Ausgabe Nr. 26 – Stückemarkt - Theater und Orchester Heidelberg

February 3, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Darstellende Kunst, Theater
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THEATER-MAGAZIN

Ausgabe Nr. 26 – Stückemarkt

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017 WILLKOMMEN! Hochverehrtes Publikum!

Zuerst kurz das Wichtigste: 24 Gastspiele sind eingeladen, 18 Uraufführungen gibt es zu sehen, 9 Lesungen zu hören, 5 Preise können gewonnen werden, 2 Partys werden gefeiert. Noch Fragen? Ich finde: ja. Der 34. Heidelberger Stückemarkt setzt sich mit der Frage auseinander, was Theater in beunruhigenden Zeiten kann und darf – anhand von ausgewählten Inszenierungen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und dem diesjährigen Gastland, der Ukraine. Die beispielhaften Aufführungen bringen das Weltgeschehen auf die Bühne und reflektieren gesellschaftliche und politische Bedingungen. Angestoßen werden dabei Diskurse zu Freiheit und Demokratie, aber auch zu Flucht und Radikalisierung. Das gegenwärtige Theater ist dabei nicht nur ein Raum der Kunst, sondern auch der Politik. Regisseurinnen und Regisseure finden dafür oft eine neue Ästhetik und setzen besonders häufig auf dokumentarische Formen, in denen sie reale Gegebenheiten und Lebensgeschichten zum Gegenstand ihres künstlerischen Schaffens machen. Beobachten lässt sich dieser Umgang mit der Aktualität sowohl an den eingeladenen deutschsprachigen Gastspielen als auch an den Inszenierungen aus der Ukraine. Neben dem Abendspielplan sind beim diesjährigen Heidelberger Stückemarkt wieder Inszenierungen für junges Publikum dabei. Und natürlich ist auch der Stückemarkt 2017 ein Ort der Begegnung und Diskussion. In Nachgesprächen stehen die Autoren, Dramaturgen, Regisseure und Schauspieler dem Publikum Rede und Antwort. Ich freue mich auf Ihre Fragen. Herzlich willkommen zum Heidelberger Stückemarkt! Ihr Holger Schultze

IMPRESSUM Das Theater-Magazin ist eine Sonderveröffentlichung der Rhein-Neckar-Zeitung. Titelfoto: Theater und Orchester Heidelberg Redaktion: Laura Guhl Gestaltung: Lisa Hellmuth Anzeigen: A. Miltner (verantw.) Druck:Heidelberger Mediengestaltung HVA GmbH

10 Gebote – Eine Recherche Ein Gastspiel aus Berlin zur Eröffnung

Welche Aktualität haben sie noch für uns? Die „10 Gebote“ vom Deutschen Theater Berlin. Foto: Arno Declair von Jürgen Popig Fünfzehn Autorinnen und Autoren – Maxim Drüner (K.I.Z), Juri Sternburg, Sherko Fatah, Nino Haratischwili, Navid Kermani, Bernadette Knoller, Anja Läufer, Claudia Trost, Dea Loher, Clemens Meyer, Rocko Schamoni, Jochen Schmidt, Jan Soldat, Mark Terkessidis und Felicia Zeller – schreiben zusammen ein Stück. Wie soll das gehen? Eine von vornherein leicht größenwahnsinnige Recherche („für neun Schauspielerinnen und Schauspieler sowie 1 Schaf“) stellt das am Eröffnungsabend gezeigte Gastspiel „10 Gebote“ vom Deutschen

Theater Berlin dar. Es fragt: Was bedeuten die biblischen Gebote heute – sind sie Provokation, Reibungsfläche, aus dem Bewusstsein verschwunden oder fordern sie uns immer noch auf, eine Haltung einzunehmen? Im Angesicht dessen, was gerade in Europa geschieht – sei es die Flüchtlingskrise, das Erstarken von rechtspopulistischen Parolen und Parteien und ein öffentlicher Diskurs, der zunehmend von Hass und Undifferenziertheit geprägt ist – hat das Deutsche Theater Berlin die oben genannten 15 Autorinnen und Autoren gebeten, sich zu je einem Gebot zu verhalten. Die Regisseurin Jette Steckel bringt auf die

Bühne, was an Szenen, Songs und Kurzfilmen dabei entstanden ist: ganz aktuelle, zeitgenössische Texte, die diesen Moment in unserer Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven befragen und diskutieren. „Interessant zu sehen, wie sich die Autoren und aufgeweckten DT-Spieler an dem Missverhältnis zwischen moralischem Prinzip und seiner doppelmoralischen Wirklichkeit abarbeiten“, fand die Berliner Zeitung. In der Tat! >E  röffnung Heidelberger Stückemarkt 28. April, 19 Uhr, Alter Saal > Gastspiel „10 Gebote“ 28. April, 19.30 Uhr, Marguerre-Saal

Ein Abend gegen die Angst „Point Of No Return“ beschäftigt sich mit dem Münchner Amoklauf

lg. Die israelische Regisseuden Amoklauf reagieren. rinYael Ronen lebt seit knapp So geht es in „Point of No vier Jahren in Deutschland Return“ um individuel– bereits zwei Einladungen le Reaktionen. Was haben zum Berliner Theatertreffen, Ronens Schauspieler in der dem wichtigsten KritikerNacht der mörderischen Schüsse erlebt, gedacht preis der Republik, hat sie und – vor allem – gefühlt? in dieser Zeit erhalten. Im Welche psychologischen Juli 2016 arbeitete sie an den Reaktionen laufen nach Münchner Kammerspielen einer solchen Attacke vor an einem neuen Stück. Um Beziehungen im Zeitalter dem Hintergrund terrorisder Digitalisierung sollte es Ob Reden hilft? Das Ensemble der Münchner Kammerspiele. Foto: tischer Anschläge in Eurogehen, um Dating-Apps und David Baltzer pa ab? Und wie wird Angst Cyber-Sex, als im Einkaufsinstrumentalisiert?     Yael zentrum des Münchner Olympiaparks den Tätern. Der öffentliche Nahverkehr Ronen und ihr Ensemble ermöglichen ein Jugendlicher Amok lief. Die ganze stand still. Das Ereignis übte eine so kluge Einsichten in das Innenleben Stadt war in Aufruhr.Von einem Terror- dramatische Wirkung auf alle Betei- westlicher Gesellschaften. anschlag war die Rede, von möglicher- ligten der Produktion aus, dass schnell > „Point Of No Return“ weise noch in der Stadt herumlaufen- klar war: Der Theaterabend muss auf 3. Mai, 20.30 Uhr, Marguerre-Saal

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Das Gesicht des Neuen Europa Der gefeierte Theatermacher Milo Rau mit „Empire“

Vier Schauspieler und ihre Lebensgeschichten ganz nah: „Empire“ von Milo Rau und IIPM. Foto: Marc Stephan von Laura Guhl Milo Rau gilt als der aufregendste Vertreter einer neuen Generation von Dokumentartheatermachern. Jüngst wurde der Schweizer Regisseur mit dem 3satPreis ausgezeichnet. Seine Inszenierungen sind in diesem Jahr auf allen wichtigen Festivals vetreten: dem Berliner Theatertreffen, dem Schweizer Theatertreffen, den Mülheimer Theatertagen – und dem Heidelberger Stückemarkt. Internationales Aufsehen erregte der Regisseur mit dem Nachinszenieren be-

von Barbara Behrendt

tags“ – in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt. „Empire“ ist eine eben solche Arbeit. Sie bildet den Abschluss von Milo Raus Europa-Trilogie, in der er von Krieg, Vertreibung und Migration berichtet. Über die Form des autobiografischen Erzählens nähert er sich der Geschichte Europas. Vier Schauspieler berichten: Da sind der Grieche Akillas Karazissis und die Rumänin Maia Morgenstern als Vertreter des alten Europas: Karazissis kam in den 1970er Jahren nach Heidelberg und entdeckte hier das Hippieleben und das Theater für sich. Die Rumänin Maia Morgenstern ist eine gefragte Schauspielerin. Sie spielte bereits in der „Passion Christi“ von Mel Gibson und in Filmen von Theodorus Angelopoulos. Aktuell ist sie Intendantin in Bukarest. Und da sind die beiden jungen syrischen Schauspieler Rami Khalaf, der in Paris für ein syrisches Radio arbeitete und der Kurde Ramo Ali, der mehrere Monate in Assads Militärgefängnissen verhört wurde. Beide sind in den letzten Jahren nach Deutschland und Frankreich gekommen. Im Erzählen fragt der Abend nach den kulturellen Wurzeln Europas, seiner imperialen Vergangenheit und zeichnet behutsam das Portrait eines Kontinents, dessen Zukunft momentan ungewisser denn je scheint.

