Masterarbeit Claudia Mehl - Katholische Kirche im Kanton Zürich

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Philosophie, Ethik
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Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades „Master in Theologie UZH / Master of Theology UZH“

Kindeswohl vor den Möglichkeiten der hochspezialisierten Medizin theologisch-ethische Reflexion

Verfasserin: Claudia Mehl Matrikel-Nr.: 10722072

Betreuer: Dr. Christoph Ammann Referentin: Dr. Ruth Baumann-Hölzle

Fach: Theologische Ethik Institution: Ethikzentrum – Institut für Sozialethik

Abgabedatum: 19.06.2014

INHALT I.

EINLEITUNG .................................................................................................................... 3 1.1. Hintergrund und Ziel der vorliegenden Arbeit 3 1.2. Aufbau der vorliegenden Arbeit 5

II.

ETHIK IN DER MEDIZIN .............................................................................................. 7

2. Krankheit und Gesundheit...................................................................................... 9 2.1. Spannungsfeld zwischen genetisch-dynamischen und eidetisch-statischen Gesundheitsmodellen 11 2.2. Heil und Heilung als Deutungskonzept von Gesundheit 14 2.3. Systematische Unterscheidung zwischen Medizin und Theologie 16 2.4. Die Spannung von Heil und Heilung vor dem Hintergrund von Letztem und Vorletztem 20 3. Ethische Entscheidungsfindung und das Prinzip des Patientenautonomieanspruchs vor den Möglichkeiten einer hochspezialisierten Medizin ..................................... 22 3.1. Hochspezialisierte Medizin 23 3.2. Das Prinzip des Autonomieanspruchs 26 3.2.1. Autonomie bei John Stuart Mill 27 3.2.2. Autonomie bei Immanuel Kant 27 3.2.3. Patientenautonomie 28 3.3. Theologische Ethik 30 3.3.1. Luthers Freiheitstraktat und das sich daraus ableitende Freiheitsverständnis 32 3.3.2. Agape (ἀγάπη) als grundlegendes Element der evangelischen Sozialethik 39 3.3.3. Die Arzt-Patient-Beziehung als Voraussetzung der Patientenautonomie 41 3.3.4. Ethische Entscheidungsfindung 45 III.

DAS KIND ALS PATIENT ............................................................................................ 47

4. Kindeswohl auf der Makroebene – UN-Kinderrechtskonvention ........................... 49 4.1. Zentralnorm des Kindeswohls 50 4.1.1. Basisnorm Beteiligung 52 4.1.2. Basisnorm Schutz 53 4.1.3. Basisnorm Förderung 54 5. Kindeswohl im Spannungsfeld der drei Basisnormen auf der Mikro- und Mesoebene .......................................................................................................... 55 5.1. Schutznorm 57 5.1.1. Schutz durch den Vorrang häuslicher und ambulanter Versorgung 57 5.1.2. Schutz durch die Aufrechterhaltung der Beziehungen des Kindes im Krankenhaus 59

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5.1.3. Schutz durch personelle und institutionelle Spezialisierung 5.2. Beteiligungsnorm 5.2.1. Recht auf Aufklärung 5.2.2. Recht auf Partizipation an medizinischen Entscheiden 5.3. Fördernorm

61 64 64 68 74

IV.

SCHLUSSDISKUSSION UND THEOLOGISCH-ETHISCHE REFLEXION ........... 78

V.

ABKÜRZUNGEN............................................................................................................ 84

VI.

LITERATURVERZEICHNIS ........................................................................................ 85

VII.

DANKSAGUNG .............................................................................................................. 94

VIII. SELBSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG ......................................................................... 95 IX.

CURRICULUM VITAE .................................................................................................. 96

2

I.

Einleitung

1.1.

Hintergrund und Ziel der vorliegenden Arbeit

Das neue Kinder- und Erwachsenenschutzrecht, das am 1. Januar 2013 in der Schweiz in Kraft gesetzt wurde, hat unter anderem die Förderung der Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten, die Stärkung der Familiensolidarität sowie den Schutz von urteilsunfähigen Personen in medizinischen Einrichtungen zum Ziel. Bis vor kurzem galt, dass der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin stellvertretend für den nicht urteilsfähigen Patienten entscheiden konnte. Jetzt ist die Entscheidungsverantwortung nach ZGB Art. 378 gemäss einer Kaskadenordnung des Gesetzes geregelt. Demnach sind für minderjährige, nicht urteilsfähige Kinder die Eltern oder/und Geschwister berechtigt, diese zu vertreten und den vorgesehenen ambulanten oder stationären Massnahmen die Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern. Dabei sind sie bei ihren Entscheidungen gemäss Art. 301 Abs. 1 an das Kindeswohl gebunden. Nach Art. 306 ZGB verlieren die Eltern ihre Vertretungsmacht, wenn sie aus eigenen Interessen im Widerspruch zum Kindeswohl handeln. In diesem Falle ernennt die Kinderschutzbehörde einen Beistand oder „regelt die Angelegenheit selber“. Das Kindeswohl erlangt im höchstpersönlichen Bereich nur dann rechtliche Bedeutung, wenn die Urteilsfähigkeit nicht gegeben ist. Dabei ist der Begriff Kindeswohl ein „offener, unbestimmter Rechtsbegriff, der viel Spielraum für den Einzelfall lässt“1. Zu den Aufgaben der Eltern im Sinne des Kindeswohls zählt auch, den minderjährigen, noch urteilsunfähigen Kindern Partizipation als Teilhabe an Entscheidungsprozessen durch altersgerechte Information und Unterstützung zu ermöglichen. Insofern gilt der informed consent, im Rahmen ihrer empirischen Autonomiefähigkeiten, auch für einwilligungsunfähige Jugendliche. Als Schwelle zur Selbstbestimmung gilt die Urteilsfähigkeit. Nach Art. 16 ZGB ist dabei urteilsfähig, wer die „Fähigkeit [hat,] vernunftgemäss zu handeln“, d.h. wer seinen Verstand gebrauchen, Sachverhalte verstehen, Situationen einschätzen, Konsequenzen absehen, eine eigene Meinung bilden und gemäss der eigenen Meinung handeln kann.2 Was aber heisst das genau, was hat man unter Kindeswohl vor den Möglichkeiten einer hochspezialisierten Medizin genau zu verstehen, die - wie noch zu zeigen sein wird - ethische Entscheidungsfindungen in Dilemma1 2

Michel, Kindeswohl, 5. Vgl. Michel, Kindeswohl, 2.

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Situationen fordert, welche weitreichende Folgen für das Leben des minderjährigen noch urteilsunfähigen Kindes (und seiner Familie) haben können, und was ist unter einer kindorientierten Medizinethik im Sinne einer evangelischen Ethik zu verstehen? Diesen Fragen gilt es in dieser Masterarbeit nachzugehen.

Ziel dieser Arbeit ist es also, zu versuchen, den Terminus Kindeswohl vor den Möglichkeiten einer Hochspezialisierten Medizin zu erfassen und zu untersuchen, welche Anforderungen an die an der Behandlung und Betreuung des Kindes beteiligten Personen sowie die medizinischen Institutionen gestellt werden. Eine besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem Anspruch auf informed consent des urteilsunfähigen Kindes und der Stellvertreterentscheidung der Eltern im Namen des Kindeswohls zu. Zu dem Begriff des Kindeswohls ist aus anthropologischer Perspektive zwar Literatur vorhanden, jedoch ist das Kind gemäss Hermsen und Surall bisher für die systematische Theologie nach wie vor kein relevantes Thema wissenschaftlicher Reflexion.3 Es soll daher der Begriff des Kindeswohls in Kooperation mit der Arbeitsgruppe des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik zum Thema Ethische Grundsatzfragen in der Hochspezialisierten Medizin und dem Zentrum für Ethik in der Pädiatrie und Kinderchirurgie eines Schweizer Kinderspitals4, die sich in sechswöchigen Abständen traf und vor allem unter Rückgriff auf die UN-Kinderrechtskonvention und die EACH-Charta5, die 1988 beschlossen und 2001 mit Erläuterungen versehen wurde, erfasst und anschliessend theologisch-ethisch reflektiert und gegebenenfalls rezipiert werden. Einigen ausgewählten Schriften Luthers, vor allem seinem Freiheitstraktat, der nach wie vor wegweisend für den christlichen Glauben und das daraus resultierende Handeln ist, kommt dabei besondere Relevanz zu. So ist seine Ethik der Rechtfertigung auf das engste mit seiner Theologie verbunden. Das Anliegen dieser Arbeit ist es letztendlich, einen interdisziplinären Beitrag zu einer kindorientierten Ethik vor den Mög3

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 15; Hermsen, Kindheitsentwürfe, 1. Die Aussagen dazu basieren auf Sitzungsprotokollen und einem Interview mit einer Pflegekraft eines Schweizer Kinderspitals. Da es sich bei den Sitzungsprotokollen um vertrauliche Interna handelt, und das Interviewtranskript Teil einer noch laufenden Studie in diesem Kinderspital darstellt, können diese Dokumente der Leserschaft nicht zugänglich gemacht werden. 5 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 275; Kind und Spital, Die Charta für Kinder im Spital: Die EACH-Charta als ein Zusammenschluss von 16 europäischen Ländern und aus Japan, die sich für das Wohl aller kranken Kinder während und nach einem Spitalaufenthalt einsetzt, besitzt zwar keine rechtliche Verbindlichkeit, sondern bewegt sich auf der Ebene ethischer Verpflichtungen, die jedoch gegebenenfalls mittelbar zu rechtlichen Konsequenzen in den Heimatländern der unterzeichneten Verbände führen sollen. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention. 4

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lichkeiten einer hochspezialisierten Medizin im Sinne einer evangelischen Ethik zu leisten.

1.2.

