MACBETH

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Musik, Musiktheorie
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G i u s e p p e Ve r d i | M A C B E T H | D e u t s c h

Giuseppe Verdi

MACBETH

DEUTSCH

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Giuseppe Verdi

MACBETH

w w w. w i e n e r - s t a a t s o p e r. a t

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsangabe Macbeth, Melodramma in vier Akten Über den heutigen Abend Giuseppe Verdi | Biografie Giuseppe Verdi | Musikdramatisches Schaffen Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem Zeitleiste Macbeth Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng Verdi, der Tyrann | Marianna Barbieri-Nini Verdis Galeerenjahre Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng Briefe Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng Lady Macbeth auf der Couch | Sigmund Freud Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng Aufstieg und Fall | Oliver Láng Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar Interview Alain Altinoglu | Andreas Láng Interview Christian Räth | Oliver Láng

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George Petean als Macbeth, Wiener Staatsoper 2015

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Inhaltsangabe

INHALTSANGABE Nach einer siegreichen Schlacht prophezeien Hexen dem schottischen Feldherrn Macbeth, er werde Than von Cawdor und König Schottlands werden, sein Begleiter Banquo hingegen Vater von Königen. Unmittelbar darauf melden Boten des Königs Duncan, dass dieser Macbeth zum Than von Cawdor ernannt habe. In einem Brief berichtet Macbeth seiner Gattin von den Ereignissen. Beider Ehrgeiz ist geweckt. Als sich bald die Gelegenheit zum Königsmord bietet, treibt Lady Macbeth ihren Gemahl Macbeth zur Tat an. Der Mord passiert, die Spuren werden sorgsam getilgt. Beunruhigt durch die Weissagung der Hexen, Banquo werde Vater von K ­ önigen werden, beschließen Macbeth und Lady Macbeth, Banquo und s­ einen Sohn zu töten. Doch der Sohn entkommt. In einer Vision erscheint Macbeth der ermordete Banquo. Macbeth ist entsetzt und sucht abermals die Hexen auf, um Näheres über sein Schicksal zu erfahren. Diese teilen ihm unter anderem mit, dass er herrschen werde, bis der Wald von Birnam gegen ihn vorrückt, und ihn niemand töten könne, der von einer Frau geboren wurde. Lady Macbeth irrt schlafwandelnd herum, ihre Schuld lastet auf ihr und treibt sie in den Tod. Macbeth wird gemeldet, dass sich der Wald von Birnam nähert – die vorrückenden Soldaten haben sich mit Zweigen getarnt. Macbeth stellt sich Macduff, der ihn töten kann, da er nicht von einer Frau geboren, sondern aus dem Leib seiner Mutter herausgeschnitten wurde. Die Sieger feiern Malcolm als ihren neuen König.

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Macbeth

MACBETH Melodramma in vier Akten Personen der Handlung: Macbeth, Feldherr (Bariton) Banquo, Feldherr (Bass) Lady Macbeth Sopran oder Mezzosopran Kammerfrau der Lady Macbeth (Mezzosopran) Macduff, Edelmann (Tenor) Malcolm, Duncans Sohn (Tenor) Spion (Bass) Duncan, König von Schottland Fleance, Banquos Sohn, Banquos Ehefrau, Macduffs Ehefrau (Stumme Rollen) Hexen, Soldaten, Erscheinungen, Boten, Politiker (Chor, Statisterie, Kind der Opernschule)

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Vorlage The Tragedy of Macbeth von William Shakespeare (um 1606) Autoren der Oper Giuseppe Verdi (Musik), Francesco Maria Piave, Andrea Maffei (Text) Originalsprache Italienisch (die zweite Fassung wurde in französischer Übersetzung erstaufgeführt) Orchesterbesetzung 1 Flöte, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte,­­ 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Cimbasso, Pauke, Schlagwerk, 1 Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncelli, Kontrabass Bühnenmusik: 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 4 Klarinetten, 2 Fagotte, 1 Kontra­ fagott, 4 Hörner, 6 Trompeten, 1 Flügelhorn, 3 Posaunen, Schlagwerk Spieldauer 2 Stunden 30 Minuten (ohne Pause) Entstehung Nach seinem Attila erhielt Verdi vom Impresario Alessandro Lanari das Angebot, eine Oper für das Teatro alla Pergola in Florenz zu schreiben. Es standen mehrere literarische Stoffe zur Auswahl (unter anderem die Ahnfrau von Grillparzer), schließlich entschied man sich für Macbeth nach Shake­s­ peare. Die Wahl des Sujets zeigt deutlich, woher Verdi Anregungen erhalten hatte: Meyerbeers Robert le diable und Webers Freischütz waren am Beginn der 1840er-Jahre in Florenz mit großem Publikumszuspruch aufgeführt worden. Das Libretto verfasste – auf eine ihm zugesandte Prosaskizze Verdis – Francesco Maria Piave, doch fiel die Arbeit nicht zur Zufriedenheit des

Macbeth

­ omponisten aus, worauf dieser auch noch Andrea Maffei hinzuzog. Die K Probenarbeit soll für damalige Verhältnisse ungewöhnlich aufwändig gewesen sein, schließlich kam die Oper am 14. März 1847 zur Uraufführung. Mitte der 1860er-Jahre überarbeitete Verdi die Oper für das Pariser Théâtre Lyrique neu, wo Macbeth in einer französischen Übersetzung am 21. April 1865 erstmals gespielt wurde. Autograph / Manuskript Verlagsarchiv Ricordi, Mailand (1. Fassung) Bibliothèque nationale de France (2. Fassung) Uraufführung Teatro alla Pergola, 14. März 1847 (1. Fassung) Théâtre Lyrique, 21. April 1865 (2. Fassung) Wiener Erstaufführung 11. Dezember 1849 im Kärntnertortheater Besetzung Dirigent Macbeth Lady Macbeth Banquo Macduff Kammerfrau Malcolm Doktor Diener Bote Mörder

Uraufführung Giuseppe Verdi Felice Varesi Marianna Barbieri-Nini Nicola Benedetti Angelo Brunacci Faustina Piombanti Francesco Rossi Giuseppe Romanelli Giuseppe Romanelli Giuseppe Bertini Giuseppe Bertini

Erstaufführung im Haus am Ring Clemens Krauss Alfred Jerger Gertrude Rünger Richard Mayr Josef Kalenberg Aenne Michalsky Hermann Gallos Nicola Zec Karl Ettl Karl Ettl Alfred Muzzarelli

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Tatiana Serjan als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper 2015

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Über den heutigen Abend

ÜBER DEN HEUTIGEN ABEND Mit Macbeth begann Giuseppe Verdis künstlerische Auseinandersetzung mit dem Werk William Shakespeares. Dessen Macbeth – 1611 uraufgeführt – inspirierte Verdi zu einem damals neuartigen Werk, musikalisch betrat er Neuland und wagte manches stilistische Experiment. Seine zehnte Oper markiert so in manchem Aspekt eine Abkehr von der italienischen Musik­ theater-Tradition. Und erstmals übertraf Verdis Honorar jenes seines früh verstorbenen und umworbenen Komponistenkollegen Vincenzo Bellini. Zwei Librettisten (Francesco Maria Piave und Andrea Maffei) schufen eine verknappte Textfassung auf Basis des Originals von Shakespeare, wobei die Figur der Lady Macbeth besonderes Gewicht erhielt. Verdi selbst verlangte von der Interpretin keinen schlichten Schöngesang, sondern eine ausdrucksstarke Klangsprache, die vor hohlen, sogar hässlichen Tönen keinen Halt macht. Inmitten seiner „Galeerenjahre“, also der Zeit intensivsten Schaffens, brachte Verdi die Oper 1847 in Florenz zur Uraufführung – er selbst dirigierte die Vorstellung. Doch der Erfolg war (noch) überschaubar. Rund 20 Jahre später überarbeitete der Komponist das Werk ein weiteres Mal und brachte seinen Macbeth 1865 in Paris in einer neuen Fassung heraus – und diese setzte sich durch. An der Wiener Staatsoper erklang Macbeth spät, erst 1933 unter Clemens Krauss. Seither fanden insgesamt sieben Neuproduktionen statt. Der aktuelle Macbeth kam 2015 in einer Inszenierung von Christian Räth zur Premiere, Dirigent war Alain Altinoglu, der zugleich sein Debüt als Staatsopern-Premierendirigent gab.

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Giuseppe Verdi

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Biografie

GIUSEPPE VERDI | Biografie

1813 1825 1828 1831 1832 1836

Am 10. Oktober wird Giuseppe Fortunino Francesco Verdi in Le Roncole bei Busseto im Herzogtum Parma geboren, das unter französischer Herrschaft steht. Beginn der musikalischen Studien bei Ferdinando Provesi, dem städtischen Musikdirektor Bussetos. Erste Kompositionen. Verdi zieht in das Haus von Antonio Barezzi in Busseto ein, dessen Tochter Margherita er Klavierunterricht gibt. Verdis Gesuch um Aufnahme am Mailänder Konservatorium wird abgelehnt. Er nimmt Privatunterricht bei Vincenzo Lavigna in Mailand. Verdi arbeitet an seiner ersten, unaufgeführten und heute verschollenen Oper Rocester. Er wird städtischer Musikdirektor in Busseto. Heirat mit Margherita Barezzi.

1837

Geburt der Tochter Virginia (gestorben 1838).

1838

Geburt des Sohnes Icilio (gestorben 1839).

1839 1840 1842

Verdi verlässt Busseto und zieht nach Mailand. Uraufführung seiner Oper Oberto, Conte di San Bonifacio an der Scala. Er erhält einen Vertrag für drei weitere Opern an der Scala. Tod seiner Gattin Margherita. Misserfolg an der Scala mit der Oper Un giorno di regno. Mit der triumphalen Uraufführung der Oper Nabucco an der Scala gelingt Verdi der Durchbruch.

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Biografie

1843 1847

Uraufführung des Macbeth nach Shakespeare in Florenz. Die Oper setzt sich zunächst nicht durch. Zwei Jahre später wird das Werk erstmals in Wien gegeben, allerdings verschwindet es bald vom Spielplan.

1851

Tod seiner Mutter. Verdi zieht nach Sant’ Agata.

1852

Louis Napoleon schlägt Verdi zum Ritter der Ehrenlegion.

1853

Uraufführung von La traviata in Venedig.

1854 1859 1861

Erstaufführung der überarbeiteten Fassung von La traviata in Venedig. Heirat mit Giuseppina Strepponi. Verdi wird Deputierter in Parma. VIVA V.E.R.D.I. (für Vittorio Emanuele Re d’Italia) wird zum Kriegsruf gegen Österreich. Verdi ist Deputierter des ersten italienischen Parlaments in Turin. Reise nach Russland.

1863

Reise nach Madrid und Paris.

1865

Die 2. Fassung von Macbeth wird in Paris erstmals gespielt.

1867

1868

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Als erste Verdi-Operaufführung außerhalb Italiens erklingt Nabucco an der Wiener Hofoper. Die Aufführung wird von Verdi persönlich geleitet.

Tod des Vaters und Antonio Barezzis. Das Ehepaar Verdi nimmt die siebenjährige Filomena an Kindes statt an; sie ist die Tochter eines Cousins von Verdis Vater und wird Maria genannt. Begegnung mit dem Dichter Alessandro Manzoni.

Biografie

1871

1874

1893 1897 1899

Verdi lehnt die Direktion des Mailänder Konservatoriums als Nachfolger Mercadantes ab. Begegnung mit Arrigo Boito anlässlich der italienischen Erstaufführung von Richard Wagners Lohengrin in Bologna. Uraufführung von Aida in Kairo. Uraufführung des für Manzoni geschriebenen Requiems unter der Leitung Verdis in Mailand. Ernennung zum Senator des Königreichs. Erstaufführung der Aida an der Wiener Hofoper. Uraufführung seiner letzten Oper, Falstaff, in Mailand. Ernennung zum Ehrenbürger von Rom. Tod seiner Ehefrau Giuseppina. Verdi stiftet ein Erholungs- und Altersheim für Musiker (Casa di Riposo) in Mailand.

1901

Tod Giuseppe Verdis in Mailand am 27. Jänner.

1933

Macbeth wird erstmals im Haus am Ring gespielt.

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Musikdramatisches Schaffen

GIUSEPPE VERDI | Musikdramatisches Schaffen OBERTO, CONTE DI SAN BONIFACIO, Libretto: Antonio Piazza und Temistocle Solera, Opera seria in zwei Akten, Uraufführung: 1839 in Mailand UN GIORNO DI REGNO O IL FINTO STANISLAO, Libretto: Felice Romani, Melodramma giocoso in zwei Akten, Uraufführung: 1840 in Mailand NABUCODONOSOR (NABUCCO), Libretto: Temistocle Solera, Dramma lirico in vier Akten, Uraufführung: 1842 in Mailand I LOMBARDI ALLA PRIMA CROCIATA, Libretto: Temistocle Solera, Dramma lirico in vier Akten, Uraufführung: 1843 in Mailand ERNANI, Libretto: Francesco Maria Piave, Dramma lirico in vier Akten, Uraufführung: 1844 in Venedig I DUE FOSCARI, Libretto: Francesco Maria Piave, Tragedia lirica in drei Akten, Uraufführung: 1844 in Rom GIOVANNA D’ARCO, Libretto: Temistocle Solera, Dramma lirico in einem Prolog und drei Akten, Uraufführung: 1845 in Mailand ALZIRA, Libretto: Salvatore Cammarano, Tragedia lirica in einem Prolog und zwei Akten, Uraufführung: 1845 in Neapel

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Musikdramatisches Schaffen

ATTILA, Libretto: Temistocle Solera und Francesco Maria Piave, Dramma lirico in einem Prolog und drei Akten, Uraufführung: 1846 in Venedig MACBETH, Libretto: Francesco Maria Piave und Andrea Maffei, Melodramma in vier Akten, Uraufführung: 1847 in Florenz I MASNADIERI, Libretto: Andrea Maffei, Melodramma in vier Akten, Uraufführung: 1847 in London JERUSALEM (Bearbeitung der LOMBARDI), Libretto: Alphonse Royer und Gustave Vaëz, Große Oper in vier Akten, Uraufführung: 1847 in Paris IL CORSARO, Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma tragico in drei Akten, Uraufführung: 1848 in Triest LA BATTAGLIA DI LEGNANO, Libretto: Salvatore Cammarano, Tragedia lirica in vier Akten, Uraufführung: 1849 in Rom LUISA MILLER, Libretto: Salvatore Cammarano, Melodramma lirico in drei Akten, Uraufführung: 1849 in Neapel STIFFELIO, Libretto: Francesco Maria Piave, Dramma lirico in drei Akten, Uraufführung: 1850 in Triest

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Musikdramatisches Schaffen

RIGOLETTO, Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma in drei Akten, Uraufführung: 1851 in Venedig IL TROVATORE, Libretto: Salvatore Cammarano und Leone Emanuele Bardare, Dramma in vier Akten, Uraufführung: 1853 in Rom LA TRAVIATA, Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma in drei Akten, Uraufführung: 1853 in Venedig Erstaufführung der zweiten Fassung: 1854 in Venedit LES VEPRES SICILIENNES, Libretto: Eugène Scribe und Charles Duveyrier, Oper in fünf Akten, Uraufführung: 1855 in Paris SIMON BOCCANEGRA, Libretto: Francesco Maria Piave, Melodramma in einem Prolog und drei Akten, Uraufführung: 1857 in Venedig AROLDO (Bearbeitung von STIFFELIO), Libretto: Francesco Maria Piave, Oper in vier Akten, Uraufführung: 1857 in Rimini UN BALLO IN MASCHERA, Libretto: Antonio Somma, Melodramma in drei Akten, Uraufführung: 1859 in Rom LA FORZA DEL DESTINO, Libretto: Francesco Maria Piave, Melo­dramma in vier Akten, Uraufführung: 1862 in St. Petersburg MACBETH (Neufassung), Uraufführung: 1865 in Paris

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Musikdramatisches Schaffen

DON CARLOS, Libretto: Joseph Méry und Camille Du Locle, Große Oper in fünf Akten, Uraufführung: 1867 in Paris LA FORZA DEL DESTINO (Neufassung), Neufassung des Librettos: Antonio Ghislanzoni, Uraufführung: 1869 in Mailand AIDA, Libretto: Antonio Ghislanzoni, Oper in vier Akten, Uraufführung: 1871 in Kairo SIMON BOCCANEGRA (Neufassung), Überarbeitung des Librettos: Arrigo Boito, Uraufführung: 1881 in Mailand DON CARLO (Neufassung in vier Akten), Uraufführung: 1884 in Mailand OTELLO, Libretto: Arrigo Boito, Dramma lirico in vier Akten, Uraufführung: 1887 in Mailand FALSTAFF, Libretto: Arrigo Boito, Commedia lirica in drei Akten, Uraufführung: 1893 in Mailand

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M alcolm I

M alcolm II

943 – 954

1005 – 1034

I ndulf

1034 – 1040

D uncan I 954 – 962

M acbeth 1040 – 1057

D ub 962 – 966

L ul ach I 1057 – 1058

C ulen 966 – 971

M alcolm III 1058 – 1093

K enneth II 971 – 995

D onald B ane 1093 – 1094

C onstantine III 995 – 997

D uncan II 1094

K enneth III

D onald B ane

997 – 1005

1094 – 1097

Schottische Könige des 10./11. Jahrhunderts mit ihren Regierungszeiten

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Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem

GETÖTET ... GETÖTET ...GETÖTET Schottischer Königsrealismus im 11. Jahrhundert Schottland im 11. Jahrhundert war ein für Könige ungemütliches Terrain: Der natürliche Tod war unter Regenten nicht üblich, Standeskämpfe und Nachfolgefehden prägten das Geschehen. In dieser Zeit lebte König Macbeth, dessen Lebenszeit unscharf, aber immerhin dessen Regierungszeit genau zu bestimmen ist. Er war von 1040 bis 1057 Herrscher von Schottland und eng in der königlichen Genealogie verstrickt; so stammt er von König Kenneth II. ab und war mit Gruoch, der Enkelin von König Kenneth III., verheiratet. Diese hatte aus erster Ehe einen Sohn namens Lulach, der als Nachfolger Macbeths für ein Jahr regierte, bevor auch er von Malcolm II. ermordet wurde. Der Vater von Lulach, also Gruochs erster Ehemann, hatte im Jahr 1020 Macbeths Vater Findlaech ermordet, worauf Macbeth ihn, seinen Bruder und eine stattliche Anzahl an Anhängern verbrennen ließ – und so die Königswürde von Moray erlangte. Blättert man in Raphael Holinsheds Chronicles of England, Scotland and Ireland aus 1577, die für Shakespeare eine wesentliche Quelle darstellte, so wird Gruoch (also die spätere Lady Macbeth) als „ehrgeizig, brennend vor Verlangen nach dem Titel der Königin“ beschrieben. König Duncan wiederum, der tatsächlich von Macbeth getötet wurde, war auch ein Verwandter. Immerhin hielt er sich sechs Jahre lang an der Macht und war einer der wenigen Könige, die ohne eine Liquidierung des Vorgängers ans Regieren kamen. Allerdings hatte Duncan später keinen besonders guten Ruf, da er als zu weich und schwach galt. So berichtet Holinshed: „Duncan war von solch sanfter und milder Natur, dass sich die Menschen wünschten, die Charaktereigenschaften wären zwischen ihm und Macbeth besser verteilt: Denn wo der eine zu viel an Güte bot, hatte der andere zu viel an Grausamkeit. Wären aber die Charaktere in den Extremen ausgeglichener, so hätte Duncan einen ehrenwerten König und Macbeth einen exzellenten Feldherrn abgegeben. Der Beginn von Duncans Regierung war sehr ruhig und friedlich, ohne nennenswerte Schwierigkeiten; doch nachdem bekannt wurde, wie nachlässig er Missetäter bestrafte, nützen viele die Gelegenheit, durch Aufruhr

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Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem

den Frieden und die Ruhe des Gemeinwesens zu stören.“ Als Duncan allerdings seinen minderjährigen Sohn zum Prinzen von Cumberland machte und somit zum Thronfolger bestimmte, schwand für Macbeth nicht nur die Hoffnung, König zu werden, er ortete auch einen Verstoß gegen das königliche Nachfolgerecht, da ein Minderjähriger nicht zum Thronfolger bestimmt werden durfte. Dazu kam auch noch, dass Duncan Macbeth aller Titel verlustig erklärte, um ihm jeglichen Herrschaftsanspruch zu nehmen. Und so begann Macbeth zu sinnieren, wie er „mittels Gewalt die Macht doch noch an sich bringen könnte“, und als ihm drei Hexen die Herrschaft prophezeiten, fasste er den Entschluss und tötete Duncan – so Holinshed. Heute allerdings weiß man: Der Tod Duncans fand am Schlachtfeld statt. Der ruhige Herrschaftsstil in Schottland änderte sich, als Macbeth an die Macht kam, er eröffnete seine Regentschaft mit eiserner Hand und sorgte für Ruhe und Ordnung im Regierungsgebiet, untermauert durch eine Reihe von Gesetzen, die gleichzeitig auch seine Macht schützten: So war es allen Mitgliedern von Familien der „Lords and Great Barons“ bei Todesstrafe verboten, untereinander Ehen einzugehen, vor allem, wenn die Ländereien der Sippen nebeneinander lagen; gleichzeitig aber schützte Macbeth auch seine Untergebenen, die Schwachen und Schutzlosen durch eine Reihe kluger Gesetze. Doch Schwäche zeigte er nicht. Bekannt ist die Geschichte, wie Macbeth Lochquaber einnahm, wo ein Rebell namens Makdowald verschanzt lag. Dieser hatte sich und seiner Familie im Angesicht der drohenden verlorenen Schlacht das Leben genommen; Macbeth ließ der Leiche den Kopf abschlagen und auf einen Pfahl stecken, der kopflose Körper wurde an einem Galgen aufgehängt. Doch nach 17 Jahren – als erfolgreich beschriebene Königszeit – war auch Macbeths Herrschaftsperiode abgelaufen, 1057 wurde er von Malcolm, dem Sohn Duncans, geschlagen und in der Schlacht von Lumphanan getötet. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Einfluss des englischen Königs James I. auf Shakespeares Tragödie: James I. interessierte sich sehr für Geister und Jenseitiges, lehnte gleichzeitig aber den Okkultismus ab, wodurch bei Shakespeare die Hexen (und mit ihnen Macbeth) in ein schlechtes Licht geraten mussten. Gleichzeitig wird Banquo im Drama als positiver Gegenspieler Macbeths hervorgehoben, der sich etwa durch die

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Getötet ... getötet ... getötet | Barbara Batchem

Weissagungen nicht in Versuchung führen lässt; eine nicht unwesentliche Wandlung der Figur (in der Holinshedschen Chronik ist er ein Vertrauter Macbeths), die aber verständlich ist, wenn man bedenkt, dass Banquo als der Ahnvater des Königsgeschlechts der Stuarts galt, also jener Sippe, der auch König James I. angehörte ...

Barbara Batchem ist freie Autorin und lebt in Dublin, London und Wien.

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Zeitleiste Macbeth

Duncan wird König von Schottland. Er gilt als milder, aber gleichzeitig schwacher Regent. Um die Königswürde zukünftig zu sichern, bestimmt er – widerrechtlich – seinen neunjährigen Sohn zu seinem Nachfolger.

1034

1040

Bei der Schlacht von Lumphanan tötet Malcolm, der Sohn von Duncan, Macbeth. Für ein Jahr regiert Macbeths Stief­­sohn Lulach, danach übernimmt Malcolm die schottische Königswürde.

1057

Macbeth ermordet König Duncan der Legende nach in seiner Burg Glamis und wird König von Schottland. Er regiert 17 Jahre lang.

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1577 Die Chronicles of England, Scotland and Ireland von Raphael Holinshed erscheinen. Sie bilden die wichtigste Quelle zu William Shakespeares Königsdrama Macbeth.

Zeitleiste Macbeth

William Shakespeares Macbeth wird in Hampton Court in A nwesenheit des englischen ­ Königs James I. uraufgeführt.

1611

1838

Giuseppe Verdis Macbeth wird in Florenz im Teatro alla Pergola uraufgeführt.

1847

Carlo Rusconi veröffentlicht eine italienische Übersetzung der Dramen William Shakespeares.

1849 Wiener Erstaufführung des Mac­beth am Kärntnertortheater in deutscher Sprache.

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Zeitleiste Macbeth

Die zweite Fassung der Oper Macbeth wird in Paris im ­Théâtre Lyrique uraufgeführt.

1865

1933

Karl Böhm dirigiert eine Neu­ produktion des Macbeth an der Wiener Staatsoper.

1943

Erstaufführung des Macbeth im Haus am Ring unter Clemens Krauss.

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1953 Im Ausweichquartier der zerstör­ ten Staatsoper, dem Theater an der Wien, bringt Karl Böhm ­erneut eine Macbeth-Neuproduk­ tion heraus. Elisabeth Höngen singt die Lady Macbeth (Bild), Josef Metternich den Macbeth.

Zeitleiste Macbeth

Ein drittes Mal leitet Karl Böhm eine Neuproduktion von Macbeth an der Wiener Staatsoper.

