Jugendstrafrecht

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Sozialwissenschaften, Psychologie
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Prinzipien des Jugendstrafrechts 1. Strafrechtliche Ordnung 2. Sonderstrafrecht 3. Modellfrage 4. Täterbezogenes Strafrecht 5. Erziehungsgedanke 6. Mehrspurigkeit 7. Verhältnismässigkeit 8. Opportunität 9. Organisatorische Verselbständigung

1. Strafrechtliche Ordnung Das Jugendstrafrecht ist eine strafrechtliche Ordnung. Mit der Beibehaltung dieses Grundsatzes wurde in der StGB-Revision der Vorschlag verworfen, abweichendes Verhalten Jugendlicher in einem Jugendwohlfahrtsgesetz zu regeln. Ein solches Gesetz hätte neben den Folgen deliktischen Verhaltens auch die im ZGB geregelten Schutzmassnahmen sowie öffentlich-rechtliche Jugendschutz- und Förderungsmassnahmen enthalten können. Abgesehen davon, dass dem Bund die verfassungsmässige Kompetenz für eine so umfassende Regelung gefehlt hätte, wurde sie auch aus inhaltlichen Überlegungen abgelehnt.

Gründe für die strafrechtliche Anknüpfung Zum einen wollte man den Unterschied zwischen strafbarem Verhalten und andern abweichenden Verhaltensweisen verdeutlichen und damit das Bewusstsein Jugendlicher für die besondere Bedeutung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter schärfen. Zum andern bestanden Bedenken, weil ein Jugendwohlfahrtsgesetz einerseits im Bereich der leichten, andererseits in dem der besonders schweren Delikte keine adäquaten Reaktionsweisen zu bieten vermöchte. Im Bereich der statistisch häufigen leichten Verstösse besteht das Bedürfnis nach einfach bestimmbaren tarifartigen Sanktionen mit blossem Warncharakter. In jenem der seltenen schweren Verbrechen müssen im generalpräventiven Interesse auch Sanktionen mit eindeutigem Strafcharakter zu Verfügung stehen. Im alten Jugendstrafrecht war die Kluft zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht als zu gross empfunden worden.

Nur der Jugendliche verantwortlich Eine Folge der strafrechtlichen Ausrichtung ist, dass nur der Jugendliche für sein Verhalten strafrechtlich verantwortlich gemacht wird. Neuerdings wird gefordert, dass auch die Eltern bei krassen Pflichtverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden, wie das ansatzweise in England geschieht. In der Schweiz haften die Eltern für die Delikte ihrer Kinder strafrechtlich höchstens dann, wenn sie sich daran beteiligt haben. Falls sie Straftaten ihrer Kinder decken oder vertuschen, begehen sie den Tatbestand der Begünstigung, Art.305 StGB, doch werden sie sich in dem allermeisten Fällen auf das in Abs.3 vorgesehene Privileg nahestehender Personen berufen können.

Erziehungsverantwortung der Eltern In extremen Fällen von erzieherischen Pflichtverstössen können Eltern oder andere Erziehungspersonen nach Art.219 StGB wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ferner können die Eltern allenfalls nach Art.333 ZGB als sog. Familienhaupt zivilrechtlich schadenersatzpflichtig sein, sofern sie im Rahmen der milden Kausalhaftung nicht nachweisen können, dass sie ihre Sorgfaltspflicht in der Führung und Beaufsichtigung der Kinder genügend wahrgenommen haben. Laut Art.12 JStPO müssen die Eltern im Strafverfahren gegen ihr Kind mitwirken. Nichtbefolgen dieser Pflicht kann mit einer Busse bis zu 1000 Franken geahndet werden.

Kindsschutzverfahren nach ZGB Im Unterschied zum täterorientierten Jugendstrafverfahren ist das Kindsschutzverfahren nach ZGB familienzentriert, obwohl dort gleichartige Schutzmassnahmen angeordnet werden können, die meist auch in den gleichen Einrichtungen vollzogen werden. Während jugendstrafrechtliche Schutzmassnahmen zu 80% gegen männliche Jugendliche angeordnet werden, die fast immer verteidigt sind, betreffen 64% der zivilrechtlichen Verfahren Mädchen, denen in der Regel keine Rechtsvertretung zur Seite steht. Dennoch werden die zivilrechtlichen Massnahmen von den Jugendlichen und deren Familien besser akzeptiert. Vgl. zum Vergleich der beiden Verfahrensarten: Michelle Cottier, Subjekt oder Objekt? Bern 2006

2. Sonderstrafrecht Das Jugendstrafrecht ist eine lex specialis, die ausschliesslich für die altersmässig begrenzte Tätergruppe anwendbar ist. Der Gedanke des Sonderrechts wird heute noch zusätzlich betont, indem die Regelung in einem speziellen Gesetz erfolgt. Dies im Gegensatz zur früheren Gesetzesfassung, wo das Jugendstrafrecht im Allgemeinen Teil des StGB (Art.82-99 aStGB) enthalten war. Für die unterstellte Altersgruppe gelten aber die im Besondern Teil des StGB sowie im Nebenstrafrecht formulierten Verbotstatbestände gleich wie für Erwachsene, doch werden die dort vorgesehenen Erwachsenen-Sanktionen durch die besondern, im Jugendstrafgesetz geregelten Jugend-Sanktionen ersetzt.

Nur noch eine Altersgruppe Im Gegensatz zum frühern Jugendstrafrecht, das zwei Altersgruppen (Kinder von 7-14 Jahren und Jugendliche von 15-18 Jahren) unterschied, kennt das JStG nur noch eine Altersgruppe (von 10-18 J.). Obwohl die Klassifizierung nach Altersgruppen entfallen ist, besteht sie im Bereich der Strafen faktisch weiter: Weil Geld- und Freiheitsstrafen sowie längere persönliche Leistungen erst ab 15 Jahren anwendbar sind, kommen für Jugendliche unter 15 Jahren als Strafe nur der Verweis (evtl. mit Probezeit) oder die persönliche Leistung bis zu 10 Tagen in Betracht. In diesem Sanktionsbereich ist die Grundsatzfrage, wie weit bei Kindern überhaupt ein Verschulden vorliegen kann, ebenso vernachlässigbar wie die Problematik, dass das allfällige Vorliegen eines Verschuldens im Einzelfall gar nicht konkret geprüft wird.