Aufbau der vorliegenden Arbeit

In einem ersten Schritt wird unter Teil II allgemein auf die Ethik in der Medizin eingegangen. In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, was unter Gesundheit oder Krankheit zu verstehen ist und was es für den Einzelnen überhaupt heisst, gesund oder krank zu sein. In Kapitel 2 und in den entsprechenden Unterkapiteln wird daher ausführlich auf die verschiedenen Konzeptionen von Gesundheit Bezug genommen. In Kapitel 2.3 und 2.4 werden die anthropologischen Überlegungen von Gesundheit um spezifisch theologische ergänzt. Angesichts der medizintechnologischen und pharmazeutischen Errungenschaften in den letzten Jahrzehnten, die dazu führten, dass Gesundheit heute überwiegend normativ definiert wird, wird in Kapitel 3.1 auf die hochspezialisierte Medizin (HSM), ihre Chancen aber auch Risiken eingegangen. Vor allem auf Grund ihrer hohen Eingriffstiefe und ihres experimentellen Charakters kommt hier der ethischen Entscheidungsfindung im Einzelfall und der damit verbundenen Patientenautonomie eine prominente Rolle zu. Darauf wird in den Kapiteln 3.2 bis 3.2.3 eingegangen. Kapitel 3.3 führt in die theologische Ethik ein, um anschliessend in Kapitel 3.3.1 die evangelische Ethik und deren Relevanz für die hochspezialisierte Medizin anhand von Luthers bekannten Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen (Tractatus de libertate christiana) zu erläutern. Der Fokus liegt dabei auf dem lutherischen Freiheitsverständnis, das nicht mit unserem heutigen Autonomieverständnis gleichzusetzen ist. Aus diesem christlichen Freiheitsverständnis lässt sich die evangelische Sozialethik ableiten, auf die explizit in Kapitel 3.3.2 eingegangen wird. Diese evangelische Sozialethik wiederum ist konstitutiv für die Arzt-Patientenbeziehung als Voraussetzung der Patientenautonomie und der ethischen Entscheidungsfindung im medizinischen Handlungskontext, worauf in den Kapiteln 3.3.3 und 3.3.4 Bezug genommen wird.

Teil III führt dann in die Thematik das Kind als Patient und deren besondere Herausforderungen vor den Möglichkeiten der hochspezialisierten Medizin ein. Ausgehend von der UN-Kinderrechtskonvention, die das Kindeswohl als Zentralnorm formuliert, die sich wiederum in den drei Basisnormen Schutz, Beteiligung (Partizipation) und Förde-

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rung entfaltet, wird in den Kapiteln 4 bis 4.1.3 eine Annäherung an den juristisch unbestimmten Begriff des Kindeswohls versucht. Die drei Basisnormen konstitutieren dabei eine Ethik des Kindes, die unserer heutigen modernen Gesellschaft Rechnung trägt.6 Im 5. Kapitel sollen dann, unter Einbeziehung aller bisherigen Kapitel, materialethische Konkretionen im medizinethischen Kontext vorgenommen werden. Es soll untersucht werden, welche Anforderungen die jeweiligen Basisnormen, in denen sich das Kindeswohl verwirklicht, an Pflegende, Betreuende und Angehörige des Kindes sowie die medizinischen Institutionen stellen und welche Probleme sich in individual- und sozialethischer Perspektive ergeben können. In der Schlussdiskussion in Teil IV werden dann alle Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und theologisch-ethisch reflektiert.

6

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 16.

6

II.

Ethik in der Medizin

Die Medizin zeichnet sich aus durch „ein Handeln am Menschen durch einen anderen Menschen.“7 Dabei werden Ärztinnen und Ärzte, infolge des rasanten Fortschrittes durch die enorme Zunahme medizintechnologischer als auch pharmakologischer Interventionsmöglichkeiten, immer mehr gezwungen, zwischen verschiedenen diagnostischen und therapeutischen Optionen zu entscheiden. Diese haben oft weitreichende Konsequenzen für die Gesundheit und das Wohlergehen der Patienten. Nicht selten müssen auch Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden. Diese moralischen Entscheidungen bedürfen, insbesondere im Hinblick auf das zentrale Prinzip des Patientenautonomieanspruchs, einer ethischen Reflexion und Rechtfertigung, da Arzt und Patient sich als Menschen mit ihrer je eigenen Biographie und ihrer eigenen Konzeption des guten Lebens gegenüber stehen und nicht im „wissenschaftlichen Schema von (beobachtendem) Subjekt und (beobachtetem) Objekt aufgehen.“8 Eine systematische Anwendung von Therapieschemata ohne Berücksichtigung grundlegender Fragen, wie der nach dem guten Leben oder dem guten Sterben9, greift daher zu kurz. Die Ethik als eine „Verständigungshilfe in moralischen Angelegenheiten, sobald diese strittig sind“10, bietet die Chance, Orientierungshilfe bei Entscheidungsfindungen zu geben, wenn die alltäglichen moralischen Intuitionen nicht mehr weiterhelfen. Als philosophisch- bzw. theologisch-wissenschaftliche Reflexion auf die Moral und somit auf die Grundlagen des guten Denkens und Handelns prüft sie die Gültigkeit unserer Argumente und hilft dabei, „rationale von nicht rationalen Standpunkten zu unterscheiden und begründete Urteile zu fällen.“11 Dabei gibt es verschiedene Typen normativ philosophisch-ethischer Theorien, auf die hier jedoch nicht im Einzelnen eingegangen werden kann.12 Die Erfahrung zeigt zudem, dass man nie gemäss einer Theorie verfahren kann, sondern dass man meist von einer Mischung verschiedener Typen ausgeht, wobei heute in der Regel der Deontologie, welche Menschenwürde und Autonomie mit Rechten und Pflichten verbindet, in Verknüpfung mit dem Utilitarismus der Vorzug 7

Maio, Mittelpunkt, 5. Maio, Mittelpunkt, 5. 9 Vgl. dazu Battaglia/Baumann-Hölzle, Gutes Leben – gutes Sterben. 10 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 11. 11 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 11. 12 Es sei daher auf die umfassende Literatur zu den verschiedenen normativ philosophisch-ethischen Theorien verwiesen, u.a.: Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 23-32; Wils/BaumannHölzle, Mantelbüchlein Medizinethik II, 31-50; Fischer, Grundkurs Ethik, 167-359; Maio, Mittelpunkt, 2378; Honecker, Einführung in die theologische Ethik, 159-208. 8

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gegeben wird.13 Ferner muss eine funktionierende und praxistaugliche Ethik das Wissen verschiedener Disziplinen, wie naturwissenschaftliches und technologisches Wissen, Erkenntnisse der Human- und Sozialwissenschaften sowie philosophisches und theologisches Wissen, integrieren können.14 Die Ethik als solches ist als eine präskriptive Theorie moralischen Handelns zu verstehen, die uns orientiert und Vorschriften im Hinblick auf dasjenige formuliert, „was wir tun sollen weil es geboten ist, was wir tun dürfen, weil es erlaubt ist und was wir lassen müssen, weil es verboten ist.“15 Der Medizinethik geht es dabei um das Nachdenken über das Gute, bzw. Angemessene16 im konkreten Handlungskontext der Medizin sowie die Interpretation und Implantation dieses Angemessenen in der praktischen Anwendung.17 Dies impliziert unter anderem ein Nachdenken darüber, was es überhaupt heisst und was es für den Einzelnen bedeutet, gesund oder krank zu sein.

Im Folgenden soll daher ein kurzer Überblick über das Gut Gesundheit gegeben werden. Es werden Definitionen und Konzeptionen vorgestellt, aber auch die Differenzen zwischen dem klassischen, auf die Krankheitsbewältigung ausgerichteten Gesundheitssystem und Public Health als einem neuen, intersystemischen Ansatz, der präventiv auf die Stärkung der Gesundheit zielt, diskutiert. Anschliessend werden Versuche zur Verhältnisbestimmung

von

Heil

und

Heilung

betrachtet,

die

die

allgemein-

anthropologischen Reflexionen zur Bedeutung von Gesundheit um explizit theologische ergänzen sollen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die medizinischen Erfolge in der hochspezialisierten Medizin, vor allem in der wunscherfüllenden Medizin, Enhancement, etc. mittlerweile zu einem offensiven Gesundheitsbild gehören. Sie 13

Vgl. Maio, Mittelpunkt, 44-46, Jede der beiden Theorien (Deontologie und Utilitarismus) hat seine Schwachstellen. So liegt die besondere Schwierigkeit des Utilitarismus im Konsequentialismus selbst. Denn einerseits ist es nicht möglich, alle Folgen, die ein medizinischer Eingriff mit sich bringen kann, zu erkennen und zu berücksichtigen, andererseits ist es unmöglich, nicht zuletzt aufgrund der Inkommensurabilität, alle möglichen Folgen miteinander zu vergleichen und gegenseitig abzuwägen. Ferner spielt die Frage eine wichtige Rolle, wie hoch die Auftretenswahrscheinlichkeit etwaiger negativer Folgeschäden sein muss, damit die Konsequenzen überhaupt handlungsleitend sein können. So wird ein Utilitarist nicht ganz auf die deontologische Bestimmung der relevanten Güter verzichten können, die er in seiner Folgenabschätzung bewerten möchte. Andererseits wird selbst der überzeugteste Deontologe nicht ohne Mitberücksichtigung der Folgen seines Handelns auskommen. 14 Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik II, 60-61. 15 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 13. 16 Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 12.19; Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik II, 10-12: Angesichts der pluralistischen Kontexte und der sich daraus ergebenden Ambivalenzen muss man eher vom Angemessenen als vom Guten sprechen. 17 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 5-8.

8

zeigen, dass Gesundheit heute normativ definiert wird und keine blosse „Ist-Frage“18 mehr zu sein scheint.

2.

