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February 20, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Philosophie, Ethik
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Rudolf Hausner, Erschrockener Europäer, Ölgemälde, 1980

Angewandte Ethik 3.1 Verantwortung – ihr Begriff und ihre Struktur bei Hans Jonas

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3.1 Verantwortung – ihr Begriff undGmbH ihre Struktur bei Hans Jonas © Auer Verlag

20 Jahre nach Tschernobyl: Zu Besuch in Russlands meistverstrahlter Stadt

Am 26. April 1986 ereignete sich im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl der bisher schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie. Das ist das einzige existierende Foto vom Tag des Unfalls selbst, aufgenommen von dem russischen Fotografen Igor Kostin. Die Grobkörnigkeit ist auf die extrem hohe Strahlung zurückzuführen.

der Traktorenhallen und Ställe sind eingestürzt und vermoost, rostige Stahlträger weisen bizarr in den trüben Himmel über den Ackerböden, die einmal zu den vielleicht fruchtbarsten Europas gehörten. Hier baut aber niemand etwas an, hier grast kein Vieh. Das Land ist tot, Birken wuchern, wo früher Furchen waren, hüfthohes Gebüsch bedeckt die ehemaligen Getreidefelder (…) In den Resten einer Siedlung lebt noch die 79-jährige Anastasia, eine von 12 Menschen (…) – 350 lebten mal hier, bis die Strahlen kamen. „Der Boden ist schlecht geworden“, erzählt Anastasia. „Nichts wächst hier. Die Menschen sind ständig krank (…) Nach der Tschernobyl-Katastrophe sind alle meine Kinder krank geworden (…) Novosybkov (...) stirbt einen langen, lautlosen Tod. Die Ingenieure, die Techniker, die jungen Ärzte (...) – alle sind längst weg. „Unser Leben hat sich stark geändert (...) Im Sommer konnten wir überall hin, um uns zu erholen, in den Wald oder an den Fluss (...) Heute aber müssen wir uns Gedanken darüber machen, wo wir mit unseren Kindern hinfahren sollen – und das ist schrecklich!“, sagt Swetlana Wdowitschenko. In Novosybkov heiratete sie Pawel und bekam ihren Sohn Anton. Man lebte nicht schlecht, bis am 26. April 1986, 120 Kilometer entfernt, das Atomkraftwerk in die Luft flog.

An der weißrussischrussischen Grenze liegt die Stadt Novosybkov, nur wenige Kilometer außerhalb der um Tschernobyl errichteten Sperrzone. Damit die Menschen dort wohnen bleiben, zahlen die Behörden seit Jahren Extraprämien auf Löhne und Gehälter. Dabei hat Novosybkov nach der Reaktorkatastrophe einen traurigen Rekord erlangt: Sie ist die am schlimmsten verstrahlte Stadt der russischen Föderation. Es war nie schön hier. 45.000 Menschen leben heute in der grauen Stadt. Es waren mal 60.000 – vor Tschernobyl. (…) Arbeit gab es im längst geschlossenen Textilkombinat und auch auf den vielen Kolchosen der Umgebung. Die Dächer 30

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„Die Folgen sind erst heute wirklich absehbar“ Der damalige Chef des Gesundheitsamts, Dr. Josif Kaplun, erfuhr von Physikstudenten, die rein zufällig im Examen mit Geigerzählern hantierten, dass es ungewöhnliche, hohe radioaktive Strahlungen gab. Was zu tun war, wusste niemand, keiner hatte einen Plan. Und Moskau schwieg. „Wir wollten, dass die Kinder nicht auf die Straße gingen, wurden aber darin nicht unterstützt“, erinnert sich Kaplun. „Mindestens einige Tage nach der Explosion hätten die Menschen ihre Häuser gar nicht verlassen dürfen. Und natürlich sollten die Menschen Kalium und Jod einnehmen, um ihre Schilddrüse zu schützen.“ Das aber gab es entweder gar nicht oder viel zu spät und dann in zu niedriger Dosierung. Die Folgen sind erst heute wirklich absehbar, weil es oft mehr als 15 oder 20 Jahre dauert, bis eine Strahlenkrankheit ausbricht. Doch noch am 1. Mai 1986 (…) machten die Menschen Picknick im Wald. Keiner wusste, was dort drohte – das wird erst heute klar. „Die Zahl der Erkrankungen bei Menschen aus den betroffenen Gebieten ist im Vergleich zur Bevölkerungen anderer Gebiete um mehr als das Zweifache höher. Zugenommen haben die Krebserkrankungen, besonders die der Schilddrüse“, so Kaplun. (Horst Kläuser, ARD-Hörfunkstudio Moskau)