Untergrenze 10 Jahre Kinder unter 10 Jahren sind nicht strafbar, d.h. es kann gegen sie kein Strafverfahren durchgeführt werden, selbst dann nicht, wenn sie im objektiven Sinn eine Straftat begangen haben. Ein solches Verhalten kann aber Anlass sein, um eine zivilrechtliche Kindsschutzmassnahme im Sinn von Art. 307 ff. ZGB zu prüfen, z.B. eine Beistandschaft oder einen mit einer Unterbringung verbundenen Obhutsentzug. Gemäss Art.4 JStG ist deshalb die zuständige Behörde in derartigen Fällen verpflichtet, die gesetzliche Vertretung zu benachrichtigen und, falls das Kind Hilfe benötigt, die Kindsschutzbehörde einzuschalten.

Obergrenze 18 Jahre Mit 18 Jahren beginnt Erwachsenenstrafrecht. Die Grenze zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht ist in der Schweiz in dem Sinne hart ausgestaltet, dass es keine Übergangsaltersgruppe gibt. Einzig im Massnahmenvollzug gibt es eine leichte Überschneidung, indem Jugendliche im Rahmen der Unterbringung gestützt auf Art.16 Abs.3 vom 17. Lebensjahr an in eine Einrichtung für junge Erwachsene eingewiesen werden können. Viele Länder kennen flexible Übergänge; z.B. kann in Deutschland das Gericht die 18- bis 21-Jährigen dem Jugendstrafrecht unterstellen, insbesondere wenn sie nach ihrer „sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstehen“, § 105 I Nr.1 JGG. Tatsächlich wenden die deutschen Gerichte für diese Altersgruppe häufiger Jugend- als Erwachsenenstrafrecht an. Auch der Europarat empfiehlt, Täter bis 21 Jahre dem Jugendstrafrecht zu unterstellen.

Gemischte Fälle Wenn Jugendliche sowohl vor als auch nach Erreichen der Altersgrenze Straftaten begangen haben, die im gleichen Verfahren zu beurteilen sind, wird nach Art.3, Abs.2 Erwachsenenstrafrecht angewendet, falls eine Strafe auszusprechen ist. Mit der neuen Abgrenzung werden die meisten Übergangstäter nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Allerdings wird diese Konsequenz durch den Art.49, Abs.3 StGB abgefedert, wonach die im Jugendalter begangenen Delikte bei der Bildung einer Gesamtstrafe nicht stärker ins Gewicht fallen dürfen, als wenn sie für sich allein beurteilt worden wären. Falls in den gemischten Fällen eine Massnahme am Platz ist, kann laut dem 3.Satz von Art.3, Abs.2 Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewendet werden, je nach dem, was „nach den Umständen erforderlich“ ist. Für diese „Umstände“ sind das Alter, die persönlichen Verhältnisse, die Schutzinteressen der Öffentlichkeit und die Möglichkeiten im Vollzug massgeblich.

Art.3 Persönlicher Geltungsbereich 1 Dieses Gesetz gilt für Personen, die zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben. 2 Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen, so ist hinsichtlich der Strafen nur das StGB anwendbar. Dies gilt auch für die Zusatzstrafe (Art. 49 Abs. 2 StGB), die für eine Tat auszusprechen ist, welche vor Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurde. Bedarf der Täter einer Massnahme, so ist diejenige Massnahme nach dem StGB oder nach diesem Gesetz anzuordnen, die nach den Umständen erforderlich ist. Wurde ein Verfahren gegen Jugendliche eingeleitet, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat bekannt wurde, so bleibt dieses Verfahren anwendbar. Andernfalls ist das Verfahren gegen Erwachsene anwendbar.

Verfahren in den gemischten Fällen Ob in den gemischten Fällen das Jugend- oder das Erwachsenenverfahren angewendet wird und somit das Jugend- oder das Erwachsenengericht zuständig ist, entscheidet sich danach, ob das Verfahren vor oder nach dem 18. Geburtstag eingeleitet wurde. Einige Kantone hatten nach der Einführung des JStG gestützt auf die Entstehungsgeschichte und den italienischen Wortlaut („in questi casi“) angenommen, diese Regel beziehe sich nur auf die im 3. Satz von Abs.2 geregelten Massnahmefälle. Das Bundesgericht hat in BGE 135 IV 206 ff. aber entschieden, dass die Regel für alle gemischten Fälle anwendbar ist. Dennoch wäre, wie Christof Riedo (Wenn aus Kälbern Rinder werden, AJP 2010, 176 ff.) gezeigt hat, die Beschränkung auf Massnahmenfälle in der Sache richtig.

Anwendbarkeit von StGB-Bestimmungen Wie weit andere Bestimmungen als die Tatbestände des Erwachsenenstrafrechts anwendbar sind, regelt Art.1 JStG. Die dort aufgenommene Liste von Bestimmungen des Allgemeinen Teils und des Dritten Buchs des StGB, die auf Jugendliche ergänzend Anwendung finden, ist abschliessend. Das heisst, die nicht genannten Bestimmungen sind nicht anwendbar. Die anwendbaren StGB-Bestimmungen betreffen: Art.1-33 Strafbarkeit Art.47-51 Strafzumessung Art.56 und 56a Massnahmen-Grundsätze Art.74 ff. Vollzugsgrundsätze Art.333 ff. Organisatorische Regeln aus dem 3.Buch

Nur sinngemässe Anwendung Auch wenn die ausdrücklich genannten Bestimmungen angewendet werden, soll dies immer nur sinngemäss erfolgen, d.h. entsprechend dem Sinn und den besondern Grundsätzen des Jugendstrafrechts (Art.1 Abs.3 JStG). Insbesondere sind das Alter und der Entwicklungsstand zu Gunsten des Jugendlichen zu berücksichtigen (z.B. weniger strenge Massstäbe bei der Beurteilung von Sorgfaltspflichten oder bei der Vermeidung eines Verbotsirrtums).

