Eine besonders auffällige Schwierigkeit, über die schon viel Tinte

January 15, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Schreiben, Grammatik
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Eine besonders auffällige Schwierigkeit, über die schon viel Tinte vergossen wurde, ist die Unterscheidung zwischen scheinbar und anscheinend. Ich erspare mir hier die Zitate aus den Sprachratgebern. "Richtig" soll sein: Wenn etwas wahrscheinlich so ist, weil es sich tatsächlich verhält, so gebraucht man anscheinend. Wenn hingegen etwas nur zum Schein so ist, also nicht tatsächlich, so ist scheinbar am Platz. Der Unterschied ist also der zwischen wahrem und falschem Schein, oder besser: Es wird behauptet, daß es diesen Unterschied gibt. Tatsächlich aber ist dieser Unterschied in der gesprochenen Sprache schon längst verschwunden. Er wird im wesentlichen nur von Sprechern und Sprecherinnen beachtet, die diesen Unterschied gelernt haben und sich ihn also als grammatisches Wissen angeeignet haben. Von der Wortbildung her läßt er sich nicht begründen: Der Schein kann gleichermaßen vom Tatsächlichen wie vom Fiktiven kommen. Warum soll anscheinend auf etwas Reales verweisen? Im Frühneuhochdeutschen wird anscheinen intransitiv im Sinn von "sich zeigen" gebraucht, doch zeigen kann sich eben auch das Fiktive. Wenn Theodor Storm schreibt so daß es anschien, als sei dieselbe [Stube] nun heller und größer geworden, so ist eben die Stube tatsächlich nicht heller und größer geworden, sondern sie schien nur so, es gab nur den Anschein, als wäre es so gewesen. Bei Wieland heißt es einmal: wenn mich nicht Zeichen und Anscheinungen täuschen - also sind Anscheinungen keine Garanten für das Tatsächliche. Leider gibt das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm zu anscheinend nicht ausreichende Auskunft, weil die Neubearbeitung zur Zeit (1994) noch nicht dieses Wort erfaßt hat. In der Ausgabe von 1854 wird aber immerhin eine Stelle bei Goethe zitiert: sie führt ihn auf ein anscheinendes kanapee, wo nur von beiden seiten sessel sind, die mitte ist leer. Ein Kanapee ist ein Sitzsofa, also ein gepolstertes Möbelstück, auf dem man sitzen kann (die Wortgeschichte führt hier übrigens nicht weiter). Wenn die Mitte leer ist, so ist die Funktionalität des Möbels empfindlich geschwächt, und anscheinend bezeichnet den Schein von etwas, das nicht (mehr) so ist. Es kann also keine Rede davon sein, daß der Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend immer schon vorhanden war. Im Deutschen Wörterbuch werden unter scheinbar etwa gleichviel Stellen zu jeder Bedeutung zitiert. Dort gibt es auch einen Hinweis auf den Urheber dieser Differenzierung, das "Teutsch-Lateinische Wörterbuch" des Johann Leonhard Frisch aus dem Jahr 1741 (speciosus, simulatus gegenüber perspicuus, manifestus). Ein Verdacht drängt sich auf: Hat Frisch diesen Unterschied erfunden, um die verschiedenen lateinischen Wörter zu übersetzen? Denn daran, daß dieser Unterschied Zeichen eines elitären Sprachgebrauchs war und ist, kann kein Zweifel bestehen. Wo es Unterschiede zwischen elitärem und nicht-elitärem Sprachgebrauch gibt, werden sie mit Werten aufgeladen und als Distinktionsstrategie im Sinn der legitimen Sprache eingesetzt - seien diese Unterschiede noch so sehr an den Haaren herbeigezogen. Es gibt einige vernünftige Gegenstimmen, die zur Besinnung rufen - aber leider auch Meinungen von Sprachwissenschaftlern, die an der Distinktionsstrategie weiterbauen. So sind Betz und Sanders der Meinung, daß diese Unterscheidung sprachökonomisch ist und kommunikativ sinnvoll erscheint. Das stimmt