Hans Jonas: Zur Notwendigkeit einer neuen Ethik Der Reaktorunfall von Tschernobyl erhöhte das allgemeine Bewusstsein für die Risiken der modernen Industriegesellschaft. Der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) hatte sich in seinem bereits 1979 erschienen Buch Das Prinzip Verantwortung der Frage nach einer Mensch und Natur bewahrenden Ethik in der technologischen Zivilisation gewidmet. Hier untersuchte er die Veränderungen, die sich für die zeitlichen und räumlichen Folgewirkungen menschlichen Handelns durch die moderne Technik ergeben und die nach seiner Überzeugung in allen bisherigen ethischen Ansätzen noch keine Berücksichtigung fanden.

¨ Biografische Angaben, s.S. XX

Alle Gebote und Maximen überlieferter Ethik, inhaltlich verschieden wie sie immer sein mögen, zeigen diese Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis der Handlung. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“; „Tue Anderen, wie du wünschest, daß sie dir tun“ (…) Man beachte, daß in all diesen Maximen der Handelnde und der „Andere“ seines Handelns Teilhaber einer gemeinsamen Gegenwart sind. Es sind die jetzt Lebenden und in irgendwelchem Verkehr mit mir Stehenden, die einen Anspruch auf mein Verhalten haben, insofern es sie durch Tun oder Unterlassen affiziert1 . Das sittliche Universum besteht aus Zeitgenossen und sein Zukunftshorizont ist beschränkt auf deren voraussichtliche Lebensspanne. Ähnlich verhält es sich mit dem räumlichen Horizont des Ortes, worin der Handelnde und der Andere sich treffen (...) Alle Sittlichkeit war auf diesen Nahkreis des Handelns eingestellt. (...) All dies hat sich entscheidend geändert. Die moderne Technik hat Handlungen von so neuer Größenordnung, mit so neuartigen Objekten und so neuartigen Folgen eingeführt, daß der Rahmen früherer Ethik sie nicht mehr fassen kann. (...) Gewiß, die alten Vorschriften der „Nächsten“Ethik – die Vorschriften der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Ehrlichkeit, usw. – gelten immer noch, in ihrer intimen Unmittelbarkeit, für die nächste, tägliche Sphäre menschlicher Wechselwirkung. Aber diese Sphäre ist überschattet von einem wachsenden Bereich kollektiven Tuns, in dem Täter, Tat und Wirkung nicht mehr dieselben sind 1 Hier: in irgendeiner Weise positiv oder negativ betrifft

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3.1 Verantwortung – ihr Begriff undGmbH ihre Struktur bei Hans Jonas © Auer Verlag

wie in der Nahsphäre, und der durch die Enormität seiner Kräfte der Ethik eine neue, nie zuvor erträumte Dimension der Verantwortung aufzwingt. (...) Man nehme zum Beispiel, als die erste größere Veränderung in dem überkommenen Bild, die kritische Verletzlichkeit der Natur durch die technische Intervention des Menschen – eine Verletzlichkeit, die nicht vermutet war, bevor sie sich in schon angerichtetem Schaden zu erkennen gab. Diese Entdeckung, deren Schock zu dem Begriff und der beginnenden Wissenschaft der Umweltforschung (Ökologie) führte, verändert die ganze Vorstellung unserer selbst als eines kausalen Faktors im weiteren System der Dinge. Sie bringt durch die Wirkungen an den Tag, daß die Natur menschlichen Handelns sich de facto geändert hat, und daß ein Gegenstand von gänzlich neuer Ordnung, nicht weniger als die gesamte Biosphäre des Planeten, dem hinzugefügt worden ist, wofür wir verantwortlich sein müssen, weil wir Macht darüber haben (...).

