Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

January 12, 2018 | Author: Anonymous | Category: Geschichte, Weltgeschichte, Mittelalter
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Unverkäufliche Leseprobe

Barbara Stollberg- Rilinger Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

Vom Ende des Mittelalters bis 1806 133 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-53599-4

© Verlag C.H.Beck oHG, München

I. Was war das «Heilige Römische Reich Deutscher Nation»?

Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II. die Kaiserkrone nieder und erklärte «das Band, welches Uns bis jetzt an den Staatskörper des deutschen Reichs gebunden hat», für gelöst. Kurz zuvor, am 1. August, hatten sechzehn ehemalige Reichsmitglieder ihren Austritt aus dem Reich erklärt und sich darauf berufen, dass das «Band, welches bisher die verschiedenen Glieder des deutschen Staatskörpers miteinander vereinigen sollte», «in der That schon aufgelöst sey». Was war das für ein politischer Verband, der sich da selbst auflöste? Auf jeden Fall ein uns heute sehr fremd gewordenes, im Geschichtsbewusstsein der Deutschen kaum noch präsentes Gebilde. Bei näherem Hinsehen hat es zwiespältigen Charakter: einerseits «römisch», andererseits «deutsch», einerseits in den Grundzügen sehr mittelalterlich, andererseits bis heute weiterwirkend, manche meinen sogar: fast modern. Auf jeden Fall ist dieses Reich nicht leicht auf den Begriff zu bringen; es entzieht sich modernen verfassungsrechtlichen Kategorien. Es war kein Staat im heutigen Sinne des Wortes, aber auch kein Staatenbund. Es hatte keine systematische schriftliche Verfassung; es kannte keine Rechtsgleichheit, auch nicht als Ideal, nicht einmal ein Reichsbürgerrecht; es hatte kein geschlossenes Territorium mit festen Grenzen; es besaß keine souveräne höchste Gewalt, verfügte nicht über eine zentrale Exekutive, eine Bürokratie, ein stehendes Heer usw. – mit anderen Worten, ihm fehlte fast alles von dem, was moderne Staatlichkeit kennzeichnet. Alle diese Kategorien führen in die Irre. Wenn man das Alte Reich erfassen will, muss man seine historische Entwicklung beschreiben und darf es nicht rückblickend an Maßstäben messen, die ihm bis zuletzt fremd geblieben sind. Vielmehr war das Reich ein über die Jahrhunderte des Mittelalters allmählich gewachsenes Gebilde, ein lose integrierter poli-

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tischer Verbund sehr unterschiedlicher Glieder, die unter einem gemeinsamen Oberhaupt, dem Kaiser, standen, dem sie in einem persönlichen Treueverhältnis verpflichtet waren. Die Kohärenz dieses Verbandes hatte im Laufe des Mittelalters eher ab- als zugenommen. Um die Wende zur Neuzeit, also um 1500, nahm dieser Verbund neue Formen an und bildete festere institutionelle Strukturen aus, die trotz erheblicher Belastungen und innerer Kriege drei Jahrhunderte Bestand hatten, die aber dennoch am Ende nicht verhindern konnten, dass das Reich sich unter dem Einfluss der Französischen Revolution selbst auflöste. Das ruhmlose Ende dieses Reiches hat seine spätere Wahrnehmung wesentlich geprägt. Im 19. Jahrhundert, dem großen Zeitalter der deutschen Geschichtsschreibung, die preußischprotestantisch geprägt war und sich ganz in den Dienst der nationalen Identitätsstiftung stellte, erschien allein das Reich des frühen und hohen Mittelalters als die große ruhmreiche Zeit, in der die deutschen Könige als Kaiser mit imperialem Großmachtanspruch geherrscht hatten. Alles, was nach der großen Zeit der Stauferkaiser kam, erschien dagegen als kontinuierlicher Niedergang, als fortschreitender Verfall der (vermeintlichen) ehemaligen kaiserlichen Macht zugunsten der einzelnen Länder, als Verlust der (vermeintlichen) ehemaligen nationalen Einheit. Das galt ganz besonders für die Frühe Neuzeit und insbesondere für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden, als das Reich unter die Kontrolle des «Erbfeinds Frankreich» geraten, zum «Spielball der Westmächte» geworden und in lauter «Kleinstaaten» zersplittert worden sei – eine scheinbar lineare Entwicklung, die unter der Einwirkung Napoleons am Ende zum Untergang führte. Schließlich war nicht das Reich, sondern waren seine ehemaligen Glieder, einerseits Brandenburg-Preußen, andererseits Österreich, die Kristallisationskerne, um die sich im 19. Jahrhundert moderne Staaten entwickelten. An ihnen orientierte sich die jeweilige nationale Geschichtsschreibung; ihnen lieferte sie die jeweilige Ursprungs- und Erfolgsgeschichte nach. Während sich aber die Geschichte des Alten Reiches in die österreichische Geschichte relativ gut integrieren ließ – schließlich waren fast alle Kaiser der Neuzeit Habsburger gewesen –, war

