„Ich bin ein Gast in diesem Leben“ (Jehuda Amichai) Guten Abend

January 9, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Religionswissenschaft, Judentum
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„Ich bin ein Gast in diesem Leben“ (Jehuda Amichai) Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Gries, vielen Dank für die Ehre, einen Vortrag im Rahmen eines so wunderbaren Programms halten zu dürfen. Das Thema der musikalischen Veranstaltungsreihe, die mit dem heutigen Abend eröffnet wird, heißt „Die Musik und der Tod“. Ich möchte heute Abend aber nicht über den Tod, sondern über das Leben sprechen. Oder besser gesagt, über den Tod als einer Etappe des Lebens, denn so versteht man den Tod im Judentum. Man versucht oft im Judentum die negativen Begriffe positiv zu besetzen. So werden in der jüdischen Tradition beispielsweise für den Friedhof die Namen wie „Haus des ewigen Lebens“ oder „Haus der Ewigkeit“ bzw. „guter Ort“ verwendet. Die Tora beinhaltet keine direkten Aussagen über den Tod und über die Existenz nach dem Sterben, nur Hinweise. Im Mittelpunkt der Tora steht das Leben, denn nur im Leben kann Gegenwart Gottes gefunden werden. Nach dem jüdischen Glauben hat Moses am Sinai aber nicht nur die schriftliche Thora erhalten, sondern auch die mündlich überlieferte Lehre, die Grundlage des Talmuds, die mit Erklärungen und Geschichten hilft, die Bibel zu verstehen. Der Talmud gibt eine genauere Auskunft darüber, was nach dem Tod passiert, wobei man anmerken muss, dass es kein starres theologisches System diesbezüglich gibt. Im Judentum hat es bereits sehr früh (manche sagen: immer) einen Glauben an ein Leben nach dem Tod gegeben. Die Welt, in der wir leben, wird als ein Vorzimmer zu einer anderen Welt betrachtet. Man glaubt an ein Weiterleben der Seele in der anderen Welt, wo die Seele vor Gericht kommt. Solche Themen wie die Unsterblichkeit der Seele, die Auferstehung der Toten, die Reinkarnation und das Weiterleben in den eigenen Nachkommen sind sehr spannend aber auch umfangreich und die zu erläutern würde den Rahmen sprengen. Deswegen würde ich heute Abend gerne nur einige ganz wenige Aspekte herausgreifen und versuchen, sie etwas näher zu beleuchten. Wir hören heute eine Vertonung von Kaddisch von Maurice Ravel. Daher würde ich gerne ein paar Worte über das Kaddischgebet und seine Bedeutung sagen. Kaddisch bedeutet „heilig“ und ist einer der ältesten jüdischen Gebete. Es wurde in Aramäisch, nicht in Hebräisch geschrieben. Aramäisch war seinerzeit die Sprache des Volkes. So konnten ungelehrte Menschen den Inhalt besser verstehen. Es existieren verschiedene Kaddisch-Fassungen, das Kaddischgebet kommt in verschiedenen Versionen in der Liturgie vor. Wir sprechen heute über das sogenannte „Kaddisch der Leidtragenden“ – ein Memorial-Gebet. Die von mir bereits angesprochene Vorstellung des Weiterlebens in den eigenen Nachkommen bedeutet die ganze Information der Eltern und derer Vorfahren an die nächste Generation weiter zu geben. Die gläubigen Juden sehen das jüdische Volk

als eine Kette, ein Volk, das die Aufgabe übernommen hat, die Einsheit Gottes zu bezeugen. Wenn ein Jude stirbt, entsteht eine Lücke unter jenen, die die Gebote befolgen. Nach jüdischem Glauben steigt die Seele des Verstorbenen zu Gott empor, wenn sein Sohn oder ein anderer Angehöriger seinen Platz einnimmt und seine Pflichten übernimmt. Nach dem Tod der Eltern übernehmen die Kinder, die nächsten Glieder in der Kette, deren Aufgaben. So wird das Fortbestehen dieser Kette auch durch das Kaddischgebet symbolisiert. Jetzt einige Worte zur Bestattungszeremonie: Im Judentum ist nur eine Erdbestattung erlaubt, man darf die Toten nicht einäschern. Der Verstorbene wird in einem einfachen Sarg aus Holz (in Israel sogar ohne Sarg, gewickelt in ein Leichentuch) in das Grab heruntergelassen. Jeder Beerdigungsteilnehmer wirft drei Schaufeln Erde in das Grab, und ein naher Verwandter, wenn möglich der älteste Sohn, sagt das Kaddischgebet. Der älteste Sohn sagt dieses Gebet nicht nur beim Begräbnis, sondern auch dreimal täglich und das elf Monate lang. Es ist die Vorstellung verbreitet, dass sich die Seele nur elf Monate einem Läuterungsprozeß unterziehen müsse. Das ewige Fegefeuer gibt es nicht. Kaddisch wird auch jedes Jahr zum Tag der Jahrzeit rezitiert – dem Jubiläum des Todestages nach jüdischem Kalender. Kaddisch darf nur in der Öffentlichkeit, das heißt mit einem Minjan rezitiert werden – einem Quorum von mindestens 10 jüdischen männlichen Erwachsenen (13 Jahre und älter). Es ist sehr interessant, dass das Kaddischgebet (das Memorialgebet!) an sich inhaltlich nichts mit dem Tod zu tun hat: der Tod, das Begräbnis, die Trauer oder der Verstorbene werden mit keinem Wort erwähnt. Das Gebet enthält ausschließlich ein Lob Gottes. Man könnte sich fragen, wie kann dann dieses Gebet Hinterbliebenen in ihrer Trauer oder den Verstorbenen helfen? Dennoch hat es sowohl eine psychologische als auch eine für die Seele des Verstorbenen heilende Wirkung. Wenn mitten im Schmerz und persönlichem Verlust – wo die Neigung, Gott anzuklagen und gar abzulehnen, aufkommen mag – ein Mensch trotzdem aufsteht und öffentlich diese Worte des Glaubens und des Gottesvertrauens ausdrückt, so ist das sicherlich eine Handlung großen Verdienstes für die Seele des Verstorbenen, da dieser ein Kind großgezogen hat, dass solchen Gottesvertrauens fähig ist. Wenn der Sohn in Anwesenheit vieler Menschen Kaddisch sagt, hilft er der Seele seines Vaters oder seiner Mutter aufzusteigen. Somit kann das Kaddischgebet nur indirekt als ein „Totengebet“ gesehen werden. Auch für die Person, die Kaddisch sagt, ist es eine Art Autotraining: man vertraut auf die Weisheit Gottes, dass alles in der Welt so geschieht, wie es geschehen muss. „Unter Tränen wird uns der Lobpreis Gottes geboten“. Durch die Liebe, die man gibt, durch religiöse Gebote wie Wohltätigkeit (Mitzwot), die man ausführt und durch das Tora lernen hilft man der Seele des Verstorbenen aufzusteigen. So wird der Tod in einen Akt des Lebens verwandelt. Im Anschluss an die Beerdigung folgen 7 Tage der intensiven Trauer (Schiwa). Da die Trauernden in dieser Zeit das Haus nicht verlassen, sondern auf niedrigen Hockern sitzend von Verwandten, Freunden und Gemeindegliedern besucht und umsorgt werden, wird diese Phase auch als Schiwe-Sitzen bezeichnet. Als Zeichen