Krankheit und Gesundheit

Gesundheit zählt zu der Gruppe von Wörtern, die menschliche Grundphänomene bezeichnen, die jeder kennt und benutzt, deren Bedeutung sich jedoch bei näherer Betrachtung nicht klar definieren lässt.19 Der französische Chirurg Renè Leriche bezeichnet Gesundheit als das „Schweigen der Organe“. Hans-Georg Gadamer stellt in seinem Buch Über die Verborgenheit der Gesundheit fest, dass wir Gesundheit gerade dann nicht spüren, wenn sie vorhanden ist. Ist sie jedoch abwesend, dann wird sie spürbar. Dennoch kommt Gesundheit „trotz aller Verborgenheit […] in einer Art Wohlgefühl zutage, und mehr noch darin, dass wir vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren - das ist Gesundheit. Sie besteht nicht darin, dass man sich in den eigenen schwankenden Befindlichkeiten immer mehr um sich sorgt oder gar Unlustpillen schluckt.“20

Insofern könnte man versucht sein, die klassische Definition von Gesundheit, die Boorse Ende der 70er Jahre formulierte, ernst zu nehmen, wonach Gesundheit nichts anderes ist, als die Abwesenheit von Krankheit. Krankheit wird dabei als Abweichung von einer biostatistischen Norm, genauer: von geschlechts- und altersbezogenen „normal species functioning“21 festgelegt. Der komplexen Realität von Krankheit wird diese Definition jedoch nur bedingt gerecht. Zwar entspricht sie dem mechanistischen Menschenbild22, das, im Anschluss an Bacon und Decartes prägend für die Neuzeit geworden ist, allerdings übersieht sie, dass es neben reinen funktionellen Defekten, die mehr oder weniger behoben werden können, auch Varianten körperlicher und psychischer Befindlichkeiten gibt, die unterhalb der Schwelle manifester Erkrankungen bleiben, bzw. nicht als krankhaft erlebt werden.23 So bewegt sich jeder Mensch in einem Raum der Selbst-Wahrnehmung und des Sich-Selbst-Empfindens, der unter anderem durch die Polarität von Krankheit und Gesundheit bestimmt ist. Insofern kann es mitunter 18

Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 39. Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 223. 20 Gadamer, die Verborgenheit der Gesundheit, 143-144. 21 Boorse, Health as a Theoretical Concept. 22 Vgl. dazu Maio, Mittelpunkt, 376-378. 23 Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 223-224. 19

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sehr schwierig sein, eindeutig zu bestimmen, ob ein Mensch krank ist oder nicht. Vollständige Gesundheit oder vollständige Krankheit sind lediglich Grenzwerte, zwischen denen sich menschliches Befinden und Selbsterleben bewegt. Nicht selten erlebt sich ein Mensch daher in gewisser Hinsicht als gesund, in einer anderen dagegen als krank.24 Es ist unmöglich, den Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff eindeutig und klar zu formulieren.

Rückblickend auf die in der Medizinethik häufig diskutierten Definitionsversuche lassen sich zwei entgegengesetzte Begriffsbestimmungen ausmachen. Zum einen die Definition der WHO von 1946, wonach Gesundheit „ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Gebrechen und Krankheiten“25 ist, zum anderen die Definition des Theologen und Mediziners Dietrich Rössler, der zufolge Gesundheit „nicht die Abwesenheit von Störungen“ ist, sondern „die Kraft, mit ihnen zu leben.“26 Die Definition der WHO geht von einem Idealbegriff von Gesundheit aus, aufgrund dessen Krankheit als die Regel, Gesundheit jedoch als kaum erreichbare und seltene Ausnahme erscheint. Die Definition Rösslers dagegen stellt ein gewisses Problem dahingehend dar, als sie einseitig den Aspekt der Krankheitsbewältigung fokussiert. Dass Krankheit jedoch auch in vielen Fällen vermeidbar ist, gerät dabei aus dem Blickfeld. Es wurde daher eine Reformulierung vorgeschlagen, die diese Einseitigkeit aufbricht, indem sie Störungen nicht mit Krankheiten, sondern mit krankheitsverursachenden Stressoren gleichsetzt. Demnach wird Gesundheit dadurch bestimmt, „mit Störungen so umzugehen, dass sie nicht zum Ausbruch von Krankheit führen bzw. dort, wo sie es tun, den Lebensvollzug nicht in unzumutbarer Weise einschränken.“27 Damit neigt diese Definition dazu, Gesundheit so stark vom Element der Dysfunktionen abzulösen und auf die Fähigkeit des Umgangs mit Störungen einzuschränken, dass auch Schwerkranke, chronisch Kranke, Behinderte und Sterbende, welche die Kraft haben, ihr Geschick zu akzeptieren und damit zu leben, als gesund bezeichnet werden müssen. Krankheit wird also nicht auf eine Fehlfunktion reduziert, weshalb sie als Modus menschlichen Lebens akzeptiert und bis zu einem gewissen Grad bewältigt werden kann. Gesundheit und Krankheit werden somit nicht 24

Vgl. Härle, Ethik, 267-268. WHO, Basic Documents, Vol. 1, Genf 1976. 26 Rössler, Der Arzt, 73; vgl. auch Maio, Die heilende Kraft, 58. 27 Rössler, Der Arzt, 73. 25

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als Gegensätze, sondern als ein „Fliessgleichgewicht“28 gekennzeichnet, das sich durch übergehende Prozesse und fliessende Grenzen auszeichnet. In diesem Verständnis wird Gesundheit zwar als wesentlicher Bestandteil des täglichen Lebens gesehen, nicht jedoch als vorrangiges Lebensziel.29 Krankheit und Behinderung gehören also zum Menschsein dazu. Der Vorteil dieser Sichtweise liegt darin, dass kranke und behinderte Menschen trotz ihrer körperlichen Dysfunktion nicht allzu schnell zu Aussenseitern oder gar Opfern stigmatisiert werden. Allerdings ist dafür Sorge zu tragen, dass es durch eventuell überzogene Forderungen an die Fähigkeiten im Umgang mit Störungen nicht zu einer Überforderung der Betroffenen oder zu impliziten Schuldzuweisungen bei einer nicht gelingenden Vermeidung oder Bewältigung der Krankheit kommt.30

2.1. Spannungsfeld zwischen genetisch-dynamischen und eidetischstatischen Gesundheitsmodellen Versucht man nun, die verschiedenen Definitionsvorschläge für Gesundheit unter Berücksichtigung der erörterten Hintergründe zu klassifizieren, bietet sich die Unterscheidung zwischen genetisch-dynamischen und eidetisch-statischen Modellen an. Letztere sind in einer pathozentrischen31 und einer salutozentrischen32 Variante anzutreffen. Die genetisch-dynamischen Modelle, wie z.B. das salutogenetische Modell des israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky33 fragen diachron nach den Entstehungsbedingungen von Gesundheit und Krankheit. Dabei orientieren sie sich vor allem an Krankheitsrisiken und Gesundheits- bzw Widerstandsressourcen.34 Die eidetischstatischen Modelle fragen dagegen synchron danach, was Krankheit oder Gesundheit ausmacht, welche Faktoren zu diesen Grössen zählen und sehen somit auf die Krankheit, ihre Ursachen und Gefahren, die es zu überwinden gilt. Als Beispiel für ein eidetisch-statisch-pathozentrisches Modell kann der bereits erörterte Ansatz von Boorse gelten, als Beispiel für ein eidetisch-statisch-salutozentrisches Modell dagegen die Ge-

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Eurich, Religiöse Deutung, 440. Vgl. Ottawa Charta der WHO von 1986. 30 Vgl. Härle, Ethik, 262-272; Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 223-226; Eurich, Religiöse Deutung, 440-441. 31 Das Wort pathozentrisch setzt sich zusammen aus πάθος (Leid) und κέντρον (Mittelpunkt). 32 Das Wort salutozentrisch setzt sich zusammen aus dem lateinischen Wort salus (Gesundheit) und κέντρον (Mittelpunkt). 33 Vgl. Antonovsky, Salutogenese. 34 Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 224. 29

11

sundheitsdefinition der WHO. Hinter der pathozentrischen Sichtweise, bei der Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit verstanden wird und Krankheit in erster Line an körperlichen Ausfallerscheinungen festgemacht wird, steht die „normative Vorstellungswelt der modernen naturwissenschaftlichen Medizin dahinter, die den Körper wieder in den Zustand normaler Funktionstüchtigkeit zu versetzen versucht.“35 Dieses Verständnis von Krankheit und Gesundheit prägt auch das klassische Gesundheitssystem, das durch Kuration, Rehabilitation und Pflege gekennzeichnet ist. Charakteristisch für dieses System ist dabei die Fixierung auf die Krankheit, die es zu bekämpfen oder zumindest zu lindern gilt.

Das salutogenetische Modell dagegen, das Gesundheit nicht als Zustand sondern als Prozess36 ansieht, nimmt über den Gesundheitsbegriff hinaus externe Effekte wie Umweltbedingungen, Bildung und konkrete Verhaltensprävention für die soziale Gestaltung des Gesundheitsstatus des Einzelnen und der Bevölkerung in den Blick. Ziel ist die Umorientierung von der medizinischen Behandlung, hin zu Prävention von Krankheiten und der Schaffung gesunder Lebensverhältnisse. So wird man z.B. bei modernen, chronischen Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht oder Diabetes mellitus nach attraktiven Zielen und helfenden Ressourcen suchen, die Freude und gesundheitlichen Erfolg bescheren. Bei Kindern könnten dies z.B. Gemeinschaftsaktionen sein, die Freude an der Bewegung beibringen sowie wertschätzende Kommunikation und individuelle Fähigkeiten fördern.37 Diese Art der Gesundheitsförderung nennt man Public Health. Sie ist als eine neue, praxisorientierte Disziplin anzusehen, welche bei der Bevölkerung und nicht beim Individuum ansetzt und durch Prävention und Gesundheitsförderung auf Krankheitsvermeidung und nicht auf Krankheitsbewältigung zielt. Die Gesundheitsförderung zielt dabei „auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.“38 Inzwischen ist aber bekannt, dass die Fähigkeit bzw. der Wille des Einzelnen zur Gesundheitsförderung stark schichtenspezifisch ausgeprägt ist.