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das in Deutschland nicht der Fall: Hier musste eine nationalgeschichtliche Linie vom mittelalterlichen Kaisertum über den Aufstieg Brandenburg-Preußens zum neuen preußisch-kleindeutschen Kaiserreich Bismarcks konstruiert werden. Die frühneuzeitliche Reichsgeschichte fiel dabei fast völlig unter den Tisch – was bis heute in der deutschen Erinnerungskultur nachwirkt. Eine Revision der nationalstaatlichen Geringschätzung des Alten Reiches setzte erst seit den 1960er Jahren ein, als man sich mit der Katastrophe des deutschen Machtstaats auch historiographisch auseinanderzusetzen begann. Dem Alten Reich der Frühen Neuzeit kam diese Neuorientierung zugute, weil es sich als genuin deutsche, aber unbelastete historische Tradition anbot und auch für den sich entwickelnden Europa-Gedanken anschlussfähig war. Der Perspektivwechsel wurde zusätzlich dadurch gefördert, dass die alte, protestantisch-preußisch dominierte Sicht durch eine eher katholisch, süd- und westdeutsch geprägte Perspektive abgelöst wurde. Allerdings: Das Pendel schwang nun zur anderen Seite aus. Alles das, was ehemals als Schwäche erschienen war, erschien nun als Vorzug. Aus der machtpolitischen Not des Reiches wurde mit einem Mal eine Tugend. Die einen erblickten im Reich mit seinen föderalen Strukturen ein Vorbild für Europa als Ganzes. Andere sahen darin ein von machtstaatlichen Irrwegen unbelastetes nationales Identifikationsobjekt: ein großes friedliches Deutschland in der Mitte Europas, das selbst nicht expansiv war, sondern vielmehr ausgleichend auf die Nachbarstaaten wirkte. Hier bot sich dann auch für die neue Berliner Republik eine Tradition an, auf die man guten Gewissens stolz sein zu können meinte, ohne in einem vereinten Europa Misstrauen auf sich zu ziehen. Das vorliegende Buch versucht eine solche aktuelle politische Indienstnahme zu vermeiden und die spezifisch vormoderne Fremdartigkeit und Vielschichtigkeit des Alten Reiches deutlich zu machen. Im Gegensatz zu modernen Verhältnissen war das politische System dieses Reiches noch untrennbar verflochten mit sozialen und religiösen Strukturen. Seine Verfassung war kein geschlossenes systematisches Ganzes, sondern ein kompli-