1970

1982

Am 7. Dezember kam die bisher vorletzte Macbeth-Produktion zur Pre­miere.

2009

Giuseppe Sinopoli leitet mit einem neuen Macbeth seine zweite Premiere an der Wiener Staatsoper.

2015

3. Juni: 100. Vorstellung von Macbeth im Haus am Ring in Wien.

2016

Am 4. Oktober kam die aktu­elle Macbeth-Produktion zur Premiere.

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Giuseppe Verdi

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Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER OPER Ernani, 1844: nach Victor Hugo; I due Foscari, 1844: nach Lord Byron; Giovanna d’Arco, 1845: nach Schiller; Alzira, 1845: nach Voltaire; Attila, 1846: nach Friedrich Ludwig Zacharias Werner. Der größte Teil der Opernsujets der letzten Jahre entsprang namhaften Dichtern, die Auseinandersetzung mit ihnen war auch eine Auseinandersetzung mit Erzählweisen und dramaturgischen Modellen. Und nun war die Zeit reif für eine erste Annäherung an William Shakespeare, und mit seiner 10. Oper wagte sich Verdi an den englischen Dramatiker (endlich) heran. Wobei das „endlich“ mehr einer heutigen Sicht entspringt, denn im Italien in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren dessen Werke bei weitem nicht so populär, selbstverständlich und naheliegend wie nun im 21. Jahrhundert. Er war kein Unbekannter, seit Carlo Rusconi 1838 eine italienische Übersetzung seiner Dramen herausgegeben hatte; man las und rezipierte ihn, aber eben noch nicht in jenem Maße wie später. Drei Werke standen zur Auswahl, als der Florentiner Impresario Alessandro Lanari Verdi für die Karnevalssaison 1847 um ein neues Werk bat – Grillparzers Ahnfrau, Schillers Räuber und Shakespeares Macbeth. Die Ahnfrau wurde nie vertont, die Räuber kamen noch im selben Jahr in London heraus. Für dieses Mal, für Florenz sollte es aber Macbeth werden, wohl auch aus ganz pragmatischen Gründen. Den Tenor, den Verdi für die Räuber benötigte, konnte Florenz nicht aufbieten. Abgesehen davon interessierte sich Verdi aktuell für ein möglichst numinoses Sujet, denn gerade in Florenz hatten zwei Opern anderer Komponisten in den letzten Jahren besondere Erfolge gefeiert: Robert le diable von Giacomo Meyerbeer und Der Freischütz von Carl Maria von Weber. Etwas Fantasievolles, Mystisches musste also her, und genau dies brachte Verdi in einem Brief an Lanari auch zu Papier. Nicht politisch noch religiös sei der Stoff, sondern fantastisch. Vielleicht, so kann man auch vermuten, war Verdi ein Shakespeare im nicht so Shakespeareaffinen Florenz lieber als in London; in London, also außerhalb Deutschlands, wiederum der Schiller. Pragmatisches Denken soll auch in der Kunst nicht unterschätzt werden. Jedenfalls: Verdi hatte über die Gräfin Maffei Giulio Carcano kennengelernt, der sich mit einer Übersetzung der Shakespeare’schen Werke Verdienste

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Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng

erworben hatte. Und in diesem Dichter bewunderte Verdi die dramatische Darstellungskraft, die Schärfe eines Realismus: „Er ist mein Lieblingsdichter, den ich seit der frühen Jugend in Händen gehabt habe, lese und immer wieder lese“, steht in einem Brief an den Verleger Léon Escudier. Der präzise und tiefe Blick in die menschliche Seele, die durch keine moralische Wertung gefärbte Beschreibung der Handlung und der Aktionen verbindet die beiden Autoren; Verdi nahm sich Shakespeare zu Herzen und entwarf für den Macbeth, den er für „eine der größten Schöpfungen der Menschheit“ hielt, eine neue Musiksprache, die damals den Charakter des Experimentellen hatte. Denn es war eine Abkehr von einem reinen Schöngesang, gleichzeitig aber auch eine Abkehr von liebgewonnenen Schematismen, alleine schon, was die Besetzung betraf: Das zentrale Liebespaar fehlt in dieser Oper. Ausdruck, Ausdruck, Ausdruck, so die Forderung des Komponisten, gleichzeitig aber auch: Kürze! Diese forderte er von Piave ein, trieb diesen zu schnellem Arbeiten an und behandelte ihn, wie des Öfteren, wenig entgegenkommend. Ja, er zog sogar einen Co-Librettisten, Andrea Maffei, hinzu. In einem Atemzug wollte er Erhabenheit von den Protagonisten, gleichzeitig aber auch Extravaganz vom Hexenchor. Dass er mit dem Werk eine neue Richtung einschlug, war ihm bekannt, ja er sah sich als Mauerbrecher für die gesamte italienische Opernszene, wie er Lanari anvertraute: „Ich glaube, dass diese Oper unserer Musik eine neue Richtung und den jetzigen und künftigen Komponisten neue Wege öffnen kann.“ Nicht nur dem Librettisten (der letztendlich nicht einmal genannt wurde) forderte er Intensivstes ab, auch die Sänger mussten sich an Verdi, den Antreiber und Präzisionsapostel, gewöhnen. Berühmt sind die Erinnerungen der ersten Lady Macbeth, Marianna Barbieri-Nini (siehe Seite 31), die von mehr als 150 Proben eines einzigen Duetts berichtet. „Der unerbittliche Verdi kümmerte sich nicht darum, dass er die Sänger ermüdete, dass er sie Stunde um Stunde mit demselben Stück plagte. Und solange nicht jene Interpretation erreicht war, die sich nach seiner Auffassung am wenigsten schlecht zu dem Ideal seiner Vorstellung fügte, ging er nicht zu einer anderen Szene weiter“, hieß es in einer zeitgenössischen Dokumentation der Arbeit an der Produktion. Wie zuvor niemals hat Verdi die Partitur mit Eintragungen versehen, die auch exakt den musikalischen Ausdruck definierten; die Anwei-

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Die Entstehungsgeschichte der Oper | Oliver Láng

sung, die Lady Macbeth müsse hässlich und böse sein, und eine raue, hohle Stimme haben, ist Gegenstand oftmaliger Diskussionen. Gemeint hat Verdi hier wohl den Ausdruck, die Wahrhaftigkeit, die Spiegelung der begierigen Seele. Nicht zu Unrecht sieht der Musikologe Joachim Campe Macbeth als das Ende des Belcanto an. Der Erfolg dieser neuen Oper im Teatro alla Pergola in Florenz war kein unbestrittener. Verdi, der auch dirigierte, widmete das Werk seinem Schwiegervater, Antonio Barezzi: Die Oper solle von Herzen zu Herzen gehen, und auch wenn das Sujet düster ist, sei es jenes, das Verdi als sein (bisher) meistgeliebtes beschrieb. Rund 20 Jahre später kehrte der Komponist noch einmal zum Macbeth zurück. Für das Pariser Théâtre Lyrique schuf er eine zweite Fassung, die etliche Umarbeitungen aufweist; zudem wurde die Oper, die am 21. April 1865 in ihrer zweiten Fassung erstmals erklang, in Paris in einer französischen Übertragung gegeben. Auch diese Premiere wurde nur kühl aufgenommen; der große Erfolg des Macbeth sollte sich erst im 20. Jahrhundert einstellen … Zwei Details am Rande: Beim Macbeth übertraf das Honorar, das Verdi für eine Oper erhielt, erstmals jene des früh verstorbenen und als Genie gefeierten Kollegen Vincenzo Bellini. Und beim Macbeth notierte Verdi erstmals Metronom-Zahlen in die Partitur, sodass es ein verbindliches Tempomaß gab.

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Marianna Barbieri-Nini, die Uraufführungssängerin der Lady Macbeth

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Verdi, der Tyrann | Marianna Barbieri-Nini

VERDI, DER TYRANN Marianna Barbieri-Nini über die Vorbereitungszeit der Uraufführung

„Der Maestro kümmerte sich auf den Proben um jedes Detail der Partitur, und ich erinnere mich, dass wir morgens und abends, im Foyer des Theaters oder auf der Bühne zitternd auf den Maestro blickten, sobald er erschien, und abzulesen versuchten, ob es für diesen Tag irgendeinen neuen Einfall gäbe. Wenn er mir fast lächelnd entgegenkam, und etwas sagte, das wie ein Kompliment klang, war ich sicher, dass mir an diesem Tag eine noch längere Probe ins Haus stand. Ich erinnere mich, dass es zwei Höhepunkte für Verdi in seiner Oper gab: die Schlafwandlerszene und mein Duett mit dem Bariton. Nicht zu glauben, aber die Schlafwandlerszene allein kostete mich drei Monate Einstudierungszeit: für drei Monate, morgens und abends, versuchte ich jene zu imitieren, die im Schlaf sprechen, Worte stammeln (wie Verdi es mir vorschrieb), fast ohne die Lippen zu bewegen, den Rest des Gesichts unbeweglich lassen, einschließlich der Augen. Es war zum Verrücktwerden! Das Duett mit dem Bariton, das Fatal mia donna! beginnt, wurde ohne Übertreibung mehr als einhundertfünfzigmal geprobt, damit es mehr gesprochen als gesungen sei, wie der Maestro sagte. ... Wir wurden gezwungen, dem Tyrannen zu gehorchen. Ich kann mich immer noch an die drohenden Blicke, die Varesi [der Uraufführungs-Sänger des Macbeth] ihm auf dem Weg ins Foyer zuwarf, erinnern; mit seiner Hand am Griff des Schwertes wirkte er, als wollte er gleich Verdi niedermetzeln, so wie er später König Duncan niedermetzelte.“

Die Sopranistin Marianna Barbieri-Nini (1818-1887) sang die Lady Macbeth bei der Uraufführung der Oper in Florenz.

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Verdis Galeerenjahre

VERDIS GALEERENJAHRE Eine der berühmtesten Briefstellen Giuseppe Verdis stammt aus dem Jahr 1858 und entstammt einem Schreiben an seine Vertraute Clara Maffei: „Seit Nabucco habe ich, kann man sagen, nicht eine Stunde Ruhe gehabt. Sechzehn Galeerenjahre.“ Gemeint ist damit die fast pausenlose Produktion einer Oper nach der anderen; meistens werden die Jahre von Nabucco (1842) bis Rigoletto im Jahr 1851 (dem ersten Werk der trilogia popolare, also jenen drei Opern – Rigoletto, Trovatore, Traviata –, mit denen Verdi vom populären Komponisten zum italienischen Operngott aufgestiegen ist) genommen; Verdi selbst dehnte diese Galeerenjahre tatsächlich auf 16 aus, also bis Un ballo in maschera im Jahr 1859. Erst danach trat eine spürbare Verlangsamung und zeitweise Abkehr vom heimatlichen Opernwesen ein. Nach Ballo kam La forza del destino im Jahr 1862 – geschrieben für St. Petersburg –, Don Carlos im Jahr 1867, geschrieben für Paris, und schließlich Aida im Jahr 1871, geschrieben für Kairo. Dass Verdi mit diesem Arbeitstempo gefordert, herausgefordert war und sich mitunter auch überfordert fühlte, steht außer Zweifel. Doch sprach er bei anderer Gelegenheit davon, dass er nun einmal einer sei, der die Arbeit suche. Ungewöhnlich ist eine solche Produktionsmenge freilich nicht. Man denke nur an einen Rossini oder Donizetti, also die „Väter“ Verdis, die in derselben Zeit noch deutlich mehr Werke produzierten. Doch „funktionierte“ Verdi nach den Regeln dieses italienischen Opernbetriebs nicht einwandfrei: Gerade in der Zeit vor Macbeth verließen ihn seine Kräfte (heute spräche man wohl von einem Burnout), er pausierte, litt unter Erschöpfung und unter gereizten Nerven, machte im Sommer 1845 eine Trinkkur in Recoaro. Erst ab Anfang 1846 kommt die „Produktion“ (mit dem Macbeth) wieder in Schwung. Dieses beständige Arbeiten hatte freilich mit den theaterimmanenten Umständen Italiens der Mitte des­ 19. Jahrhunderts zu tun. Ein Repertoirebetrieb, wie er heute selbstverständlich ist, existierte nicht, die Opernunternehmer – Impresari – engagierten Sänger, Musiker, Bühnenbildner und eben auch Komponisten und waren bestrebt, ständig neue Werke herauszubringen. Zentral waren

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Verdis Galeerenjahre

die drei Spielzeiten, die Karnevalsstagione, die Frühjahrsstagione und die Herbststagione. Der Komponist war Auftragnehmer und hatte das Werk mehr oder minder nach den Vorgaben des Impresarios zu verfassen. Immer wieder wurden auch Wünsche einzelner Sängerinnen und Sänger laut, die eine geänderte Arie wollten; was zählte, war in erster Linie der Publikumserfolg (und damit der finanzielle Erfolg), der oftmals eng mit einzelnen Stars verknüpft war. Erst nach und nach machte sich Verdi von dieser Produktionsmaschinerie frei – mit seinem wachsenden Ruhm und immer bekannter werdenden Namen konnte er es sich mehr und mehr leisten, nach seinen eigenen Regeln zu arbeiten. Dazu gehörte etwa auch, dass er sich Sänger aussuchen bzw. ablehnen konnte. Zu diesem Willen an Eigenständigkeit gehörte es aber auch, dass Verdi, mehr als andere Italiener vor oder neben ihm, Einfluss auf das Libretto nahm und es bewusst mitgestaltete: Gerade sein bestimmter (mitunter auch rüder) Umgang mit Piave, so dieser nicht das Gewünschte für den Macbeth lieferte, zeugt von dieser Haltung.

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Erstausgabe des Macbeth 1623

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Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng

MACBETH: SCHAUSPIEL UND OPER IM VERGLEICH Was war es für ein Skandal, als sich Charles Gounod den Faust als Opernsujet vornahm und ihn für das Musiktheater adaptierte. Darf man das? Nein!, riefen die deutschen und deutschsprachigen Kritiker, und zwar jahrzehntelang, fast unisono, und es lag nahe, dass die Oper hierzulande nur unter dem Titel Margarete herauskommen durfte. Alles andere wäre Majestätsbeleidigung gewesen, wobei mancherorts vergessen wurde, wieviel vom in der Opernfassung vermeintlich Fehlenden der Komponist in der und durch die Musik sagte. Musikdramaturgie gehorcht nun einmal anderen Gesetzen als reine Schauspieldramaturgie, und dass die Musik eine zweite Ebene sein kann, in der viel Ungesagtes kommuniziert wird, ist inzwischen ja beinahe schon eine Binsenweisheit. Ähnlich, wenn auch nicht so brisant, verhielt es sich mit dem Macbeth. Nicht so brisant, weil es sich um einen englischen und nicht deutschen Autor handelte, den man eher aus einer Übertragung kannte, und der Macbeth hierzulande nicht jene Meisterwerk-Aufladung hatte, die dem Faust anhing. Aber dennoch: „Wenn irgend ein Shakespeare-Enthusiast das Textbuch des Macbeth, das der in allen Textbuchnöten bewährte Piave für Verdi schrieb, liest, wird er das unabweisbare Verlangen empfinden, vor Verzweiflung an einer Wand hinaufzuklettern und etliche Schmerzensschreie auszustoßen“, las man in der Wiener Zeitung noch 1933, als das Werk an der Wiener Staatsoper erstmals gespielt wurde. Hier heißt es, bedachtvoll vorgehen, denn so vorschnell ist der Opernstoff nicht zu verurteilen. Zweifellos wurden gewaltige Kürzungen und Raffungen vorgenommen, diese aber nicht willkürlich, sondern im Sinne einer vorausschauenden Musiktheaterdramaturgie. Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass Verdi kein Englisch verstand und die Werke Shakespeares aus italienischen Übertragungen, wie etwa jene von Giulio Carcano und Carlo Rusconi, kannte – bei Letzterer handelt es sich wohlgemerkt um eine freie Übertragung und nicht nur um eine Übersetzung: Ruconi bearbeitete die Werke nach Gutdünken und scheute sich auch nicht vor tatsächlichen

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Eingriffen in den Text. Wo aber liegen die Unterschiede zwischen dem Schauspiel und der Oper? Zunächst einmal wurden die Rollen stark reduziert: Bei Shakespeare fanden sich 24 Personen exklusive drei Hexen und Hekate, nicht gerechnet die Gruppen wie Lords, Mörder, Erscheinungen, Edelleute. Bei Verdi waren es weniger als die Hälfte (zuzüglich des Chores), wobei König Duncan von einer mittelgroßen Rolle (im Stück) zu einer stummen, kleinen Rolle in der Oper mutierte und Banquos Sohn Fleance ebenfalls zu einer stummen Rolle schrumpfte; ebenso wurde die Aktzahl von fünf im Drama auf vier in der Oper gesenkt. Diese Reduktionen führten im Sinne einer Handlungsdramaturgie noch zu keiner entscheidenden Änderung, ebensowenig das Streichen der zahlreichen und raschen Ortwechsel im Shakespeare’schen Original: Das Wie veränderte sich, der Sujet-Kern hingegen blieb gewahrt. Einhergehend mit diesen Personenund Schauplatzstreichungen erfolgte eine Tilgung einzelner Akzente, wie etwa der Pförtnerszene (2. Akt, 3. Szene im Schauspiel), die mittels des angeheiterten Pförtners ein, in seiner Entstehungszeit übliches, komisches Element darstellt. Dieses fand in der Oper keine Verwendung, wobei es Piave gelang, die dadurch entstehenden Logik- und Schlüssigkeitsdefizite geschickt und theaterpraktisch zu überbrücken: Im Schauspiel (2. Akt, 2. Szene) hören Macbeth und Lady Macbeth ein Pochen, in der nächsten Szene ist der Pförtner zu sehen, der auf eben dieses Klopfen am Tor reagiert und die Tür öffnet; Macduff und Lenox (ein schottischer Edelmann) begehren Einlass, um den König zu wecken. In der Oper fehlt, wie gesagt, die Pförtnerszene, wodurch sich die Situation ergibt, dass die Macbeths ein Klopfen am Burgtor (Regieanweisung!) hören und in der nächsten kurzen Szene Macduff bereits das Zimmer des Königs betritt. Dass dieser klopft und Einlass begehrt, wird in der Oper nicht gesagt, ergibt sich allerdings aus dem szenischen Zusammenhang. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich die verknappende Arbeitsweise der Autoren: Was im Schauspiel im szenischen Verlauf genau und fugenfrei abgewickelt wird, findet in der Oper nur in einzelnen Schlaglichtern statt, ohne dadurch aber an Schlüssigkeit zu verlieren. (Man darf auch nicht vergessen, dass Teile des Publikums womöglich das Stück schon gelesen hatten und es daher nur darum ging, einen bereits bekannten Stoff neu auszuleuchten, nicht aber vollständig zu erklären.)

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Stärker ins Gewicht fällt der Eingriff in die Persönlichkeiten von Macbeth und Lady Macbeth. In der zweiten Szene des Schauspiels etwa wird ein Dialog zwischen König Duncan und seinen Edelleuten abgehandelt, in dem die Taten Banquos und Macbeths positiv hervorgehoben werden. Aus Sicht Dritter wird so der (loyale) Charakter Macbeths beschrieben, noch bevor man ihn als Figur auf der Bühne erlebt. Erst dann kommt es zum Zusammentreffen der Hexen mit Macbeth und zu der ersten Weissagungsszene. Sodann beschreibt Shakespeare präzise die Wandlung des Feldherrn zum Königsmörder, lässt Macbeth das Wort „suggestion“, Versuchung, aussprechen, eine Versuchung, die ihm Angst macht. Auch in der Oper fühlt Macbeth den Schrecken bei der Prophezeiung („quasi con ispavento“ – „Fast mit Schrecken“), zumal auch in der Musik die Bedrohung und Gefahr hörbar wird; doch wird das Schwanken des Königs im Schauspiel (im Gegensatz zur Oper) ausführlich vor Augen des Publikums geführt. Seinen aufflackernden Drift ins Mörderische („Verbirg dich, Sternenlicht! Schau meine schwarzen Wünsche nicht!“, 1. Akt, 4. Szene) haben die Opernautoren nicht nachvollzogen, sondern es Lady Macbeth überlassen, die treibende negative Kraft zu sein. Das zeigt sich zum Beispiel auch in einem Detail: Beim ersten Zusammentreffen des Macbeth-Ehepaares lässt Shakespeare folgenden Dialog ablaufen: Macbeth: Mein teures Leben, Duncan kommt heute noch. Lady Macbeth: Und wann geht er wieder? Macbeth: Morgen, so denkt er – Lady Macbeth: Oh, nie soll die Sonne den Morgen sehen! … In der Oper hingegen: Macbeth: Gleich wird der König kommen. Lady Macbeth: Und gehen? Macbeth: Morgen. Lady Macbeth: Nie geh uns die Sonne zu diesem Morgen auf. Macbeth: Was sagst du? Lady Macbeth: Du verstehst nicht? Macbeth: Verstehe, verstehe!

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Man sieht an dieser Stelle, wie nahe der Operntext an jenem des Schauspiels ist und mit wie kleinen Änderungen die Opernautoren die kriminelle Tatenergie umzuleiten verstanden. Auf die Frage, wann Duncan wieder die Macbeth’sche Burg verlasse, antwortet Macbeth: „Morgen, so denkt er“, was doppeldeutig verstanden werden kann, im Sinne eines bereits gefassten Mordplanes (den er ja in der zuvorgehenden Szene bereits ausgesprochen hat). In der Oper aber sagt Macbeth nur „morgen“ – die Anspielung auf eine Tötung muss Lady Macbeth vornehmen; Macbeth bleibt dadurch moralisch integrer. Abgesehen davon lässt Verdi in dem darauffolgenden „Was sagst du?“ Macbeths ihn auf musikalischer Ebene erschrocken reagieren: Auch wenn ihm der Gedanke zur Tat schon gekommen wäre, so erschrickt er zumindest bei der ausgesprochenen Tatsache. Wie bereits angedeutet, fehlt im Libretto die detaillierte Entwicklung Macbeths zum Bösen hin. Hier nimmt die Oper die Abkürzung: Zwar leidet Macbeth vor dem Mord, doch ist das moralische Hin und Her weniger bedeutsam, was zählt ist die Tat, nicht der Weg dorthin. Das Disparate in seinem Charakter wird zurückgedrängt: Im Drama quälen ihn auf der einen Seite Ängste und Zweifel, auf der anderen trägt er aber auch Konstruktives zur Mordplanung bei. Auch hier ein Detail mit großem Gewicht: Die Idee, die Wachen mit Duncans Blut zu beschmieren, geht bei Shakespeare zunächst auf ihn zurück, in der Oper aber auf seine Frau. Macbeth ist hier wieder mehr das Werkzeug, der Furchtsamere, weniger Aktive. Im Falle der Partie der Lady Macbeth ist die charakterliche Transformation weniger stark ausgefallen, da sie bei Shakespeare bereits zu Beginn ein abgeschlossener Charakter ist und eine allmähliche Wandlung zum Bösen hin, wie bei ihrem Ehemann, ausgespart wird. Ihre Entschlossenheit wird im Libretto verknappt, ohne dass ihr dadurch dramatische Kraft genommen werden würde; auch die Musik spricht – wie zum Beispiel in ihrer ersten Arie – eine eindeutige Sprache. Entgegensteuernde Momente bei Shakespeare – vor dem Mord an Banquo will Macbeth seiner Frau nichts über diesen erzählen, um sie zu schützen – kommen in der Oper nicht vor; vielmehr haben die Opernautoren an dieser Stelle eine, im Schauspiel nicht

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Macbeth: Schauspiel und Oper im Vergleich | Oliver Láng

vorhandene, Triumphpassage Lady Macbeths eingefügt, nachdem sie vom geplanten Mord an Banquo erfahren hat. Doch nicht nur Kürzungen, auch Ergänzungen ergaben sich durch die Arbeit an der Oper: Banquo erhielt eine Arie vor seinem Tod und Lady Macbeth ein Trinklied, das einen musikdramatisch idealen Kontrast zu den dieses unterbrechenden Horror-Schüben Macbeths erzeugt. Ein besonderes Beispiel der Qualität der Raffungen Piaves zeigt sich in den finalen Betrachtungen Macbeths; der Wissenschaftler Christian Springer hat hier mehrfach auf die Qualität der Verknappung Piaves hingewiesen. Während es bei Shakespeare heißt: „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht Sein Stündchen auf der Bühne, und dann nicht mehr Vernommen wird; ein Märchen ist’s, Erzählt von einem Narren, voller Wut und Klang, Das nichts bedeutet.“ lautet es in der Oper: „Das Leben! … Was bedeutet das schon? Das Märchen eines armen Narren; Schall und Rauch, ohne Bedeutung!“ Deutlich kürzer freilich, doch fehlt nichts an der Aussage. Ein Beispiel einer gelungenen Transformation, die den Bedürfnissen des Musiktheaters entgegenkommt, aber dem Sinn des Dramas treu bleibt. Wie sagte man über Piave? Er sei einer, der ein Meer mit einem Löffel einfangen könne. Mit Macbeth ist ihm dies jedenfalls gelungen.

