Gentechnologie (1986), S. 79-116 Besprechungen zum Thema

February 21, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Philosophie, Ethik
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In: Widerspruch Nr. 11 (01/86) Gentechnologie (1986), S. 79-116 Besprechungen zum Thema Rezensionen Besprechungen

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H.M. Baumgartner / H. Staudinger (Hrsg.): ENTMORALISIERUNG DER WISSENSCHAFTEN? München - Paderborn - Wien – Zürich 1986 (Physik und Chemie) H. Lenk (Hrsg.): HUMANE EXPERIMENTE? GENBIOLOGIE UND PSYCHOLOGIE München - Paderborn - Wien - Zürich 1985 (Ethik der Wissenschaften, Band 2 und 3. Wilhelm Fink / Ferdinand Schöningh) Die Beiträge der beiden Bände sind hervorgegangen aus Tagungen und Kolloquien der Arbeitsgruppe „Philosophische Ethik und praktisches Moralverhalten“ der Werner-Reimers-Stiftung. Hermann Krings hält in seinem Vortrag „Bedenken zur Wissenschaftsethik“ die Frage nach einer allgemeinen Wissenschaftsethik für eine kompensatorische Folge der Verwandlung der Wissenschaft in Methodologismus und der Abkoppelung der Wissenschaft von jeder Sinninstanz. Er plädiert dementsprechend für eine „Philosophie der Wissenschaft“. Sie müsse zu ihrem Prinzip die Wahrheit (nicht die Hypothesen-Perfektionierung) haben, so daß die „Wissenschaftsethik keine Sonderethik ist“. „Die Grundsätze der sittlichen Vernunft gelten, wie für jedes andere Handeln des Menschen, auch für sein wissenschaftliches Handeln (23, Bd. 2). Das sittliche Prinzip sei aber keine positive Norm, sondern eine „negative Instanz“, wonach das, was ihr nicht widerspricht, prinzipiell erlaubt ist. Hier wird eine Achillesferse dieser Konzeption deutlich: nur faktisch schon vollzogene

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Handlungen lassen sich demnach nachträglich ethisch beurteilen, eine auf die Zukunft bezogene Handlungsanweisung dagegen ist prinzipiell ausgeschlossen. Wenn Hegel gegen Kants formalistisches Kriterium der Widerspruchsfreiheit einer Handlung einwandte, daß es nicht geeignet ist zur Beurteilung dessen, ob bestimmte Einrichtungen (wie das Kreditgeld bzw. „Depositum“) überhaupt sein sollen, dann dürfte sich dieser Einwand angesichts der Unumkehrbarkeit gegenwärtiger globaler Entscheidungen in Wissenschaft und Technik noch verschärfen. Der Physiker Heinz Maier-Leibnitz - von 1974 bis 1979 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft - berichtet in seinem Vortrag hauptsächlich von seinen eigenen Erfahrungen als Wissenschaftler und geht dabei sozusagen pragmatisch vor. Er vertritt unter anderem die Ansicht, dass Wissenschaftler außerhalb ihres Fachs keine besondere Kompetenz beanspruchen dürfen. Sehr interessant ist, daß MaierLeibnitz eine Klärung vieler Kontroversen von einer neuen Rhetorik erwartet, die Regeln für das Überzeugen auszuarbeiten habe. Das ist in der Tat ein Desiderat ersten Ranges. (Zu den kritisch zu untersuchenden typischen Argumentationsmustern wird z.B. der Topos vieler Diskussionen gehören, daß man erst mitreden könne, wenn man etwas selbst erfahren habe, usw. usw.) Der Chemiker und Unternehmer Kurt Hansen - 1936 in die IG Farbenindustrie eingetreten, 1961 bis 1974 Vorstandsvorsitzender der Bayer AG - hält in seinem Vortrag „Verantwortung und Ethik in der naturwissenschaftlichen Forschung an Beispielen aus der Chemie und Pharmazie“ die naturwissenschaftlichen Forschungen und ihre Ergebnisse für ethisch, insofern sie drohende Gefahren für Menschen abwende und das Wohl der Menschen befördere. Das sei die Regel gewesen. Unethische Konsequenzen - etwa der Atomforschung - habe die Politik zu verantworten. Der politische Rahmen wird aber von Hansen nicht erörtert. „Nicht Kritisieren und Hinterfragen, sondern aktives Forschen und Bessermachen hilft uns weiter. Aufgaben und Probleme gibt es genug. Packen wir zu und helfen wir der Forschung“ (55, Bd. 2). Hermann Lübbe, für den die wissenschaftliche Forschung letztlich durch die menschliche Curiositas legitimiert ist, stellt in seinem Vortrag „Die Wissenschaft und die praktische Verantwortung der Wissenschaftler“ erstens heraus, daß we-

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gen des „abnehmenden Grenznutzens des Forschungsaufwands“ die Wissenschaftler für die von ihnen in Anspruch genommenen Mittel immer mehr Verantwortung trügen. Zweitens würden die Wissenschaftler ihrer politischen Verantwortung in der Weise gerecht, daß sie die „Wirklichkeitsannahmen“ der Politiker kritisch untersuchen und ihnen gegenüber geltend machen, was „der Fall ist“. Drittens weite sich die Forschungsverantwortung „zur Handlungsverantwortung aus, wo die Nutzung forschungsabhängig sich ergebender Handlungsmöglichkeiten Sache der Forscher selbst ist“ (69, Bd. 2). Viertens weist Lübbe die Annahme zurück, daß der „Schluß vom Können aufs Dürfen“ die Ursache der Probleme unserer Zeit sei. „Es ist ungleich plausibler, sich die Dynamik unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation aus der wissenschaftlichtechnischen bedingten Erweiterung unserer Herstellungs- und Handlungsmöglichkeiten zu erklären, die wir in Orientierung an moralisch erlaubten, ja gebotenen Zwecken genutzt haben“ (72, Bd. 2). Ob künftig Katastrophen geschehen oder vermieden werden, hängt nach Lübbe davon ab, ob wir „Opfer der Überschätzung unserer Kräfte“ werden und die „Grenzen unserer Könnerschaften“ überschreiten oder uns in diese Grenzen einrichten. Was werden solche Bescheidenheit und Entsagung bedeuten angesichts des naturwüchsigen Zwangs zum Wachstum in der kapitalistischen Gesellschaft? Kurze Stellungnahmen von W. Becker, H. Staudinger, H.-M. Sass, L. Krüger, H. Poser, H. Lenk, W. Oelmüller und O. Marquard schließen diesen Band ab. Als Ergebnis haben die Herausgeber schon in der Einleitung unter anderem den Konsens festgehalten, daß eine neue Ethik nicht als erforderlich angesehen wird und Ethik und Verantwortung „nicht von außen an Physik und Chemie und die aus ihnen resultierenden Forschungsprozesse herangetragen werden können, daß sie vielmehr der Selbstreflexion der in diesen Forschungsprozessen stehenden Wissenschaftler, freilich nicht nur ihnen allein, zugemutet werden müssen“ (10, Bd. 2). Aus Band 3 seien folgende Beiträge hervorgehoben: Friedrich Gramer: „Erkenntnis und Interesse in der Erforschung des Lebendigen“, HansMartin Sass: „Vom Ethos der genetischen Manipulation“, Hans Lenk: „Humanexperiment als Tauschvertrag? Ethische Fragen der Experimente mit Menschen unter besonderer Berücksichtigung der Psychologie“. Diese Beiträge haben das Verdienst, daß sie sozusagen weder einer ethisch-konservativen Tabuisierung der Gentechnologie und Humanwissenschaft noch einer technokratisch-funktionalistischen Enttabuisierung das Wort reden. Sie können somit der Aufgabe am ehesten gerecht werden,

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die Frage der Selbstbestimmung des Menschen hinsichtlich der Gesellschaft und hinsichtlich der Evolution in Zusammenhang bringen. (Elmar Treptow)

Bundesminister für. Forschung und Technologie (Hrsg.): ETHISCHE UND RECHTLICHE PROBLEME ANWENDUNG ZELLBIOLOGISCHER GENTECHNISCHER METHODEN AM MENSCHEN München 1984 ( Schweitzer-Verlag )

DER UND

Der Band dokumentiert ein interdisziplinäres Fachgespräch von Medizinern, Genetikern, Theologen, Philosophen und Juristen, das Ende 1983 auf Einladung des Bundesministers durchgeführt wurde, und das in erstaunlicher Offenheit die Vielfalt der ethischen Standpunkte zur Gentechnik belegt. Der Diskussion lag ein Papier des Bundesgesundheitsministeriums zugrunde, das die Fachdiskussion in drei Themenkomplexe aufzugliedern versuchte: l) In-vitro-Fertilisation und Gentransfer, 2) Genomanalyse und 3) Gentherapie in somatischen und Keimbahnzellen. Während die einleitenden Referate von S. Trotnow, K. Sperling und von R. Jaenisch den Stand der gegenwärtigen Technologien darstellen, macht den überwiegenden Teil des Bandes die Protokollierung der anschließenden Diskussion um die Wert- und Zielvorstellungen der Gentechnologie aus. Bedarf es zur Bewältigung der durch die Gentechnik geschaffenen neuen Möglichkeiten einer neuen Gen-Ethik, wie vor allem die professionellen Ethiker meinen, oder genügen die alten ethischen Grundlagen, und sei es im Gegenteil „gefährlich“ nach neuen Maßstäben zu suchen, wie dezidiert der Seewiesener Verhaltensforscher W. Wickler meinte? Nicht verwunderlich jedenfalls ist es, daß vor allem die philosophischen und theologischen Ethiker, wie der Protestant U. Eibach, der katholische Moraltheologe Fraling oder der Philosoph R. Löw darauf abzielen, neue ethische Prinzipien zu postulieren, die aufgrund der Möglichkeiten der Manipulation des Erbguts erforderlich seien, denen gegenüber sich die Genetiker jedoch weitgehend zurückhaltend äußern und darauf hinweisen,

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daß, wie schon immer, die Verpflichtung zur Hilfeleistung ihr Handeln bestimmen würde. Einer der zentralen Streitpunkte, der in der Diskussion immer wieder in den Vordergrund rückte, war dabei die Frage, ob eigentlich die Gesundheit bzw. die Verpflichtung, gesundes Leben zu erhalten oder herzustellen, weiterhin Grundverpflichtung des ethischen Handelns sein könne. Während der Philosoph H.-M. Sass und der Genetiker A. Trautner das Kriterium, „Schmerz, Krankheit auf dieser Welt, wo immer möglich, zu mildern, oder gar zu beseitigen“ (119), in den Vordergrund stellten und daran die Gentechnik beurteilen wollten, kam von der Gegenseite der Einwand, ob Gesundheit wirklich das „höchste Gut“ sein könne. Es gäbe die Gefahr, daß der Wunsch nach Gesundheit Eingriffe legitimieren würde, die ethisch nicht mehr vertretbar wären, wo die Genomanalyse und die Gentherapie dazu führten, eugenische Kriterien des wertvollen und unwerten Lebens anzuwenden; dies aber sei mit dem Grundwert der Menschenwürde – auch des Ungeborenen - nicht vereinbar. U. Eibach spitzte diese Kontroverse sogar zu dem Gegensatz zu, daß hinter der Gentechnik das Verständnis des „Naturalismus, Materialismus, Idealismus und Marxismus“ (114) stünde, der Mensch sei Schöpfer seiner selbst und Lenker seines gesamten Lebensprozesses, während die Kritiker der Gentechnik von dem Verständnis ausgingen, daß letztlich Gott - wie R. Löw meinte - die Entscheidung über die Wünschbarkeit oder Nichtgewünschtheit des Lebens, und damit die Gentechnik ihre unüberschreitbaren Grenzen, habe. Insbesondere von theologischer Seite wurde daher auch die Auffassung vertreten, die Gentechnik führe zur beliebigen Manipulation am menschlichen Erbgut und beinhalte damit eine sittlich verwerfliche Zielsetzung. Diesem Vorwurf widersetzten sich allerdings ihrerseits die Genetiker und Mediziner, die diesem Vorwurf entgegneten, es ginge ihnen nicht um beliebige Manipulationen, sondern um konkrete therapeutische Eingriffe, die nicht ohne den Willen der Beteiligten durchgeführt würden. Immer wieder kreisten die Fragen um das Zentrum „Was ist menschliches Leben“ und wie läßt sich die jeweilige Definition mit all ihren ethischen Implikationen begründen? Während die Juristen wie W. Spann oder A. Eser juristisch, insbesondere mit dem § 218, argumentierten und die Philosophen eher die geschichtlich-kulturelle Evolution der Wertvorstellungen zum Ausgangspunkt nahmen, konnten die Theologen