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ziertes Geflecht von Altem und Neuem, von symbolisch-rituellen Praktiken, formellen und informellen Spielregeln, fallweise ausgehandelten Übereinkünften, von einigen schriftlich fixierten «Grundgesetzen» (leges fundamentales) und vielen traditional legitimierten Gewohnheitsrechten, nicht zuletzt auch von vielfach unvereinbaren, konkurrierenden Rechtsansprüchen. Zu jeder Regel gab es zahllose Ausnahmen, jede abstrakte Definition muss immer zugleich vielfältig eingeschränkt werden. Die Ordnung des Reiches war nicht für alle Beteiligten die gleiche, sondern sie stellte sich aus verschiedenen Perspektiven ganz verschieden dar. Und schließlich veränderte sie sich über die Jahrhunderte. Das macht es so schwierig, das Reich kurz und knapp zu beschreiben. Wenn es hier trotzdem versucht wird, so unter dem Vorbehalt: Die Wirklichkeit war viel komplizierter. «Heiliges Römisches Reich deutscher Nation» – schon dieser merkwürdige Titel (der vollständig erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts auftauchte und auch nie der einzig gebräuchliche, geschweige denn ein offizieller Titel war) verweist auf die Verbindung mittelalterlicher und neuzeitlicher Elemente. Da ist zunächst der Begriff «Reich», Imperium, der eine übergeordnete Herrschaftsgewalt bezeichnet, eben die des Kaisers. Im Mittelalter war das Wort auch als Synonym für den Kaiser selbst gebräuchlich. Imperium war nicht die Bezeichnung für ein bestimmtes Territorium, d. h. den geographischen Raum, über den Herrschaft ausgeübt wurde. Es handelte sich vielmehr um eine universale, transpersonale Gewalt, die sich losgelöst von einem bestimmten Land oder Volk denken ließ. «Römisch» – das stellte dieses Reich in die Tradition des antiken Kaisertums. Als erster mittelalterlicher Herrscher des Westens hatte sich Karl der Große im Jahr 800 vom Papst zum Kaiser krönen lassen und damit seiner fränkischen Königsherrschaft eine universale Qualität und heilsgeschichtliche Würde verliehen. Daran hatte Otto der Große 962 wieder angeknüpft und das ostfränkische Königtum mit der römischen Kaiserwürde verbunden. Seither erwarben fast alle deutschen Könige auch den römischen Kaisertitel. Die Vorstellung von einer translatio Imperii, einer Übertragung der Herrschaft von den Römern auf die Franken bzw. auf die

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Deutschen, war eine Fiktion, die auf dem symbolischen Akt der Krönung durch den Papst als Oberhaupt der römischen Kirche beruhte und auf die die mittelalterlichen deutschen Könige einen Anspruch auf Schirmherrschaft über die gesamte Christenheit und Überordnung über alle anderen Königreiche gründeten. Damit traten sie zugleich in die heilsgeschichtliche Rolle des römischen Weltreichs ein, des Reiches also, in dem Christus geboren worden war und das den Rahmen für die Ausbreitung des Evangeliums über den ganzen Erdkreis geboten hatte. Nach der spätantiken Auslegung des biblischen Buches Daniel galt das Römische Reich aber auch als das letzte von vier Weltreichen, an dessen Ende der Antichrist auftreten und das Jüngste Gericht hereinbrechen würde. «Heilig», sacrum, hatte das römische Reich in der Antike allerdings noch nicht geheißen. Erst seit der Zeit Kaiser Barbarossas und der Kreuzzüge wurde dieses Adjektiv auf das Reich bezogen, um die Gleichberechtigung der kaiserlichen und der päpstlichen Gewalt, des weltlichen und des geistlichen Schwerts zum Ausdruck zu bringen, die seit dem 11. Jahrhundert von der Papstkirche bestritten wurde. Welches Verhältnis zwischen Papst und Kaiser sich aus der Übertragung der Kaiserwürde ergab, war im Mittelalter stets umstritten. Den Anspruch auf Überordnung, wie ihn erstmals Gregor VII. erhoben hatte, konnten spätere Päpste nicht aufrechterhalten. In der Frühen Neuzeit wurde die Bindung des Kaisertitels an die Verleihung durch den Papst schließlich endgültig abgeschüttelt. Schon König Maximilian I. nannte sich seit 1508 «Erwählter Kaiser», ohne vom Papst gekrönt worden zu sein bzw. es später zu werden. Karl V. war der letzte, der sich – nachdem er schon 1519 zum König gewählt und in Aachen gekrönt worden war – 1530 vom Papst in Bologna auch noch zum Kaiser krönen ließ. In der Folgezeit beanspruchten die Kaiser diesen Titel stets schon aufgrund ihrer Wahl durch die Kurfürsten (S. 23 ff.), obwohl die Wahl zum «römischen König» und die Krönung zum «römischen Kaiser» auseinander fallen konnten – dann nämlich, wenn die Neuwahl schon zu Lebzeiten des Kaisers erfolgte, wie es in der Frühen Neuzeit zur Sicherung der dynastischen Kontinuität mehrfach vorkam. In diesem Fall