3. Unterschiedliche Modelle In der rechtsvergleichenden Literatur ist es üblich, zwischen einem Wohlfahrtsmodell (oder Erziehungsmodell) und einem Justizmodell zu unterscheiden. In neuerer Zeit werden teilweise auch die Restorative Justice[1] und die Diversion[2] als Modelle bezeichnet, doch finden beide nur bei leichterer Delinquenz Anwendung und betreffen somit nur Teilgebiete. Zudem lassen sie sich sowohl mit einem Wohlfahrts- als auch mit einem Justizmodell verbinden. Weidkuhn[3] verwendet den Begriff „Kinderrechtsmodell“ für ein Jugendstrafrecht, das sich vor allem am Regelungsmodell der internationalen Konventionen orientiert. Da das internationale Recht unabhängig von der Modellfrage Eingang in die nationale Gesetzgebung finden sollte, stellt es jedoch eher eine übergeordnete Struktur als ein Modell dar. [1] z.B. Holderegger S.4 [2] z.B. Weidkuhn S.12 f. [3] Weidkuhn S.16 f.

Wohlfahrts- oder Erziehungsmodell Im Wohlfahrtsmodell (social welfare model), auch Erziehungsmodell genannt, stehen weniger die Straftat und das Verschulden, sondern stärker die Person des Jugendlichen und seine Bedürfnisse nach erzieherischer oder therapeutischer Einwirkung im Vordergrund. Die Entscheidungsträger sind pädagogisch motiviert, sie verfolgen das Ziel, durch individualisierte Sanktionen eine Korrektur des Fehlverhaltens zu bewirken. Die angestrebte Wirkung ist wichtiger als die Anknüpfung an die Tat. Typisch sind deshalb offene oder unbestimmte Sanktionen, die in einem wenig förmlichen Verfahren festgelegt werden.

Justizmodell Das Justizmodell orientiert sich wie das Erwachsenenstrafrecht am straffälligen Verhalten und ahndet dieses mit einer tatproportionalen Sanktion, die mit Rücksicht auf die verminderte Schuldfähigkeit im Vergleich milder ist. Es betont die Verantwortlichkeit des jugendlichen Täters und versucht, diesen mit der „verdienten“ Strafe zu beeindrucken und zu beeinflussen. Das Verfahren ist förmlich, gerichtsähnlich, es gelten ähnliche Verfahrensgarantien wie bei den Erwachsenen. Dadurch sollen Transparenz und Gleichbehandlung garantiert und der Jugendliche auf seine Eigenverantwortung angesprochen werden. Die Entscheidungsträger sind primär juristisch motiviert.

Modellfrage und die Schweiz Beide Modell sind Idealtypen und nirgends in reiner Form verwirklicht. Doch unterscheiden sich die Ordnungen der einzelnen Länder markant, indem sie stärker zum einen oder andern Modell tendieren. In diesem Sinne steht das schweizerische Jugendstrafrecht deutlich dem Wohlfahrts- oder Erziehungsmodell nahe. Das heisst aber weder, dass der Tatbezug bedeutungslos wäre, noch dass keinerlei Verfahrensgarantien bestünden. Vielmehr ist auch in der Schweiz das Verfahren in den Fällen gerichtlich und förmlich, wo schwere Straftaten zu beurteilen sind und deshalb ernsthafte Sanktionen ausgesprochen werden.

Kontrast: USA • Eindeutiges Justizmodell • Negative Generalprävention • Adult time for adult crime • Just deserts, mandatory prison terms • Truth in sentencing Neuerdings scheint der punitive Konsens als Folge der durch Untersuchungen belegten Erfolglosigkeit wieder abzubröckeln.

4. Täterbezogenes Strafrecht Im Vordergrund steht beim Jugendstrafrecht die spezialpräventive Zielsetzung. Durch die Sanktionierung soll ein unerwünschtes Verhalten beendet und dessen Wiederholung verhindert werden. Es geht darum, Grenzen zu ziehen und allfälligen weitern Taten vorzubeugen. Grenzziehung und Rückfallverhütung machen ein anderes Verständnis der Straftat erforderlich. Die Straftat ist nicht die „Sünde“, die im Sinn von „Negation der Negation“ (Hegel) durch die Zufügung eines als gleichwertig definierten Übels getilgt wird. Vielmehr soll die Straftat Anlass sein, sich mit dem Jugendlichen als Person zu befassen und zu prüfen, welche Intervention und Sanktion zu seiner Entwicklung und zur angestrebten Deliktfreiheit beitragen kann.

Anknüpfung an die Person Das Jugendstrafverfahren knüpft zwar an die Straftat an, die Tat ist unerlässliche Voraussetzung, darüber hinaus kommt ihr aber eine weniger ausschlaggebende Bedeutung zu. Das strafbare Verhalten hat vielmehr Symptomcharakter, es zeigt an, dass eine Reaktion erfolgen und eine Verhaltensänderung angestrebt werden muss. Wie die Sanktion konkret ausgestaltet ist, ergibt sich nicht nur aus dem begangenen Unrecht, sondern auch aus der Persönlichkeit, dem Entwicklungsstand, der Sanktionsempfindlichkeit und den Lebensverhältnissen des individuellen Täters. Das spezialpräventiv Wirksame kann nicht aus der Tat und dem Verschulden allein abgeleitet werden, es muss aus den persönlichen Verhältnissen des Täters erschlossen werden. Wir sprechen deshalb vom täterbezogenen (oder täterorientierten) Jugendstrafrecht im Gegensatz zum tatbezogenen Erwachsenenstrafrecht.