deutsamer historischer Situationen, so- eine wichtige Strömung im deutschen genannter „Reenactments“, in denen er Gegenwartstheater ab. Denn: Die Tenbeispielsweise eine zum Genozid aufru- denz, die sogenannte Wirklichkeit fende Radioshow in Ruanda („Hate-Ra- in dokumentarischen Formen auf dio“, 2011) oder russische Gerichts- dem Theater abzubilden, hat Hochkonjunktur. Seit prozesse gegen Künstler und Politisch relevant, bewegend und Ende der 1990er Kuratoren („Die Jahre kann man Moskauer Pro- äußerst bildstark ist sein Theater. eine neue Welle des Dokumentazesse“,   2014), nachstellte. Politisch relevant, bewegend rischen Theaters beobachten, welches und äußerst bildstark ist sein Theater. nicht das Dokument, sondern Protago- > „Empire“ Mit der Einladung von Milo Rau nisten, die aus ihrem Leben berichten 29. April, 20.30 Uhr, bildet der Heidelberger Stückemarkt – Zeitzeugen oder „Experten des AllMarguerre-Saal

Unterm und überm Radar Araber! charmante Bars!), trifft auf einen inspirierten Spielplan wie jenen in Als Kuratorin des Nachspielpreises Ingolstadt und ein spannendes Ensembreist man unterhalb des Radars. Trifft le wie das in Braunschweig. man an den großen Umsteigebahnhöfen wie Mannheim oder Hannover auf Kollegen, die für andere Festival-Jurys nach Frankfurt, München oder Stuttgart unterwegs sind, ist bei denen die Ratlosigkeit groß: Kaiserslautern, Gießen, Tübingen? Beruflich? Die Entdeckungstouren für „Nachgespielt“ können nach Wilhelmshaven oder Salzburg führen, nach Graz oder Solothurn ... Der Grund: Auch die neuen Stücke, sind sie erst einmal uraufgeführt, reisen fast immer unter dem Radar weiter. Hatten sie Glück, Barbara Behrend kuratiert als Jurorin durften sie auf den Großstadtbühnen die Reihe „Nachgespielt“ beim Heidelzum ersten Schaulaufen antreten – da- berger Stückemarkt. Der zweite Blick nach aber geht’s schnurstracks ab in auf neue Stücke ist für sie oft der spandie Provinz. Nichts gegen die Provinz! nendere. Foto: Mika Redeligx Es sei jedem Theaterkritiker empfohlen, einmal im Leben den Nachspielpreis Vor allem aber lernt man ein junges zu kuratieren. Man lernt unterschätzte Theaterstück ganz neu kennen. Es ist Städte wie Solothurn lieben (schönstes wie ein gemeinsamer Wochenend-Trip Nacht-Panorama! bester Fast-Food- nach dem ersten Date: Wie verhält sich

der neue Bekannte in fremder Umgebung? Auf einer anderen, womöglich kleineren Bühne? Wozu hat er den Regisseur inspiriert? Was kitzelt er aus den Schauspielern heraus? Welche Visionen beim Bühnenbildner? Wie kommt er bei seinen neuen Zuschauern an? Im besten, aber unwahrscheinlichen Fall sieht man all das verwirklicht, was man dem Stück ohnehin zugetraut hat und weshalb man die Reise unternommen hat. Fast noch erfreulicher aber sind die Situationen, in denen das Stück plötzlich Eigenschaften entwickelt, die man bisher an ihm kaum bemerkt hat: Wer hätte gedacht, dass Benjamin Lauterbachs „Chinese“ noch besser ins Schweizer Alpenpanorama passt als nach Berlin? Wer würde beim Lesen auf die Idee kommen, Ferdinand Schmalz’ „Herzerlfresser“ in einem Wiener Wald aus lauter Glitzergirlanden morden zu lassen? Wer konnte wissen, dass Falk Richters Recherchestück über schwule Großstädter in Karlsruhe mithilfe von Puppen zünden würde?

Nachspiele sind voller Überraschungen, die jedem Kritiker die Frage abverlangen, ob er beim ersten Lesen und Schauen vor dem Stück bestanden hat – und nicht nur das Stück vor ihm. 2017 wird der Nachspielpreis zum sechsten Mal verliehen, und es gibt Erfreuliches zu berichten: Eine der Reisen führte die Kuratorin in diesem Jahr zum „Herzerlfresser“ an die Wiener Burg. Zuvor war das Stück schon am Deutschen Theater in Berlin nachinszeniert worden, die Uraufführung hatte Leipzig besorgt. Von Leipzig an die großen Häuser in Berlin und Wien – vielleicht fliegen neue Dramen künftig ein bisschen länger auf oder überm Radar? Nachgespielt: > „Der Chinese“ 30. April, 18.30 Uhr, Zwinger1 > „Small Town Boy“ 3. Mai, 18 Uhr, Zwinger1 >„  Der Herzerlfresser” 5. Mai, 20.30 Uhr, Marguerre-Saal

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Alte Meister vom Berliner Ensemble Brillantes Schauspiel aus Claus Peymanns letzter Spielzeit von Lene Grösch Der Blick von Berlin über Göttingen nach Krefeld und Mönchengladbach zeigt, wie eindrucksvoll Autorinnen und Autoren, Regieteams und vor allem starke Ensembles politische Themen aufgreifen und zu intensiven Theaterabenden verdichten. Diese Spielzeit ist die letzte von Claus Peymann als Intendant des Berliner Ensembles. Er ist zweifelsohne einer der wichtigsten Theatermacher des 20. und 21. Jahrhunderts. Berühmt wurde er als Regisseur. In die Theatergeschichte ging er vor allem als Intendant des Wiener Burgtheaters ein, an das er Regisseure wie Hans Neuenfels und Peter Zadek holte. Uraufführungen wie von Peter Handke, Peter Turrini und später auch von Elfriede Jelinek bildeten für ihn immer einen Schwerpunkt seiner Arbeit. Nun ist ihm am Berliner Ensemble mit „Die Griechen“ ein neuer Theatercoup gelungen. Gleich zwei Altmeister sind hier beteiligt: Regisseur Manfred Karge gehört zu den prägenden Persönlichkeiten des deutschen Theaters und hat zeit seines Lebens an Häusern gearbeitet, von denen wichtige und systemkritische Impulse ausgingen. Das Stück, mit dessen Inszenierung er nach Heidelberg eingeladen wird, stammt von keinem Geringeren als Volker Braun, der neben Peter Hacks und Heiner Müller als bedeutendster Dramatiker der DDR gilt. In „Die Griechen“ wird die Schuldenkrise Griechenlands mit der attischen Antike zusammengebracht – inklusive Chor und Versen: Brillantes und pures Schauspiel, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.

Die Griechen mit leeren Händen. Foto: Thomas Eichhorn „Kein schöner Land“ von Lothar Kittstein und Hüseyin Cirpici beruht auf einer Zeitungsmeldung: Eines Tages klopfte am Tegernsee in Bayern ein Flüchtling aus Nigeria an die Tür eines Männerchors und fragte, ob er mitsingen dürfte. Daraus entstand ein Theaterabend, der von der spannenden Begegnung eines Chors mit einem Fremden erzählt, vom Aufeinanderprallen verschiedener Welten: Eine Geschichte mit offenem Ausgang.