sogar: Sinnvoll ist die Unterscheidung tatsächlich, und sprachökonomisch ist sie auch, denn wir haben immerhin zwei verschiedene Wortformen, mit denen sich zwei verschiedene Bedeutungsbereiche elegant unterscheiden lassen. Doch das, was nicht stimmt, ist der Zusammenhang von Wortform und Bedeutung: Die Wortbildung gibt nicht den geringsten Hinweis auf den Realitätsbezug, so daß die Sprecherin, wenn sie nicht diesen Unterschied im Deutschunterricht gelernt hat, aufs Rätselraten angewiesen ist. Es ist erstaunlich, daß manche Sprachwissenschaftler so ins Fahrwasser der rigiden Sprachkritik geraten können und nicht sehen, daß der Realitätsbezug mittels Ersatzwörter eindeutiger bezeichnet werden kann - das entspricht zudem noch unserem analytischen Sprachbau. Sanders bringt sogar das "gute Deutsch" ausdrücklich in diesem Zusammenhang ins Spiel. Das ist besonders widersinnig, wenn man vom guten Deutsch vor allem Eindeutigkeit und Klarheit verlangt. Auch bei den verschiedenen Pluralformen Worte - Wörter ist der elitäre Unterscheidungsanlaß deutlich. Im Mittelhochdeutschen gibt es erst Ansätze zu einer

Differenzierung. Unsere heutige Unterscheidung zwischen Einzelwörtern und zusammenhängender Aussage wurde erst vom Grammatiker Schottel im 18. Jahrhundert festgelegt. Doch dieser Unterschied hat sich auch bei guten Schriftstellern nie ganz durchsetzen können, so daß Andresen mit Recht behaupten konnte, daß dieser Unterschied von den Grammatikern erfunden und dem natürlichen Sprachgebrauch vielfach ganz fremd ist. Schwierig ist auch der Unterschied zwischen schwer und schwierig. Bei Hirschbold kann man dazu lesen, daß sich schwierig nicht mit dem Infinitiv verträgt. Man darf also nicht sagen: Krankheiten sind schwierig zu behandeln, Schuhe sind schwierig anzuziehen, sondern man muß anstelle von schwierig immer schwer gebrauchen. Doch was ist eigentlich der Unterschied zwischen schwer und schwierig? An der eben zitierten Stelle bei Hirschbold wird darüber nichts gesagt. In einem älteren Buch von Hirschbold präsentiert sich der Unterschied so: Schwer bezeichnet eine Tätigkeit, die Mühe und Plage verursacht oder eine meist körperliche Anstrengung erfordert, schwierig sind Aufgaben, zu deren Bewältigung Hindernisse (meist geistiger oder seelischer Art) überwunden werden müssen, wobei man dazu besondere Kenntnisse oder große Geschicklichkeit braucht. Abgesehen vom problematischen Unterschied zwischen geistigen und seelischen Hindernissen ist diese Unterscheidung schwer (oder schwierig?) nachzuvollziehen. Mühevolle Tätigkeiten sind in den meisten Fällen mit Hindernissen verbunden, und wenn sie mühevoll sind, dann sind sie es wohl deswegen, weil man dazu besondere Kenntnisse oder Geschicklichkeit braucht. Sprachgeschichtlich haben die Wörter nichts miteinander zu tun. Schwierig, in älterer Schreibung schwürig, gehört zu schwären "eitern"; verwandt ist auch Geschwür. Die Herkunft von schwer "gewichtig" ist dunkel, es gibt verwandte Wörter nur im Litauischen und vielleicht im Russischen. Die Bedeutungsangleichung erfolgt schon im älteren Neuhochdeutschen, und in der deutschen Klassik ist sie vollends vollzogen. Irgendein subtiler Unterschied ist aus den literarischen Belegen nicht nachzuweisen. Man muß es drastisch sagen: Hirschbold hat sich den Unterschied aus den Fingern gesaugt oder gesogen. Man kann nur hoffen, daß kein Deutschlehrer und keine Deutschlehrerin seine Bücher in die Hand bekommt und den nicht vorhandenen Unterschied in die Schülertexte hineinkorrigiert. Das ist aber kein Einzelfall: Es gibt auch einen Unterschied zwischen gleichzeitig und zugleich. Es