Verschulden bleibt wichtig Voraussetzung für die Anordnung jugendstrafrechtlicher Sanktionen wäre deshalb in allen Fällen eine Persönlichkeitsabklärung. In Art.9 besteht dafür das gesetzliche Instrumentarium. Allerdings ist es angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht möglich, und wegen der mit der Abklärung verbundenen Eingriffe auch nicht zumutbar, in allen Fällen eine derart individualisierende Untersuchung durchzuführen. In den praktisch weitaus meisten Fällen von leichter Jugenddelinquenz unterbleibt deshalb die eingehende Abklärung. Die Persönlichkeitsbeurteilung erschöpft sich darin, oberflächlich zu prüfen, ob krasse Auffälligkeiten auf eine Gefährdung hinweisen. Soweit dies nicht der Fall ist, wird ohne weitere Abklärung auf eine „normale“ Entwicklung geschlossen. Die Festlegung der Sanktion, in diesem Fall einer Strafe, geschieht dann schematisch nach dem Verschuldensprinzip, d.h. auf Grund der begangenen Straftat.

Positive Generalprävention Bei den (seltenen) ganz schweren Straftaten spielt das Delikt eine dominante Rolle, zumindest für die hohe Strafe, die neben der in der Regel zusätzlich ausgesprochenen Schutzmassnahme angeordnet wird. Lange Freiheitsstrafen lassen sich nicht bloss spezialpräventiv begründen. Sie dienen in erster Linie der Beruhigung der Öffentlichkeit und damit dem generalpräventiven Anliegen, vor allem im Sinn der positiven Generalprävention. Deshalb erfolgt hier die Anknüpfung sehr stark an die begangenen Delikte. Das äussert sich auch darin, dass die hohen Freiheitsstrafen nach Art.25, Abs.2 JStG nur für abschliessend geregelte Schwerstverbrechen verhängt werden können, die auch bei den Erwachsenen mit Höchststrafen bedroht sind.

Fazit: Kein reines Täterstrafrecht Das täterbezogene Jugendstrafrecht ist nicht etwas ganz Anderes als das tatbezogene Erwachsenenstrafrecht. Es handelt sich um eine Akzentverschiebung. Die Berücksichtigung der Persönlichkeit und das Bestreben, die Sanktion darauf abzustimmen, spielen eine wesentlich grössere Rolle als bei den Erwachsenen. Dennoch wird dem Verschulden entsprechend die Tat bestraft und nicht der Täter für seine Lebensführung zur Verantwortung gezogen. Das Jugendstrafrecht ist deshalb kein reines Täterstrafrecht, wie es das nationalsozialistische Strafrecht war, das diese Bezeichnung als Markenzeichen verwendete. Die in der Schweiz oft verwendete Bezeichnung „Täterstrafrecht“ ist deshalb nur insoweit zutreffend, als sie eine Tendenz zum Ausdruck bringt. Auch im Jugendstrafrecht ist jedoch die Tat Voraussetzung und primärer Anknüpfungspunkt für die Sanktionierung.

5. Erziehungsgedanke Das Jugendstrafrecht wird oft als Erziehungsstrafrecht bezeichnet, das ganz auf das Ziel der Erziehung ausgerichtet sei. So war zum Beispiel der von Marie Boehlen zum früheren Jugendstrafrecht verfasste Kommentar von einem Verständnis durchdrungen, das Jugendstrafrechts-Sanktionen als erzieherische Wohltaten verstand. Bei kritischer Betrachtung ist diese Verständnis aber einseitig und ideologieverdächtig. Wollte man nämlich ausschliesslich erzieherisch wirken, müsste man voll auf Jugendschutz und Jugendhilfe setzen. Zudem müsste immer dann (und das heisst vermutlich in vielen Fällen) von einer staatlichen Bestrafung abgesehen werden, wo die Strafe erzieherisch keinen Sinn ergibt, z.B. weil die Erziehungspersonen der Situation voll gewachsen sind. Art.21 sieht zwar eine Liste mit Strafbefreiungsgründen vor, doch ist diese Aufzählung abschliessend.

Strafe als Erziehungsmittel? Während Erziehung ursprünglich als Ergänzung oder als Ersatz der Bestrafung verstanden wurde (und z.B. in Deutschland noch heute so verstanden wird, vgl. Dollinger/Schabdach S.21 ff.), vollzog die schweizerische Praxis im 20.Jh. eine Wende, indem sie die Schuldstrafe selbst als Instrument der Erziehung uminterpretierte und teilweise bis heute so versteht. Vor diesem ideologischen Hintergrund scheint es logisch, eine Strafe, die keine Wirkung entfaltet, zu verschärfen und damit die erzieherische Wirkung zu verstärken, obwohl kriminologisch gut nachgewiesen ist, dass härtere Strafen die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöhen.

Immanuel Kant 1803 „Eines der grössten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen kann.“ Ostendorf spricht wegen dieses Widerspruchs zu Recht von „Friktionen zwischen dem Erziehungsgedanken und dem Schuldausgleich“. (Jugendgerichtsgesetz, 8.A. S.152)

Normenschutz als Aufgabe Das Jugendstrafrecht hat wie jedes Strafrecht die Aufgabe, Werte und Normen zu schützen und damit den Rechtsfrieden zu verteidigen. Im Sinne von positiver Generalprävention (sog. Signalwirkung) kommt auch ihm eine auf die Allgemeinheit ausgerichtete Zielsetzung zu. Ganz speziell dienen diesem Zweck die unbedingten Freiheitsstrafen, die ja bis zu vier Jahren angeordnet werden können. Aber auch Effekte der negativen Generalprävention (Abschreckungswirkung) spielen eine Rolle, so etwa, wenn im Ausland wohnhafte Jugendliche auch in Fällen, wo eindeutig eine Massnahmebedürftigkeit vorliegt, ausschliesslich zu einer Strafe verurteilt werden,

Bestrafung ist Übelszufügung Auch im Jugendstrafrecht ist die Bestrafung eine mit einem Vorwurf verbundene Übelszufügung. Als Ausnahme können der Verweis und die persönliche Leistung bis 10 Tage gelten. Dass es sich dabei um reine Erziehungssanktionen handelt, zeigt sich daran, dass sie als einzige Strafen schon gegen Jugendliche unter 15 Jahren und auch ohne ein individuell festgestelltes Verschulden angeordnet werden. Für alle andern Strafen gilt jedoch als Grundsatz, dass die Strafe sich am Verschuldensprinzip orientiert, auch wenn die individuelle Strafzumessung nicht ein gleichwertiges Übel im Sinne der Vergeltung anstrebt. Sie übermittelt ein Signal, dass auf das strafbare Verhalten repressiv reagiert wird. Nur wenn diese Botschaft ankommt, besteht Spielraum für spezialpräventive Überlegungen.