Hans Jonas: Ein neuer kategorischer Imperativ ethischen Handelns in der technologischen Zivilisation Da die Folgen unseres Handelns in der technischen Zivilisation Mensch und Natur zunehmend gefährden, entsteht eine größere Verantwortlichkeit für unser Tun und damit die Notwendigkeit einer Neufassung des kategorischen Imperativs. Ein Imperativ, der auf den neuen Typ menschlichen Handelns paßt und an den neuen Typ von Handlungssubjekt gerichtet ist, würde etwa so lauten: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“; oder negativ ausgedrückt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“; oder einfach: „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden“; oder, wieder positiv gewendet: „Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein“.

Hans Jonas: Die „Heuristik der Furcht“ Um dem neuen Imperativ gerecht zu werden, fordert Jonas vor der Einführung neuer Technologien eine genaue Prüfung ihrer möglichen Folgewirkungen. Dabei soll in Zweifelsfällen die negative Prognose Vorrang vor der positiven haben. Das Neuland kollektiver Praxis, das wir mit der Hochtechnologie betreten haben, ist für die ethische Theorie noch ein Niemandsland (...) Was kann als Kompaß dienen? Die vorausgedachte Gefahr selber! In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft, im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefganges, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen. Dies nenne ich die „Heuristik2 der Furcht“: Erst die vorausgesehene Verzerrung des Menschen verhilft uns zu dem davor zu bewahrenden Begriff des Menschen. Wir wissen erst, was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, daß es auf dem Spiele steht. Da es dabei nicht nur um das Menschenlos, sondern auch um das Menschenbild geht, nicht nur um physisches Überleben; sondern auch um Unversehrtheit des Wesens, so muß die Ethik, die beides zu hüten hat, über die der Klugheit hinaus eine solche der Ehrfurcht sein (...) Unter solchen Umständen [gemeint sind die Veränderungen, die sich durch die technische Praxis der Gegenwart ergeben, d. Hrsg.] wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht über alles hinaus, was je vorher für seine Rolle in Anspruch genommen wurde, und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein. Die Tatsache aber, daß es ihm nicht wirklich größengleich sein kann, das heißt, daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Un¬wissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens 2 Hier: Methode, Verfahren (zu griech. heurískein „finden, entdecken

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3.1 Verantwortung – ihr Begriff undGmbH ihre Struktur bei Hans Jonas © Auer Verlag

Rudolf Hausner: Erschrockener Europäer

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Welche Bildelemente, Aspekte des Bildaufbaus oder der Farbgebung würden Sie in einer Reportage herausstellen, um die Frage zu klären, ob dieses Bild als ein gesellschafts- und zeitkritisches Werk gelten kann?

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Gelingt es dem Künstler tatsächlich, seinen Bildtitel gestalterisch umzusetzen? Begründen Sie Ihre Auffassung unter Bezugnahme auf das Bild.

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Kann man für ein umfassendes Verständnis des Bildes auf den Text verzichten, den der Künstler in sein Kunstwerk eingebaut hat?

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Diskutieren Sie die Auffassung, dass die Dar stellung eines Kernkraftwerks am Horizont des Bildes von Hausner durch andere Sachverhalte ersetzt werden kann, ohne dass sich damit die grundsätzliche Aussageabsicht des Bildes verändert.

Gehen Sie dabei vom allgemeinen Sprachgebrauch aus. Entwerfen Sie eine Grafik zum allgemeinen Verantwortungsbegriff unter Berücksichtigung folgender Strukturelemente: • Wer ist verantwortlich (Verantwortungsträger oder -subjekt)? • Was ist der Grund für die Verantwortlichkeit? • Wofür ist man verantwortlich (Verantwortungsbereich)? • Wem gegenüber muss man sich unter Umständen rechtfertigen (Verantwortungsinstanz)? b) Untersuchen Sie anhand Ihres Modells die Verantwortlichkeiten im Fall des Reaktorunglücks von Tschernobyl an einzelnen selbst gewählten Beispielen (z.B. bezüglich des Betriebspersonals, der politisch Verantwortlichen usw.). c) Wie beurteilen Sie das Verhalten der von Ihnen gewählten Verantwortungsträger?