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nicht umhin, immer wieder allgemeingültige und „ewige“ Maßstäbe eines gottgewollten „Naturrechts“ anzuführen. So bietet der Band, gerade weil er die intensiv geführte fachübergreifende Diskussion referiert, eine sehr gute Einführung sowohl in die wissenschaftlichen Grundlagen der Gentechnik als auch in die vielfältige und gegensätzliche Diskussion der (gen)ethischen Standpunkte. Merkwürdig erscheint mir allerdings, daß sich die Rollen offenbar vertauscht haben: während es die Naturwissenschaftler und Genetiker, wie W. Winkler, A. Trautner oder E. Passarge sind, die darauf verweisen, daß für die Persönlichkeitsentwicklung weit mehr die gesellschaftlichen Einflüsse als die genetische Konstitution prägend und daher viele Bedenken gegen die Gentechnik überzogen seien, konzentrieren sich die Ethiker in einer Weise auf die Genetik, als sei die Individualität des Menschen nahezu ausschließlich in den Chromosomen verankert. (Alexander v. Pechmann) Erwin Chargaff: ZEUGENSCHAFT. ESSAYS OBER SPRACHE UND WISSENSCHAFT Stuttgart 1985 (Verlag Klett-Cotta) Der bekannte (österreichisch-) amerikanische Biochemiker Chargaff einer der heftigsten Kritiker der Gentechnologie und nach eigenem Bekunden „voller Mißtrauen gegen Lebensverbesserer“ - legt hier Lesefrüchte seiner Streifzüge durch die Literatur der Jahrhunderte vor, die einen assoziativen und betont autobiographischen Charakter haben. (Längere Ausführungen beziehen sich auf Hölderlins späte Gedichte und Karl Philipp Moritz.) Weniger wäre mehr gewesen. Die „Zeugenschaft“ ist jedenfalls eher literarisch als zeitgeschichtlich oder politisch zu verstehen. Die Grundmelodie ist ein Klagelied über den Zustand unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation, das sich zur Weltuntergangsstimmung steigert, ohne von einer allseitigen Analyse und schlüssigen Diagnose begleitet zu sein. Sprache, Dichtung und Kunst sollen offensichtlich „angesichts unserer gräßlichen Zeit“ der „Wissensexplosion“ und des „Fortschritts“ einen Halt bieten. Hoffnung knüpft Chargaff dabei noch an einen „Entschluß“, der „gleichzeitig aus zahllosen Herzen“ kommt, an eine innere Umorientierung. Aber: „Wenn man sich fragt, woher

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ich das Recht nehme, etwas so Unschuldiges wie die Wissensexplosion mit etwas so Enormem wie dem Untergang der Menschheit in Beziehung zu setzen, habe ich eine einfache Antwort. Das Herz des Menschen ist zentripetal, die Naturforschung ist zentrifugal. Je weiter und schneller diese fortschreitet, um so mehr muß jenes zerrissen werden. Es gibt eine Grenze, in allem auf der Welt gibt es eine Grenze“ (153; vgl. 172). Eine Grenze hat Chargaff überschritten, die Grenze seines Fachs. So wünschenswert es ist, daß ein Naturwissenschaftler diese Grenze überschreitet, so bedauerlich ist es, wenn er gegen sein Fach die Poesie ausspielt. (Elmar Treptow)

Wolfgang van den Daele: MENSCH NACH MAß? ETHISCHE PROBLEME DER GENMANIPULATION UND GENTHERAPIE München 1985 (Beck-Verlag, 285 S., DM 19,80) Der Autor, Jurist, Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Wissenschaftsforschung an der Universität Bielefeld und Mitglied der EnqueteKommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ des Bundestages, gibt mit der vorliegenden Veröffentlichung einen kenntnisreichen, allgemeinverständlichen und umfassenden Überblick über den gegenwärtigen Stand und die absehbaren Entwicklungen der praktischen Anwendungen gentechnologischer Ergebnisse, sowie über die mit dem fortschreitenden Erkenntnisprozeß der Genforschung verbundenen Probleme einer Ausdehnung der Experimente an genetischem Material des Menschen. Das spezifische Verdienst des überaus klar geschriebenen und präzise argumentierenden Buches liegt aber auf einer anderen Ebene: in dem Versuch, für die gegenwärtig und in absehbarer Zukunft relevanten gentechnologischen Anwendungen einen an den möglichen sozialen Folgen und normativen Konflikten ansetzenden Empfehlungskatalog rechtlich regelungsbedürftiger Sachverhalte vorzulegen. Dazu arbeitet v.d.Daele bereits vorhandene und absehbare rechtliche Konflikte auf der Basis der grundgesetzlichen Wertentscheidungen heraus und versucht, normative

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Leitlinien für die moralische und rechtliche Beurteilung gentechnologischer Forschung und Anwendung zu formulieren. Im einzelnen handelt v.d.Daele folgende Bereiche in der Reihenfolge der zunehmenden Eingriffstiefe gentechnisch möglicher Interventionen ab: Kap. l: Embryonen im Labor und künstliche Familien. Konsequenzen der Befruchtung außerhalb des Mutterleibes. Kap. II: Genomanalyse, genetische Tests und ‘Screening’ (= Siebtests an der gesamten Bevölkerung). Fortschritte der Medizin und der sozialen Kontrolle Kap. III: ‘Negative’ Eugenik. Strategien der Bereinigung des menschlichen Genpools. Kap. IV: Gentherapie. Der Schritt zur Konstruktion des Erbmaterials. Am Ende jedes Kapitels faßt der Autor seine Überlegungen in Thesenform übersichtlich zusammen. Der methodische Ausgangspunkt für die entscheidende Frage nach der moralischen und politischen Bewertung der mit der gentechnologischen Entwicklung gegebenen weitreichenden Eingriffsmöglichkeiten ins Individuum wie in den Gesellschaftskörper bildet für v.d.Daele das Modell der richterlichen Rechtsfortbildung - im Gegensatz etwa zur Position des rationalen Naturrechts: „Die Anknüpfung der Wertungen an faktische Entscheidungen in der Gesellschaft ist wichtiger als ihre Begründung aus einem eigenen Systementwurf“ (15). Die pragmatische Position dieses Rechtspositivismus und eines empirisch wohl begründeten Skeptizismus gegenüber der faktischen Kraft des Normativen knüpft dabei an gesellschaftlich akzeptierte Wertvorstellungen an, die selbst in ihrer historischen Genese einer nicht-positivistischen Setzung entspringen, wie z.B. die Selbstbestimmung der Person, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Würde des Menschen, die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, der „andere“ (bereits als Embryo) als Grenze technischer Manipulation, etc. – alles Werte, die den Wert der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, der Freiheit der Wissenschaft, der Individuellen Handlungsautonomie in spezifischer Weise begrenzen. Freilich erinnert v.d.Daele daran, daß diese Werte historischen Veränderungen und Verschiebungen unterliegen und letztlich „ihrerseits an soziale Prozesse zurückgebunden werden (müssen), nämlich in Diskussionen über akzeptable und wün-

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schenswerte Mittel und Ziele menschlichen Handelns“ (16). V.d.Daele sieht das Dilemma, in das eine rechtspositivistische Betrachtungsweise führt: das Problem der historischen Kontingenz von Werten: „Schließlich können uns moralische Interpretationen, die bislang klare Orientierungen liefern, gleichsam kulturell abhanden kommen. Sie können durch sozialen Wandel, auch durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik unplausibel werden“ (203). Dies gilt insbesondere auch für das Argument, das die menschliche „Natur“, die ja spätestens seit dem 19. Jahrhundert als gesellschaftlich-historisch produzierte begriffen wird, für unantastbar erklärt: „Die Berufung auf Tabus der menschlichen Natur hat jedoch in unserer Kultur etwas Prekäres. Sie widerspricht dem Ansatz und der Denkweise der modernen Naturwissenschaft. Diese ist geradezu dadurch konstituiert, daß sie ihre Gegenstände nicht mehr als Teile eines sinnhaft geordneten, den Menschen verpflichtenden Kosmos begreift. Für sie hat keine Natur moralische Qualität ... Unter dem Eindruck neuer Technik veraltet die bestehende Moral“ (204/5). Diese Überlegungen laufen darauf hinaus, den historischen Sachverhalt anzuerkennen, daß „keine Moral ... den Fortbestand ihrer eigenen sozialen und kulturellen Voraussetzungen sichern“ kann (208). Dennoch, so v.d.Daele, stellt die uns verfügbare Moral den einzigen sicheren Bezugspunkt für eine Beurteilung der Mißbrauchsmöglichkeiten, der Gefahren der sozialen Kontrolle, der Herrschaft selbsternannter genetischer Eliten und gegenüber der Manipulation des Menschen dar. Seine Option geht dahin, kontrafaktisch die ‘Natürlichkeit’ des Menschen als Grenze seiner Technisierung in einer entsprechenden „Politik der menschlichen Natur“ (Kap. V des Buches) abzusichern. Die Begründung für eine solche Begrenzung führt v.d.Daele über das Postulat ein, nur über Sachverhalte gesellschaftlich zu entscheiden, die im Prinzip entscheidungsfähig sind (das könnte eine Pragmatik der Technologiefolgenabschätzung und der sozialen Akzeptanzen technischer Innovationen ebenso erfordern wie eine Wiederherstellung einer diskutierenden politischen Öffentlichkeit, jenseits der Monologe der Experten): „Begründet man die Norm der ‘Natürlichkeit’ auf diese Weise, so ist ihr Schutzgut nicht das absolut Heilige, sondern das relativ Sichere“ (209). Diese vorsichtige, gleichwohl mit Blick auf die Selbstläufigkeit technologischer Prozesse und ihrer Durchsetzung durch professionelle Partialinteressen realistische Perspektive wird mit einer praktischen Option verknüpft, die im Schlußkapitel des Buches nur angedeutet, aber argumentativ nicht mehr durchgeführt ist: die politische Neuverhandlung über die Grenzen des Krankheitsbegriffs. Gerade weil die fortgeschrittene Gentechnologie die

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Ausweitung ihrer Forschungen und die Erweiterungen ihrer legitimen Interventionsräume medizinisch begründet und damit unter dem Mantel des hohen Wertes, der in unseren Gesellschaften dem Gut Gesundheit zugeschrieben wird, die Grenze von der Krankheitsverhütung (z.B. Diagnose und Therapie von Genanomalien) zu einer aktiven gestaltenden Intervention in Richtung einer Optimierung von Gesundheit und von dort in Richtung einer - wenngleich noch in ferner Zukunft liegenden - Perspektive einer „Züchtung“ wünschenswerten Erbgutes verschiebt, plädiert v.d.Daele für eine Einschränkung des Krankheitsbegriffs: „Die Konsequenzen eines Krankheitskonzeptes, in dem die Unterscheidung zu abweichendem Verhalten und zu subjektiver Hilflosigkeit kategorial wieder eingeebnet werden, wären erheblich“ (216). Unter der Perspektive einer zunehmend gerade unter Bildungs- und Familienpolitikern und in der „Neuen Rechten“ wieder zunehmend salonfähigen Diskussion über die selektive Förderung von Eliten und über überzogene Konzepte einer allgemeinen gesellschaftlichen Gesundheitshygiene scheinen diese Überlegungen v.d.Daeles alles andere als akademisch. ( E. v. Kardoff)