35

Dabrock, Befähigingsgerechtigkeit, 226. Genese bzw. die Ableitung genetisch kommt von dem griechischen Wort γένεσις für Entstehung. Salutogenese kann also mit Gesundheitsentstehung übersetzt werden und stellt somit einen (Entstehungs)prozess dar. 37 Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 224-228. 38 Ottawa Charta der WHO von 1986. 36

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Deshalb hat sie inzwischen auch die politische Aufmerksamkeit auf sich gezogen, ist doch der Staat gegenüber jedem Bürger gleichermassen verpflichtet. Starke Ungleichheiten hinsichtlich zentraler Werte wie Gesundheit und Lebenserwartung sind in einem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat nicht ohne weiteres hinnehmbar. Während das empirische Phänomen recht gut bekannt ist, werden die normativen Folgerungen weniger stark diskutiert. So ist zu fragen, inwiefern und in welcher Hinsicht es hier nicht nur um gesundheitliche Ungleichheiten geht, sondern auch um Ungerechtigkeiten? Und wie können und sollen diese angegangen werden? Huster und Schramme vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (ZIF) schreiben dazu: „Auch wenn bekannt ist, dass einige der grössten Killer in modernen Gesellschaften durch die Ernährungsweise signifikant beeinflusst werden, wissen wir noch nicht, was wir tun sollen und dürfen, um die entsprechenden gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen bei den Bürgern zu fördern. Hier stellen sich die Fragen, was uns die Gesundheit wert ist und ob Eingriffe in die individuelle Freiheit zum Zweck der Gesundheitsförderung gerechtfertigt sind.“39

Public Health zeichnet sich also insgesamt gegenüber dem klassischen Gesundheitssystem durch einen breiteren Fokus und die vordergründige Orientierung am Gesundheits- statt am Krankheitsbegriff aus. Der Nachteil dieses Modells ist jedoch, dass es mit seiner Präferenz der Krankheitsvermeidung zu wenig operationalisierbar ist. Das eidetisch-statisch-pathozentrische Modell dagegen erlaubt und fördert kurative Eingriffe und Massnahmen. Beide Modelle ergänzen sich und sollten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Welche der beiden Grundtypen bevorzugt wird, hängt wesentlich vom Kontext und dem Zweck ab, der mit der jeweiligen Verwendung des Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriffs verbunden ist. So wird man sich eher an der eidetisch-statisch-pathozentrischen Variante orientieren, wenn der Krankheitsbegriff der Legitimation von medizinischen und heilenden Massnahmen dienen soll. Der Bezug auf Public Health dagegen legt einen Rückgriff auf die salutogenetische Variante nahe. Auch für den alltäglichen Umgang und die seelsorgerliche Begleitung von Kranken, die sich aus Rösslers theologisch-ethischer Perspektive ergibt, bietet sich das salutogenetische Modell an.40

39 40

Huster/Schramme, normative Aspekte von Public Health. Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 223-228.

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2.2.

Heil und Heilung als Deutungskonzept von Gesundheit

So begrüssenswert das Umdenken von der pathozentrischen Sichtweise der reinen Krankheitsbekämpfung hin zu einer salutogenetischen Sichtweise in Form von Krankheitsvermeidung und Gesundheitsförderung grundsätzlich ist, stellen sich dennoch, infolge der Fixierung auf Gesundheit, aus theologischer Sicht einige Fragen. So lassen sich gegenwärtig zwei Entwicklungen beobachten, die eine besondere Herausforderung „für Weltanschauungen und Religionen“ darstellen: 1) „biomedizinischer Fortschritt“, 2) „Fokussierung auf das Diesseits.“41 Die fortschreitende Weiterentwicklung in der Medizin weckt, vor allem in den westlich geprägten Ländern, die Hoffnung auf ein besseres und bei guter gesundheitlicher Verfassung längeres Leben und rückt somit die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit in weite Ferne. Dabrock spricht gar von einer „Gesundheitssucht“, die „Sinnressourcen [kostet], weil andere Transzendenzen abgeblendet werden.“42 In der Menschheitsgeschichte wurden über lange Zeit hinweg Heil43 und Heilung als einander bedingende Aspekte gesundheitlichen Wohlbefindens gedeutet. Es sei hier vor allem an die magisch-animistische Medizin der Schamanen und Medizinmänner und die religiös, theurgische Medizin der Wunderheiler, Handaufleger und Geistbeschwörer gedacht. Auch im Christentum gab es immer wieder entsprechende Deutungen, die Gesundheit als Ausdruck einer gelungenen Gottesbeziehung bzw. Gottesnähe, Krankheit dagegen als Zeichen von Gottesferne sahen.44 Erinnert sei hier vor allem an die vielzähligen Heilungsgeschichten im Neuen Testament. Auch Martin Luther sah in der Krankheit einen Angriff des Teufels, wobei dieser von ihm aber nie als eigenständiges, Gott gegenüberstehendes Zentrum der Kraft gedeutet wurde, sondern lediglich als von Gott zugelassenes Instrumentarium.45 Infolge einer Ausdifferenzierung von Religion und Medizin kam es seit der Aufklärung zu einem neuen Verständnis von Heilung, in dem sich die Medizin als rein naturwissenschaftlich orientiertes, rationales Verfahren, das der Wiederherstellung der Gesundheit diente, etablierte. Als neuzeitliche Menschen deuten wir folglich den Heilungsprozess und die zugrunde liegenden Heilmethoden aus Sicht der erfolgreichen und oftmals hochspezialisierten Medizin (Kapitel 3.1), die den Menschen als Mechanismus, als Kör41

Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 229. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 229. 43 Vgl. EKD, Hintergundinformation, 10: Heil (griechisch: σωτηρία) meint wesentlich die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott und der Umwelt, für die die individuelle Heilung ein Zeichen ist. 44 Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 230-231; Eurich, Religiöse Deutung, 434. 45 Vgl. Klein, Krankheit, 276. 42

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permaschine betrachtet, die durch naturwissenschaftlich beschreibbare Gesetze bestimmt ist. Zwar ermöglichte es diese Verkürzung des Menschen auf seine physiologischen Funktionen erst, objektive und generalisierbare Aussagen über seine körperlichen Abläufe zu machen und Krankheiten effektiv zu behandeln, allerdings geriet der Mensch als Ganzes, als leib-seelische Einheit46, aus dem Blickwinkel. So trug das mechanistische Menschenbild47 bezüglich der Generierung von Wissen zwar zu einer sehr erfolgreichen Entwicklung in der Bekämpfung von Krankheiten bei, „für das ärztliche Handeln jedoch erweist sich dieses Bild immer wieder als defizitär, weil die grosse Frage nach dem Guten auf die kleine Frage nach dem Funktionsfähigen und Zweckmässigen reduziert wird.“48 So sollte bei einem Heilungsprozess neben der medizinischen Therapie immer auch das soziale Umfeld des Menschen und dessen eigenes Selbstverständnis mit betrachtet werden. Dass auch bei vielen modernen Menschen eine gewisse Sehnsucht nach ganzheitlicher Medizin vorhanden ist, wird nicht zuletzt an der zunehmenden Attraktivität der Alternativmedizin ersichtlich, die den Menschen, im Gegensatz zur modernen naturwissenschaftlichen Medizin, welche den Patienten lediglich als Objekt betrachtet, als Ganzes, als Einheit von Leib, Körper und Seele wahrzunehmen versucht.49 Neben den ganzheitlichen Zugängen ist auch der Beitrag des religiösen Heils zur medizinischen Heilung gegenwärtig. So kann auch die säkulare und postsäkulare Deutungskultur ein gewisses Spannungsverhältnis von Heil und Heilung nicht abstreiten, wenn, zwar zögernd und staunend, jedoch immer öfter auf den Zusammenhang von Religion und Medizin verwiesen wird. So brachte die U.S.-News im Dezember 2004 einen Bericht mit dem Titel: The Power of Prayer, gleichzeitig die Wirtschaftswoche: Macht Glaube erfolgreicher? Und die Zeitschrift Psychologie heute titelte im März 2005: Glaube und Gesundheit. Warum Hoffnung heilen kann.50

Im Folgenden soll daher kurz auf die Deutungsvarianten des Spannungsverhältnisses von Heil und Heilung eingegangen werden.

46

Vgl. Härle, Der Mensch, 97-101; Herms, Der Leib, 13-24; Fuchs, Leib – Person – Raum, 88-99. Vgl. Maio, Mittelpunkt, 376-379. 48 Maio, Mittelpunkt, 377. 49 Vgl. Weizsäcker, Pathosophie. 50 Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 231; Eurich, Religiöse Deutung, 434. 47

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2.3.

Systematische Unterscheidung zwischen Medizin und Theologie

Die Verhältnisbestimmung von Heil und Heilung lässt sich nach Dabrock folgendermassen ausdifferenzieren: „1) Heilung durch Heil 2) Heil durch Heilung 3) Heilung als Heil oder 4 Heil statt Heilung“51

Bei der ersten Variante „Heilung durch Heil“ ist die Religion das Mittel zur Gesundheit. Darunter fallen theurgische Tätigkeiten, Wunderheilungen und Geistbeschwörungen. Der Heiler setzt seinen (religiösen) Geist, seine Aura ein, um die Heilung zu bewirken. Dazu zählt das unmittelbare Gebet der Gemeinde für die Kranken, wie man es aus charismatischen Bewegungen kennt und das, oft zu Recht mit grosser Skepsis betrachtete, Gebet amerikanischer Fernsehprediger. Heilungserfolge durch die moderne Medizin werden Gott zugesprochen, der die Gebete gnadenhaft erhört. Variante 4 „Heil statt Heilung“ stellt eine Radikalisierung dar. Hier wird der Heilungserfolg nicht nur Gott zugeschrieben, sondern der Rückgriff auf medizinische Möglichkeiten wird bereits als mangelndes Gottvertrauen interpretiert und abgelehnt. Dieser Typus ist bei muslimischen Sufis, in buddhistisch geprägten Neureligionen in Japan und Korea, einigen ekstatischen Kulten Südamerikas und zum Teil bei den Zeugen Jehovas bezeugt.52 Dabrock sieht bei der Exlusivsetzung dieses einen Pols mangelndes Vertrauen in die „mittelbar geistlichen und geistigen Gaben Gottes“, sind doch, reformatorisch gesprochen, „auch die Gaben im weltlichen Regiment, auch die Gaben in der creatio continua […] Gaben in der göttlichen Wirklichkeit.“53 So spricht Luther hinsichtlich einer Ablehnung der ärztlichen Hilfeleistung sogar von einer Versuchung Gottes: ,[…], also das sie Gott versuchen und lassen alles anstehen, damit sie dem sterben odder pestilenz weren sollen, verachten ertzney zu nehmen, …, solches heisst nicht Gott trawen, sondern Gott versuchen. Denn Gott hat die erzney geschaffen und die vernunfft gegeben, dem leibe fur zustehen sein pflegen, das er gesund sey und lebe.“54

Die Mündigkeit dieser „Gaben im weltlichen Regiment“ sollte daher prinzipiell geachtet werden, nicht zuletzt um Radikalisierungen und religiösem Fundamentalismus entgegenzuwirken. Die Varianten 2 und 3 „Heil durch Heilung“ und „Heilung als Heil“ kön51

Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 232. Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 232-233. 53 Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 233. 54 Luther, WA 23, 363, 31 – 364, 9. 52

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nen ebenfalls zusammen abgehandelt werden, wobei Letztere wiederum die Radikalisierung von Variante 2 darstellt. Im Unterschied zum religiös-fundamentalistischen Pol (Variante 4), besitzt der Typ der Variante 3 allerdings einen zutiefst diesseitigen Charakter. Der Typus „Heil durch Heilung“ ist auch im religiösen Bereich, wo die Pflege und Sorge um einen möglichst gesunden Körper nicht nur notwendig, sondern auch, wie gegenwärtig z.B. bei den Sieben-Tags-Adventisten, als Gottesdienst betrachtet wird, anzusiedeln. Diese religiöse Gruppe ist nicht nur der modernen Hochleistungsmedizin gegenüber sehr aufgeschlossen, sondern fördert sie wie kaum eine andere Gesellschaft. Aus ihrer Sicht ist Gesundheit förderliche Bedingung der Spiritualität und Ausdruck einer angemessenen Haltung im Hinblick auf die Wiederkehr Christi.55 Variante 3 „Heilung als Heil“ ist dagegen vor allem in der primär körperbezogenen WellnessKultur dominant, die in der Betonung und Zelebrierung der eigenen Leiblichkeit eine lustorientierte Kurzheilmöglichkeit sieht. Auch der Enhancement-Ansatz und die wunscherfüllende Medizin56, die nicht der Krankheitsbehandlung, sondern der Optimierung menschlicher Leistungen und Qualitäten dient und somit zu einer Verbesserung bis hin zur Vervollkommnung des Menschen führen soll, fällt in diese Kategorie. Das Label für diese „neureligiöse Bewegung“57 nennt sich Healthism. Dabei treibt es nicht nur Erwachsene, sondern auch immer mehr Minderjährige unter das Messer der ästhetischen Chirurgie und auch der Griff zu leistungssteigernden Medikamenten nimmt insbesondere bei Schulkindern rasant zu.58 Beides ist mit der Hoffnung auf ein schöneres, effizienteres, besseres und glücklicheres Leben verbunden. Angesichts des gegenwärtigen Wandels in der Medizin deutet viel darauf hin, dass wunscherfüllende Dienstleistungen künftig verstärkt angeboten werden, von Pharmaunternehmen unterstützt, die hier einen äusserst lukrativen Markt sehen.59

Als eine Steigerung der wunscherfüllenden Medizin kann das Bild des machbaren Menschen60 angesehen werden. So ist die Entwicklung von Klonierungstechniken, die Pränataldiagnostik oder das genetische Testen von Embryonen bereits vor der Einnistung 55

Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 232-234; vgl. auch: Homepage der Sieben-Tags-Adventisten. Vgl. dazu Maio, Mittelpunkt, 321-334. 57 Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 234; vgl. auch EKD, Hintergrundinformation, 12-13. 58 Vgl. Die Welt, Ärzte warnen vor Gehirndoping bei Kindern; Die Welt, Mediziner warnen vor Gehirndoping bei Kindern; Nowotny, Uno-Rüge: Zu viel Ritalin für Schweizer Kinder, 15. 17. 59 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 322. 60 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 381-383. 56

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nur möglich, weil die dahinterstehende Medizin davon ausgeht, dass der Mensch ein machbares Produkt ist. All diese technischen und pharmakologischen Zugänge sollen und können nicht pauschal kritisiert werden. Dazu sind sie viel zu heterogen. Allerdings ist in jedem Einzelfall kritisches, ethisches und theologisches Reflektieren erforderlich, da es problematisch werden kann, wenn der Mensch angesichts der enormen technischen Erfolge zu der Annahme verleitet wird, alles sei machbar und man müsse sich mit nichts mehr im Leben abfinden.61 Letztendlich geht es sozialfunktionalistisch gar nicht mehr um den einzelnen Menschen als Person, sondern darum, ob und wie er in der immer perfekter werdenden Gesellschaft funktioniert. In dieser Weltsicht werden gar Krankheiten zu einem Ergebnis menschlichen Machens oder eben ihres Unterlassens herabgestuft, womit ihnen jeglicher Charakter als schicksalhaftes Widerfahren abgesprochen wird. Sie werden zu vermeintlich verhinderbaren, vorhersehbaren, von menschlichem Tun abhängigen Ergebnissen umgedeutet, was implizit unterstellt, dass der Mensch selbst Verantwortung für seine Krankheit oder Behinderung trägt. Er verliert den Blick dafür, dass sich das Machbare nur auf Marginalien begrenzt, im Vergleich zu all dem Unverfügbaren und Unmachbaren und allen Vorbedingungen, in die er hineingeboren wird. „Angesichts der Nichtmachbarkeit einer Welt, die schon vor der eigenen Existenz bestand, erscheint der Anspruch des heutigen Menschen, sich zum Macher nicht nur seiner äusseren Lebensbedingungen, sondern auch seiner selbst zu erklären, als irrationale Selbstüberschätzung“, infolgedessen er sich der Chance beraubt, ein „gutes Verhältnis zum Vorgegebenen und zu dem, was einem widerfährt, zu entwickeln“ und „dem Gegebensein der Welt und dem Geworfensein seiner Existenz etwas Positives, ja vielleicht Sinnstiftendes abzugewinnen.“62 Diese vermeintliche Befreiung vom Schicksal fördert eine Einstellung zum Leben, die auf einer problematischen Selbstdeutung, vielleicht sogar auf einer Selbstverleugnung beruht. Nicht das Sein, sondern das Machen steht im Zentrum der menschlichen Existenz. Was aber ist das letzte Ziel des Machens in der Medizin? Für Maio folgt das Machen in der modernen Medizin oft gar keinem erkennbaren Ziel mehr und wird somit nicht selten zu einem ziellosen Machen, weil es den Fortschritt im Sinne der Machbarkeit als Selbst-

61 62

Vgl. dazu auch den Aspekt „Sünde als Gottferne“ in Kapitel 3.3.1. Maio, Mittelpunkt, 382.

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zweck betrachtet63 und somit den Menschen mit all seinen Ängsten und Unsicherheiten nicht mehr ernst nimmt.

Weniger elitär, eher demokratischer Intention, dafür aber umso unrealistischer präsentiert sich demgegenüber die bereits erörterte Gesundheitsdefinition der WHO, die Gesundheit als „ein[en] Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Gebrechen und Krankheiten“64 begreift. Die Zahl der kirchlichen Stellungnahmen zum Healthism und der WHO-Formel ist gross. Mit erhobenem Zeigefinger kritisieren ihre Repräsentanten immer wieder säkulare Versionen von „Semipelagianismus und Selbstvergötterung“65, indem sie nicht müde werden zu erklären, Gesundheit sei kein Selbstzweck und der Mensch müsse seine Endlichkeit akzeptieren. Auch wenn vieles davon, vor allem im Blick auf den gegenwärtig auszuufern drohenden Wellness- und Schönheitswahn, richtig sein mag, klingen solch ungefiltert und pauschal gesprochenen religiösen Ermahnungen, die Mut zur Endlichkeit predigen, aus dem Munde gesunder Zeitgenossen, den Kranken gegenüber nahezu zynisch und reissen in einem Zug nieder, was sie eigentlich kommunizieren wollen, nämlich die Barmherzigkeit Gottes.66 Auch theologisch sind solche vorschnellen Positionen bedenklich. So hat kein geringerer als Karl Barth in seiner Schöpfungsethik, von der Gesundheit als der „Kraft zum Menschsein“67 gesprochen, was Ulrich Eibach später als „Kraft zur Verwirklichung der dem Menschen aufgegebenen Lebensbestimmung“68 spezifiziert hat. Damit wird ganz klar die Auffassung vertreten, dass Gesundheit als Lebenskraft und Bewältigungskompetenz verstanden werden muss. Weiterhin schreibt Barth: „Gesundheit ist Kraft zum Menschsein. Ihm dient sie als Fähigkeit, Rüstigkeit, Freiheit zur Ausübung der seelischen und leiblichen Funktionen, wie diese selbst nur Funktionen des Menschseins sind. Als diese Kraft kann und soll man sie wollen, indem man nämlich nach Leib und Seele – gesund? nein, eben – Mensch sein will.“69

63

Vgl. Maio, Mittelpunkt, 382-383. WHO, Basic Documents, Vol. 1, Genf 1976. 65 Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 235. 66 Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 235. 67 Barth, KD III/4, 406; vgl. dazu Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 235; EKD, Hintergrundinformation, 13; Eurich, Religiöse Deutung, 440; Moltmann, Gott in der Schöpfung, 276; Rössler, Der Arzt, 73 und 119. 68 Eibach, Heilung, 28. 69 Barth, KD III/4, 406. 64

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Diese schöpfungsgemässe Bestimmung von Gesundheit impliziert, dass Gesundheit im Diesseits ein sehr wichtiges Gut im Spannungsfeld von Heil und Heilung darstellt, wobei ein Anspruch auf Wohlbefinden und Beschwerdefreiheit allerdings nicht zwingend ist. Die Begriffsumdeutung nach Barth und Eibach setzt meines Erachtens eine Sinndimension voraus, die die Lebensbestimmung des Menschen innerhalb seiner Endlichkeit, wie Luther in seiner bekannten Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen schreibt, im Sinne der Nächstenliebe als Dienst am Nächsten sieht.70 Damit widerspricht sie aber auch ihrer Verabsolutierung als letztem Selbstzweck und ist immer begleitet vom Schatten der Krankheit und des Todes.