gibt ihn tatsächlich: Zugleich bedeutet "in gleicher Weise", also Sie liebt zugleich Peter und Fritz "in gleicher Weise", aber nicht notwendig zur gleichen Zeit - obwohl das möglich wäre (es ist nur ungewöhnlich). Gleichzeitig bedeutet das, was man aus der Art der Wortbildung erschließen kann, "zu gleicher Zeit". Ist es also falsch zu sagen, daß jemand gleichzeitig einen Traktor und einen Bus fahren können soll? Nein, denn dieser Unterschied ist ein sprachgeschichtliches Relikt - er galt vor allem im frühen Neuhochdeutschen. Schon seit Luther konnte zugleich schon im Sinn einer zeitlichen Gleichheit verwendet werden. Das Deutsche Wörterbuch führt die Mehrzahl der Stellen für diesen Gebrauch an; die ursprüngliche Bedeutung wird nur für einen Zeitraum bis zum 17. Jahrhundert belegt. Neben der zeitlichen Bedeutung kann noch eine unzeitliche, logische Beziehung vorhanden sein - das ändert aber nichts daran, daß bei zugleich in der Mehrzahl der Fälle eben diese zeitliche Bedeutung die kommunikativ wichtigste Komponente ist. Weiters muß man bedenken, daß Gleichzeitigkeit in den meisten Fällen mit einem sachlogischen Zusammenhang einhergeht: Vorgänge, die zu gleicher Zeit stattfinden, etwa wenn die Sonne untergeht und es gleichzeitig dunkel wird, stehen sehr oft auch in kausaler Verbindung. Die sachlogische Beziehung wird sehr oft erwartet und mitgedacht. Manchmal wird sie zur kommunikativ wichtigsten Bedeutungskomponente, und das kann auch erklären, warum gleichzeitig (fälschlich, wie Hirschbold behauptet) im Sinn eines sachlogischen Zusammenhangs verwendet wird, also seine zeitliche Bedeutungskomponente reduziert oder verliert. Hirschbold zitiert dazu folgenden (stilistisch tatsächlich nicht schönen) Beispielsatz: Beide Bewohner des Hauses sind gleichzeitig auch dessen Besitzer. Es ist nicht falsch, diesen Satz im Sinn einer

wörtlichen Gleichzeitigkeit zu verstehen. Gemeint ist aber wohl, daß die Bewohner eben auch die Besitzer des Hauses sind, in dem sie wohnen - etwas, das nicht so oft vorkommt und deshalb eigens erwähnt werden kann. Das deutet darauf, daß sich auch bei gleichzeitig eine Bedeutungsverschiebung (Verlust der temporalen Komponente) einstellen kann, und dadurch können sich die beiden Wörter noch mehr angleichen. Es ist hier nicht der Platz, um jedem Fall einer behaupteten Wortverwechslung nachzugehen. Viele dieser Fälle sind wie auch grammatische Unsicherheiten und Normabweichungen nichts anderes als Vorboten sprachlicher Veränderungen, die nur dadurch "falsch" sind, daß sich die gegenwärtige Sprachnorm an einem literatursprachlichen und manchmal auch elitären Sprachgebrauch orientiert. Oft können wir solche Veränderungen durch den Aufweis von allgemeinen Prinzipien ebensogut erklären wie grammatische Veränderungen. Ein Beispiel dafür ist der Unterschied zwischen da und nachdem. Der ursprüngliche Unterschied ist so, wie ihn Hirschbold darstellt: Da leitet Begründungen ein (kausal), nachdem ein Zeitverhältnis (temporal). Die Wortgeschichte zeigt aber, daß alle unsere kausalen Konjunktionen aus temporalen Konjunktionen bzw. Adverbien entstanden sind. Bei weil kann man das noch erkennen, es ist verwandt mit der Weile. Aber auch da geht auf ein Wort mit temporaler Bedeutung zurück, nur ist dieser Vorgang schon länger abgeschlossen. Den Übergang von temporaler zu kausaler Bedeutung kann man bei während nachvollziehen. Die Wortgeschichte (Verwandtschaft mit währen) weist auf das Zeitverhältnis der Gleichzeitigkeit: Während ich arbeite, geht sie spazieren. Es gibt aber Gebrauchsweisen, in denen die Bedeutungskomponente der Gegensätzlichkeit, die