Herta Däubler-Gmelin (Hrsg.): FORSCHUNGSOBJEKT MENSCH: ZWISCHEN HILFE UND MANIPULATION München 1986 (Schweitzer-Verlag ) Das Buch vereinigt Stellungnahmen und Vorschläge der SPD zur Regelung gentechnologischer Methoden am Menschen. Neben der Grundsatzerklärung des SPD-Vorstandes und Beiträgen der Herausgeberin sowie des Leiters der Enquete-Kommission des Bundestags zur Gentechnologie, W.-M. Catenhusen, u.a. enthält der Band die Dokumentation einer Anhörung, die die SPD-Praktion zum Thema „Künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft“ in Bonn am 16.4.1985 durchgeführt hat. Auffallend gegenüber anderen Äußerungen ist, daß es den Vertretern der SPD offenbar - bei vollem Problembewußtsein über die gentechnologischen Gefahren - schwerfällt, sich im Detail ethisch und juristisch festzulegen. So läßt es etwa H. Däubler-Gmelin völlig an den gewohnten vorschnellen Beurteilungen fehlen und weist nur auf die

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möglichen - und beträchtlichen - Folgen der Gentechnik hin. Auch Catenhusen versucht eher den Rahmen einer möglichen Kodifizierung einer künftigen Gen-Ethik abzustecken als vorschnelle Ver- und Gebote auszusprechen. Die diskussionsfreudige Offenheit der SPD in Sachen Gen-Technologie macht vor allem die Anhörung über die Probleme der künstlichen Befruchtung und Ersatzmutterschaft deutlich, an der Juristen, Mediziner, Philosophen und Theologen teilgenommen hatten. So einhellig auch die Befürwortung der homologen Insemination war, so weitgehend war zwar die Skepsis gegenüber der heterologen Insemination, d.h. der künstlichen Befruchtung durch außereheliche Samenspender; aber man war doch überwiegend der Ansicht, daß diese Frage nicht durch strafrechtliche Regelungen seitens des Staates geklärt werden könnte. Der Jurist Ostendorf etwa vertrat die Auffassung, daß schon durch die zivilrechtlichen Folgen (ev. Erbschaftsansprüche oder Unterhaltsforderungen des Kindes), die ggf. auf den Samenspender zukommen würden, die heterologe Insemination keineswegs zur Massenerscheinung machen, sondern auf Einzelfälle beschränkt bleiben würde. Sehr pointiert vertrat dazu die Vertreterin von „pro familia“ das Recht der Frauen, heterolog inseminierte Kinder auch allein, ohne männlichen Partner, aufziehen zu können. Statt den sexual- und familienethischen Zeigefinger zu erheben, respektierte man in erster Linie den legitimen Kinderwunsch der Frau. Offen verlief auch die Diskussion über die sog. Ersatzmutterschaft, die zwar die kommerzielle Ausnutzung ausdrücklich verboten wissen wollte, aber darüber hinaus auch noch auf andere Aspekte hinwies. Während Ostendorf die Ansicht vertrat, daß die Elternschaft genetisch begründet sein sollte, vertrat der Philosoph W. van den Daele die Ansicht, daß es im Fall der „Ersatzmutter“ angemessener wäre, die Gebärende, und nicht die genetische Mutter, sozial und juristisch als leibliche Mutter zu betrachten. „Mutter ist immer die Frau, die das Kind austrägt“ (60); denn diese Auffassung „vermeidet eine Überbetonung der Gene. Meines Erachtens“, so Daele, „läuft es ein wenig auf genetische Ideologie hinaus, in diesem Fall die Anknüpfung am Erbmaterial allein für zwingend zu halten“ (60). Die Konsequenz dieser vorgeschlagenen Regelung wäre, daß die genetische Mutter allein durch Adoption das Kind erhalten könnte. In der Frage der Verwendung von Embryonen zu Forschungs- zwecken verwies die Diskussion darauf, daß erstens überhaupt nur 30 % der Embryonen sich zu Föten weiterentwickeln, und daß zweitens die er-

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laubte Methode der Schwangerschaftsverhütung durch die Spirale bzw. die „Pille danach“ die Keimzelle an der Einnistung in die Gebärmutter hindern würde, so daß auch in diesem Falle Embryonen abstürben. Einhellig wurde jedoch die Meinung vertreten, daß, wenn schon, die Verwendung von Embryonen nur kontrollierten klinisch-medizinischen Forschungszwecken dienen dürfe. Gemeinsamer und unhintergehbarer Standpunkt aller Beiträge war, daß der Grundwert der Menschenwürde im Zentrum der Beurteilung gentechnologischer Verfahren und Experimente stehen müsse. Ob allerdings W.-M. Catenhusen gut beraten ist, die höhere Sensibilität der Bundesrepublik in Fragen der Menschenwürde gegenüber dem Ausland historischrelativierend, „aufgrund der Erfahrungen des dritten Reiches“ (44), und nicht grundsätzlich moralisch (Gibt es national unterschiedliche „Menschenwürden“?) zu begründen, bleibt fraglich. Insgesamt zeigt sich jedoch in der SPD eine Einstellung, die die offenkundigen Probleme der Gentechnologie in erster Linie nicht durch strafrechtliche Maßnahmen bewältigen will (Ausnahme: Eingriffe in die Keimbahnen), sondern durch die „Suche nach breit konsensfähigen Maßstäben für die Ausfüllung der gesellschaftlichen Verantwortung“ (44). Diese Maßstäbe könnten nur im gesellschaftlichen Dialog gefunden werden. Angesichts der neuen medizinischen, ethischen und juristischen Probleme sei die offene Diskussion in der Gesellschaft zur Zeit die angemessene Form der Lösung. Eine Form, die der Band durch die Vielfalt der Standpunkte in interessanter Weise dokumentiert. (Alexander v. Pechmann)

Rainer Flöhl (Hrsg.): GENFORSCHUNG - FLUCH ODER SEGEN? München 1985 (Schweitzer-Verlag )

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Der Band vereinigt insgesamt 23 Beiträge zum Thema, die an verschiedenen Orten und aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind. Er kommt dabei nicht umhin, die große Verständnislosigkeit zwischen den Naturwissenschaftlern einerseits und den Ethikern andererseits zu dokumentieren. Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, daß in dem Band, wieder einmal, fast ausschließlich konservative Philosophen und - vor allem - Theologen versammelt sind. So begrüßenswert es ist, daß der Band sich vor allem den ethischen Problemen, die mit der Genforschung aufgeworfen werden, widmet, so wäre, bei der Menge der Beiträge, eine größere Meinungsvielfalt durchaus am Platz gewesen. Zwar erwähnt der Philosoph Walther Zimmerli in seinem Artikel „Dürfen wir, was wir können?“, daß wir heute in einer Zeit des Wertrelativismus lebten, in der die christliche Moral ihre Allgemeinverbindlichkeit verloren habe, - in den Beiträgen selbst ist davon allerdings wenig zu bemerken. Im Gegenteil, für den Außenstehenden ist es überraschend, mit welcher Selbstsicherheit besonders von theologischer Seite die Geschütze - nicht nur - gegen die Genetik in Stellung gebracht werden. Da weiß etwa der Moraltheologe J. Hoffmann genau, daß das Ziel Gottes die Vollendung des Menschen und der Schöpfung ist, und daher genetische Eingriffe in diesen Heilsplan unstatthaft seien. Da weiß der Protestant Jürgen Hühner, daß der menschliche Geist seine tiefste Orientierung durch den Geist Gottes, der der Geist der Liebe ist, empfängt (171) und aus ihm heraus die ethischen Probleme der Genetik zu bewältigen habe. Gar nicht zu reden, von dem in diesen Fragen offenbar allgegenwärtigen Hans Jonas, der dem westlichen Denken pauschal bescheinigt, die Ehrfurcht vor der Natur verloren zu haben, und aus „pervers-neugieriger“ Abenteuerlust die Pandorabüchse des Genpools zu öffnen gedenkt. Oft weiß der Leser gar nicht mehr, wohin diese theologisch-philosophischen Kritiker der neuzeitlichen Wissenschaft eigentlich zurück wollen: ausgemacht scheint es eh, daß Darwin und Descartes als „Weltentzauberer“ im Grunde dumme Jungs waren, die, blind für die Folgen ihres Forscherdrangs, die „natürliche Ordnung“ durcheinander gebracht haben. Aber daß selbst der neutestamentliche Satz „Macht Euch die Erde Untertan“ als ein fataler Auftrag interpretiert wird, läßt nur mehr schwer nachvollziehen, von welcher Grundlage aus Theologen eigentlich noch argumentieren. Wenn dann der Katholik J. Hoffmann implizit die Genesis in Frage stellt, nach der Gott Adam zunächst aus Lehm geschaffen und ihm erst dann die Seele eingeblasen habe, sondern von der Leibhaftigkeit des Geistes spricht - um daraus die personale Würde des Menschen vom Beginn seiner Zeugung an zu

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folgern - wird der Boden schwankend, von dem aus argumentiert wird. So bleibt denn den Theologen und Philosophen nichts anderes als die ständig wiederholte Versicherung übrig, daß die Würde des Menschen „von Natur“ fest in den Genen verankert sei, und jeglicher Eingriff in die „genetische Identität“ unsittlich sei. Aus der Phalanx der versammelten Theo-sophen bricht allein der Bochumer Technik-Philosoph Hans-Martin Sass aus, der als einziger ein historisches Problembewußtsein hinsichtlich der Frage nach der Würde des Menschen und der Entstehung des Lebens hat. Als einziger übt Sass grundsätzliche Kritik an der christlich-naturrechtlichen Begründung des Mensch-Seins und stellt fest, daß in keiner relevanten europäischen und außereuropäischen Tradition die Personalität des Menschen an die biologische Zeugung und damit an dessen genetische Ausstattung gebunden wurde. Selbst das alte Testament, so Sass, sieht in der Tötung eines Ungeborenen keinen Mord oder Totschlag; für das jüdisch-talmudische, das alte römische und deutsche Recht ist die Geburt des Menschen der Termin, ihm Würde und Rechte zuzusprechen. Und selbst der „Heilige“ Thomas von Aquin läßt Gott dem menschlichen Fötus erst am 40. (Mann) resp. 80. Tag (Frau) nach der Fertilisation die Seele schenken. Vor diesem Zeitpunkt der Animation galt der Fötus nicht als Person und die Abtreibung nicht als Mord. Sass schlägt daher das Kriterium der Gehirntätigkeit des Fötus als Beginn des personalen Lebens vor - analog des Endes der Gehirntätigkeit bei der Festsetzung des Tods eines Menschen. Vor diesem Datum, dem 50. Tag post menstruationem, sei der Fötus ungeschützt, dann aber solle ihm der volle Schutz der Solidargemeinschaft zukommen. Dementsprechend entwickelt er einen Kanon von Regelungsvorschlägen, mit dem Genetiker etwas anfangen können, und schließt eine sinnvoll betriebene Erforschung der Keimzellen nicht aus. So verständnislos die Theologen der Genforschung gegenüber sind und in ihr nur die mangelnde Ehrfurcht vor der Natur erblicken, so sind ihnen gegenüber die Juristen, wie E. Benda, A. Kaufmann, A. Eser, offenbar etwas besonnener. Hätten sie es doch zu verantworten, christlich-theologische Grundsätze in strafrechtliche Normen umzusetzen. Vor allem Erwin Deutsch zeigt auf, wie schwer es ist, ethische Normen in rechtliche Rahmenrichtlinien umzusetzen. Während sich die theologischen und philosophischen Ethiker auf die Unsittlichkeit der Gentechniker einschießen, und die Juristen zwischen ihnen vermitteln wollen, herrscht bei den Genetikern noch immer weitgehend Ratlosigkeit. So ist es sicher schön - man hat es aber mittlerweile oft