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Brief Verdis an seinen Schwiegervater Antonio Barezzi, in dem er Macbeth als seine liebste Oper bezeichnet, 1847

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Briefe

BRIEFE Verdi an Alessandro Lanari  15. Oktober 1846 Hier hast Du das Exposé zu Macbeth, und Du wirst begreifen, worum es geht. Wie Du siehst, benötige ich einen erstklassigen Chor: insbesondere der Frauenchor muss exzellent sein, denn es wird zwei Chöre der Hexen geben, die von größter Wichtigkeit sind. Achte auch auf die Bühnenmaschinerie. Kurzum, die Dinge, auf die bei dieser Oper besonderes Augenmerk zu legen ist, sind: Chor und Maschinerie.

Verdi an Giovanni Ricordi  29. Dezember 1846 Liebster Ricordi, Ich akzeptiere den Vertrag, den Du für meine neue Oper Macbeth entworfen hast, die in Florenz zum Karneval gebracht werden wird. Allerdings stelle ich die Bedingung, dass du keine Vorstellung des Macbeth an der Scala erlaubst. Ich kenne ausreichend Fälle, um sicher zu sein, dass man an diesem Haus nicht weiß oder wissen will, wie man Opern anständig aufführt – besonders die meinen. Es geht mir nicht aus dem Sinn, wie entsetzlich Lombardi, Ernani, Due Foscari in Szene gesetzt worden waren. Und auch noch Attila! Du kannst Dir die Frage stellen, ob dieses Werk trotz gutem Ensemble übler inszeniert werden könnte? Ich sage es also noch einmal, dass ich den Macbeth an der Scala nicht gestatte, solange sich die Dinge dort nicht bessern.

Verdi an Marianna Barbieri-Nini  2. Jänner 1847 Ich habe versucht, ... Musik zu machen, die, so gut ich vermochte, an das Wort und die Situation gebunden ist; und ich wünsche, dass die Künstler diese meine Idee genau verstehen, ich wünsche also, dass die Künstler mehr dem Dichter als dem Komponisten dienen.

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Briefe

Verdi an Felice Varesi  7. Jänner 1847 Nie werde ich damit aufhören, Dir einzuschärfen, dich mit dem Text und der Darstellung gut auseinanderzusetzen; die Musik hingegen kommt von selbst. Aus dem ersten Duettino kannst du viel herausholen (mehr als aus einer Cavatina). Gib dir bei der Darstellung Mühe, wenn Macbeth den Hexen begegnet, die ihm den Königsthron weissagen. Bei dieser Prophezeiung bist Du verwundert und erschrickst, im selben Augenblick spürst du den Ehrgeiz, König zu werden. … Im großen Duett müssen die ersten RezitativWorte, wenn er mit dem Diener spricht, ohne Betonung gebracht werden. Wenn er aber allein ist, wird er aufgeregter und glaubt, den Dolch in seiner Hand zu sehen, der ihm den Weg zum Mord an Duncan weist. Dabei handelt es sich um einen sehr beeindruckenden Augenblick, auf diesen achte sehr! Achte auch auf die Nachtszene: Alle schlafen, das Duett muss sotto voce gebracht werden, mit düsterer Stimme, die Entsetzen einflößt. … Das Orchester wird an diese Stelle sehr leise spielen, und ihr sollt auch mit gedämpfter Stimme singen.

Verdi an Alessandro Lanari  21. Jänner 1847 Wenn Du die Musik erhältst, wirst Du sehen, dass zwei Chöre von größter Bedeutung dabei sind: Spare nicht an den Choristen, und Du wirst zufrieden sein. Achte darauf, dass die Hexen immer in drei Gruppen aufgeteilt sein müssen, am besten wäre, wenn sie 6.6.6 wären, insgesamt also 18 etc. ... Ich lege Dir den Tenor ans Herz, der den Macduff singen soll; und dann müssen alle zweiten Partien gut besetzt sein, denn die Ensemblenummern erfordern gute Stimmen. An diesen Ensemblenummern ist mir sehr gelegen. Ich kann Dir nicht genau sagen, wann ich nach Florenz kommen werde, denn ich will die ganze Oper hier in Ruhe fertig stellen. Du kannst sicher sein, dass ich zeitgerecht eintreffen werde. Verteile die Partien der Chöre und SoloSänger einzeln, damit ich, wenn ich eintreffe, nach zwei oder drei Proben die Orchesterproben angehen kann, denn es werden viele Orchester- und Bühnenproben nötig sein.

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Verdi an Antonio Barezzi  25. März 1847 Seit langer Zeit trage ich den Gedanken, Ihnen, der Sie mir ein Vater, Freund und Gönner gewesen sind, eine Oper zu dedizieren. Es ist eine Pflicht, die viel früher schon hätte erfüllt werden sollen, und ich hätte es getan, wenn die Umstände es gestattet hätten. Hier ist nun Macbeth, den ich von allen meinen Opern am meisten liebe und die daher würdiger ist, Ihnen überreicht zu werden. Von Herzen möge es zu Herzen gehen. Und es sei ein Zeugnis des ewigen Gedenkens, der Dankbarkeit und der Liebe, die Ihnen Ihr ergebener Giuseppe Verdi entgegenbringt.

Verdi an Salvadore Cammarano  23. November 1848 Ich weiß, dass Sie den Macbeth proben, und da es eine Oper ist, für die ich mehr Interesse habe als für die andern, gestatten Sie mir wohl, dass ich darüber einige Worte sage. Man hat der Tadolini die Partie der Lady Macbeth gegeben, und ich bin sehr erstaunt, dass sie eingewilligt hat, diese Partie zu übernehmen. Sie wissen, wie hoch ich die Tadolini schätze, und sie selbst weiß es, aber in unserem gemeinsamen Interesse halte ich es für nötig, hier eine Überlegung anzustellen. Die Tadolini hat zu große Fähigkeiten für diese Rolle! Sie werden das für eine Ungereimtheit halten!! Die Tadolini ist eine gute, schöne Erscheinung, und ich möchte die Lady Macbeth ungestalt und hässlich haben. Die Tadolini singt vollendet, und ich wünsche, dass die Lady überhaupt nicht singt. Die Tadolini hat eine staunenswerte, helle, klare, gewaltige Stimme, und ich möchte für die Lady eine raue, erstickte und hohle Stimme haben. Die Stimme der Tadolini hat etwas Engelhaftes, und die Stimme der Lady sollte etwas Teuflisches an sich haben. Übermitteln Sie diese Gedanken dem Theaterunternehmen, dem Maestro Mercadante, der mehr als jeder andere diese Vorschläge billigen wird, selbst der Tadolini; aber gehen Sie ganz nach Ihrem Ermessen vor, so wie Sie es für besser halten. Sagen Sie, dass die Hauptstücke der Oper diese zwei sind: das Duett zwischen der Lady und ihrem Gatten und die Nachtwandlerszene. Wenn diese zwei Stücke verloren gehen, liegt die Oper am Boden. Diese beiden Stücke dür-

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Briefe

fen durchaus nicht gesungen werden: Man muss sie in Handlung umsetzen und dabei mit hohler Stimme und verschleiert deklamieren: Sonst kann es keine rechte Wirkung geben. Das Orchester gedämpft (colle sordine). Die Bühne aufs Äußerste verdunkelt. Im dritten Akt dürfen die Erscheinungen der Könige … keine Puppen sein, sondern echte Menschen von Fleisch und Blut … Die Bühne muss vollkommen dunkel sein, besonders wenn der Kessel verschwindet, hell nur da, wo die Könige vorbeiziehen. Die Musik unter der Bühne muss (für das große Theater San Carlo) verstärkt werden, aber achten Sie wohl darauf, dass keine Trompeten und Posaunen dabei sind. Der Klang muss von fern kommen und dumpf sein und muss daher nur von Bassklarinetten, Fagotti, Kontrafagotten und keinen anderen Instrumenten hervorgebracht werden. Leben Sie wohl ...

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Ferruccio Furlanetto als Banquo, Wiener Staatsoper 2015

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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler

GENIE, PATRIOT UND GESCHÄFTSMANN Biographische Notate zum jungen Verdi Die vielfache Annahme, dass Giuseppe Verdi aus dem Nichts kam, ist eine Legende, die schlicht falsch ist. Verdi hat sein Leben lang der Nachwelt damit Vorschub geleistet, dass er sich als instinktiver, spontaner Künstler bezeichnet hat. Diese personifizierende Aussage wurde noch oft aufgegriffen, doch heute würde das wohl kein Verdi-Kenner bestätigen. Verdi genoss nämlich eine Ausbildung von profunder Gelehrsamkeit, als er in Busseto sieben Jahre lang im Gymnasium in Latein, höherer Grammatik, Rhetorik und in humanistischer Kultur unterrichtet wurde. Carlo Verdi, der Vater, Gastwirt und Musikliebhaber, hat die musikalische Begabung des Sohnes früh erkannt, als er dem Siebenjährigen ein Spinett kaufte. Nach dem ersten Musikunterricht in Busseto 1824 wird er vom Kirchenmusiker Giuseppe Provesi in Harmonielehre und Kontrapunkt unterwiesen, was zur schicksalsbestimmenden Begegnung mit seinem Mäzen und späteren Schwiegervater, Antonio Barezzi, führt, der dem drängenden Verdi ein Stipendium für Mailand besorgte.­Der Provinz-Mäzen begleitete die Ausbildung des jungen Verdi, nachdem schon Carlo Verdi gezielt den Jüngling Giuseppe von Le Roncole in die Bezirksstadt Busseto schickte. Wenn Carlo Verdi für seinen Kleinladen die Lebensmittel ausgerechnet beim Grossisten Barezzi in Busseto einkauft, dann zeigt das kein spontanes, sondern ein wohlkalkuliertes Bildungsziel, das letztlich der 18jährige Sohn mit höchstem Selbstbewusstsein weiterverfolgten wird, nämlich: der größte Opernkomponist zu werden. Dabei gilt es für Verdi, auf Nummer sicher zu gehen, wenn er ausgerechnet in Mailand seine Studien vervollständigen will und nicht in Bologna, wo schon Rossini, Pacini, Donizetti „gelernt“ haben, oder in Neapel, wo Generationen von Komponisten ausgebildet wurden. Für Verdi gibt es nur ein Ziel und das heißt: das „Teatro alla Scala“ in Mailand zu erobern.

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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler

Die lombardische Metropole war eine sprudelnd lebhafte Stadt, in der, parallel zur prosperierenden Ökonomie, einzigartige Kulturen aufblühten. Neben dem Teatro alla Scala gab es die besten Sprechtheater Italiens; es wurden zahlreiche Werke nationaler und internationaler Autoren verlegt. Vor allem aber waren die Musikverlage Ricordi und Lucca von höchster operativer Bedeutsamkeit, genauso wie die italienische Aristokratie. Das „Milano Bene“ mit ihren Salons, rekrutierte sich aus den Familien Belgiojoso, Borromeo oder Litta, es gab die „Società dei Nobili“ der Literaten und Maler, und vor allem gründete der Musiker und Gesangslehrer Pietro Massini die „Società dei Filarmonici“ und das „Casino dei Nobili“, wo am 16. April 1834 der „Giovine Maestro sig. Giuseppe Verdi……“ mit „Cuore e intelligenza“ (schreibt Giacinto Battaglia) Haydns Schöpfung vom Cembalo aus dirigierte. Ob Graf Pompeo Belgiojoso und Renato Borromeo anwesend waren, wie Verdi Jahrzehnte später an Ricordi schrieb, ist fraglich; doch es war sein Entreebillet in das „Milano Bene“ während seines Privatstudiums beim Komponisten Vincenzo Lavigna. Die Aristokratie wurde von den österreichischen Besatzern geduldet und sie arrangierte sich mit ihnen, weil sie als Staatsbedienstete große Karrieren machte. Es sei hier vorweggenommen, dass sich schon der junge Verdi keineswegs politisch oder patriotisch exponierte, sondern nur daran interessiert war, seine Opern überall aufzu­ führen. Deshalb waren seine Verbindungen mit der Aristokratie so eifrig, weil sie ihm erst Opernaufführungen ermöglichten, um sein weiteres, wichtiges Ziel zu erreichen, Millionär zu werden! Nach drei Jahren kehrte Verdi „schweren Herzens“ nach Busseto zurück, wo er keineswegs der „Sconosciuto“ (Unbekannte) war, was er selbst in Umlauf setzte. Durch das Studium bei Lavigna gewann Verdi bereits die gewichtige Reputation in allen kulturellen Zirkeln der lombardischen Hauptstadt, wo er mit Andrea Maffei oder mit Opprandino Arrivabene Freunde der ersten Stunde kennenlernte, die ihn in die aristokratischen Salons, ins besondere bei Clara Maffei, einführten, wo auch Balzac, Liszt, Scribe oder Dumas verkehrten.

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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler

Verdi hat also schon 1835 einen tiefen Eindruck hinterlassen, weil er u.a. alle Dramen von Shakespeare kannte. Er kommt 1839 zur richtigen Zeit mit seiner ersten Oper an das „Teatro alla Scala“. Mit eiserner Willenskraft verfolgt Verdi einen Weg, auf dem sich Verleger, Impresari, Librettisten, Bühnen und Kostümbildner, Sänger und sogar Zensoren (s)einem Genie von verführerischer Inkommensurabilität fügen werden. Ganz im Sinne des französischen Wortes „génie“ hat der junge Verdi als allmächtiger, allwissender Meister des Melodrams in der Verssprache „Fiorentino – Aureo“ des Trecento nach Petrarca die natürliche Gabe, die angeborene Art, Eigenschaft, den Verstand, den Geist und die übersteigernde Fähigkeit, etwas zu erdenken und letztgültig zu erschaffen. Der mächtige Scala-Impresario Bartolomeo Merelli wird Verdis erste Oper Oberto, Conte di S. Bonifacio 1839 uraufführen. Es wird ein großer Erfolg, Verdi wird schlagartig berühmt und: Er ist damit finanziell unabhängig. Seine Opernhonorare bestimmt er ab nun selbst, genauso die Sängerbesetzungen oder die Bühnenbildner und auch die Autorenrechte. Da der Sardisch-Österreichische Vertrag im Königreich „Beider Sizilien“ nicht anerkannt wurde, verlangte Verdi eine von ihm fixierte Summe an Gebühren vom Verleger. Wenn schon ab 1840 der Künstler Verdi vom Geschäftsmann nicht zu trennen ist, so ist der Weg seit dem Oberto vorgezeichnet, denn schon damals beklagte er sich wegen mangelhafter Bezahlung der Aufführungsrechte, was sich allerdings nach Nabucco ändern sollte, wobei Verdi neben dem Honorar auch noch sagenhafte 50 % von den Verlagserträgen des Verlegers ausgezahlt bekam. Die Oper war in den 1840er Jahren in Italien von ungeheurer Wirkungskraft, die der antiklerikale erste Ministerpräsident Italiens, Camillo Benso Conte di Cavour, als Kunstform erkannte und die auch als prosperierender Wirtschaftsfaktor das neue Italien ankurbeln sollte. Wieso aber konnte Verdi überhaupt zum Mythos der Einheit, ja zum Volkshelden des Risorgimento werden?

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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler

Die alles überlagernden „Patria, Patria, Guerra, Guerra“-Rufe, die Sehnsucht nach Befreiung oder zur Einheit Italiens beantwortet sein singuläres Musiktheater. 1859 wurde in Rom während der Uraufführung von Un ballo in maschera das suggestive Akrostichon „Viva V.E.R.D.I“ (Vittorio Emanuele Re D’ Italia) an die Häuserwände gemalt. Der savoyische König sollte Italien von den Österreichern und Bourbonen befreien und die Herrschaft des Papstes beenden. Der Patriotismus des Privatmenschen Verdi ist allerdings verdächtig! Als Verdi 1859 in Piacenza dem Patrioten Montanelli in Uniform begegnet, rührt ihn sein „nobile esempio“; er bedauert jedoch, nicht mit in den Krieg gehen zu können, weil er es nicht fünf Minuten in der Sonne aushalte (an Clara Maffei). Fünf Minuten in der Sonne? Später schreibt er aus Sant’ Agata „Mein Gesicht ist von Luft und Sonne wie Leder geworden!“ Verdi hat immer vorrangig seine Interessen vertreten: So etwa am 18. März 1848, als die Österreicher bei den „Cinque Giornate“ in Mailand besiegt wurden und er „geschäftlich“ in Paris war. Als Unbeteiligter bezeichnete er dann die Aufstände in Paris mit: „Era uno spettacolo stupendo! sublime!“ („Es war ein wunderbares Spektakel! Erhaben!“) An Francesco Maria Piave schreibt er mit überschäumend-patriotischem Pathos, dass er „queste stupende barricate“ („Diese wundervollen Barrikaden!“) in Mailand versäumt habe und dass er ein republikanisches Italien erwarte. Aber im gleichen Brief (Mailand, 21. April 1848) kündet er gleich seine Rückreise nach Paris wegen „Verpflichtungen und Geschäften“ an. Verdi verhandelte über ausstehendes Geld und das brauchte er auch, da er im Mai – also zwei Monate nach den „Cinque Giornate“ – drei Höfe in Sant’ Agata mit insgesamt 105 Hektar (Ackerland!) erwarb. Das erklärt auch, dass er für die Revolution keine Zeit zu „vergeuden“ hatte. Wie Rossini, Donizetti oder Bellini, die ebenso geniale Geschäftsleute waren, konnte Verdi es sich (noch) nicht leisten, sich realpolitisch zu exponieren. Der wahre Mythos Verdis im Risorgimento substanziert sich schließlich in seinen Chören, die in den 1840-er Jahren allein durch das

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Absingen tagespolitischer Erscheinungsbilder provozierten. Dabei gibt es Erfindungen, die jeder Wahrheit entbehren. So wurde „Va pensiero sull’ali dorate“ aus Nabucco bei der Uraufführung 1842 in Mailand nicht wiederholt, wie es der zweifelhafte zu Fiktionen neigende Verdi-Biograph Franco Abbiati (1959) schreibt. In Neapel war die Erstaufführungsserie des Nabucco 1848 nicht ausverkauft, die Premiere war sogar ein Misserfolg, das Publikum war verärgert. Bei Ernani hingegen gab es politische Reaktionen in Rom. Statt „A Carlo Quinto sia gloria e onor“ wurde „Pio Nono sia gloria e onor“ gesungen, weil der liberale Pius IX. politische Gefangene begnadigte. Dass es in Neapel sowohl für Nabucco oder bei I Lombardi Demonstrationen gab, lag am Bourbonenkönig Ferdinand, der noch 1847 beide Opern aus religiösen Gründen verboten hatte. Viele Chöre lösten Aufstände aus, so kam es am 26. Dezember 1847 in Venedig während der Textstelle „La patria tradita“ aus dem Chor/Cabaletta „Patria oppressa“ (Macbeth), den übrigens der weitunterschätzte Literat, Freund und Librettist (I Masnadieri) Andrea Maffei geschrieben hat, zu lauten Kundgebungen. Freilich spielte Verdis Musik keine revolutionäre Rolle (das Publikum langweilte sich), sondern es war der Text. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Verdi den Macbeth als patriotische Oper konzipierte, wohl aber als politische. Als die Einheit vollzogen war, wuchs Verdis Skepsis: „Merkwürdig! Als Italien in viele kleine Staaten geteilt war, blühten überall die Finanzen! Jetzt, wo wir alle vereint sind, sind wir ruiniert. Aber wo ist der Reichtum von einst!“ Sein abwertend scheinheiliges Gerede gegenüber der Aristokratie, dass er nur ein „Contadino“ oder „Agricoltore“ – also ein einfacher Bauer sei, ist von einer schelmischen „Furbizia“ unterlegt, was im erweiterten Sinne natürlich auch misstrauische Bauern- oder Volksschläue darstellt. Verdi war aber überhaupt kein Bauer oder Mann des Volkes, sondern er war schon vor dem Macbeth 1847 ein reicher, nach der Trilogie La traviata, Rigoletto und Il trovatore ein steinreicher Großgrundbesitzer und viel­ facher Millionär. Verdi als herbeigewünschter Prophet des Risorgimento und weltberühm-

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Genie, Patriot und Geschäftsmann | Carlo F. Pichler

ter Hero des Melodrams wird mit Giuseppina Strepponi, seiner zweiten Ehefrau, im Sommer 1851 auf seinen Landsitz Sant’ Agata ziehen, um seine Ländereien zu verwalten. Penibel achtet Verdi auf die Erträge, seine Landarbeiter und Bauern beobachtet er mit Misstrauen, weil sie „zu zerstreut arbeiteten“. „La Giuseppina“ wird auch nach der Einheit die „Pasta“ (Nudel) „günstiger“ in Neapel kaufen, weil die „Pasta“ im Norden teurer und noch wenig verbreitet war: „40 Kilogrammi della qualità buona, piú Kg. 100 (für die Dienstboten) non di prima qualità!“ Verdi wird in Sant’ Agata die „Welt“ empfangen, er wird bis November 1891 (!) weiterhin Landgüter kaufen und: Er wird weiterhin komponieren (fünf Opern in Sant’ Agata), die Welt bereisen und erobern. Es wäre allerdings völlig falsch, Verdi auf den Geschäftsmann zu reduzieren, obwohl sein künstlerischer Erfolg mit dem wirtschaftlichen einherging und gerade seine die politische Abstinenz haben sein außergewöhnliches Genie mitbestimmt. Seine Musik, die Melodien, die sich keineswegs aus der italienischen Volksmusik ableiten – auch wenn sie schon bald nach der Entstehung überall in den Gassen, auf Plätzen, bei Dorfesten nachgesungen wurden –, sondern welche Verdi auf Prätexte komponierte, von Dichtern verfasst, die zu seinen Lebzeiten (Victor Hugo) zum Teil noch aktiv waren, oder gar die gigantischen Shakespeare- oder Schiller-vertonungen, sind Liebesansprachen an die Volksseele. In Verdis Musik schwimmt nicht das Paradox des alltäglichen Lebens mit, sondern seine Musik höhlt das Leben von Innen aus, wie gelebte Liebe.

Carlo F. Pichler: Studium der Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien und Musik (Klarinette, Gesang) an der Wiener Musikuniversität (damals Hochschule). Schüler und Assistent von Giorgio Strehler (Mailand, Salzburg, Wien). Langjähriger persönlicher Assistent von Götz Friedrich (Amsterdam, London und Berlin). Eigene Schauspiel- und Operninszenierungen u.a. in Deutschland, Italien, Belgien. Konzert- und Operndramaturg. Kulturpublizist u.a. bei der Dolomiten (Bozen/Südtirol). Opernabende mit Analysen/Kommentaren auf RAI Radio Südtirol.

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Giuseppe Verdi

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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner

VERDIS NIE GESCHRIEBENE OPERN Der Künstler muss in die Zukunft schauen, im Chaos neue Welten sehen; und wenn er auf seinem neuen Weg in der Ferne ein kleines Licht sieht, darf ihn die Dunkelheit, die ihn umgibt, nicht erschrecken: er muss weiter­gehen, und wenn er auch manchmal stolpert und hinfällt, muss er aufstehen und seinen Weg weiterverfolgen. 

(Verdi an Achille Torelli im Dezember 1867)

Leicht hat es sich Giuseppe Verdi bei der Verarbeitung der von ihm vertonten Stoffe nie gemacht. Ganz im Gegenteil, pflasterten doch Umarbeitungen, Bearbeitungen, Neufassungen seinen gesamten schöpferischen Weg. Gestolpert, hingefallen und triumphal aufgestanden ist er bekanntlich immer. Tatsächlich lässt sich spätestens seit den 1840er-Jahren bei all seinen verwirklichten Opernprojekten die umfangreiche Recherche bereits in den Vorbereitungen nachweisen. Fast 30 vollendete Opern, schon zu Uraufführungszeiten begleitet von allen Aufs und Abs einer ganz großen Karriere, beeindrucken den heutigen Rezipienten immer wieder. Umso erstaunlicher offenbart sich die immense Summe qualitativ hochwertigster literarischer Stoffe, mit denen sich Verdi neben der Komposition seiner realisierten Bühnenwerke, sprich neben dem Tagesgeschäft nachweislich intensiv beschäftigte. In einer 1996 veröffentlichten, nicht auf Vollständigkeit abzielenden Analyse der handschriftlichen Quellen durch die US-amerikanische Musikwissenschaftlerin Roberta Montemorra Marvin finden sich gar 86 Werke der Weltliteratur, Dramen ebenso wie Romane, die den Komponisten über die Jahre bzw. Jahrzehnte begleiteten. Wenn in Folge einige wenige der geplanten Projekte zu Theaterstücken des von ihm verehrten Shakespeare oder des österreichischen Dramatikers Grillparzer beleuchtet werden, darf die Vielzahl an anderen, von Verdi und seinen Librettisten in Betracht gezogenen Spitzenstoffen nicht außer Acht gelassen werden. An dieser Stelle seien rein exemplarisch aufgezählt: Neben Byrons vertontem Corsair und den Two Foscari bewegte ihn ebenso des Dichters Cain und The bride of Abydos. Während alle von ihm studierten Dramen Schillers Eingang in sein Opern-Œuvre fanden (Giovanna d’Arco, I mas-

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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner

nadieri, Luisa Miller, zum Teil La forza del destino sowie Don Carlos), ließen sich gerade zwei Werke des von ihm über alle Maßen geschätzten französischen Dichters Victor Hugo vertonen. Der Hernani wurde 1844 zu Ernani, Le roi s’amuse fand 1851 in Rigoletto Eingang. Demgegenüber stehen drei weitere bedeutende Werke Hugos, die Verdi für eine mögliche Vertonung erfolglos zu entdecken suchte: Cromwell, Marion Delorme und Ruy Blas. Abbé Prévosts berühmte Manon Lescaut war ihm auch vertraut wie Molières Tartuffe, Racines Phèdre oder Sir Walter Scotts Kenilworth. Die Kernfrage, die sich stellt: Weshalb investierte der vielbeschäftigte Komponist derart viel Energie in scheinbar unergiebige Projekte?