Horst Kläuser: 20 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl

Hans Jonas: Zur Notwendigkeit einer neuen Ethik

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Lesen Sie den Text von H. Kläuser. Begeben Sie sich auf eine Gedankenreise: Wie fühlen Sie sich als junger Erwachsener in Novosybkov? Halten Sie Ihre Gedanken in einem Tagebucheintrag schriftlich fest. Die Ereignisse um den Reaktorunfall von Tschernobyl sind vielen heute oftmals nicht mehr genau bekannt. Bilden Sie Gruppen und recherchieren Sie arbeitsteilig im Internet und in der Schulbibliothek Ursachen und Verlauf sowie unmittelbare und weitere Folgen des Reaktorunglücks. Präsentieren Sie die Ergebnisse Ihrer Arbeitsgruppen in Kurzreferaten. Tipp: Informationen finden Sie unter www.bmu.de und www.greenpeace-berlin.de

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Bei einer solchen Katastrophe stellt sich die Frage nach der Verantwortung und den Verantwortlichen für das Geschehen. a) Klären Sie zunächst in Partnerarbeit, was Sie unter dem Begriff Verantwortung verstehen.

Fassen Sie die Thesen des Textes stichwortartig zusammen und zeigen Sie auf, wie Hans Jonas die Notwendigkeit einer neuen Ethik begründet. Erklären Sie, warum dabei ein erweiterter Verantwortungsbegriff zum Kerninhalt ethischen Handelns in der technischen Zivilisation wird. Inwiefern bestätigt das Reaktorunglück von Tschernobyl die Thesen von Hans Jonas?

Hans Jonas: Ein neuer kategorischer Imperativ ethischen Handelns in der technischen Zivilisation

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Formulieren Sie den neuen kategorischen Imperativ Jonas’ in eigenen Worten und stellen Sie ihn dem kategorischen Imperativ Kants gegenüber. Erörtern Sie, ob der neue Imperativ Jonas’ an die Stelle des Kantischen Imperativs treten oder ihn nur ergänzen soll. Berücksichtigen Sie dabei, an wen der Imperativ vermutlich jeweils primär gerichtet ist: an den Einzelnen oder

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an kollektive Entscheidungsträger in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft?

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Jonas spricht in seinem neuen kategorischen Imperativ von „echtem menschlichen Leben“. Klären Sie in Partnerarbeit, welchen Sinn diese Formulierung haben könnte. Was verstehen Sie darunter?

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men wir an, es wäre sicher, dass es in hundert Jahren keine Menschen mehr gäbe. Dürften wir dann bis dahin die Erde hemmungslos ausbeuten und als Müllhalde hinterlassen?

„Klebt an meinem Handy Blut?“ – Das Prinzip Verantwortung im eigenen Leben

Diskutieren Sie die praktische Umsetzbarkeit und mögliche wirtschaftliche Folgen einer konsequenten Anwendung dieses Verfahrens in Deutschland.

Die Frage scheint auf den ersten Blick befremdlich – ist es aber aus Sicht von Claudia Mende keinesfalls. Die Journalistin weist darauf hin, dass die verschiedenen Milizengruppen im Kongokrieg zwischen 1998 und 2002 ihre Waffen mit dem Geld finanzierten, das durch den Verkauf von Coltan eingenommen wurde – ein begehrter Rohstoff, der im Kongo gefördert wird und ohne den bei Handy & Co. nichts geht3. Aber auch in anderer Hinsicht geben die Herstellungs- und Entsorgungsbedingungen unserer kleinen elektronischen Begleiter Anlass zur Kritik.

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Hans Jonas: Die „Heuristik der Furcht“

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Im Textauszug stellt Jonas ein Entscheidungsverfahren für die Einführung neuer Technologien vor. Stellen Sie die Hauptgesichtspunkte dieses Verfahrens in eigenen Worten dar und halten Sie sie stichwortartig fest.