Was diesen dokumentarischen Theaterabend abhebt von vielen anderen der letzten Monate zum Thema Flucht? Er zeigt echte Geschichten, die das Autorenteam gefunden hat – in Zeitungen, sozialen Netzwerken, in Gesprächen mit Geflüchteten. Aber: Lothar Kittstein ist ein kluger Autor, der seine Dialoge fiktionalisiert. Dem Risiko des Zoo­ effekts geht der Abend erfolgreich aus dem Weg, indem er nicht alle Laien samt Fluchtgeschichte auf die Bühne

zerrt. Alle Darsteller des Abends sind Schauspieler, wenn auch in manchen Fällen mit eigenen Erfahrungen: Den Flüchtling spielt ein Schauspieler und „Experte des Alltags“: Jubril Sulaimon floh einst aus Nigeria nach Deutschland, ist jedoch längst ein etablierter Theaterkünstler. > „Die Griechen“ 30. April, 20.30 Uhr, Marguerre-Saal >„  Kein schöner Land“ 1. Mai, 20.30 Uhr, Alter Saal

Achtung unromantisch! Nichts für Kinder, umso mehr für Erwachsene: Drei Grimmsche Märchen aus heutiger Perspektive „Weil sie nicht gestorben sind“ vom Deutschen Theater Göttingen lg. Die Regisseurin Brit Bartkowiak ist in Heidelberg bereits eine gute Bekannte: Nach „Unschuld“ 2015 inszenierte sie zuletzt „Woyzeck“ im Alten Saal – jetzt ist sie das erste Mal mit einer ihrer Inszenierungen zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. „Weil sie nicht gestorben sind“, eine Uraufführung von Hannah Zufall, erzählt mit „Allerleirauh“, „Brüderchen und Schwesterchen“ und „Die sieben Raben“ gleich drei Grimmsche Märchen. Warum es trotzdem weit über das reine Nacherzählen der altbekannten Geschichten hinausgeht, beschreibt Regisseurin Brit Bartkowiak persönlich: „Märchen sind ja nicht von den Brüdern Grimm erfunden, es sind Geschichten aus dem französischen und italienischen Raum, die nach Deutschland geschwappt sind, immer weitererzählt wurden, bis die Grimms angefangen haben, diese Märchen zu sammeln. Wir sprechen von dem Zeitraum um 1848 mit der großen Sehnsucht, deutsche Identität zu greifen oder zu stif-

an, diese Märchen entsprechend zu bereinigen und zu vereinfachen. Sexuelle Andeutungen und Brutalität wurden verharmlost und unsere Autorin Hannah Zufall geht genau diesen offenen Lücken auf die Spur: Was stand ursprünglich drin? Und in welchem Sinne wurde es schon gedeutet? Der Abend ist auch ein Prozess der Emanzipation: Von der Erkenntnis der Figuren, dass sie Märchenfiguren sind über den Wunsch, die eigene Geschichte umzuschreiben und damit zu Regisseuren der eigenen Geschichte zu werden – bis hin zu der Frage, wie man letztlich damit umgeht, wo das eigene Selbst bleibt, wenn die eigene Geschichte zu Ende erzählt ist. Kann man überhaupt ausbrechen? Es sind wunderbare Geschichten und groMärchenfiguren unter sich. Brit Bartkowiaks Inszenierung von „Weil sie nicht ge- ße Figuren für die Schauspieler: Wer Lust auf Schauspiel hat, auf Energie, storben sind“. Foto: Thomas Müller auf Verausgabung, auf Märchenstoffe, ten, deshalb haben die Grimms auch ‚Kinder– und Hausmärchen‘ war ir- der ist bei uns genau richtig!“ ein bisschen geflunkert, indem sie sie reführend, weil diese Märchen dann als typisch deutsche Märchen ausge- doch nicht ganz kindergerecht wa- > „Weil sie nicht gestorben sind“ geben haben. Die erste Ausgabe, die ren und deshalb fingen die Grimms 4. Mai, 18.00 Uhr, Alter Saal

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Lieblingsstücke Sechs Theatertexte im Wettbewerb um den AutorenPreis Das Herz des Heidelberger Stückemarkts ist der Autorenwettbewerb. Aus 92 Einsendungen hat die Dramaturgie des Theaters Heidelberg

ihre 6 Favoriten bestimmt, die dieses Jahr um den mit 10.000 Euro dotierten AutorenPreis konkurrieren. Am ersten Festivalwochenende werden

die Texte in szenischen Lesungen von Das Festivalteam stellt seine LiebSchauspielern des Heidelberger En- lingsstücke vor. sembles präsentiert. Aber was macht > T  ermine: 29. + 30. April, die ausgewählten Texte besonders? jeweils 13 Uhr, Alter Saal

„Anfall und Ente“ von Sigrid Behrens „Anfall und Ente“ ist ein leises, poetisches Stück über den Tod, die Vergänglichkeit und das Nichts. Die Autorin lässt ihre Figuren in einer Kunstsprache sprechen – dadurch erhalten die Dialoge eine Einfachheit und zugleich aber auch eine spannende Kompliziertheit. Das passt sehr schön zu dem Thema, das nie auf eine platte Weise verhandelt wird. Behrens nimmt so ihre Figuren und die Zuschauer – Kinder wie Erwachsene – mit ihren Vorstellungen und Ängsten zum Thema Tod ernst. Außerdem gibt es wunderbare Figurennamen: Kissenschlacht, Pfannkuchen, Trüddelschmopf – das beflügelt die Fantasie!

„Wiegenlied für Baran“ von Joël Lázló Joël Lázlós Dialoge sind rasant, seine Pointen treffsicher und sein Blick auf die bürgerliche Mittelschicht entlarvend. In „Wiegenlied für Baran“ geht es um nicht weniger als den Anspruch an das eigene politische Handeln – und den Graben, der sich dann bis zur Wirklichkeit auftut. Der Graben ist im „Wiegenlied“ eine Küche, in der Lázlós Figuren Pierre, Sybille und Robert alias Samahadi die Nächte durch philosophieren und darüber streiten, ob es eine gute Idee war, den kurdischen Flüchtling Baran bei sich aufzunehmen. Denn vielleicht war es doch nur „irgendetwas zwischen Feigheit und Völkerschau“?

Viktoria Klawitter, Dramaturgin Junges Theater

Laura Guhl, Dramaturgieassistentin

„Eine Post-Sowjetische Dramolett-Trilogie“ von Marjana Gaponenko Gibt es das? Die Verarbeitung der Wirklichkeit auf dem Theater? Das, was man früher so anspruchsvoll Aufklärung nannte? Marjana Gaponenko kann das, auf ihre eigene Weise. Sie spielt mit fossilen Resten der Geschichte und erweckt sie zum Leben. Aber zu was für einem! Das Groteske wird zur höheren Ausdrucksform der Wahrheit. Was hier zum Vorschein kommt, ist so komisch, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Und wie schrecklich erst die Vorstellung, welche posttrumpschen Fossilien wohl unsere Nachfahren auf amerikanischem Boden entdecken werden ... Dürrenmatt hatte seinerzeit ganz recht: eine Geschichte ist erst dann am Ende, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Oder meinte er nicht vielleicht sogar die Geschichte?

„Schlaraffzahnland“ von Nicole Kanter In einem Land, das von einer riesigen Mauer aus süßem Brei umgeben ist, Rumkugeln an den Bäumen hängen und Milch und Honig fließen, scheint es die Hamstergesellschaft nicht weiter zu stören, wenn hin und wieder einer ihrer Artgenossen spurlos verschwindet. Als jedoch Fridolins Verlobte einen Tag vor der Hochzeit unauffindbar ist, begibt er sich auf die Suche und gründet zusammen mit seinen ungleichen Freunden eine Widerstandsbewegung. Kanter schreibt eine spannende Abenteuergeschichte und ein phantasievolles Plädoyer für eine gerechtere Welt. Unterhaltung und Gesellschaftskritik für die ganze Familie!

„Nord West 59“ von Lorenz Langenegger „Nord West 59“ kann man sich sofort auf der Bühne vorstellen. Es hat kurze schnelle Szenen, die immer alles sagen und zugleich Raum lassen für das Spiel und die Fantasie einer Theaterinszenierung. Und Langenegger hat tolle Rollen für Schauspieler geschrieben. Die Figuren sind verschroben, schräg, aber zugleich sympathisch. Ob es der gerade entlassene Häftling Mika ist, der nur aus einem großen Missverständnis heraus gesessen hat, oder die Flüchtlingsfamilie, die ein besseres Leben sucht. Jeder von ihnen sucht nur ein kleines Stück vom großen Glück und jeder begeht Fehler. Und die Geschichte nimmt dabei einige überraschende Wendungen.