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genug gehört -, von den vielen beglückenden Möglichkeiten der Gentechnik zu erfahren; aber weder dem Genetiker Ernst-Ludwig Winnacker noch dem Mediziner Hans-Bernhard Wuermeling fällt zu den ethischen Herausforderungen der Theologen viel Kluges ein. So gibt der Band zwar einen guten Überblick über die reichlich wissenschaftsfeindliche Einstellung vieler Theologen und Philosophen und recht übersichtliche Zusammenfassungen des Stands der Genforschung; er hat allerdings die Nachteile, daß - trotz des verbindenden Nachworts des Herausgebers - die Meinungen recht unvermittelt nebeneinander stehen bleiben, so daß Wiederholungen anscheinend unvermeidlich waren, und - daß bei all der Diskussion über das Pro und ‘ Contra des Schutzes ungeborenen Lebens keine einzige Frau zu Wort gekommen ist. (Alexander von Pechmann)

DIE GRÜNEN im Bundestag (Hrsg.): FRAUEN GEGEN GENTECHNIK UND REPRODUKTIONSTECHNIK Dokumentation zum Kongreß vom 19. - 21.4.1985 Der Kongreß „Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik“ war Ergebnis einer Zusammenarbeit von Frauen der autonomen Frauenbewegung, dem Verein Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen, Köln, und dem AK Frauenpolitik der Grünen und stieß als bis dahin größtes Forum in Europa zu diesem Themkreis auf größere Beteiligung und Resonanz als erwartet. Inhaltlich waren gewisse Ambivalenzen von vornherein impliziert, und so bietet diese Dokumentation einen adäquaten Überblick über das Spektrum der Reden, Aufsätze, Protokolle, Arbeitsberichte und Folgeaktivitäten. Sehr wohl wurde die Notwendigkeit erkannt, ein „differenzierteres Nein“ (35) zu bereits vorhandenen und noch geplanten Entwicklungen auf den Gebieten von Gentechnologie und Reproduktionstechnologie auszusprechen, um nicht in eine weder beabsichtigte noch gewünschte Nachbarschaft zu konservativen Kreisen aus Klerus und Jurisprudenz zu geraten. Diese Absage aber ist übergeordnet, auch wenn einzelne Stimmen gegeneinandersprechen und Differenzen zwischen Theologinnen, Philosophin-

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nen, Natur- und Sozialwissenschaftlerinnen und Selbsthilfegruppen sichtbar machen. So wird durchaus darüber diskutiert, ob „Technik neutral ist“ (114) oder ob sie etwa „dämonisiert“ (137) werde; Ausgangspunkt ist immer die dadurch notwendige oder beabsichtigte Unterdrückung der Frau: „Wenn wir bisher unsere Bevölkerung erhalten konnten, so war dies während der gesamten Menschengeschichte nur möglich, weil Frauen unterdrückt und benachteiligt wurden“ (82). Und dieser Ansatzpunkt erscheint in Jedem Beitrag - unabhängig davon, welche Intention, welchen Inhalt dieser nun hat. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, proportional den einzelnen Arbeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, deshalb sei darauf hingewiesen, daß die Auswahl unvollständig ist: Ein wichtiger Argumentationsstrang läuft wider den Primat der Naturwissenschaften gegenüber den Gesellschaftswissenschaften, „eine vergleichsweise kurze Zeit (hätte) ausgereicht, um den Menschen wieder auf seine Moleküle zu reduzieren“ (65); Gen- und Reproduktionstechnik wird als Fortsetzung und Steigerung der Ausbeutung der Natur gefasst (85); an die verhängnisvolle Rolle von Eugenik und Zwangssterilisation wird erinnert (z.B. 66 ff.); die weitere Ausbeutung der 3. Welt und speziell der dortigen Frauen wird thematisiert (27 ff. und 69 ff.); Zusammenhänge von „neuer Mütterlichkeit“ (83) und „Geburtenrückgang in den Industrienationen“ (82) werden aufgezeigt. So bildet sich als Ganzes die Achse Sexismus-Rassismus-Kapitalismus, die das Nein an Gen- und Reproduktionstechnik untermauert. Diese sind weit davon entfernt, menschenfreundlich den bedauernswerten, kinderlosen Ehepaaren zu helfen (vgl. den „Soraya-Komplex“), „Heilmittel“ gegen Unfruchtbarkeit zu sein; sie werden von den Kapitalinteressen der Wirtschaft dominiert, Kinderlosigkeit und Unfruchtbarkeit werden zur „Krankheit“ gemacht, als „abnorm“ angesehen: „Der Aufwand wird nicht gemacht, um diesen wenigen, weißen und unverheirateten Frauen ihr eigenes Kind zu ermöglichen“ (110). Nicht zuletzt diese einfache Überlegung sollte nachdenklich machen und auf den Kern zurückführen: Geplant wird ein Mensch, der in einer zerstörten Umwelt durch Genmanipulation überleben kann, nicht die Ursache, sondern die Wirkung wird geändert; einmal mehr wird Frauen vorgeschrieben, ob sie Kinder oder keine haben sollen. Und dennoch ist es nicht zu spät, „gerade jetzt, heute können wir damit anfangen, die nie gefragten, grundsätzlichen Fragen zu stellen“ (117) und „unser Aufruf zum Kampf gegen diese frauenfeindlichen Techniken muß verbunden bleiben mit der Herstellung und der Einsicht in die Zusammenhänge, die uns weltweit verbinden“ (118).

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(Helga Laugsch-Hampel)

Friedrich Hansen / Regine Kollek: GEN-TECHNOLOGIE. DIE NEUE SOZIALE WAFFE Hamburg 1985 (Konkret Literatur Verlag) Mit der Gentechnologie ist eine neue Qualität der Naturbeherrschung erreicht: die Menschen können ihre biologische Lebensbasis manipulieren. Den Autoren des Bandes geht es angesichts dieser Fähigkeit vor allem darum, zu zeigen, wie die Entwicklung und Anwendung der GenTechnik den Weg für die soziale Auslese und gesellschaftliche Diskriminierung „genetischer Abweichler“ bereitet. Dabei gehen die Verfasser in erster Linie auf historische, soziale und ideologische Zusammenhänge ein; das Hauptproblem besteht für sie darin, daß diese Technik einem instrumentellen Denken Vorschub leistet, das individuelle, soziale und politische Probleme auf technizistische Lösungen reduziert. Die Methoden der Gentechnik (Reproduktionstechnik, Genomanalyse etc.) reduzieren nach Ansicht der Biologin Regine Kollek die „untersuchten Individuen auf die bloße Funktion und ‘Qualität’ ihrer Gene“ (10). Es geht bei der Analyse von Krankheit nicht mehr um die Erfassung komplexer Lebenszusammenhänge, sondern darum, Krankheiten genetisch zu klassifizieren und technisch zu bewältigen. Diese Verengung des Spektrums hat zur Folge, daß nicht nur Erbkrankheiten im traditionellen Sinn diagnostiziert werden, sondern dass Gene identifiziert werden, „die scheinbar mit solchen Phänomenen wie ‘Intelligenz’ oder ‘Depression’ zusammenhängen“ (14). Krankheit wird als Defekt der Gene interpretiert; umgekehrt ist dann Gesundheit nichts anderes als ein Resultat „intakter Gene“. Die Autorin berücksichtigt Jedoch sehr wohl den Doppelcharakter dieser Techniken, die auf der einen Seite als diagnostische Hilfsmittel große Dienste leisten könnten, auf der anderen Seite aber die Tendenz verstärken, den Menschen zum bloßen Objekt der Medizin zu degradieren. Friedrich Hansen geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern die Gentechnik der Manipulation von Arbeitsplatzrisiken dient. In den USA gibt es längst die Praxis, den genetischen Risiken durch gefährliche Arbeits-

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stoffe dadurch vorzubeugen, daß durch ‘genetic-screening’ die Arbeiter auf ihre Belastbarkeit, d.h. Giftresistenz, untersucht werden, und je nach Ergebnis eingestellt werden - oder auch nicht. An die Stelle der Humanisierung der Arbeitswelt tritt der resistente Arbeiter! Die angeblich genetisch bedingte Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten wird trotz ihrer wissenschaftlichen Unhaltbarkeit nicht mehr in Frage gestellt. Auch Hansen geht es um die damit verbundene Verdrängung der sozialen Dimension von Krankheit, aber auch um die Gefahr, daß „der Medizinbetrieb selbst (... ) zu einem mächtigen direkten Selektionsinstrument (wird), das die Gesetze des Überlebens zu kontrollieren beansprucht“ (49). Mit den Auswirkungen der Gen-Technologie auf Krankheitsverständnis und -definition setzt sich Rainer Hohlfeld auseinander. „Komplexe Lebenszusammenhänge und deren vielfältige Ursachen und Bedingungen werden zurückgeführt auf rein technische, im Reagenzglas reproduzierbare Effekte und deren Ursachen“ (58). Er nennt diese Reduktion das Kernproblem des „biomedizinischen Modells“ (57). Die so verfahrende Medizin ist daher „a-ökologisch, a-historisch und a-sozial“ (58). Das erhöhte Potential an instrumenteller Verfügungsgewalt führt zur Stabilisierung einer eindimensionalen Medizin. Die Fortschritte in den Wissenschaften zeitigen die absurde Konsequenz, daß die Zahl der Krankheiten steigt, da durch die Aufklärung der genetischen Struktur immer mehr Abweichungen vom „genetischen Normalfall“ bekannt werden, die sich zwar phänotypisch meistens nicht auswirken, die aber dennoch zumindest als „Abnormitäten“ definiert werden müssen. Auf diese Weise hält die Eugenik wieder Einzug in die Medizin, da gerade durch die neuen Reproduktionstechniken (in-vitro-Fertilisation) „schlechte Dispositionen“ ausgeschaltet werden sollen. In weiteren Beiträgen werden vor allem die Folgen für die Stellung der Frau diskutiert. Die Reproduktionstechnik in der „ersten“ steht in engem Zusammenhang mit der Bevölkerungspolitik in der „dritten“ Welt, wobei die Autorinnen vor allem auf die Zwangssterilisationen geistig behinderter Mädchen und die Sterilisationsmaßnahmen in den sogenannten Entwicklungsländern hinweisen. Die Herrschaft der Männer über die Frauen wird durch die Degradierung der Frau zur Leihmutter, Ei-Lieferantin etc. zementiert. Diese Form der „Reproduktions-Prostitution“ (118) entzieht den Frauen endgültig die Entscheidung über die Kinder. (Was der Paragraph 216 nicht geschafft hat, die Reproduktionstechniken von heute ermöglichen es.) Kinder werden asexuell gezeugt (von Männern selbstverständlich) und an würdige Eltern verteilt. Auf diese Weise ist die Gentechnik nur ein weiteres Instrument, die Herrschaft von Menschen über Menschen zu fixieren.

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Um solche Entwicklungen zu stoppen ist es nach Ansicht der Verfasser unerläßlich, in der öffentlichen Diskussion auf „die Parteilichkeit der Argumentation der Interessenvertreter“ hinzuweisen und sie zu überschreiten, um die Grenzen von Forschung und Anwendung der Gentechnik sinnvoll ziehen zu können. (Manuela Günter) F.J. Illhardt: MEDIZINISCHE ETHIK (unter Mitarbeit von H.-G. Koch) Berlin - Heidelberg 1985 (Springer-Verlag) Eigentlich haben wir es hier mit einein „Arbeitsbuch“ für Mediziner zu tun, mit einem Aufriß von ethischen Problemen, mit denen sich Arzt und Forscher konfrontiert sehen. Die öffentliche Diskussion aber der Gentechnik, des § 218, der Sterbehilfe etc. hat das Interesse an medizinischer Ethik weit über deren Status einer bloßen Berufs- oder Standesethik hinauswachsen lassen. In 27 Problem- oder Themenbereichen, die 4 Schwerpunkten (Lebensbeginn, Lebenskrisen, Lebensende, Forschung) zugeordnet sind, gibt Illhardt einen Überblick über medizinisch-ethische Fragen. Dessen großer Vorzug liegt erstens im unmittelbaren Bezug zur Praxis; Illhardt will keine normativen Verhaltens- oder Pflichtenlehren aufstellen, sondern den Einzelfall als ständige Herausforderung anerkennen. Zweitens werden ethische Prinzipien mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vermittelt, z.B. wird die medizinische Interpretation der „Hirntod’’-These der Frage der Sterbehilfe vorausgeschickt. Drittens ist jeder Problembereich mit Arbeitsmaterialien ausgestattet, d.h. mit Literaturangaben, mit einer Skizze der jeweils rechtlichen Problematik sowie mit dem Hinweis auf öffentliche Stellungnahmen (des Deutschen Ärztetages, der Vereinten Nationen, der WHO etc.), die im Anhang gesammelt und auszugsweise abgedruckt sind. Ein Mangel des Werks besteht darin, daß der bestehende medizinische Betrieb als solcher vorausgesetzt und nicht hinterfragt wird. Damit bleiben wichtige ethische Argumente gegen die Schulmedizin, die „Geräte’’medizin, aber auch die Entwicklung „alternativer“ Heilverfahren sowie das Menschenund Krankheitsbild, das hinter beiden Formen der Medizin steht, ausgeklammert.

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(Konrad Lotter)

Institut für die Wissenschaft vom Menschen - IWM (Hrsg.): DER MENSCH IN DEN MODERNEN WISSENSCHAFTEN IWM / Castel Gandolfo-Gespräche Stuttgart 1985 (Verlag Klett-Cotta) Seit etlichen Jahren wird Papst Johannes Paul II. nachgesagt, daß er in der katholischen Kirche eine Restaurationsperiode einleiten wolle. Wiederhergestellt werden sollen nach solchen Behauptungen die vorkonziliaren Zustände eines Papst Pius XII. Selbstverständlich ist der gegenwärtige Papst darum bemüht, solchen Anschuldigungen den Boden zu entziehen. So ist er gerade nicht zu der noch von Papst Pius XII. gepflegten Tradition zurückgekehrt, den Vatikan nach der Papstwahl nie wieder zu verlassen, sondern er demonstriert seine Weltoffenheit durch eine äußerst intensive Reisetätigkeit. Während der Papst mit seinen Reisen wohl recht erfolgreich die Herzen und Gemüter breiterer Volksmassen erreicht, hat er sich für den erwählteren Kreis der Intellektuellen etwas anderes ausgedacht bzw. ausdenken lassen, denn er weist jeden Verdacht von sich, daß das Wiener „Institut für die Wissenschaft vom Menschen“ eine kirchliche Einrichtung und auf seine Veranlassung 1982 gegründet worden sei. „Das Institut bietet“, glaubt man dem Verlagsprospekt, „renommierten Gelehrten und qualifiziertem Nachwuchs Möglichkeit zu konzentrierter Forschung und gedanklichem Austausch.“ Der Verlagsprospekt wirbt weiter: „Es ergibt sich die reizvolle Konstellation, daß das Oberhaupt der Katholischen Kirche einen Dialog fördert, der in keiner Weise weltanschaulich festgelegt ist - wie es die Namen der Beteiligten auf den ersten Blick bereits zeigen.“ Die Vielfalt von unterschiedlichen Geisteshaltungen und Bekenntnissen zeigt sich bereits bei der personellen Besetzung der Institutsleitung. Der Direktor des Instituts, Krzysztof Michalski, ist Philosoph an der päpstlichen Akademie in Krakau und ist Schüler des ehemaligen Professors Karol Wojtyla. Der Präsident des Instituts ist Jozef Tischner; er soll ein persönlicher Freund des Papstes sein. In seinem Beitrag stellt Tischner den Vorzug des polnischen Denkens heraus, das niemals sich genötigt sah, nach der Wahrheit in theologischen System zu suchen, daß es auch aus historischen Gründen nicht gezwungen war, sich mit dem

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Protestantismus, dem Positivismus, dem Rationalismus, dem Irrationalismus und dem Szientismus auseinanderzusetzen, sondern daß das polnische Denken seinen Reichtum vor allem in der Literatur in der Weise einer „denkenden Hoffnung“ zum Ausdruck brachte. Der Dialog wird bereichert durch den Münchner Philosophen Robert Spaemann, der bekanntlich nicht deswegen den philosophischen Konkordatslehrstuhl erhielt, weil er ergebener Katholik ist, sondern obwohl er weltoffener Katholik ist. Seine Frage nach der Natur des Menschen beantwortet er damit, daß sie seit Descartes’ Dualismus eigentlich nicht mehr beantwortbar sei, es sei denn, man begreife in der Natur des Menschen die teleologische Dimension. Daß diese Überwindung der Dualität selbst in einem Medium der Dualität, der Sprache formuliert wird, soll hier als problematisch zumindest angedeutet sein. Neben dem jüdisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas nehmen sich die beiden Protestanten Carl Friedrich von Weizsäcker und Gerhard Ebeling schon als Exoten aus. Mißt man das, was in dem vorliegenden Band enthalten ist, an dem Anspruch, die „Überwindung von geistigen Gettos jeder Art“ zu erreichen, so kann man dem Institut noch ein weites Betätigungsfeld voraussagen und eine sehr lange - erfolgreiche - Tätigkeit wünschen. (Martin Schraven) Hans Jonas: I. ORGANISMUS UND FREIHEIT. ANSÄTZE ZU EINER PHILOSOPHISCHEN BIOLOGIE Göttingen 1973 II DAS PRINZIP HOFFNUNG. VERSUCH EINER ETHIK FÜR DIE TECHNOLOGISCHE ZIVILISATION Frankfurt am Main 1984 III TECHNIK, MEDIZIN UND ETHIK. ZUR PRAXIS DES PRINZIPS VERANTWORTUNG Frankfurt am Main 1985

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Hans Jonas, emigrierter Philosoph und Religionswissenschaftler des Jahrgangs 1903, versucht angesichts der ökologischen und atomaren Katastrophendrohung, eine „Philosophie des Lebens“ entwickeln, einer Philosophie von Freiheit und Gefahr, die im Menschen gipfelt (I, 4). Von der Philosophie des Organismus zur Philosophie des Menschen fortschreitend legt Jonas in „Organismus und Freiheit“ eine ontologische Auslegung der biologischen Phänomene vor, die auf der These fußt: „Wenn ... ‘Geist’ von allem Anfang an im Organischen vorgebildet ist, dann auch Freiheit“ (I, 13/125/132f.). Auf der Grundlage einer neoaristotelischen Naturkonzeption entwickelt Jonas eine „Dialektik der Lebenstatsache“, die „von der Grundpositivität der ontologischen Freiheit (Form-Stoff) zum Negativum der biologischen Notwendigkeit (Stoffabhängigkeit) und über sie wiederum zum höheren, beide vereinenden Positivurn der Transzendenz“ des Lebens führt. In dieser habe „die Freiheit sich der Notwendigkeit bemächtigt und sie durch das Vermögen des Welthabens überboten“. Die Selbsttranszendierung des Lebens in Richtung auf eine Welt, die in der Sinnlichkeit zum Gegenwärtighaben einer Welt führt, entspringe, so Jonas, der „primären Antinomie der Freiheit und Notwendigkeit, die im Sein des Organismus wurzelt“ (l, 133). In dieser z.T. organizistisch-verkürzten aristotelischen Ontologie bleibt der Geist, auch in seinen höchsten Ausprägungen, noch dem Organischen verhaftet, so daß für Jonas die „Philosophie des Lebens“ sowohl die Philosophie des Organismus als auch die des Geistes umfaßt. Die Philosophie des Geistes schließt nun auch die Ethik mit ein, die „in die Natur des ganzen Seins“ (I, 341) zurückverlegt wird und somit zu einem Teil der Philosophie der Natur wird. Die Ontologie als die Grundlage der Ethik soll nun eine „Wiedervereinigung“ des „objektiven“ und „subjektiven“ Reiches bewerkstelligen, die, „wenn überhaupt, nur von der ‘objektiven’ Seite her“ erreicht werden könne, d.h.: „durch eine Revision der Idee der Natur“ (ibd.). Aus dieser will Jonas nun eine Bestimmung des Menschen ermitteln, „gemäß der die Person im Akte der Selbsterfüllung zugleich ein Anliegen der ursprünglichen Substanz verwirklichen würde“ (ibd.). Das Prinzip der Ethik wird so letztlich begründet in einer „objektiven Zuteilung seitens der Natur des Ganzen“ - der theologischen ‘ordo creationis’. Da nun im „technotronischen“ Zeitalter (H. Lenk) die Natur eine neuartige sei, bedürfe es auch einer neuen Ethik, deren Begründung „in die Metaphysik reichen (muß), aus der allein sich die Frage stellen läßt, warum überhaupt Menschen in der Welt sein sollen“ (II, 8). Eine

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solche Grundlegung versucht Jonas in seinem „Tractatus technologicoethicus“, dessen eigentliches Thema die Pflicht (des Menschen im Sein) Ist, die er im Begriff der Verantwortung zusammenfaßt. Aufgrund der Pflicht zur Existenzsicherung der Gattung, einer „Pflicht zum Sein gegen das Nichts“ (II, 82), und der „Lebensmöglichkeit für die Zukunft“ fordert Jonas eine „Notstandsethik der bedrohten Zukunft, (welche) das Ja zum Sein, das dem Menschen vom Ganzen der Dinge zur Pflicht wird, in kollektive Tat umsetzen muß“ (II, 250). In der Verantwortung für eine Zukunft unseres Seins - „nach mehreren Jahrhunderten postbaconischer, prometheischer Euphorie (der auch der Marxismus entstammt)“ - sei es notwendig, „dem galoppierenden Vorwärts die Zügel an(zu)legen“ (II, 388). Auf der Suche, wem nun die Macht (der Zügel) zufallen solle, findet Jonas Gefallen an den „Regierungsvorteilen einer jeden Tyrannis“, die für ihn allerdings „beseelt“ sein müsse (262), wie an den „asketischen Zügen“ einer sozialistischen Disziplin (D. In Abwägung der verschiedenen Mittel ergibt sich für ihn ein herrschaftstechnologisches „Plus des Marxismus“ (270) - aber nur, „wenn er seine Rolle vom Bringer des Heils zum Abwender des Unheils umdeutet, also mit Verzicht auf ... die Utopie“ (II, 259). In Ablehnung einer immanenten Vernunft der Geschichte und der Erkenntnis des Wirklichen unter Einschluß des im Gegenwärtigen auf mögliche Zukunft Verweisenden (Jonas hatte sich vorerst Ernst Bloch eigens zubereitet, um ihn später zu desavouieren), fordert der ‘Postmarxist’ (Jonas über Jonas; II, 229) „das Offensein für den immer ungeheuerlichen und zu Demut stimmenden Anspruch an seinen immer unzulänglichen Träger“ (II, 393), den Menschen. So bleibt ihm als „anrufende Instanz“ nur die (Ehr-Furcht. Nur in ihr entstehe das „Heilige ..., die Hütung des Erbes in seinem ‘ebenbildlichen’ Ansinnen“ (II, 393; vgl. III, 200). Und solange sich der Mensch nicht als das sich verantwortende Abbild eines anrufenden, aber ungenannten Originals, das sich in der Furcht enthüllt, verhält, bedürfe es eben einer entsprechenden „beseelten“ Tyrannis zum Besten der Gattung, welche die neue protestantische Ethik diktiert. Den „angewandten Teil“ des ‘Prinzips Verantwortung’ legte Jonas mit der Aufsatzsammlung „Technik, Medizin und Ethik“ vor, in der er vor allem auf die Bereiche der Humanbiologie und Medizin Bezug nimmt. Aufgrund des „Antiessentialismus der herrschenden Theorie“ (III, 39) sei die Metaphysik neu herausgefordert; denn „wir müssen wissen, daß der Mensch sein soll“ (III, 74). In seiner ethischen Theorie fordert Jonas das „Recht auf Unwissen“ (194) und damit die Ablehnung „menschlicher Erb-