2.4. Die Spannung von Heil und Heilung vor dem Hintergrund von Letztem und Vorletztem Oftmals wird Krankheit als Bruch erlebt. Der Mensch sieht sich seiner Fähigkeit beraubt, sein Leben wie gewohnt weiterführen zu können. Der Wille zur Gesundheit als Wille zur „ordnenden Refiguration“71 ist daher menschlich, seine Ablehnung aus religiösen oder theologischen Gründen dagegen wäre nicht legitim. Unter dem Begriff „ordnende Refiguration“ ist dabei nicht die Wiederherstellung der alten Ordnung gemeint, sondern eher Aspekte der μετανοία72, der Erneuerung, die auf eine Neubestimmung des Menschen zielt, d.h. auf eine „von der Wurzel ausgehenden Bewusstseinsänderung“73 hinsichtlich der eigenen, endlichen Existenz. Auf Ähnliches zielt im Vorletzten das salutogenetische Konzept von Aaron Antonovsky, der einen Menschen dann als gesund bezeichnet, wenn er einen geistig und emotional-motivationalen „sense of coherence“74 ausbilden kann, um, mit hinreichenden Widerstandsressourcen, welche sozialer, psychischer oder auch spiritueller Ausprägung sein können, mit den physischen und psychischen Stressoren, die in jedes Leben einbrechen, umgehen zu können. Heilung bedeutet demnach, die Fähigkeit, auf solche Widerstandsressourcen zu-

70

Ähnliches meint wohl auch Martha Nussbaum in: Nussbaum/Sen, The Quality of Live, wenn sie Gesundheit als ein „transzendentales Gut“ bezeichnet, das nicht nur ein Gut unter anderen ist, sondern die Nutzung anderer Güter erst ermöglicht, bzw. deren Voraussetzung ist. Dies gilt nicht nur im individuellen Leben, sondern, wie Amartya Sen gezeigt hat, auch für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung von Staaten und Gesellschaften. 71 Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 236. 72 Vgl. dazu Schockenhoff, Befreiende Busse. 73 Schockenhoff, Befreiende Busse. 74 Antonovsky, Salutogenese.

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rückgreifen und konstruktiv mit den eigenen Grenzen umgehen zu können. Das in diesem Ansatz zur Geltung kommende Spannungsgefüge „Heilung durch Heil“ darf zwar keineswegs als exklusiver Heilsweg missgedeutet werden, provoziert aber immerhin, den Leib als „Tempel des heiligen Geistes“75 pflegend zu achten.76

Gegen die Überspannungen „Heilung als Heil“ und „Heil statt Heilung“ ist, aus protestantischem Blickwinkel, an die Unterscheidung und rechte Verhältnisbestimmung von Letztem und Vorletztem zu erinnern. So wendet Bonhoeffer bezüglich der Radikalisierung von „Heil statt Heilung“ zu Recht ein: „Das Vorletzte muss um des letzten Willens gewahrt bleiben. Eine willkürliche Zerstörung des Vorletzten tut dem Letzten ernstlich Eintrag.“77 Umgekehrt muss aber auch das so „in Kraft gesetzte“78 Vorletzte vom Letzten her bestimmt, begrenzt und korrigiert werden. Konkret bedeutet dies, dass Gesundheit nicht zur Hauptsache überhöht werden soll, aber auch, dass weder Krankheit noch Gesundheit im Sinne eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs oder eines syllogismus practicus als Masseinheit einer gelungenen Gottesbeziehung gesehen werden darf. Dies einem leidenden Menschen zu sagen, „wäre vor dem Hintergrund der Begrenzung des Vorletzten durch das Letzte – Sünde!“79 Gelingt es dem Menschen aber nicht mehr, hinreichende Widerstandsressourcen zu mobilisieren und keinen „sense of coherence“ mehr aufzubauen, so dass das Leben sozial, psychisch und auch spirituell gebrochen, die Gesundheit als Illusion erscheint und der Appell an die Endlichkeit nur noch Wut hervorruft, „ist in der Perspektive des Glaubens an Gott, der in Jesus Christus den Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Heil und Unheil zugunsten des heilspendenden Lebens entschieden hat, weil er sich auf die Seite des Todes gestellt hat, für die menschliche Sphäre nicht das letzte Wort gesprochen.“80

Hier wirkt nun eine uns verheissene Hoffnung über die Hoffnungslosigkeit hinaus, so dass wir auch beim Verlust unseres Kohärenzsinnes und der damit nicht mehr vorhandenen Integrationsfähigkeit getragen sind.81

75

1 Kor 6,19. Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 237. 77 Bonhoeffer, Ethik, 152. 78 Bonhoeffer, Ethik, 152. 79 Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 237-238. 80 Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 238. 81 Vgl. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, 238. 76

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In den vorangegangenen Abschnitten wurde gezeigt, dass Gesundheit heute oft normativ definiert wird und keine blosse „Ist-Frage“ mehr ist sondern immer auch Teil unserer „soziokulturellen Wertungen und Wunschvorstellungen“82. Eine klare Definition von Krankheit ist nicht möglich. Die hochspezialisierte Medizin (HSM) hat sich, dank ihrer medizintechnologischen und pharmakologischen Errungenschaften zu einem Dienstleistungssektor entwickelt, der den Menschen oft Machsal statt Schicksal verkauft. Im Folgenden wird nun genauer auf die hochspezialisierte Medizin, ihre Vor- und Nachteile und die sich daraus ergebenden Folgen, insbesondere den Patientenautonomieanspruch und die ethische Entscheidungsfindung, eingegangen.

3. Ethische Entscheidungsfindung und das Prinzip des Patientenautonomieanspruchs vor den Möglichkeiten einer hochspezialisierten Medizin Gerade vor den Möglichkeiten der modernen, hochspezialisierten Medizin (Kapitel 3.1) spielt die ethische Entscheidungsfindung eine grosse Rolle. So kann ein medizinischer Eingriff, wie im Folgenden gezeigt werden wird, sowohl für den Patienten als auch für dessen Angehörige weitreichende Folgen haben. Wie in den Kapiteln 2ff erläutert, hat zudem jeder Mensch sein eigenes Selbstverständnis von Krankheit. Gemäss dem salutogenetischen Konzept von Aaron Antonovsky können die Fähigkeiten der einzelnen Menschen, auf ihre Widerstandsressourcen zurückzugreifen sehr unterschiedlich sein. So fällt es manchen Patienten leichter, mit physischen und psychischen Stressoren, die in ihr Leben einbrechen umzugehen, anderen dagegen schwerer. Während sich die eine Person gut mit ihrer vermeintlichen Krankheit arrangieren kann, kann eventuell eine andere Person mit den gleichen Ausprägungen vor einem schwerwiegenden Problem stehen. Um im Einzelfall zu einer, für alle Beteiligten, akzeptablen, ethischen Entscheidungsfindung hinsichtlich eines möglichen hochspezialisierten Therapieeingriffes zu kommen, ist eine gelingende Arzt-Patientenbeziehung, die in erster Linie gekennzeichnet ist durch Respekt vor dem Autonomieanspruch und der Würde des Patienten sowie Wohlwollen diesem gegenüber, unabdingbar. Was aber versteht man 1) genau unter hochspezialisierter Medizin? 2) unter dem Prinzip des Autonomieanspruchs und

82

Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 39.

22

der Würde des Menschen? 3) unter einer guten Arzt-Patienten-Beziehung im Sinne einer evangelischen Ethik? Diesen Fragen soll nun nachgegangen werden.

3.1.

Hochspezialisierte Medizin

Der ausserordentliche wissenschaftliche Fortschritt und die damit verbundene rasante Entwicklung der hochspezialisierten Medizin, die sich vor allem durch die enorme Zunahme medizintechnologischer und pharmakologischer Interventionsmöglichkeiten, Ressourcenintensivität, Interdisziplinarität sowie experimentelle Forschung, welche auch Translation83 beinhaltet, auszeichnet, stellt sowohl die Patienten als auch alle im Gesundheitswesen Beteiligten vor neue Herausforderungen.84 So kommt in der HSM, vor allem aufgrund ihrer Ressourcenintensivität sowie ihres experimentellen Charakters, der ethischen Entscheidungsfindung in jedem Einzelfall eine besondere Relevanz zu. Das Prinzip des Nicht Schadens als eines der vier Prinzipien mit mittlerer Reichweite, das die amerikanischen Begründer der modernen Medizinethik Thomas L. Beauchamp und James F. Childress in ihrem Buch Principles of Medical Ethics85 benannten, ist dabei von besonderer Bedeutung. Mit den Worten Kants gesprochen handelt es sich hierbei um eine negative Pflicht, eine Unterlassungspflicht, die eine „unmittelbare und konkrete Pflicht“86 darstellt. Dem Anderen nicht schaden bedeutet dabei, den Menschen nicht bloss als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck zu betrachten und ihn nicht zu instrumentalisieren. Das Prinzip des Nicht-Schadens beruht somit letztendlich auf der Anerkennung der Grundrechte des Anderen, womit also die Verpflichtung nicht zu schaden das Ergebnis einer Anerkennungspflicht ist. Versucht man nun, diese Pflicht über das Formale hinaus inhaltlich zu füllen, wird man jedoch anerkennen müssen, dass es einen völlig objektiven, für jedermann und jederzeit gültigen Schaden nicht gibt.87 Im Rahmen der hochspezialisierten Medizin, in der die Forschung einen hohen Stellenwert einnimmt, stellt sich diesbezüglich die Frage nach der Verhältnismässigkeit zwischen den beiden Polen Gutes tun und Schaden vermeiden. So ist es unbestritten, 83

Vgl. Rupprecht, Translation, 20: Unter Translation versteht man die Übertragung von Forschungsergebnissen aus der Grundlagenforschung in die klinische Praxis. 84 Vgl. Loss, Zwischen Technik und Menschlichkeit, 8-10. 85 Vgl. Beauchamp / Childress, Principles: Autonomy, 120ff; Nonmaleficience 189ff; Beneficience, 259ff; Justice, 326ff. Beauchamp geht dabei eher von utilitaristischen, Childress von deontologischen Prämissen aus. 86 Maio, Mittelpunkt, 123-124. 87 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 124.