Katrina Mäntele, Produktionsleiterin

Sonja Winkel, Geschäftsführende Dramaturgin Schauspiel

„Kluge Gefühle“ von Maryam Zaree Ein Stück wie ein Strudel. Mutter und Tochter in der Zentrifuge der Wirklichkeit. Eine hyperaktive Anwältin, die einen afghanischen Flüchtling vor der Abschiebung bewahrt, gleichzeitig in therapeutischer Behandlung ist und qua Internet einen Mann zu finden versucht. Sie sorgt sich um ihre Mutter, die plötzlich verschwunden ist – und gerade in dem Moment hat sie Handtasche und Telefon in einem Taxi liegen lassen. Vielzuviel, was da auf sie (und auf uns) einstürzt? Keineswegs. So ist die Welt. In diesem Fall eine Tiefenbohrung in die Geschichte Irans. Sie endet in einem Gefängnis, in dem die Anwältin einst zur Welt kam. Michael Propfe, Gast-Dramaturg

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Spielplan Stückemarkt Fr 28.04.17

Sa 29.04.17

So 30.04.17

Marguerre-Saal

Alter Saal

19.30 Uhr 10 GEBOTE von 15 Autoren und Autorinnen, Ensemble und einem Schaf Deutsches Theater Berlin Regie Jette Steckel

19 Uhr ERÖFFNUNG DES HEIDELBERGER STÜCKEMARKTS

20.30 Uhr EMPIRE von Milo Rau und IIPM International Institute of Political Murder

DEUTSCHSPRACHIGER AUTORENWETTBEWERB 1. TAG 13.00 Uhr KLUGE GEFÜHLE von Maryam Zaree 14.00 Uhr SCHLARAFFZAHNLAND von Nicole Kanter 15.30 Uhr WIEGENLIED FÜR BARAN von Joël László Ab 22.30, Party EIN STÜCK VOM GLÜCK NO. 1

18.30 Uhr BEBEN von Maria Milisavljevic Theater und Orchester Heidelberger Regie Erich Sidler AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2016

20.30 Uhr DIE GRIECHEN von Volker Braun Berliner Ensemble Regie Manfred Karge

DEUTSCHSPRACHIGER AUTORENWETTBEWERB 2. TAG 13.00 Uhr EINE POST-SOWJETISCHE DRAMOLETT-TRILOGIE von Marjana Gaponenko 14.00 Uhr ANFALL UND ENTE von Sigrid Behrens 15.30 Uhr NORD WEST 59 von Lorenz Langenegger

18.30 Uhr DER CHINESE von Benjamin Lauterbach Theater Orchester Biel Solothurn Regie Max Merker [Nominierung NachSpielPreis]

20.30 Uhr KEIN SCHÖNER LAND von Lothar Kittstein und Hüseyin Michael Cirpici Theater Krefeld und Mönchengladbach Regie Matthias Gehrt

18.00 Uhr BILDER VON UNS von Thomas Melle Theater Bonn Regie Alice Buddeberg

Mo 01.05.17

Zwinger1

11 Uhr DER GOLDENE RONNY von Daniel Ratthei Schleswig-Holsteinische Landestheater Regie Nora Bussenius [12+, Nominierung JugendStückePreis] 20.30 Uhr DIE SCHWARZE FLOTTE von Anne-Kathrin Schulz Theater Dortmund Regie Kay Voges

Mi 03.05.17

20.30 Uhr POINT OF NO RETURN von Yael Ronen und Ensemble Münchner Kammerspiele Regie Yael Ronen

11.00 Uhr DJIHAD PARADISE von Anna Kuschnarowa Thalia Theater Halle Regie Ronny Jakubaschk [14+, Nominierung JugendStückePreis]

18.00 Uhr SMALL TOWN BOY von Falk Richter Badisches Staatstheater Karlsruhe Regie Atif Mohammed Nour Hussein [Nominierung NachSpielPreis]

Do 04.05.17

20.30 Uhr DER BLAUE WÜRFEL von David Gieselmann Theater und Orchester Heidelberg Regie Christian Brey

18.00 Uhr WEIL SIE NICHT GESTORBEN SIND von Hannah Zufall Deutsches Theater Göttingen Regie Brit Bartkowiak

15.00 Uhr ALL ABOUT NOTHING von pulk fiktion Regie Hannah Biedermann und Eva von Schweinitz [12+, Nominierung NachSpielPreis]

20.30 Uhr LESBOS – BLACKBOX EUROPA von Gernot Grünewald und Ensemble Deutsches Theater Berlin Regie Gernot Grünewald

Fr 05.05.17

20.30 Uhr DER HERZERLFRESSER von Ferdinand Schmalz Burgtheater Wien Regie Alexander Wiegold [Nominierung NachSpielPreis]

11.00 Uhr HIMMEL UND HÄNDE von Carsten Brandau Theater der Stadt Aalen Regie Winfried Tobias [4+, Austauschgastspiel Mülheimer Theatertage]

18.30 Uhr LESBOS – BLACKBOX EUROPA von Gernot Grünewald und Ensemble Deutsches Theater Berlin Regie Gernot Grünewald

Sa 06.05.17

20.30 Uhr HAUS DER HUNDE von Vladislav Troitskyi Dakh Theater Kiew Regie Vladislav Troitskyi

So 07.05.17

15.30 Uhr HAUS DER HUNDE von Vladislav Troitskyi Dakh Theater Kiew Regie Vladislav Troitskyi

22.30 Uhr DAKH DAUGHTERS Musikalisch-theatrales Freak-Kabarett | Konzert Dakh Theater Kiew Regie Vladislav Troitskyi Im Anschluss Party EIN STÜCK VOM GLÜCK NO. 2 13.00 Uhr ERÖFFNUNG GASTLANDPROGRAMM UKRAINE INTERNATIONALER AUTORENWETTBEWERB: UKRAINE 13.30 Uhr LORA von Oksana Sawtschenko 14.30 Uhr DAS NORDLICHT von Wolodymyr Snihurtschenko 16.00 Uhr ÖKÖ-BALLADE von Olga Mazjupa 18.30 Uhr DER GETREIDESPEICHER von Natalia Vorozhbyt Erstes Kinder- und Jugendtheater Lwiw Regie Andrij Prychodko 21.00 UHR PREISVERLEIHUNG

Sprechzimmer

20 Uhr Premiere BEBEN von Maria Milisavljevic Theater und Orchester Heidelberg Regie Erich Sidler AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2016

18.30 Uhr BEATE UWE UWE SELFIE KLICK von Laura Linnenbaum, Gerhild Steinbuch Die Theater Chemnitz Regie Laura Linnenbaum

Di 02.05.17

Zwinger3

18.00 Uhr Dokumentarisches Theater in der Ukraine RUSSISCH AUF UKRAINISCH von Anton Romanov PostPlayTeatre Kiew WO IST OSTEN? von Natalia Vorozhbyt und Alik Sardarian Theatre of Displaced People Kiew Regie Georg Genoux, Alik Sardarian

15.30 Uhr RUHM DEN HELDEN von Pavlo Arie Theater Goldenes Tor Kiew Regie Stas Zhyrkov

11.00 Uhr END OF IMITATION 2.0 Post Residency Theatre Group Regie Pavel Yurov

13.00 Uhr THEATERLUNCH Gespräch über das Theater in der postrevolutionären Ukraine

THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

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Alles so bunt hier Theater in der postrevolutionären Ukraine