Oper schreiben für Sänger „Der Meister beschäftigt sich mit dem Libretto für Florenz; es gibt drei Möglichkeiten: Die Ahnfrau, I masnadieri und Macbeth. Er wird die Ahnfrau auswählen, wenn er Fraschini bekommen kann [den Sänger, für den er die Rolle des Jaromir in einer möglichen Ahnfrau-Vertonung plante]; sollten sie ihm statt Fraschini den Moriani geben, wird es Macbeth […]“ (Emanuele Muzio an Verdis Schwiegervater Antonio Barezzi)

Welch normative Kraft des Faktischen: Die ideale Besetzung war ebenso eines seiner Spezialrezepte, die am jeweiligen Aufführungsort (sprich Auftrag gebendes Theater) vorhandenen Sänger waren für Verdi das Um und Auf zum Erfolg der Oper. Aus der immensen italienischen Operntradition kommend, wusste er um die Wirkung der passenden Stimmen – und zögerte keinesfalls, sich den örtlichen Gegebenheiten jeweils anzupassen. Hier liegt ein erstes Mal auf der Hand, dass er eine Vielzahl an Stoffen in petto haben musste, um situationselastisch agieren zu können. Legt man nach ersten verworrenen Wegen (auf den erfolgreichen Oberto von 1838 inklusive zahlreicher Neuversionen dauerte es nach dem Desaster von Un giorno di regno 1840 achtzehn Monate bis zu dem immensen Erfolg des Nabucco ab März 1842) die mittlere Schaffensperiode von 1842 (Nabucco) bis 1853 (La traviata) aus, schuf Verdi in diesen elf Jahren 16 Opern. Ein Ausbrechen aus diesem System des Vielschreiben-Müssens im

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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner

Sinne eines freien Komponierens ohne Blick auf Termine, gelang erst nach und nach dank der fortschreitenden finanziellen Unabhängigkeit Verdis.

Eine Ahnfrau für Verdi Wien 1875, dreißig Jahre nach Macbeth. „Dass Grillparzer diese Dekoration erhielt, macht sie für mich umso wertvoller“, so Verdi in einem überlieferten Interview (Juni 1875 in Wien abgedruckt, die italienische Übersetzung erschien im Juli 1875 in Mailand) zu einem Journalisten seiner Zeit. Die Rede war vom Franz-Joseph-Orden mit dem Stern, den Österreichs Kaiser dem Komponisten während seines Wien-Aufenthalts verlieh. Ganz Wien war ob der Anwesenheit des ersten Komponisten Italiens in heller Aufregung, selbst Intimfeind Eduard Hanslick wusste viel Gutes über die Dirigate Giuseppe Verdis an der Hofoper zu berichten. Seine Visite in der Residenz ging am 24. Juni 1875 mit einer Privataudienz in Begleitung von Verleger Ricordi (der sich, so das Wiener Fremdenblatt der Tage, mit den Tantiemen zu den vier Konzerten der Messa da Requiem sowie zwei szenischen Aufführungen von Aida, allesamt im jungen Haus am Ring, eine goldene Nase verdient hatte) bei Franz Joseph I. zu Ende. Die Werke Franz Grillparzers waren Verdi ein Begriff. Nicht zuletzt, da er sich spätestens ab 1846 nachweislich intensiv mit dessen Ahnfrau auseinandersetzte und sie immer wieder als möglichen Opernplan in Diskussionen einfließen ließ. Dennoch, so der Komponist in zitiertem Interview weiter, musste er von dem Drama Abstand nehmen, da es zu viel Romantizismus aufkommen ließ. Und das – „serait quelque chose pour L’Ambigu ou pour la Porte Saint-Martin.“ (Dieser Satz ist ausschließlich auf Französisch tradiert, angesichts der Thematik ein logischer Kunstgriff: Grillparzers Drama war seiner abschließenden Meinung nach somit eher etwas für das Pariser Théâtre l’Ambigu, das für seine Opéra Comique berühmt war, ebenso wie das Théâtre de la Porte Saint-Martin im 10. Pariser Arrondisement.) Was als biographische Glosse wirkt, bringt eine der wesentlichen Intentionen des Tonkünstlers bei der Stoffauswahl zu seinen Werken zum Vorschein:

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Donna Ellen als Kammerfrau und Jongmin Park als Spion, Wiener Staatsoper 2015

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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner

Grillparzer im Allgemeinen und die Ahnfrau im Speziellen verkörperte den von Verdi begehrten urromantischen Werkstil, der seine Begeisterung hervorrief und ihn zu ersten Entwürfen bewegte. Ein Blick auf die Vorlagen macht deutlich, dass Verdi romantische Dramen, die am besten in früheren Zeiten beheimatet waren und nach Möglichkeit ihren Wert als Sprechdramen bereits bewiesen hatten, favorisierte. Doch, und das gestand er ja in der Unterredung im Juni 1875, wurden seine Wünsche – etwa das zumindest konkret aufgeworfene Verwirklichen der Ahnfrau – durch genaueres Erfassen aller Umstände in dem jeweiligen Theater oftmals zunichte gemacht. Verdi wusste neben der bereits erwähnten Kenntnis zu stimmlichen Lokalvorlieben, gleichsam wie die fachkundigen Zeitgenossen, eine Oper den örtlichen Usancen anzupassen. Dies umfasste auch die kraftintensive Absprache mit den über Gedeih und Verderb des Buches entscheidenden Zensurbehörden. Über allem stand für den zeitökonomisch effizienten Künstler die Frage, ob sich dieses oder jenes Drama tatsächlich auf der Opernebene, sprich in Aufbau und Durchführung der Musiktheaterbühne angepasst, verwirklichen lässt? So legte er Die Ahnfrau während seiner Studien zu Neuproduktionen immer wieder zur Seite.

„… dass ich Shakespeare nicht kenne – nein, bei Gott, nein …“ Die intensivste emotionelle Bindung verspürte Verdi zu William Shakespeares Schaffen. Betrachtete der Komponist das dramatische Gesamtkunstwerk Oper als seine Disziplin, erfüllten die Verse des Briten für ihn das Ideal des Schauspiels, das ein ähnliches Welttheater wie das seine suchte und dabei mit dem gesamten Spektrum menschlicher Gefühle und Schwächen operierte. Wobei Verdi zu seiner Zeit nie mit den englischen Originalen arbeitete, sondern ihm soeben angefertigte, teils recht frei bearbeitete Übersetzungen italienischer Zeitgenossen zur Verfügung standen. So äußerte sich der Komponist unmittelbar auf die Kritik an der 1865 in Paris herausgebrachten Revision des Macbeth in einem Brief an seinen französischen Verleger Léon Escudier: „Es mag sein, dass ich den Macbeth nicht richtig wiedergegeben habe, aber dass ich Shakespeare nicht kenne,

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Verdis nie geschriebene Opern | Daniel Wagner

nicht verstehe und nicht empfinde, nein; bei Gott, nein. Er ist einer meiner Lieblingsdichter, den ich seit meiner frühesten Jugend in der Hand gehabt habe und den ich ständig lese und immer wieder aufs Neue lese.“ Tatsächlich fiel bereits Giuseppe Verdis Jugend in eine Zeit der ShakespeareRenaissance in Italien. Bis Ende des 18. Jahrhunderts waren die Werke des Engländers auf der Apenninenhalbinsel weithin unbekannt und wurden nun – in Zeiten der überall in Europa genossenen, tiefen Affektenlehre der Romantik – zum erklärten Vorbild vieler literarischer Gruppen und Bewegungen. Verdis Herz gehörte Heinrich IV. ebenso wie dem Othello, den Merry Widows of Windsor zu gleichen Maßen wie Hamlet, Romeo and Juliet, The Tempest und besonders King Lear. „Es wäre mir sehr lieb gewesen, meinen Namen mit dem Deinen zusammenzutun, da ich überzeugt bin, dass, wenn Du mir Amleto zur Vertonung vorschlägst, es eine Fassung sein wird, die Deiner würdig ist. Leider benötigen diese großen Sujets zu viel Zeit und ich musste für den Moment auch auf den Re Lear verzichten, gab aber Cammarano den Auftrag, das Drama für einen besser geeigneten Zeitpunkt zu bearbeiten. Wenn schon Re Lear schwierig ist, so ist es Amleto noch mehr; und zeitlich gedrängt, wie ich bin durch zwei Arbeiten, musste ich leichtere und kürzere Sujets wählen, um meinen Verpflichtungen nachzukommen.“ (Verdi an den Shakespeare-Übersetzer und Freund Giulio Carcano)

Bezeichnend bleibt, dass speziell der Lear in all seiner Komplexität Verdi 50 (fünfzig!) Jahre begleitete. Immer wieder nahm er ihn aus dem Schreibtisch, arbeitete am Textbuch von Cammarano weiter und legte ihn wieder zurück in die Schublade. Und das, obwohl andere Stücke von Shakespeare die musiktheatralische Beliebtheitsskala anführten: The Tempest (dieses Sujet sprach Verdi weniger an, doch bezüglich Mitbewerb führt es mit 46 Überlieferungen den Reigen an – vor allem im deutschsprachigen Raum von Hoffmeister bis Reichardt, vom Schiffbruch zur Zauberinsel), A Midsummer night’s dream (39mal vertont) und der populäre Hamlet (der dänische Prinz liegt uns heute in mindestens 32 Vertonungen vor) blieben dem Komponisten vergleichsweise fremde Themen.

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King Lear, das war sein erklärter Liebling, oder vielleicht auch das Stiefkind, das die meiste Zeit als Libretto-Fragment in der Schublade vor sich hin darben musste. Bereits 1843 – also vier Jahre vor Macbeth – brachte er Shakespeares tragische Königsgestalt erstmals ins Spiel, noch dazu fürs La Fenice: „ …hätte ich zum Beispiel einen Künstler mit der Kraft eines Ronconi, dann würde ich Re Lear oder Il corsaro wählen, doch da es wahrscheinlich vorteilhaft sein wird, sich auf die Primadonna zu stützen, könnte ich mich vielleicht entweder für die Fidanzata d’Abido oder für etwas anderes entscheiden, bei dem die Primadonna die Hauptperson ist.“ 1844 ging stattdessen Ernani in Venedig über die Bühne. Bereits 1845 versuchte es Verdi abermals mit dem Lear: Mit einer Uraufführung fürs Londoner Covent Garden betraut, war die Idee des englischen Königs auf der englischen Bühne verlockend. Schlussendlich ließen sich Schillers Räuber als I masnadieri rascher und simpler verwirklichen. Scheitern eines Opernstoffes? Nicht unbedingt. Angesichts der komplexen Werkgenesen bei Verdi lässt sich viel mehr von einer zutiefst kritischen, reflektierten Zugangsweise sprechen – immer im Blick auf vorherrschende Zeitökonomie, bewusst gemachte Gegebenheiten, versehen mit verhandlungstechnischem Geschick und Rücksichtnahme auf politische Umstände. Giuseppe Verdi musste bei all seiner Produktivität sein Tun immer fokussieren – den Blick auf das bereichernde Rundherum hat er nie verloren. Getreu dem Motto „Der Weg ist das Ziel“.

Daniel Wagner studierte an der Wiener Musikuniversität Klavier und an der Universität Wien Rechtswissenschaften, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte. Schon während des Studiums Kulturjournalist (u.a. Fono Forum, Wiener Zeitung). Nach Jahren im Rundfunk (radio klassik Stephansdom) nun Geschäftsführungsassistent im Medienhaus der Erzdiözese Wien. Er hält regel­mäßig Vorträge und wirkt nach wie vor als Rezensent für die Wiener Zeitung.

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Karte Schottlands im 11. Jahrhundert

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Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng

ERFÜLLUNG DES GESAGTEN Macbeths Königsdilemma ist auch für uns kein unbekanntes. Schon beim Durchblättern der täglichen Zeitung stößt der Leser bald auf eine in nebeliges Halbdunkel gehüllte, öffentliche Prophezeihung. „Beruflich wird Ihnen heute ein großer Schritt gelingen, aus einer Bekanntschaft könnte mehr werden, ein Geldgeschäft wendet sich heute zum Schlechteren.“ Da steht man nun, mit einer vagen, aber doch auch inspirierenden Vorhersage, die allerdings nur zu zwei Drittel der persönlichen Neigung entspricht. Was tut man mit dem Geldgeschäft? Ignoriert man den kompletten Dreizeiler – und ignoriert damit auch den beruflich großen Schritt? Hält man sich an das Gute und probiert’s mit einer partiellen Wahrheit? Oder schluckt man den dritten Teil, versucht ihn aber zu verhindern, indem man einfach kein Geldgeschäft tätigt? Doch kann man Weissagungen einfach aushebeln?­ Eher nicht. König Macbeth hat es nicht leicht. Er hört eine Prophezeiung, die ihm unerwartet viel Gutes und Großes, aber dann doch auch eine ausgesprochen sehrende Einschränkung gebietet: Than von Cawdor wird er werden, König wird er werden, so teilen es die Hexen mit, doch Feldherrenkollege Banquo der Vater von Königen. Kein Wunder, dass Giuseppe Verdi Macbeth in der Regiebemerkung an dieser Stelle zunächst einmal erzittern lässt. Die Perspektive, König von Schottland zu werden, ist zunächst ja durchaus etwas Erstrebenswertes, und da Macbeth, unmittelbar auf diese Weissagung folgend, ohne eigenes Zutun tatsächlich zum Than von Cawdor ernannt wird, liegt auch die königliche Herrschaftswürde im Bereich des Möglichen. Und schon sieht Macbeth vor seinem Auge Blut, schon erkennt Banquo, der den Hexen deutlich distanzierter gegenübersteht, die machtlüsterne Regung in Macbeths Blick. Noch gibt dieser vor, die gierige Hand nicht nach der Krone auszustrecken, noch hält sich die Besessenheit mühsam im Zaum, doch bald wird der Wille zur Macht durchbrechen und leider spricht Banquo nur für sich die folgenden Reime: „Oft sagt uns die lügnerische Hölle / die Wahrheit, um uns zu täuschen / Und verlässt uns Unglückliche dann / vor dem Abgrund, den sie uns auftat.“ Hätte er’s nur nicht so leise zu sich, sondern laut zu Macbeth gesagt! Blättert man in Shakespeares gleichnamiger

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Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng

Dramenvorlage, so ist Macbeth bereits dort mit menschlicher, logischer Vorhersehung begnadet, er weiß, wohin eine blutige Machtaneignung führen wird: zu noch mehr Blut, zum eigenen Untergang. Wäre er also ein wirklich strategischer Feldherr, einer, der kühlen Geistes eine Partie durchrechnen kann, so könnte er sich die Königswürde ganz einfach sichern, nämlich durch praktisch angewandte Lethargie. Denn ist das Hexenwort wahr, so tritt es ein, ganz ohne menschliches Zutun, unabwendbar, unfehlbar. Macbeth wird demnach König, ob er will oder nicht, ob er’s vorantreibt oder nicht. Punktum. Oder aber Macbeth glaubt erst gar nicht an diese seltsamen Frauen, die mit dem Than von Cawdor halt einen Zufallstreffer gelandet haben, dann ist die blutige Erlangung des Königstitels, die Ermordung König Duncans, eine an sich sehr riskante Angelegenheit, von deren Inangriffnahme logisch abzuraten ist. Doch dieser Macbeth ist mehr ein Haudrauf, auch das liest man aus Shakespeare heraus (Er, wie des Krieges Liebling, haut sich Bahn / Bis er dem Schurken gegenübersteht / Und nicht eh’ schied noch sagt’ er Lebewohl / Bis er vom Nabel auf zum Kinn ihn schlitzte), einer, der entweder schon länger mit einer Krone liebäugelt oder aber so dumm ist, sich durch etwas Hexentändelei in die Irre führen zu lassen. Wie es sein Unglück will, lebt er auch noch zu früh, um die ein halbes Jahrtausend nach seinem Tod erschienene Geschichtschronik Holinsheds eingehend zum Thema Prophezeiungen zu studieren. Denn da kommt ganz klar zum Ausdruck, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen einem guten König und einem Tyrannen in der Ablehnung oder Inanspruchnahme von Hexendiensten, also der schwarzen Magie, liegt. Macbeth tut, was ihm Seele und Gattin gebieten, und greift nach der Krone. Doch was ist mit jenem fatalen Banquo-Satz, dass dieser Vater von Königen werden wird? Hier beginnt sein großes Problem, nämlich jenes der Negierung der unmittelbaren Realität: Mit dem Mord an Duncan und der Erlangung der Krone hat er die Treffergenauigkeit der Hexenprophezeiung auf nahezu unfehlbar angehoben; alles, was ihm vorhergesagt wurde, ist ohne Abweichung eingetreten – und das auch noch dank seiner tatkräftigen und blutigen Mithilfe. Die Paradoxie seines Handelns besteht also darin, dass er im wahrsten Sinne ein Erfüllungsgehilfe des Hexenwortes wurde,

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und sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Prophezeiung auch in puncto Banquo richtig ist, durch den Königsmord erhöht hat: Macbeth ist also im Käfig der eigenen Wahrheit gefangen, die einen solchen Grad von Richtigkeit erreicht hat, dass er sich nun tatsächlich Sorgen um Banquos königsreiche Nachkommenschaft machen muss. Spätestens ab diesem Punkt ist aber jedes Agieren gegen die Prophezeiung absurd, und es muss einem halbwegs klarsichtigen Macbeth selbstverständlich vorkommen, dass Banquos Sohn Fleance jenen Meuchelmördern entkommt, die er auf ihn angesetzt hat. Doch der Stachel sitzt tiefer, das Thema Kind ist doppelt gewichtig. Nicht nur um Banquos Nachkommenschaft geht es, gerade die Kinderlosigkeit des Ehepaars Macbeth ist es, die ein Antrieb wird: sinnloser Machterhalt, denn sie kann nicht weitergegeben werden, es gibt Erbschaft, aber kein Erbe vorhanden. Und denkt man in dynastischen Systemen, so ist gerade die Möglichkeit der Weitergabe der Krone mindestens so wichtig wie die Erlangung und Festigung dieser. Macbeth ist zu Beginn kein Underdog, er ist Anführer des königlichen Heeres, hat Ansehen, Stand, Besitz, Anwesen – nicht zu vergessen seine in der Oper präsente Burg als Symbol –, er ist imstande Königswürde zu tragen, auf welche Art sie ihm auch zugefallen ist. Dies und alles, was er hat und ist, kann er nicht weitergeben, da er keine Kinder hat – der Machtfluss staut sich also in der vertikalen Generationenlinie durch den Abbruch dieser auf und entlädt sich – sinnloserweise – in der mordenden Tat. Die Macht, die nicht in weiterer Folge gehalten werden kann, wird im Augenblick atemlos und hastig potenziert, über alle Maßen gesteigert, verteidigt. Dieses Agieren lässt sich, sehr frei nach Sigmund Freud, der sich in einer Schrift mit dem Charakter der Lady Macbeth auseinandergesetzt und auf den Lehrsatz Die Menschen erkranken neurotisch infolge der Versagung hingewiesen hat, zusammenfassen: Die Versagung der Nachkommenschaft ist es, die das Ehepaar im Menschlichen trifft, die es auf menschlicher Ebene verkümmern lässt. Menschlich, weil irrig, ist es auch, dass Macbeth die Hexen ein zweites Mal aufsucht, um – sinnloserweise – Details abzuklären. Was er erhält, sind allerdings nur denkbar verschwommene Aussagen, wie es Prophezeihungen (auf der Bühne) an sich haben. Auch hier könnte er klüger sein, denn ein kurzes Stöbern im herkömmlichen antiken Wissensschatz hätte ihm

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Erfüllung des Gesagten | Oliver Láng

eine generelle Problematik von Voraussagen nachweisen können. Denn entweder sie werden nicht gehört, wie im Falle Kassandras, oder sie können ohnehin nicht verhindert werden, wie etwa bei Herodes oder Ödipus. Aber Macbeth ist humanistisch ungebildet, unbelehrbar, vor allem aber gut im Selbstbetrug. Er wird neuerlich von den Hexen beraten und erfährt, was er bereits weiß (Hüte dich vor Macduff), lässt sich in die Irre führen: Keiner kann ihn töten, der nicht von einer Mutter auf „natürlichem“ Wege geboren wurde, seine Macht wird ungebrochen sein, bis der Wald von Birnam sich bewegt. Gleichzeitig aber erscheinen die Nachkommen Banquos und wühlen in Macbeths alter Wunde – der Kinderlosigkeit. Noch ein letztes Mal wird von Macbeth und Lady Macbeth der unbedingte Wille zur Verhinderung des Schicksals verkündet. Ein Durchhalteappell, wo nichts mehr durchzuhalten ist. Der Wahn Lady Macbeths wird nicht nur durch Schuld, sondern auch durch die Unabwendbarkeit des Nahenden ausgelöst. Und Macbeth fühlt sich gleichzeitig „im Innersten verdorrt“. Er mag die Paradoxie seines Handelns, gemischt mit der Einsicht der Schuld erkennen und spricht den berühmten nihilistischen Satz: „Das Leben... was ist das schon? Das Gelalle eines armseligen Narren.“ Durchhalten wird er bis zum Schluss, noch einmal wird er gegen die Prophetie fluchen, noch einmal nach der Waffe greifen. Das Opernfinale ist dann heftig und in ihrer Kürze ihm gewogen. Macbeths Tod wird szenisch schlank behandelt, das Siegerfest Macduffs ebenso: Doch mehr braucht es nicht, denn es ist nur noch Erfüllung des Gesagten.

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Jorge de León als Macduff, Wiener Staatsoper 2015

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Lady Macbeth auf der Couch | Sigmund Freud

LADY MACBETH AUF DER COUCH Aus: Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, die am Erfolge scheiterten

Eine Person, die nach erreichtem Erfolg zusammenbricht, nachdem sie mit unbeirrter Energie um ihn gerungen hat, ist Shakespeares Lady Macbeth. Es ist vorher kein Schwanken und kein Anzeichen eines inneren Kampfes in ihr, kein anderes Streben, als die Bedenken ihres ehrgeizigen und doch mildfühlenden Mannes zu besiegen. Dem Mordvorsatz will sie selbst ihre Weiblichkeit opfern, ohne zu erwägen, welch entscheidende Rolle dieser Weiblichkeit zufallen muss, wenn es dann gelten soll, das durch Verbrechen erreichte Ziel ihres Ehrgeizes zu behaupten.

Akt I, Szene 5 „Kommt, ihr Geister, Die ihr auf Mordgedanken lauscht, entweibt mich.“ „… An meine Brüste, Ihr Mordeshelfer! Saugt mir Milch zu Galle!“

Akt I, Szene 7 „Ich gab die Brust und weiß, Wie zärtlich man das Kind liebt, das man tränkt. Und doch, dieweil es mir ins Antlitz lächelt, Wollt’ reißen ich von meinem Mutterbusen Sein zahnlos Mündlein, und sein Hirn ausschmettern, Hätt’ ich’s geschworen, wie du jenes schwurst!“ Eine einzige leise Regung des Widerstrebens ergreift sie vor der Tat:

Akt II, Szene 2 „Hätt’ er geglichen meinem Vater nicht Als er so schlief, ich hätt’s getan.“ Nun, da sie Königin geworden durch den Mord an Duncan, meldet sich flüchtig etwas wie eine Enttäuschung, wie ein Überdruss. Wir wissen nicht, woher.