Bestrafung ist keine Erziehung Die Bestrafung, das ist ein Gemeinplatz moderner Pädagogik, ist als solche keine Erziehung. Eine Sanktion kann aber eine erzieherische Funktion erlangen, wenn sie eingebettet ist in eine erzieherische Auseinandersetzung und in zwischenmenschliche Beziehungen. Entscheidend kommt es darauf an, ob und wie der durch die Tat und die darauf folgende Reaktion entstandene Konflikt bearbeitet und gelöst wird. Die Sanktion kann als solche bloss Grenzen ziehen und Normen verdeutlichen. Die Grenzziehung ist im Sinne der moralischen Entwicklung aber nur dann wirksam, wenn dem Jugendlichen alternative Verhaltensweisen zur Befriedigung der mit der Straftat angestrebten Bedürfnisse zur Verfügung stehen, oder wenn ihm solche als Folge der Sanktionierung aufgezeigt und angeboten werden.

Erziehung ist umfassend Eigentlich müsste sich die erzieherische Beeinflussung im Rahmen eines Strafrechts nur auf das Legalverhalten ausrichten, doch gibt es keine derart eingeschränkten Erziehungsmethoden. Erziehung ist immer ganzheitlich und umfassend. Trotz allen strafrechtlichen Gesichtspunkten kann das schweizerische Jugendstrafrecht erzieherisch sinnvoll genutzt werden. Ob dies tatsächlich geschieht, ist weit gehend der fachlichen Kompetenz der einzelnen Praktiker überlassen. Zu Recht kritisiert Gürber in Plädoyer 1/2006, S.36, dass die in Art.2 JStG pauschal formulierten Pädagogik-Ziele im Gesetz nicht konkretisiert sind. Er führt dies auf die Entstehungsgeschichte zurück, sei doch das JStG „weitgehend das Werk von Juristen, die von erwachsenenstrafrechtlichem Denken geprägt sind“.

Art.2: Schutz und Erziehung Als Grundsatz ist das pädagogische Verständnis in Art.2 JStG an prominenter Stelle geregelt. Dort wird statuiert, „der Schutz und die Erziehung des Jugendlichen“ seien wegleitend für die Anwendung des Gesetzes. Die beiden Begriffe liegen nicht auf der gleichen Ebene. „Schutz“ knüpft an das Zivilrecht an, wo von „Kindsschutz“ (heute meist „Kinds- und Jugendschutz“) die Rede ist, und bezieht sich vor allem auf die Schutzmassnahmen. Geschützt werden soll die gedeihliche Entwicklung und Entfaltung des Jugendlichen. Demgegenüber ist der Begriff „Erziehung“ umfassender. Er bezieht sich nicht nur auf die Strafen, vielmehr hat er auch im Rahmen der Schutzmassnahmen eine zentrale Bedeutung. „Erziehung“ ist deshalb übergeordnet.

Ideologieverdacht Im Alltag wird der Erziehungsgedanke oft als ideologische Rechtfertigung missbraucht. Herrmann fordert deshalb eine „Entmystifizierung des Jugendstrafrechts“. Zum Missbrauch des Erziehungsgedankens trägt bei, dass manche Jugendanwältinnen und Jugendrichter nur über eine rudimentäre pädagogische Ausbildung verfügen, obwohl sie sich in ihrem Selbstverständnis pädagogisch motiviert fühlen. Sie verstehen sich als „geborene“ Erzieher, denen das Grossziehen eigener Kinder ein ausreichendes pädagogisches Rüstzeug verleiht. Lit. Herrmann, Die Rolle der Verteidigung, S. 257

Ausbildungsdefizite im Gesetz Die gesetzliche Regelung schreibt keine oder höchstens unverbindliche Anforderungen an die pädagogische Fachkompetenz der zuständigen Behörden vor. Im Entwurf zum JStG war zwar noch in einem Abs.3 von Art.2 gefordert worden, im Jugendstrafrecht tätige Personen müssten „erzieherisch befähigt“ sein. Der Gesetzgeber hat dann aber selbst diese minimale Anforderung fallen lassen. Im Vorentwurf zur JStPO war in Art.16, Abs.1 von Jugendrichterinnen und Jugendrichtern noch weniger, nämlich bloss ein „Interesse für die Belange der Jugend“ gefordert worden. Im Entwurf wurde sogar diese absolute Minimalvoraussetzung wieder aufgegeben. Der schwachen sozialwissenschaftlichen Fachkompetenz vieler Praktikerinnen und Praktiker entspricht es, dass im jugendstrafrechtlichen Schrifttum die in Pädagogik und Psychologie geführten Diskussionen nur beschränkt aufgenommen und einschlägige Forschungsergebnisse wenig oder verspätet rezipiert werden. Neuerdings interdisziplinärer CAS-Kurs an der Hochschule Luzern.