Der Maidan in Kiew 2015. Foto: Katja Herlemann Die Fotos von Katja Herlemann entstehen auf ihren zahlreichen Reisen. Ihr Gebrauch von Einwegkameras hat mit einem Misstrauen gegenüber grenzenloser Bilderproduktion zu tun, aber auch mit bewusster Abgabe von Kontrolle an das Material. Das Auge des Fotoapparats streift die Orte dabei im besten Fall nur wie zufällig. Katja Herlemann gehörte von 2013-2016 zum Leitungsteam des Heidelberger Stückemarkt. Ihre Fotos von Kiew wurden im November 2015 im Rahmen einer Theaterreise aufgenommen. kakoshka.tumblr.com Katrina Mäntele und Jürgen Popig Maidan untergebracht – in dem Hotel, gefallen. Für die Doku-Theatergruppe unterhalten sich über das Gastland wo während der Maidan-Proteste Ver- Theatre of Displaced People, die sich des 34. Stückemarkts. letzte versorgt und Tote aufgebahrt ganz auf Flüchtlingsthemen konzentwurden. Angeblich sollen sich auch riert, war eine eigene Halle reserviert, > Jürgen: Wir sind ja nicht zusammen Scharfschützen in den Hotelzimmern wo man an jedem Tag etwas anderes nach Kiew gereist, sondern ich war verschanzt haben, und der sechste sehen konnte: Theater, Performance, im September beim Gogolfest, und Stock war während der Ausschrei- Film, Diskussion, das fand ich toll. du warst im November bei der Woche tungen für Journalisten aus aller Welt Den größten Kontrast dazu bildeten der jungen Dramatik. Ich war total reserviert. Der Blick aus meinem Ho- die Dakh Daughters, ein Heavy-Meüberrascht davon, dass alles so bunt telzimmerfenster war also der, den tal-Mädels-Punk-Kabarett, das auch ist. Ich hatte mir die die mediale Öffent- in Berlin oder Paris cool wäre. Beide Ukraine irgendwie „Kaum zu glauben, dass lichkeit eingenom- Gruppen sind beim Stückemarkt verschwarzweiß vorgemen hatte. Mit ei- treten. Dazu ein Stück unseres Scouts stellt. Oder grau. In dieses Land im Krieg ist.“ nem entscheidenden Pavlo Arie: „Ruhm den Helden“ kenWirklichkeit knallte Unterschied. Drei ne ich noch nicht, aber du hast es in die Sonne runter, ich hatte natürlich Jahre später war der Platz leer und Kiew gesehen. Was erwartet uns da? nicht daran gedacht, Sonnenschutz- aufgeräumt. Keine protestierenden > Katrina: Uns erwartet die Gecreme mitzunehmen. Auf dem Spiel- Menschenmengen, keine brennenden schichte von zwei ehemaligen Helden und Rummelplatz vor dem Gelände, Autoreifen, keine Ukraine-Flaggen des Zweiten Weltkriegs, die aber auf wo das Gogolfest stattfand, tobten waren zu sehen. An einem Abend unterschiedlichen Seiten gekämpft die Kinder unbeschwert und fröhlich. spielte sogar eine Band auf dem Mai- haben. Nun, am Ende ihres Lebens, Der Autor Pavlo Arie, unser Scout, dan, und die Bemüssen sie ein mit dem ich dort war, sagte: „Kaum sucher teilen, tanzten, In der neuen Dramatik wer- Sterbebett zu glauben, dass dieses Land im Krieg trotz Kälte und und dabei breden der Krieg im Osten und chen alte Konist.“ Genau. Das Wissen um die nicht Regen. Im Alltag enden wollende Krise, in der sich die scheint der Krieg auf. Schaut die Beziehung zu Russland flikte Ukraine befindet, war mit dieser aus- nicht sehr präman eine Inszeimmer wieder thematisiert. nierung und vergelassenen Festtagsstimmung schwer sent zu sein. Bei zusammenzubringen. Und wie wars den Lesungen steht die Sprache im November? und Theaterbesuchen hatte ich jedoch nicht, nimmt man Bühnen- und Kos> Katrina: Als wir in Kiew ankamen, einen anderen Eindruck. In der neuen tümbild, Requisiten oder Lichtstimwar es schon dunkel, und während Dramatik werden der Krieg im Osten mungen viel stärker wahr. Spannend der Fahrt vom Flughafen zum Hotel und die Beziehung zu Russland immer war für mich auch, die Emotion des sahen wir nicht viel. Umso faszinier- wieder thematisiert. Publikums zu beobachten. Während ter war ich von meinem Blick aus dem > Jürgen: Beim Gogolfest hat mir die im ersten Teil sehr viel und sehr laut Hotelzimmer. Wir waren direkt am Bandbreite und Vielfalt des Gezeigten gelacht wurde, hat man nach der Pau-

se geschluchzt und geweint. > Jürgen: Kannst du sagen, was charakteristisch ist für das Theater der Ukraine? > Katrina: Während der Recherche für den Stückemarkt ist mir aufgefallen, dass erstaunlich viele der jüngeren Theatermacher auf dokumentarische Formen zurückgreifen. Wir haben daher auch gleich zwei Theater eingeladen, die mit ihrer Arbeit versuchen, die Wirklichkeit zu dokumentieren. Das Theatre of Displaced People repräsentiert Stimmen aus dem besetzten Osten der Ukraine, das PostPlayTeatre stellt in einer Installation die Erfahrungen der Krim-Annektierung aus. > Jürgen: Es kommen ja auch Experten. Was für welche? > Katrina: Der Journalist Thomas Irmer eröffnet das Gastlandprogramm mit einem sachkundigen Vortrag. Und dann gibt es ein Podiumsgespräch über Theater in der postrevolutionären Ukraine. Da diskutiert Thomas Irmer mit Irene Podolak, einer Kulturpolitikerin, mit Oleg Verhelis, einem renommierten Theaterwissenschaftler und Publizist, mit Den Gumenniy, dem künstlerischen Leiter des PostPlayTeatre und mit Pavlo Arie. Ist das ausreichend, oder brauchen wir noch mehr Text? > Jürgen: Das dürfte reichen. Vielen Dank.

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Der Geist der Revolution Aufrüttelndes dokumentarisches Theater aus der Ukraine

„Wo ist Osten“ vom Theatre of Displaced People. Foto: Anastasia Vlasova von Lene Grösch Die Darsteller des Theatre of Displaced People sind keine Berufsschauspieler. Die meisten von ihnen sind Binnenflüchtlinge aus dem Donbass, aber auch ehrenamtliche Helfer und Soldaten. Auf der Bühne erzählen sie ihre eigenen Lebensgeschichten – und werden zur Stimme von Hunderttausenden Vertriebenen aus der Ostukraine, die sonst nur wenig Gehör finden. Mit (zunächst) unerwartetem Erfolg: „Viele Zuschauer stammen aus dem Donbass. Besonders am Anfang war das so. Am ersten Abend haben wir zwei Aufführungen hintereinander gespielt. Es kamen so viele Menschen, dass der Platz nicht reichte. Ich habe ‚gespielt‘ gesagt, obwohl es eigentlich gar kein Schauspiel ist:

Wir spielen nicht, wir erzählen unsere Geschichten“, so Darstellerin Anastassija Pigatsch über ihre erste Premiere „Wo ist Osten?“ des Theatre of Displaced People, ein Stück, mit dem die Bühne der Binnenflüchtlinge beim diesjährigen Festival Gogolfest in Kiew eröffnet wurde. Das Leitungsteam besteht aus dem Regisseur Georg Genoux, der Dramatikerin Natalya Vorozhbit und dem Militär-Psychologen Aleksei Karachinsky – die gemeinsam mit ihren Darstellerinnen und Darstellern auf Dialog als beste Garantie für Frieden setzen und darum kämpfen, Traumata zu überwinden, indem sie Geschichten teilen. Nach Heidelberg kommen mit „Wo ist Osten?“ zwei Monologe dieser außergewöhnlichen Kompagnie.

