich grabe du grabest er grabe wir graben ir grabet si graben

PRÄTERITUM  Alle Formen werden mit einem Dentalsuffix gebildet

( bei den stV mit Ablaut).  Ind. und Konj. haben die gleichen Personalendungen ( stV):

Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3.

sw. PRÄTERITUM Indikativ = Konjunktiv lëbe-t-e lëbe-t-est lëbe-t-e lëbe-t-en lëbe-t-et lëbe-t-en

Indikativ ich bôt du büte er bôt wir buten ir butet si buten

st. PRÄTERITUM  Konjunktiv ich büte du bütest er büte wir büten ir bütet si büten

 Das Part.Prät. swV endet auf -et ( stV auf -en) sofern nicht Synkopierung in mhd. Zeit erfolgt ist, z.B. gelëbet, aber: geholt  st. V.: geboten, geholfen, gegraben, gegëben

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.2.1.

13 / 71

Schwache Verben mit Wechsel des Stammvokals (= schwache Verben mit „Rückumlaut“)

 brennen - brannte - gebrennet / gebrant  hœren - hôrte - gehôrt  grüenen - gruonte - gegruonet  Präsensformen mit Umlaut  Präteritalformen ohne Umlaut  Part. Prät.: hier können 2 Formen nebeneinander stehen gebrennet - gebrant „RÜCKUMLAUT“ Im Präteritum hebt sich ein Teil der schwachen Verben durch den Wechsel des Stammvokals, den sog. „Rückumlaut“ (z.B. noch nhd.: brennen - brannte - gebrannt) von allen anderen schwachen Verben mit gleichbleibendem Wurzelvokal ab (z.B.: nern - nerte - genert). Dieser „Rückumlaut“ betrifft eine historische Verbklasse, die lang- und mehrsilbigen jan-Verben, die bei umlautfähigem Wurzelvokal  Umlaut im Präsens, jedoch nicht im Präteritum zeigen. Daraus ergibt sich vom Standpunkt des Mhd. die Einteilung in:  1. schwache Verben mit Wechsel des Stammvokals  2. schwache Verben ohne Wechsel des Stammvokals Sprachgeschichtlich gesehen sind die starken Verben die älteren, die schwachen Verben eine germanische Neubildung, die aus starken Verben, Adjektiven oder Substantiven sekundär abgeleitet wurden, mit Hilfe von Bildungssuffixen = germ. -jan-, ôn-, ên-. Noch im Ahd. lassen sich die schwachen Verben ihren alten Bildungssuffixen entsprechend gruppieren (-jan-, -ôn-, -ên-Verben). Im Mhd. ist die Zugehörigkeit zu diesen ursprünglichen Reihen nicht mehr aus der Form des Infinitivs ablesbar, da alle Endungen in -en zusammengefallen sind. Klasse 1a. kurzsilb. jan-Verben 1b. langsilb. jan-Verben 2. Klasse 3. Klasse

Zum Begriff „Rückumlaut“:

ahd. nerren, nerrian brennen salbôn sagên

mhd. nern brennen salben sagen

(= ein nie eingetretener Umlaut10)

Das j bzw. i dieser langsilbigen jan-Verben hat in den Präsensformen bei umlautfähigem Stammvokal in jedem Falle Umlaut bewirkt.11 Im Präteritum dagegen ist dieser Umlaut bei den langsilbigen jan-Verben unterblieben. Grund: Das umlautbedingende i im Präteritum war bereits vor Einsetzen des Umlauts geschwunden12 (ahd. brannta), und so war diese Form nie umgelautet. Bspl.: germ *sank-i-da > germ. *sank-da > ahd. sancta > mhd. sancte ‘senkte’

Beim „Rückumlaut“ handelt es sich also um einen überhaupt nicht eingetretenen Umlaut. Die irreführende Bezeichnung „Rückumlaut“ geht auf J. GRIMM zurück, der fälschlich angenommen hatte, daß die Verben den Umlaut, der im Präsens vorhanden ist, im Präteritum rückgängig gemacht hätten. Mangels einer besseren hat man die Bezeichnung bis heute beibehalten.

10 und

nicht wie der Name naheliegt „ein rückgängig gemachter Umlaut“. got. waljan - ahd. welen, wellen; got wandjan - ahd. wenten, wenden 12 = sog. vorahd. Synkope 11 vgl.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

14 / 71

 „Rückumlaut“ betrifft langsilbige jan-Verben mit umlautfähigem Wurzelvokal:13 Zum Begriff „langsilbige jan-Verben“: Dazu zählen im MHD Verben mit a) Langvokal/Diphtong in der Wurzelsilbe: z.B.: hœren - hôrte - gehœret/gehôrt (analog: grüezen, lœsen, rüemen, trœsten, füeren, waenen). b) Verben mit mehrfacher Konsonanz im Auslaut der Wurzelsilbe: z.B.: ergetzen ‘vergessen machen, ergötzen’ - ergazte; setzen - sazte – gesazt; decken - dahte (dacte) – gedecket/gedacht/gedact; schrecken; smecken; strecken ‘gerade machen’; wecken; sterken – sterhte/starcte; merken – marhte/marcte/merkete (md.); blicken – blicte/blihte; schepfen – schapfte/schafte/schepf(e)te.

c) Mehrsilbige Verben: z.B.:

antwürten – antwurte; löugenen - lougente.

d) Verben, die das Prät. von Anfang an athematisch bilden: z.B.: denken - dâhte - 2.Sg. Ind. Prät. daehte u. dâhtest, Konj. daehte, Part. gedâht; dünken/dunken - dûhte - Konj. diuhte - gedûht (vom Konj. ist nhd. ‘es deucht mir’ abgeleitet); vürhten - vorhte - gevorht (Präs. vorhten, vörhten bes. md., im Prät. auch furhte); würken/wurken/wirken - worhte – geworht.

 Welche Vokale wechseln bei den rückumlautenden Verben: e- a; ü – u; æ – â; œ –ô; iu – û; üe- uo. Beispiele: vellen - valte - gevalter ‘fällen’, ergetzen – ergatzte, leschen – laschte, heften - hafte, senden- sante (sande), sterken – starcte nennen, pfenden, trenken, wenden, wermen, decken, recken, strecken, merken antwürten - antwurte, drücken - dructe, ü - u: füllen, kürzen, küssen, füllen – fulte, wünschen, gürten, kürzen, nützen. ae - â: bewaeren (bewârte) ‘wahrmachen’, smaehen, waenen (wânte) ‘hoffen, vermuten’, saejen - sâte. bœsen ‘schlecht machen’, hœhen, hœnen, hœren, krœnen, lœsen, trœsten ‘Hoffnung geben, œ - ô: erheitern’. hiulen - hûlte ‘heulen’, rûmen u. md. riumen ‘räumen’, sûmen u. siumen ‘säumen’. iu - û: üe - uo: büezen - buozte ‘besser machen’, vüegen, vüeren (vuorte), genüegen, grüenen, grüezen ‘freundlich ansprechen’, hüeten (huote), prüeven, rüefen u. ruofen, üeben, blüejen (bluote), lüejen ‘brüllen’, müejen. e - a:

 MHD > NHD: NHD nur noch wenige schwache Verben mit Rückumlaut, er ist durch Analogie ausgeglichen. Bewahrt haben ihn nur Verben auf /nn/ und /nd/: brennen, kennen, nennen, rennen, senden, wenden. Doch bei /nd/ schon Doppelformen: sandte - sendete, wandte - wendete.

13

Langsilbige jan-Verben mit nicht umlautfähigem Wurzelvokal bilden alle Formen ohne Vokalwechsel, da Umlaut hier nicht eintreten konnte: z.B. kêren - kêrte - gekêrt, spitzen - spitzte, blicken - blicte, îlen - îlte, teilen - teilte, zieren - zierte, leiten - leit(t)e, neigen - neicte, gelouben – geloupte. ↔Kurzsilbige jan-Verben zeigen durchgehend in allen Formen Umlaut: z.B. got. nasjan - nasido > ahd. nerien – nerita.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.2.2.

15 / 71

Schwache Verben ohne Wechsel des Stammvokals

 lëben - lëbete – gelëbet  loben - lobete –gelobet In historischer Sicht sind es: a) kurzsilbige jan-Bildungen z.B. nërn - nërte- genërt. j bedingt Umlaut in allen Formen.14 Die meisten der kurzsilbigen jan-Verben haben allerdings im Mhd. noch Doppelformen (die auch vom Mhd. her noch eine Zuordung zur historischen Klasse der kurzsilbigen jan-Verben ermöglichen): zeln/zellen ‘zählen, erzählen’, zelte/zalte - gezelt/gezalt, queln/quellen - qualte; twelln/twelen - twalte ‘zögern’. b) ôn-Bildungen, beiten zögern, beten, bewaren ‘sorgen für’, bilden ‘darstellen’, baden, dingen ‘verhandeln’, fluochen, folgen, fordern, hazzen, jagen, klagen, kosten, kreftigen, laben, laden, lônen, machen (Prät. machte u. machete, Part. gemacht neben gemachet), danken, dienen, loben, manen (mante), salben, vischen, rouben (zu roup), zeigen, schouwen (schou[we]te), ahten (ahte), laden (ladete, latte), schaden (schadete, schatte). c) ên-Bildungen, armen ‘arm sein, arm werden’, alten ‘alt werden’, bleichen ‘bleich werden’, dagen ‘schweigen’, darben ‘Mangel haben’, erbarmen (erbarm(e)te), erstummen ‘stumm werden’, grâwen ‘grau werden’, haben und hân ‘besitzen, haben’, hangen ‘hängen’, lëben (lëb(e)te), losen ‘horchen’, mêren ‘größer werden’, nahten ‘Nacht werden’, tagen ‘Tag werden’, siechen ‘krank werden’, trûwen/triuwen ‘glauben’, wachen (wach(e)te), warten ‘ausschauen’, wonen ‘bleiben, wohnen’, sagen, sorgen, volgen, vrâgen (vrâg(e)te, vrâcte).  MHD > NHD: Schon im Mhd. beginnt die Synkopierung, die sich im Nhd. dann durchgesetzt hat, zunächst nach r und l und in mehrsilbigen Wörtern auch nach n. Im Nhd. fehlt der Bindevokal im Prät. und Part. Prät. überhaupt, außer nach Dentalen (leitete, dichtete, weidete, schadete etc.) und nach Kons.+Vokal (regnete, atmete, aber auch warnte).

14 s.

auch o.: got. nasjan - nasido > ahd. nerien – nerita.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.2.3.

Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3. Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3. Sg. 1. Pl. 1. Pl. 2.

Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3. Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3.

16 / 71

Flexionsschema der schwachen Verben

PRÄSENS Infinitiv hœren zellen Indikativ hœre zelle hœrest zelst hœret zelt hœren zellen hœret zellet hœrent zellent Konjunktiv hœre zelle hœrest zellest hœre zelle hœren zellen hœret zellet hœren zellen Imperativ hœre zel hœren zellen hœret zellet Partizipium hœrende zellende PRÄTERITUM Indikativ hôrte zelte, zalte hôrtest zeltest, zaltest hôrte zelte, zalte hôrten zelten, zalten hôrtet zeltet, zaltet hôrten zelten, zalten Konjunktiv hôrte zelte, zalte hôrtest zeltest, zaltest hôrte zelte, zalte hôrten zelten, zalten hôrtet zeltet, zaltet hôrten zelten, zalten Partizipium Präteritum gehœret, gehôrter gezelt, gezalt

ner(e)n

salben

ner nerst nert nern nert nernt

salbe salbest salbet salben salbet salbent

ner nerst ner nern nert nern

salbe salbest salbe salben salbet salben

ner nern nert

salbe salben salbet

nernde

salbende

nerte nertest nerte nerten nertet nerten

salbete salbetest salbete salbeten salbetet salbeten

nerte nertest nerte nerten nertet nerten

salbete salbetest salbete salbeten salbetet salbeten

genert

gesalbet

 MHD > NHD:  Ausgleich des Rückumlauts  Präs. Pl. 3.: -t fällt aus  hœrent > hören (wie bei der Flexion der st. Verben)

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.2.4.

17 / 71

Übungen: Schwache Verben

1) Ergänzen Sie jeweils die Formen der 1.Sg.Prät.Ind. und des Part.Prät. der folgenden schwachen Verben! 1. stellen

ge.................................

2. grüezen

ge.................................

3. lemen

ge.................................

4. legen

ge.................................

5. smelzen

ge.................................

6. swerzen

ge.................................

2) Erläutern Sie die Kennzeichen der schwachen Verben! Welche Unterschiede lassen sich gegenüber der starken Konjugation feststellen? 3) Erklären Sie den Begriff „Rückumlaut“!

4) Ergänzen Sie den Infinitiv der folgenden Verbformen: 1. antwurte

9. nerte

2. gedâht

10. vorhte

3. sante

11. salbte

4. sprancte

12. wânte

5. gelebet

13. hôrte

6. truobte

14. lûte

7. schadete

15. gezalt

8. gewîht

16. gelobet

5) Worin unterscheidet sich die mhd. von der nhd. schwachen Verbflexion?

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

18 / 71

2.1.3. Starke Verben Unter dieser Bezeichnung werden drei Gruppen von Verben zusammengefaßt, die ihre Tempusstämme ursprünglich unterschiedlich bildeten:  durch Ablaut  durch Ablaut und Reduplikation  durch Reduplikation

2.1.3.1.

Ablaut

Unter dem Begriff Ablaut versteht man den regelmäßigen Wechsel von Vokalen in etymologisch verwandten Wörtern oder Wortelementen. Ablaut beruht auf den Betonungsverhältnissen im Idg., dem Wechsel in Art und Stellung des Wortakzents. Ablaut wird eingesetzt a) zur Konjugation des starken Verbs und b) als Mittel der Wortbildung:  Im German. werden mit Wortbildungssuffixen neue Wörter gebildet: Bildung schwacher Verben zu starken: z.B. Kausativa genësen - nërn; Substantivbildungen: grap - gruobe (graben, gruop)

2.1.3.2.

Ablautreihen

Die starken Verben werden aufgrund morphologischer Regelmäßigkeiten in 7 Ablautreihen oder klassen zusammengefaßt, wobei Stammvokal und Stammauslaut die Unterscheidungsmerkmale für die Zuordnung der st. Verben zu den einzelnen Reihen bilden.  Mhd. und nhd. Ablautreihen im Vergleich (nach: Sowinski, Probleme d. Übersetzens, S. 27): Reihe I. II.

III.

IV.

V. VI. VII.

Mhd. î - ei - i - i schrîben - schreip - schriben - geschriben ie - ô/ou - u -o ziehen (ziuhe) - zôch - zugen - gezogen liegen (liuge) - louc - lugen - gelogen i/e - a - u - u/o (Nasal/Liquid + Kons.) singen - sanc - sungen - gesungen werden (wirde) - wart - wurten - (ge)worden e - a - â - o (Nasal/Liquid) nemen (nime) - nam - nâmen - genomen brechen (briche) - brach - brâchen - gebrochen e - a - â - e (Verschlußlaut/Spirans) geben (gibe) - gap - gâben - gegeben a - uo - uo - a varn - vuor - vuoren - gevarn a/â/ei/ou/ô/uo - ie - ie - a/â/ei/ou/ô/uo halten - hielt - hielten - gehalten râten - riet - rieten - gerâten heizen - hiez - hiezen - geheizen loufen - lief - liefen - geloufen stôzen - stiez - stiezen - gestôzen ruofen - rief - riefen - geruofen

Nhd. schreiben - schrieb - schrieben - geschrieben ziehen (ziehe) - zog - zogen – gezogen lügen (lüge) - log - logen – gelogen singen - sang - sangen – gesungen werden - ward - wurden – geworden nehmen - nahm - nahmen – genommen brechen - brach - brachen – gebrochen geben - gab - gaben – gegeben fahren - fuhr - fuhren – gefahren halten - hielt - hielten – gehalten raten - riet - rieten – geraten heißen - hieß - hießen – geheißen laufen - lief - liefen – gelaufen stoßen - stieß - stießen – gestoßen rufen - rief - riefen – gerufen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

19 / 71

2.1.3.3.

Stammformen und Paradigmen

Stammformen zur Bildung sämtlicher finiter und infiniter Formen eines starken Verbs: 1. Präsensstamm: Infinitiv / 1. P. Sg. Präs. Ind. Gilt für das gesamte Präsens (Indikativ u. Konjunktiv). 2. Stamm des Sg. Prät.: Der entsprechende Ablautvokal kommt in der 1. und 3. P. Sg. Prät. Ind. vor, nicht aber in der 2. P. Sg. 3. Stamm des Pl. Prät: Er bildet die Grundlage für den gesamten Plural Prät. Ind., außerdem für die 2. P. Sg. Prät. Ind. sowie für sämtliche Formen des Prät. Konj. 4. Stamm des Part. Prät.

Übersicht zu den Stammformen der starken Verben  ABGELEITETE FORMEN

STAMMFORM



INDIKATIV

rîten

Infinitiv

 Präsens (Ind. + Konj.) (Vokalwechsel zwischen Sg. u. Pl. möglich!)



1./3.Sg.Ind.Prät

reit

 Präteritum: 1. + 3. Sg. Ind.



1./3.Pl.Ind.Prät

riten

 Präteritum 2. Sg. Ind.+ Pl. Ind.+ Konjunktiv



Part.Prät

geriten

 Part. Prät.

KONJUNKTIV

Sg.1. ich rîte Sg.1. ich rîte 2. du rîtest 2. du rîtest 3 er rîtet 3. er rîte Pl. 1. wir rîten Pl. 1. wir rîten 2. ir rîtet 2. ir rîtet 3.si rîtent 3. si rîten Sg.1. ich reit 2. ---------------------3. er reit Pl.1.-3.----Sg.1. --------Sg.1. ich rite 2. du rite 2. du ritest 3. ---------3. er rite Pl. 1. wir riten Pl. 1. wir riten 2. ir ritet 2. ir ritet 3. si riten 3. si riten geriten

z. B.: Verb der 1. Ablautreihe grîfen 1 grîfen

Sg.1. 2. 3. Pl.1. 2. 3.

Indikativ ich grîfe du grîfest er grîfet wir grîfen ir grîfet si grîfent

2 greif Präsens Konjunktiv ich grîfe du grîfest er grîfe wir grîfen ir grîfet si grîfen

3 griffen Präteritum Indikativ ich greif du griffe er greif wir griffen ir griffet si griffen

4 gegriffen Part. Prät.

Konjunktiv ich griffe du griffest er griffe wir griffen ir griffet si griffen

gegriffen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

20 / 71

Paradigmen zur Flexion der starken Verben Nur vom ahd. Paradigma her sind die mhd. und z.T. auch die nhd. Vokalveränderungen zu verstehen: PRÄSENS

Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3.

mhd. gibe gibest gibet gëben gëbet gëbent

Indikativ ahd. mhd. gibu biuge gibis(t) biugest gibit biuget gëbamês biegen gëbet bieget gëbant biegent

mhd. gap gæbe gap gâben gâbet gâben

Indikativ ahd. mhd. gab bouc gâbi büge gab bouc gâbum bugen gâbet buget gâbun bugen

ahd. biugu biugis(t) biugit biogamês bioget biogant

mhd. gëbe gëbest gëbe gëben gëbet gëben

Konjunktiv ahd. mhd. gëbe biege gëbês biegest gëbe biege gëbên biegen gëbet bieget gëbên biegen

ahd. bioge biogês bioge biogên biogêt biogên

PRÄTERITUM

Sg. 1. 2. 3. Pl. 1 2. 3.

mhd. Sg. 2. Pl. 1. 2.

gip gëben gëbet gëben

Gen. Dat..

gëbennes gëbenne gëbende gegëben

ahd. boug bugi boug bugum bugut bugun

Imperativ ahd. mhd. gib biuc gëbames biegen gëbet bieget Infinitiv gëban biegen Gerundium gëbannes biegennes gëbanne biegenne Partizipium Präsens gëbanti biegende Partizipium Präteritum gigëban gebogen

mhd. gæbe gæbest gæbe gæben gæbet gæben

Konjunktiv ahd. mhd. gâbi büge gâbîs bügest gâbi büge gâbim bügen gâbît büget gâbîn bügen

ahd. biug biogamês bioget (-at) biogan biogannes bioganne bioganti gibogan

ahd. bugi bugîs bugi bugîm bugît bugîn

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

21 / 71

2.1.3.4.

Lautwechselerscheinungen in den Ablautreihen

a) Konsonantenwechsel - der „Grammatische Wechsel“ Als „Grammatischen Wechsel“ (GW) bezeichnet man im Mhd. die Alternanzen h - g, d - t, f/v - b, s - r z. B.: mhd.: zôch - zugen, snîde - sniten, dürfen - darben, kôs - kurn, nhd.: ziehen - gezogen, schneiden - geschnitten, dürfen - darben, kiesen - erkoren,

in Wörtern oder Wortformen gleichen Stammes. Dieser Wechsel ist im Mhd. vielfach schon ausgeglichen, noch mehr im Nhd. Er zeigt sich bei wurzelverwandten Wörtern, bes. aber bei den verschiedenen Tempusformen der starken Verben. Der GW hat sprachhistorische Gründe und fußt in den idg. Akzentverhältnissen. Im Germ. ergibt sich aufgrund des Vernerschen Gesetzes ein synchronischer Wechsel zwischen stimmlosen und stimmhaften Reibelauten innerhalb von Wörtern oder Wortformen gleichen Stammes. Diesen germ. Alternanzen entsprechen infolge der lautlichen Entwicklung im Mhd. folgende Alternanzen: germ. mhd.

X-g Þ-d f-b s-z h - g d - t f/v - b s - r

Der im Idg. freie Wortakzent wechselte auch innerhalb der Flexionsformen. Die Wirkung des (akzentabhängigen) Vernerschen Gesetzes (VG) betrifft daher nur einen Teil der Flexionsformen, nämlich jene mit Endsilbenakzent: Präsens und Präteritum Singular hatten Wurzelbetonung - der Akzent lag daher vor dem stl. Reibelaut und dieser blieb erhalten; Präteritum Plural und Partizip Flexionssilbenbetonung - mit Akzent auf der Folgesilbe, wodurch der vorausliegende stl. Reibelaut zum sth. Reibelaut erweicht wurde. Daher wechseln innerhalb ein und desselben Paradigmas bzw. der Wortfamilie die Konsonanten = grammatischer Wechsel: idg. Stammsilbenakzent im Präsens und im Präteritum Singular (= Stammformen 1 + 2 d. st.V.):  Präsens + Prät. Sg. = ohne VG  mhd.: h, d, f, s idg. Endungsakzent im Plural des Präteritums und im Partizipium Präteritum (= Stammformen 3 + 4 d. st. V.):  Prät. Pl. + Part. Prät. = mit VG  mhd.: g, t, b, r In Wörtern und Wortformen des gleichen Stammes ergibt sich daher mhd. und z. T. noch nhd. der Wechsel zwischen folgenden Konsonanten: h:g d:t f:b s : r ( Nhd.: In der Konjugation der starken Verben ist der GW z. T. bis heute erkennbar, trotz Ausgleich und Analogiebildungen im Nhd.: ohne VG mit VG

mhd. ziehen - zôch mhd. zugen - gezogen

nhd. ziehen - zog (Ausgleich vom Pl. her) nhd. zogen - gezogen Auch nhd. z. T. noch innerhalb von Wortfamilien: Hefe - heben; gedeihen - gediegen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

22 / 71

b) Vokalwechselerscheinungen innerhalb der Ablautreihen Abgesehen vom regelmäßigen Vokalwechsel zwischen Präsens und Präteritum aufgrund des Ablauts (nhd.

reiten

-

ritt)

gibt

es

auch

innerhalb

der

Präsens-

bzw.

Präteritalformen

Vokalwechselerscheinungen, sprachhistorisch bedingt durch die lautliche Umgebung. Wechsel der Stammvokale tritt ein: In den Präsensformen:  Sg. Ind. der Klassen II, IIIb, IV, V  in der 2. 3. Sg. Präs. Ind. der Klassen VI und z. T. VII. In den Präteritalformen: (2.P.Sg. Ind. richtet sich nach der 3. Stammform = Stammform des Pl. Prät. + Konj. Prät., + Umlaut: ich/er bant [= 1.+3.P.Sg.] - wir bunden [= Pl.], du bünde = 2.P.Sg.Ind., ich bünde etc. = Konj.)  in der 2. Pers. Sg. Ind. Prät. der Klassen II-VI  im Konj. Prät. der Klassen II-VI

Übersicht über Vokalwechsel innerhalb der Ablautreihen

I IIa+b

Präsens

Präteritum

Sg.Präs.Ind. + Imp.

Konj. Prät. 2. Pers. Sg. Ind. Prät. /u/ - /ü/ (guzzen ‘sie gossen’) du güzze ‘du gossest’ ich güzze ‘ich gösse’ /u/ - /ü/ (sungen ‘sie sangen’) du sünge ‘du sangst’ ich sünge ‘ich sänge’ /u/ - /ü/ (wir hulfen -’wir halfen’) du hülfe ‘du halfst’ /a/- /ae/ (wir nâmen ‘wir nahmen’) du naeme -’du nahmst’ du staele - ‘du stahlst’ /a/- /ae/ (wir gâben - ‘wir gaben’) du gaebe ‘du gabst’ ich gaebe ‘ich gäbe’ /uo/ - /üe/ (wir gruoben - ‘wir gruben’) du grüebe - ‘du grubst’

/ie/ - /iu/

giezen – giuze bieten – biute

IIIb

/ë/ - /i/

hëlfen – hilfe

IV

/ë/ - /i/

nëmen – nime stëln - stil

V

/ë/ - /i/

gëben - gibe

VI

/a/ - /e/ (nur 2.+3.Sg. Ind. Präs.!)

du verst, er vert zu varn

VII

2.+3.Sg. Ind. Präs. Wechsel du raetest,er raetet/raet; möglich zwischen: du stœzest, er stœzet /a/ - /e/ /â/ - /ae/ /ô/ - /œ/ /ou/ - /öu/

IIIa

Sprachhistorisch sind diese Vokalwechselerscheinungen zu differenzieren in Umlaut und Wechsel bzw. Brechung des Wurzelvokals (vor /i, î, j/, vor /u/, vor /ë, a o ê/der Folgesilbe):

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

23 / 71

a) Umlaut des Wurzelvokals Alternanzen:

a, â, o, ô, u, û

//

e, ä, ae, ö, œ, ü, iu

Umlaut, d. h. Palatalisierung velarer Vokale a, o, u vor /i, î, j/ der Folgesilbe betrifft nur die Formen, die einen umlautfähigen Wurzelvokal haben und zugleich im Ahd. eine i-haltige Endung aufweisen: Umlaut findet sich daher  im gesamten Konj. Prät.  in der 2. Pers. Sg. Ind. Prät. der Klassen II-VI  in der 2. 3. Sg. Präs. Ind. der Klassen VI und z. T. VII. (Dazu kommen Ausnahmen in anderen Klassen).

b) Wechsel / Brechung des Wurzelvokals Die Alternanzen /i/ - /ë/ sowie /iu/ - /ie/ ergeben sich aus den Folgevokalen, die im Ahd. noch vorliegen, im Mhd. aber abgeschwächt sind: Vor /u/ und /i, î, j/ erscheint /i/ bzw. /iu/ (z. B.: ich gibe < ahd. gibu), vor /ë, a, o, ê/ erscheint /ë/ bzw. /ie/ (z. B.: si gëbent < ahd. gëbant). Sg. Präs. Ind. Pl.Präs.Ind., Imp.Pl., Konj.Präs., Inf., Part.Präs., Gerundium

Mhd. Wurzelvokale /i/ bzw. /iu/ /ë/ bzw. /ie/

Ahd. Vokale der Folgesilbe /u/, /i/ /ë, a, o, ê/

Starke Verben mit  Infinitiv-Wurzelvokal /ë/ oder /ie/ (z. B. nëmen, gëben, hëlfen; bieten, giezen) wechseln also im  Sg. Ind. Präs. und im Sg. Imp. zu /i/ bzw. /iu/ (z.B. ich nime, du nimest, er nimet, nim; ich giuze): Ind. Präs. Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3.

mhd. giuz-e giuz-e-st giuz-e-t giez-e-n giez-e-t giez-e-nt

ahd. giuz-u giuz-i-s(t) giuz-i-t gioz-ê-m, -ê-n (-amês) gioz-e-t gioz-a-nt

mhd. giuz

giuz

giez-e-n giez-e-t

gioz-ê-m, -ê-n (-amês) gioz-e-t

Wechsel /ie/ - /iu/

Verbklasse II

Beispiele giezen – giuze bieten - biute

/ë/ - /i/

IIIb

hëlfen - hilfe (nicht für IIIa: binden, finden) nëmen - nime gëben - gibe

IV V

Imperativ ahd.

Nhd. /ie/ in allen Formen des Präs. u. Imp. (aber vgl. noch Formen wie: kreucht, fleucht  mhd. iu > nhd. eu) /e/ des Infinitivs steht im Pl. Präs.; /i/ im Sg. Präs. (hilfe, hilfst, hilft) und im Sg. Imp. (hilf).

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

24 / 71

2.1.3.5.

Die Ablautreihen I - VII

 I. Ablautreihe: Ia

rîten / rîte - reit - riten - geriten

//

î - ei - i - i

Ib

lîhen / lîhe - lêch - lihen - gelihen

//

î-ê-i-i

Kennzeichen der Verben der 1. Ablautreihe:  Präsensstamm: î.  Präteritum Sg.: Ia: ei Ib: ê (Verben mit Wurzel auf Vokal, germ. h oder w .15) Beispiele: Ia: schînen, schrîten, strîten, bîzen, flîzen, blîben, schrîben, trîben, pfîfen, nîgen, swîgen, slîchen, strîchen. Ib: dîhen (gedeihen), rîhen (verbinden), sîhen, zîhen (zeihen) Verben mit GW(= grammatischer Wechsel, s. u.): 1) d - t: lîden - liten – geliten (Ia), so auch: brîden (flechten), mîden, nîden, rîden (drehen), snîden. 2) s - r: rîse – rirn (risen) – gerirn (gerisen) (Ia) (steigen, fallen) 3) h - g: dîhen (gedeihen), rîhen (verbinden), sîhen, zîhen (zeihen), lîhen hat zumeist keinen GW, z.T. aber im Part. Prät. g (geligen) (Ib).

 II. Ablautreihe: IIa

biegen / biuge - bouc - bugen - gebogen

//

ie - ou - u -o

IIb

bieten / biute - bôt - buten - geboten

//

ie - ô - u - o

Kennzeichen der Verben der 2. Ablautreihe:  Präsensstamm (IIa/IIb): ie (Sg. Präs. iu) iu vor w drei Verben mit û: sûfen, sûgen, lûchen (schließen)  Präteritum Sg.:

IIa: ou IIb: ô (Verben mit Wurzel t, d, s, z oder germ. h16)

Beispiele: IIa: klieben (spalten), schieben, stieben, sliefen (schlüpfen), triefen; fliegen, liegen (lügen), triegen (trügen), smiegen (schmiegen); kriechen, riechen (rauchen, riechen). IIb: diezen (rauschen), verdriezen, sliezen, fliezen, giezen, (ge)niezen, schiezen, fliehen. Verben mit GW: 1) d - t: 2) h - g: 3) s - r:

15 da 16

siude /sieden - suten – gesoten (IIb) ziehe /ziehen - zôch - zugen - gezogen (aber nicht: fliehen!) (IIb) kiuse / kiesen - kurn - gekorn; friesen (frieren), verliesen (verlieren), niesen (IIb).

im Vorahd. germ. ai vor r, w und germ. h zu ê wurde. da frühahd. germ. au vor Dentalen und vor germ. h zu ô wurde

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

25 / 71

AR III, IV und V: Präsensvokal ë / i. Unterschiede in der wurzelschließenden Konsonanz.  III. Ablautreihe:

Wurzel endet auf Nasal/Liquid + Konsonant

IIIa

binden / binde - bant - bunden - gebunden

//

i-a-u-u

IIIb

helfen / hilfe17 - half - hulfen - geholfen

//

e-a-u-o

Kennzeichen der Verben der 3. Ablautreihe:  Präsensstamm: IIIa: i vor Nasalverbindung (nn, mm; n, m + anderer Konsonant) IIIb: e vor Liquidverbindung (ll, rr; l, r + Konsonant) 18  Part. Präteritum : IIIa: u IIIb: o Beispiele: IIIa: brimmen (brummen), glimmen, grimmen (wüten), krimmen (kratzen), klimmen, limmen (heulen), swimmen, rimpfen (rümpfen), brinnen (brennen), beginnen, entrinnen, sinnen, spinnen, slinden (schlingen), swinden, vinden, winden, dringen, klingen, gelingen, singen, springen, twingen (zwingen), sinken, trinken, winken.19 IIIb: bellen, gellen, hellen (hallen), gelten, schelten, smelzen, bevelhen, empfelhen, werden, sterben, verderben. Verben mit GW (Wechsel schon im Präsens): 1) d – t: vinden (Nebenform Pl. Prät. vunten), wërden (Pl. Prät. wurten, Part. Prät. worten). 2) h - g: swelgen / swelhen (verschlucken) 3) f- b: werben / werven (werben, sich bewegen), swerben (wirbeln).

AR IV und V: in der 3. Stufe langen Vokal 20.  IV. Ablautreihe: IV

nemen / nime - nam - nâmen - genomen

Wurzel endet auf einfachen Nasal/Liquid //

e - a - â -o

Kennzeichen der Verben der 4. Ablautreihe:  Präsensstamm: e vor einfachem Nasal, vor ch [h]21, vor (z.T. auch nach) einfachem Liquidlaut. Beispiele: quemen (kommen), zemen (ziemen), queln (Qual leiden), steln, bern (tragen), swern (schwären), leschen (erlöschen), vlehten, treffen, brechen, sprechen, stechen, schrecken (erschrecken), dehsen ([Flachs] schwingen), vehten.

17 Md.

steht 1.P.Sg.Präs.Ind. e statt i: ich helfe. Es heißt binden  helfen, und gebunden  geholfen weil die Verbindung Nasal+Konsonant den a-Umlaut i>e, u>o verhinderte 19 Doppelkonsonanz wird im Auslaut vereinfacht, deshalb Sg. Prät. bram, entran etc 20 Dehnstufe statt der Schwundstufe 21 < germ. h 18

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

 V. Ablautreihe: V

26 / 71

Wurzel auf einfachen Konsonanten (kein Nasal/Liquid)

gëben / gibe - gap - gâben - gegëben

//

ë-a-â-ë

Kennzeichen der Verben der 5. Ablautreihe:  Präsensstamm: e (auch im Part. Prät.) vor einfachem Konsonanten (d.h. vor Verschlußlaut oder Spirans; nicht vor Nasal oder Liquid l, m, n, r, ch) bzw. vor Doppelkonsonanten22. Beispiele: wëben, pflëgen, jëhen, geschëhen, sëhen, trëten, ezzen, vergezzen, vrezzen. Verben mit GW: 1) s - r:

2) h - g:

wësen (was wâren gewësen), jësen (gären), lësen, genësen. Prät. Pl. immer: wâren, jâren; Ausgleichsformen zu genësen, lësen: lâsen, genâsen u. seltener lâren, genâren; Part. Prät.: gewësen, gejësen, gelësen (selten gelërn), genësen (selten genërn). GW-Restformen zu sëhen: Pl. Prät. sâgen neben sâhen.

Zur AR V zählen auch drei sog.  j-Präsentien - bitten, lig(g)en, sitzen: Kennzeichen: i im ganzen Präsens Doppelkonsonanz bzw. Affrikata23. Übrige Formen regelmäßig: bat bâten gebëten lac lâgen gelëgen saz sâzen gesëzzen

 VI. Ablautreihe: VI

tragen / trage - truoc - truogen - getragen

//

a - uo - uo -a

Kennzeichen der Verben der 6. Ablautreihe:  Präsensstamm/Part. Prät: a

 Kein Vokalwechsel innerhalb des Präteritums (≠AR 1-5)

Beispiele:

maln (mahlen), varn, laden (beladen), waschen, graben, schaffen, nagen, tragen, slahen (schlagen), twahen (waschen), wahsen.

Zur AR VI zählen auch die  j-Präsentien (heven) heben, entseben (wahrnehmen), swern (schwören), schepfen: Kennzeichen: e (Umlaut des Wurzelvokals) im gesamten Präsens. Übrige Formen regelmäßig:

Verben mit GW: 1) h - g:

huop huoben erhaben entsuop entsuoben entsaben swuor swuoren geswarn (meist aber gesworn nach AR IV) schepfen schuof schuofen geschaffen

slahe sluoc sluogen geslagen, ebenso bei twahen waschen; das g ist aus dem Plur. des Prät. in den Sing. eingedrungen (sluog>sluoc), da die Übereinstimmung des Wurzelvokals auch die Angleichung des wurzelschließenden Kons. begünstigte.

2) f – b:

22 die durch

entseben (häufig mit GW)

die 2. Lautverschiebung entstanden sind. Folgen der westgerm. Konsonantendehung: Präsens urspr. mit ja-Thema gebildet, deshalb sind Gemination und Umlaut wirksam geworden. 23

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

27 / 71

 VII. Ablautreihe: Kennzeichen der Verben der 7. Ablautreihe:  Präsensstamm: a, â, ei, ou, ô, uo  Präteritum: ie in allen Formen24  VIIa halten - hielt - hielten - gehalten râten - riet - rieten - gerâten heizen - hiez - hiezen - geheizen Kennzeichen:  Präsensstamm:

// // //

a - ie - ie - a â - ie - ie - â ei - ie - ie - ei

a vor ll, nn, l+Kons., n+Kons, â, ei 25

Beispiele: vallen, wallen (sieden), valten, schalten (schieben), spalten, walten, salzen, walzen, bannen; brâten, lâzen, blâsen, slâfen; scheiden, sweifen.  VIIb loufen - lief - liefen - geloufen stôzen - stiez - stiezen - gestôzen ruofen - rief - riefen - geruofen Kennzeichen:  Präsensstamm:

// // //

ou - ie - ie - ou ô - ie - ie -ô uo - ie - ie -uo

ou, ô, uo

Beispiele: houwen (hie/hiu - hiewen/hiuwen – gehouwen); schrôten (schneiden), bôzen (schlagen); wuofen (wehklagen).

24

Die Bildung der Präteritalformen erfolgte hier ursprünglich durch einfache Reduplikation (Rückdopplung) des wurzelanlautenden Konsonanten (z.B. got. haítan - Prät. haíhaít [héhait]) oder durch Reduplikation und Ablaut (z.B. got. lêtan - Prät. lailôt [lélôt]). In beiden Fällen erfolgte im As. und im Ahd. Kontraktion in den Präteritalformen; Ergebnis ist im Mhd. ie in allen Formen des Präteritums. Der Schwund der Reduplikationssilbe ergibt neue Wurzelvokale für das Präteritum, die sich von den Wurzelvokalen des Präsens unterscheiden; daher: im Ahd./Mhd. bilden diese Verben ihr Präteritum wie die ablautenden (Part. Prät. ebenfalls auf -en). 25 diese Verben werden nhd. vielfach schwach flektiert.

2.1.3.6.

Übersicht über die Ablautreihen Ablautreihen I -III

STAMMVOKALE

I

PARADIGMA

a

î - ei - i - i

rîten - reit - riten - geriten

b

î-ê-i-i

lîhen - lêch - lihen - gelihen

ie - ou - u - o

biegen - bouc - bugen - gebogen (biuge)

II a

KENNZEICHEN

VOKALWECHSEL (BRECHUNG / UMLAUT)

Sg. Prät. ei [ germ. ai>ei] Sg. Prät. ê: Verben mit Wurzel auf w oder germ. h [ germ. ai>ê vor r, h, w] Sg. Prät. ou iu / ie (Präsens) [ ahd. au > ou] ü/u (Präteritum)

b

III a

Präsens Ind. Sg. iu / Pl. ie: ich biute - wir bieten [Präs. Sg. ahd. Endungsvokale u (1.) und i (2.3.Sg., Imp.)  ie  ahd. eo>io>ie vor a, o e iu  ahd. eu>iu vor i, u, j]

ie - ô - u - o

bieten - bôt - buten - geboten (biute)

Sg. Prät. ô: vor Dentalen (d, t, z, s) und germ. h [ ahd. au>ô vor Dentalen und h]

i-a-u-u

binden - bant - bunden - gebunden

Nasal + Konsonant ü/u (nn, mm, n + K., m + K.) (Präteritum) [i im Präsens  ahd. e>i vor i, j, u, Nasalverbind ung (binden)] Liquid + Konsonant i/ë Präsens Ind. Sg. i / Pl. ë: (ll, rr, l + K. , r + K.) (Präsens) ich hilfe  wir hëlfen [Präs. Sg. ahd. Endungsvokale u (1.) und i (2.3.Sg., Imp.)  ü/u i  ahd. e>i vor i, j, u] (Präteritum) Präteritum Indikativ 2. Sg. - ü: du hülfe/ wir hulfen (Pl. -u / Sg. 1., 3. a - ich, er half; wie binden) Präteritum Konjunktiv: ü Sg.1.+3. hülfe, 2. hülfest, Pl.1.+3. hülfen, 2.hülfet (wie binden)

b e-a-u-o

helfen - half - hulfen - geholfen (hilfe)

Präteritum Indikativ 2. Sg. ü / Pl. -u: du büte/wir buten [=Umlaut  i der Endung] (Sg. 1., 3. ou, ô - ich, er bouc, bôt) Präteritum Konjunktiv: ü  Sg.1.+3. büte, 2. bütest, Pl.1.+3. büten, 2. bütet [=Umlaut  i der Endung] Präteritum Indikativ 2. Sg. ü / Pl. -u: du bünde/wir bunden [=Umlaut  i der Endung] (Sg. 1., 3. a - ich, er bant) Präteritum Konjunktiv: ü Sg.1.+3. bünde, 2. bündest, Pl.1.+3. bünden, 2. bündet [=Umlaut  i der Endung]

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

28 / 71

Ablautreihen IV -VI STAMMVOKALE

IV

e-a-â-o

PARADIGMA

KENNZEICHEN

VOKALWECHSEL (BRECHUNG /UMLAUT)

nëmen - nam - nâmen – genomen (nime) stëln - stal - stâlen – gestoln (stil) sprëchen - sprach – sprâchen - gesprochen (spriche)

einf. Nasal oder Liquid nach bzw. vor dem Wurzelvokal (m, n, l, r + V.; V. + m, n, l, r) und Verben auf -ch (sprëchen, stëchen, vëhten)

gëben -gap - gâben – gegëben (gibe)

Verschlußlaut oder Spirans: i/ë Wurzel schließt mit anderem (Präsens) Kons. als Nasal oder Liquid. 1. = 4. Ablautstufe (ë) æ (Präteritum)

V

ë-a-â-ë

VI

a - uo - uo - a graben - gruop - gruoben - gegraben

1. = 4. Ablautstufe (a) 2. = 3. Ablautstufe (uo)

i/ë (Präsens) æ (Präteritum)

e/a (Präsens) üe (Präteritum)

Präsens Ind. Sg. i / Pl.- ë: ich nime  wir nëmen [Präs. Sg. ahd. Endungsvokale u (1.) und i (2.3.Sg., Imp.)] Präteritum Indikativ 2. Sg. æ: du næme/stæle [=Umlaut  i der Endung] (Sg. 1., 3. + Pl. a - ich nam/ich stal) Präteritum Konjunktiv æ: Sg.1.+3. næme/stæle, 2. næmest/stælest, Pl.1.+3. næmen/stælen, 2. næmet/stælet [=Umlaut  i der Endung] Präsens Ind. Sg. i / Pl. ë: ich gibe  wir gëben [Präs. Sg. ahd. Endungsvokale u (1.) und i (2.3.Sg., Imp.)] Präteritum Indikativ 2. Sg. æ: du gæbe [=Umlaut  i der Endung] (Sg. 1. + Pl. a - ich gap) Präteritum Konjunktiv æ: Sg.1.+3. gæbe, 2. gæbest, Pl.1.+3. gæben, 2. gæbet [=Umlaut  i der Endung] Präsens Ind. Sg. 2.+3. - e / Sg. 1. + Pl. -a: ich grabe, wir graben  du grebest, er grebet; ich var, wir varn  du verst, er vert [=Umlaut] Präteritum Indikativ 2. Sg. - üe: du grüebe [=Umlaut  i der Endung] (Sg. 1. + Pl. uo - ich gruop) Präteritum Konjunktiv: üe Sg.1.+3. grüebe, 2. grüebest, Pl.1.+3. grüeben, 2. grüebet [=Umlaut  i der Endung]

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

29 / 71

Ablautreihe VII STAMMVOKALE

PARADIGMA

KENNZEICHEN

VOKALWECHSEL (BRECHUNG /UMLAUT)

halten - hielt - hielten - gehalten

1. = 4. a Ablautstufe

e/a (Präsens)

â - ie - ie -â

râten - riet - rieten - gerâten

VIIa:

â

æ/â (Präsens)

ei - ie - ie -ei

heizen - hiez - hiezen – geheizen

a - â - ei

ei

VIIb:

ou

œ/ô (Präsens)

ou - ô - uo

ô

öu/ou (Präsens)

VII a a - ie - ie -a

b ou - ie - ie - ou

loufen - lief - liefen – geloufen

ô- ie - ie - ô

stôzen - stiez - stiezen - gestôzen

uo - ie - ie -ô

ruofen - rief - riefen - geruofen

Präteritum: ie (2.=3. Ablautstufe)

Präsens Ind. Sg. 2+3.: Umlaut kann eintreten - e/a haltet/heltet; bannet/bennet Präsens Ind. Sg. 2+3.: Umlaut kann eintreten – æ/â rætest/rætet; slæfest/slæfet

Präsens Ind. Sg. 2+3.: Umlaut kann eintreten  öu/ou loufet/löufet Präsens Ind. Sg. 2+3.: Umlaut kann eintreten  œ/ô stœzest, stœzet

uo

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

30 / 71

2.1.3.7. I

Tabelle zur Flexion der starken Verben

II

grîfen

lîden

dîhen

biegen

bieten

kiesen

Sg.1. 2. 3. Pl.1. 2. 3.

grîfe grîfest grîfet grîfen grîfet grîfent

lîde lîdest lîdet lîden lîdet lîdent

dîhe dîhest dîhet dîhen dîhet dîhent

biuge biugest biuget biegen bieget biegent

biute biutest biutet bieten bietet bietent

kiuse kiusest kiuset kiesen kieset kiesent

Sg.1. 2. 3. Pl.1. 2. 3.

grîfe grîfest grîfe grîfen grîfet grîfen

lîde lîdest lîde lîden lîdet lîden

dîhe dîhest dîhe dîhen dîhet dîhen

biege biegest biege biegen bieget biegen

biete bietest biete bieten bietet bieten

kiese kiesest kiese kiesen kieset kiesen

Sg.2 Pl.1. 2.

grîf grîfen grîfet

lît lîden lîden

dîch dîhen dîhet

biuc biegen bieget

dîhende

biegende

III

IV

INFINITIV binden helfen

nëmen

V

VI

stëln

gëben

lësen

bitten

graben

slahen

stil stilst stilt stëln stëlt stëlnt

gibe gibest gibet gëben gëbet gëbent

lise lisest liset lësen lëset lësent

bitte bitest bitet bitten bittet bittent

grabe grebest grebet graben grabet grabent

slahe slehest slehet slahen slahet slahent

nëme nëmest nëme nëmen nëmet nëmen

stël stëlst stël stëln stëlt stëln

gëbe gëbest gëbe gëben gëbet gëben

lëse lësest lëse lësen lëset lësen

bitte bittest bitte bitten bittet bitten

grabe grabest grabe graben grabet graben

slahe slahest slahe slahen slahet slahen

nim nëmen nëmet

stil stëln stëlt

gip gëben gëbet

lis lësen lëset

bite bitten bittet

grap graben grabet

slach slahen slahet

nëmende

stëlnde gëbende lësende

bittende

grabende

slahende

PRÄSENS – INDIKATIV binde bindest bindet binden bindet bindent

hilfe hilfest hilfet hëlfen hëlfet hëlfent

nime nimest nimet nëmen nëmet nëment

PRÄSENS – KONJUNKTIV

grîfende lîdende

binde hëlfe bindest hëlfest binde hëlfe binden hëlfen bindet hëlfet binden hëlfen IMPERATIV biut kius bint hilf bieten kiesen binden hëlfen bietet kieset bindet hëlfet PARTIZIPIUM bietende kiesende bindende hëlfende

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

31 / 71

I

II

III IV PRÄTERITUM INDIKATIV

V

Sg.1.

greif

leit

dêch

bouc

bôt

kôs

bant

half

nam

stal

2.

griffe

lite

dige

büge

büte

kür(e)

bünde

hülfe

næme

stæle

3.

greif

leit

dêch

bouc

bôt

kôs

bant

half

nam

stal

Pl.1

griffen

liten

digen

bugen

buten

kur(e)n

bunden

hulfen

nâmen

stâlen

2.

griffet

litet

diget

buget

butet

kur(e)t

bundet

hulfet

nâmet

stâlet

3.

griffen

liten

digen

bugen

buten

kur(e)n

bunden

hulfen

nâmen

stâlen

VI

gap gæbe gap gâben

was wære was wâren

bat bæte bat bâten

gâbet gâben

wâret wâren

bâtet bâten

gæbe gæbest

wære bæte wærest bætest

gæbe gæben

wære bæte wæren bæten

gæbet gæben

wæret bætet wæren bæten

gruop grüebe gruop gruobe n gruobet gruobe n

sluoc slüege sluoc sluoge n sluoget sluoge n

grüebe grüebe st grüebe grüebe n grüebet grüebe n

slüege slüeges t slüege slüege n slüeget slüege n

PRÄTERITUM KONJUNKTIV Sg.1.

griffe

lite

dige

büge

büte

kür(e)

bünde

hülfe

næme

stæle

2.

griffest

litest

digest

bügest

bütest

kür(e)st

bündest

hülfest

næmest

stælest

3.

griffe

lite

dige

büge

büte

kür(e)

bünde

hülfe

næme

stæle

Pl.1.

griffen

liten

digen

bügen

büten

kür(e)n

bünden

hülfen

næmen

stælen

2.

griffet

litet

diget

büget

bütet

kür(e)t

bündet

hülfet

næmet

stælet

3.

griffen

liten

digen

bügen

büten

kür(e)n

bünden

hülfen

næmen

stælen

PARTIZIPIUM PRÄTERITUM gegriffe gelite gedige geboge gebote gekorn gebunde geholf genome gestoln gegëben n n n n n n en n

gewëse gebëte n n

gegrab geslage en n

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

32 / 71

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

VII a halten Sg.1. 2. 3. Pl.1. 2. 3.

halte haltest (heltest) haltet (heltet) halten haltet haltent

Sg.1. 2. 3. Pl.1. 2. 3.

halte haltest halte halten haltet halten

Sg.2. Pl.1. 2.

halt halten haltet haltende

Sg.1. 2. 3. Pl.1. 2. 3.

hielt hielte hielt hielten hieltet hielten

Sg.1. 2. 3. Pl.1. 2. 3.

hielte hieltest hielte hielten hieltet hielten gehalten

INFINITIV râten heizen loufen PRÄSENS INDIKATIV râte heize loufe râtest (rætest) heizest loufest (löufest) râtet (rætet) heizet loufet (löufet) râten heizen loufen râtet heizet loufet râtent heizent loufent PRÄSENS-KONJUNKTIV râte heize loufe râtest heizest loufest râte heize loufe râten heizen loufen râtet heizet loufet râten heizen loufen IMPERATIV rât heiz louf râten heizen loufen râtet heizet loufet Partizipium Präsens râtende heizende loufende PRÄTERITUM INDIKATIV riet hiez lief riete hieze liefe riet hiez lief rieten hiezen liefen rietet hiezet liefet rieten hiezen liefen PRÄTERITUM KONJUNKTIV riete hieze liefe rietest hiezest liefest riete hieze liefe rieten hiezen liefen rietet hiezet liefet rieten hiezen liefen PARTIZIPIUM PRÄTERITUM gerâten geheizen geloufen

33 / 71

VII b stôzen

ruofen

stôze stôzest (stœzest) stôzet (stœzet) stôzen stôzet stôzent

ruofe ruofest ruofet ruofen ruofet ruofent

stôze stôzest stôze stôzen stôzet stôzen

ruofe ruofest ruofe ruofen ruofet ruofen

stôz stôzen stôzet

ruof ruofen ruofet

stôzende

ruofende

stiez stieze stiez stiezen stiezet stiezen

rief riefe rief riefen riefet riefen

stieze stiezest stieze stiezen stiezet stiezen

riefe riefest riefe riefen riefet riefen

gestôzen

geruofen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

34 / 71

2.1.3.8. Zur Ermittlung des Stammvokals der Infinitivform und der Ablautreihe starker Verben 1. Ermittlung des Infinitivvokals und der Ablautreihe vom Präsensstamm aus Präsensstamm î (dîhen) ie (biegen) i (binden) e (helfen) a (graben) â (râten) ei (heizen) ou (loufen) uo (ruofen) ô (stôzen)

Infinitiv î (grîfen, dîhen) ie (biegen, bieten) i (binden) e (helfen, nemen, geben) a (graben, halten) â (râten) ei (heizen) ou (loufen) uo (ruofen) ô (stôzen)

Klasse Ia, Ib IIa, IIb IIIa IIIb, IV, V VI, VII VII VII VII VII VII

2. Ermittlung des Infinitivvokals und der Ablautreihe vom 1. Präteritalstamm aus Prät. (1)-Stamm ei (greif) ê (dêch) ou (bouc) ô (bôt) a (bant, half) uo (gruop) ie (hielt, riet)

Infinitiv î (grîfen, dîhen)

Klasse Ia, Ib

ie (biegen, bieten)

IIa, IIb

i (binden) e (helfen, nemen, geben) a (graben) a, â, ei, ou, uo ô

IIIa IIIb, IV, V VI VII

3. Ermittlung des Infinitivvokals und der Ablautreihe vom 2. Präteritalstamm aus Prät. (2) -Stamm i (griffen, riten) u (bugen, hulfen)

â (nâmen, gâben) uo (gruoben) ie (hielten, rieten)

Infinitiv î (grîfen, dîhen) ie (biegen, bieten) i (binden) e (helfen) e (nemen, geben) a (graben) a, â, ei, ou, uo, ô

Klasse Ia, Ib IIa, IIb IIIa IIIb IV, V VI VII

4. Ermittlung des Infinitvvokals und der Ablautreihe vom Partizip II aus Part. II-Stamm i (gegriffen, gedigen) u (gebunden) o (gebogen, geholfen) e (gegeben) a (gegraben, gehalten) â (gerâten) ei (geheizen) ou (geloufen) uo (geruofen) ô (gestôzen) (Aus:

Infinitiv î (grîfen, dîhen) i (binden) ie (biegen, bieten) e (helfen, nemen) e (geben) a (graben, halten) â (râten) ei (heizen) ou (loufen) uo (ruofen) ô (stozen)

Klasse Ia, Ib IIIa IIa, IIb IIIb, IV V VI, VII

VII

J. SINGER, Grundzüge einer rezeptiven Grammatik des Mittelhochdeutschen. Paderborn / München / Wien / Zürich 1996, S. 261-265)

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.3.9.

35 / 71

Übungen: Starke Verben

A. Zu den Ablautreihen 1-3 1) Erläutern Sie die Ursache für den unterschiedlichen Stammvokal im Part. Prät. an dem Beispiel geholfen gebunden!

2) Bestimmen Sie die Ablautreihen der folgenden Infinitive und geben Sie die Stammformen an! 1. sliefen

5. snîden

2. trinken

6. dîhen

3. smiegen

7. mîden

4. ziehen

8. gelten

9. zîhen

13. verderben

10. sieden

14. schînen

11. swinden

15. riechen

12. klieben

16. werben

3) Wie heißt der Infinitiv der folgenden mhd. Präteritalformen? Geben Sie die Ablautreihen an! 1. er streit

9. gebliben

2. si lêch

10. wir rigen

3. gesigen

11. geschoben

4. er kloup

12. du rüche

5. ez flôz

13. gekorn

6. si güzzen

14. ez swant

7. wir schulten

15. si brunnen

8. er swal

16. wir griffen

B. Zu den Ablautreihen 4-7: 1) Bestimmen Sie die Ablautreihen der folgenden Infinitive und geben Sie die Stammformen an! 1. steln

9. wesen

2. scheiden

10. graben

3. tragen

11. halten

4. lesen

12. bannen

5. quêln

13. jehen

6. sitzen

14. maln

7. râten

15. heben

8. swern

16. treten

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

36 / 71

2) Wie heißt der Infinitiv der folgenden mhd. Präteritalformen? Geben Sie die Ablautreihen an! 1. getreten

9. si liefe

2. er næme

10. gesworn

3. wir brâchen

11. genesen

4. si wâren

12. si zâmen

5. wir sluogen

13. gehouwen

6. gesprochen

14. er briet

7. si âzen

15. er luot

8. du trüegest

16. geheizen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

37 / 71

2.1.4. Besondere Verben Präterito-Präsentien Als Präterito-Präsentien bezeichnet man eine kleine Gruppe von 9 ursprünglich starken Verben: durfen, dürfen (bedurfen/bedürfen) gunnen, günnen (erbunnen, verbunnen) kunnen, künnen mugen, mügen muozen, müezen

suln, süln tugen, tügen turren, türren wizzen

Ihre Bedeutung weicht im Nhd. z.T. erheblich gegenüber dem Mhd. ab: suln, süln ‘müssen, etw. mhd. schuldig sein’  ‘müssen’ Umschreibung - Futur von: - Imperativ nhd. ‘können’ (=wissen, ‘dürfen’ (=erlaubt ‘sollen’ verstehen, imstande sein) sein etc.) Bedeutungen

kunnen, künnen ‘wissen, verstehen’  ‘können, vermögen’

durfen, dürfen ‘müssen, brauchen, bedürfen’  ‘können, dürfen’

mugen, mügen ‘(physisch) können, imstande sein’

‘mögen’ (=wollen)

müezen ‘können, dürfen, müssen’

- Futur - Wunsch ‘müssen’

„Präterito-Präsentien“ - Definition: Diese Gruppe von Verben hat ihr ursprüngliches Präsens verloren, ihre Präteritalform hat Präsensbedeutung angenommen. Aus der Ablautstufe des Plural bilden die Prät. Präs. einen neuen Infinitiv und ein neues schwaches Präteritum, dessen Konjunktiv z.T. Umlaut aufweist. Damit stehen sie zwischen den starken und schwachen Verben als Mischklasse. Formal sind die Prät.-Präs. als Präteritalformen gekennzeichnet durch:  Ablaut zwischen Sg. u. Pl. Präs. (entsprechend dem Prät. der st. Verben): weiz - wizzen = reit - riten (I) darf - durfen = warf - wurfen (III)  Endungslosigkeit der 1. + 3. Sg. Präs. (entsprechend dem Prät. der st. Verben): ich/er darf = ich/er warf ( Präs. ich wirfe, er wirfet) Flexion: Die Präsensflexion unterscheidet sich nur wenig von der des Prät. der st. Verben:  Plural (entspricht dem Infinitiv) zeigt z. T. Umlaut (dürfen, künnen).  2. Sg. auf -t bzw. -st (du solt, du darft, du kanst). Die Partizipien werden aus der Pluralwurzel gebildet, das Partizipium Prät. z. T. stark:  Part. Präs. wizzende (< Pl. wizzen), Part. Prät. gewist, gewest;  bei gunnen: gunnende - gegunnen und gegunnet (auch gegunst). Dazu noch: bedorft zu durfen / dürfen. Das Präteritum wird bei den Prät.-Präs. neu gebildet, und zwar durch Anhängen von -t (d) , dem Kennzeichen der schwachen Präteritalendung, ohne Bindevokal an die Pluralwurzel:  kan - Pl. kunnen - Prät. kunde.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

38 / 71

Zuordnung zu den Ablautreihen: Nach den Ablautverhältnissen im Präsens (d. h. den Formen des germ. Präteritums) lassen sich die Prät. Präs. den ersten 6 Klassen / Ablautreihen der st. Verben zuordnen, dabei ist in der IV. und V. Ablautreihe der Plural Präs. allerdings ein u - suln, mugen (analog zur Schwundstufe der III. Ablautreihe - bunden, hulfen - und abweichend von den st. Verben, die hier ein dehnstufiges â zeigen - nâmen, gâben).

I. Ablautreihe II. Ablautreihe III. Ablautreihe

wizzen tugen, tügen gunnen Wie gunnen: erbunnen, verbunnen kunnen, künnen durfen, dürfen

IV. Ablautreihe

V. Ablautreihe VI. Ablautreihe

‘wissen’ ‘helfen, nützen, brauchbar sein , taugen’ ‘gönnen, erlauben, gern sehen an jem.’ (mhd. auf etwas Zukünftiges bezogen) ‘beneiden, mißgönnen’ urspr. ‘wissen, verstehen, (geistig) können’, doch auch mhd. schon ‘können, vermögen’ urspr. Notwendigkeit, Erfordernis gemeint: ‘bedürfen, brauchen’. Mhd. Wandlung zu ‘können, dürfen’.

Wie durfen, dürfen: bedurfen, bedürfen; Part. Prät. bedorft (Part. Prät. nur von bedurfen gebildet) ‘wagen, sich (ge)trauen’ turren, türren suln, süln. ‘müssen, verpflichtet sein, (etw.) schuldig sein, sollen’; bezeichnet urspr. die Notwendigkeit oder Erfordernis einer Handlung, in Abhängigkeit von Normen, nicht vom personalen Subjekt bestimmt; doch bereits mhd. häufig ins Subjekt verlagert. Gelegentlich als Hilfsverb zur Umschreibung des Futurs und des Imperativs verwendet Bedeutung fast immer ‘(physisch) können, imstande sein’ mugen, mügen (bis Frnhd.) müezen. urspr. ‘sollen, müssen, können, mögen, dürfen’, dann ‘müssen’, die Notwendigkeit einer Handlung meinend; mhd.: beide Verwendungsweisen, sowie als Hilfsverb zur Umschreibung des Futurs und als Ausdruck eines Wunsches verwendet

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

39 / 71

Tabelle zur Flexion der Präterito-Präsentien I.

wizzen

eigen

tugen, tügen

gunnen, günnen

Sg. 1.+3. 2. Pl. 1.+3. 2.

weiz

-

touc

gan

III. PRÄSENS Infinitiv kunnen, künnen durfen, dürfen Indikativ kann darf

weist wizzen

eigen

tugen, tügen

ganst gunnen, günnen

kanst kunnen, künnen

wizzet

-

gunnet, günnet

Sg. 1.+3. 2. Pl. 1.+3. 2.

wizze

eige

tuge, tüge

gunne, günne

kunnet, künnet durfet, dürfet Konjunktiv kunne, künne durfe, dürfe

wizzest wizzen

-

etc.

gunnest, günnest gunnen, günnen

kunnest, künnest kunnen, künnen

wizzet

-

gunnet, günnet

Sg. 1.+3. 2.

wisse, wesse, wiste, weste wissest, wessest, wistest, westest wissen, wessen, wisten, westen wisset, wesset, wistet, westet

-

tohte

gunde (gonde)

kunnet, künnet durfet, dürfet PRÄTERITUM Indikativ kunde (konde) dorfte

-

etc.

gundest (gondest)

kundest (kondest)

dorftest

-

gunden (gonden)

kunden (konden)

-

gundet (gondet)

kundet (kondet)

Pl. 1.+3. 2.

Sg. 1.+3. 2. Pl. 1.+3. 2.

II.

IV.

V.

VI.

turren, türren

suln, süln

mugen, mügen

müezen

tar

sol, (sal)

mac

muoz

tarst turren, türren

solt suln, süln

muost müezen

sult, sült

maht mugen, mügen magen, megen muget, müget

turre, türre

sul, sül

muge, müge

müeze

etc.

sulst, sülst sulen, sülen

mugest, mügest mugen, mügen

müezest müezen

sulet, sület

muget, müget

müezet

torste

solde, solte

mahte, mohte

muose, muoste

etc.

dorften

soldest, mahtest, mohtest soltest solden, solten mahten, mohten

dorftet

soldet, soltet

mahtet, mohtet

muosest, muostest muosen, muosten muoset, muostet

mähte, möhte

müese, müeste

darft durfen, dürfen

durfest, dürfest durfen, dürfen

müezet

-

töhte

günde, gunde

Konjunktiv künde, kunde dörfte

törste

sölde, solte

wie

-

etc.

gündest, gundest

kündest, kundest

dörftest

etc.

Prät.

-

günden, gunden

künden, kunden

dörften

söldest, mähtest, möhtest soltest sölden, solten mähten, möhten

müesest, müestest müesen, müesten

Ind.

-

gündet, gundet

söldet, soltet

müeset, müestet

gewist, gewest

eigen

gegunnen, gegunnet

kündet, kundet dörftet Partizipium Präteritum bedorft

mähtet, möhtet

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.4.2.

40 / 71

wellen ‘wollen’

Den Indikativformen dieses Verbs liegen ursprüngliche Konjunktivformen zugrunde; aus der Wurzel des Plurals und nach Art der schwachen jan-Verben wurde ein neuer Konjunktiv gebildet. Präsens:  Sg. Präs. Ind. wil  alter Optativ Stamm *wël  Pluralform wellen  germ *waljan > ahd. wellen (Gemination und Umlaut), gilt für Plural und Konjunktiv flektieren schwach. Präteritum:  von der Pl.-Wurzel schwach gebildet: germ. *walda > ahd. wolta > mhd. wolte (Umlaut war nicht möglich, a wurde zwischen w und l zu o umgefärbt). INFINITIV wellen PRÄSENS Indikativ Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3.

wil(e) wil(e), wilt wil(e) wellen (weln) wellet (welt) wellen(t), (welnt) Part. Präsens wellende PRÄTERITUM Indikativ wolte, wolde

Konjunktiv welle wellest welle wellen wellet wellen

Konjunktiv wolte, wolde

Part. Prät. gewellet, gewellt; gewöllet, gewölt

 wellen unterscheidet sich von den Prät. Präs. durch den Präsens-Vokal i - ich wil (wie ich stil;  ich stal, oder ich darf = Prät.-Präs. = Prät. Stamm  nëmen - nam).  wellen ist als alter Optativ unterschieden von den Indikativformen: 3. P. Sg. ohne -t - er wil ( er stilt).  Mhd. > Nhd.: wellen hat mhd. mit wenigen Ausnahmen die gleiche Bedeutung wie nhd., wird auch zur Umschreibung des Futurs eingesetzt.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.4.3. tuon

gân / gên

sîn

stân / stên

41 / 71

Wurzelverben

Kennzeichen: athematische Bildung der Präsensformen (daher auch: athematische Verben). Die Endung tritt unmittelbar an die verbale Wurzel, vgl. Inf. mhd. tuo-n, gâ-n, stâ-n, sî-n. Grundsätzlich sind alle Präsensformen dieser Verben einsilbig.  tuon

Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3. Imperativ

Präsens Indikativ Konjunktiv tuon tuo tuost tuost tuot tuo tuon tuon tuot tuot tuont tuon Sg. tuo Pl. 1. tuon 2. tuot

Präteritum Indikativ Konjunktiv tët(e) tæte tæte tætest tët(e) tæte tâten tæten tâtet tætet tâten tæten Part. Präs. tuonde Part. Prät. getân

 gân / gên und stân / stên Beide Verben flektieren im Präs. völlig gleich; im Präteritum flektiert gân wie ein Verb der VII., stân wie ein Verb der VI. AR. Präsens Indikativ Konjunktiv Sg. 1. gân, gên gê, gâ stân, stên stâ, stê 2. gâst, gêst gêst, gâst stâst, stêst stâst, stêst 3. gât, gêt gê, gâ stât, stêt stâ, stê Pl. 1. gân, gên gên stân, stên stên 2. gât, gêt gêt stât, stêt stêt 3. gânt, gênt gên stânt, stênt stên Inf. gân, gên; stân, stên Imp. gâ, gê, ganc; stâ, stê, stant

Indikativ gienc, gie stuont gienge stüende gienc, gie stuont giengen stuonden gienget stuondet giengen stuonden

Präteritum Konjunktiv gienge stüende giengest stüendest gienge stüende giengen stüenden gienget stüendet giengen stüenden Part. Präs. gânde, gênde; stânde, stênde Part. Prät.: gegangen, gegân; gestanden, gestân

Zur Herkunft der Formen: Beide Verben werden aus zwei verschiedenen Stämmen gebildet:  1) Stamm eines ahd. st. Verbs (gangan, stantan)  2) Stamm eines Wurzelpräsens (gân/gên, stân/stên)

Im Mhd. kommen im Präsens nur die Kurzformen gân / gên, stân / stên vor, gangan und stantan dagegen gar nicht, mit Ausnahme des Imperativs und der alem. Konjunktivform gange. Alle Präteritalformen dagegen werden von gangan und stantan gebildet; gie, gegân; gestân sind erst im Mhd. aufgekommen.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

42 / 71

 sîn Präsens Präteritum sîn, wësen nur wësen (V. AR, gW) Indikativ Konjunktiv Indikativ Konjunktiv Sg. 1. bin sî (wëse) was wære 2. bist sist (wësest) wære wærest 3. ist sî /wëse) was wære Pl. 1. birn, sîn, md. sint sîn (wësen) wâren wæren 2. birt, sît sît (wëset) wâret wæret 3. sint, md. sîn sîn (wësen) wâren wæren Inf. wësen, sîn Imp. Sg. wis, bis; Pl. wëset, sît Part. Präs. wësende, sînde Part. Prät. gewësen bair., md. (gesîn = alem., gewëst = md., dann bair.)

1. Verbum substantivum, bezeichnet das Dasein, die Existenz: er ist = ‘er existiert’; 2. Hilfsverb: er ist gegangen (Hilfsverb zur Tempuscharakteristik), er ist ein ritter (Hilfsverb als Kopula). Zur Herkunft der Formen: Die Flexionsformen werden aus 3 Wurzeln gebildet:  1. *es- in ahd. mhd. nhd. ist, lat est. Schwundstufe dazu ist s: 3. Pl. Präs. s-int < idg. *s-énti und im Konj. s-î (î= Optativkennzeichen), nhd. sei.  2. *bheu, *bhû- (thematisches Verb), lat. futurus, fui, nhd. ich bin 1. Sg. idg. *bheuo > germ *biu = ags. beo; im b der dt. Formen erhalten  3. *ues- = Wurzel des st. Verbs der V. AR wësen. wësen gibt es noch im Ahd. als regelmäßiges st. Verb in allen Tempora. Im Präs. tritt es aber meist als Verbum subst. auf = ‘existieren, geschehen’, und es wird hier bald durch die mit *bhu- und *esgebildeten Formen verdrängt.

Im Mhd. ist der Ind. Präs. von wësen nur noch vereinzelt belegt, im Konj. und im Imp. hielten sich dagegen die von wësen abgeleiteten Formen (vgl. gangan : gân, gên; stantan : stân, stên) Im Ind. Präs. ist in allen mit b anlautenden Formen eine Verbindung der Wurzeln *bhu- und *eseingetreten: *bhu- liefert das b, *es- + Personalendung den übrigen Wortteil.

2.1.4.4.

Kontrahierte Verben - hân, lân

Diese Kontraktionen sind für das Mhd. charakteristisch. Sie setzen im 11. Jh. ein. Vorbild waren dafür vielleicht gân neben gangan und die anderen Wurzelverben, und hân < haben, lân < lâzen stimmen im Präs. auch völlig mit gân überein. Kontrahierte und unkontrahierte Formen stehen in der Flexion nebeneinander:  kontrahierte Formen v.a. im Ind., Inf., Part.Präs.; häufig als Hilfsverb  unkontrahierte Formen v.a. im Konj.Präs., Prät.; häufig als ‘halten’ und im Konj.Präs. des Hilfsverbs.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

43 / 71

 haben > hân

Sg. 1.

Präsens Indikativ Konjunktiv hân habe

2.

hâst

habest

3.

hât

habe

Präteritum Indikativ Konjunktiv hâte, hæte, hêt(e), hæt(e), hæte, hæte, hete, hiete hiet(e), hatte, heite hâtest, hætest, hêtest etc. und auch hæte, hête, hiete etc. hâte, hæte, hêt(e), hæt(e), hiet(e), hatte, heite

Pl. 1. hân haben 2. hât habet 3. hânt haben Inf. hân Part. Prät. gehabet, gehapt, md. gehât, gehat

 lâzen > lân Kontrahierte Formen kommen schon seit dem 10. Jh. vor. Flexion wie gân, stân:

Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3. Inf. lân Imp. lâ, lât

Präsens Indikativ Konjunktiv lân (lâ) lâ lâst, læst lâst lât, læt lâ lân lân lât lât lânt lân

Präteritum Indikativ Konjunktiv liez, lie lieze

liezen

liezen

Part. Prät. gelân  Andere Kontraktionen -h-: hâhen > hân ‘hängen’, vâhen > vân Prät. hienc, vienc und in Analogie zu gie, auch hie und vie. versmâhen > versmân, vlêhen > vlên, sëhen > sên ; slâhen > slân ‘schlagen’ etc. -agi-, -egi- > ei sagit, sagis > segis, segit > seist; gesagit > geseit im Bair. auch -age- > -ei-: sagês, sagêt > seist, seit, gesagêt > geseit, klages, klaget > kleist, kleit, geklaget > gekleit etc. -ige-, -ibe-, -ide-, -ege-, -ebe-, -ede- > î 2.3.Sg. Präs. Ind > ei bei schw.Verben auch im Prät., Part. Prät. ligen > lîst, lît; gëben > gîst, gît; sagen > seist

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

44 / 71

2.1.4.5.

Mischung starker und schwacher Konjugation

bringen und beginnen (erkunnen, verkunnen) = starke Verben der III. AR mit Mischformen.  bringen st. Präteritalformen (selten):

branc - brungen

sw. Präteritalformen (häufiger): 1., 3. P. Sg. Prät. Ind. brâhte, 2.P.Sg. braehte / brâhtest braehte: Elemente st. u. sw. Konj. sind in dieser Form vereint: stark - die 2.P.Sg.Prät.Ind. endet auf e und weist Umlaut auf schwach - die Form ist mit Dentalsuffix gebildet.

Pl. brâhten, Part.Prät. brâht (bringen ist perfektiv, daher Part.Prät. ohne ge-)  beginnen Prät. Sg.

st.: sw.:

began begunde

Pl. Prät.nur sw.: begunden Part. Prät. st. / sw. begunnen, md. begunst, begonst.  erkunnen ‘kennenlernen’, verkunnen ‘nicht kennen, verzweifeln’ Part. Prät. sw.: Part.Prät. st.:

er-, verkunnet er-, verkunnen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

2.1.4.6.

45 / 71

Übungen: Besondere Verben

Übersetzen Sie die folgenden nhd. Formen ins Mhd. 1. daß ich gehe

11. du kannst (mügen)

2. er wußte

12. ich tue

3. wir konnten (mügen)

13. wir konnten (kunnen)

4. ich gehe

14. daß er tue

5. du sollst (suln)

15. du darfst (durfen)

6. er wagte (turren)

16. ich habe

7. daß ich habe

17. er wollte

8. wir wollen

18. brauchst du? (durfen)

9. weißt du?

19. ich gönne

10. du willst

20. du bist

2.1.5. Übungen: Verben 1) Wie heißt der Infinitiv der folgenden mhd. Präteritalformen? 1. er nerte

11. ich lief

2. er stiez

12. si biezen ‘schlagen’

3. si streich

13. wir verlur(e)n

4. wir slufen

14. si gelâgen

5. er schriet

15. si brunnen

6. si biten

16. er swüere

7. er hielte

17. si bunden

8. er riete

18. gesezzen

9. ez diuzet

19. du hôrtest

10. du sliche

20. ich slouf

2) Bestimmen Sie die Ablautreihen der folgenden Infinitive und geben Sie Stammformen und Ablautreihen an! 1. ligen

11. weten (‘binden’)

2. sprechen

12. riezen (‘weinen’)

3. vâhen

13. nagen (‘nagen’)

4. schînen

14. ber(e)n

5. fliegen

15. schelten

6. varn

16. walten

7. vinden

17. vrezzen

8. sîhen

18. slahen

9. sieden

19. swimmen

10. houwen

20. zîhen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

3) Übersetzen Sie die folgenden nhd. Formen ins Mhd. 1. du warst 2. ich gehe 3. du wirst 4. er finde (Konj.) 5. ich schloff 6. du schlichst 7. es blühte (blüejen) 8. er sendete 9. du hörst 10. du hörtest 11. er trägt 12. du trägst 13. ihr hieltet 14. gingst du? 15. sie liehen 16. wir sprengten 17. wir lasen 18. ich kann nicht lesen 19. wir bannten (bannen, stV) 20. es rauscht (diezen, stV) 21. er brüllte (limmen, stV) 22. aufgesteckt (rîhen, stV) 23. er spie (spîwen, stV) 24. du verschlucktest nicht (swelhen, stV) 25. wir erlitten Qual (queln, stV) 26. wir quälten (sw.V.!) 27. er sagte (jehen, stV) 28. gesessen 29. du mahltest (maln, stV) 30. ich lieh 31. du bogst 32. du rietest 33. du hobst 34. wir kamen 35. gekommen

46 / 71

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

47 / 71

36. sie dankten 37. sie lösen 38. du löstest 39. sie banden 40. gebunden 41. sie sandten 42. ich zieh (zîhen) 43. du rochst 44. du hieltest 45. du schwurst 46. wir nahmen 47. genommen 48. sie warteten (nicht warten!) 49. sie brannten (brinnen, stV) 50. gebrannt (brinnen, stV) 51. sie brannten (brennen, swV) 52. ich genas 53. du fandst 54. du kannst (vermagst mügen) 55. stehlen (Inf.) 56. sie gediehen (gedîhen) 57. du bietest (bieten) 58. ich bot 59. du warfst (werfen) 60. du schiedst 61. sie gedeihen 62. ich werde Übungsprogramm (zur Selbstkontrolle):26 1) In welche Ablautreihe gehören Formen wie mhd. du vlüge, büte, güzze ‘du flogst, botest, gossest’?  6. AR 3)  3. AR 7)  2. AR 13) 2) Falsch! Ursprünglicher Endungsvokal war noch im Ahd. i. Er hat nicht nur Umlaut von a > e (Primärumlaut), sondern auch Hebung von e > i bzw. eu > iu bewirkt. Dagegen haben die Endungsvokale a/e in Inf. und Pl. Präs. Ind. sowie im gesamten Präs. Konj. Brechung hervorgerufen bzw. Hebung verhindert.  zurück zu 13)

26 aus

Bauer / Haage 1986, S. 134ff

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

48 / 71

3) Falsch! Die Präteritalformen der 6. Ablautreihe werden mhd. durch uo gekennzeichnet. Der i-Umlaut als Merkmal der 2.Sg.Prät.Ind. müßte somit üe lauten.  Wie erklären Sie, daß dem nhd. du ludest ein mhd. du lüede entspricht?  das Verb gehört in die 6. Ablautreihe mit Präteritalvokal uo; die alte Aoristendung (ahd. -i) hat im Mhd. i-Umlaut bewirkt und ist durch Vokalabschwächung >e geworden. 4)  das Verb gehört in die 2. Ablautreihe mit Präteritalvokal u; die alte Aoristendung (ahd. -i) hat im Mhd. i-Umlaut bewirkt und ist durch Vokalabschwächung >e geworden. 5) 4) Richtig! - Bestimmen Sie Form und Ablautreihe von mhd. du trügest ‘du betrögst’!  2.Sg. Prät.Konj., 2. AR 13)  2.Sg. Prät.Ind., 2.AR 5) 5) Falsch! Die mhd. i-Umlaute ü, æ und üe (die als Präteritalvokale mit i-Umlaut nur in der 2.Sg. Prät.Ind. sowie im Konj.Prät. auftreten können) sind so verteilt, daß ü+K in AR 2, ü+N/LK in AR 3a/b, æ in den AR 4 und 5 sowie üe in AR 6 auftreten. Die Endung -e ist der mhd. Rest des ahd. -i, einer alten Aoristendung, die seit dem Ahd. Flexionsendung der 2.Sg. Prät.Ind. ist.  zurück zu 1) 6) Falsch! Das mhd. -e als Endung der 1.Sg. Präs.Ind. geht auf ahd. -u zurück. Dieses aber hat Hebung von e > i bewirkt.  Bilden Sie die 2.Sg. Präs.Ind. des mhd. starken Verbs klieben ‘spalten’!  du kliebest 2)  du kliubest 10) 7) Falsch! Die 3. Ablautreihe weist im Pl.Prät. zwar ein u auf, das durch i-Umlaut in der 2.Sg. Prät.Ind. > ü wird, aber stets nur in Verbindung mit Nasal/Liquid + Konsonant.  Bestimmen Sie Form und Ablautreihe von mhd. du süngest ‘du sängest’!  2.Sg. Prät.Ind., AR 3a 5)  2.Sg. Prät.Konj., AR 3a 4) 8) Richtig! - Bilden Sie die Form der 3.Sg. Prät.Ind. des schwachen Verbs mhd. lemen ‘lemen’!  er lem(e)te 14)  er lam(e)te 11) 9) Richtig! - Welche schwachen Verben des Mhd. unterscheiden sich deutlich in der Art ihrer Flexion voneinander?  schwache Verben mit gleichbleibendem Wurzelvokal und schwache Verben mit wechselndem Wurzelvokal 14)  ôn-, ên- und jan-Verben 12) 10) Richtig! - Die mhd. Form er kiuset bedeutet ‘er wählt’. Wie lautet der Inf. des Verbs?  kiusen 2)  kiesen 9) 11) Hier sind die Bedingungen des Primärumlauts sowie des Rückumlauts zu beachten. Ein e in mhd. hengen ‘hängen’ kann nur Resultat des Primärumlauts von a > e sein, da altes idg./germ. e vor Nasalverbindung > i hätte werden müssen. Es liegt also ein jan-Verb vor. Langwurzelige jan-Verben weisen Rückumlaut auf: er hancte. Kurszsilbige jan-Verben dagegen unterlassen den Rückumlaut: mhd. lemen/lem(e)te, legen/legete ‘lähmte, legte’. - Zurück zu 9) 12) Falsch! Diese Kategorisierung gilt noch im Ahd.. Doch schon dort ist das Bildungssuffix der jan-Verben > en geworden. Im Mhd. sind die ahd. ôn- und ên-Verben zusammengefallen (Infinitivendung -en). Es bleibt daher mhd. nur noch die Unterscheidung zwischen normalen schwachen Verben mit gleichbleibendem und schwachen Verben mit wechselndem Wurzelvokal. Bilden Sie die 3.Sg.Prät.Ind. des schwachen Verbs mhd. hengen ‘hängen’!  er hencte  11)  er hancte  8) 13)Richtig! - Wie lautet die 1.Sg.Präs.Ind. des starken Verbs mhd. trëten ‘treten’?   ich trite  9)  ich trete  6) 14) Richtig! - Ende des Übungsprogramms.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

49 / 71

2.2. Substantive Deklinationsformen im Mhd.: 1. Vokalische / starke Deklination 2. Konsonantische / schwache Deklination 3. Besondere Formen der Deklination: Verwandtschaftsnamen auf -er Wurzelnomina.

Aus historischer Sicht unterscheidet man in der starken Dekl.:  a-, ja-, wa- Stämme =  ô-, jô-, wô- Stämme =  i-, u- Stämme =

Maskulina und Neutra Feminina Maskulina / Feminina / Neutra

Bei der schwachen Deklination lassen sich ebenso wie bei der starken ursprünglich einzelne Stämme unterscheiden, je nach dem Konsonanten des Stammsuffixes:    

es/-os-Stämme r-Stämme nt-/nd-Stämme (Partizipialstämme) n- (an-, jan-, ôn-, jôn-, în-) Stämme

Diese n-Deklination hat im Germ. besondere Bedeutung erlangt: Die meisten schwachen Substanitve werden wie die n-Stämme flektiert; schon im Germ. dient diese Flexion dazu, Adjektive zu substantivieren, und schließlich kann schon im Germ. jedes Adjektiv wie ein Substantiv der n-Dekl. flektiert werden. Im Nhd. geht der Pl. der gemischten Dekl. auf die n-Dekl. zurück.

 Mhd. > Nhd.: Mit dem Zusammenfall vieler Kasusendungen im Mhd. auf Grund der Endsilbenabschwächung fallen etliche im Ahd. noch klar unterschiedene Deklinationsklassen zusammen, die Trennung zwischen den einzelnen Kasus geht z.T. verloren („Kasusnivellierung“): Akk. = Nom. (schon mhd.) Dat. Sg. fällt nhd. das im Mhd. fast immer noch vorhandene -e weg Gen. wird im Nhd. oft ersetzt. Im Pl. stimmen schon mhd. der Nom., Gen. und Akk. vielfach überein. In der schw. Dekl. ist nur noch der Nom. von den übrigen Kasus unterschieden. Die Kennzeichnung der grammatischen Form übernehmen andere Wortarten, die das Substantiv begleiten und z.T. selbst noch die vollen Endungen besitzen, z.B. Pronomen und bestimmter Artikel.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

50 / 71

2.2.1. Deklination der Substantive Starke Substantive Gen.Sg. -(e)s, -e oder endungslos: z.B. Gen.Sg.Mask. des gastes, Gen.Sg.Fem. der êre, der kraft Schwache Substantive Gen.Sg. -(e)n, z.B. Gen.Sg.Mask. des boten

2.2.1.1.

Starke Deklination

Maskulina: a-, ja-, wa- und i-Stämme. Neutra: a-, ja-, wa-Stämme und Wörter mit Plural auf -er (lamp - lember, alte iz/az-Stämme) Feminina: ô- , jô-, wô- und i-Stämme.

Maskulina germ.

Sg.Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Gen. Dat. Akk.

a-Stämme ja-Stämme [erst ahd.] *hërdi(j)a‘Dienst’ ‘Hirte’ [nhd. schwach!] der tac dienest hirte des tages dienstes1) hirtes dem(e) tage dienste hirte den tac dienest hirte die tage dienste hirte der tage dienste hirte den tagen diensten hirten die tage dienste hirte *daga‘Tag’

wa-Stämme i-Stämme *saiwa*gasti‘See’ ‘Gast’ sê sêwes sêwe sê sêwe sêwe sêwen sêwe

gast gastes gaste gast geste geste gesten geste

 a-Stämme: Mit Ausnahme des im Mhd. noch obligatorischen -e im Dat.Sg. gleicht die Flexion der nhd. Bei den a-Stämmen mit umlautfähigem Vokal dringt der Umlaut im Plural in ausgehender mhd. Zeit von den i-Stämmen her auch hier ein, so daß dann eine genaue Zuordnung zu den a- oder i-Stämmen nicht möglich ist, z.B. noch die stabe - die stebe, die halme - die helme, die sarke - die serke ‘Särge’. Ungebräuchlich ist der Umlaut mhd. noch bei boume, fademe ‘Fäden’, wolve.  ja-Stämme: Umlaut; Endungs-e in fast allen Formen (außer Gen.Sg. -es und Dat. Pl. -en) (< ja der Endung).  wa-Stämme: In den Formen mit Kasusendung ist das w des ursprünglichen Themas erhalten.  i-Stämme: Bei umlautfähigem Stammvokal im Pl. Umlaut: z.B. mhd. Nom.Sg. gast - Nom.Pl. geste (< ahd. gast, gesti). Später hat sich der Umlaut als Pluralkennzeichen auch auf Wörter anderer Deklinationsklassen ausgebreitet.

Mhd. Hinweise auf historische Klasse: w in Formen mit Kasusendung weist auf ursprüngliche Zugehörigkeit zu den wa- Stämmen. Umlaut, Endungs-e als (unsichere) Indizien.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

51 / 71

Neutra germ.

Sg.Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Gen. Dat. Akk.

a-Stämme ja-Stämme wa-Stämme Plural auf -er *worda*kunja‘knewa*lambaz-/‘Wort’ ‘Fenster’ ‘Geschlecht’ ‘Knie’ iz‘Lamm’ daz wort venster künne knie lamp des wortes vensters künnes kniewes lambes dem(e) worte venster künne kniewe lambe daz wort venster künne knie lamp venster künne knie lember diu wort der worte venster künne kniewe lember(e) den worten venstern künnen kniewen lember(e)n venster künne knie lember diu wort

 a-Stämme: Gegenüber den mask. a-Stämmen sind hier Nom. und Akk. Pl. endungslos, gleichen also Nom. und Akk. Sg.  ja-Stämme: Bei umlautfähigem Stammvokal bewirkt die j-Erweiterung des Themas im Sg. und Pl. Umlaut. Der Nom. und Akk.Sg. enden auf -e.  wa-Stämme: In den Formen mit Kasusendung zeigt sich noch das -w- des Stammes, z.B. Gen.Sg. kniewes, z.T. ist das -w- allerdings bereits ausgefallen, z.B. Gen.Sg. knies.  Substantive mit Plural auf -er: Die Kasusendungen entsprechen der a-Deklination. Bei umlautfähigem Stammvokal tritt Umlaut in den Pluralformen auf. Noch im Mhd. breitet sich die Pluralbildung auf -er aus und erfaßt im Übergang zum Frnhd. sowohl neutr. als auch mask. Substantive, z.B. ämter, böumer, geister, schilder, tücher. Bei einer Reihe von Wörtern ergibt sich dadurch ein Nebeneinander von zwei Pluraformen, z.B. Schilde - Schilder, Tuche Tücher u.a. Im Lauf der Zeit ist dann z.T. Bedeutungsdifferenzierung eingetreten.

Feminina germ. Sg.Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Gen. Dat. Akk.

ô-Stämme *gibô*talô‘Gabe’ ‘Zahl’ diu gëbe zal der gëbe zal der gëbe zal die gëbe zal die gëbe zal der gëben zaln den gëben zaln die gëbe zal

jô-Stämme *brugjô‘Brücke’ brücke brücke brücke brücke brücke brücken brücken brücke

wô-Stämme ‘klêwô‘Klaue’ klâwe klâwe klâwe klâwe klâwe klâwen klâwen klâwe

i-Stämme *krafti‘Kraft’ kraft krefte, kraft krefte, kraft kraft krefte krefte kreften krefte

 ô-Stämme: Alle Kasus des Sg. sowie Nom. und Akk.Pl. enden auf -e; Gen. und Dat.Pl. gehen auf -en aus.  jô-Stämme Ursprüngliche jô-Stämme sind brücke (auch schwach dekl.), helle ‘Hölle’, minne, rede, rippe. Auswirkung des j (oder i): Umlaut, z.T. auch Doppelkonsonanz. Hierher gehören auch die Fem. auf -în und -inne, z.B. vriundîn, vriundinne, daneben aber auch vriundin.  wô-Stämme haben im allgemeinen Doppelformen, z.B. klâ - klâwe (Nom.Sg.) und klân - klâwen (Gen., Dat.Pl.); ê êwe ‘Gesetz, Ehe’; wê - wêwe ‘Weh, Schmerz’, nar - narwe ‘Narbe’, swal - swalwe ‘Schwalbe’. Ausnahmen: triuwe, riuwe ‘Reue’, ouwe ‘Aue’, varwe ‘Farbe’.  i-Stämme: Sie zeigen Umlaut bei umlautfähigem Stammvokal im Plural und Doppelformen (mit und ohne Umlaut) im Gen. und Dat. Sg. (z.B.: diu burc - Gen.Sg. der bürge; hant)

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

52 / 71

2.2.1.2. germ. Sg.Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Gen. Dat. Akk.

Maskulinum *hanan*aran‘Hahn’ ‘Aar’ der hane ar des hanen arn dem(e) hanen arn den hanen arn die hanen arn der hanen arn den hanen arn die hanen arn

Schwache Deklination Femininum ‘tungôn‘Zunge’ diu zunge der zungen der zungen die zungen die zungen der zungen den zungen die zungen

Neutrum *hërtôn‘Herz’ daz hërze des hërzen dem(e) hërzen daz hërze diu hërzen der hërzen den hërzen diu hërzen

Eine Reihe mhd. Wörter endet auf -e, das aber zum Nhd. hin schwindet, z.B. hane, herzoge, schelme, stërne ‘Stern’ etc., andererseits tritt im Nhd. ein -n an das End-e des Nom.Sg., z.B. galge, brunne, knoche. Schwache Neutra sind nur 4 Wörter: hërze, ouge, ôre, wange; mensche kann als Neutr., aber auch als Mask. gebraucht werden.  Mhd. > Nhd.: Genuswechsel mhd. -nhd.: Im Mhd. hat eine Reihe von Wörtern schwankendes Geschlecht: Mask. u. Neutr.: borst (auch Fem. borste), mensche. Mask. u. Fem.: âmeize, rëbe, rôse, slange, sunne etc. Mhd. vorwiegend Mask.: angest, banc, hîrat, last, pîn (doch bereits mundartlich feminine Entsprechungen, z.T. mit eigener fem. Form, vgl. pîne). Entgegen dem Nhd. sind Mask. backe, blintslîche, höuschrëcke, karre, kol(e) (aber mhd. auch st.Neutr.), schërbe, vanc, wade etc. Wechsel von starker zu schwacher Deklination: urspr. starke Mask. auf -en > nhd. schw. Mask. auf -e, z.B. raben > Rabe. Schwankungen zwischen st. u. schw. Flexion sind mhd. häufig, z.B. gebûr- gebûre, hëlm - hëlme.

2.2.1.3.

Besondere Formen der Deklination Verwandtschaftsnamen auf -er

Die Verwandtschaftsnamen auf -er bildeten urspr. eine einheitliche Flexionsklasse. Sie gehörten zu den konsonantischen Stämmen. Im Mhd. kommen Formen mit und ohne Flexionsendungen nebeneinander vor. Für den Plural gibt es auch umgelautete Formen in Analogie zu den i-Stämmen, z.B. veter(e). Sg.Nom. Gen. Dat. Akk.

vater vater(es) vater(e) vater

Pl.Nom. Gen. Dat. Akk.

vater(e), veter(e) vater(e), veter(e) vater(e)n, veter(e)n vater(e), veter(e)

Die Fem. bleiben im Sg. unverändert; im Pl. werden sie z.T. wie ô-Stämme (Dat.Pl. muoter(e)n), z.T. wie iStämme (Dat.Pl. müeter(e)n) flektiert.

Wurzelnomina Es handelt sich hier um einsilbige Substantive, an deren Wurzel unmittelbar die Flexionsendung trat, ohne dazwischen gestelltes Thema. man. Im Mhd. bleibt man entweder in allen Kasus des Sg. und Pl. endungslos, oder es richtet sich nach der aDeklination. Sg.Nom. Gen. dat. Akk.

man man, mannes man, manne man

Pl.Nom. Gen. dat. Akk.

man, manne man, manne man, mannen man, manne

naht richtet sich nach der i-Deklination, behält aber auch seine umlautlose Form bei, vgl. ze den wîhen nahten. Der Einfluß von tages ermöglicht die adverbiale Form des nahtes.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

Sg.Nom. Gen. Dat. Akk.

naht naht(e), nähte naht(e), nähte naht

53 / 71

Pl.Nom. Gen.

nahte, nähte nahte, nähte

Dat.

nahten, nähten

Akk.

nahte, nähte

vuoz. Es flektiert meist nach der i-Deklination (als Maßbezeichnung wird es nach Zahlwörern unflektiert verwendet), ebenso burc (Gen.Sg. der burc, der bürge), brust.

Personennamen Personennamen können stark oder schwach flektiert werden. Personennamen auf Konsonant flektieren stark: Maskulina, die auf Konsonant auslauten, werden wie aStämme dekliniert (im Akk.Sg. enden sie häufig auf -en), z.B. Parzival, Sîfrit. Mitunter sind dabei die Flexionsendungen von Dat. und Akk.Sg. vertauscht, manchmal fehlen sie auch ganz. - Feminina, die auf Konsonant enden, z.B. die Namen auf- burc, -hilt, -lint flektieren ebenfalls stark. Obwohl sie im Nom.Sg. kein - e haben, richten sie sich nach der ô-Deklination. Personennamen auf -e werden schwach dekliniert, z.B. Wate (Mask.), Hilde. Gelegentlich treten auch endungslose Formen auf. Sg.Nom. Gen. Dat. Akk.

Sîfrit Sîfrides/-en, Sîfrit Sîfride/-en, Sîfrit Sîfrit, Sîfriden/-e

Sg.Nom. Gen. Dat. Akk.

Kriemhilt Kriemhilde/-en, Kriemhilt Kriemhilde/-en, Kriemhilt Kriemhilt/Kriemhilden

2.2.2. Übungen: Substantive 1) Worin gründet das Fehlen des Umlautes in nhd. Formen wie allerhand und vorhanden, während das Substantiv Hand im Plural umlautet? 2)Wie erklären Sie sich das Nebeneinander von nhd. Pluralformen wie z.B.: Schilde - Schilder, Tuche - Tücher, Worte - Wörter? 3) Bestimmen Sie folgende Substantivformen (Genus, Kasus), nennen Sie alle Möglichkeiten! diu vrouwe, die vrouwen, der vrouwen (= sw. F.) diu kint, daz kint, der kinde (= st. N.) der bürge (= sw. M. od. st. F.) diu herzen (= sw. N.) der krefte (= st. F.) daz rîche, diu rîche (= st. N.) daz wort, diu wort (= st. N.) 4) Erklären Sie die folgenden Substantivformen: sê - sêwes / knie - kniewes / brâ - brâwe

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

54 / 71

2.3. Adjektive und Adverbien 2.3.1. Starke Deklination der Adjektive Maskulina und Neutra folgen der a-Deklination der Substantive, Feminina der ô-Deklination. Es stehen nominale und pronominale Formen nebeneinander (jeweilige Endungen nach der Flexion des Nomens bzw. der Pronomina). Sg.Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Gen. Dat. Akk.

Maskulinum Neutrum Femininum blinder, blint blindez, blint blindiu, -e, blint blinder(e) blindes blindes blindem(e) blindem(e) blinder(e) blinden blindez, blint blinde blinde blindiu, (-e) blinde blinder(e) blinder(e) blinder(e) blinden blinden blinden blinde blindiu, (-e) blinde *Die fettgedruckten Formen sind auf die nominale (substantivische) Flexion zurückzuführen. Die fettgedruckten Formen im Nom.Sg.Mask./Neutr./Fem. und im Akk.Sg.Neutr. (= blint) werden auch als unflektiert bezeichnet. Diese sog. unflektierten Formen sind durch lautgesetzlichen Schwund der Endungen entstanden.

 1. endungslose Formen: = a-(ô-)Deklination: blint = tac, wort  2. pronominale Formen: blinder, blindiu, blindez = der diu daz

2.3.2. Schwache Deklination der Adjektive Die schwache Deklination des mhd. Adjektivs stimmt ganz mit der des schwachen Substantivs überein.  Einziger Unterschied zum Nhd.:  Akk.Sg.Fem. auf -en (wie beim sw. Substantiv)  Nhd. auf -e: mhd. ich sah die kleinen swalwen  nhd. Sg. oder Pl.: ich sah die kleine Schwalbe oder die kleinen Schwalben. Sg.Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Gen. Dat. Akk.

Maskulinum blinde blinden blinden blinden blinden blinden blinden blinden

Neutrum blinde blinden blinden blinde blinden blinden blinden blinden

Femininum blinde blinden blinden blinden blinden blinden blinden blinden

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

55 / 71

2.3.3. Zum Gebrauch der Adjektivformen Die starken und schwachen Formen des Adjektivs werden im Mhd. im allgemeinen in gleicher Weise verwendet wie im Nhd.: attributiv stark oder schwach prädikativ im allgemeinen endungslos 1. schwache Formen nach stark flektierten Formen best. Artikel Demonstrativpronomen Plural des Pers.pron.

aller guoten vrouwen, eines (des, dises, mînes) lieben sunes der guote ritter disiu edele vrouwe wir guoten ritter

2. starke Formen nach (endungslosem) unbest. Artikel (endungslosem) Possessivpron. Sg. d. Pers.Pron. ohne Artikel

ein guoter ritter mîn guoter ritter ich tumber mensche guoter man

Jedoch können Abweichungen von der zu erwartenden Form auftreten: In attributiver Stellung:  Die starke nominale (sog. unflektierte) Form des Adjektivs kann neben der st. pronominalen Form im Nom.Sg.Mask./Neutr./Fem. und im Akk.Sg.Neutr. verwendet werden: ein guot man ‘ein guter Mann’; lieht gesteine, ein junc man, ein guot frouwe.  Nach dem bestimmten Artikel kann neben der allgemein gebräuchlichen sw. Adjektivform auch das pronominal flektierte Adjektiv stehen: ûz dem betouwetem grase.  In der Anrede sind st. und sw. Formen möglich: zieren helde, aber auch: guote liute.  Ist das attributive Adjektiv nachgestellt, so wird meistens die nominale (sog. unflektierte) Form benutzt, z.B. den dëgen guot, von dirre maget guot, ein ritter gemeit  seltener die pronominale, z.B. ein wolken sô trüebez. In prädikativer Stellung:  Neben der gebräuchlicheren nominalen (sog. unflektierten) Form kann auch die pronominale verwendet werden: sîn jâmer wart sô vester, ich sach in tôten, er kom gesunder in daz lant.  Selten erscheint hier die sw. Form: er lît ze tôde erslagene.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

56 / 71

2.3.4. Komparation 1. Bildungsweise von Komparativ und Superlativ Mhd. stehen im Komparativ und Superlativ umgelautete und umlautlose Formen nebeneinander: z.B.: alt - alter/elter, junc - junger(e)/jünger(e) -; lanc - langer/lenger. Der Komparativ konnte im Ahd. mit -iro/-ôro und der Superlativ mit -isto/-ôsto gebildet werden: Die Formen mit i riefen Umlaut des Wurzelvokals hervor. Bildungssuffixe ahd. mhd. -iro/-isto -er / -est -oro/-ôsto

ahd. jung-iro jung-ôro

Komparativ mhd. jünger(e) junger(e)

Superlativ ahd. mhd. jung-isto jüng(e)ste jung-ôsto jung(e)ste

2. Suppletivsteigerung guot übel michel ‘groß’ lützel ‘klein’

bezzer(e) wirser(e) mêre, mêrer(e), mêrre minner(e), minre

bezzest, beste wirsest, wir(se)ste meiste min(ne)ste, minnest

2.3.5. Adverbien a) Bildungsweise mit Morphem -e (ahd. -o): ahd. ubil ubilô/ubilo

Adjektiv Adverb

mhd. übel übele

nhd. übel übel

b) Adjektiv und Adverb auf -e: Adjektiv mit Umlaut / Adverb ohne Umlaut: Bei den ja/jô-Stämmen enden im Mhd. sowohl die unflektierte Adjektivform als auch das Adjektivadverb auf -e. Der Stammvokal des Adverbs ist im Gegensatz zum unflektierten Adjektiv nicht umgelautet, da beim Adverb im Ahd. anstelle des Themas i das Morphem -o auftrat. Adjektiv Adverb

ahd. skôni skôno

mhd. schœne schône

nhd schön schon

z.B.: herte-harte, spaete-spâte, süeze-suoze, veste-vaste. c) Adverbbildung mit -lîche/-lîchen: Vor allem bei Adjektiven auf -ec/-ic und -isch: z.B.: trûrec - trûreclîche; aber auch: ganz - ganzlîche. d) Suppletivbildung: guot - wol Aus einem anderen Stamm wird das regelmäßige Adverb zu guot gebildet: wol. Daneben allmählich auch: guote.

Komparation. In der Regel werden die einsilbigen Adjektivadverbien ohne Umlautung des Stammvokals gesteigert: hôhe - hôher - hôhest. Einige Sonderfälle der Steigerung des Adjektivadverbs sind baz ‘besser’ - beste ê ‘früher’ - êrs(e) mê/mêr(e) ‘mehr’ - meist(e) min/minner/minre ‘weniger’ - minn(e)ste sît/sider/sint/sînt ‘später’ wirs ‘schlechter’ - wirs(e)st(e).

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

57 / 71

 Mhd. - Nhd.: Schon im Spätmhd. wird die Endung der Adjektivadverbien mehr und mehr aufgegeben und der Umlaut ausgeglichen, so daß im Nhd. Adjektiv und Adjektivadverb nicht mehr formal unterschieden sind, abgesehen von lang - lange. Allerdings gibt es Formen, bei denen infolge Bedeutungsdifferezierung von Adjektiv und Adjektivadverb der Umlaut auch im Nhd. nicht ausgeglichen ist (fest und fast, schön und schon).

2.3.6. Übungen: Adjektive und Adverbien 1) Wie erklären Sie sich das Nebeneinander der Formen mhd. enge und ange ‘eng’? 2) Wie lautet das mhd. Adverb zum Adjektiv süeze ‘süß’? 3) Wie lauten die Adverbformen der folgenden Adjektiva? 1. 2. 3. 4. 5.

kleine trûrec veste küene swære

6. schœne 7. spæte 8. guot 9. senfte 10. trüebe

4) Zu welchen Adjektiven stellen Sie die folgenden Adverbformen? ganzlîche harte suoze baz 5) Welche Möglichkeiten der Adverbbildung gibt es im Mhd.? 6) Erklären Sie das Nebeneinander von Formen wie blâ - blâwer, grâ - grâwer. 7) Erklären Sie das Nebeneinander von Formen alt - alter/elter, junc - junger(e)/jünger(e) - jung(e)ste/jüng(e)ste; lanc - langer/lenger. 8) Wie lautet der Positiv der folgenden Steigerungsformen: bezzer(e) wirsest meiste minner 9) Bilden Sie den Komparativ und Superlativ zu folgenden Adjektivformen: lützel michel übel 10) Erläutern Sie die folgenden Beispiele zur Adjektivflexion! er sah den dëgen guot sîn jâmer wart sô vester ein junc man 11) Wann wird im Mhd. im allgemeinen die starke, wann die schwache Adjektivflexion verwendet?

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

58 / 71

2.4. Pronomina a) Personalpronomina Pronomina der 1. und 2. Person Nom. Gen. Dat. Akk.

1.p.Sg. ich mîn, mînes, mîner mir mich

2.P.Sg. du, dû dîn, dînes, dîner dir dich

1.P.Pl. wir unser uns (unsich) uns

Pronomina der 3. Person 3.P.Sg. Mask. Fem. ër si sî siu sie (ës) sîn ire ir ime im ire ir (inen) in sie si sî 3.P.Pl. sie sî si ire ir in

Nom. Gen. Dat. Akk. Nom., Akk. Gen. Dat.

Neutr. ëz ës (sîn) ime im ëz siu sie sî si

b) Reflexivpronomina Sg. Gen. Dat. Akk. Pl. Gen. Dat. Akk.

Mask. /Neutr. sîn im(e) sich ir(e) in sich

Fem. ir ir sich

c) Possessivpronomina Sg. 1.P. 2. 3.

mîn dîn sîn, ir

Pl.1. 2. 3.

unser iuwer ir

d) Demonstrativpronomina. Artikel Einfaches Demonstrativpronomen. Artikel Sg.Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Akk. Gen. Dat.

Mask. der

Neutr. daz des deme den daz die diu der(e) den

Fem. diu die der(e) der(e) die die

Zusammengesetztes Demonstrativpronomen Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Pl.Nom. Akk. Gen. Dat.

Mask. Neutr. dirre diser ditze diz dises disem(e) disen ditze diz diese disiu dise dirre dieser disen

Fem. disiu dirre, diser dirre diser dise dise

2.P.Pl. ir iuwer iu (iuch) iuch

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

59 / 71

e) Andere einfache Demonstrativa ander ‚der zweite, der andere’; jener, jeniu, jenez; selp (Identitätspronomen) f) Interrogativpronomina Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Instr.

Mask./Fem. wer wes wem(e) wen

Neutr. waz wes wem waz wiu

weder ‘welcher von beiden?’ welch ‘wie beschaffen?, welcher?’ Adverbialer Gebrauch u.a. der Fragepronomina: wâ(r ‚wo’; war ‚wohin’; wannen ‚woher’ wie ‚wie’; wande ‚weshalb’ Pronominaladjektive:

g) Relativpronomina  Demonstrativpronomina als Relativum: der, diu, daz.  verallgemeinernde Relativa: swer ‘wer immer’; swaz ‘was auch immer’ sweder ‘welcher auch von beiden’; swelch ‘welch auch’ swâ ‘wo auch’; swie ‘wie auch’  Bildung von Relativsätzen aus Demonstrativsätzen + Adverbien: wâ(r) ‘wo’; war ‘wohin’; wannen ‘woher’ wie; wande ‘weshalb’ h) Indefinitpronomina 

  



  

‚jeder’: singularische Benennung aller Mitglieder einer Gruppe mit gelîch + Gen. Pl.: manneglîch, mannelîch, menlich ‚jedermann’ gelîch + ie-: iegelîch, ieclîch, iegeslîch nhd. ‚jeglich’ welch + ie-: iewelch ‚jeder’ weder + ie- / ge-: ieweder, geweder ‚jeder’ deweder + ie-: ietweder ‚jeder von beiden’ ‚man’: kann den einzelnen so wie die Gesamtheit vertreten man + ie-: ieman, dazu: nieman ‚niemand’ ‚mancher’: Bezeichnung mehrerer Mitglieder einer Gruppe durch manec, etelîch (v.a. im Pl. ‚manche’), sumelîch ‚irgendeiner, mancher’ ‚irgendeiner’: bezeichnet einen einzelnen aus einer Gruppe sum, ein ein + dech-: dechein, dehein, dekein, daraus: mhd. kein ‚irgendeiner’ (in dieser Bedeutung bis ins 16. Jh.) wer + etes-: etewer, eteswer -lîch, -lich + etes-: etelîch, eteslîch, etzlîch weder + dech-: dechweder, deweder ‚irgendeiner von beiden’ man + ie-: ieman ‚jemand’ ‚keiner’: diese Wörter entstehen durch -Verneinung pronominaler Bezeichnungen für ‚irgendeiner, einer von beiden, man’: nechein, nekein, nehein (enhein, enkein); neweder, enweder ‚keiner von beiden’; nieman -Bedeutungsänderung von dehein ‚irgendeiner’ > dehein ‚keiner’ (zunächst nur in Verbindung mit Negationspartikel, dann auch ohne) ‚alles’: al ‚etwas’: iht (ieht, icht, iet, ît, et); etewaz, etwaz. ‚nichts’: wiht ‚etwas’ + Negationspartikel ni oder unbest. Adv. nie ‚nie, durchaus nicht’: niwiht, niewiht, niet, dann auch einsilbig (u.a.) als nieht, nicht, niuht, nît.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

60 / 71

3.

Syntax

3.1. Die Negation im Mhd. 3.1.1. Formen 1. ne / ne + niht ichn weiz obe ich schoene bin. si enwesten wie gebâren. done torste ich vrâgen vürbaz. dane wart jâmer niht vermiten. ichn tar niht langer bî iuch wesen.

3. ne + andere Pronomina bzw. Adverbien statt niht (nieman, nie etc.) niemen was ir gram. daz ich nie schoener kint gesach. ezne gebôt nie wirt mêre sîme gaste groezer êre.

4. ein bast, ein ber, ein blat, eine bône, ein brôt, ein ei, ein hâr, ein strô si ne vorhtent niht ein bast uns. wan ern gaebe drumbe niht ein strô nun vürhte ich dîne stange unde dich niht eine halbe bône.

5. „Litotes“: lützel, wênec, kleine, selten er hât uns nu vil lange lützel dienste getân. (= gar keinen Dienst) dô sprach er grüezenlîche dar ze Parzivâle: ders kleine (= wenig, nicht) war nam. ir habet mir noch vil wênic her ze lande brâht. swie selten (= nie) wîp mannes bite.

6. Häufung von Negationen ichn gehôrt bî mînen tagen nie selhes niht gesagen. daz in niht enschadete die ünde noch diu fluot. diu minne ist weder man noch wîp. daz er vordes noch sît deheine schoener nie gewan. 7. iht, ieman, ie, iemer, iender können in der Funktion von niht, nieman, nie, niemer, niender verwendet werden: a) Im selbständigen Satz:

‘ouwê’, sprach er, ’sun min, sol ich dich iemer gesehen?’ („werde ich dich niemals mehr erblicken“ oder auch: „jemals wieder“) ‘nû sage mir: tuont sî dir iht?’ ‘sî lobtenz, taet ich in niht’ („sage mir, tun sie dir etwas/nichts? - Sie wären froh, wenn ich ihnen nichts tun würde“) wil ab iemen wesen frô, daz wir iemer in den sorgen niht enleben? („will / wird wieder irgendjemand froh sein, so daß wir nicht weiter in Betrübnis leben?“ oder „will denn niemand froh sein, damit wir nicht immer weiter in Betrübnis leben?“)

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

61 / 71

b) Im abhängigen Satz:

Meist in daz-Sätzen und in von waenen abhängigen Sätzen ohne Negation. Modus im abhängigen Satz ist meist der Konjunktiv. ich waene man dâ iemen âne weinen vant („niemanden, der nicht weinte“) den gebôt si daz si iemer ritters wurden lût („daß sie nie das Wort Ritter erwähnten“) nû sihe ich gerne daz mich iuwer minne iht unminne („daß eure Liebe mich nicht hasse“) maneger frâget waz ich klage unde giht des einen daz ez iht von herzen gê („daß es nicht von Herzen komme“) In daz-Sätzen, die von Verben mit prohibitiver Bedeutung abhängen oder von Verben / verbalen Ausdrücken, mit denen in anderer Weise eine verneinende Vorstellung verbunden ist (z.B.: vermeiden, leugnen, verhindern etc.), kann, für nhd. Sprachgefühl pleonastisch, eine eindeutige Negation erscheinen: jâ verbôt ich iu an den lîp daz ir niht ensoldet sprechen („ich verbot euch bei Gefahr des Lebens, daß ihr sprächet“) ‘ich hete wol behüetet’, sprach diu küneginne, ‘daz, daz ich niht vermeldet hete sînen lîp’ („ich hätte das wohl verhütet, daß ich ihn verraten hätte“) Die Negation kann unter den genannten Voraussetzungen aber auch fehlen: ich behüete wol daz, daz ich im kome sô nâhen (aber: ich kan daz wol bewarn daz ich im so nahen nimmer sol gevarn)

3.1.2. Zur Negation in konjunktivischen Nebensätzen a) Aussage des Hauptsatzes wird eingeschränkt: „Negativ-exzipierende Sätze“ = durch ne negierte konjunktivische Sätze von exzipierender

Bedeutung:

nhd. „es sei denn, daß...“, „wenn nicht...“.

Geben eine Bedingung für eine Ausnahme von dem im Obersatz Ausgesagten an. Die Aussage ist formal negiert oder dem Inhalt nach negativ, seltener positiv. Im exzipierenden Satz steht immer der Konjunktiv. Er geht dem Obersatz voraus oder ist nachgestellt. diun ner dich, du bist ungenesen („du wirst nicht geheilt werden, es sei denn, daß sie dich heilt“ - „wenn sie dich nicht heilt, wirst du nicht geheilt werden“) dô riefens alle, ern taete sînen lewen hin, mit im envaehte nieman da („alle riefen, niemand werde mit ihm kämpfen, es sei denn, daß er seinen Löwen wegsperrte“) Fehlendes ne: Wenn der übergeordnete Satz negiert ist, kann ne im exzipierenden Satz ohne Ersatz fehlen. ich singe niht, es welle tagen („ich singe nicht, es sei denn, daß es Tag werden will“ - „ich singe nur, wenn der Tag anbricht“). Danne im exzipierenden Satz: Der exzipierende Satz kann zusätzlich das Adverb danne enthalten; danne gewinnt allmählich die Funktion eines zusätzlichen formalen Charakteristikums dieses Satztyps, nach dem Schwinden von ne im späteren Mittelalters bleibt es das einzige. wir sîn vil ungescheiden, ez entuo dan der tôt („wir trennen uns nicht, es sei denn, daß der Tod uns scheide“ - „nur der Tod kann uns trennen“).

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

62 / 71

danne allein kann formales Kennzeichen des exzipierenden Satzes sein: des sint ir iemer ungenesen got welle dan der arzat wesen („deshalb werdet ihr nie geheilt werden, es sei denn, Gott wolle der Arzt sein“ - „nur Gott kann euch heilen“) b) Aussage des Hauptsatzes wird erläutert: - nhd. „daß nicht...“, ohne daß...“, ohne zu...“, Relativum + „nicht“. dehein koufman hete ir site, ern verdürbe dâ mite („kein Kaufmann hätte diese ihre Art, ohne dabei zugrunde zu gehen.“ - „jeder Kaufmann, der sich so verhielte, würde zugrunde gehen“) ich waene nieman in der werlde lebe, ern habe ein leit („ich glaube, niemand lebt in dieser Welt ohne Sorgen“) c) Aussage des Hauptsatzes wird ergänzt: - nhd. „daß“ oder Infinitiv + „zu“, ohne Negation. Nach übergeordneten Sätzen mit formal verneintem Verb (niht vergezzen, niht verdriezen, niht erlân etc.) erscheint in konjunktionslosen konjunktivischen Nebensätzen trotz positiver Aussage die Negationspartikel ne. (Der übergeordnete Satz kann auch ein abhängiges hypothetisches Satzgebilde ohne formale Verneinung sein.) Parzivâl des niht vergaz ern holte sînes bruoder swert („Parzival vergaß nicht, seines Bruders Schwert zu holen“) diu maget enlie niht umbe daz si enwolde rîten vürbaz („das Mädchen ließ sich nicht davon abbringen, weiterzureiten“)

Übungen: Übersetzen Sie die folgenden Beispielsätze: 1. den lîp wil ich verliesen, sine werde mîn wîp. 2. ern beschirme iuch eine, ir sît tôt. 3. in enwelle got behüeten, du muost in schiere verloren hân. 4. si sælic wîp enspreche ‘sinc’, niemer mê gesinge ich liet. 5. niemen kan erwenden daz, ez tuo ein edeliu frouwe.

6. ze kâmere enkunde ouch niht gesîn, Brangæne enmüese ez wizzen. 7. der vischære niht enliez ern tæte als in sîn herre hiez. 8. ouch enwart dâ niht vergezzen wirn heten alles des die kraft daz man dâ heizet wirtschaft. 9. desn ist dehein mîn gast erlân erne müese sî (die Riesen) bestân.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

3.2. Zu den Genitivkonstruktionen 1. Partitiver Genitiv: er az daz brôt und tranc dâ zuo eines wazzers daz er vant. Iwânet dô brach der liehten bluomen zeime dach. wand ich sô lieber geste selten her gewunnen hân. dar zuo ist êren mir geschehen. mir kom so rehte lieber geste nie. 2. niemen + wan / danne: ob iemen lebete wan sîn und dîn. er hât hie niemen denne mîn. 3. Genitiv + sîn / werden: daz er des tôdes müese wesen. der van ist Hôrandes. er wânde, er waere der vînde. dû bist mir ze ungnaediges muotes. 4. Genitiv der Relation: daz im prîses niemen glîchen mac. si wurden des ze râte. 5. Genitiv drückt Ursache, Mittel, Modalität aus: si vreuten sich ir jugent.. der rede si lachten. des habent die wârheit sîne lantliute. des einen slags daz ors lac tôt.

63 / 71

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

64 / 71

3.3. Eingeleitete Nebensätze 3.3.1. Mhd. Konjunktionen dâ 1)

dô 2)

sît 3)

wan (daz), niuwan, niwan, niht wan 4)

wande, want, wan 5)

„da“, „dort“, „(dort,) wo“

lokal

temporal

kausal

„damals“, „(damals,) als“

„nachdem“ , „seit(dem) “: „da“, „weil“:

„denn“, „da“, „weil“ „außer“, „nur nicht“, „nur“ „aber“, „sondern“

exzipierend einschränkend adversativ einschränkend konditional

„nur daß“, „wenn nicht“, „wofern nicht“ „warum nicht“

fragend

„als“ (nach ander und verneintem Komparativ)

vergleichend

als, alsô siehe sô alsam siehe sam. 1) dâ ist immer lokal: 1. demonstrativ: „da“, „dort“: dâ z’Arabîe „in Arabien“ modal: „bei der Gelegenheit“; im Anfang erläuternder Antworten: dâ stên ich disen tieren bî „ich bewache diese Tiere“. 2. relativ: „(dort,) wo“: der dâ; an die stat dâ „dorthin, wo“; dâ mite „womit“ si vunden in dâ er lac „fanden ihn liegen, dort wo...“ danne, denne Vergleichskonjunktion nach Komparativ „als“: 2)



wîzer danne snê.

ist immer temporal: „damals“, „(damals,) als“ (mit Präteritum) „als“: dô er sî sach, sî sprach. Im Hauptsatz: „dann“, „da“: dô rieten sîne vriunde, daz er... „da rieten seine Freunde, daß er ...“; adverbial: „damals“ (Übergang von der zeitlichen zur kausalen Bedeutung (nhd. „da“) zeichnet sich Mhd. noch kaum ab: dô si niht solde genesen, dô erbarmete in ir nôt.)

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

65 / 71

ob konditional „wenn“:

waz töhte, ob ich mich selben trüge?

sam, alsam (vgl. sô) vergleichend „(ebenso) wie“: doch tete si sam („wie“) diu wîp tuont mit Konjunktiv „wie wenn“, „als ob“: man sach die ringe rîsen sam sî waeren von strô („...die Panzerringe fallen, als ob sie...“) 3)

sît (daz) 1. temporal „nachdem“, „seit(dem)“: sît ich her wart verkouft, sô hân ich smaelîch arbeit gedolt; mit Gen.: sît des tages; sît des „seitdem“. 2. kausal „da“, „weil“: er muoz verzagen als ein wip, sît wîbes herze hât sîn lîp („...weil er das Herz einer Frau hat“). sô, alsô, als 1. vergleichend „wie“: sô man sagt; grüene sô der klê; du tuost als diu kint; er gie alsô der mit ellen in sturme werben kann; („wie einer, der“) „wie wenn“, „als ob“: ir gebâret als ir sît vrô; 2. temporal-konditional „wenn“ (sehr häufig): daz wir in dem tôde sweben, sô wir aller beste waenen leben; daz sol sîn getân, als wir komen widere; 3. sô adversativ „dagegen“: ich bin heiden, sô ist diu vrouwe kristen. swenne, swanne temporal-konditional (immer mit temporaler Grundbedeutung) „jedesmal, wenn“, „wenn“: swenne aber si mîn ouge an siht, seht sô tagt ez in dem herzen mîn; swenn ir bejaget ir ungunst sô müezet ir gunêret sîn. swie konzessiv „obgleich“ (häufig): swie er ein Sahse waere, im was dâ heime unmaere sich ze verligen. und 1. nebenordnend, häufig mit Inversion des Subjekts, „und“: sie wîsent uns zu himele und varent si (statt si varent) zer helle; 2. oft vor Konditionalsätzen mit Anfangsstellung des Verbs, „wenn“: ich erkande in wol, und saehe ich in „...wenn ich ihn sähe“ 3. relativ: des scheltens unde („welches“, „das“) man ir tete; öfter: die wîle und „die Zeit, die“, „solange wie“: alle wîle und ich mac.

4)

wan (daz), niuwan, niwan, niht wan (entspricht stets dem englischen „but“) 1. exzipierend „außer“, „nur nicht“: niemer niemen bevinde daz wan („außer“, „als“) er unt ich; si truogen alle hungers mâl wan („nur nicht“) der junge Parzivâl; einschränkend „nur“ (oft adverbial gebraucht): dâ sterbent wan die veigen („nur die Todgeweihten“); 2. einschränkend-adversativ „aber“, „sondern“: er nam für sich niht sorgen war wan („sondern“) lebete.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

66 / 71

3. einschränkend-konditional „nur daß“, „wenn nicht (gewesen wäre)“, „wofern nicht“: ouch waere ich tôt von sîner hant wan daz („wenn nicht“) mir half mîn seneschalt; wan diu tarnkappe („wenn die T. nicht gewesen wäre“, vgl. engl. „but for“) sie waeren tôt dâ bestân; 4. vergleichend nach verneintem Komparativ oder ander „als“: diu sprach niht mê wan ‘ouwê’; der anders niht wan strîtes gert. 5)

wande, want, wan 1. kausal, wie nhd. „denn“ mit Hauptsatzwortfolge: wan ich wil in gehorsam wesen und...; „da“, „weil“ mit Nebensatzwortfolge: der hiez der unbekante, wand in nieman da bekande; 2. fragend „warum nicht“: wan minnest du mich? und wünschend: wan waer daz wâr! („wäre das doch wahr!“). Übungen: Übersetzen Sie die folgenden Beispielsätze: 1. dô der sumer komen was... 2. dâ ich ie mit vorhten bat, dâ wil ich nu gebieten 3. dô in der rise komen sach, daz was sîn spot 4. dô diesiu rede was getân, dô sprach aber der guote man 5. sît daz wir von in schieden, hât in iemen iht getân? 6. des selben hân ich mich her wol behuot, sît ich ir gap beidiu herze unde lîp 7. ich gib dir strît, sît du des gers 8. si fuorten doch niht mêre niwan tûsent man 9. er ist anders denne wir gevar 10. sît diu selbe schulde niemans ist wan mîn 11. swie ich nieman liep si dan ir 12. ob ir zen Hiunen hêtet nieman danne mîn 13. daz tæt ich wunderlîchen gerne wan deich fürhte dîne lâge 14. si wære in dem leide erstorben, wan daz si der trost labete 15. der lewe wolt sich stechen durch den bûch, wan daz im der herre Iwein dannoch lebende vor schein 16. ich enacht niht ûf mîn leben und wære sunder zwîvel tôt, wan der hagel und diu nôt in kurzer wîle gelac 17. ich suochte sîne hulde, wan er was merre danne ich 18. ôwê, wan het ich iwer kunst! 19. Êve enhaetez nie getân / und enwaere ez ir verboten nie. 20. daz prîset in und sleht er mich. 21. ir sult wol lâzen schouwen und habt ir rîche wât. 22. Ich man’ iuch der genâden und ir mir habt gesworn..

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

67 / 71

3.3.2. Abhängige Sätze mit besonderer Einleitung Relativsätze dâ „wo“ dar „wohin“ dannen „woher“ swâ „wo (auch immer)“ swar „wohin (auch immer)“ swannen „woher (auch immer)“

der, diu, daz swer/swaz „wer, was (auch immer)“ swelch „welcher“ sweder „welcher von beiden“ sô; und (mhd. selten) und + die wîle, alle wîle, al(le) die wîle „solange“.

in eine gruft, dar selten kom des windes luft. der besten vrühte ist er vol, sô ie ûf erden vunden wart. die wile und er daz leben hat, so sol er mit den lebenden leben.

Indirekte Fragesätze wâ „wo“ war „wohin“ wannen „woher“ wanne „wann“

wer/waz, welch weder „welcher von beiden“ wie „wie“

nune weste mîn her Iwein von wederm sî (die Stimme) waere von den zwein, von wurme ode von tiere. sî vrâget in, wannen er kaeme geriten.

Konjunktionale Nebensätze Temporale Sätze dô „als“ swanne / swenne „(jedesmal,) wenn“ sô „als, sowie, [dann] wenn“ alsô / alse / als „sowie“ die wîle „solange wie, während“. unz (daz), biz (daz), „(solange) bis, (solange) wie“

innen des, under des „indessen, während“ ê (daz) „bevor, ehe“ sît (daz) „seitdem, nachdem“ nu(n)(daz) „als [nun], wie nun, nachdem nun“ bidaz / bedaz „während dessen, daß..., indessen“ swie „sowie, (dann) wenn“; und „wie, sowie, als“ (selten)

dô in der rise komen sach, daz was sîn spot swenn ir uns komet, ir werdent hôh enpfangen sô si gedâht an Helchen, daz tet ir inneclîche wê alse es danne zit si, so bin ich unde Isot da bi den volgte ich eine wîle, unz daz ich eine burc ersach sît daz wir von in scieden, hât in iemen iht getân? Konditionale Sätze ob „wenn“ und swenne „wenn“, „sobald“ sô swie waz töhte ob ich mich selben trüge.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

68 / 71

Konzessive Sätze doch „obgleich, wiewohl“ (s)wie „wiewohl, wenn auch, obgleich aleine(e) „obwohl, obgleich“ ane „wenn gleich“ ob „wenn auch, wenn gleich“ doch er guot ellen trüege, Erec in von dem rosse schiet daz die ringe von den knien zestuben, swie si waeren îserîn alein er wêre niht rîch des guotes, doch was er rîch sinniges muotes ob ez halt frou Kamille waere („und wäre es auch...“, „selbst Frau Kamille...“), ez wurde iedoch versuocht an sie. Kausale Sätze sît (daz) „da, weil“ nû „da nun“ wand(e) / want(e) / wan(e) „da“, „weil“ (al) die wîle (daz): „da“, „weil“

durch daz „um des willen, daß..., deshalb weil“ für daz „dafür daß, weil“ umbe daz „dafür daß, weil“

sît ir michs niht welt erlân, so vernemet ez nû wir der hereverte ledic worden sîn, sô wil ich jagen rîten ich suochte sîne hulde, wan er was merre danne ich Finale Sätze durch daz ûf daz daz

„daß“, „damit“

dar umbe hât er sich genant, daz er sîner arbeit iht âne lôn belîbe. Modal-konsekutive Sätze daz alsô, so, solh + daz

„so, daß“, „in der Weise, daß“.

dô sluoc der herre Sîfrit daz al daz velt erdôz si striten alsô sêre daz al diu burc erscal. Modale Sätze so „wie, dementsprechend wie, wo wie“ so ie (+ Komparativ) - so ie (+ Komparativ) „je - desto“ als(o) „so wie, wie wenn, als ob“. sam / alsam „(in gleicher Weise) wie“ swie „wie auch immer, ganz so wie, wie“ daz danne „als“ ich wil iu gerne bewarn den lîp sô ich beste kan sô ich ie mere zühte hân, sô ich ie minre werdekeit bejage nû was der leu ûz komen, als ir ê habent vernomen man sach die ringe rîsen sam sî waeren von strô er beleip die naht swier mohte irn habt keinen bezzern vriunt dan er ist.

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

69 / 71

Zu den Nebensätzen mit daz daz alleine oder in Verbindung mit Adverbien oder adverbialen Ausdrücken: unz daz, biz daz, durch daz, fur daz, umbe daz, ûf daz; sît (daz), nû (daz), ê (daz), noch denne (daz), die wîle (daz), swenne (daz). Objektsatz: daz bediutet sich alsus, daz wir in dem tôde sweben Modalsatz: ein ritter sô gelêret was daz er an den buochen las Finalsatz: ich enhân niht rosses daz ich dar gerîte Temporalsatz: der helt doch niene tranc ê daz der künic getrunke

3.4. Besonderheiten der Satzfügung Sparsamkeit des Ausdrucks - Ellipsen Nichtbezeichnung syntaktischer Glieder, die auch hätten bezeichnet werden können: 1. Nichtbezeichnung eines Pronomens: nu binden ûf die helme. wistich nu, waz getaete, waz rates hie zuo haete. darnach ist ein tîer heizit panthera. 2. Nichtbezeichnung eines Infinitivs: lâz dir mîn laster leit. done mohte der gast weder vür noch wider. 3. Nichtbezeichnung des Verbums finitum: hie slac, dâ stich. si tâtenz dâ, wizzet daz, sô nie drî ritter baz. sam mir got, so mir got (helfe); sam mir mîn lîp ... 4. Konstruktionen mit wan, niuwan: jô braeche ich rôsen wunder, wan der dorn. 5. Nichtbezeichnung eines nominalen Objekts: Wenn der Begriff sich aus der Situation in einem bestimmten Milieu als selbstverständlich ergibt, v.a. im Bereich von Sondersprachen und der Sprache bestimmter sozialer Gruppen (z.B.: Turnierterminologie): rüeren, trans. = „in Bewegung setzen, antreiben, berühren“ mit sporn si vaste ruorten, die die juncfrouwen fuorten („heftig trieben mit den Sporen [die Pferde] an diejenigen, die die Jungfrauen wegführten“ sus kam er her gerüeret („kam eilends herangeritten“), als den der tiuvel vüeret. rennen, trans. = „laufen machen, jagen, treiben“ waz hilfet daz man traegen esel mit snellem marke rennet? ohne Objekt: „reiten, eilen“ an der selben stunde kam Marke gerant ze dem gevelle („ritt daher, kam angesprengt“) sprengen, trans. (daz ors) = „das Roß springen lassen, galoppieren“

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

70 / 71

Apokoinu (< griech. apo koinou= „vom Gemeinsamen“) Ein Satzglied ist zwei aneinanderstoßenden (fast immer) koordinierten Sätzen gemeinsam, und ist grammatisch-syntaktisch doppelt zu beziehen, sowohl auf den vorangehenden Satz wie auf den folgenden: dô spranc von dem gesidele /her Hagene/ alsô sprach. Gâwân an den zîten sach in der siule rîten / ein rîter und ein frouwen / moht er dâ beidiu schouwen. Das Apokoinu kann im zweiten Satz einen anderen syntaktischen Wert haben als im ersten Satz, wenn die Form doppelte Auffassung gestattet (Kasusdivergenz): heiz Hôranden bringen: dem ist wol erkant / alle site Hagenen (Subj./Akk.-Obj.) / hât er wol gesehen

Anakoluth Satzfügungen, in denen eine begonnene Konstruktion nicht in der zu erwartenden Weise weitergeführt wird, sondern unvermerkt in eine andere Konstruktion übergeht. Es handelt sich um Konstruktionsmischungen, wie sie in der gesprochenen Sprache häufig begegnen; auch bewußt als stilist. Mittel gebraucht. 1. Ein durch einen Gliedsatz unterbrochener Hauptsatz wird anders fortgesetzt wird, als es die Konstruktion verlangt: nû chundet uns daz buoch sus, daz der priester, der hêrre Eusêbius, di wîl er jungelinch was, / in den swarzen buochen er las. 2. Wechsel von indirekter zu direkter Rede, im selben Satz, innerhalb einer Satzperiode oder auch an sie anschließend (selten: Übergang von direkter Rede zu indirekter). 3. Wechsel der Konstruktion bei gleichwertigen Satzgliedern („syntaktische Dissimilation“): z.B. Wechsel einer konjunktionslosen Form eines abhängigen Satzes mit einer solchen mit Konjunktion: dô sagete man ir umben grâl, daz ûf erde niht so rîches was, unt des pflaege ein künec hiez Anfortas Dazu gehören auch Fälle, in denen und daz / oder daz an die Stelle einer anderen Konjunktion tritt, die zu wiederholen gewesen wäre; es nimmt damit die einleitende Konjunktion des voraufgehenden Satzes auf und ist wie jene zu übersetzen: dô gote wart gedienet unt daz man dâ gesanc, mit ungefüegem leide vil des volkes ranc („Als die Totenmesse gehalten war und man den Gesang beendet hatte ...“) Wenn einem Relativsatz ein zweiter syntaktisch gleichwertiger durch und angeschlossener folgt, wird nicht das Relativpronomen wiederholt, sondern das Personalpronomen der 3. Person gesetzt: die haiden die dô dâ wâren unt si diu grôzen wunder vernâmen

Lichtblau: Mhd.Gramm.-Materialien

71 / 71

3.5. Zum Aufbau komplexer Sätze Verbindung eines übergeordneten Satzes mit einem untergeordneten Satz Einschaltung von Gliedsätzen a) Einschaltung eines abhängigen Satzes (= Konditionalsatz oder konjunktionslos) in den übergeordneten Satz: nu gich, wellestu genesen, sicherheit. und ouch diu erbe mîn, erwirbest duz mit sterke, diu sulen dir undertaenec sîn. b) Einschaltung eines Relativsatzes vor das Satzglied, das er ergänzt: des dînen guoten willen gibe ich dir ze lône, die ich tragen solte, mîner muoter Gêrlinde krône. c) Relativsatz wird dem übergeordneten vorangestellt: dar nâch ie ranc mîn herze, wie wol ich daz verendet hân. d) Einschaltung des übergeordneten Satzes in den abhängigen Satz: ist iemen baz enpfangen, daz ist mir unbekant, dan die helede maere in Sigemundes lant.

Verbindung eines übergeordneten Satzes mit mehr als einem untergeordneten Satz a) Untergeordnete Sätze folgen nach dem Grad ihrer Abhängigkeit: nu helfe dir des hant, dem aller kumber ist bekant, ob dir sô wol gelinge, daz dich ein slâ dar bringe, aldâ du Munsalvaesche sihst, dâ du mir dîner freuden gihst. b) Untergeordneter Satz niedereren Grades steht vor dem untergeordneten Satz höheren Grades, der Hauptsatz folgt den beiden untergeordneten oder geht beiden voran (Betonung): wa man in verhouwen solde, do er daz an mir ervant, wie moht ich des getrouwen daz er im trüege haz? c) Vorangestellter Relativsatz als Subjekt eines folgenden Satzes (wird in diesem durch Personalpronomen wiederaufgenommen): mîn gedinge ist, der ich bin holt mit rehten triuwen, dazs ouch mir daz selbe sî.

QUELLEN Bauer / Haage 1986 Bauer, G./B. D. Haage: Einführung in die diachrone Sprachwissenschaft. Göppingen 1986 (= GAG 459). (Übungsprogramme) Helm / Ebbinghaus 1980 Helm, K./E. A. Ebbinghaus, Abriß der mittelhochdeutschen Grammatik. 5.Aufl. Tübingen 1980. Mettke 1989

Mettke, Heinz: Mittelhochdeutsche Grammatik. Leipzig / Tübingen 1989.

Paul / Wiehl / Grosse 1989 Schmidt 1980

Paul, H./ Wiehl / Grosse, S.: Mittelhochdeutsche Grammatik. Tübingen 1989.

Schmidt, W. (Hg.): Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1980.

Singer 1996 Singer, J.: Grundzüge einer rezeptiven Grammatik des Mittelhochdeutschen. Paderborn / München / Wien / Zürich 1996 Weddige 1996

Weddige, Hilkert: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. München 1996.

Weinhold / Ehrismann / Moser 1986 Grammatik. Wien 1986.

Weinhold K./Ehrismann, G./Moser, H.: Kleine mittelhochdeutsche

View more...

Comments

Copyright � 2017 NANOPDF Inc.
SUPPORT NANOPDF