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alchemie“, unter Rückgriff auf das „nüchternste moralische Argument ...: Taten an anderen, für die man diesen nicht Rechenschaft zu stehen braucht, sind unrecht ... Verhütung von Unglück allein ist hier erlaubt, kein Probieren neuartigen Glücks. Mensch, nicht Übermensch sei das Ziel. (Dabei) genügt doch schon die schlichte Anstandsethik der Sache, um Kunstfreiheiten mit dem menschlichen Genotypen schon in den ersten Anfängen zu verbieten - ...: schon in der Freistatt experimenteller Forschung“ (III, 200f.). „Darum bleibe die Büchse (der Pandora; H.M.) besser ungeöffnet“ (III, 217), denn wir sollten nicht versuchen, „an der Wurzel unseres Daseins, ..., Schöpfer zu sein“ (III, 218). Philosophisch gesehen fällt Hans Jonas’ „Prinzip der Verantwortung“ in die alte Metaphysik zurück; politisch-praktisch aber in einen re-aktionären Autoritatismus. (Hans Mittermüller)

Theo Löbsack: DAS MANIPULIERTE LEBEN. GENTECHNOLOGIE ZWISCHEN FREVEL München 1985 (dtv)

FORTSCHRITT

Wolfgang Gehrmann: GEN-TECHNIK DAS GESCHÄFT DES LEBENS. Verschlafen die Deutschen eine Zukunftsindustrie? München 1964 (Goldmann-Verlag) Ruben Scheller: DAS GEN-GESCHÄFT. CHANCEN UND GEFAHREN DER BIO-TECHNOLOGIE Dortmund 1985 (Weltkreis-Verlag)

UND

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Theo Löbsack, der seit vielen Jahren Resultate der wissenschaftlichen Forschung einem breiteren Publikum zu vermitteln versucht, verspricht jener Diskussion eine sachliche Grundlage zu geben, die durch die Reizworte Retortenbaby, Kinder mit fünf Elternteilen, Samenbank und Gen-Technologie verunsachlicht worden sei. Doch leistet Löbsack gleich durch den Untertitel seines Buches dieser Verunsachlichung Vorschub; denn über 100 Seiten seines etwa 150 Seiten starken Bändchens sind nicht der angekündigten Gen-Technik, sondern der künstlichen Insemination und der In-vitro-Fertilisation vorbehalten, Techniken also, die mit der Gen-Technik nichts zu tun haben. Neben der Darstellung der künstlichen Insemination wird versucht, Einblick in die alltägliche Praxis zu vermitteln. In dem Bemühen jedoch, möglichst anschaulich zu berichten, entgeht Löbsack jedoch nicht der Gefahr, bei der Beschreibung der verschiedenen Inseminationsmethoden sich allzusehr ins Detail zu verlieren. Auch gelingt es dem Autor nicht immer, abenteuerliche Spekulationen, auch wenn sie von Wissenschaftlern stammen, von seriöser Information zu unterscheiden. So plädiert etwa ein Gynäkologe gegen die heterologe Insemination mit dem Einwand, dass zwischen der Unfruchtbarkeit der Frau und der inneren Ablehnung von Kindern ein Zusammenhang bestehe. Welcher Zusammenhang gemeint sei und, wenn es diesen Zusammenhang tatsächlich so gibt, mit welchen Mitteln und Methoden heilend eingegriffen werden könne, dies läßt Löbsack den Gynäkologen nicht mehr sagen, und er selbst hält sich in seinem Kommentar sehr zurück. Noch weitläufiger als bei der künstlichen Insemination geht Löbsack bei der In-vitro-Fertilisation vor. Ausführlich schildert er diese Technik bei der Tier- und Fleischproduktion. Das juristische Problem beim Menschen, daß ein Kind eine biologische, eine genetische und eine juristische Mutter und zwei Väter, nämlich einen genetischen und einen juristischen haben kann, wird zwar aufgegriffen, konkreten Lösungsvorschlägen geht Löbsack jedoch aus dem Wege. Im letzten Drittel des Buches wird die Gentechnik thematisiert. Dabei kommen die genetische Manipulation an Mikroben ebenso zur Sprache, wie die Möglichkeiten, mit gentechnischen Mitteln die Nahrungsproduktion wesentlich zu erhöhen. Im großen und ganzen läßt Löbsack die Wissenschaftler zu Wort kommen, die solchen Methoden aufgeschlossen gegenüberstehen; die genetische Position kommt nur beiläufig zu Wort. Ebenso scheint sich der Autor bei der Behandlung der ethischen Fragen eher der etwas naiv erscheinenden Argumentation anzuschließen, wie man sie auch heute noch bei vielen

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Naturwissenschaftlern vorfindet. So gibt er etwa bei der Frage nach den moralischen Grenzen des Forschens und Experimentierens dem gängigen aber dennoch deplazierten Argument Raum, daß es zur Natur des Menschen gehöre, wißbegierig zu sein. Daß die weit verbreitete Angst, der Löbsack entgegentreten will, aber unter anderem von einem solchen naiven Forschergewissen ausgeht, scheint ihn nicht zu kümmern. Im übrigen wiederholt Löbsack, daß die Forschung sich vor der Öffentlichkeit abspiele und daher unter ihrer Kontrolle stattfände. Daß ein wesentlicher Teil gerade dieser Forschung nicht In öffentlichen Einrichtungen, sondern in privaten, der öffentlichen Kontrolle entzogenen, Firmen und Konzernen stattfindet, ist für Löbsack kein Anlaß, die Mär von der Kontrolle der Öffentlichkeit zu revidieren. So reißt Löbsack bei der recht summarischen Behandlung seiner drei Teilgebiete viele Themen an, Antworten auf viele Fragen versucht er sporadisch zu finden, geben tut er sie jedoch nie. Die Behandlung der Themata ist dem einschlägigen Illustriertenjournalismus näher als der versprochenen sachlichen Information. Der Leser, der genaue Information zur weiteren sachlichen Diskussion benötigt, wird wohl zu einer gründlicheren Schrift greifen müssen. Einem anderen Aspekt wendet sich der Wirtschaftsjournalist der „Zeit“, Wolfgang Gehrmann, zu. „Gen-Technik - Das Geschäft des Lebens. Verschlafen die Deutschen eine Zukunftsindustrie?“ Der Untertitel bestimmt den Tenor des ganzen Bändchens; es Ist eine einzige Jermidiade auf die versäumten Chancen der bundesdeutschen Industrie. Die Amerikaner haben - wie immer - die Nase vorn, die Japaner haben uns - dank Ihres Nachahmungstriebs - schon wieder einmal überholt und „wir“, die Deutschen laufen der Weltspitze hinterher, obwohl „wir“ doch so gute Wissenschaftler hervorbringen. Wo haben wir, die Deutschen versagt? Mit unversteckter Sympathie schildert Gehrmann das Entstehen der berühmten „Bio-Boutiquen“, ein Zusammengehen hochkarätiger Wissenschaftler von den Universitäten und risikobereiten Finanziers. Obwohl auch das Sterben dieser Bio-Boutiquen nach einem anfänglichen Boom nicht verschwiegen wird, scheint Gehrmann auch für die Bundesrepublik eine ähnliche Lösung vorzuschweben. Und wenn es schon um das Wohl „unserer“ deutschen Industrie geht, so dürfen die Risiken dieser neuen Technik doch nicht überbewertet werden. Diesen Eindruck gewinnt man gerade in dem Kapitel „Angst vor Frankenstein“, in dem die Gefahren der Gen-Technik behandelt werden sollen. Der Forscher ist hier mit sich allein; die Gefahren erwachsen den

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Mängeln des Forschers oder seinem bösen Willen. Mechanismen, die außerhalb des forschenden Individuums und seines Labors ihre Wurzeln haben, sind Gehrmann entweder nicht der Rede wert, oder er sieht sie einfach nicht. Die Selbstbeschränkung der Wissenschaftler wird beschworen und mit einigen singulären Beispielen „belegt“. Zwar wird - allerdings in einem anderen Kapitel und unter einem anderen Aspekt - die Konkurrenzsituation geschildert, unter der die vielen „Bio-Boutiquen“ am Rande der Existenz um ihr Überleben kämpfen, aber eine Gefahr vermag Gehrmann hier nicht zu sehen. Erleichtert stellt Gehrmann fest, daß die (!) Biotechnik hoffen dürfe, von restriktiven staatlichen Auflagen nicht allzusehr behindert zu werden, da die deutsche Forschung und die deutsche Industrie noch weiter gegen die ausländische Konkurrenz ins Hintertreffen geraten würde. Die Kooperation zwischen der Industrie und den Hochschulen in den USA ist das leuchtende Beispiel, das Gehrmann der Bundesrepublik vorhält. Eine Dorothee Wilms, die mit der Novellierung des HRG den Zugriff des Kapitals auf die Forschungsinstitute der Universitäten der BRD vorbereitet, wird für diese Schützenhilfe sicher dankbar sein. Es fehle in der BRD der „Zugriff zu den Ergebnissen der Grundlagenforschung, die im wesentlichen in den Universitäten“ betrieben wird. Während also Gehrmanns Resultat in der Verherrlichung USamerikanischer Zustände besteht und die gesellschaftliche Bestimmtheit dieser neuen Technologie kaum erwähnt, geht das Buch von Rüben Scheller sehr viel gründlicher zu Werke. Rüben Scheller ist selbst Biologe und hat vor seinem Studium als Schichtarbeiter in der chemischen Industrie einschlägige Erfahrungen gesammelt. Seine Erfahrungen und Kenntnisse waren die Grundlage für ein Diskussionspapier zur Gentechnologie für den Deutschen Gewerkschaftsbund. Der vorliegende Band ist die erweiterte Fassung dieser Diskussionsgrundlage. Mit Erfolg versucht er, die wissenschaftliche, die technologische, die gesellschaftliche und die politische Dimension seines Themas auszuloten. Es geht Scheller nicht um die Bio-Technik, um die Industrie, um die Forschung oder den Forscher, sondern es geht ihm um die Gesellschaft als Ganze und der darin lebenden Menschen. Bei jedem Spezialthema ist bei ihm stets das Ganze der Gesellschaft präsent, und bei aller Detailfreudigkeit stellt er dies in einer Form dar, daß der interessierte Leser dem Stoff durchaus folgen kann.

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In einem einleitenden Abschnitt werden zuerst einmal die Grundlagen der Bio-Technik, von der alkoholischen Gärung über die Mendelschen Gesetze, die Entschlüsselung des Genetischen Codes, der Klonierung, der Enzymtechnik bis zu den monoklonalen Antikörpern dargestellt. Die Gefahren der Gen-Technik sieht Scheller nicht in der Technik als solcher, die seiner Meinung nach von verantwortungsbewußten Wissenschaftlern und Labortechnikern einigermaßen sicher gehandhabt werden kann; gefährlich kann es werden, wenn Forscher in der Angst um ihre Forschungsfelder die tatsächlich vorhandenen Risiken herunterspielen, wenn bereits den Studenten in ihrer Ausbildung kaum ein Bewußtsein über die Risiken und Gefahren vermittelt wird - wenn überhaupt, dann ist es mit einer kurzen Sicherheitsbelehrung getan - und vor allem dann, wenn unter dem wachsenden Konkurrenzdruck vor allem in der Industrie, aber auch an den Hochschulen, Sicherheitsvorkehrungen bewußt außer acht gelassen und Arbeitskräfte mit mangelhafter Qualifikation eingestellt werden. Daß dies nicht bloß aus der Luft gegriffen ist, zeigt die Praxis: Unter gnadenlosen Konkurrenzbedingungen kämpfen die Beschäftigten „flexibel“ 70 - 80 Stunden pro Woche erbittert um die Verlängerung ihrer Zeitarbeitsverträge ( 73 ). Ausführlich geht Scheller auf die gesellschaftliche Dimension der BioTechnik ein. Sie ist eine neue Produktivkraft der Arbeit, und sie kann daher unter den gegebenen kapitalistischen Bedingungen zur Arbeitsplatzvernichtung ebenso beitragen, wie sie die genetische Auswahl von Arbeitern für risikobehaftete Arbeitsplätze ermöglicht. Fast alle Bereiche, in denen die Bio-Technik Anwendung findet bzw. finden kann, werden behandelt. Bei Umweltschutz kommen die mögliche Schädlingsbekämpfung und die Beseitigung von Umweltschäden ebenso zur Sprache wie die Bedrohung der Umwelt durch diese Technik. Beim Thema „Entwicklungspolitik“ z.B. wendet sich Scheller gegen die oft unterstellte Annahme, daß die Bio-Technik (allein) das Problem des Welthungers beseitigen könne. Weil eben im Kapitalismus heute wie auch künftig die Nahrungsmittelproduktion ein lukratives Geschäft ist, und der Welthunger auch heute nicht trotz ausreichender Nahrungsmittelproduktion beseitigt ist, wird auch die Gen-Technik allein hier keine Beseitigung dieses Problems bringen. Der Welthunger wird durch die Anwendung der Bio-Technik eher noch zunehmen. Andere Themen, die Scheller noch behandelt, wie etwa die medizinischen Möglichkeiten, die landwirtschaftliche Nutzung, die In-vitro-Fertilisation (die unbefleckte Empfängnis!), die Forschungspolitik in der Bundesrepublik, oder die mögliche