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Lady Macbeth auf der Couch | Sigmund Freud

Akt III, Szene 2 „Nichts hat man, alles Lüge, Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Genüge, es ist sichrer das zu sein, was wir zerstören, Als durch Zerstörung ew’ger Angst zu schwören.“ Doch hält sie aus. In der nach diesen Worten folgenden Szene des Banketts bewahrt sie allein die Besinnung, deckt die Verwirrung ihres Mannes, findet einen Vorwand, um die Gäste zu entlassen. Und dann entschwindet sie uns. Wir sehen sie (in der ersten Szene des fünften Aktes) als Somnambule wieder, an die Eindrücke jener Mordnacht fixiert. Sie spricht ihrem Manne wieder Mut zu wie damals: „Pfui, mein Gemahl, pfui, ein Soldat und furchtsam? – Was haben wir zu fürchten, wer es weiß? Niemand zieht unsere Macht zur Rechenschaft.“ Sie hört das Klopfen ans Tor, das ihren Mann nach der Tat erschreckte. Daneben aber bemüht sie sich „die Tat ungeschehen zu machen, die nicht mehr ungeschehen werden“ kann. Sie wäscht ihre Hände, die mit Blut befleckt sind und nach Blut riechen, und wird der Vergeblichkeit dieser Bemühung bewusst. Die Reue scheint sie niedergeworfen zu haben, die so reuelos schien. Als sie stirbt, findet Macbeth, der unterdes so unerbittlich geworden ist, wie sie sich anfänglich zeigte, nur die eine kurze Nachrede für sie:

Akt V, Szene 5 „Sie konnte später sterben. Es war noch Zeit genug für solch ein Wort.“ Und nun fragt man sich, was hat diesen Charakter zerbrochen, der aus dem härtesten Metall geschmiedet schien? Ist’s nur die Enttäuschung, das andere Gesicht, das die vollzogene Tat zeigt, sollen wir rückschließen, dass auch in der Lady Macbeth ein ursprünglich weiches und weiblich mildes Seelenleben sich zu einer Konzentration und Hochspannung emporgearbeitet hatte, der keine Andauer beschieden sein konnte, oder dürfen wir nach Anzeichen forschen, die uns diesen Zusammenbruch durch eine tiefere Motivierung menschlich näher bringen?

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Kostümfigurine Lady Macbeth von Gary McCann, Wiener Staatsoper 2015

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Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta

DAS KOAN DER BLUTIGEN LADY Ein Versuch über das Absolute Böse Vor einigen Jahren traf ich einen weltberühmten Regisseur, der eben eine Macbeth-Inszenierung vorbereitete. Er kam gerade von einem Treffen mit der vorgesehenen Lady Macbeth-Darstellerin und war völlig aufgelöst und verzweifelt und versucht, alles hinzuschmeißen. „Könnten wir die Lady nicht irgendwie menschlich und sympathisch erscheinen lassen?“ hätte ihn die renommierte Sängerin gleich als Erstes gefragt. Und ihm wäre nichts anderes übriggeblieben als zu antworten: „Sympathisch und menschlich? Meine Liebe, die Lady ist das absolute BÖSE!“ Nun mag ja die Eitelkeit einer schönen Primadonna, die es nicht übers Herz bringen will, eine absolut böse und hassenswerte Figur zu verkörpern (und dabei auch noch, wie das berühmte Verdi-Zitat belegt, hässlich zu singen), eine solche Frage durchaus noch als verständlich erscheinen lassen. Darüber hinaus belegt aber diese wahrheitsgemäße Anekdote leider in charakteristischer Weise unser aller Umgang mit der schottischen Lady im Speziellen, aber vor allem unsere „westliche“ verharmlosende, relativierende, schönfärberische, verniedlichende, blauäugige, realitätsverleugnende, alles­ umjedenpreisverstehenund damit rechtfertigwollende Attitüde gegen über jenem Prinzip – das wir in weiterer Folge „das Böse“ nennen wollen – im Allgemeinen. In fast allen anderen außereuropäischen Kulturen hatte jenes Prinzip von Alters her einen hohen und auch geachteten Stellenwert. Verkörperungen dieser kosmologischen Energien der Zerstörung, der Vernichtung und des Todes wurden und werden z.B. in Indien bis zum heutigen Tag sogar als Gottheiten verehrt: als Shiva, als Kali (einer Göttin, der unsere Lady aus Schottland durchaus einen privaten Schrein hätte errichten können). Das arme Abendland hingegen litt seit seiner Christianisierung von Anfang an unter dem logischen Konstruktionsfehler eines einzigen und dazu noch ausschließlich grundgütigen Gottes. Behelfsweise wurde ihm gelegentlich die abgespeckte Karikatur einer Autorität wie Shiva, nämlich die (manchmal nicht ganz ernstzunehmende) Figur eines „Teufels“ oder „Satanas“ zur Seite gestellt. Als man in unseren Breiten im Zuge der Aufklärung beschloss, die

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Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta

Idee Gottes zu töten, fiel damit naturgemäß auch gleichzeitig sein Gegenspieler – der zwar lächerlich, aber immerhin der letzte Vertreter einer irgendwie dualen Weltordnung gewesen war – dieser Revolution zum Opfer. Stattdessen wurde die Menschheit selbst zum einzigen und grundgütigen Götzen erhoben – und „das Böse“ – statt es als anthropologisches Faktum zu akzeptieren – als historisches Konstrukt entlarvt. Es hatte länger keinen Platz mehr auf dieser Erde inmitten der gottgleichen menschlichen Rasse, es musste vernichtet, es musste ausgerottet, es musste mit Butz und Stingl vertilgt werden. Also machten sich die begabtesten Vor-Denker und Vorfühler Europas daran, an der Dekonstruktion des Bösen zu arbeiten. Sie suchten und fanden höchstverdächtige Ursachen für dessen skandalöse Fort­ existenz auch in minderen Erscheinungsformen wie Krankheit, Leiden, Armut, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und allem Lästigen generell. Hoch im Kurs der bösen Verursacher standen: die Gesellschaft, die Wirtschaft, der Kapitalismus, das Patriarchat, gewisse Philosophien, Religionen, die Familie, die Sprache, und und und ... Wenn man das alles ändern könnte ... und sobald man das alles geändert hätte ... na dann wäre dieses verfluchte Prinzip endgültig vom Antlitz des Planeten verschwunden ... und wir würden alle von Stund an endlich in einem unendlich friedliebenden, utopischen Paradies leben ... mit zu Pflugscharen geschmiedeten Schwertern und Seite an Seite mit in Eintracht schlummernden Löwen und Lämmern ... Sehr sehr leider stellte sich alsbaldigst heraus, dass die Gewalt, das Verbrechen, das Morden – also das wahre Unglück – je mehr man es im Kleinen einzudämmen versuchte, daraufhin im Großen auf bislang unvorstellbare Weise zu explodieren begann. Der legendäre Musikwissenschaftler Bruno Cagli hat diesen Zusammenhang einmal so auf den Punkt gebracht: „Das Ende der Ära der Kastraten markiert den Anfang der Ära der Konzentrationslager und der Genozide.“ Selbstverständlich haben diese „bedauer­ lichen Nebeneffekte“ die Ideologen, Propagandisten und Dasbösever­ stehenwoller mitnichten davon abgehalten, von ihren Bestrebungen ab­­zu­lassen. Im Gegenteil: Gemäß dem alten Spruch „ Je falscher die Medizin, desto höher die Dosis“ vervielfachten sie ihre diesbezüglichen Anstrengungen bis zum heutigen Tage. „Zero Tolerance“: jede noch so klitzeklein­

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Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta

ste Äußerung, jede noch so marginalste, aber unter dem Generalverdacht des Womöglich-unter-Umständen-das-Böse-erregen-Könnende stehende Tat­sache wird in einem ziemlich unverhältnismäßigen Einsatz der Mittel gnadenlos und ohne Widerrede niederzumachen versucht. DDT gegen Hautjucken, Chemotherapie gegen Wimmerln, Wasserstoffbomben gegen Kopfweh. Hart tobt der Kampf ums Binnen-I, entfesselt ist die Schlacht um Hymnen-Texte, Bücher werden zwar nicht verbrannt, aber „gesäubert“ (u.a. Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Onkel Toms Hütte oder Zehn kleine Negerlein), auf Verwendung von N-,F-,C- und D-Worten droht die gesellschaftliche Ächtung, auf „Mikroaggressionen“ (wie wenn man einen Studenten nach der möglichen Herkunft seiner Vorfahren fragt) folgt der sofortige Karrieretod, und wer vor einem etwaigen Geschlechtsverkehr keine Einverständniserklärung oder ein Einverständnisvideo (gibt eine App dazu) vorweisen kann, muss sogar mit Gefängnissen rechnen. Und nun sage man nicht, das seien nur Überdrehtheiten amerikanischer Universitäten, das sind Tendenzen, die längst auf den alten Kontinent zurück-übergeschwappt sind. Der Autor dieser Zeilen kann z.B. persönlich bezeugen, dass die Reiseredaktion einer österreichischen Qualitätszeitung sich weigert, Artikel über Siena oder Ronda zu veröffentlichen, nur weil das möglicherweise Assoziationen an Nicht-ganz-so-gut-Behandlung von Pferden und Stieren auslösen und somit „die Sensibilität der Leser“ verletzen könnte ... Ja, wo sind wir denn da hingeraten? Warum will man uns mündige, geimpfte, denkfähige Erwachsene mit Bestemm in zu behütende Kleinkinder und/oder in sich in einem Zustand der Daueraufregung befindlichen hysterischen alten Jungfern verwandeln ? Huch! Ach! Och! Nun verstehe man mich nicht miss: Natürlich bin ich dafür, allen negativen Tendenzen, allen Ursachen von Leid, Tod und Zerstörung immer und überall entschlossen entgegenzu­ treten. Aber es ist eine Sache, das Böse zu bekämpfen, und eine andere, es schlicht leugnen und verdrängen zu wollen. Es ist voll okay und gehört sich sogar, den Kasperl vor dem Krokodil zu warnen. Es ist komplett schwachsinnig und kontraproduktiv, sich selbst und dem Kasperl einreden zu wollen, dass da überhaupt kein Krokodil ist ... In der Medizin gilt es mittlerweile unbestritten als erwiesen, dass die Unmengen von Allergien, die heutzutage auftreten, darauf zurückzuführen sind, dass unsere Kleinkinder

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Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta

zu steril aufwachsen, weil sie Schmutz nicht einmal mehr in kleinster Menge zu sich nehmen. Und dadurch ihr biologisches Immunsystem nicht mehr trainieren können. Dasselbe scheint mir hier mit den geistig-seelischen Abwehrkräften zu geschehen. Wie wehrlos wir diesbezüglich geworden sind, zeigt unsere Reaktion auf jede neue, in den letzten Jahren häufiger, ja nahezu wöchentlich, auftretende und auf den ersten Blick völlig sinnlos erscheinende bisher so noch nie dagewesene Gräueltat. Sobald das bislang Unvorstellbare geschehen ist, wird jedesmal sofort der seit 200 Jahren gut antrainierte Pawlow’sche Reflex der Umjedenpreisgutseinwollenden ausgelöst, setzt sich automatisch – wie das Amen im Gebet – dieselbe peinliche, aber anscheinend unvermeidliche Maschinerie der stante pede ursachenherausfindenden und gleichzeitig lösungenanbietenden Korrespondenten, Kommentatoren, Analysten, Poster, Blogger und sonstiger Senfdazugeber in Gang. ­In einen Wolkenkratzer geflogen? In eine Menschenmenge gerast? Einen spreng­stoffbeladenen Rucksack in einer U-Bahn „vergessen“? Eine Hochzeitsgesellschaft in die Luft gesprengt? Entwicklungshelfer vor laufender Kamera geköpft? Filmemacher niedergeknallt? Zeitungsredaktionen niedergemetzelt? Supermarktgeiseln kaltgemacht? Rollstuhlfahrer vom Schiff gekippt? Homosexuelle von Dächern geschmissen und danach mit Betonblöcken zerschmettert? Frauen gesteinigt? Gefangene in Brand gesetzt? Auf Leichen eingetreten? Mit abgeschlagenen Köpfen Fußball gespielt? Sie waren doch so arm. Sie waren so ungebildet. Sie waren so verzweifelt. Sie waren so unintegriert. Jemand hat sie einmal irgendwie scheel angesehen. Sie hatten keine andere Wahl. Sie hatten keinen anderen Ausweg. Es gab keine andere Möglichkeit. Es musste zwangsläufig dazu kommen. Also mehr Sozialhilfe, mehr Entwicklingshilfe, mehr Psychologen, mehr Pilotentests, mehr Schulen, mehr Bildung, mehr Integration …! Es hilft natürlich wenig, wenn all diese „Erkenntnisse“ binnen kürzester Zeit falsifiziert werden: Die betreffenden Täter kamen aus wohlhabenden Fami­ lien, waren voll integriert, hoch gebildet, hatten Universitätsabschluss etc. etc. Aber Realitätsverlust ist ein hartnäckig Ding, und wir lassen uns unser rosarotes Weltbild doch nicht durch irgendwelche banalen Fakten ruinieren ...! Das Interessante dabei ist, dass sich überlebende ­Attentäter mit ähnlich ­hanebüchenen „Argumenten“ und „Ursachen“ zu

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Das Koan der blutigen Lady | Robert Quitta

rechtfertigen versuchen: Briefbombenverschicker Fuchs wollte „die Rothaarigen“ rächen, Jugendlichewiehasenabknaller Breivik dem „Multikulturalismus“ Einhalt gebieten ... Und somit wären wir wieder bei unserer blutigen Lady und ihrem Bruder im Ungeiste, Jago. Beide bringen für ihr Verhalten die verschiedensten Beweggründe und Erklärungen vor, eine so unstichhaltig und irreführend wie die andere. Lets face it, auch wenn es unendlich schwer ist: Es gibt keine Ursache, keinen Sinn, keine Notwendigkeit und – was noch schlimmer ist – ­somit auch keine vorbeugenden Maßnahmen und keine generellen Heil­ mittel gegen solche Taten. Die Lady ist die bloße Personifikation des umgekehrten Fünften Gebots: Du sollst töten, du darfst töten, du musst töten! Im Zen-Buddhismus gibt es paradoxe Rätsel, sogenannte Koans („Höre den Ton der einen Hand“), die der Meister seinen Schülern stellt, um ihnen (notfalls auch mittels Stockschlägen) jede Versuchung auszutreiben, im Leben nach irgendetwas Ähnlichem wie einem Sinn zu suchen. Und die blutige Lady ist unser Koan, unsere Mahnung, eine solche Sinnsuche gar nicht erst bei ihr und somit beim ABSOLUTEN BÖSEN anzustellen.

Robert Quitta: Studium der Philosophie (Dissertation über Nietzsche). Filmemacher. Theaterautor und -regisseur. 51 Produktionen für das von ihm gegründete und geleitete „Österreichische Theater“. Kultur- und Festivalberichterstattung für Die Presse, Der Standard, Wiener Zeitung, Die Bühne, Orpheus, Operalounge, Hystrio, L‘Opera etc. Träger des italienischen Kritikerpreises „Premio D‘Arcangelo“ (2015).

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Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Christa Ludwig als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1970

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Gertrude Rünger als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1933

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Josef Metternich als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1953

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Sherrill Milnes als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1970

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Birgit Nilsson als Lady Macbeth und Kostas Paskalis als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1970

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Herbert Alsen als Banquo, Wiener Staatsoper, 1943

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Elisabeth Höngen als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1943

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Karl Ridderbusch als Banquo, Wiener Staatsoper, 1970

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Mara Zampieri als Lady Macbeth und Renato Bruson als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1982

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Tugomir Franc als Banquo, Wiener Staatsoper, 1970

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Mathieu Ahlersmeyer als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1943

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Carlo Cossutta als Macduff, Wiener Staatsoper, 1970

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Josef Witt als Macduff, Wiener Staatsoper, 1943

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Kurt Rydl als Banquo, Wiener Staatsoper, 1988

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Egils Silin‚ˇs als Banquo, Wiener Staatsoper, 2000

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Jewgenij Nesterenko als Banquo, Wiener Staatsoper, 1990

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Gottlob Frick als Banquo, Wiener Staatsoper, 1953

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Carlo Guelfi als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1999

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Peter Dvorsk´y als Macduff, Wiener Staatsoper, 1982

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Nicolai Ghiaurov als Banquo, Wiener Staatsoper, 1982

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Franz Grundheber als Macbeth, Wiener Staatsoper, 2001

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Piero Cappuccilli als Macbeth, Wiener Staatsoper, 1982

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Erwin Schrott als Banquo, Wiener Staatsoper, 1999

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Leo Nucci als Macbeth und Maria Guleghina als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 2001

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Simon Keenlyside als Macbeth, Wiener Staatsoper, 2009

Ausgewählte Macbeth-Besetzungen der Wiener Staatsoper

Eliane Coelho als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper, 1999

Abendzettel einer Macbeth-Aufführung der Wiener Staatsoper 1933

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Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng

ANS HERZ GEWACHSEN! Macbeth-Rezeption in Wien

Leicht hatte es Giuseppe Verdis Macbeth in Wien zunächst nicht. Gleich der Start war schon verpatzt, da aus dem geplanten Erstaufführungstermin im April 1848 am Kärntnertortheater vorerst nichts wurde. Die Revolution und deren Folgen sowie die Abneigung von Teilen der Wiener Bevölkerung gegen die damals üblichen alljährlichen italienischen Gastspiele schienen kein geeignetes Pflaster für das neueste Opus des Meisters aus Busseto zu sein. Und so ergab sich das Paradoxon, dass die Aufführung einer Oper jenes Komponisten, der sich als (eindeutiger) Anhänger der Revolution deklarierte, erst möglich wurde, nachdem die Aufstände niedergeschlagen worden waren. Am 11. Dezember 1849 also holte man die Erstaufführung am Kärntnertortheater nach. Aber unter welchen Voraussetzungen! Die italienischen Sänger von 1848 standen nicht zur Verfügung und das deutschsprachige Ersatzpersonal kam mit den musikalischen Anforderungen der Partien nicht zurecht. Erstens weil sie sich in der Musik dieser Oper offenbar nicht heimisch fühlten und weil sie zweitens falsch besetzt waren: Der Bass Joseph Staudigl gab die Baritonrolle des Macbeth, der Bariton Gustav Hölzel die Bassrolle des Banquo und Anna Maria Wilhelmine van Hasselt-Barth fehlte schlichtweg das nötige stimmliche Volumen für die Lady Macbeth. Die leeren Theaterkassen erzwangen darüber hinaus eine Ausstattung, die auf Grund ihrer Dürftigkeit diese Bezeichnung genau genommen gar nicht verdient hatte. Wen wundert es daher, wenn die Wiener Kritiken das gezeigte und gehörte Ergebnis in Grund und Boden stampften? Dass mancher Rezensent durch die unterdurchschnittliche musikalische wie szenische Umsetzung irregeleitet die Ursache für den allgemein empfundenen Mangel in der Musik Verdis suchte, beweist nur eines: Auch im 19. Jahrhundert war es empfehlenswert, sich eine eigene Meinung zu bilden und den gedruckten Aufführungsbeschreibungen zu misstrauen. „Verdi hat zuerst den Victor Hugo, dann den Schiller und jetzt den Shakespeare verdisiert. So darf die Musik nicht missbraucht werden“, hieß es zwei Tage nach der Premiere etwa im Humorist. Und selbst Kritikerpapst Eduard Hanslick stieß ins gleiche Horn: „Es ist ein Jammer und ein Frevel, wie

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Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng

Verdi mit den Dramen Shakespeares und Schillers umgeht.“ Nun, Hanslick war bekanntlich ein Fließbandproduzent von Fehlurteilen, die den Verlauf der Musikgeschichte nicht wesentlich beeinflusst hatten. Auch im Falle des Macbeth entsprach seine Einschätzung nicht jener des Publikums, da das Werk in den nächsten drei Jahren immerhin 22 Mal – davon sechs Mal dann doch auf Italienisch – über die Bühne des Kärntnertortheaters ging. Das ist zwar nicht viel, aber für damalige Verhältnisse auch nicht wenig. Danach kam allerdings die große Pause. Eine Pause von nicht weniger als acht Jahrzehnten, in denen das Werk in Wien praktisch totgeschwiegen worden war. Eine letztlich genauso unverständliche Tatsache wie der Umstand, dass Verdis Don Carlo erst 1932 den Weg nach Wien fand. Doch spätestens mit dem Direktionsantritt von Clemens Krauss begann auch an der Staatsoper die so oft gepriesene Verdi-Renaissance – mit Neuproduktionen, Erstaufführungen oder Wiederaufnahmen. Und seit dieser den Spielplan nachhaltig beeinflussenden Ära blieb auch der Macbeth den Wienern nicht nur dauerhaft erhalten, sondern konnte sich sogar zu einem der populäreren Zugstücke im Repertoire mausern – einige Nummern dieser Oper wie Banquos „Come dal ciel“, Macduffs „Ah, la paterna mano“ oder die Sonnambulismo-Szene im vierten Akt mutierten zu gern und oft gebrachten Wunschkonzertbeiträgen. Doch nicht nur dem Wiener Publikum war Macbeth seit 1933 ans Herz gewachsen! Die berühmtesten Interpreten, die sich wiederholt dieses Werkes annahmen, sorgten durch ihre Leistungen auch hierzulande für Glanzpunkte im Opernalltag: In den 30er-Jahren begeisterten im Haus am Ring unter Clemens Krauss – aber auch unter dem damals noch jungen Josef Krips – Sänger wie Alfred Jerger (Macbeth), Richard Mayr (Banquo), Gertrude Rünger (Lady Macbeth) oder Josef Kalenberg (Macduff). Karl Böhm betreute in der Folge gleich drei Macbeth-Neuproduktionen (1943, 1953 im Ausweichquartier Theater an der Wien sowie 1970) und Giuseppe Sinopoli festigte mit seiner Wiener Macbeth-Deutung (Premiere 1982) seinen Ruf als epochemachender Dirigent. Und welcher regelmäßige Opernbesucher könnte das grandiose Paar der 80erund 90er-Jahre, Mara Zampieri und Renato Bruson als Lady Macbeth und Macbeth vergessen? Oder Christa Ludwig und Sherrill Milnes aus der 1970erProduktion?­Ältere Generationen hatten darüber hinaus das Glück einen Josef Metternich, Hans Hotter oder Paul Schöffler als Macbeth beziehungsweise

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Ans Herz gewachsen! | Andreas Láng

eine Elisabeth Höngen oder Martha Mödl als Lady zu erleben. Aber auch die Namen der Regisseure und Bühnenbildner dieser – seit 1849 an gerechneten – sieben Neuproduktionen des Werkes an der Hof- bzw. Staatsoper dürfen sich zumeist mehr als sehen lassen: Die Premiere von 1933 betreuten beispielsweise ­niemand Geringerer als Lothar Wallerstein und Alfred Roller, jene von 1943 und 1953 Oscar Fritz Schuh sowie Wilhelm Reinking beziehungsweise Caspar Neher, die nächsten beiden Deutungen stammen von Otto Schenk (1970) respektive Peter Wood (1982). Auf Ablehnung stieß allerdings die bislang letzte Neuproduktion in der Regie von Vera Nemirova im Dezember 2009: Man erlebte unter a­ nderem einen ver­blödelten König Duncan im Schottenrock, Macbeth und seine Lady in einer modernen Duschkabine, eine Pawlatschenbühne mitten im Wald, Hexen als Selbstfindungskünstlerinnen, eine frei erfundene Pantomime zur Ballettmusik, Mörder mit roten Clownnasen und roten Luftballons. Die Ablehnung des Publikums war so groß, dass die, wenige Monate nach der Premiere angesetzte zweite Aufführungsserie abgesagt und durch RepertoireVorstellungen von La traviata ersetzt werden musste. Mit insgesamt sechs Aufführungen war diese Inszenierung somit eine der kurzlebigsten der gesamten Staatsoperngeschichte. Der Vollständigkeit halber soll noch auf die Aufführungsreihe der Scottish Opera im Theater an der Wien hingewiesen werden, die im Zuge der Wiener Festwochen im Mai 2000 zu erleben war. In der Regie von Luc Bondy und dem Bühnenbild von Rolf Glittenberg hörte man damals unter Richard Armstrong etwa Richard Zeller (Macbeth), Kathleen Broderick (Lady Macbeth), Carsten Stabell (Banquo) und Marco Berti (Macduff). In der Premierenserie der aktuellen Neuproduktion vom 4. Oktober 2015 sangen in der Inszenierung von Christian Räth unter der Leitung von Alain Altinoglu (der erstmals für eine Premiere an der Wiener Staatsoper ­verantwortlich zeichnete) unter anderem George Petean (Macbeth), Tatiana Serjan (Lady Macbeth), KS Ferruccio Furlanetto (Banquo) und Jorge de León (Macduff).