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Informieren Sie Ihren Kurs in einem Kurzreferat über den Stand der sogenannten Technikfolgenabschätzung in Deutschland.

Hans Jonas: Die Pflicht zur Verantwortung ist im Sein begründet

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In welchem Verhältnis stehen Sein und Sollen bei Jonas? Vergleichen Sie diese Position mit anderen Ihnen bekannten Positionen.

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Worin besteht für Jonas das Verbindende allen Seins? Inwieweit entsteht dadurch eine Verbindlichkeit für den Menschen gegenüber anderem Sein?

Informieren Sie sich mithilfe folgender Internetadressen über die Produktionsbedingungen in der IT-Branche: germanwatch.org; greenpeace.de

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Entwerfen Sie das Konzept zu einer eigenen Kampagne, durch die Sie an Ihrer Schule zum verantwortungsvollen Umgang mit Produkten der IT-Branche anregen wollen. Welche Inhalte wollen Sie vermitteln, wie auf das Thema aufmerksam machen, welche Medien benutzen?



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Wenn alles, was einen Zweck hat, einen Wert besitzt, ist dann alles gleich viel wert? Versuchen Sie Kriterien zu finden, nach denen es erlaubt ist, sich über den Selbstzweck eines anderen Lebewesens hinwegzusetzen. Inwiefern ergeben sich aus der Argumentation Jonas’ dennoch Grenzen für das menschliche Tun?

Verantwortung für die Natur? Hans Jonas zufolge besteht für uns eine sehr weitreichende Verantwortung für die Natur. Stellen Sie dazu folgendes Gedankenexperiment an: Neh-

Auf Elektrogeräte verzichten, damit der Müll nicht auf einer Halde in Ghana landet?

3 Publik Forum Heft 4/2009, S. 20f.

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3.1 Verantwortung – ihr Begriff undGmbH ihre Struktur bei Hans Jonas © Auer Verlag

Die Pflicht zur Verantwortung – Umrisse einer Ethik für die Zukunft bei Hans Jonas Sittlichkeit hat nicht nur damit zu tun, dass wir anderen nicht schaden und ansonsten tun, was wir wollen, sondern Sittlichkeit hat vor allem auch damit zu tun, dass wir für bestimmte Personen und Dinge Verantwortung übernehmen. Was aber heißt Verantwortung? Dieser Frage ging der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) nach, der den Begriff zum Dreh- und Angelpunkt seines ethischen Denkens machte. Dabei forderte er in seinem 1979 erschienenen Spätwerk Das Prinzip Verantwortung 4 nicht weniger als eine neue, zeitgemäße Ethik. Wie kommt er zu dieser Forderung, was ist der Kerngehalt seiner Ethik und wie begründet er sie? Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass sich die Lebenssituation in unserer heutigen technologischen Zivilisation gegenüber früher grundlegend verändert hat. Dem unbestreitbaren Fortschritt in Wissenschaft und Technik stellt Jonas folgende Gefahren gegenüber: • Die Ausbreitung der Technik führt bereits im „Normalbetrieb“ zu einer Reihe tiefgreifender Veränderungen unserer Umwelt, die teils unumkehrbar sind, wie etwa der Verbrauch fossiler Brennstoffe zeigt. • Hinzu kommt eine Anhäufung von Risikotechnologien, deren Gefährdungspotentiale sich addieren können. Die Folgen von Unfällen können dabei globale Ausmaße annehmen und weit in die Zukunft reichen. • In Wissenschaft und Technik wird vielfach Neuland betreten. Moderne Forschungsbereiche wie die Gentechnologie ermöglichen Eingriffe in die Grundstruktur organischen Lebens, deren Folgen nicht genau vorhersehbar sind. Der „endgültig entfesselte Prometheus“5 , den Jonas hier am Werk sieht, macht seiner Meinung nach eine neue Ethik notwendig, um den tech-