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Produktion neuer Biologischer Waffen können hier nur genannt, aber nicht näher erläutert werden. Es ist ein lesenswertes Buch; es ist gut, wenn auch nicht immer ganz leicht zu lesen, und man hat den Eindruck, dass der Autor bei allem Materialreichtum nie das Ganze der Sache aus den Augen verliert. (Martin Schraven)

Reinhard Löw: LEBEN AUS DEM LABOR. GENTECHNOLOGIE UND VERANTWORTUNG - BIOLOGIE UND MORAL München 1985 (Bertelsmann) Löws Abhandlung umfaßt zwei, in sich gegliederte Teile. Im ersten Teil (Kap. 1-3) werden die moralischen Prinzipien aufgestellt, diskutiert und gerechtfertigt, die dann im zweiten Teil (Kap. 4-6), ausgehend von einem Oberblick über das „neue Können in der Biologie“, der Beurteilung der Gentechnologie zugrunde gelegt werden. Entsprechend stehen im ersten Teil allgemein philosophische Fragen der Begründung im Vordergrund, während der zweite unmittelbar in die wissenschaftliche und technische Praxis der Biologie einzugreifen sowie rechtliche und politische Konsequenzen zu ziehen versucht. Löw grenzt sich gegen ungebrochenes Vertrauen in die Technik ebenso ab wie gegen militante Technikfeindlichkeit. An sich hält er die Technik weder für gut noch für schlecht; ihre Entwicklung im ganzen aber muß kontrolliert und begrenzt werden. Wodurch? Durch Moral und Recht! Woher haben wir die Prinzipien der Beurteilung? Nach Löw entweder aus der Biologie oder aus dem Naturrecht! Aus der Biologie lassen sich, wie Löw zeigt, keine Prinzipien begründen; denn aus der Evolution heraus ist das Spezifische des Menschen und der Moral nicht zu begreifen. Der Fulgurationismus (Lorenz) erkennt zwar eine authentische Sphäre der Moral an, kann den Übergang von tierischen Vorformen zur menschlichen Moral aber nur als Fulguration („Blitzschlag“) und damit unzureichend erklären. Der Biologismus (Krieg, Bresch)

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und die Soziobiologie (Wilson, Dawkins) erkennen keine authentische Sphäre der Moral an und setzen tierisches (bzw. Genspezifisches) und menschliches Verhalten hinsichtlich ihres moralischen Gehalts gleich. Statt die Fulguration als Übergang der biologischen in die soziale Evolution, als Entstehen einer neuen Qualität in der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit zu begreifen, kanzelt Löw sie billig und unzutreffend als naturalistischen Fehlschluß ab. Die Möglichkeit einer gesellschaftlichen, geschichtlichen Begründung moralischer Prinzipien, einer Begründung aus der konkreten Sittlichkeit bleibt damit außer Betracht. Nicht Biologie, also Naturrecht! Löws (an Ritter und Spaemann orientierte) Auffassung des Naturrechts entzündet sich am Konkreten, Einzelnen und gründet in der „Bereitschaft mit sich selbst und anderen in ein vernünftiges Gespräch über die Rangfolge der Gesichtspunkte einzutreten, unter denen eine Handlung als gerechtfertigt erscheinen kann“ (S. 95). Zwar gibt es nichts in der Welt, was immer und unter allen Umständen gut wäre, doch gibt es Handlungen, die in jedem Fall schlecht sind. Solche nämlich, die den Menschen zum Objekt erniedrigen, seinen Personcharakter und seine Würde verletzen. Entsprechend unterscheidet Löw zwei Arten von Konflikten: die einen, die durch Güterabwägung gelöst werden können und die anderen, die keine Güterabwägung zulassen, da sie eben die Würde (als absolute Grenze) verletzen. Welche der beiden Arten vorliegt, wird auf der Grundtage des „kategorischen Fundaments“ entschieden, der Ansicht nämlich, daß das menschliche Leben mit der Befruchtung der Eizelle beginnt. Und nicht nur das, der Mensch ist für Löw darin bereits vollendet! Der Mensch „ist Mensch von der Befruchtung der Eizelle an. (...) Die befruchtete Eizelle enthält alles, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht, nichts fehlt und müßte etwa nachträglich hinzukommen“ (S. 154 f). Entwicklung, Sozialisation, menschliche Verhältnisse haben an der Ausbildung der Persönlichkeit also keinen Anteil. Hat man für die Würde des Menschen aber wirklich schon genug getan, wenn man ihn nicht abgetrieben oder seine Keimbahn manipuliert hat? Aus dem Prinzip der Würde und der durch das kategorische Fundament eingeschränkten Güterabwägung leitet Löw dann die Beurteilung der Gentechnik im Einzelnen ab. Bei weitgehender Übereinstimmung mit den Ergebnissen der „Benda-Kommission“ (Verbot von Klonen, Chimären; bedingte Zustimmung zur Retortenbefruchtung etc.) besteht dazu doch folgender Gegensatz: Löw lehnt Manipulation an befruchteten

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Eizellen sowie Embryonen verbrauchende Experimente (selbstverständlich auch Abtreibung) kategorisch ab, für die Kommission dagegen sind diese noch Teil der Güterabwägung und für medizinisch relevante Forschung erlaubt. Der Gegensatz in dieser zentralen Frage erscheint umso verblüffender, als beide ihre Ergebnisse aus dem gleichen Prinzip der Würde ableiten. Man könnte zwar (mit Spaemann) gerade den Gegensatz, den Streit als Argument für die Existenz einer Gerechtigkeit oder Würde „an sich“ betrachten. Man könnte darin aber auch ein Argument für die Beliebigkeit und den prinzipiellen Opportunismus des metaphysischen Verfahrens sehen, wo aus gleichen Prinzipien die den jeweiligen ideologischen Bedürfnissen entsprechenden Folgerungen gezogen werden können. (Konrad Lotter) Werner Schloot (Hrsg.): MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER HUMANGENETIK Frankfurt 1984 (Campus-Verlag) Nach der Marburger Tagung von 1969, als sich das erste Mal nach der Nazizeit die deutschen Humangenetiker wieder getroffen hatten, um über den Stand und die ethischen und sozialen Polgeprobleme ihrer Wissenschaft zu diskutieren, fand die zweite Tagung 1981 in Bremen statt. Der vorliegende Band protokolliert dieses Bremer Kolloquium. Obwohl W. Schloot einleitend deutlich zu machen versucht, daß die Herausforderung für die Genetik heute darin besteht, daß der Mensch durch die wachsende Erkenntnis seiner eigenen biologisch-genetischen Grundlagen die Evolution des Menschen u.U. auf eine neue Stufe hebt, machen die Beiträge diese Herausforderung kaum deutlich. Die meisten Beiträge behandeln fast ausschließlich rein fachspezifische Fragen über den Ursprung von Erbkrankheiten (H. Ritter, E. Gebhart), über genetische Defekte durch Medikamente (R. Dubbels) oder Umwelteinflüsse (W. Lenz) oder widmen sich den organisatorischen Problemen des Stands und Ausbaus der pränatalen Diagnostik (J. Bullerdiek) oder den Verfahren der genetischen Beratung (G.G. Wendt, R. Albrecht). Allein der Beitrag des Heidelberger Humangenetikers F. Vogel zur „Genetik psychischer Eigenschaften“ nimmt zu dem übergeordneten Problem des Verhältnisses von genetischer Vererbung und der Umweltprägung Stellung. Dabei will er einen „vermittelnden Standpunkt“ beziehen zwischen Wat-

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sons Behaviorismus („Gebt mir ein Dutzend Säuglinge, und ich mache euch Spezialisten jeglicher Art“) und dem unsäglichen US-Erbgutforscher A. Jensen, dem alle Psyche genetisch bedingt ist. Vogel weist zunächst einmal alle „gesicherten Ergebnisse“ über die Vererbung von Intelligenz ins Reich präfaschistischer Wunschträume und schlägt demgegenüber ein Verfahren vor, die möglichen Zusammenhänge zwischen den zunächst weit auseinanderliegenden Faktoren der genetisch bedingten Enzymproduktion der Zellen einerseits und des je bestimmten Verhaltens und Befindens des Menschen en detail zu studieren. Vogel meint, Anhaltspunkte dafür zu sehen, daß etwa zwischen der Menge der Eiweißproduktion im Gehirn und psychischen Krankheiten, wie Depression oder Schizophrenie, ein Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang dürfe allerdings nicht als ein kausaler Mechanismus verstanden werden, sondern zeuge allenfalls von einer genetischen Disposition zur psychischen Erkrankung. Reflektierter in Bezug auf das gestellte Thema „Möglichkeiten und Grenzen der Humangenetik“ erweisen sich die Beiträge des Strafrechtlers Albin Eser und des katholischen Moraltheologen Johannes Gründel. Eser unternimmt recht behutsam den Versuch, den Humangenetikern doch so etwas wie die Tatbestände des Strafrechts nahezubringen. Dabei verfolgt er im großen und ganzen eine Linie, wie sie neuerdings auch in den Ergebnissen der Benda-Kommission zu finden ist: es sei abzuwägen zwischen dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit und dem der Menschenwürde. Das Klonen von Menschen und die Genmanipulation seien zu verbieten, weil sie sich gegen „die Einmaligkeit und Unverfälschtheit der menschlichen Individualität“ richteten. Alles andere hingegen müsse auf seine eher privat- als strafrechtlichen Konsequenzen hin überprüft werden: Wer haftet für ein heterolog inseminiertes Kind? Der leibliche oder der eheliche Vater? usw. Eser fordert dabei, daß die Rechtsprechung in diesen Fragen sehr zurückhaltend vorgehen solle. Wie kann z.B. die heterologe Insemination verboten werden, solange Kinder straflos durch „Ehebruch“ oder Prostitution gezeugt und „vaterlos“ geboren werden? Das Recht, so Eser, könne nur die letzte „Notbremse“ sein und müsse dem Prinzip der Subsidiarität gehorchen. Auch Gründel legt eine für katholische Verhältnisse überraschend „liberale“ Auffassung an den Tag. Seine Argumentationsrichtung geht dahin, insbesondere die individuelle Verantwortung, das sittliche Gewissen der Einzelnen zu stärken, statt mit den Dogmensystemen der Kirche zuzuschlagen. Er warnt vor dem Kurzschluß, die künstliche Zeugung deswegen