Auch das PostPlayTeatre Kiew wirft kritische Blicke auf aktuelle Ereignisse in der Ukraine – und nutzt dabei ebenfalls dokumentarische Formen. Die Gruppe wurde 2014 aus der Maidan-Revolution geboren und besteht aus Künstlerinnen und Künstlern aus der gesamten Ukraine, die in Kiew leben und arbeiten. Der 31-jährige Regisseur und Schauspieler Anton Romanov war Leiter des Zentrums für zeitgenössische Kunst in Simferopol, bevor 2014 Russland die Krim annektierte und er gezwungen wurde, seine Heimat zu verlassen. Seitdem hat er sich dem PostPlayTeatre in Kiew angeschlossen, ist weiterhin politisch aktiv und unterstützt die Krim. Für den Heidelberger Stückemarkt hat Romanov eine szenische Installation entwickelt, die kaleidoskopisch Erinnerungen an die Annektierung der Krim

zusammenstellt, die das PostPlayTeatre gesammelt und arrangiert hat. Gefördert durch Szenenwechsel, einem Programm der Robert Bosch Stiftung und des Internationalen Theaterinstituts ITI, eröffnen diese beiden hochspannenden dokumentarischen Projekte des PostPlayTeatres und des Theatre of Displaced People als Doppelabend bzw. -installation quer durch den Zwinger Einblicke in die explosive Gesellschaft der postrevolutionären Ukraine – und sorgen für provozierende, humorvolle und sehr menschliche Theatermomente. >„  Russisch auf Ukrainisch“ und „Wo ist Osten?“ 6. Mai, 18.00 Uhr, Zwinger1 In ukrainischer und russischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Ukraine-Tipp: „Der Getreidespeicher“ von Natalia Vorozhbyt Zum ersten Mal auf Gastspiel! jp. Die Handlung spielt vor dem Hintergrund der größten Tragödie der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Infolge von Zwangskollektivierung in der Stalinära kam es Anfang der 1930er Jahre in der Ukraine zu einer künstlich herbeigeführten Hungersnot, die unzählige Menschenleben kostete und als nationales Trauma bis heute fortbesteht. Trotz der zeitlichen Distanz beschäftigt sich das Stück mit aktuellen Fragestellungen. „Der Getreidespeicher“ ist die erste Theater-Koproduktion in Lwiw (Lemberg), die zeigen soll, dass die Zusammenarbeit zwischen Erstes Kinder- und Jugendtheater Lwiw. Foto: Marianna Pavliuk

staatlichen Kulturinstitutionen und freien Künstlerinnen und Künstlern möglich ist. Eine Möglichkeit, die Autorin des „Getreidespeichers“ Natalia Vorozhbyt als Schauspielerin zu erleben, gibt es in dem dokumentarischen Theaterstück „Wo ist Osten?“ über den Konflikt in der Ostukraine. >„  Wo ist Osten?“ 6. Mai 2017, 18.00 Uhr, Zwinger >„  Der Getreidespeicher“ 7. Mai 2017, 18.30 Uhr, Alter Saal In ukrainischer Sprache mit deutschen Übertiteln

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Die Dakh Daughters überwinden Grenzen Musikalische Höhepunkte des Rahmenprogramms

Die Töchter des Theaters „Dach“. Foto: Maxim Dondyuk von Laura Guhl Das Dakh Theater („Theater auf dem Dach“) ist ein einzigartiges Phänomen in der Ukraine: 1994 als Zentrum für zeitgenössische Kunst von Vladislav Troitskyi gegründet, entwickelte es sich schnell zu einem Ort für experimentelle künstlerische Ansätze – und ist heute nicht nur das älteste, sondern auch das einzige unabhängige nichtkommerzielle Theater der Ukraine. Mehr als ein guter Grund, die Dakh-Theater-Produktion „Haus der Hunde“, die schonungslos auf die politischen Ereignisse in der Ukraine vor und nach dem Maidan blickt, zum Heidelberger Stückemarkt einzuladen. Eines der künstlerischen Mittel, derer sich das Dakh bedient, ist die traditionelle ukrainische Musik, die eine große Rolle in ihren Inszenierungen spielt und mittlerweile zum festen Bestandteil ihrer ganz eigenen Bühnensprache geworden ist. Ungewöhnlich begabt sind die Schau-

lg. „Vordergründig scheint sich das ukrainische Theater seit der Zeit der Sowjetunion kaum verändert zu haben. Viele Häuser sind abhängig von der machthabenden Politik und zeigen wenig Interesse an aktuellem Gegenwartsgeschehen.“ schreibt Pavlo Arie – ukrainischer Theatermacher, Intendant und diesjähriger Scout des Gastlands über das Theater in seinem

spielerinnen der Avantgardebühne auch in musikalischer Hinsicht, so dass aus den eigenen Reihen des Theaterkollektivs das Frauenbandprojekt Dakh Daughters (frei übersetzt: Töchter des Theaters „Dach“) entstand. Als künstlerisch-skurriles, musikalisch-theatrales Freak-Kabarett bezeichnen sie sich selbst und singen auf mehreren Sprachen von Utopie und postsowjetischer Tragödie, von besetzten Kriegsgebieten in der Ostukraine und der vielschichtigen Identität ihres Landes. In einem Mix aus ukrainischer Folklore, Punk, Prog-Rock, Klassik und Sprechgesang sprengen die sieben Frauen virtuos jede musikalische, sprachliche und kulturelle Grenze. In ihren Texten bedient sich das Kollektiv bei Autoren wie Charles Bukowski und William Shakespeare. Größere Aufmerksamkeit erlangten sie durch ihren Auftritt im Rahmen der Proteste auf dem Maidan in Kiew 2013 als sie vor den Augen der bewaffneten ukrainischen Miliz auftraten.

Mittlerweile stehen die Dakh Daughters weltweit auf der Bühne. Besonders freut sich auf seinen Auftritt deswegen auch Janeck Altshuler, aka offbeatterrorist, der im Anschluss an das Konzert auflegen wird. Selbst gebürtiger Ukrainer bringt er ansonsten die Clubgänger Wiesbadens bei der im Rhein-Main-Gebiet legendären Balkan-Party-Reihe „La Bolschevita“ im Schlachthof Wiesbaden zum Tanzen. Freuen kann sich deswegen das Publikum auf seine energiegeladene Mischung aus Balkan- und elektronischen Beats. >„  Dakh Daughters – Musikalisch-theatrales Freak-Kabarett“ 5. Mai, 22.30 Uhr, Alter Saal > I m Anschluss: „Ein Stück vom Glück No. 2“ mit DJ Janeck aka offbeatterrorist Eintritt frei!

Im „Haus der Hunde“, Dakh Theater. Foto: Tatiana Vasylenko

Wie weiter nach der Revolution? Ukrainische Theatermacher sprechen über ihre Arbeit Heimatland. Aber unter der Oberfläche brodelt es: Der Geist der Revolution hat auch die Ukraine und seine Theatermacher getroffen. Immer mehr beschäftigt sich das Theater mit der Gegenwart, wird zeitbezogener und aktueller. Auch Machtstrukturen werden aufgebrochen und Produktionsstrukturen verändern sich. Aber unter welchen Bedingungen ar-

beiten Theatermacher in der Ukraine momentan? Was sind die Themen, die sie umtreiben? Und welche Ästhetiken spielen eine besondere Rolle im zeitgenössischen ukrainischen Theater? Gemeinsam mit dem Theaterkritiker und Publizisten Oleg Verhelis, der ukrainischen Politikerin Irene Podolak und dem Autor Den Gumenniy vom PostPlayTeatre spricht Pavlo

Arie über diese Fragen. Moderiert wird das Gespräch von Thomas Irmer, Theaterkritiker u.a. für Theater heute sowie Experte für die ukrainische Theaterlandschaft. >T  heaterlunch Gespräch über das Theater in der postrevolutionären Ukraine 7. Mai, 13.00 Uhr, Sprechzimmer

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Von Armut, Radikalisierung und Identitätsfindung Existenzielle Themen stehen bei den Jugendgastspielen auf dem Programm

„All about Nothing“ von pulk fiktion. Foto: Christoph Wolff von Viktoria Klawitter Mit Beginn der Intendanz von Holger Schultze in Heidelberg wurde der JugendStückePreis eingeführt. So wird der Preis seit 2012 an eine herausragende Uraufführung eines Jugendtheatertextes verliehen. In diesem Jahr feiert der Preis also seinen 6. Geburtstag! Nominiert sind Daniel Ratthei für „Der Goldene Ronny“ in einer Inszenierung des Schleswig-Holsteinischen

Landestheaters, „All about Nothing“ der freien Theatergruppe pulk fiktion und die Romanbearbeitung „Djihad Paradise“ von Anna Kuschnarowa vom Thalia Theater Halle und Regisseur Ronny Jakubaschk auf die Bühne gebracht. Drei sehr unterschiedliche Geschichten und Bühnentextvorlagen. „Djihad Paradise“ erzählt von Julian und Romea, die den Islam entdecken und Halt in der Religion finden. Julian lässt sich immer tiefer in eine

radikale Gruppe hineinziehen. Das Thema Radikalisierung ist nicht nur in den Nachrichten präsent – auch in Jugendmedien spielt es eine wichtige Rolle. Viele Romane erscheinen und das Theater nimmt sich diesem Thema – nicht nur in Halle – ebenfalls an. Auch „All about Nothing“ greift ein politisches Thema auf: Kinderarmut. Das pulk fiktion-Team hat sich gemeinsam auf Recherche begeben und ein berührendes Stück entwickelt.