4 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979, TB-A. 1984, S. 7 5 Ebd., S. 7

nologischen Wandel angemessen bewerten und wirkungsvoll kontrollieren zu können. Verbindliche Richtlinie unseres Handelns soll dabei die Erhaltung von Mensch und Natur sein. Damit wird Jonas zu einem der einflussreichsten Vertreter einer ökologischen Ethik. Traditionelle ethische Positionen sind nach Jonas nicht in der Lage, auf die neuen Herausforderungen der technologischen Zivilisation angemessen zu reagieren. Er führt das auf folgende Gründe zurück: • Das bisherige moralische Denken ist anthropozentrisch6: Gegenstand ist der Mensch im direkten Umgang mit sich oder anderen Menschen. Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf Natur und Umwelt werden nur dann bedacht, wenn sie den Menschen selbst betreffen. • Im Mittelpunkt des bisherigen sittlichen Denkens steht das Handeln des Einzelnen. Heutzutage werfen aber sogenannte Kollektivhandlungen (z. B. Massentourismus) zunehmend neuartige ethische Probleme auf. • Das menschliche Dasein wird als im Wesen konstant angesehen. Dass es selbst Objekt der Veränderung wie im Fall der Gentechnik werden könnte, liegt noch außerhalb des Erfahrungsbereichs traditioneller Ethik. Jonas spricht zusammenfassend von der bisherigen Ethik als einer Nahethik. Um sie zu überwinden, fordert er eine neue Ethik, deren vorrangiges Ziel es sein soll, dem Menschen die „Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens“7 auch in Zukunft zu bewahren. Ein bloß utilitaristisches Interesse (vgl. Kap. 2.4) an dieser Unversehrtheit erscheint ihm dabei als philosophische Begründung nicht ausreichend. In seiner Ethik bemüht er sich stattdessen um eine Synthese und Weiterentwicklung verschiedener anderer philosophischer Positionen: In Anlehnung an Immanuel Kant will er eine Regel aufstellen, nach der wir vor dem Hintergrund einer 6 Von gr. anthropos: der Mensch und kentron: Mittelpunkt 7 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 9

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durch die Technik fundamental veränderten Welt handeln sollen. Anders als Kant versucht er aber, seine Ethik mit einem konkreten Wertefundament auszustatten. Er entwickelt es aus seiner Beschäftigung mit dem „Sein des Seienden“, was als Rückgriff auf metaphysische Denktraditionen der Antike verstanden werden kann8. Bewusst distanziert Jonas sich vom modernen Naturbegriff, wie er sich im Denken der Neuzeit herausgebildet hat. Seither ist Natur zu einem Objekt ohne eigenen Wert geworden, ohne Schutz gegenüber dem menschlichen Verfügungsstreben. Kehrseite ihrer Neutralisierung und „Vernutzung“ in Wissenschaft und Technik ist ihre wachsende Zerstörung.

Verantwortung als Kernbegriff einer neuen Ethik Kennzeichnend für die von Jonas geforderte neue Ethik ist der Begriff der Verantwortung, der weniger philosophischem als juristischem Denken entstammt. Die Grundstruktur des herkömmlichen Verantwortungsbegriffs ergibt sich für Jonas durch folgende aufeinander bezogene Elemente: • Jemand (= Verantwortungsträger/-subjekt) ist aufgrund seiner Rolle, seiner Funktion oder seines Amtes (= Grund der Verantwortlichkeit) • für jemanden oder etwas verantwortlich (Verantwortungsbereich). In diesen Verantwortungsbereich fallen neben den Personen oder Dingen, auf die unser Handeln gerichtet ist, auch die unmittelbaren Handlungsfolgen des eigenen Tuns oder Unterlassens. • Häufig muss sich der Verantwortungsträger für sein Handeln gegenüber einer Verantwortungsinstanz (eigenes Gewissen, Gericht etc.) rechtfertigen. Beispiel für diesen allgemeinen Verantwortungsbegriff lassen sich im alltäglichen Leben leicht 8 Metaphysik: Ursprünglich Bezeichnung für eine in einer Aristotelesausgabe hinter den Büchern der „Physik“ angeordnete Gruppe seiner Schriften. Seither Bezeichnung für einen Zentralbereich der theoretischen Philosophie, in dem nach Struktur, Grund sowie Inhalt und Sinn des Seins gefragt wird (s. Kap. 2.2 zu Aristoteles).