Grenzen des Erziehungsgedankens Die dominierende Ausrichtung am Erziehungsgedanken wird heute teilweise kritisiert. So stellt sich laut Jositsch/Lohri[1] die Frage, „ob es angebracht ist, bei jedem Täter hauptsächlich spezialpräventive Zwecke zu verfolgen, oder ob in gewissen Fällen nicht vermehrt dem Schutz und der Sicherheit der Bevölkerung Rechnung getragen werden sollte.“ Gemeint sind vor allem Fälle, wo verurteilte Jugendliche sich dem Vollzug einer Schutzmassnahme verweigern und nur noch eine geringfügige Reststrafe vollzogen werden kann. Jositsch/Lohri halten es für angebracht, eine Sicherungsmassnahme bis zum 25. Lebensjahr vorzusehen, um die Öffentlichkeit vor solchen Tätern zu schützen. Der Basler Jugendanwalt Beat Burkhardt fordert für solche Jugendliche gar eine „Verwahrung“, die bis zum 30. Lebensjahr vollzogen werden könnte[2]. Seit 2013 kennt Deutschland eine Sicherungsverwahrung für Jugendliche. [1] Jositsch/Lohri in AJP 2008, S.791 [2] In SZK 1/2010, S.28 ff.; anderer Meinung (im gleichen Heft, S.33 ff.) der (ehemalige) Berner Jugendanwalt Christoph Burkhard

Halten wir fest: Das Jugendstrafrecht ist primär ein Sanktionenrecht, kein Erziehungsrecht. Als Strafrecht schützt es Werte und Normen. In diesem Rahmen ist es erzieherisch motiviert, es lässt viel Raum für erzieherische Auseinandersetzungen. Laut der Evaluation von Urwyler/Nett erreichte es die angestrebten Ziele und bewährt sich spezialpräventiv zumindest gleich gut oder sogar besser als die Systeme anderer Länder.

6. Mehrspurigkeit Wie im Erwachsenenstrafrecht sind im JStG neben den Strafen auch Massnahmen vorgesehen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem zweispurigen Sanktionensystem. Nach Art.10 JStG ist in allen Fällen eine Schutzmassnahme anzuordnen, wo eine solche aus erzieherischen oder therapeutischen Gründen erforderlich ist. Die Anwendung der Schutzmassnahme liegt somit nicht im Ermessen des Gerichts, sie ist zwingend, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Die Schutzmassnahme hat deshalb im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht ein grösseres Gewicht. Dennoch werden auch im Jugendstrafrecht die weitaus meisten Verfahren allein mit Strafen abgeschlossen, weil in der Praxis die leichtern Delikte überwiegen, die von nicht gefährdeten Jugendlichen begangenen werden.

Begriff „Schutzmassnahme“ Im Gegensatz zum früheren Jugend- und zum Erwachsenenstrafrecht werden im JStG die Massnahmen als „Schutzmassnahmen“ bezeichnet. Damit lehnt sich das Gesetz an das ZGB an, wo der Schutzgedanke im „Kindsschutz“ und neuerdings im „Erwachsenenschutz“ ebenfalls gebräuchlich ist. Allerdings hat der Gesetzgeber den neuen Begriff nicht konsequent angewendet. In mehreren Bestimmungen ist im JStG nach wie vor von „Massnahmen“ die Rede (insbesondere in den Art.16 bis 19 JStG).

Dualismus statt Monismus Während im frühern Jugendstrafrecht die Sanktionen monistisch ausgestaltet waren, indem (abgesehen von zwei unbedeutenden Ausnahmen[1]) entweder eine Massnahme oder eine Strafe allein angeordnet wurde, kommt heute bei den Unterbringungen das dualistischvikarierende System zum Zug, das im Erwachsenenstrafrecht für die stationären therapeutischen Massnahmen schon lange gilt. Das hat in der gerichtlichen Beurteilung zur Folge, dass in Fällen, wo eine Schutzmassnahme erforderlich ist, diese (dualistisch) neben der Strafe[2] ausgesprochen wird. [1] Art.91,Ziff.1Abs.2 und Art.95,Ziff1.Abs.2 aStGB [2] Seltene Ausnahmen bestehen bei Unzurechnungsfähigkeit oder bei Strafbefreiung nach Art.21,Abs.1 lit.a.

Vikariieren bei Freiheitsentzug Zwar werden Strafe und Schutzmassnahme dualistisch angeordnet, doch wird im Vollzug von freiheitsentziehenden Sanktionen nur eine Sanktion durchgeführt, im günstigen Fall nur die Unterbringungsmassnahme. Falls sich diese aber als undurchführbar erweist, wird sie vikariierend durch die Freiheitsstrafe ersetzt, wobei die im stationären Massnahmenvollzug verbüsste Freiheitsbeschränkung angerechnet wird.

Vikariieren in Schieflage Das Verhältnis zwischen der Freiheitsstrafe, die im Normalfall höchstens ein Jahr dauern kann, und der stationären Massnahme, die bis zum 22.Lebensjahr vollzogen werden kann, ist nicht ausgeglichen. Für einzelne Jugendliche ist das Ausweichen auf die begrenzte und ohnehin weniger fordernde Freiheitsstrafe deshalb bequemer als die pädagogische Auseinandersetzung im Massnahmenvollzug. Das vikariierende Prinzip befindet sich in Schieflage, weil die Massnahme im Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht fast immer wesentlich länger dauert. Das schafft für die betroffenen Jugendlichen einen Anreiz, die Schutzmassnahme zu sabotieren und damit den Vollzug der wesentlich kürzeren Strafe zu erzwingen.

Andere Sanktionskombinationen Wenn eine ambulante Schutzmassnahme und ein unbedingter Freiheitsentzug zusammentreffen, kann das Gericht den Freiheitsentzug mit den gleichen Wirkungen aufschieben. Tut es das nicht, werden beide Sanktionen vollzogen, insbesondere kann auf diese Weise eine Behandlung wie bei den Erwachsenen während des Strafvollzugs angeordnet werden. Das Vikariieren ist in diesem Bereich fakultativ. Anders verhält es sich, wenn eine Strafe ohne Freiheitsentzug und eine ambulante Schutzmassnahme zusammentreffen: diese werden nebeneinander vollzogen.