der Trauer verzichtet man auf alles, was Freude bringen kann. Das Lesen in der Thora soll ebenso unterlassen werden, da es Freude bereitet. Am Schabbat wird die Trauer unterbrochen, da der Sabbattag ein Freudentag ist. Der Sabbat unterbricht die Schiwa, ein Festtag hebt sie auf, denn es gilt das Recht des Lebens über den Tod, der Freude über die Trauer. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, finde ich, der maßgeblich zum Verständnis des Judentums beiträgt – das Recht des Lebens über den Tod. Die ganze Geschichte des jüdischen Volkes ist ein Beweis dafür. Ganz interessant aus meiner Sicht zu erwähnen, dass auch der oft sehr humorvoller Umgang der Juden mit theologischen Themen ein Beweis für ihre Lebensfreude und Lebensmut ist. Josef Joffe hat mal gesagt: „Im Judentum ist der Witz der freche, kleine Bruder der Theologie. Er erklärt, wer Gott ist und was er von uns will.“ Und das Thema Tod ist dabei keine Ausnahme. Man sagt, dass ein jüdischer Witz ein Theologieseminar in ein paar Sätze fassen kann. Ich möchte an der Stelle ein Gedicht von Jehuda Amihai vortragen. Das Gedicht heißt „Ich bin ein Gast in diesem Leben“. Ich bin ein Gast in diesem Leben, doch ich sehe, meine Gastgeber werden allmählich müde und ungeduldig. Bäume zittern, Wolken ziehen schweigend, Berge rücken von einem Ort zum andern, der Himmel gähnt. In den Nächten bewegen die Winde unruhig allerlei Dinge: Rauch, Menschen, Lichter. Ich trage mich in Gottes Gästebuch ein: Ich kam, verweilte, es war gut, ich habe genossen, habe gesündigt, betrogen – der Empfang in dieser Welt hat mich sehr beeindruckt. Jüdische Witze über Tod sind die Hinnahme des Unergründlichen und Unabänderlichen, freilich mit einem besonderen Kick: dem Gelächter, das über Wut und Verzweiflung hinwegtröstet. Ich habe neulich im Internet ein Bild von einem Grab aus Israel gesehen. Das war das Grab einer alten Frau. Und neben Ihrem Namen und anderen Angaben, die man immer auf einem Grabstein macht, steht ein Rezept ihrer berühmten Teigtaschen, die sie für ihre Kinder und Enkelkinder immer zubereitet hat. Es ist ein Akt des Lebens. Oder wenn ich bei YouTube ein Video sehe, wo der Holocaust-Überlebender, ehemaliger Auschwitz Häftling Adolek Kohn, der mittlerweile 89 Jahre alt ist, mit seiner Tochter und drei Enkelkindern vor der Aufschrift „Arbeit macht frei“ in Ausschwitz zum Lied „I will survive“ tanzt, dann ist es für mich ein weiterer Beweis dafür, dass das Recht des Lebens über den Tod gilt. In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit und wünsche uns allen einen wunderschönen Abend!

Quellen: Rabbiner Chajim Halevy Donin „Jüdisches Leben“ Schalom Ben-Chor „Bettendes Judentum“ Wolfgang Sunderbrink „Das Kaddsich-Gebet neue Einsichten“ (www.talmud.de) „Tod, Trauer und das Schicksal der Seele im Judentum“ (www.kabbala-heute.de) Private Gespräche mit dem Kasseler Rabbiner Schaul Nekrich.

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