„Man hat echte Menschen direkt vor sich“ Josefine Scholl über die Arbeit der Jugendjury > Was macht die Jugendjury eigentlich? Die Jugendjury bekommt vorab ein Skript von jedem Stück, dass für den JugendStückePreis nominiert ist. Das lesen wir und tauschen uns, bevor wir die Stücke sehen, darüber aus. Dann sehen wir die Inszenierungen. Nachdem wir alle Nominierten gesehen haben, setzen wir uns für eine längere Besprechung zusammen und diskutierten. Wenn wir uns geeinigt haben, schreiben wir eine Rede, die wir bei der Preisverleihung vortragen. > Was war als Juror das Aufregendste in Deinem ersten Jugendjuryjahr beim Heidelberger Stückemarkt 2016? Ich mag es sehr, mich mit anderen über Theaterstücke zu unterhalten. Man tauscht Meinungen und Gedanken aus und erkennt dadurch noch ganz andere Facetten. Es war cool, die Möglichkeit zu haben, mit den Darstellern und Regisseuren reden zu können. Das ist etwas, was ich am Theater, im Vergleich zum Film, sehr schätze. Man hat echte Menschen direkt vor sich, die sich mehrere Monate mit dem Stück auseinandergesetzt haben, mit ihren Rollen

Kinder und Jugendliche kommen gleichberechtigt neben harten Fakten zu Wort. Und dennoch gelingt es den Performern eine Leichtigkeit herzustellen, die das alles erträglich macht. In „Der Goldene Ronny“ begegnet man Leah und Leo, die trotz großer Unterschiede mehr Ähnlichkeiten haben als angenommen. Daniel Ratthei gehört mit seinen rasanten, komischen Stücken zu den aufkommenden Stimmen des Jugendtheaters. Drei Gastspiele die es wert sind, genauer angeschaut zu werden! > „Der Goldene Ronny“ ab 12 Jahren 2. Mai, 11 Uhr, Zwinger3 > „Djihad Paradise“ ab 14 Jahren 3. Mai, 11 Uhr, Alter Saal > „All about Nothing“ ab 12 Jahren 4. Mai, 15 Uhr, Zwinger1

Carsten Brandau erneut mit Kinderstück zu Gast

Josefine Scholl (rechts) und die Jugendjury bei der Preisverleihung 2016. Foto: Susanne Reichardt

vk. Letzte Spielzeit war Carsten Brandau mit einem Kinderstück im Rahmen des Austauschgastspiels mit den Mülheimer Kinderstücken beim Stückemarkt zu Gast: Er hatte 2015 für „Dreier steht Kopf“ den KinderStückePreis in Mülheim erhalten – und ein Jahr darauf gleich noch einmal für „Himmel und Hände“. Dieses Stück ist gemeinsam mit dem Theater der Stadt Aalen entstanden. Erzählt wird von A und O, die gemeinsam die Welt entdecken – eine Geschichte der Gegensätze mit hoher literarischer Qualität!

und mit der Inszenierung und einem mitentscheiden zu lassen. Jugendlideswegen fast alles darüber sagen che schauen sich schließlich später können. die Stücke an. Auch wenn die Profis auch einmal Jugendliche waren, ist > Warum ist es wichtig, eine Jugend- doch jede Generation irgendwie anjury für den JugendStückePreis ders und hat andere Dinge, die sie mitentscheiden zu lassen? beschäftigen. Außerdem ist es gut, Es würde überhaupt keinen Sinn ma- nicht nur Leute Stücke bewerten zu > „  Himmel und Hände“ chen es „JUGENDStückePreis“ zu lassen, die sich tagtäglich mit Theaab 4 Jahren 5. Mai, 11 Uhr, Zwinger1 nennen und dann keine Jugendlichen ter beschäftigen.

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Wir. Wer immer und wie viele wir auch sind Komplexes Zeitbild im Preisträgerstück von Maria Milisavljevic

Jurorin Andrea Vilter, Preisträgerin Maria Milisavljevic und Intendant Holger Schultze bei der Verleihung des Autorenpreises 2016. Foto: Annemone Taake von Sonja Winkel „Beben“ gewann im Frühjahr als einer von sechs neuen Theatertexten den AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts. Aber macht was ihn eigentlich zu einem Theatertext? Dass die Autorin ihn für das Theater geschrieben hat? Er ist nicht leicht zu lesen. Sie verzichtet auf Figurenauszeichnungen und benennt nur vage, dass es um ein uns geht, „wer immer und wie viele wir auch sind“. Und dennoch wird der Leser oder Hörer bald Figuren folgen und sehr bald in starke Geschichten hineingesogen.

Da ist der Mann an der Kante von Ulro, dessen Erzählung frei nach dem englischen Romantiker William Blake ein gewaltiges Epos von Macht und einer gewaltigen Brüder-Beziehung entwirft. Wie in einem Götter-Epos entwirft dieser Mann seine Welt, setzt Menschen auf sie und entwirft ein System der Gier und der Gewalt. Eine Welt, die parabelhaft ein Abbild der unseren geben könnte. Da ist die unglaubliche Geschichte eines Soldaten, der im Kriegsgeschehen ein Kind erschießt, weil seine Einheit überzeugt ist, der Junge trüge eine Bombe unter seinem T-Shirt – die Befehle anzuhalten konnte der Kleine nicht

hören, denn er war taub. Da ist die Mutter des Jungen, die nun, trotzdem ihr das Wichtigste, das Teuerste, was eine Mutter besitzen kann, genommen wurde, vergeben will. Und da ist die Generation, die den Krieg und die Gefahr nur aus den Nachrichten oder den Computerspielen kennt. Milisavljevic porträtiert humorvoll ihre Gleichaltrigen, die immer über alles, wenigstens halb informiert sind, nur noch schnell den Level zu Ende spielen müssen, bevor sie sich zuhören können. Sie attestiert ihnen nicht unpolitisch zu sein; im Gegenteil, es gibt ein hohes Bewusstsein für Ökologie, für Spenden und die Ungerech-

tigkeit der Welt, aber die Bedeutung der Themen steht gleichauf mit der Lieblingsserie, dem Erfolg in virtuellen Welten und dem „Gossip“ über die schräge Alte von gegenüber. Die Jury aus Regisseuren, Kritikern und Dramaturgen hat dieser Text überzeugt, vor allem, weil er eine Herausforderung an das Theater darstellt. Er fängt die Gegenwart ein und ist doch mehr als ein einfaches Abbild. > „Beben“ Premiere 28. April, 20 Uhr, Zwinger1 >W  eitere Vorstellung: 29. April, 18.30 Uhr, Zwinger1

Social Fiction: Der blaue Würfel Im Rahmenprogramm zeigt das Theater Heidelberg ein Auftragswerk von David Gieselmann jp. Das Stück spielt in einer vermutlich nicht allzu fernen Zukunft. Dass es sich nicht um die heutige Zeit handelt, erzählt sich weniger durch technische Errungenschaften, sondern durch die offensichtliche Abwesenheit gesellschaftlicher Probleme, die sich in einer privilegierten Oberschicht breit gemacht hat. Livia und Cedric von Horst samt Tochter Nicole haben es geschafft: Sie gehören dazu. Dank einer Erbschaft können sie sich ein Leben leisten, von dem sie bisher bloß geträumt haben. Doch das hat seine Tücken: In ihrer neuen, hermetisch abgeschlossenen und durch Security gesicher-

ten Umgebung ist jede falsche Bewegung fatal. Also wird eine Maklerin engagiert, um ein absolutes Top-Objekt zu finden. Und nicht bloß das, sondern auch eine Stilberaterin für alle möglichen Belange: „Inneneinrichtung. Wohnungssuche. Eheklima. Styling. Social Skills. Kultur. Sex. Erziehung. Suchtberatung. Weinkeller. Umfassend. Twentyfourseven.“ In diese schöne neue Welt bringt ein geheimnisvoller blauer Würfel Kunde aus einer anderen Zeit: der unseren. Was für einige Unruhe sorgt. David Gieselmann, geboren 1972 in Köln, studierte von 1994 bis 1998 Szenisches Schreiben in Berlin. In

der Folge spezialisierte er sich auf Komödien. Seit einigen Jahren verbindet ihn eine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christian Brey. Beim Heidelberger Stückemarkt 2015 war ihre Uraufführung „Container Paris“ zu sehen. Bereits 2013 war David Gieselmann mit dem Jugend­ StückePreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet worden. >„  Der blaue Würfel“ 4. Mai, 20.30 Uhr, Marguerre-Saal

Die Nachbarschafts-Security sieht dich an. Kostümentwurf von Anette Hachmann.