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abzulehnen, weil sie „unnatürlich“ und damit unsittlich sei, da dies eine „falsch verstandene Metaphysizierung biologischer ... Vorgegebenheiten“ (231) sei. Auch sieht er es als durchaus vertretbar an, darüber zu diskutieren, wann dem ungeborenen Leben der juristische Schutz der Person zukommen soll. Mit dem Beginn des biologischen Lebens bei Verschmelzung von Eizelle und Samen; nach Ausschluß der Möglichkeit der Mehrlingsteilung; bei Beginn der Gehirntätigkeit? Oder will man gar der aristotelischen Theorie der „Sukzessivbeseelung“ folgen und einen Werdeprozeß der Person annehmen, der ein fixes Datum des „Person-Seins“ gar nicht zuläßt? Bei aller christlich-katholischer Grundansicht macht Gründel doch deutlich, daß eine dogmatisch verfahrende Naturrechtslehre auf sehr schwankendem Boden ruht. Abschließend faßt der Ulmer Genetiker Helmut Baitsch den Stand der humangenetischen Diskussion zusammen. Marburg und Bremen haben gezeigt, daß die (west) deutschen Humangenetiker sich von den verhängnisvollen Irrtümern der Nazizeit, den rassistischen und völkischen Ideologien befreit habe - zumindest in der Nachkriegsgeneration. Dennoch sei nicht zu übersehen, daß man jetzt in das andere Extrem falle und im Grunde nur noch den Bezug zur Diagnose, Therapie und Heilung des einzelnen Klienten herausstelle. Oft drücke man sich vor der notwendigen Verantwortung, indem man sie fast ausschließlich auf den Klienten abwälze. Zu wenig würde berücksichtigt, daß die Humangenetik durch ihre Forschungen und Anwendungen Standards setze, die eigentlich Teil der politischen Diskussion über ethische Grundfragen sein müßten und nicht nur situationsbezogen diskutiert werden dürften. Obwohl der Forschungsstand seit 1981 weiter fortgeschritten ist, insbesondere in der Gentechnologie, gibt das Buch einen guten Einblick in den Stand der Diskussion der deutschen Humangenetiker. (Alexander v. Pechmann) R. Spaemann / P. Koslowski / R. Löw (Hrsg.): EVOLUTIONSTHEORIE UND MENSCHLICHES SELBSTVERSTÄNDNIS. Zur philosophischen Kritik eines Paradigmas moderner Wissenschaft. CIVITAS Resultate Band 6 Weinheim 1964 (Acta humaniora)

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Dieser Band enthält vier Referate sowie den Bericht über die Schlußdiskussion eines Symposiums der Gesellschaft „Civitas“ im Jahre 1983, das die evolutionäre Erkenntnistheorie vor allem von K. Lorenz, R. Riedl und G. Vollmer zum Gegenstand hatte. Von verschiedenen Voraussetzungen her - nämlich wissenschaftstheoretischen, sprachanalytischen, transzendentalphilosophischen und ontologischen - wird die Evolutionstheorie einheitlich als untauglich angesehen, die philosophische Erkenntnistheorie (und Ethik) zu begründen. Hierbei ist das Vorgehen insofern eher konfrontationistisch als immanent kritisch, als von vornherein die eigenen Prämissen jeweils als Maßstab eingeführt werden. W. Stegmüller legt allerdings in seinem Beitrag „Evolutionäre Erkenntnistheorie, Realismus und Wissenschaftstheorie“ zunächst dar, daß die philosophische Erkenntnistheorie bzw. die Wissenschaftstheorie und die evolutionäre Erkenntnistheorie überhaupt nicht miteinander konfrontiert oder durcheinander ersetzt - werden könnten, weil in ihnen die Begriffe „Theorie“ und „Erkenntnis“ zweideutig verwendet werden: die philosophische Erkenntnistheorie bzw. die Wissenschaftstheorie verstehe unter „Theorie“ logische Rekonstruktion und unter „Erkenntnis“ produzierte wissenschaftliche Erkenntnisse, die Evolutionstheorie aber meine mit „Theorie“ wissenschaftliche Erklärungen und mit „Erkenntnis“ vorwissenschaftliche Fähigkeiten. (Liegt - so gesehen - die Evolutionstheorie nicht gerade der rekonstruierenden, explikativen Erkenntnistheorie als notwendige Bedingung zugrunde? Oder in welchem Zusammenhang steht und begreift sich das Rekonstruktionsverfahren selbst, das ja nicht, wie aus der Pistole geschossen, einfach da ist?) - In einem zweiten Teil geht Stegmüller auf zwei Grundannahmen der evolutionären Erkenntnistheorie ein, nämlich auf die Annahme der Bewußtseinsunabhängigkeit der Welt („metaphysischer Realismus“) und auf die Annahme der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Beide sind für ihn unhaltbar. Die evolutionstheoretische Konzeption der Annäherung an die an sich seiende Struktur der Welt entkoppele die Wahrheit von dem Wissen bzw. der rationalen Legitimation und führe die externalistische Perspektive eines „Gottesgesichtspunkts“ ein. (Ist beides allgemein und notwendig mit dem erkenntnistheoretischen Realismus verknüpft? Jedenfalls wäre es erstaunlich, wenn gerade die Materialisten mit ihrer realistischen Erkenntnistheorie unbewußt Theologen sein sollten. Was die Evolutionstheoretiker angeht, so ist sich der Rezensent noch im Unklaren, ob ihre Äußerungen insgesamt keine andere Interpretation zulassen.) Mit einer intern-realistischen,

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nicht-metaphysischen Erkenntnistheorie dagegen lässt sich nach Stegmüller die evolutionäre Erkenntnistheorie vereinbaren, weil sie ja nur eine naturwissenschaftlich erklärende und somit eine philosophisch neutrale Theorie sei. Auf jeden Fall müsse diese aber ihre Kant-Interpretation aufgeben, d.h. ihre Interpretation des Kantischen Apriori als evolutionäres Aposteriori, da diese Kant-Interpretation eine verfehlte cartesianische Umdeutung sei, indem sie aus Aussagen apriori angeborene Ideen mache. Hier ließe sich einwenden, daß für Kant nicht nur die reinen Anschauungsformen, sondern auch die Kategorien sowie die Ideen der Totalität primär keine Aussagen sind. Außerdem liegt die Lehre vom Ding an sich (die schwerlich als nicht-konstitutiv für Kants Konzeption verworfen werden kann) wiederum auf der Linie des „metaphysischen Realismus“ der Evolutionstheoretiker. Schließlich bleibt fraglich, wie mit einem internalistischen Ansatz der Wissensimmanenz die Konsequenz des Solipsismus vermeidbar sein könnte. Wer aber aus dem Solipsismus herausfindet, dürfte auch keine Schwierigkeiten haben, die vom „metaphysischen Realismus“ behauptete Bewußtseinsunabhängigkeit der Welt einschließlich der natürlichen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen des Wissens - einzuräumen. Nach H. M. Baumgartners Darstellung in seinem Beitrag „Die innere Unmöglichkeit - einer evolutionstheoretischen Erklärung der humanen Welt“ setzt jede wissenschaftliche Erklärung schon die Vernunft voraus, und ist „das Faktum der Vernunft nicht hintergehbar“, so daß „die Vernunft aus einer natürlichen Entwicklung des Lebens, d.h. naturgeschichtlich, nicht erklärt werden kann“ (70). Die Evolutionstheorie begehe den „vitiösen Zirkel“, die Wahrheit bzw. Angepaßtheit der menschlichen Vernunft an die Außenwelt mit Hilfe einer Theorie erklären zu wollen, die die Wahrheit bzw. Angepasstheit schon unterstellt. Hier wird der Evolutionstheorie also eine Variante des alten oft widersprochenen idealistischen Argumentationsschemas entgegengehalten, wonach nur innerhalb des Bewußtseins vom Sein die Rede sein könne. Die absurde Konsequenz wäre nicht nur der Solipsismus, sondern die Leugnung, daß der Mensch ein Naturprodukt ist. Wenn es aber zugestanden wird, daß der Mensch ein Naturprodukt ist, kann nicht vernünftigerweise bestritten werden, daß auch das Bewußtsein und die Vernunft des Menschen ein Naturprodukt sind. Sozusagen noch tiefer in die Naturlosigkeit führt die menschlichen Subjekte F. Kambartel mit seinem Beitrag „Zur grammatischen Unmöglichkeit einer evolutionstheoretischen Erklärung der humanen Welt“. Die universelle Evolutionstheorie begehe den Fehler, die Sprache - die Vorausset-

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zung des Weltverständnisses - unterschiedslos auf physikalische, chemische, biologische und menschliche Bereiche anzuwenden. Für die Sprache gelte allgemein: „Die grammatisch neue Situation kann aus dem, was ihr vorausgeht, dann auch nicht erklärt oder verstanden werden“ (42). Über „den unerklärlichen Übergang zu neuen Entwicklungen“ könne man sprachlich nur „erzählen“ oder „berichten“, „wann was gewesen und geworden, nicht woraus und wodurch es gewesen und geworden ist“ (43). Da aber schon jeder einfache Satz Identität und Differenz vereinigt („die Rose ist rot“), kann Kambartel nicht einsichtig machen, warum die Sprache nicht sowohl den einheitlichen Entwicklungszusammenhang wie die neuen unterschiedlichen Formen zum Ausdruck bringen können sollte. Nach R. Spaemanns Ausführungen unter dem Titel „Sein und Gewordensein. - Was erklärt die Evolutionstheorie?“ läßt sich die menschliche Subjektivität grundsätzlich nicht aus ihren Entstehungsbedingungen ableiten. Vor allem die „Negativität“ könne von der vergegenständlichenden Wissenschaft der Evolutionstheorie nicht rekonstruiert werden. Diese „Negativität tritt auf drei Stufen auf: l. als Schmerz 2. als Andersheit, als Nicht-ich 3. als Gedanke des Absoluten“ (85). Das Absolute, Unbedingte werde im Selbstverständnis des Menschen als einer „individuellen Substanz“ faktisch erfahren und bedürfe definitionsgemäß „keines eigenen Aufweises seiner genetischen Unkonstruierbarkeit“ (83). Dementsprechend ist also die Subjektivität für Spaemann eine unbeweisbare Voraussetzung. Auffällig ist, daß hier wie in allen Beiträgen des vorliegenden Bandes das Verhältnis von Subjektivität und Entstehungsbedingungen bzw. von Sollen und Sein letztlich nur in der Alternative einer strikten Trennung oder eines naturalistischen Reduktionismus erörtert wird, ohne dass der dialektische Gedanke eines nicht-reduktionistischen Zusammenhangs zur Sprache kommt (zu schweigen von der Dialektik der absoluten und der relativen Wahrheit, wie sie zuerst in Hegels Konzeption des absoluten und des objektiven Geistes thematisiert worden ist). Ähnlich dualistisch mutet die Trennung der diskreten Einheiten von der individuellen Substanzen vom kontinuierlichen kollektiven Prozeß an. Wenn außerdem angenommen wird, daß die menschliche Subjektivität in der Weise unableitbare Voraussetzung sei, daß wir „nach Analogie zwischenmenschlichen Verstehens“ die Welt außer uns zu deuten haben (als selbstzweckhafte Einheiten im teleologischen Sinne), dann erscheint hier insbesondere die Methode der Analogie legitimationsbedürftig. Nicht zuletzt aber läßt sich gegen das Projekt des Widerstands gegen die moderne Wissenschaft folgendes Argument vorbringen: Vergegenständli-

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chung, Verobjektivierung der Subjektivität erfolgt nicht erst durch die wissenschaftliche Rationalität (speziell in Gestalt der Evolutionstheorie oder der technischen Naturbeherrschung), sondern notwendigerweise in allen sprachlichen Äußerungen, auch in den vernünftigen sokratischen Gesprächen in lebensweltlichen Situationen. Infolgedessen kann die Verobjektivierung kein Kriterium dafür sein, daß in der Kontroverse um das menschliche Selbstverständnis die Wissenschaft, speziell die Evolutionstheorie, zugunsten des Diskurses der Individuen ausscheiden muß. Der in den vier Beiträgen zum Ausdruck gekommene Konsens in der Ablehnung der Evolutionstheorie bzw. ihrer philosophischen Relevanz, der auch in der Schlußdiskussion hervorgehoben worden ist, scheint massiv und gleichsam vernichtend zu sein. Aber was bedeutet ein Konsens auf der Grundlage von größtenteils unvereinbaren Prämissen? Theoretisch wohl kaum etwas, praktisch aber viel. (Elmar Treptow)

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