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Tatiana Serjan als Lady Macbeth, Wiener Staatsoper 2015

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Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter

GESANGSSTIMMEN IN MACBETH Macbeth, Uraufführung 1847, die zehnte von Verdis fast 30 Opern, nahm beim Komponisten stets eine Sonderstellung in seinem Gesamtœuvre ein. Verdi ist hier seinem bisherigen und auch kurz darauf folgenden Kompositionsstil – die weltweiten Erfolge von Rigoletto/Trovatore/Traviata erfolgten in den Jahren 1851 bis 1853 – vorauseilend untreu geworden: Nämlich durch die teilweise Abkehr von der reinen Nummernoper hin zu dem teilweise durchkomponierten Musikdrama. Verdi machte mit Macbeth seine erste Bekanntschaft mit Shakespeare und wollte die Charaktere der komplexen Figuren musikalisch genau formen. Das hatte auf die Ausgestaltung der Gesangsstimmen großen Einfluss. Bei keiner seiner anderen Opern findet man so viele Anmerkungen, Auflagen, Wünsche für die stimmlichen Erfordernisse und Ausdrucksvarianten der einzelnen Gesangspartien. Ich darf zitieren: „Con voce soffocata e cupa“ – mit erstickter, mit dunkler Stimme. „Fra sè sottovoce e quasi con spavento“ – zwischen Flüstern und fast mit Erschrecken… „Suono luminoso“ – mit leuchtend-hellem Klang etc. So ist es nicht verwunderlich, dass Verdi diese Oper später umarbeitete, ergänzte, um dann, fast 20 Jahre später, eine eigene Fassung für die Pariser Oper herzustellen. Heute würden wir sagen: „Macbeth: Work in progress“. Lady Macbeth verlangt neben der starken, fast dämonischen Persönlichkeit, einen sinnlich jugendlich-dramatischen Charakter-Sopran beziehungsweise einen dramatischen Mezzosopran. Der große, vorgelegte Stimmumfang reicht teilweise über zwei Oktaven (vom tiefen Des bis zum hohen Des in der „Schlafwandlerszene“). Die groß aufschwingenden, kraftvollen Kantilenen, in den zahlreichen Chorszenen das gesamte Ensemble überstrahlend, die stimmtechnische Fähigkeit von teils gesprochenen Rezitativen bis hin zu Staccato-Koloraturen erfordern neben dem großformatigen Stimmpotenzial eine enorme technische Souveränität. In der stimmlichen Gestaltung reicht der Bogen von der überehrgeizigen, Mordpläne schmiedenden Dämonin

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Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter

über die scheinbar souveräne Gastgeberin bis hin zu der dahinsiechenden, wahnsinnigen, somnambulen Sterbenden. Verdi hat hier ein ideales „Stimm-Farben-Portrait“, ganz im Sinne von Shakespeare, komponiert. Man kolportierte, dass Verdi für diese Partie eine „hässliche“ Stimme bevorzugte. Ganz so plump kann es nicht gewesen sein, denn seine Anmerkungen lauteten seine, wie oben bereits beschriebenen Ausdrucksvarianten, zu befolgen. Trotz des wirklich unglaublich negativen Charakters der Figur haben stets große Sängerinnen nach dieser (auch beim Publikum) so erfolgreichen Partie gegriffen. Ich erinnere an Mezzosopranistinnen, die sich an die Rolle heranwagten, wie unter anderem Christa Ludwig, Grace Bumbry und an die Sopranistinnen wie Birgit Nilsson, Leonie Rysanek, Renata Scotto, Mara Zampieri bis hin zu Anna Netrebko und, last, but not least, natürlich Maria Callas. Macbeth ist der typische dramatische Charakter-Kavalier-Bariton. Die Partie ist meist in der Mittellage angesiedelt, wird hier aber in all seinen Ausdrucksvarianten stark gefordert (vor allem in den Szenen mit den „Hexen“). Sinnliche, sonore Stimmfarbe und die Fähigkeit, neben dramatischen Ausbrüchen eine geschmeidige, breite Kantilene zu formen, geben hier ein Beispiel, warum diese Stimmlage, die der männlichen Sprechstimme am ähnlichsten ist, vom Komponisten in den Zentralpartien seiner großen Opern bevorzugt wurde. Der Lebensweg vom anfänglich Schwachen, dann Mordenden, später seine Schandtaten Bereuenden, wird hier ganz im Sinne Shakespeares stimmlich grandios nachgezeichnet. Davon gibt seine Arie im letzten Bild („Pietà, rispetto, amore“) mit breit strömender Kantilene in DesDur – Verdis bevorzugte Bariton-Tonart Zeugnis. Wer erinnert sich hier nicht an Leo Nucci, Giuseppe Taddei, Dietrich Fischer-Dieskau (!), Piero Cappuccilli, Sherrill Milnes, Renato Bruson … Banquo Geschrieben für den seriösen, sonor viril strömenden Bass mit der Fachbezeichnung „Basso Nobile“. Obwohl von der tatsächlichen Länge des Gesanges her eher eine kurze Partie – bekanntlich wird Banquo in der

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Gesangsstimmen in Macbeth | Erich Seitter

ersten Hälfte der Oper meuchlings ermordet – betraut man die Rolle mit einem Sänger der ersten Qualitätskategorie. Seine Arie („Come dal ciel precipita“) verlangt neben der breit fließenden Mittellage eine stabile Höhe, da hier in aufsteigenden Kantilenen mehrere strahlend kräftig gesetzte hohe Töne (es handelt sich um das hohe E) zu meistern sind. Bass-Sänger wie u.a. Cesare Siepi, Nicolai Ghiaurov, Karl Ridderbusch haben das meisterhaft bewiesen. Eine Anmerkung aus der Praxis: Viele Bass-Sänger, die im Rahmen eines Vorsingens an ein Opernhaus eingeladen werden, wählen gerne die „Banquo-Arie“ als Vorsingarie aus. Macduff Von der tatsächlichen Länge der Gesangsstellen her eher mittelgroß, gilt auch hier, ähnlich wie bei Banquo, die Vorgabe, den jugendlich lyrisch-dramatischen Tenor mit einem Sänger von hoher Qualität zu besetzen. Es braucht sinnliches Stimmtimbre mit der Fähigkeit, einen Charakter in kraft- und klangvollen Tönen und Kantilenen, zunächst als jungen Feldherrn, später als Verzweifelten den Tod seiner meuchlings ermordeten Familie Beklagenden, zu gestalten. In seiner Arie „Ah, la paterna mano“ – geschrieben in Des Dur – bewegt sich die Tenorstimme in der oft so genannten „Verdi-Tenor-Tessitura“ also zwischen Es und As. Gerne erinnere ich mich da an den jungen Peter Dvorsk´y. Die kleineren Partien wie Malcolm (lyrischer Tenor), Kammerfrau (Charaktermezzosopran) werden aus dem Hausensemble besetzt, erfordern neben dem gut akzentuierten Gesang eine Bühnenpräsenz, da sie oft die vorliegenden Handlungssituationen stimm- und darstellerisch kommentieren. Schließlich die Hexen Dieser, aus dem Damen-Chorensemble ausgewählten Gruppe fällt eine ganz wichtige Aufgabe zu. Nicht nur schauspielerisch, sondern vor allem vokal, werden große Anforderungen gestellt. Müssen sie doch die geisterhaft, schaurig-dämonische Atmosphäre vokal entstehen lassen. Verdi hat das in dreistimmigen Chorsätzen, die mit spitzen, durchdringenden, ja kreischenden Stimmen noch dazu im Staccato-Stil gesungen werden müssen, meisterhaft geschrieben …

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Proben für die Premiere 2015

KS Ferruccio Furlanetto, Tatiana Serjan, George Petean, Alain Altinoglu, Christian Räth, Thomas Lausmann, Jorge de León, Jongmin Park, Raphaela Hödl, Janina Müller-Höreth und Cécile Restier proben Macbeth

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Proben für die Premiere 2015

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Kostümfigurine von Alfred Roller, Wiener Staatsoper 1933

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Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng

ALS MAN VERDI WIEDERENTDECKTE So wie es nach dem Zweiten Weltkrieg parallel zum Deutschen Wirtschaftswunder auch zu einem Österreichischen Wirtschaftswunder kam, belebte in den 1920er- und 1930er-Jahren die vielbeschworene Verdi-Renaissance praktisch zeitgleich in Deutschland und Österreich die Opernspielpläne. Bis dahin waren jahrzehntelang wesentliche Werke Verdis – wie etwa Don Carlo, Forza del destino oder Macbeth – hier wie da der Vergessenheit preisgegeben. Die Gründe für diese eher eingeschränkt ­originelle Aufführungspolitik waren unterschiedlicher Natur: Allzu viel gute Melodien innerhalb eines Werkes schienen den meisten Zuständigen offenbar suspekt, was nicht eindeutig von Richard Wagner beeinflusst war, galt als ablehnenswert und auf alle Fälle banal, das Aufspüren und Herausarbeiten der ungemein fesselnden musikalischen Dramaturgien hinter der sogenannten „Leierkastenmusik“ empfand man, sofern sie überhaupt erkannt wurden, als zu umständlich, und ganz im Allgemeinen fühlte man sich als deutschsprachiger dem romanischen Künstler ab ovo überlegen. Wehe also, wenn sich ein Italiener oder Franzose an einem deutsch- oder englischsprachigen Stoff vergriff und diesen als Basis für eine eigene Oper heranzog. Noch im Jahr 1945 schrieb Richard Strauss in seinem künstlerischen Vermächtnis an Karl Böhm: „Verdis Otello verurteile ich im Ganzen, wie alle zu Operntexten verunstalteten Libretti nach klassischen Dramen, wie z.B. Gounods Margarete, Rossinis Tell, Verdis Don Carlo! Sie gehören nicht auf die deutsche Bühne.“ Als Entschuldigung für Strauss mag dessen natürliche Aversion gegenüber jede Tantiemen mindernde Konkurrenz noch irgendwie durchgehen, aber die uninformierte Voreingenommenheit zahlloser Operndirektoren, die künstlerische Schmalspurwerke zum Besten gaben – an der Wiener Hofoper zum Beispiel Stücke wie Max von Oberleitners Aphrodite, Raoul Maders Die Flüchtlinge, Antonio Smareglias Der Vasall von Szigeth oder Carl Pfeffers Harold – und etliche Geniestreiche Verdis links liegen ließen, wohl weniger. Selbst die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Giuseppe Verdis im Jahr 1913 brachten diesbezüglich keine entscheidende Wendung. Mit Verdi. Roman der Oper, dem 1924 erschienen Bestseller Franz Werfels, änderte sich die Situation schlagartig. Plötzlich

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Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng

war der italienische Komponist, den Werfel als einen intensiv und skrupulös um die musikalisch-künstlerische Wahrheit Ringenden porträtierte, in aller Munde. Werfel gelang es mit diesem Roman, alle klischeehaften Vorurteile gegenüber Verdi beiseitezuschieben und dessen künstlerische Potenz zu rehabilitieren. Doch damit nicht genug, schuf Werfel mit den Übersetzungen und Neudichtungen einiger Verdi-Libretti sowie der Übersetzung und Herausgabe von Briefen des Komponisten eine zusätzliche Basis für ein regelrechtes Verdi-Comeback. Seine deutsche Textfassung der Macht des Schicksals von 1925 führte ein Jahr später sowohl an der Dresdner Semperoper als auch an der Wiener Staatsoper zur jeweiligen Erstaufführung des Werkes. In seiner Premierenbesprechung vom 28. November 1926 unterstrich Julius Korngold in der Neuen Freien Presse das Verdienst Werfels und zugleich das neu entflammte Interesse speziell an dieser Oper: „Werfels Eingreifen verdient aber auf alle Fälle Dank. Das Werk ist wieder beachtet, kann im Lichte der Bühne sprechen … Das Haus war mit Spannung geladen, die sich für Mitwirkende und den Direktor am Pulte wiederholt entlud. Dem Werke folgte man mit Entdeckerfreude.“ Der erwähnte „Direktor am Pult“ war niemand Geringerer als Franz Schalk, der nach dem Abgang Richard Strauss’ das große Wiener Opernhaus alleine leitete. Doch mehr noch als er zeichnete sein Nachfolger Clemens Krauss für die Wiener Verdi-Renaissance verantwortlich. Im Grunde entsprach Krauss’ Weg in diesem Punkt jenem von Fritz Busch in Deutschland: Beide, der Dresdner Generalmusikdirektor (der 1933 den Nazis widerstand und gehen musste) und der österreichische Staatsoperndirektor (der den Nazis nicht widerstand und von Hitler protegiert wurde), betrieben aktiv die Wiederentdeckung des Meisters aus Busseto. Hier, im Wiener Haus am Ring, hieß das: 1930 Neuproduktion von Simon Boccanegra in der Übersetzung von Franz Werfel (nachdem das Stück 47 Jahre nicht gespielt worden war), 1931 Neuproduktion von La traviata, 1932 Erstaufführung von Don Carlo (in der Übersetzung von Franz Werfel) sowie Neuproduktionen von Aida, Maskenball und Rigoletto, 1933 Erstaufführung von Macbeth, 1934 Neuproduktion von Falstaff. Am 11. Mai 1932 resümierte Julius Korngold: „Es wird nachgerade keine vergessene Verdi-Oper mehr geben. Ein Triumph des Genies, aber auch die Niederlage einer sterilen Gegenwart.

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Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng

In kürzester Frist sind in Wien allein Die Macht des Schicksals, Simone Boccanegra und Don Carlos aus dem Archiv geholt worden; deutsche Opernbühnen haben auch nach den Räubern, nach Macbeth, nach der Sizilianischen Vesper gegriffen, ja, in Wiesbaden hat man sich kürzlich um die ganz verstaubten Beiden Foscari bemüht“. Rund ein Jahr später legte Korngold anlässlich der Macbeth-Erstaufführung noch mit den Worten nach: „Erstaunlich unter allen Umständen, welche ungeahnten Kräfte diese halbverschollenen Verdi-Opern noch immer enthüllen … einmal aus dem Grabe erstanden, leben sie von selber weiter und decken in ihrem Schöpfer weit über den italienischen Opernkomponisten hinaus das in jeder seiner Schaffensperioden aufleuchtende internationale dramatische Genie auf.“ Tatsächlich lebten, „einmal aus dem Grabe entstanden“, die genannten Werke fortan, zum Teil sogar als wesentliche Repertoirestützen, an der Wiener Staatsoper weiter – allerdings kamen vorerst keine weiteren Stücke dazu, denn mit dem Abgang Clemens Krauss’ riss vorerst auch die Phase der Verdi-Neuentdeckungen ab. (Übrigens ziemlich zeitgleich zu jener in Deutschland, die de facto mit der Machtergreifung der Nazis ein Ende fand.) Der nächste Schub an Erstaufführungen beziehungsweise Verdi-Land­ gewinnen im Haus am Ring folgte erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Luisa Miller (1974), Attila (1980), Jérusalem (1995), Stiffelio (1996), Nabucco (ganz überraschend erst 2001) und schließlich die originale französische Version von Don Carlos (2004). Ursache für diese zweite Welle, die auch einige Neuproduktionen länger nicht gespielter Werke wie Ernani umfasste, – man könnte sie, wenn man möchte, als zweite Wiener Verdi-Renaissance bezeichnen – war, vor allem ab 1991, die gezielte Verbreiterung des allgemeinen Repertoires. Keinen Anteil an den Verdi-Renaissancen hatten übrigens die Wiener Volksoper und das Theater an der Wien. Im Haus am Gürtel spielte man seit der Umwidmung der Spielstätte in ein Musiktheater regelmäßig die gerade populären Verdi-Stücke, aber zu keiner Zeit gehäuft. Immerhin hatte die Volksoper, wie ja auch gelegentlich im Falle von Puccini und Strauss, gegenüber der Wiener Staatsoper in Bezug auf Erstaufführungen einige Male die Nase vorn: So konnten die Wiener den Nabucco an der

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Als man Verdi wiederentdeckte | Andreas Láng

Volksoper 44 Jahre früher erleben (1957) als im Haus am Ring, und die beiden Österreichischen Erstaufführungen der Räuber respektive I masnadieri (1963) und König für einen Tag respektive Un giorno di regno (1995) haben an der Wiener Staatsoper bislang überhaupt noch keine Entsprechung gefunden. Am Theater an der Wien war Verdi für viele Jahre praktisch ein unbeschriebenes Blatt – die ersten Vorstellungen fanden hier überhaupt erst 1860 statt (Rigoletto, Traviata, Trovatore), dann passierte mehr als ein halbes Jahrhundert lang gar nichts, 1904 folgte noch eine Aida und hernach überließ man die Verdi-Pflege den anderen Wiener Bühnen. Um abschließend noch einmal auf die Wiener Staatsoper zurückzukommen: Den Weg auf die erste Musiktheaterbühne des Landes fanden bislang 18 der Bühnenwerke Verdis, die übrigen, also Oberto, Conte di San Bonifacio, Un giorno di regno, I Lombardi, I due Foscari, Giovanna d’Arco, Alzira, I masnadieri, Il corsaro, La battaglia di legnano und Aroldo warten nach wie vor auf ihre Entdeckung durch das Staatsopernpublikum.

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George Petean als Macbeth, Wiener Staatsoper 2015

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Jinxu Xiahou als Malcolm, Wiener Staatsoper 2015

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Aufstieg und Fall | Oliver Láng

AUFSTIEG UND FALL Ich kann nicht sagen, ihn besonders gut gekannt zu haben. Doch aufgrund der Ereignisse, die sich vor einiger Zeit abgespielt haben und der zahl­ reichen Mutmaßungen über ihn möchte ich das Wenige, was ich weiß, den eintönigen Kommentaren, die uns derzeit umgeben, hinzufügen. Nicht, weil sie ertragreicher wären als jene, sondern weil ich bereits jetzt, gerade jetzt, wo keiner ihn als Freund gehabt haben wollte und doch alle alles zu wissen scheinen, eine gewisse Mythologisierung seiner Person erkennen kann. Und diese halte ich für gefährlich. Ich weiß über ihn nur das, was alle wissen. Seine Eltern starben früh und hinterließen ihm ein kleines Vermögen, das ein zumindest bescheidenes Auskommen ermöglichte. Er wurde Soldat, weil er als Soldat etwas taugte und er im geordneten Reglement gewandt seinen Weg machte. Die tägliche Routine schien ihm Freude zu bereiten oder störte ihn zumindest nicht, und er erledigte sein Tagwerk mit Sicherheit und Verlässlichkeit. Seine Akte war sauber bis auf einen einschränkenden Hinweis, den er später, aus unerfindlichen Gründen, nicht hatte tilgen lassen. Es scheint, so lässt sich der Vermerk lesen, dass er fallweise Halluzinationen hatte und Stimmen hörte und sich seinem Vorgesetzten anvertraut hatte. Worin diese Einbildungen bestanden hatten, geht aus den Akten nicht hervor; er scheint auch nie wieder darüber gesprochen zu haben.

I Zum Zeitpunkt unseres ersten Treffens, es waren in Summe nur drei, war er nicht mehr ganz jung. Er hatte einen recht hohen Rang erreicht, und man war sich insgeheim einig, dass er karrieretechnisch an einer Grenze angelangt sei. Abgesehen davon war er in einem Alter, in dem die meisten Männer allmählich erschlaffen und ihre Energie weniger darauf verwenden, weiter zu steigen, als die Aufsteigenden kritisch zu beäugen. Ich traf ihn an einem Regentag im Frühsommer, er war nicht in Uniform, sondern hatte Ausgang; er trug einen etwas zu modischen Anzug und versuchte, den Eindruck einer Nonchalance zu erwecken, was ihm, wie den meisten, die

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hauptsächlich Uniform tragen, nicht gelang. Natürlich wusste er, dass Farbe und Schnitt des Stoffes der letzte Schrei waren, doch bemühte er sich, den Eindruck zu erwecken, dass er nur ganz zufällig diesen Anzug gewählt habe, da er sich nicht um Mode kümmerte. So stakste er ein wenig steif durch den Regen und als er unabsichtlich in ein Schlammloch trat, merkte man, wie sehr ihn das störte. Er besah den verdreckten Schuh und zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Ach, es ist ja nur ein Schuh, und doch spürte man seinen Ärger über die Ungeschicklichkeit und die Tatsache, dass er nun einen Abend lang mit einem kotigen Schuh beim Empfang sein müsse. Ich kann mich an die Veranstaltung, die wir besuchten, nicht erinnern; ich weiß nur noch, dass er sich um eine junge Frau bemühte und indigniert wegdrehte, als ein anderer, im Übrigen noch älterer, Herr sich ins Gespräch mischte. Später sah ich ihn bei der Tür stehen, er ließ die Augen forschend über die Gesellschaft gleiten oder, wie ich vermutete, spielte einen, der die Augen forschend über die Gesellschaft gleiten ließ. Es lag ein Anflug von Verachtung in seinem Blick. Beim Verabschieden zog er seine Brieftasche hervor, reichte mir eine Karte. Er fing meinen Blick auf, der die eine Spur zu nachdrücklich in dem ersten Fach steckende Fotografie seiner Frau registrierte. Und ebenso eine Spur zu jovial sagte er in Hinblick auf das Bild „Meine Gute!“ und blinzelte mir zu.

II Ich hätte dieses belanglose Zusammentreffen vollkommen vergessen, wenn sein Leben nicht die unerwartete Wendung genommen hätte, die es nahm. Als ich Monate später eine Einladung zu einer seiner berüchtigten Gesellschaften erhielt, fühlte ich mich verunsichert, ob ich sie annehmen sollte. Aber was tun? Durch undurchsichtige Umstände hatte er die besagte Grenze durchstoßen und war nun unumschränkter Regent über die Insel geworden, und selbst für mich, der ja eine Art Narrenfreiheit besaß, war es ratsam, seine Höflichkeit nicht abzulehnen. Also traf ich am besagten Abend in der Villa ein, schritt zwischen den unbewegten Gesichtern der Sicherheitsbeamten durch. Diesmal war ich es, der sich im Raum umsah. Die meisten Anwesenden kannte ich und ich glaube nicht, dass sich auch

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nur einer in der Runde wohlfühlte. An den Wänden des großen Saals hingen Gemälde, die ich glaubte, bisher im staatlichen Museum gesehen zu haben; der Raum war hell ausgeleuchtet und teuer dekoriert und mir fiel das gleißende Licht auf, das jeden Schatten ausmerzte. Ich kann nicht sagen, dass die Villa auch nur in einem der Räume, die ich zu Gesicht bekommen hatte, stilvoll eingerichtet gewesen wäre; und während ich durch die Zimmerfluchten schlenderte (man hatte das untere Stockwerk geöffnet), fiel mir wieder sein Anzug ein, der eben eine Spur zu auffällig gewesen war. Meine Neugierde zwang mich, verstohlen eine verschlossene Tür zu öffnen. Dahinter ein Raum, in dem ausgesonderte Gegenstände, Bilder und Möbelstücke gelagert wurden, wild durcheinander geschoben und gestapelt – und strotzend vor Abscheulichkeit. Ein mächtiger, golden verschnörkelter Spiegel, ein obszöner Frauenakt, eine überkandidelte Anrichte, entsetzliche Nippesfiguren, ein mit schillernden Silberfäden durchzogener Teppich, ein mächtiger Tiger aus Porzellan. Doch so gnadenlos die Auswahl auch war, lag doch eine Weichheit in dem wilden Sammelsurium, das offenbar seinem wahren Geschmack entsprach. Ich kann nicht behaupten, dass mir zu diesem Zeitpunkt noch irgendetwas sympathisch an ihm war, doch wenn, dann wäre es dieses Geheimnis seiner ehrlichen Geschmacklosigkeit gewesen. Als ich in den großen Saal zurückkehrte, begegnete ich endlich dem Gastgeber. Hatte ich Angst? Ich denke, es war wieder eine Art Neugierde, die mich trieb und die in mir den Wunsch nährte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er trug Uniform, die ihm besser stand, und gab sich so freundlich, als kannten wir einander schon seit langen Jahren. Seine Frau hakte sich zwitschernd unter und führte mich herum; trinken Sie, trinken Sie, rief sie ein wenig zu laut, und wie um der Sache Nachdruck zu verleihen, sagte sie: Schrecklich, diese Zeiten, aber heute wollen wir das alles vergessen. Trinken Sie! Ich trank. Erst jetzt bemerkte ich, dass in der einen Ecke des Raumes eine gewaltige bronzene Moses-Büste stand, ein Mann, kniend, den Blick zum Himmel gerichtet. Mir fielen seine Erscheinungen in der Jugend ein und insgeheim fragte ich mich, was er damals zu sehen gemeint hatte und ob er diesen Moses ausstellte, um seine eigenen Schauungen zu legi-

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timieren? Später begegnete ich ihm noch einmal bei der Party, er lauschte aufmerksam den Ausführungen des Bischofs, der über Vorbestimmung und den unabänderlichen Plan Gottes sprach. Ich erinnere mich, wie seine Augen angestrengt auf den Mund des Mannes gerichtet waren, als fürchte er, ein Wort zu verpassen. Glaubte er zu diesem Zeitpunkt allen Ernstes, dass sein Schicksal feststand und seine Taten durch ein vorbestimmtes Schicksal legitimiert waren? Wenig später verließ ich das Haus, und wenn es ein Schicksal gibt, dann meinte es dieses gut mit mir. Noch am selben Abend brach sein altes Leiden wieder aus und zitternd fiel er vor den Erscheinungen, die er sah, auf die Knie, gestand seine Taten und weinte wie ein Kind. Die meisten, die Zeuge dieses Dramas waren, wurden wenig später, so sie nicht Hals über Kopf das Land verließen, verhaftet und verschwanden in den zahlreichen Gefängnissen der Insel.

III Wieder vergingen Monate und die Revolution brach aus. Der Sturz des Regimes stand unmittelbar bevor und die Befreiungstruppen durchkämmten die Stadt nach den Anhängern des einstigen Machthabers. Seine Frau hatte den Verstand verloren und sich das Leben genommen, er selbst hatte sich mit Getreuen zurückgezogen, um einen Gegenschlag vorzubereiten. Inmitten der zerstörten Straßen, zwischen rauchenden Autowracks und Ruinen traf ich ihn zum letzten Mal. Wirr blickte er mich an, die blanke Waffe in der Hand, mit fahrigen Bewegungen schien er Gegner zu suchen. Und doch war die Unsicherheit, die in all seinem Gehabe gewesen war, verschwunden. Zu meiner Schande muss ich sagen, dass mir zu allererst der Gedanke durch den Kopf schoss, dass er nun über die unpassend modischen Anzüge hinweg war. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und dann: „Stellen Sie sich“. Er schaute verwundert, als hätte er an diese Möglichkeit nie gedacht. Schließlich antwortete er mit unerwarteter Klarheit, unsäglicher Trauer: „Was habe ich noch zu erwarten? Achtung?