Mediation als dritte Spur Neu ist im Jugendstrafrecht die Mediation vorgesehen (ursprünglich im aJStG, seit 2011 in Art.17 JStPO). Mediation ist ein fachlich angeleitetes Versöhnungsverfahren, das zu einem Ausgleich zwischen Täter und Opfer führen soll. Im Hinblick auf eine Mediation kann das Strafverfahren vorläufig eingestellt werden (Art.17, Abs.1 JStPO). Gelingt die Mediation, kann das Verfahren durch die zuständige Behörde danach definitiv eingestellt werden (Art.17, Abs.2 JStPO). Die Mediation wird von manchen Autoren als „dritte Spur“ des Sanktionenrechts verstanden, weil sie eine private Lösung des zu Grunde liegenden Konflikts herbeiführt. In diesem Sinne wird auch von einem dreispurigen System gesprochen.

7. Verhältnismässigkeitsprinzip Das Verhältnismässigkeitsprinzip gilt in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Rechts, wenn beurteilt werden soll, ob Eingriffe in Freiheitsrechte angemessen sind (solche Eingriffe erfordern bekanntlich immer eine gesetzliche Grundlage, ein öffentliches Interesse, die Beachtung der Verhältnismässigkeit und die Wahrung des Kerngehalts).

Einzig im Bereich der Strafen wird das Verhältnismässigkeitsprinzip durch das Schuldprinzip ersetzt, das an den Vorwurf anknüpft, der Täter hätte sich anders verhalten sollen. Mit dem Verschulden wird die Relation zur begangenen Straftat hergestellt und für eine Begrenzung des mit der Strafe verbundenen Eingriffs gesorgt.

Verhältnismässigkeit statt Verschulden Bei den strafrechtlichen Massnahmen, die sich nicht am Verschulden orientieren, fällt die Verschuldensbegrenzung weg. Massnahmen finden ihre Rechtfertigung im überwiegenden öffentlichen Interesse, indem das Schutzinteresse vor einer vom Täter ausgehenden Gefahr schwerer wiegen muss als die mit der Massnahme verbundene Freiheitsbeschränkung. Der Massstab für diese Interessenabwägung ist das Verhältnismässigkeitsprinzip. Deshalb findet es, zumindest bei den Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts, als Ersatz für das Verschulden eine begrenzende Anwendung.

Inhalt Verhältnismässigkeit knüpft an eine Gefahr an, die abzuwenden ist. Im Jugendstrafrecht wäre das eine drohende oder bereits bestehende Fehlentwicklung, die neue Straftaten wahrscheinlich macht. Das Ausmass dieser Gefahr wird in Beziehung gesetzt zur Schwere des Eingriffs, von dem der Täter betroffen ist. Eine einschneidende Massnahme ist nur zulässig, wenn die Gefahr sehr hoch oder die drohenden Delikte besonders schwerwiegend sind (Gesichtspunkt der Angemessenheit oder Proportionalität). Falls mehrere Massnahmen geeignet sind, die Gefahr abzuwenden, ist die leichteste vorzusehen (Gesichtspunkt der Subsidiarität). Deshalb ist es z.B. nicht zulässig, eine stationäre Massnahme anzuordnen, wenn auch eine ambulante Erfolg verspricht. Zum Wesen der Verhältnismässigkeit gehört, dass die Massnahme streng an den Zweck gebunden ist, hier also an die Verhinderung von Delinquenz durch eine erzieherische oder therapeutische Intervention. Die Massnahme muss deswegen geeignet sein, den Zweck zu erreichen, es muss z.B. eine Institution zur Verfügung stehen, die für die erfolgversprechende Umsetzung Gewähr bietet.

Lange Zeit umstritten Die Geltung des Verhältnismässigkeitsprinzips war früher im Bereich der jugendstrafrechtlichen Massnahmen umstritten. Zwar sprachen sich die Strafrechtler Schultz und Rehberg für die Geltung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes aus. Doch die aus der jugendstrafrechtlichen Praxis argumentierenden Boehlen und Gürber/Hug lehnten dies kategorisch ab. Allerdings litt diese Diskussion an einem falschen Verständnis der Verhältnismässigkeit, indem sie als Bezugspunkt die begangenen Delikte definierte. In diesem falschen Sinn hatte früher auch das BGer in 117 IV 9 festgehalten, es sei kein Delikt von einer bestimmten Schwere erforderlich, eine Massnahme könne auch als Reaktion auf eine Übertretung angeordnet werden. Richtig verstanden bezieht sich Verhältnismässigkeit aber nicht auf die begangenen Delikte (diesen Bezug stellt strafrechtlich der Begriff des Verschuldens her), sondern auf eine Gefahr, die abgewendet werden soll, d.h. auf die sonst drohende Fehlentwicklung und die damit zusammenhängenden künftigen Delikte, mit denen im Falle der Nichtintervention zu rechnen ist.

Heute gesetzlich geregelt Mit dem 2007 in Kraft getretenen JStG hat Art.1, Abs.2 lit.c inzwischen eine eindeutige Klärung herbeigeführt, indem die entsprechenden Bestimmungen des Erwachsenenstrafrechts (Art.56, Abs.2 und Art.56a StGB) ausdrücklich als anwendbar erklärt werden. Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz gilt deshalb auch für die Schutzmassnahmen des Jugendstrafrechts. Nicht anwendbar ist dagegen das vom Bundesgericht in 107 IV 20 für die Erwachsenenmassnahmen eingeführte Untermassverbot, das eine Massnahme ausschliesst, wenn sie im Verhältnis zur aufgeschobenen Strafe zu wenig eingriffsintensiv ist.