Adversativität, näher liegt: Fritzchen ist ein braves Kind, während Marie nur Schwierigkeiten macht. Sobald man an diese Bedeutungskomponente denkt, wird man erkennen, daß sie in fast jeden Fall einer gleichzeitigen Handlung oder eines gleichzeitigen Vorgangs hineingedacht werden kann. Mein erster Beispielsatz kann so verstanden werden - es wird damit ein Vorwurf mitgemeint. Eindeutig temporale Fälle muß man beinahe konstruieren oder aus einem Wörterbuch abschreiben: Während sie verreist waren, hat man bei ihnen eingebrochen. Wenn der Sachbezug nicht klar ist, kann man oft auch nicht wissen, ob die Temporalität oder die Adversativität gemeint. Während Alfred Rektor ist, ist Herbert Institutsvorstand: Beide Lesarten sind möglich - auch dann, wenn das zweite ist durch bleibt ersetzt wird. Wenn Gleichzeitigkeit vorliegt, dann ist auch ein sachlogischer Zusammenhang vorhanden - dieser alltagsweltliche Trugschluß wirkt hier als universales Gesetz. Daher kann auch nachdem kausale Funktion erhalten, wie in Hirschbolds Beispielsatz: Nachdem sich einige Probleme nicht von selbst lösen, müssen Sie nachhelfen. Ein weiterer interessanter Fall einer Wortverwechslung kommt paradoxerweise dort vor, wo der Gegensatz im Sachverhalt ganz eindeutig ist. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob x etwas weiß und dieses Wissen an y weitergibt oder ob x nichts weiß und sich ein Wissen von y erwerben muß. Gemeint ist natürlich die bekannte Wortverwechslung lehren - lernen. Diese Verwechslung ist kein Zeichen heutiger Sprachschluderei, sondern sie findet sich nach Ausweis der Wörterbuchbelege schon im 14. Jahrhundert. Mundartlich kann sogar lehren im Sinn von "lernen" gebraucht werden, und das gibt es auch schon im Altnordischen. Die ähnliche Wortgestalt deutet auf Verwandtschaft, und so ist es auch: Beide Wörter sind Ableitungen zu einem primären Verb, das nur im Gotischen erhalten ist und dort "wissen" bedeutet. Man kann den Grund für diese Verwechslung natürlich in der ähnlichen Lautung suchen, doch das wäre wohl wieder nicht die ganze Geschichte. Von der Wortgeschichte her ist lernen eine Passivbildung, also etwa "unterrichtet werden", lehren ist ein Kausativum "wissen machen". Gemeinsam ist beiden Begriffsfeldern, daß ein Wissensinhalt von einer Person erworben wird, wobei in einem Fall das Geschehen von der Seite des Gebers, im anderen Fall von der Seite des Empfängers her dargestellt und bezeichnet wird. Die Verteilung der an der Handlung beteiligten Personen wird in der Standardsprache sowohl vom Verb als auch von den Satzgliedern bezeichnet (Dativ gegenüber optionalem

Präpositionalgefüge): Sie lehrt ihm (Französisch) - Sie lernt (Französisch) von ihm. Das ist ein klarer Fall von sprachlichem Überfluß, daher kann eine der Bezeichnungsmöglichkeiten abgebaut werden. Die deutsche Sprache hat sich für den Abbau der Verschiedenartigkeit des Verbs bei Erhaltung des syntaktischen Rahmens entschieden. Das Resultat ist ein Verb für beide Bedeutungen (lernen) und Sätze wie In dem Buch erfährt man, welche Möglichkeiten es gibt, um den Schülern lernen zu lernen. Problematisch ist nur die Bedeutungsbeschreibung dieser neuen Begrifflichkeit. Was müßte im Wörterbuch als Bedeutungsangabe von lernen stehen? Vielleicht so etwas wie "machen, daß Wissen entsteht", wobei frei gelassen wird, bei wem sich dieser Vorgang abspielt und wer ihn in Gang setzt. Ein ähnlicher paradoxer Fall ist die Bedeutungsgleichheit von borgen und leihen. Es wird auch in der Standardsprache nicht zwischen dem Fall, daß x dem y etwas zur zeitlich beschränkten Nutzung übergibt, und dem Fall, daß