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dass die medizinische Forschung von grosser Wichtigkeit ist, um im utilitaristischen Sinne möglichst vielen Menschen auch in Zukunft Gesundheit, oder mit den Worten Barths ausgedrückt, „Kraft zum Menschsein“88 zu ermöglichen. Dient sie jedoch nur noch dem reinen Selbstzweck oder aber rein ökonomischen Zielen, hat sie ihren Sinn verfehlt. So muss Forschung immer im Dienste der Medizin, für die wiederum das Wohl des Patienten im Mittelpunkt stehen muss, betrieben werden. Alles andere wäre als Instrumentalisierung des Menschen und somit als Grenzüberschreitung zu bezeichnen und abzulehnen. Es gilt daher die richtige Verhältnismässigkeit zwischen Forschung und Dienstleistung, also dem Dienst am Menschen, zu bestimmen und entsprechende Strukturen für Entscheidungsverfahren zu etablieren, wird doch manchmal der Eindruck erweckt, Letzteres rücke zu Gunsten des Ersteren in den Hintergrund.89

In der HSM wird prinzipiell unter Experiment (systematisch-wissenschaftlich), Heilbehandlung und Heilversuch (Einzelbehandlung als ultima ratio) unterschieden. Beauchamp definiert das Experiment bzw. die Forschung am Menschen als „the systematic investigation of hypotheses and theories that is controlled by sound scientific techniques and designed to develop or contribute to generalizable knowledge.“90

Dabei knüpft er es an drei wesentliche Elemente: 1) Ausrichtung an wissenschaftliche Erkenntnis (Zielgerichtetheit), 2) systematische Planung (Planmässigkeit) und 3) festgelegter prozeduraler Ablauf (Standardisierung und Protokoll). Die Charakteristik eines Humanexperiments liegt also in der Verbindung von der Zielrichtung auf verallgemeinerbares Wissen und dem notwendigen methodischen Aufbau. Gemäss Maio werden primär keine therapeutischen Ziele verfolgt.91 Damit grenzt sich das Experiment klar von der Heilbehandlung ab, bei der es sich um eine Standarttherapie handelt und bei der nicht das Erkenntnisinteresse im Vordergrund steht, sondern das individuelle Wohl des Patienten. Zudem folgt die Heilbehandlung nicht zwingend einem standardisierten und vom Protokoll vorgegebenen Verfahren. Sie richtet sich eher an den spezifischen Merkmalen des einzelnen Patienten aus.92 Der dritte Begriff, der Heilversuch, hebt sich 88

Barth, KD III/4, 406; vgl. dazu auch Kapitel 2.3. Vgl. Protokoll, Subprojekt 2, 10.10.2013, S. 4-5. 90 Beauchamp, The intersection, 235. 91 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 294. 92 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 293-294. 89

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sowohl vom Experiment als auch von der Heilbehandlung ab. So definiert Hans-Ludwig Schreiber Heilversuche als „Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen, die der Heilbehandlung in einem Einzelfall dienen, also zur Erkennung, Verhütung und Heilung einer Krankheit oder eines Leidens vorgenommen werden, obwohl ihre Auswirkungen und Folgen aufgrund der bisherigen Erfahrung noch nicht ausreichend zu übersehen sind.“93

Unsicherheiten hinsichtlich des Ergebnisses bestehen also beim Heilversuch genauso wie beim Experiment, allerdings unterscheiden sich beide durch ihre Zielsetzung. So ist der Heilversuch von der Definition her auf das Wohl des individuellen Patienten ausgerichtet, das Experiment dagegen auf wissenschaftliche Erkenntnis. Ausgehend von den drei genannten konstitutiven Erkenntnissen könnte man den Heilversuch eher der Heilbehandlung als dem Experiment zurechnen, da weder die Zielgerichtetheit auf verallgemeinerbares Wissen, Planmässigkeit noch Standardisierung Merkmale des Heilversuches sind.94 Aus der Sicht des Patienten ist er aber stets ein Experiment, da es sich um keine etablierte Therapie handelt und die Folgen aufgrund mangelnder Erfahrung nicht genau abzuschätzen sind. Die entscheidende Frage, die sich beim Heilversuch stellt, ist daher die, ob das Risiko eines eventuellen Schadens durch ein ungenügend getestetes Verfahren in Kauf genommen werden und unter Umständen gegen das Prinzip des Nicht-Schadens verstossen werden soll, oder nicht95 - und genau an diesem Punkt stellt sich ganz explizit das Problem der ethischen Entscheidungsfindung. Hier wird klar deutlich, wie eng das Prinzip des Nicht-Schadens in der HSM mit dem Prinzip des Autonomieanspruchs als Ausprägung der Menschenwürde verbunden ist.96 So wird In der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) aus der „MenschenwürdeFormel“97 im Artikel 10 das „Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit“98 abgeleitet. „Vor allem die Autonomie-Formel in ihrer medizinethischen Verwendung beruht auf diesen Bestimmungen (und auf ähnlichen Formulierungen in anderen Verfassungen).“99

93

Schreiber, Rechtliche Regeln, 17. Vgl. Maio, Mittlelpunkt, 293. 95 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 293; Näheres zu Heilversuchen, vgl. BASS, 73-75 und SAMW, Abgrenzung. 96 Vgl. Härle, Ethik, 238ff. 97 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 48. 98 BV, Art. 10, Abs. 2; vgl. auch Art. 1, Abs. 1 und Art. 2, Abs. 2 des Deutschen Grundgesetzes (GG). 99 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 49. 94

25

Im Folgenden soll nun näher auf das Prinzip des Autonomieanspruchs eingegangen werden.

3.2.

Das Prinzip des Autonomieanspruchs

Der Respekt vor der Autonomie, die zu den zentralen Kategorien der modernen Ethik gehört, beruht auf der Auffassung, dass ein grundlegender Aspekt des Moralischen in der Selbstbestimmung100 des Menschen liegt. Der Medizinethiker Markus Zimmermann-Acklin sieht in der Autonomie im Sinne von Selbstorientierung und Selbstbestimmung den „Dreh- und Angelpunkt ethischer Orientierung in der Spätmoderne“101. Diese wirft den aus den konventionellen Bindungen befreiten Menschen auf sich selbst zurück. Somit muss dieser seine Identität und Lebensgestaltung selbst entwerfen. „Der Anspruch auf Selbstbestimmung der Person, aber auch als Kehrseite die Zumutung von Selbstbestimmung prägen das Ethos moderner Lebensführung. Menschen können und müssen selbst entscheiden, wie sie leben wollen.“102 Dabei hat das heute gängige Autonomiekonzept verschiedene Facetten. Zwei ethische Theorien sind in diesem Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit: Die Ethik von John Stuart Mill und die Ethik von Immanuel Kant, die das Erbe der Aufklärung mit ihrer Forderung nach dem Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit trägt. Ergänzt wird dieses emanzipatorische Element durch die Aspekte der postmodernen Individualisierung und Pluralisierung. So muss sich das Individuum aus der Menge von Optionen, welche alle gleichwertig nebeneinander stehen, möglichst autonom für eine entscheiden und sich so individuell profilieren. Im Kontext einer Leistungsgesellschaft gewinnt Autonomie somit immer mehr den Charakter einer identitätsstiftenden Eigenleistung des homo faber, wonach der Mensch ist, was er aus sich macht. Damit erscheint wahrhaft freies, menschliches Leben weitgehend als Machsal.103

100

Der Begriff Autonomie kommt aus dem altgriechischen αὐτονομία und setzt sich zusammen aus αύτός (selbst) und νόμος (Gesetz). 101 Zimmermann-Acklin, Selbstbestimmung in Grenzsituationen?, 65. 102 Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge, 18. 103 Vgl. Rüegger, zum Stellenwert von Selbstbestimmung, 52-61.

26

3.2.1. Autonomie bei John Stuart Mill Bei Mill und seinen Nachfolgern richtet sich die Selbstbestimmung vor allem auf die Nutzenvermehrung, sowohl für die eigene Person, als auch für die Gesellschaft. Die Autonomie in ihrer utilitaristischen Deutung wird vor allem als ein Recht verstanden, den (eigenen) Nutzen zu maximieren. Dabei geht diese Theorie von der Grundannahme aus, jeder Mensch habe ein Anrecht darauf, nach seiner eigenen Weltanschauung zu leben. Er kann und soll sich nach seinen Überzeugungen für eine bestimmte Lebensform und den damit verbundenen Konsequenzen entscheiden, solange dadurch nicht die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Der einzige Grund, dessentwegen man gegen ein Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft Zwang ausüben darf ist der, die Schädigung anderer zu vermeiden.104 Der Vorwurf, der dem Utilitarismus oft gemacht wird, er könne keine Grundrechte fundieren, „die auch unabhängig von einer wie immer gearteten Nützlichkeit existieren und dem Menschen nicht aberkannt werden können“105, ist hier begründet.

3.2.2. Autonomie bei Immanuel Kant Der Moralphilosophie Kants liegt dagegen ein ganz anderes Verständnis von Autonomie zugrunde. Für sie ist Autonomie bzw. Selbstbestimmung der Grund der Würde menschlicher und jeder vernünftigen Natur.106 Der Mensch wird seiner Würde gerecht, indem er die Würde des anderen achtet.107 Die Autonomie zu respektieren bedeutet demnach für Kant unter anderem das Verbot, den Menschen zu instrumentalisieren. „[…] der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloss als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen.“108

Autonomie wird dabei als Selbstgesetzgebung, „als Unterwerfung der eigenen Handlungsmaxime unter dem Test der Verallgemeinerungsfähigkeit“, verstanden, wobei der Wille „das Vermögen vernunftkonformen Wählens“109 ist. In seiner berühmten Formulierung schreibt Kant: 104

Vgl. Mill, On Liberty, 16. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 60. 106 Vgl. BA 79, 80. 107 Vgl. Kaulbach, Immanuel Kants Grundlegung, S. 93. 108 BA 64; BA 65, 66. 109 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 60. 105

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„Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonome ist also: nicht anders zu wählen als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.“110

Autonomie heisst also bei Kant, wollen und wählen können, wobei das, was gewählt wird, die Perspektive des Gesetzes, d.h. der Verallgemeinerung ist.111 Im Vergleich zur utilitaristischen Auffassung als auch unseren heutigen Common-sense-Vorstellungen über Autonomie ist dies eine enorme Einschränkung. So steht hier nicht das Selbst im Fokus, sondern seine Unterwerfung unter das Gesetz. Damit entspricht Kants Auffassung der Wortbedeutung von Autonomie.112 „Die handelnde Person gibt sich selber das Gesetz, sie ist aber nicht das Gesetz.“113