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finden: der Klassensprecher, der sich für einen Mitschüler einsetzt; der Autofahrer, der sich vor Gericht verantworten muss, weil er zu schnell gefahren ist etc. Deutlich wird an diesen Beispielen, dass sich unser allgemeiner Verantwortungsbegriff auf relativ eng umgrenzte Bereiche menschlichen Handelns bezieht. Da die Handlungsmacht der Menschen im wissenschaftlichtechnischen Zeitalter jedoch enorm angewachsen ist, erfährt der Verantwortungsbegriff bei Jonas eine grundsätzliche Ausweitung hinsichtlich des Verantwortungsbereichs: Im gleichen Umfang, wie die Folgen technologischen Handelns Mensch und Natur zunehmend gefährden, erwächst ein Mehr an Verantwortung in räumlicher und in zeitlicher Hinsicht: Verantwortlichkeit ist auch dann gegeben, wenn zwischen den Verantwortungsträgern und den Betroffenem ihres Handelns kein wechselseitiges Verhältnis9 besteht: Weder die Natur noch die künftigen Generationen können uns dazu auffordern, auf sie Rücksicht zu nehmen. Das entbindet uns aber nicht davon, ihre Interessen in unserem Handeln angemessen zu berücksichtigen. Im Zentrum der Verantwortungsethik10 Jonas’ steht ein in Anlehnung an Kant (vgl. Kap. 2.1) formulierter neuer kategorischer Imperativ, für den Joans in Das Prinzip Verantwortung vier Varianten vorschlägt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“; oder negativ ausgedrückt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“; oder einfach: „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden“; oder, wieder positiv gewendet: „Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als it-Gegenstand deines Wollens ein.“11

9 Jonas spricht hier von sogenannte nicht-reziproken Beziehungen. 10 Der Begriff stammt nicht von Jonas, sondern wurde erstmals von dem bedeutenden deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920) in seinem Essay Politik als Beruf verwendet. 11 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 36

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3.1 Verantwortung – ihr Begriff undGmbH ihre Struktur bei Hans Jonas © Auer Verlag

Neben der Sicherung des physischen Fortbestands unserer Gattung fordert die Maxime auch die Erhaltung dessen, was den Menschen in seinem Wesen kennzeichnet: Jonas zählt hierzu vor allem die (sittliche) Entscheidungsfreiheit und die Fähigkeit, Verantwortung im eigentlichen Sinne übernehmen zu können, was allein dem Menschen möglich sei. Durch den neuen Imperativ wird die herkömmliche Nahethik zu einer Fernbzw. Zukunftsethik erweitert. Als Urbild dieser Verantwortung im erweiterten Sinne, die man als Sorge-für-Verantwortung bezeichnen kann, verweist Jonas auf die Eltern-KindBeziehung. In der selbstverständlichen Sorge von Eltern für ihre Kinder verwirklicht sich diese Art der Verantwortung bereits seit jeher.

Why to be so moral? – Begründung der erweiterten Verantwortlichkeit Worin gründet die Verantwortung für etwas außerhalb der eigenen räumlichen oder zeitlichen Lebenswirklichkeit? Gibt es etwas, was allem Seienden gemeinsam ist? Jonas entdeckt diese Ge-

Vorwegnahme möglicher weitreichender Handlungsfolgen

Eigene Interessen und Pläne (Zwecke)

Verantwortungsbereich (Gegenstand und Folgen der Handlung in unmittelbarer Gegewart und im engeren sozialen Umfeld)

Berücksichtigung des Eigenwerts / Eigenzwecks (v.a. wenn vom Gegenstand der Handlung nicht selbst einklagbar)

Verantwortung gegenüber wem? Verantwortungsinstanz (Geschädigter, Gericht, Gewissen, ... Gott)

Sorge-für-Verantwortung nach Jonas

Verantwortungsträger

nachfolgende Generationen; Natur

Bisheriger Verantwortungsbegriff

Verantwortung wofür?

meinsamkeit darin, dass es allem Seienden um eben dieses Sein zu gehen scheint. Das gesamte organische Leben ist „Zweck an sich selbst, nämlich sein eigener Zweck.“12 In dieser „Eigenzwecklichkeit“ erkennt Jonas einen Wert, ein Gutan-sich, unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Zweck für uns handelt oder ob wir in einer konkreten Situation in der Lage und bereit sind, den mit ihm verbundenen Wert auch anzuerkennen. Auch fremde Zwecke dürfen wir in unserem Handeln nicht einfach „überspringen“, sondern müssen sie, wenn wir verantwortlich handeln wollen, berücksichtigen. In bewusster Abkehr von Hume (vgl. Kap. 6.1) wird bei Jonas somit das Sein zu einer Quelle des Sollens. Der Verantwortungsfall tritt immer dann ein, wenn das Eigenrecht bzw. die Eigenzwecklichkeit von jemandem oder etwas durch unser Handeln beeinträchtigt zu werden droht. Verantwortlich handelt folglich, wer die Bereitschaft aufbringt, nicht nur seine Zwecke zu verfolgen, sondern seine Macht von dem Eigenrecht eines anderen in die Pflicht nehmen zu lassen.

nachfolgende Generationen; Natur

12 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 157

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Wie können wir unserer Verantwortung gerecht werden? Um zu erreichen, dass im gegenwärtigen Handeln die Interessen der Zukünftigen angemessen berücksichtigt werden, fordert Jonas eine „Heuristik13 der Furcht“14 : Damit sollen nicht etwa irrationale Ängste vor der Technik geschürt werden. Vor der Anwendung einer neuen Technologie sollen wir uns aber unter Aufbietung allen verfügbaren Wissens ein rationales Bild über ihre möglichen negativen Auswirkungen verschaffen. Handlungsleitend wird eine Art „Zweckpessimismus“: Im Zweifelsfall soll die negative Prognose Vorrang vor der positiven haben; bei unabwägbaren Risiken fordert Jonas den Handlungsverzicht.

Prinzip Verantwortung im Alltag – ein Beispiel „Ich fahre täglich auf bayerischen Straßen zu meinem Arbeitsplatz an der österreichischen Grenze. Im Nachbarland ist der Sprit um gut zwanzig Cent billiger und einmal pro Woche tanke ich mit Benzin aus Österreich mein Auto voll. So zahle ich keine Ökosteuer und wohl auch weniger Mineralölsteuer, belaste aber die einheimische Umwelt und sehe, wie bei uns die grenznahen Tankstellen an den Verlusten leiden. Andererseits ist die Grenze offen, und es gibt keine Vorschrift, die das Tanken von teurem deutschen Sprit gebietet. Ist es richtig, was ich tue?“ (Josef O., Deggendorf) (Rainer Erlinger, Gewissensfragen)

1

Gehen Sie anhand des Fallbeispiels mithilfe der Grafik auf S. 38 die einzelnen Elemente des Verantwortungsbegriffs durch. Diskutieren Sie dabei, ob es sich überhaupt um einen Verantwortungsfall handelt und – wenn ja – welcher Dimension von Verantwortung er zuzuordnen ist.

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Ausstieg aus dem Ausstieg? – Kooperativ streiten In der Bundesrepublik Deutschland wurde im Jahr 2001 der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie beschlossen. Der Klimawandel hat jedoch dazu geführt, dass die Diskussion um den Bau und Betrieb bestehender oder neuer kerntechnischer Anlagen neuen Auftrieb erhalten hat. Befürworter der Kernenergie behaupten, dass eine Reduzierung des Ausstoßes klimaschädlicher Gase ohne Kernenergie nicht möglich sei – die Gegenseite wirft den Befürwortern vor, mit unseriösen Zahlen zu hantieren und die Risiken der Kernenergie zu verharmlosen. Diskutieren Sie in Ihrem Kurs das Für und Wider der Kernenergie.



Nehmen Sie Stellung zu dem Verhalten von Josef D.!

13 Heuristik: hier: Verfahren, Methode 14 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 8 u. S. 63ff.

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