Art.1, Abs.2 lit.c JStG Gegenstand und Verhältnis zum Strafgesetzbuch 1 Dieses Gesetz regelt die Sanktionen, welche gegenüber Personen zur Anwendung kommen, die vor Vollendung des 18. Altersjahres eine nach dem Strafgesetzbuch (StGB) oder einem andern Bundesgesetz mit Strafe bedrohte Tat begangen haben; 2 Ergänzend zu diesem Gesetz sind die folgenden Bestimmungen des StGB sinngemäss anwendbar: .......... c. Artikel 56 Absätze 2, 5 und 6 sowie Artikel 56a (Grundsätze bei Massnahmen);

Massnahmengrundsätze im StGB Art.56, Abs.2 und 5 StGB 2 Die Anordnung einer Massnahme setzt voraus, dass der mit ihr verbundene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig ist. 5 Das Gericht ordnet eine Massnahme in der Regel nur an, wenn eine geeignete Einrichtung zur Verfügung steht. Art. 56a Zusammentreffen von Massnahmen 1 Sind mehrere Massnahmen in gleicher Weise geeignet, ist aber nur eine notwendig, so ordnet das Gericht diejenige an, die den Täter am wenigsten beschwert. 2 Sind mehrere Massnahmen notwendig, so kann das Gericht diese zusammen anordnen.

Konnexität Im Rahmen der Verhältnismässigkeit müsste de lege ferenda auch die Frage der Konnexität neu diskutiert werden. Damit wird der Zusammenhang angesprochen, der zwischen der Tat und dem erzieherischen Defizit besteht, das durch eine Schutzmassnahme behoben werden soll. Im Gegensatz zu den Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts (Art.59, 60, 61 und 64 StGB), wo jeweils gefordert wird, dass die begangenen Straftaten mit der bestehenden Störung im Zusammenhang stehen, findet sich eine solche Verknüpfung im JStG nicht. Praxis und Doktrin haben eine Konnexität bisher abgelehnt. Nicht nur die gesetzliche Anerkennung des Verhältnismässigkeitsprinzips, sondern auch erzieherische, rechtsstaatliche und sozialpolitische Überlegungen lassen eine Neubeurteilung dieser Problematik de lege ferenda als angezeigt erscheinen.

Beispiel für Konnexität im StGB Art. 59 StGB Behandlung von psychischen Störungen 1 Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn: a. der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang steht ... ...... (Analoge Regelung in Art.60, 61 und 64 StGB)

Missbrauch strafrechtlicher Massnahmen Als Begründung für strafrechtliche Massnahmen, die auch in Fällen angeordnet werden, wo keine schwerwiegende deliktische Fehlentwicklung droht oder keine Konnexität besteht, wird angeführt, dass diese länger dauern. Jugendstrafrechtliche Unterbringungen können bis zum 22.Lebensjahr durchgeführt werden, während zivilrechtliche Massnahmen mit dem 18.Lebensjahr enden. Was ist der Grund dafür? Die längere Dauer der strafrechtlichen Massnahmen findet ihre Rechtfertigung im öffentlichen Interesse der Kriminalprävention, das den Schutz der Öffentlichkeit vor schweren Delikten anstrebt. Wenn keine solche Gefährdung vorliegt, ist die längere Dauer der Massnahme nicht zu rechtfertigen und deshalb missbräuchlich. Sie stellt eine Umgehung der durch den Gesetzgeber getroffenen Entscheidung dar, der als Grundsatz festgelegt hat, dass zivilrechtliche Massnahmen mit dem 18. Altersjahr ein Ende finden.

8. Opportunitätsprinzip Das Opportunitätsprinzip sorgt dafür, dass ein Strafverfahren nur dann durchgeführt und abgeschlossen wird, wenn im konkreten Einzelfall für ein solches Vorgehen ein öffentliches Interesse besteht. Im Gegensatz dazu schliesst das Legalitätsprinzip einen derartigen Ermessensspielraum aus. Der Opportunitätsgrundsatz stammt eigentlich aus dem Verfahrensrecht, er spielt aber auch im materiellen Jugendstrafrecht eine wichtige Rolle. Besonders deutlich kommt das zum Ausdruck in den verkürzten Verjährungsfristen (Art.36 f. JStG) sowie in den vielfachen Möglichkeiten, von einem Strafverfahren abzusehen, ein eröffnetes Strafverfahren einzustellen (Art.5, 16 und 17 JStPO) oder auf eine Bestrafung zu verzichten (Art.21 JStG). Insbesondere die Strafbefreiungsgründe wegen Geringfügigkeit, wegen Zeitablaufs, wegen bereits erfolgter Bestrafung oder wegen Wiedergutmachung verdeutlichen den Grundsatz, dass ein Jugendstrafverfahren nicht als Selbstzweck durchgeführt werden darf.

9. Organisatorische Verselbständigung Der Geist des Jugendstrafrechts kann nur dann voll zum Tragen kommen, wenn auf allen Ebenen getrennte Behörden mit speziell ausgebildetem Personal tätig werden. Das gilt von der Polizei über die Strafverfolgung, die Persönlichkeitsabklärung und die Gerichte bis hin zum Straf- und Massnahmenvollzug. Diese Anforderung war früher nur beschränkt und ist in kleinen Kantonen auch heute noch nur teilweise erfüllt.

Aktueller Stand Die grösseren Deutschschweizer Kantone haben spezialisierte Jugendanwaltschaften eingerichtet, die in der Regel auch Fachpersonal für die Persönlichkeitsabklärung beschäftigen. Die Bezeichnung „Jugendanwaltschaft“ vertuscht allerdings, dass es sich in erster Linie um eine Strafverfolgungsbehörde handelt. Neben der Strafuntersuchung nehmen die Jugendanwälte in der Mehrzahl der Verfahren als Strafbefehlsrichter zudem richterliche Aufgaben wahr, und schliesslich vollstrecken sie auch die angeordneten Sanktionen. Noch nicht überall verwirklicht ist die Verselbständigung der Jugendstrafgerichte. Auf der Polizeiebene haben mehrere Kantone in den letzten Jahren spezialisierte Jugendpolizeidienste geschaffen, in andern steht die Einrichtung solcher Dienste kurz bevor.

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