3.2.3. Patientenautonomie Patientenautonomie im heutigen Sinne ist meist eine Mischung der Vorstellungen von Mill und Kant. So sind wir als urteilsfähige Menschen mit Mill und unter Berufung auf die Selbstbestimmung der Meinung, dass, abgesehen von Notfällen, niemand das Recht hat, ohne unsere Zustimmung, medizinische Handlungen an unserem Körper zu vollziehen, selbst dann nicht, wenn eine Behandlung an und für sich medizinisch klar indiziert wäre. Dann nämlich zeigt sich erst, ob mit dem Prinzip des Respekts vor der Patientenautonomie wirklich ernst gemacht wird.114 So ist die Zulassung einer medizinischen Intervention erst dann gegeben, wenn eine medizinische und individuelle Indikation vorliegt, die den Willen des Patienten berücksichtigt.115 Rechtlich hat sich daher seit längerem durchgesetzt, dass medizinische, pflegerische oder therapeutische Interventionen nur zulässig sind, wenn ihnen ein Patient oder eine Patientin nach vorangegangener angemessener Aufklärung in Form eines informed consent zustimmt. Wird auf diese Einwilligung verzichtet, so wird – abgesehen von einigen Extremfällen, in denen sie nicht eingeholt werden kann – die medizinische Behandlung zu einer Körper-

110

BA 87. Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 61. 112 αύτός (selbst) und νόμος (Gesetz). 113 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 61. 114 Vgl. SAMW, Medizinisch-ethische Grundsätze, 103. 115 Vgl. SAMW, Medizinisch-ethische Grundsätze, 108. 111

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verletzung.116 Fragen wir uns allerdings, weshalb das so ist, beziehen wir uns auf die Menschenwürde in der Tradition Kants, die wir mit fundamentalen Menschen- und Bürgerrechten verbinden. Aus der Menschenwürde lässt sich, wie bereits erläutert, das Recht auf körperliche Unversehrtheit ableiten, auf dem die Patientenautonomie basiert. Damit soll einer medizinischen Fremdbestimmung und Instrumentalisierung des Patienten vorgebeugt werden. Denn „Autonomie als normative Begrifflichkeit erhebt für den Menschen den Anspruch, als Subjekt und nicht als Objekt behandelt zu werden. Danach darf ein Mensch nicht zum Mittel von irgendwelchen (ihm fremden) Zwecken gemacht werden. Insofern ist Autonomie ein Abwehrbegriff, der den Menschen vor Übergriffen und vor Vereinnahmungen schützen soll.“117

Damit der Patient oder die Patientin einen sinnvollen Gebrauch von ihrem Autonomieanspruch in Form eines informed consent machen kann, bedarf es einer entsprechenden Aufklärung durch den Arzt. Dabei darf die Bedeutung, die wir der Patientenautonomie zumessen nicht dazu verleiten, die Situation des Kranken nur unter den Aspekten seiner Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit zu thematisieren. So sind Patienten leidende Personen, die teilweise zu Passivität gezwungen sind und infolge ihrer Erkrankung mit der Erfahrung der Abhängigkeit zurechtkommen müssen. Insofern sind Patienten auf die Hilfe und Fürsorge anderer angewiesen. Die Autonomiefähigkeit kann in solchen Situationen schnell abnehmen. Dabei würden wir die Kranken überfordern, wenn wir sie mit ihrer Selbstbestimmung alleine liessen, indem wir sie vor allem als „reflektierende Gesprächspartner und als Unternehmer ihrer selbst auf dem Markt des Gesundheitswesens auffassten.“118 Es muss daher klar unterschieden werden zwischen dem normativen Autonomieanspruch und konkreten empirischen Autonomiefähigkeiten.119

Der Mensch kann sich prinzipiell nur als ein dialogisches Wesen begreifen. Eine möglichst vertrauensvolle, gut funktionierende Arzt-Patienten-Beziehung als auch eine Beziehung zwischen Pflegenden, Betreuenden und dem Patienten und seinen Bezugspersonen, die eingebettet ist in eine konkrete Beziehungsethik im Sinne einer evangeli116

Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 64. Baumann-Hölzle, Autonomie als Verantwortung, 230; zu Patientenautonomie vgl. auch Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 61-65. 118 Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 65, vgl. auch Maio, Mittelpunkt, 166-167. 119 Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 64-65. 117

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schen Sozialethik120, ist daher Voraussetzung. So muss der behandelnde Arzt immer versuchen, sich auch ein Bild von den Beziehungen seines Patienten zu dessen Angehörigen und Freunden zu machen, da er nur in diesem Beziehungsgefüge die Einzigartigkeit seines Patienten erfassen kann. Bevor nun in Kapitel 3.3.3 ausführlich auf die ArztPatientenbeziehung als Voraussetzung für die Patientenautonomie eingegangen wird, wird im Folgenden erst die theologische Ethik, insbesondere die evangelische Sozialethik erläutert. Grundlage dafür ist die Rechtfertigungslehre und das sich daraus ergebende Freiheitsverständnis, das in einem eigenen Kapitel behandelt wird.

3.3.

Theologische Ethik

Die theologische Ethik als eine der Grunddisziplinen der Theologie befasst sich mit der Reflexion des moralisch Guten und Angemessenen im Kontext christlicher Theologie.121 Wie auch die philosophische Ethik hat sie es mit der Begründung von Normen und Regeln richtigen Verhaltens zu tun. Während sich die theologische Ethik dabei auf die Offenbarung bzw. das Wort Gottes berufen kann, ist dies bei der philosophischen Ethik nicht möglich. Sie kann sich nur auf die Vernunft berufen, was aber nicht bedeutet, dass die theologische Ethik unvernünftig sein darf.122

120

Vgl. Fischer, Grundkurs Ethik, 330-358, v.a. 339-341. Vgl. Fischer, Grundkurs Ethik, 305: Unter dem Begriff theologische Ethik versteht man die wissenschaftlich-ethische Reflexion im Rahmen einer christlichen (evangelischen oder anderer Konfession) Ethik. Die evangelische oder protestantische Ethik ist als eine christliche Ethik einer bestimmten konfessionellen Ausprägung zu bezeichnen und grenzt sich somit von anderen Konfessionen, wie der katholischen Moraltheorie ab. Im Rahmen dieser Masterarbeit wird nur auf die evangelische Ethik eingegangen. 122 Zum Verhältnis von philosophischer und theologischer Ethik gibt es verschiedene Positionen. Die Streitfrage lautet, ob theologische Ethik in ihrem Inhalt etwas anderes sein kann, als eine allgemeingültige Verbindlichkeit beanspruchende Auslegung der sittlichen Forderung. Muss sie normativ oder deskriptiv verstanden werden? Die wissenschaftliche Literatur dazu ist sehr umfassend. Vgl. u.a. Fischer, Grundkurs Ethik, 199-236, für den sich eine Ethik, die als reines „Begründungsunternehmen“ verstanden wird, nur an der Oberfläche der moralischen Orientierung bewegt. Das Verstehen hat in der theologischen oder evangelischen Ethik seiner Meinung nach Vorrang vor dem Begründen. Weil hier nicht die Begründung normativer Geltung, sondern das Verstehen im Mittelpunkt steht, handelt es sich nicht um eine normative, sondern um eine deskriptive Ethik. Vgl. auch Honecker, Einführung in die theologische Ethik, v.a. Kapitel 5, S. 247-285, demzufolge die Heilige Schrift der Auslegung bedarf. Ihre Aussagen sind daher lediglich als Zeugnisse und Modelle gelebten Glaubens zu beachten, weshalb sie keine unfehlbaren Leitsätze und Normen darstellen. Vgl. dagegen Härle, Ethik, v.a. Kapitel 5, S. 158-204, für den die theologische Ethik klar normativ ist. Dabei können die normativen Grundlagen der christlichen Ethik nicht nur im Rückgriff auf die Bibel gefunden und beschrieben werden, sondern auch in der Auslegungsgeschichte der Bibel im Rahmen der Kirchen- und Theologiegeschichte. Vgl. auch die katholische Moraltheologie, die sich als normativ versteht. Sie knüpft an die Erfahrung der sittlichen Vernunft an und versucht diese aus theologischer Perspektive aufzuschließen, wobei sie sich der Methoden der Theolo121

30

Eine gewisse Schwierigkeit der theologischen, insbesondere der evangelischen Ethik besteht auch insofern, als es keine einheitliche evangelische Ethik gibt. Sie ist eher gekennzeichnet durch ihre Vielgestaltigkeit. So unterscheidet sich das Verständnis Karl Barths123 von evangelischer Ethik z.B. von dem Dietrich Bonhoeffers124, Emanuel Hirschs125, Trutz Rendtorffs126 oder Eilert Herms127, um nur einige zeitgenössische Ethiker zu nennen.128 Das spezifische, aller evangelischen oder protestantischen Ethik gemeinsame Profil führt jedoch zurück in die Zeit der Reformation. Bei der Bezugnahme auf diese reformatorischen Quellen kommt den Bekenntnisschriften Luthers eine besondere Relevanz zu, ist doch sein Grundverständnis für den christlichen Glauben und das daraus resultierende Handeln wegweisend. So versucht er in seinen Werken, ungeachtet zeitgebundener und somit für heutige Zeitgenossen manchmal etwas merkwürdig anmutender Ausdruckformen, Reformationszeit und Moderne miteinander zu verbinden.129 Die Lehre von der Rechtfertigung, die eine Aufwertung des Individuums „in seiner unvertretbaren Stellung vor Gott“130 mit sich bringt, ist dabei der Ausgangspunkt für jegliche theologische, ethische Erkenntnis. In seiner 1520 veröffentlichten Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen (Tractatus de libertate christiana) geht Luther explizit auf diese Lehre ein, die den Christen in der Nächstenliebe an seine Mitmenschen bindet.

Dabei ist es aber wichtig anzumerken, dass überkommene reformatorische Lehren nicht einfach wiedergegeben werden können und sollen. Es geht vielmehr darum, sich dieses Wissen anzueignen, um überhaupt zu verstehen, wie es zu den spezifischen Ausprägungen der evangelischen Ethik gekommen ist. Ferner muss man sich immer wieder fragen, inwieweit diese Ethik uns, in Bezug auf die Fragen, die uns gegenwärtig im 21. Jahrhundert unter anderem hinsichtlich der Medizinethik bewegen, weiterhelgie und der Philosophie bedient, um im Hinblick auf aktuelle ethische Probleme zu Aussagen für die sittliche Praxis zu kommen und diese rational zu begründen. Diese Thematik kann jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht erschöpfend erläutert werden, weshalb ich mich hier mit obiger Erklärung begnüge. 123 Vgl. Grotefeld, Quellentexte, 365-371. 124 Vgl. