1.2. Sprache und Migration

January 20, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Schreiben, Grammatik
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6. Theorien des (Erst-)Spracherwerbs 1. Sprachinterne Erklärungen (Chomsky, Pinker) Man geht in diesen sog. nativistischen Theorien davon aus, dass es einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus (language acquisition device, LAD) gibt, der wesentlich den Spracherwerb steuert. Der LAD ist bei allen Menschen gleich. Bestätigungen hierfür sieht man in: • sprachlichen Universalien (die „Universalgrammatik“) • universellen Entwicklungsverläufen • der Geschwindigkeit des Spracherwerbs • der Mangelhaftigkeit des Inputs (poverty of stimulus) Zur Erinnerung: aus der „Einführung in die Sprachvermittlung“, SS 2007 (Pinker, Kap. 8)

Theorien des Spracherwerbs 2. Sprachexterne Erklärungen Der Spracherwerb geht wesentlich auf andere Komponenten zurück als die Sprache. 2.1 Kognitivistische Theorien • Im Anschluss an die Arbeiten Piagets geht man davon aus, dass die kognitive Entwicklung dem Spracherwerb vorausgeht und für ihn verantwortlich ist. 2.2 Inputmodelle • Es wurde festgestellt, dass Erwachsene in vielfältiger Weise ihre Sprache an die der Kinder dynamisch anpassen. Diese Sprache der Erwachsenen heißt "babytalk" oder "motherese". Dieser Input der Erwachsenen soll ein Motor des Spracherwerbs sein. (Snow 1972, 1977) Zur Erinnerung: aus der „Einführung in die Sprachvermittlung“, SS 2007 (Pinker, Kap. 8)

Theorien des Spracherwerbs 2.3 Outputregulierungsmodelle (Farrar 1990, Tomasello 2003) Erwachsene modifizieren die Äußerungen von Kindern in verschiedener Weise. In diesen Modifikationen kindlicher Äußerungen wird eine weitere Ursache des Spracherwerbs gesehen: • Expansionen (grammatische Vervollständigungen) „nein Brille“ „der hat keine Brille“ • Extensionen (inhaltliche Erweiterungen) „nein Brille“ „Der Mann hat keine Brille auf. Der kann auch so gut sehen.“ • Korrekturen „nein Brille“ = keine Brille • Bestätigungen richtiger Formen: „keine Brille“ – „richtig: der hat keine Brille“ Zur Erinnerung: aus der „Einführung in die Sprachvermittlung“, SS 2007 (Pinker, Kap. 8)

Interaktion von Vererbung und Lernen bei Pinker • Kinder erwerben sprachliche Formen durch Input • Übergeneralisierte Formen verschwinden schnell wieder; Kinder erkennen, dass diese Formen nicht korrekt sind, bevor sie diese Erkenntnis immer anwenden (302) • Der Unterschied von Kindern und Erwachsenen liegt in den weniger stabilen Gedächtnisspuren der Lexikoneinträge (299f.) Es gibt also keine qualitativen Unterschiede (303) (Kontinuitätshypothese) • Der Spracherwerbsmechanismus steuert nur - die Aufmerksamkeit für bestimmte sprachliche Phänomene (z.B. Morpheme) (318) - die Anwendung der Blockierung Zur Erinnerung: aus der „Einführung in die Sprachvermittlung“, SS 2007 (Pinker, Kap. 8)

7. Theorien des Zweitspracherwerbs 1. Kontrastivhypothese (Lado 1957, Ferguson 1962) “Der Erwerb der Zweitsprache wird durch die Strukturen der bereits erlernten Sprache bestimmt.” - ähnliche Struktur  “positiver Transfer” - andere Struktur  “Interferenz” 2. Identitätshypothese (Ervin-Tripp 1974) “Der Zweitspracherwerb verläuft im Wesentlichen wie der Erstspracherwerb” 3. Interlanguage-Hypothese (Selinker 1972) “L2-Erwerb erfolgt über systematischen Aufbau von Lernervarietäten” 4. Schwellenniveau-Hypothese (Cummins 1979) “kognitive Entwicklung und Bildungserfolg sind von einem schriftkulturellen Ausbau beider Sprachen abhängig”

7.1.Kontrastivhypothese Sprachstrukturelle Aspekte • „…one of the major problems in the learning of a second language is the interference caused by structural differences between the native language of the learner and the second language.“ (Ferguson 1962, zit. in Kniffka / Siebert-Ott S. 82)  Beim Erwerb von L2 werden bereits Hypothesen über mögliche Strukturen genutzt, die in der Erstsprache erworben wurden. Aber: Gleiche Fehler im L2-Erwerb treten auch bei verschiedenen L1 auf; z.B. ist das “Elementardeutsch” Erwachsener L2-Lerner unabhängig von der Erstsprache (Perdue / Klein 1998) • größere strukturelle Ähnlichkeit zweier Sprachen erschwert oft den Lernprozess stärker als völlige Verschiedenheit

Kognitives, soziales und sprachliches Wissen: Zeichenerwerb in L1 / L2 Sprachliches Zeichen

Bedeutung: bildliche Bedeutung: Vorstellung; bildliche VorstelWeltwissen über lung; Weltwissen Zweck und über Zweck und Gebrauch (sprachGebrauch (sprachübergreifend)

übergreifend)

Bedeutungsträger: Klang / Lautfolge (sprachspezifisch)

Bedeutungsträger: Klang / Lautfolge (sprachspezifisch)

[gla:s]

[gla:s] [bardak]

Realobjekt / „Referent“

Einfluss von L1-Erwerb auf L2 • kognitives und soziales Wissen: Dieses Wissen wird zwar mit der L1 erworben, es ist aber danach verfpgbar und muss beim L2Erwerb nicht noch einmal aufgebaut werden; vielmehr werden oft nur noch neue Bezeichnungen zu bereits vorhandenen Konzepten zugeordnet • Literalität: in einer Schriftkultur erworbene kategoriale Haltung zur Schrift wird auf weitere Literalitäten übertragen.  Common underlying proficiency als sprachübergreifendes kognitives Potenzial (vgl. Cummins 2000, 46)

7.2.Identitätshypothese • Der L2-Erwerb greift wieder unmittelbar auf die Strukturen der Universalgrammatik zu: die Komplexität der sprachlichen Strukturen der L2 steuert den Erwerbsverlauf analog zum Prozess des Erstspracherwerbs • Je früher der L2-Erwerb einsetzt, desto stärker ist dieser Zugriff wirksam • Wie bei Muttersprachlern werden im Deutschen bestimmte Strukturen wie unregelmäßige Verben, Distanzstellung des Verbs im Hauptsatz und Wortstellung im Nebensatz später erworben als regelmäßige Verben, einfaches Verb oder L2-Stellung  Große Unterschiede im Tempo des Spracherwerbs und der Ausprägung bei den Zwischenstufen der Aneignung andere Erwerbsstrategien, z.B. in der Erprobung syntaktischer Muster

7.3.Theorie der Lernersprachen • Spracherwerb erfolgt in systematischen Phasen „Lernersprachen“ – interlanguage / Interimsprache Diese weisen Parallelen mit den Phasen des Erwerbs von Muttersprachlern auf, haben aber auch jeweils spezifische Merkmale bei L2-Lernern • Die Phasen können nicht übersprungen werden, auch wenn sie unterschiedlich lange dauern (individuelle Variation) • Lerner bauen in ihrem Kopf allmählich eine Grammatik auf: gilt für L1 und L2-Lerner analog • In Lernersprachen werden bereits Regeln angewendet, auch wenn diese noch nicht der Zielsprache entsprechen z.B. Übergeneralisierung: eine Regel wird über ihren Geltungsbereich hinaus ausgedehnt

Theorie der Lernersprachen II • Fehler sind Spuren für den Aufbau von Regelwissen • Aufbau komplexerer Strukturen der L2-Grammatik aus einfacheren (entsprechend der größeren Komplexität der sprachlichen Strukturen) • Kriterien der Komplexität: a) Wahrnehmbarkeit (Salienz): eine betonte Endung ist leichter zu lernen als eine unbetonte b) Häufigkeit: der –en-Plural des Deutschen ist leichter zu erwerben als der endungslose Plural mit Umlaut c) Regelhaftigkeit: reguläres Präteritum (-te) leichter zu erwerben als irreguläres: gehe - ging • Herkunftssprache interveniert: eine Struktur kann aufgrund ihrer Distanz zur L1 einfach oder komplex sein.

Stufenfolge in einer Lernersprache: Beispiel 1 • “ich gehen Schule” die Wortstellung ist richtig (V2) • “ich gehe Schule” : Person und Verbendung stimmen überein (Kongruenz) • “ich gehe zu Schule”: richtige Präposition (Richtungsangabe) • “ich gehe zur Schule”: richtiger Artikel (Dativ feminin) Gesamtprozess von L1 unabhängig; aber auf jeder Zwischenstufe Interferenzmöglichkeiten je nach Distanz der Struktur (Artikel, Kasus, Präposition, Kongruenz, Verbmorphologie etc.)

Strukturen des Erwerbs: Beispiel 2: Die Verneinung • • • • • • •

Nein! Nein kaputt (I) Nein hauen (I) ich nein essen (II) nein, du nicht kommt (III) kann nicht kommen (III) du kommst nicht (IV)

• Einwortsatz • Zweiwortsatz • Dreiwortsatz: vor Vfin • nicht statt nein; Stellung vor Vollverb aber nach Hilfsverb: (V2 noch nicht stabil) • korrekt: immer nach gebeugtem Verb: (im Mittelfeld) (Wode 1977)

Verneinung – Pointe der 3. Stufe • Es gibt richtigen und falschen Gebrauch nebeneinander • Dennoch ist die Regel noch falsch, die lautet: „Nicht“ steht vor dem sinntragenden Verbteil. bei „kann nicht“ folgt noch ein Infinitiv, vor dem die Verneinung steht; bei „nicht kommt“ gibt es keinen 2. Verbteil, deshalb steht „nicht“ vor dem Verb insgesamt. • Es wird nicht zwischen einfachen und zweiteiligen Verben unterschieden! (V2 / Verbklammer) der finite Verbteil kann auch der sinntragende sein: V2 • Die Regel in IV wäre: „Nicht“ steht immer nach dem gebeugten Verb oder Verbteil.> (im Mittelfeld)