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Gnade?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich spürte es von Anfang an. Sie hatten es mir gesagt, nur hatte ich es nicht verstanden.“ Ich wagte nicht zu fragen. „Glauben Sie an das Schicksal? Ich sage Ihnen: Tun Sie es nicht. Es ist nicht mehr als ein Würfelspiel.“ Er lachte grimmig. „Erzählt von einem Narren“, zitierte er, jetzt fast heiter. „Kommen Sie, wir bringen es zu Ende.“ Und als ich mich nicht bewegte und nur die Augen senkte, wandte er sich ab und machte sich auf den Weg. Ich hörte Geschützfeuer und das Herannahen der Truppen, dachte an die Büste, an das überdeutliche Bild seiner Frau, deren Ehrgeiz man im Nachhinein die Schuld gab, und an das geheime Zimmer mit dem Plunder. Und als ich wieder aufblickte, war er schnellen Schrittes am Ende der Straße angelangt; wohin er ging, war allerdings nicht mehr zu erkennen.

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Ferruccio Furlanetto als Banquo und Jongmin Park als Spion, Wiener Staatsoper 2015

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Über Giuseppe Verdis Macbeth | Johannes Maria Staud

ÜBER GIUSEPPE VERDIS MACBETH Man stößt als Komponist auf ein starkes, fesselndes, überzeitliches und tief bewegendes literarisches Meisterwerk. Man trägt sich jahrelang mit dem anfangs unbewussten und später immer dringlicheren Wunsch, dieses zur Grundlage eines musikdramatischen Werkes zu machen. Nur, wie geht man nun vor? Wie legt man ein solches Werk dramaturgisch an und wo emanzipiert man sich von der Vorlage? Muss man sich überhaupt von der Vorlage emanzipieren? Und wie psychologisiert man die Figuren musikalisch – so man sie überhaupt psychologisieren möchte? Wo ab­strahiert man? Auf welche Szenen legt man sein Hauptaugenmerk? Welche Striche erscheinen unumgänglich? Und wo inspiriert die Vorlage zu eigenem Weiterspinnen? Welchen musikalischen Grundton legt man dem Werk zugrunde? Wo muss man an seine Grenzen gehen, etwas wagen, was man in seinem bisherigen Œuvre noch nicht probiert hat? Und vor allem: mit welchem Librettisten, welcher Librettistin arbeitet man zusammen? Also Fragen über Fragen, die sich seit Verdis Zeiten für heutige Komponisten nicht wesentlich geändert haben. Natürlich ist die große, ungebrochen erzählte Literaturoper – seit Alban Bergs Wozzeck als großem Höhe-, Zielund Wendepunkt – heute nicht mehr unhinterfragt. Die Zeitläufte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sowie die künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften und Strömungen der letzten Jahrzehnte legen natürlich gebrochenere, multiperspektivischere, auch durch filmische Zugänge inspirierte musiktheatralische Zugänge nahe. Dennoch werden Texte wie William Shakespeares Macbeth nicht aufhören, Komponisten von heute zu fesseln. Die politische Aktualität dieses Stoffes: ein immer skrupellos werdender, paranoider, machthungriger Diktator und seine blutrünstige Frau, die im Verfolgungswahn einen faschistischen Polizeistaat aufbauen und auch vor dem Mord an ehemals engsten Freunden und deren Familien nicht zurückschrecken, geht uns heute nach wie vor unter die Haut. Es sei hier auch auf Salvatore Sciarrinos 2002 uraufgeführte Oper Macbeth hingewiesen – ein leise flirrendes, delikates Meisterwerk,

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das durchaus als postfreudianische, tiefenpsychologische Studie über Machtmissbrauch und Skrupellosigkeit zu lesen ist. Ein Werk, das dennoch ohne Verdis Vorbild nicht denkbar wäre. Verdi war 34, als Macbeth 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Macbeth ist zugleich des Komponisten erste Shakespeare-Oper, noch lange vor seinen späten Meisterwerken Otello und Falstaff. Es ist sein bis dahin avanciertestes, wildestes, klanglich wirklich Neuland beschreibendes Werk; eine dunkle, ambitionierte, alle Register ziehende Partitur. Man spürt in jedem Takt: hier ist ein Komponist, der aufs Ganze geht – einer, der seine Begeisterung für und seine Erschütterung durch diesen Stoff in mitreißende, gespenstische Musik gießen will. Die 1865 in Paris uraufgeführte redivierte Neufassung schärft durch die gewachsene Erfahrung des Komponisten auch noch einmal die schroffen Konturen der Oper, auch wenn Verdi an das Pariser Publikum einige Zugeständnisse gemacht hat (machen musste?), wie der völlig revidierte Dritte Akt mit dem großen Ballett zeigt. Giuseppe Verdi und seine Librettisten Francesco Maria Piave und Andrea Maffei haben natürlich im Wissen, dass sie Shakespeares Werk an Qualität nicht übertreffen werden können, viele Umstellungen und Striche vorgenommen. So werden aus fünf Akten bei Shakespeare nun vier in der Oper. König Duncan tritt anders als in der Vorlage nur stumm auf – ein Umstand, der eine ganz neue Dramaturgie nahelegt. Aus drei Hexen wird ein Chor der Hexen, aus drei Mördern ein Chor von Mördern. Nebenfiguren wie Duncans zweiter Sohn Donalbain oder die schottischen Adeligen Lenox, Rosse oder Angus wurden gestrichen. Dafür wurden Lady Macbeth sowie Banquo massiv aufgewertet, ebenso wie Macduff. Diese Vereinfachung ist sicher im Sinne einer Dramatisierung für den Geschmack des 19. Jahrhunderts zu sehen. Zu bedauern ist allerdings, dass Verdi bei Macbeth noch kein kongenialer Librettist wie Arrigo Boito zur Seite stand. Shakespeares Sprache wird bis auf wenige Zitate völlig über den Haufen geworfen, es wurde bedauerlicherweise von den

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Librettisten neu gedichtet. Die sprachliche Wucht Shakespeares wird oft bis zur Banalität und Holzschnittartigkeit vereinfacht und verflacht. Die Rolle der psychologischen Tiefenschärfe, der kleinen, bedeutsamen Nuancierungen kommt nun eindeutig und allein der Musik zu. Dass Verdis Oper trotz der unübersehbaren Schwäche des Librettos eine so unglaubliche Wirkung zu erschaffen vermag, zeugt einmal mehr von der Qualität dieser Partitur. Natürlich hellt auch Verdi seine Partitur im Vergleich zur Vorlage da und dort auf – der düsterste aller Shakespeare-Stoffe wird durchaus in die Konventionen der Belcanto-Oper eingepasst. Für Verdi scheint das Prinzip zu gelten: Düsternis wirkt überzeugender nach Helligkeit und Heiterkeit. Wenn etwa Lady Macbeth im ersten Akt noch vor der Mordtat arios die Hölle beschwört („Or tutti sorgete, ministri infernali...“) geschieht dies in hellstem E-Dur. Oder wenn im 4. Akt die eigentlich bösen Hexen im zarten, harfengeschwängerten Reigen Macbeth wieder Kraft zufächeln wollen, ist dies nicht nur ein grober Eingriff gegenüber Shakespeares Vorlage, sondern auch für heutige Ohren stimmungsmäßig nicht mehr ganz nachvollziehbar. Auch das Finale des 2. Aktes, die Bankett-Szene mit der Erscheinung des toten Banquo ist bei Shakespeare düsterer, gewaltsamer und niederschmetternder. Verdi hellt durch das gewichtige und musikalisch großartige Brindisi – das Trinklied war damals durchaus eine Opernkonvention – die Atmosphäre so sehr auf, dass der sich abzeichnende Wahnsinn von Macbeth, das völlige Implodieren der Party nicht mehr so berührend-fatal wirkt wie in Shakespeares Drama. Übrigens dominiert auch hier wieder das emphatisch auftrumpfende E-Dur. Vielleicht wollte Verdi durch die Verwendung der „Sonnentonart“ an solch exponierten Stellen ja doch ein ironisches Augenzwinkern setzen. Die ganze Oper ist ja mehrheitlich in düsteren b-Moll-Tonarten wie f-Moll oder b-Moll bzw. weichen B-Durtonarten wie B-Dur, Es-Dur oder Des-Dur komponiert. Auch die Figur des Malcolm wird von Verdi und seinen Librettisten brav zu einem einfachen Heldentenor zusammengestutzt. Eine der spannendsten Szenen in Shakespeares Vorlage ist ja die, in der Malcolm, als er von

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Macduff zum Eingreifen gegen Macbeth überredet werden will, anfangs massive Selbstzweifel äußert und die in ihm schlummernde Grausamkeit und Lüsternheit anspricht. Er will es nicht ausschließen, dass unter ihm als Herrscher nicht alles noch viel schlimmer werden könnte als unter Macbeth. Die spannende Komplexität dieser Shakespeare-Figur kommt in der Oper leider völlig unter die Räder, was schade ist, denn Verdi hätte zweifelsohne die Mittel gehabt, dies zu komponieren. Dennoch ist die Vielfalt dieser Oper und die gefährliche Schönheit einiger Szenen auch bei häufigem Wiederhören ein Faszinosum. Schon im Preludio und in der Introduktion des ersten Aktes wird alles bedeutungsschwanger angerissen: die dunkle, unisono geführte f-MollMelodie im 6/8-Takt, die ständig wiederkehrenden, bohrenden marschhaften Punktierungen im Blech, das Holzbläser-geprägte Hexengelächter, die bedrohlich wiederholte abwärtsführende 32tel-Figur in den Streichern, die in der Mordszene wieder auftauchen wird, sowie Lady Macbeths elegische Schlafwandlermelodie. Man spürt, dass die Hexenstimmung Verdi hier zu etwas außerordentlich Stimmungsvollem inspiriert hat, auch von der unglaublich kolorierten, wirklich innovativen Orchestration her. Szenen wie das Finale des 3. Aktes, als Macbeth seiner Frau von der 2. Weissagung der Hexen erzählt und sie sich gemeinsam in einen Blutrausch hineinsteigern, bekommt man so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Auch die berühmte Schlafwandelszene der Lady Macbeth sowie der Beginn des vierten Aktes mit dem klagenden Opferchor und der Arie des Macduff, in der er den grausamen Mord an seiner Familie betrauert, sind unglaublich berührend. (Bei Verdi wird übrigens dieser Mord im Unterschied zu Shakespeare nicht gezeigt. Dies war eine gute Entscheidung der Librettisten.) Verdi gelingt es zudem, die innere Kohärenz der Oper durch kleinste motivische Sprenkel, die in unterschiedlichen Szenen wiederkehren, zu erhöhen. Das Werk ist etwa von martialisch-punktierten und doppelpunktierten Rhythmen durchzogen. Auch das hexenhaft-oktavierte Tremolo in Flöte und Piccolo ist so ein Beispiel. Es kommt immer wieder, auch wenn die Hexen nicht auf der Bühne stehen, Macbeth aber unter dem Einfluss ihrer Prophezeiungen handelt – etwa vor dem Mord an Duncan im 1. Akt. Man

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beachte z.B. auch die wiederkehrende absteigende Lamento-Sekund (ein Todesmotiv!) im Englischhorn in der Schlafwandelszene im 3. Akt oder in der Oboe, als man im 4. Akt erfährt, dass Lady Macbeth gestorben ist. Durch eine Unzahl solcher Klammern gelingt es Verdi, eine enorme Sogwirkung zu erzeugen und die psychologische Tiefenwirkung von Szenen zu erhöhen. All diese Dinge, diese kleinen und großen Kniffs, die handwerkliche Präzision und Klarheit, mit denen Verdi eine Oper wie Macbeth zu einem lebendigen, kohärenten und so überaus faszinierenden Organismus zu gestalten vermag – und dies trotz der Schwächen des Librettos – sind natürlich für einen Komponisten von heute nicht nur höchst interessant zu beobachten, sondern auch lehrreich und inspirierend für eigenes Schaffen. Auch wenn sich die musikalische Sprache in den letzten knapp 170 Jahren doch wesentlich verändert hat: gewisse Dinge wie die musikalisch-motivische Ökonomie Verdis, die mit einer unglaublichen Erfindungsgabe im melodischen Bereich einhergeht, seine instrumentatorische Klarheit im Zusammenspiel des Orchesters mit den Sängern und sein untrüglicher Sinn für das Aufbauen einer werkspezifischen, dramaturgisch konzisen Binnenspannung, faszinieren heute wie damals. Und Fragen, ob ein Verbrecher, der völlig am Ende ist wie Macbeth im 4. Akt („Pietà, rispetto, amore...“) in der Realität wirklich so schön artifiziell und zu Tränen rührend singen würde, sind wirklich hinfällig angesichts der Kraft und Qualität dieser Musik.

Johannes Maria Staud, geboren in Innsbruck, 1994-2001 Kompositionsstudium an der Wiener Musikhochschule bei Michael Jarrell, Dieter Kaufmann, Iván Eröd und bei Hanspeter Kyburz an der „Hanns Eisler-Hochschule für Musik“ in Berlin. Meisterkurse u.a. bei Brian Ferneyhough und Alois Pinos. Mitbegründer der Komponistengruppe Gegenklang in Wien. Aufführungen bei den Wiener Festwochen, im Wiener Konzerthaus, Wiener Musikverein, bei den Salzburger Festspielen, den Bregenzer Festspielen sowie in zahlreichen in- und außereuropäischen Staaten. Aufführende Orchester u.a. Wiener Philharmoniker, Berliner Philharmoniker, BBC Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra sowie alle namhaften Ensembles Neuer Musik.

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Eugène Grasset, Trois femmes et trois loups, 1892

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Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar

PEEPSHOW MIT LADY MACBETH Wo ist mein Anteil, Herr, am Licht? Ich will doch auch nach Hause kommen! Mein Blindenstock ist weggeschwommen unzeitig sank das Mondgesicht Bergrücken wachsen mächtig. Längst bin ich übernächtig und überreif vor Müdigkeit sooft der Atem in mir schreit könnt ich den Tod gebären. Lass das nicht ewig währen! Verschaffe mir mein Heimweglicht auch wenn es grell den Traumstar sticht und mein Gedächtnis peinigt. Du weißt, ich brauch kein Himmelshaus zeig mir das Obdach einer Maus bevor der Tag mich steinigt. (Christine Lavant)

Solange ich am Wort bin, lasst mich dichten. Bogdan Mornar war ein Freund, wie man im Leben nur einen trifft. Wenige Wochen bevor er seine lange Reise antrat, es sollte unsere letzte Begegnung sein, zog er eine Kunstpostkarte aus seiner Manteltasche und gab sie mir. Auf der Adressseite standen in seiner kleinen, steilen Handschrift, die die eines Knaben geblieben war, die letzten drei Zeilen eines Gedichts von Christine Lavant: Du weißt, ich brauch kein Himmelshaus / zeig mir das Obdach einer Maus / bevor der Tag mich steinigt. Das Motiv auf der Bildseite hielt mich nicht an. Zwischen Bäumen mit ornamental gemusterten Stämmen waren drei Frauen zu sehen, die in geringer Höhe über drei am Waldboden sitzenden schwarzen Wölfen schwebten, totenblass, mager und in transparente, weiße Tücher gehüllt, die Beine angewinkelt, die überkreuzten Hände eng an die Brust gedrückt. Die Dunkelhaarige im Vordergrund des Bilds – das Gesicht dem Betrachter zugewandt, die Augen weit aufgerissen,

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den Blick scheinbar ins Leere gerichtet. Die anderen beiden, eine blond, die andere schlohweiß, sah man nur von der Seite und doch war auch ihren Gesichtern ein Unbehagen anzusehen. War es Furcht? Oder Zorn? Ich nahm Mornars Karte, steckte sie in meine Jackentasche, warf ihm hin, dass er mir schreiben solle, und dass mir Briefe lieber wären als Ansichtskarten (und er daraufhin, scherzhaft: Wer alles will, steht am Ende mit nichts da). Als ich die Karte ein paar Tage später aus der Tasche hervorholen wollte, war sie verschwunden und blieb es bis zum heutigen Tag. Wie Mornar. Während der Arbeit an den ersten Notizen zu diesem Text stieß ich zum zweiten Mal auf die Abbildung der drei fliegenden Frauen – inmitten eines Bündels von Kopien, das neben anderen Beiträgen zu Verdi, Shakespeare und Macbeth einen Ausschnitt aus August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur enthielt. Da war das Bild wieder, Drei Frauen mit drei Wölfen von Eugène Grasset, ein Anspielen auf die Künderinnen, auf deren doppelzüngige Wahrsagungen – Wie trügerisch das Weiberherz! Verdammt, wer denen glaubt! – der Held hereinfällt, ja hereinfallen muss. Ich entdeckte das Bild auf Seite 88, wieder im Postkartenformat, diesmal eine Schwarzweißablichtung von schlechter Qualität; und doch: welch wunderbares Fundstück, schicksalhaft! Mit einem Mal schien jedes Detail erheblich und keine Frage überflüssig: Was führen die drei Frauen im Schilde? Was ist der Grund ihres Entsetzens? Was hat es mit den Wölfen auf sich – und mit dem Jagdhorn, das da liegt, zwischen Gräsern und Farnen? Und mit einem Mal bereute ich mein Briefe sind mir lieber als Ansichtskarten, denn was gäbe ich jetzt für die eine! Und wie hatte Mornar recht: Wer alles will, steht am Ende mit nichts da. Solang ich bei Verstand bin, lasst mich sagen: Im Anfang war kein Wort. Wir hörten nicht auf Namen, hatten nicht Eltern noch Geschwister, tranken an fremden Brüsten, träumten wach. Das erste Wort hieß Schuld. Es machte uns heucheln, wissend, dass man uns für Narren hielte, würden wir bleiben, wer wir waren: Erdgebundene längst, doch immer noch die Arme zum Flug gebreitet. Alles scheint gesagt und aller guten Dinge drei. Doch wiegt sich wer

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in Sicherheit, und weiß er’s, weil er’s glaubt? Was gebt Ihr auf die Schicksalsschwestern und jene vierte, Macbeths wesenhafte Femme fatale, die denkbar Schuldigste am Königsmord? Die: mit allen Hunden gehetzt, mit allen Wassern gewaschen, auf ewig befleckt. Ihr Eifern und Blecken, wie sie ihn bei der Mannesehre packt, Schwächling!, Memme!, als er zögert und schwankt – nicht minder grausam als das Blutvergießen, denn blass die Orgien handgreiflichen Frevels neben den inneren Kämpfen eines Finsteren im Bühnenlicht, neben der Selbstentblößung einer Hemmungslosen. Alles, alles scheint gesagt. Doch wer fragt nach den Briefen, in Umnachtung geschrieben, in den schwachen Stunden zwischen Schlaf und Wahn, kurz vor ihrem Tod? Sind die nicht spannender als Ansichtskarten? Manntje, Manntje, Timpe Te. Sie kriegt den Hals nicht voll, sagt Ihr. Wie eng ist’s ihr in seinem dünnen Schatten! War da ein Schuldgefühl, ein Anflug von Gewissen? Mein Herz, so weiß, ein Herz aus Styropor. Und immer schwimmt es obenauf, dies Herz. War da ein weiteres Begehren? Manntje, Manntje, Timpe Te, wen schert’s? Mitwisser, Augenzeugen, die Ihr an Hexen glaubt und unbefleckte Mütter, nehmt Euch in Acht vor Eurem blinden Fleck! Traut den Scheinwerfern nicht, die Eure Blicke lenken! Den Königsmörder wollt Ihr als Opfer dunkler Mächte, die Anstifterin aber nicht als Dulderin, sondern als Verkörperung des Bösen, als ließe es sich an ihr dingfest machen, als würdet Ihr dem Guten so gerecht. Solang ich noch am Wort bin, lasst mich fragen: Was Bühnenkunst gegen den Blick durch ein Loch? Münze in den Schlitz und peep. Nicht zu fassen ist das Böse, nicht in Fleisch und Blut. Wenn ihr es greift, zerfällt es, vermehrt sich selbstbefruchtend, bildet Kapseln, deren Häutchen platzen und neue Keime streuen, Unheilsmetastasen. Und doppeldeutig alle Prophetie. Die Frau ist nicht der Teufel, ist selbst gelenkt von jener Kraft, die alles will und nur das Böse schafft. Seht selbst: Wie sie sich begeistert, sich gefangen nimmt: Kommt, Geister, die ihr lauscht auf Mordgedanken! Schwächling!, Zärtling!, Weichei! Nur hinter seinem Rücken trägt sie Trauer, trägt schwer daran seit jener

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einen Nacht, in der er grußlos ging. Seht selbst: Wie sie sich in sein noch warmes Leintuch hüllt, die Arme fest um die Beine geschlungen, übernächtig, leichenblass in diesem weißen Tuch, die überkreuzten Hände an die Brust gedrückt, das Gesicht dem Betrachter zugewandt, die Augen aufgerissen, der Blick ins Leere – wie die eine auf Bogdan Mornars Kunstpostkarte. Groschen rein, Licht an! Wie sie Macbeths Briefe an sich drückt, jetzt, da er fort ist, seht! Steht da, in seiner kleinen, steilen Handschrift, die die eines Knaben geblieben ist, ihr Name? Alles, alles scheint gesagt, doch keiner da, der ihren Namen weiß? Kommt, Zeugen ihrer Seelennot, seht, wie sie den Verstand verliert, und richtet sie zum Tod! Zur Einsamkeit vor Publikum! Euch, die im Dunkel, sieht sie nicht. Kommt, Schöffen, die Ihr reinen Herzens seid, besiegelt ihre Bosheit, dünkt Euch gut! Sei Böses mit Bösem vergolten? Peep! Seht, wie ihr nun recht geschieht! Sie träumt mit offenen Augen, ruft den, der ohne Stachel war, sein Wollen anzuspornen, und erst durch sie zum Mann geworden ist: Zu Bett, zu Bett, mein lieber Herzensguter! Dann verlässt sie die Schlafstatt, irrt umher, schließt ihren Schreibtisch auf und schreibt. In diesen Nächten, Liebster, bin ich mir nur zu Besuch. Licht an, wo so viel Schatten! Was alle Macht, was Reichtum ohne Dich? Wollt Ihr weinen? Weint! Doch wisset: Ihr weint um Euch selbst! Sie zieht die Lippen zwischen die Zähne, Nur mit den Narren ist gut Kirschen essen, befühlt ihre Finger, riecht daran, streicht sich über den Mund. Die Toten essen mit, mein lieber Herr. Und wie sie sich die Hände reibt, in Reimen spricht – Schneider, Schneider, Mac, Mac, Mac! Wo sind die süßen ungebor’nen Söhne, die wunden Pünktchen unsrer Leiblichkeit? Und wie sie sich jetzt in die leere Wiege neben ihrem Bett zwängt, sich da zusammenkauert, sich nach dem Unterleib greift! Was gäb’ ich auf ein Schicksal, das mir hold! Seht, Ihr Zu- und Aufseher: Sie legt den Kopf ins Genick und starrt zum Fenster hinaus, als wollte sie zum Mond heulen. Wo ist mein Anteil, Herr,

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Peepshow mit Lady Macbeth | Anna Baar

am Licht? und Licht mit Schatten aufzuwiegen – wem gelingt’s? Dann öffnet sie die Lade ihres Spinds und nimmt daraus die Krone aus Stanniol: O Wollust des Throns, o Zepter, endlich bist du mein! Ihr wollt sie nackt? Peep, peep, schaut, schaut! Die Kleider reißt sie sich vom Leib, stürzt, kriecht auf allen Vieren, erkennt sich nicht im Spiegel, bricht ins Lachen – die Krone rutscht ihr ins Gesicht. Was ist die Herrschaft ohne dich, Mac, Mac? Ein Schattenspiel im Dunkel ist’s, sonst nichts! Sie wirft den Spiegel zu Boden. Sieh doch, die Blumen, Herr, in Scherben! Doch keiner wirft den ersten Stein nach mir. Sie werfen mir nur Münzen in den Hut! Licht, Licht! Ich kann Euch nicht sehen! Ihr, die Ihr lauscht auf Reueworte, wollt endlich Ihr den Mord von eigener Hand? Lichtblind und taumelnd blickt sie jetzt ins Publikum. Wo sind die Henkersknechte, wo die Schergen? Muss ich mich selber richten, hält mich nichts? Hat sie uns doch bemerkt? Seht zu, dass Ihr fortkommt, schnell!

Anna Baar: Schriftstellerin und Autorin. Geboren 1973 in Zagreb, Kindheit und Jugend in Wien, Kärnten und Dalmatien. Studium der Publizistik, Slawistik und Theaterwissenschaft in Wien und Klagenfurt. Schrieb zunächst für Zeitschriften und Agenturen, später für Auftraggeber aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Anna Baars Roman „Die Farbe des Granatapfels“ ist 2015 im Wallstein Verlag erschienen.