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nahm der neu gewählte «römische König» den Kaisertitel erst nach dem Tod des Vorgängers an. Krönung und Salbung erfolgten durch einen der rheinischen Erzbischöfe (den Kölner oder, wie in der Frühen Neuzeit die Regel, den Mainzer), und zwar seit 1562 in der Regel in Frankfurt am Main. Dem Papst zeigte man die Wahl nur noch pro forma an. Die «Heiligkeit» des Reiches, der Anspruch auf sakrale Würde, blieb in der Frühen Neuzeit allerdings durchaus lebendig, auch über die konfessionelle Spaltung hinweg. Allgemein galt jede legitime Herrschaft bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als göttlich gestiftet. Die Heiligkeit des Reiches im Besonderen zu betonen diente darüber hinaus dazu, seinen Anspruch auf den höchsten Rang unter allen Monarchien der Welt aufrecht zu erhalten, und nicht zuletzt auch zur Stärkung der Abwehr gegen die heidnischen Türken, die den Südosten vom späten 15. bis ins späte 17. Jahrhundert immer wieder bedrohten. «Das Röm. Reich wird ein Heilges Reich geheisset, weil es von dem Hl. Geist verordnet, bestettiget, und bis auff die ehrne Zeiten erhalten» wird, so schrieb noch im 17. Jahrhundert der Jurist Johannes Limnaeus. Allerdings fiel das Epitheton «heilig» in offiziellen Texten im 18. Jahrhundert zunehmend weg, und man sprach meist nur noch vom «Römisch-deutschen Reich», vom Imperium Romano-Germanicum, oder auch schlicht vom «Teutschen Reich». Damit sind wir bei der Qualifikation des Reiches als «deutsch», «deutscher Nation». Auf das «Heilige Römische Reich» bezogen wurde diese Formel wörtlich zuerst in dem Landfriedensgesetz Kaiser Friedrichs III. von 1486 verwendet. Das Imperium war an sich ein transnationales Gebilde, es umfasste nach mittelalterlicher Auffassung drei Teile: Italien, Gallien (d. h. im wesentlichen Lothringen und Burgund) und Germanien. Seit dem Spätmittelalter und vor allem in der Frühen Neuzeit trat der «deutsche» Charakter – in Abgrenzung von «welsch», d. h. romanisch – aber immer mehr in den Vordergrund. Der Anspruch der Kaiser auf Herrschaft über Italien und Burgund war inzwischen weitgehend verblasst (er konnte allerdings auch wieder aufleben). Vor allem aber: Die wichtigsten

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Einheit stiftenden Reichsinstitutionen, die seit 1495 ins Leben gerufen wurden und bis 1806 Bestand hatten, erstreckten sich im Großen und Ganzen nur auf die deutschen Reichsglieder. Es entwickelte sich also zu Beginn der Frühen Neuzeit ein Verständnis vom Reich, das im Wesentlichen nur noch deutschsprachige Gebiete umfasste. Hinzu kam, dass historisch-kritisch arbeitende Juristen wie Hermann Conring oder Samuel Pufendorf im 17. Jahrhundert die Voraussetzungen in Frage stellten, auf denen der Titel beruhte, und die Kontinuität des römischen Kaisertums als Fiktion entlarvten. So bezeichnete Pufendorf es in seiner respektlosen, unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano veröffentlichten Schrift über die Reichsverfassung 1667 kurz und bündig als Unsinn, die gegenwärtige deutsche res publica noch auf irgendeine Weise als mit dem alten römischen Reich identisch zu begreifen. Wenn im alten Reichstitel von «deutscher Nation» die Rede war, so ist «Nation» allerdings nicht mit dem modernen Verständnis des Wortes zu verwechseln. Als nationes konnten zu dieser Zeit verschiedene regionale Herkunftsgruppen bezeichnet werden; so war zum Beispiel von «sächsischer» oder «fränkischer» Nation die Rede. Doch neben den vielen regionalen und lokalen Identitäten gab es in der Frühen Neuzeit auch Ansätze zu einer übergreifenden gemeindeutschen Identität. Die Entdeckung von Tacitus’ «Germania» durch die Humanisten kam dem entgegen, obwohl die Schrift ein sehr zwiespältiges Bild von den Germanen entwarf. Neben der gemeinsamen Sprache und den gemeinsamen Institutionen war es auch die Verteidigung der eigenen «Libertät», d. h. der ständischen Mitwirkungsrechte gegenüber einem Kaiser, der kein Deutscher war, Karl V. nämlich, was zu Beginn der Neuzeit die Entwicklung eines stärkeren politischen Zusammengehörigkeitsgefühls begünstigte.

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