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THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017

Der 34. Heidelberger Stückemarkt Der Heidelberger Stückemarkt stellt zum 34. Mal aufstrebende Autorinnen und Autoren vor und präsentiert einundzwanzig deutschsprachige und internationale Gastspiele, die sich durch ihre innovativen Regiehandschriften und spannenden Themensetzungen auszeichnen. Künstlergespräche und die Stückemarkt-Partys machen das Festival zum Ort der Begegnung, des gemeinsamen Nachdenkens und Feierns. Aus dem deutschsprachigen Raum präsentiert das Theater Heidelberg herausragende Gastspiele von Stadt- und Staatstheatern sowie aus der freien Szene. Auch für seine 34. Ausgabe stellt der Heidelberger Stückemarkt drei nachgespielte Inszenierungen zeitgenössischer Stücke vor und setzt damit ein Zeichen im Sinne nachhaltiger Autorenförderung. Kuratiert wird die Reihe von der Theaterkritikerin Barbara Behrendt. Der Heidelberger Stückemarkt hat in diesem Jahr die Ukraine zu Gast. Wie reflektieren Theatermacherinnen- und macher mitten im Ost-West-Konflikt ihre Lage? Wir stellen dem Heidelberger Publikum drei ukrainisch und russisch schreibende Autoren und Autorinnen vor und präsentieren Gastspiele inter-

national renommierter sowie junger Theatermacher, die sich in ihren Arbeiten aus verschiedenen Perspektiven den Themen Unrecht, Unterdrückung und Befreiung widmen.

Deutschsprachiger Autorenwettbewerb „Kluge Gefühle“ von Maryam Zaree Tara ist Anwältin für Asylrecht und hat alles im Griff – bis ihre Mutter Shala verschwindet, um etwas öffentlich zu machen, wovon nicht einmal ihre Tochter wusste. Im Internet stößt Tara auf den Livestream, in dem Shahla über ihre Folterung als schwangere Frau im iranischen Gefängnis aussagt.Von da an muss Tara stehen bleiben, zurückschauen und lernen, die Gegenwart mit neuem Blick wahrzunehmen. „Schlaraffzahnland“ von Nicole Kanter Wenn Fridolin, Maulwurf und der beste Freund von Biberdame Bober, seine Hamsterfreundin heiratet, dürfen natürlich Bober und Tunk, der Eisbär, nicht fehlen. Aber irgendetwas stimmt nicht in der Hamsterstadt, die hinter einer riesigen Mauer liegt. Hier gibt es Milch und Honig im Überfluss – aber in regelmäßigen Abständen verschwinden Hamster. Nur Wohin? Nicole Kanter ge-

lingt es wunderbar, Gesellschaftskritik mit Unterhaltung zu verbinden. „Wiegenlied für Baran“ von Joël László Nachts am Küchentisch: Sibylle und Pierre können nicht schlafen. Auf ihrem Sofa schläft dagegen der kurdische Flüchtling Baran mit beeindruckender Ausdauer. Und während Baran schläft, wälzen die Übernächtigten Gedanken hin und her: War die Aufnahme Barans in die eigenen vier Wänden eine gute Idee? Joël Lászlós Text erzählt klug von Zuschreibungen und Ängsten und vermisst den Raum zwischen Ideal und Wirklichkeit politischen wie privaten Handelns. „Eine Post-Sowjetische Dramolett-Trilogie“ von Marjana Gaponenko Was beginnt, als wärs ein Stück von Tschechow, erweist sich schnell als makabres Panorama der Zersetzung aller (Un-)Gewissheiten, auf die sich das herrschende Weltbild der heutigen Gesellschaft stützt: in der Ukraine, der Heimat der Autorin, wie in Russland. In drei ebenso grotesken wie präzisen Mini-Dramen erzählt Marjana Gaponenko von der heutigen post-sowjetischen Gesellschaft. Übertragbarkeit nicht ausgeschlossen.

„Anfall und Ente“ von Sigrid Behrens Was ist wohl vor einem Anfang da? Bevor das Ende nicht in Sicht ist? Und wenn das Ende plötzlich da ist? Anfall und Ente sitzen gemütlich auf einer kleinen Wiese und überlegen. Vielleicht geht man dann einfach zurück ins Weltall? Aber wo ist eigentlich Hundi, das Kuscheltier von Ente, das schon immer da war? Sigrid Behrens hat ein poetisches und skurriles Stück über den Tod geschrieben, das die Fragen und Ängste von Kindern – und Erwachsenen – sehr ernst nimmt. „Nord West 59“ von Lorenz Langenegger Ein verurteilter Schlepper kommt aus dem Gefängnis. Doch so sicher wie die Beweislage vor Gericht – fünftausend Euro im Handschuhfach, eine Flüchtlingsfamilie im Laderaum des Transporters bei der Fahrt über die Grenze – ist die Wahrheit nicht auszumachen. Der Marionettenspieler Mika weiß einfach nicht, wie die drei Personen in sein Auto und das Geld ins Handschuhfach kamen. Sensibel erzählt Lorenz Langenegger von seinen Figuren, ihren Sehnsüchten und ihrer Verzweiflung, die sie schließlich alle schuldig werden lassen.

Heidelberger Stückemarkt – Preise und Ermäßigungen Eintrittspreise

Ermäßigung

1 Autorentag

Gastspiele im Zwinger1 und Zwinger3 23 € 11,50 € erm. 14 € 7 € erm. Kinder- und 3 Autorentage Jugendtheater-Gastspiele Einlass zu Beginn jeder Lesung 17 € 8,50 € erm. 33 € 16,50 € erm. Festivalpass 140 € 70 € erm. Schülergruppen-Preise ab 5 € Im Vorverkauf und an der Abendkasse er- ab 10 Personen Einlass zu Beginn jeder Lesung

halten Sie gegen Vorlage des Festivalpasses nach Verfügbarkeit je eine Freikarte für alle Veranstaltungen des Heidelberger Stückemarkts.

Gastspiele im Alten und Marguerre Saal ab 17 € ab 8,50 € erm.

Schüler, Auszubildende, Studierende, Schwerbehinderte, Bundesfreiwilligendienstleistende sowie Inhaber des Heidelberg-Passes+ erhalten gegen Vorlage eines entsprechenden Ausweises bereits im Vorverkauf 50  % Ermäßigung.

Informationen und Karten unter www.theaterheidelberg.de/festival/ heidelberger-stueckemarkt/ oder an der Theaterkasse: Partys  Eintritt frei! [email protected] Konzert Dakh Daughters 7€ 5€ erm. ✆ 062 21 / 58 20 000 Besuchergruppen ab 10 Personen  15% Ermäßigung Besuchergruppen ab 30 Personen  25% Ermäßigung

Theaterstr. 10 Öffnungszeiten: Mo – Sa, 11 – 18 Uhr Abendkasse eine Stunde vor Vorstellungsbeginn am Veranstaltungsort! Service für Schulgruppen unter [email protected] ✆ 062 21 / 58 35 780 Service für Besuchergruppen unter besuchergruppen@ theater.heidelberg.de ✆ 062 21 / 58 35 353

Veranstaltungsorte

Theater und Orchester Heidelberg Alter Saal und Marguerre-Saal, Theaterstraße 10, 69117 Heidelberg Sprechzimmer Friedrichstraße 5, 69117 Heidelberg Zwinger1 und Zwinger3 Zwingerstr. 3 – 5, 69117 Heidelberg Es besteht eine Medienpartnerschaft mit Die deutsche Bühne sowie eine Kooperation mit nachtkritik.de. Wir bedanken uns bei allen Förderern, Unterstützern, Kooperations- und Medienpartnern sowie Beratern:

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