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Alain Altinoglu

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Interview

VERDI HAT DAS THEATER GELIEBT Premierendirigent Alain Altinoglu im Gespräch mit Andreas Láng Worin liegt das Neuartige, das oft beschworene Stil-Experiment, in Verdis Macbeth im Vergleich zu seinen früheren Opern? Alain Altinoglu: Um die Frage zu beantworten, müssen wir zunächst einmal die beiden Versionen dieser Oper unterscheiden, die frühere aus dem Jahr 1847 und die spätere – die wir hier an der Wiener Staatsoper zeigen – von 1865. Diese beiden Fassungen liegen fast 20 Jahre auseinander und dokumentieren jeweils den kompositorischen Reifegrad von Giuseppe Verdi: Der 1847er-Macbeth entstand noch vor der berühmten Trias Traviata-RigolettoTrovatore, der 1865er-Macbeth deutlich danach beziehungsweise knapp vor Don Carlos. Die Unterschiede liegen klar auf der Hand: Die frühere Fassung weist eine ähnliche Orchestrierung auf wie jene der Bellini- und DonizettiOpern und zeigt eine Reihe von handwerklichen Konventionen. Wenn beispielsweise etwas handlungsmäßig geschwind abläuft, erhält diese Passage auch eine schnelle Musik und umgekehrt – das sind noch sehr traditionelle Muster. Ganz anders in der zweiten Fassung: Die Holzbläser werden da passagenweise kontrapunktisch geführt, es erklingen neuartige Instrumentenverbindungen wie etwa eine Trompete zusammen mit Streicherpizzicati, das Metrum, die Agogik ist insgesamt flexibler und die gesamte musikalische Dramaturgie ist weniger schematisch. Für die aktuelle Produktion wurde also die zweite Version gewählt, weil sie unterm Strich besser ist? Alain Altinoglu: Ich finde, dass erste oder frühere Fassungen zwar vom musikhistorischen Standpunkt aus gesehen durchaus interessant sein können, aber nicht zwingend aufgeführt werden müssen. Wenn jemand mit 25 oder 30 etwas komponiert und dann 20 Jahre später merkt, dass einiges verbesserungswürdig ist, und er manches korrigiert, so geschieht dies im Allgemeinen zurecht. Warum sollte man dann auf die frühere Version, mit zum Teil handwerklichen Schwächen und Fehlern zu­ rückgreifen?

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Weist die Partitur der zweiten Fassung nicht gewisse Brüche auf – wenn also Teile der ersten Version auf Teile der zweiten stoßen? Alain Altinoglu: Ja, diese Brüche gibt es, aber niemals innerhalb einer Nummer. Wenn Verdi also beispielsweise in einer Arie oder einem Duett etwas verändert hat, dann immer behutsam und dem früheren Stil angepasst. Wenn er allerdings gleich eine ganze Nummer erneuert oder eingefügt hat, dann kommt es schon vor, dass zwei Stile aufeinandertreffen. Warum wurde das große Ballett in dieser Produktion gestrichen? Alain Altinoglu: Zum einen war es der Wunsch unseres Regisseurs Christian Räth. Zum anderen besteht auch musik-dramaturgisch keine Notwendigkeit es innerhalb der Oper aufzuführen. Verdi hat das Ballett nur geschrieben, weil es die Pariser Theatervorschrift von ihm verlangte und das dortige Publikum Balletteinlagen liebte. Wo liegen die Herausforderungen für den Macbeth-Dirigenten? Alain Altinoglu: Zum einen sind es die, mit anderen Verdi-Opern verglichen, schweren Chorstellen. Zum anderen muss der Dirigent Acht geben, dass die noch verbliebenen konventionellen Teile nicht auffallen und den Gesamteindruck verderben. Könnten Sie ein Beispiel so eines konventionellen Teiles nennen? Alain Altinoglu: Der Auftritt des Dieners in der Cavatina der Lady bzw. vor dem Duett Macbeth-Lady Macbeth im ersten Akt. Die diesen Auftritt begleitende Musik ist spritzig und fröhlich und passt nicht zur Dramatik der Situation. Wenn man nur diese Musik hört, ohne zu wissen, was passiert, könnte man keinen Rückschluss auf den Inhalt zielen. Was kann der Dirigent in diesem Fall machen? Alain Altinoglu: Ich spiele die Stelle schnell und ganz leise, geradezu ­misterioso. Vom instrumentalen Marsch im ersten Akt, der die Ankunft König Duncans ankündigt, wird gelegentlich behauptet, dass sie schlechte Musik sei …

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Alain Altinoglu: Wirklich? Das finde ich überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Diese prosaische Es-Dur Musik ist sogar sehr gut, weil sie auf perfekte Weise die protokollarisch-nüchterne Atmosphäre wiedergibt, die zu diesem Zeitpunkt gerade stattfindet: Der König kommt an. Es ist ein schöner Kontrast zu dem Davor und Danach. Verdi spricht immer wieder von der Tinta, also quasi der Grundfarbe einer Szene, eines Stückes. Wie sieht diese Tinta der Oper Macbeth aus? Alain Altinoglu: Ganz einfach: dunkel. Bekanntlich hat Verdi sinngemäß angemerkt, dass die Sängerin der Lady Macbeth keine schöne Stimme haben muss oder soll. Was macht man als Dirigent mit so einer Aussage? Alain Altinoglu: Verdi hat Ähnliches oft gesagt – zum Beispiel im Zusammenhang mit der Interpretin der Quickly in Falstaff. Ihm ging es bei den Aufführungen seiner Stücke nämlich sehr stark um den theatralen Ausdruck, um das Schauspielerische. Es gibt ja auch heute genügend Sänger, die trotz einer nicht sehr schönen Stimme zu großen Publikumslieblingen im ersten Fach avanciert sind, weil sie ein tolles Charisma haben. Und genau diese dramatische Ausstrahlung verlangte Verdi von den Darstellern, insbesondere in Macbeth. Mit Marianna Barbieri-Nini, der Uraufführungs-Lady Macbeth, arbeitete Verdi ganze drei Monate lang an der Sonnambulismo-Szene – so lange bis sie imstande war die ganze Passage ohne Mund- und Augenbewegungen zu singen. Kann man in diesem Zusammenhang von einem Proto-Verismo oder einem Proto-Expressionismus sprechen? Alain Altinoglu: Nein, Verdi ging es einfach um wahres, lebendiges Theater, für ihn war bloßer Schöngesang sinnlos. Wenn man die Macbeth-Partitur ansieht, merkt man, dass Verdi nahezu in jedem Takt ganz genau vorschreibt, in welcher Art und Weise interpretiert werden muss, und je älter er wurde, desto präziser notierte er seine Wünsche, auch in Bezug auf die Dynamik. Haben sich Interpreten heute noch ganz exakt an diese präzisen Anweisungen zu halten, zum Beispiel im dynamischen Bereich, oder hat

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man diesbezügliche doch einige Freiheiten? Alain Altinoglu: Man muss hier relativieren – sowohl was die dynamischen Anweisungen betrifft als auch was die Tempovorgaben anbelangt. Alles um uns herum hat sich verändert, alles ist schneller, hektischer und zum Teil lauter geworden und somit auch unser Feeling hinsichtlich eines langsamen oder schnellen Tempos. Und wenn Verdi für die Sänger in einem a cappella-Abschnitt ein vierfaches Piano vorschreibt, aber die Kühlgebläse der Scheinwerfer auf der Bühne gleichzeitig im Mezzoforte summen, dann ist diese Anweisung in heutigen Opernhäusern nicht mehr eins zu eins durchführbar. Das, was also stimmen sollte, sind die Proportionen, denn dann agieren wir dem Sinne nach werktreu, wenn auch nicht buchstabentreu. Bei Shakespeare trifft Macbeth drei Hexen, hier bei Verdi gleich einen ­ganzen Chor an Hexen. Warum geschah diese Vervielfältigung? Alain Altinoglu: Wird ein Stück zu einem Werk des Musiktheaters verarbeitet, passiert das in den seltensten Fällen ohne Veränderungen. Auch Prosper Mérimées Novelle Carmen ist beispielsweise um einiges brutaler als die Oper von Georges Bizet. Im aktuellen Fall glaube ich, dass Verdi die Anzahl der Hexen aus einem dramaturgischen Grund so drastisch vergrößert hat: Wenn Macbeth einer größeren Schar gegenübersteht, fokussiert der Zuseher stärker auf ihn, als wenn er nur drei Hexen vor sich hat, das ist geradezu filmisch gemacht. Gibt es in Macbeth typische Tonarten, Tonartenfolgen oder Motive? Alain Altinoglu: Die Partitur ist reich an unterschiedlichen Tonarten. Das, wenn Sie wollen, Typische ist, dass Verdi viele Nummern einer bogenförmigen Dreiteilung unterwirft und hier wiederum Teil eins und Teil drei meist dieselbe Tonart aufweist, wohingegen er im Mittelteil sehr oft in eine Molltonart ausweicht. Was die Motive betrifft? Nun, einerseits kommen bestimmte, in der Musikliteratur oft verwendete rhythmische Pattern oder symbolhafte Tonfolgen vor, wie etwa der Halbtonschritt, der auf Tod und Blut hinweist. Andererseits verwendet Verdi in Macbeth immer wieder bestimmte Motive, die er auch gerne kontrastierend gegenüberstellt, zum Beispiel in der Ouvertüre das ­Hexenmotiv und das Sonnambulismo-Motiv.

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Gelegentlich wird angemerkt, dass erst die Beschäftigung mit Shakespeare im Zuge der Komposition von Macbeth die Stiländerung bei Verdi ausgelöst hat. Alain Altinoglu: Das würde ich so nicht ohne weiteres unterstreichen. Wahrscheinlich war einfach die Zeit reif für die stilistische Weiterentwicklung und da ist zum richtigen Zeitpunkt Shakespeare als Auslöser aufgetaucht. Es ist müßig, darüber nachzudenken, aber vermutlich hätte Verdi diesen Entwicklungssprung früher oder später auch ohne die Beschäftigung mit Shakespeare vollzogen. Woran mag es liegen, dass Macbeth nicht ganz so beliebt ist wie Rigoletto oder Traviata? Alain Altinoglu: Vielleicht weisen Rigoletto und Traviata mehr Melodien auf, die leicht nachzusingen sind, vielleicht schreckt manche auch die dunkle Atmosphäre des Macbeth etwas ab. Darüber hinaus ist die Beliebtheit von Werken überall auf der Welt Modeströmungen unterworfen – manches, was früher häufig gespielt wurde, ist heute nahezu vergessen und umgekehrt. Ich finde aber gar nicht, dass Macbeth in puncto Popularität so schlecht davonkommt, Falstaff beispielsweise hat da einen viel schwereren Stand. Gibt es Elemente, die sich wie ein roter Faden durch alle Verdi-Opern ziehen? Alain Altinoglu: Mit Ausnahme von Falstaff, wo die Chromatik Eingang gefunden hat, bleibt Verdi im Großen und Ganzen seinen Harmonien treu. Bei Wagner sind die Unterschiede von Oper zu Oper klarer: Die ganz spezielle Harmonik im Tristan, die Kontrapunktik in den Meistersingern, im Holländer haben wir wieder eine ganz andere musikalische Welt. Auch Puccini ist in seiner Harmonik nach und nach kühner geworden. Das ist das eine. Das zweite, was sich tatsächlich in allen Verdi-Opern zeigt, ist seine Liebe zum Theater an sich.

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Christian Räth

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DIE ZENTRALE FRAGE NACH DEM BÖSEN Regisseur Christian Räth im Gespräch mit Oliver Láng Giuseppe Verdi hat in einem Brief davon gesprochen, dass es in dieser Oper drei Hauptrollen gibt: Macbeth, Lady Macbeth und die Hexen. Christian Räth: Ich habe während der Vorbereitung für die Inszenierung viel über diesen Aspekt nachgedacht. Für mich haben die Hexen tatsächlich eine zentrale Position, wobei diese sich weniger in einem eigenständigen Leben ausdrückt. Die Bedeutung der Hexen lässt sich für mich nur in Relation zu Macbeth und Lady Macbeth verstehen. Sie sind so etwas wie die Dämonen, die Verführungen, der Ehrgeiz in den Köpfen der Macbeths, die Personifizierung der bewussten oder unbewussten Gedanken und Triebe, die in den Köpfen der Protagonisten wirksam werden; oder auch die inneren Kräfte, die sie zu ihren Handlungen treiben. Hexen sind auf einer Bühne besonders schwer darzustellen. Wenn man das Ganze nicht in einer Fantasy-Umgebung oder einer historischen Welt spielen lässt, wirken sie oft deplatziert. Wie lösen Sie das? Christian Räth: Auch darüber habe ich mit dem Bühnenbildner Gary McCann lange diskutiert und wir haben viele Ansätze angedacht – und wieder verworfen. Letztlich sind wir zu der Überlegung gekommen, dass die Hexen die Verbindung von Macbeth und Lady Macbeth darstellen und die Grundzüge der beiden Protagonisten vereinen und reflektieren sollten. Sie verbinden die „männliche“, militärische Welt von Macbeth und die „weibliche“ Gefühlswelt von Lady Macbeth und lassen daraus ein optisches Amalgam entstehen. Wobei die Kategorien des „Männlichen“ und des „Weiblichen“ in Hinblick auf Macbeth und Lady Macbeth ja ohnehin oft ins Gegenteil verkehrt zu sein scheinen. Was für uns auch sehr wichtig war, ist, dass diese Hexen, obwohl sie nur von Macbeth und von Banquo gesehen werden, dennoch eine sehr starke Verbindung zu Lady Macbeth haben, ja mehr noch: in gewisser Weise eine Vervielfältigung der Figur der Lady Macbeth sind, so dass sich eine optische und spirituelle Verbindung zwischen den Figuren ergibt.

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Oft wird darauf hingewiesen, dass Macbeth (anfangs) schwach scheint und Lady Macbeth die (zunächst) treibende Kraft ist. Wie gestalten Sie das Verhältnis zwischen den beiden? Christian Räth: Auf einer ersten, leicht einsehbaren Ebene ist das Verhältnis klar gezeigt: Er ist ein erfolgreicher Feldherr und sie die Ehefrau, die – wie das in manchen Beziehungen ist – mehr will als der Ehemann selbst oder es zumindest offener ausspricht. Schaut man aber genauer hin, untersucht man die psychologischen Konstruktionen der Figuren von Shakespeare und Verdi, dann merkt man bald, dass diese beiden Figuren eigentlich untrennbar sind. Der eine hat das, was dem anderen fehlt. Lady Macbeth hat diese unglaubliche Ambition, die Willenskraft, hat aber möglicherweise nicht die körperlichen Mittel ihre Wünsche durchzusetzen noch hat sie im Machtgefüge der sie umgebenden Gesellschaft die entsprechende Position. Und Macbeth hat zwar auch den Ehrgeiz, ist gleichzeitig zögerlicher, schreckt davor zurück, die Pläne zu verwirklichen. Aber während es am Anfang so scheint, dass Lady Macbeth die Kalte und Berechnende ist, wird sie gegen Ende das Opfer ihrer eigenen Untaten, die sie im Unterbewussten verfolgen und gewissermaßen von innen her zerstören. Wenn man die schottische Geschichte des 11./12. Jahrhunderts überblickt, wird erkennbar, dass praktisch kein König nicht ermordet wurde. Sind Macbeth und Lady Macbeth in diesem historischen Kontext wirklich so außergewöhnlich böse oder waren es die Umstände, die sie dazu gebracht haben? Christian Räth: Ich glaube, dass man zwischen den historischen Figuren und den Theater-Figuren unterscheiden muss. Drama und Oper sind viel mehr als eine historische Erzählung, und was mich an diesen Stücken besonders interessiert, ist die innere Dimension der Figuren, sind die psychologischen Aspekte. Die Oper erzählt vielleicht eine Geschichte, die früher wie heute alltäglich war/ist, dies aber in einer erhöhenden Weise, sodass Macbeth fast zu einem mythologischen Stoff wird. Darin liegt auch der moderne Gehalt dieser Oper, dass sich nämlich – so traurig es ist – Geschichte immer wiederholt und von Zyklus zu Zyklus neue Macbeths nachkommen.

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In der Oper gibt es kein positives Liebespaar, überhaupt sehr wenig Helles. Existiert irgendetwas Positives, das man dem Publikum mitgeben kann? Christian Räth: Natürlich ist das Negative überwiegend. Ihre Frage beleuchtet im Hinblick auf das Ende der Oper die Frage nach der Utopie, dass das Verbrechen ausgetilgt wurde und nun das neue System besser wird. Gehen wir also in eine bessere Welt? und vor allem: Wird sie so bleiben? Wenn ich mich umschaue und jeden Tag Zeitung lese, muss der Befund eher lauten, dass sich im Grunde nicht viel geändert hat und dass die Dinge, trotz aller Anstrengungen, nicht besser laufen, sondern womöglich und erschreckenderweise sogar schlechter. Insofern stellt das Stück für mich einen Zyklus dar: Lady Macbeth und Macbeth steigen zur Macht empor, haben das Blut des vorherigen Königs an ihren Händen, arbeiten sich bis zur Spitze hinauf – und sobald sie oben sind, beginnt ihr Fall. Genau jene, die von ihnen misshandelt und verfolgt wurden, lehnen sich auf, Macbeth wird gestürzt (bei uns nicht nur von Macduff, sondern von einer von ihm angeführten Gruppe von Flüchtlingen). Das Ende ist, dass sich ein neues System etabliert und dass Malcolm, der Sohn des ehemaligen Königs, der neue Machthaber wird, dazu Macduff die Nummer zwei. Für mich sieht es so aus, als ob dies der Beginn eines neuen Zyklus ist, es werden eigentlich nur die Namen ausgetauscht, das Regime bleibt gleich. Es endet mit einem Fragezeichen: Jeder soll für sich selbst beantworten, ob’s wohl besser wird oder nicht. Verdi und Shakespeare haben die Fakten dargestellt und persönlich nicht gewertet. Wie machen Sie das in der Inszenierung? Stellen Sie Macbeth und Lady Macbeth besonders böse dar oder sind es einfach nur Personen, die etwas Böses tun? Christian Räth: Die Frage nach dem Bösen ist ja eine der zentralen Fragen, nicht nur in diesem Stück, sondern überhaupt im Leben, in unserer Gesellschaft, quer durch die Geschichte. Für mich ist das immer eine Sache, die schwer zu verorten ist: Ist das Böse etwas, was von außen auf uns einwirkt, oder etwas, das in uns drinnen ist? Ich persönlich glaube, dass es eher etwas ist, was in uns ist und sich bahnbricht, je nachdem, wie die Verhältnisse sind. Das heißt, wenn man das Glück hat, in einer geschichtlichen Situation,

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in einer Gesellschaft zu leben, die friedlich ist, dann wird das Böse vielleicht in Bann gehalten. Wenn man allerdings die Möglichkeit sieht, durch etwas Böses mehr zu erreichen, weiterzukommen, sich zu profilieren, dann ist das eine Verlockung, die viele für nachgebungswürdig halten. Und einer solchen Verlockung zu folgen, ist, fürchte ich, für mehr Menschen im Rahmen des Möglichen, als man vielleicht meint. Mehr noch: Ich glaube (auch wenn man das nicht verallgemeinern kann), dass ein Sensorium für die Verlockungen und ein entsprechender Ehrgeiz grundsätzlich in jedem vorhanden ist, ein Grundpotenzial, so wie auch das Gute in jedem Menschen angelegt ist. Von daher würde ich sagen, geht es nicht um eine moralische Wertung, sondern um so etwas wie ein „Naturgesetz“, gehört also zum Menschsein dazu. Folglich kann es für mich nicht bedeutsam sein zu sagen: Macbeth und Lady Macbeth sind wirklich die bösesten Leute, die man sich vorstellen kann, denn viele andere, die wir heutzutage für gut halten, zeigen uns eine gute Fassade hinter der womöglich etwas lauert, was alles andere als gut ist. Einer der großartigen Ansätze bei Shakespeare und Verdi ist, dass wir es mit zwei negativen Helden zu tun haben, die aber eine Faszination ausüben, weil wir in das Innere der Figuren schauen können und diese nach außen hin bösen Charaktere wirklich unsere Identifikationsfiguren werden; dieser Mechanismus, den die Musik und das ganze Stück ausmachen, dreht unsere ganzen Wertvollstellungen kopfüber. Das ist es auch, was die Hexen in dem Shakespeare-Drama sagen, „fair is foul and foul is fair“. Das Böse ist das Gute und das Gute ist das Böse, es kommt immer drauf an, was man im Sinn hat. Von daher ist diese psychologische Innenschau der Figuren das Interessanteste an Macbeth. Bei Ihnen spielt die Oper in einem zeitgenössischen Bühnenraum. Haben Sie versucht, das Stück zu aktualisieren, oder geht es Ihnen um die Zeitlosigkeit des Themas? Christian Räth: Wir haben uns bemüht, das Stück in dem Sinne zu aktualisieren, dass wir es an unsere Welt, an unsere Gegenwart heranholen, ohne konkret zu sagen, in welchem Land, zu welcher Zeit es genau spielt. Für uns ist wichtig, einen modernen Zugang zu finden und das Geschehen nicht nur zu bebildern, sondern es psychologisch zu untersuchen. Historische

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oder historisierende Kostüme und ein entsprechendes Dekor erzeugen oftmals eine Distanz zum Heute, die in der Musik nicht vorhanden ist. Denn in Macbeth agieren moderne Figuren, erstaunlich moderne Figuren, die man ohne Weiteres in unserer Zeit, in unserem Kontext zeigen kann, ohne dass man sie mit Gewalt verbiegen müsste. Auch soll das Bühnenbild kein lebloser Raum sein, sondern in einer gewissen Weise auch ein Mitspieler, ein eigenständiger Charakter, der die Geschicke der Personen, die sich in ihm bewegen, gewissermaßen beeinflusst. Es ist wie ein Labyrinth, das immer komplexer wird, das sein eigenes Leben führt und in dem sich die Figuren am Schluss verlieren und von ihm beinahe zerstört werden. Es geht also nicht um eine moderne Dekoration, sondern um Räume, die zwischen Illusion und Realität wechseln, eine Eigendynamik entwickeln und gleichzeitig auch eine Spiegelung der Innenwelten der Figuren bieten. Gibt es etwas, das Sie als Regisseur dem Publikum mitgeben wollen? Die Aussage, dass in den meisten von uns ein bisschen etwas von Macbeth steckt oder stecken könnte? Christian Räth: Ich glaube, was für mich am Bedeutendsten ist, ist die erwähnte Innenschau in die Figuren und auch, dass man das ganze Geschehen durch die Augen dieser Hauptfiguren sieht und wir das Stück nicht von außen anschauen. Für mich ist es zu einfach zu sagen: Da sind Macbeth und Lady Macbeth, das sind die Bösen und die machen all dieses Böse und die kreieren eine Welt, in der keiner mehr atmen und leben kann. Viel spannender finde ich die Frage, wie alles in ihren Köpfen aussieht und wie sie die Welt sehen. Und faszinierend im Macbeth von Shakespeare und noch mehr bei Verdi ist die Verzahnung von Realität und Fantastischem. Wenn man die Oper hört, gibt es fast keine Szene, in der es nur die Realität gibt. Das beginnt in der ersten Szene, in der Macbeth die Hexen trifft, und intensiviert sich im Laufe des Stücks: Immer mehr schwankt es zwischen Realität und Vision. Im Grunde sind wir nie in einer klar definierten, realistischen Welt, sondern springen immer in die Innenwelt von Macbeth.

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Impressum

Wiener Staatsoper – Spielzeit 2015/2016 – Direktion Dominique Meyer, Giuseppe Verdi, Macbeth Premiere am 4. Oktober 2015 Konzept und Gesamtredaktion des Programmheftes: Andreas Láng, Oliver Láng Graphische Konzeption und Gestaltung: Irene Neubert Lektorat: Inga Herrmann Vera Blum Textnachweise: Alle Artikel, mit Ausnahme jener von Verdi, Barbieri-Nini und Freud sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Die Texte Getötet … getötet und Erfüllung des Gesagten entstammen dem MacbethProgrammheft der Wiener Staatsoper, 2009. Der Texte Ans Herz gewachsen und die Zeitleiste entstammen ebendiesem Programmheft und wurden erweitert. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Bildnachweise: Michael Pöhn (Cover, S.4, 8, 45, 50, 51, 58, 67, 106,110, 111, 117, 124) , Privatarchiv Erich Wirl (S. 76-98), Axel Zeininger (S. 99-101), Österreichisches Theatermuseum (S. 112), Les Arts Décoratifs (S. 130), alle übrigen Archiv der Wiener Staatsoper bzw. unbezeichnet. Urheber/innen bzw. Leistungsschutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Medieninhaber – Herausgeber: Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Hersteller: Druckerei Walla GmbH

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Oper bewegt. Wir bewegen Oper. Als Generalsponsor. Als integriertes, internationales Öl- und Gasunternehmen ist die OMV weltweit aktiv. Kultur ist uns ein Anliegen. Deshalb unterstützen wir die Wiener Staatsoper als Generalsponsor und ermöglichen den Livestream WIENER STAATSOPER live at home. Erleben Sie Oper der Weltklasse.

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