y vom x etwas mit ebendieser Absicht nimmt, unterschieden. Wortgeschichtlich ursprünglich ist bei leihen wegen der Verwandtschaft mit lateinisch linquere die Bedeutung "überlassen", bei borgen die Bedeutung "schonen" und "etwas erlassen", woraus sich später die Bedeutung "Frist zur Zahlung oder zur Rückgabe gewähren" entwickelt. In beiden Fällen ist also die Ausgangsbedeutung "x überläßt y etwas". Man könnte erwarten, daß die beiden Wörter, wenn sie schon verschiedene Gestalt haben, so auch Verschiedenes bezeichnen; doch die Sprache leistet sich hier den Luxus eines überflüssigen Zeichens. Für eine genaue Bedeutungsangabe muß man auf analytische Ausdrucksmöglichkeiten zurückgreifen: verleihen - entleihen. Im Zentrum der Bedeutung steht die gemeinsame Verpflichtung von Geber und Nehmer und nicht die spezifische Richtung der Übergabe. Die Ähnlichkeit zu lehren - lernen ist deutlich. Soviel zu den Wortverwechslungen. Auch sie haben ihre Ursache, und auch hier wirkt der Sprachwandel - und damit stellt sich auch im Prinzip das gleiche Normproblem wie bei den im 3. Kapitel erörterten grammatischen "Fehlern". Ungerechtfertigte Wertungen entstehen meist durch wortrealistische Vorurteile: Wenn es zwei verschiedene Wortgestalten gibt, dann müssen sie auch Verschiedenes bedeuten. Das ist eben nicht immer so. Dazu ein Beispiel, das bekannte Busen-Brust-Problem. In einem Leserbrief an die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" vom 28. Jänner 1994 wird folgende Theorie verbreitet: Was das Thema Busen anbelangt, so haben Ihre Journalisten in der Schule nicht aufgepaßt. Was meistens als Busen bezeichnet wird, sind die Brüste einer Frau. Der Busen liegt zwischen den Brüsten. Je größer der Busen, um so kleiner die Büste. [Druckfehler für Brüste?] Nicht zu glauben, aber wahr. Deutliches Beispiel ist der Meerbusen, der ein Einschnitt ins Land ist. Ich erinnere mich, diese Ansicht schon mehrmals gelesen zu haben, nur habe ich mir keine Notizen gemacht. Der volkslinguistische Busenmythos wird aber auch dadurch nicht wahrer, daß er öfters zu hören und zu lesen ist. Bei Brust ist alles klar: Ihr liegt eine indogermanische Wurzel mit der Bedeutung "schwellen" zugrunde. Busen ist etwas problematischer, doch auch hier ist der Zusammenhang mit einer Wurzel für "schwellen" sehr wahrscheinlich. Da es schon im Mittelalter Busengrapscher gegeben hat, fehlt es auch nicht an literarischen Belegen dafür, und hier ist das Objekt der Begierde Busen und Brust gleichermaßen: sus leit er ûf ir brüstelîn / die linden blanken hende sîn - mit dem [indem] ich ir zum pusen maust [grapscht]. Wenn es in Wittelwilers "Ring" heißt das tüttel aus dem busen sprang, so dürfte wohl eindeutig sein, was gemeint ist. Wenn es schon einen Unterschied geben soll, dann könnte man Busen als Kollektivbegriff auffassen, und von daher kommt auch die Bedeutungsübertragung auf das um die Brust sich biegende Gewand - daher konnte man, jedenfalls im Mittelalter, Frauen Geld in den Busen stecken. Busen gilt daher als ein mäßig verhüllendes, vornehmeres Wort für die gleiche Sache. Doch so unterschiedlich waren die Wörter nicht, daß nicht in Grimmelshausens "Simplicius" stehen konnte indessen wuchsen mir meine busen je länger je gröszer. Der Meerbusen ist eine Übersetzung von lateinisch sinus "bauschige Rundung", und schon hier sollte es klar sein, daß die Rundung vom Meer aus gesehen ist, sonst müßte es ja Landbusen heißen.

Richard Schrodt

Warum geht die deutsche Sprache immer wieder unter? Die Problematik der Werthaltungen im Deutschen

Wien 1994

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