Einfluss der Herkunftssprache? • Für eine Sprache wie Russisch ist eine Regel wie III völlig ausreichend, da „nicht“ immer vor dem Verb steht, auch wenn es zweieilig ist:

Он On „Er

не nje nicht

рaботает rabotajet arbeitet“

• Die Erwerbstufen sind also teilweise parallel wie bei deutschsprachigen Kindern. • Beim L2-Erwerb kann der Übergang zur Stufe IV durch die Herkunftssprache verzögert werden! • Interferenzen sind bei ähnlichen Sprachen oft stärker!

7.4. Schwellenniveau-Hypothese

Zwei Fassungen • „eine unzureichende • „eine gezielte schulische Förderung der Förderung der Herkunftssprache Herkunftssprache bildet beeinträchtigt dauerhaft eine gute Basis für den die kognitive Entwicklung Erwerb weiterer des Kindes; deshalb ist Sprachen und den eine hinreichende Bildungserfolg Förderung der insgesamt.“ Herkunftssprache eine unabdingbare Grundlage für den erfolgreichen Erwerb weiterer Sprachen.“ Kniffka / Siebert-Ott (2007): S. 181

James Cummins: Schwellenniveau-Hypothese „Im Jahre 1976 äußerte ich genau diese Auffassung, dass es bezüglich der Sprachkenntnisse Schwellen geben könnte, die die SchülerInnen erreichen müssen, um die kognitive, inhaltliche und sprachliche Anregung, die sie aus den alltäglichen und schulischen Interaktion ihrer Umgebung erhalten, maximal nutzen zu können… Eine fortgesetzte Entwicklung beider Sprachen in die Bereiche der Schriftsprache hinein – im Sinne eines additiven Bilingualismus – sei eine Voraussetzung für eine bessere Entwicklung im kognitiven, sprachlichen und schulischen Bereich.“(2006, 44)

8.Arten des Zweitspracherwerbs 8.1. „gesteuert“ vs „ungesteuert“ • „Gesteuert“: erfolgt überwiegend über formalisiertes Lernen in Institutionen • „Ungesteuert“ (= natürlich?): erfolgt in der unmittelbaren Interaktion mit Sprechern der Zielsprache im informellen Kontakt

Kriterien der Unterscheidung • Verhalten des Lerners • Verhalten der Sprecher der Zweitsprache • Hilfsmittel • Form des Sprachwissens

8.2. L2-Erwerb in der Schule Ungesteuert: • Großer Anteil an informeller Interaktion mit Mitschülern und LehrerIn • Input des Lehrers nicht auf L2-Lerner ausgerichtet • Submersionsmodell: „sink or swim“

Gesteuert: • Gilt für jeden Unterricht in einer Institution: LehrerIn organisiert Lernprozesse Graduelle Unterschiede: offener Unterricht vs. lehrerzentriertes Gespräch • Schriftspracherwerb auch für deutsche Kinder neu • Besondere Sprachform der Schule: Standard

8.3. Sprachverarbeitung im Sprachbad Wo kann die Analyse ansetzen? • bekannte Wörter wiedererkennen • Gestik, Mimik interpretieren • Kontext interpretieren • Auf betonte Teile der Äußerung achten, • Auf Anfang und Ende der Äußerung achten, • Wissen über die Struktur von Äußerungen: Zuerst kommt die bekannte Information, dann die neue (sprachübergreifend), • wie in meiner eigenen Sprache Sätze aufgebaut sind.* • wie in der eigenen Sprache betont wird.* * Abhängig von der Erstsprache!

Was leistet das Sprachbad? Vieles lernen Kinder automatisch im Umgang mit anderen. Der Spracherwerb verläuft ungesteuert / im „Sprachbad“: • Kinder können dann aufgrund der Situation das Gemeinte erschließen • sie beobachten den Sprecher, seine Mimik und Gestik • sie achten darauf, was andere in der Umgebung tun, und ahmen sie nach • sie verstehen deshalb nicht jedes Wort, im Gegenteil: der Wortschwall unserer Alltagssprache ist besonders schwer zu entschlüsseln, vieles rauscht vorbei

Grenzen des Sprachbads Wenn Kinder und Jugendliche nur auf das Verständnis der Sprache angewiesen sind, funktioniert das Sprachbad nicht mehr. Dies gilt: • beim Umgang mit geschriebener Sprache (lesen, verstehen, umformulieren) • beim Aufbau von Sachwissen durch Unterrichtsgespräche

In solchen Situationen gilt: • Es ist kein konkreter Handlungskontext vorhanden: die sprachlichen Handlungen in der Klasse beziehen sich selbst auf Texte • Die Kontexte werden nur noch über sprachliche Mittel hergestellt • Personen und Sachverhalte werden nur noch sprachlich eingeführt • Gestik und Mimik können nicht mehr wie im Alltag ein Verständnis der Wörter teilweise ersetzen

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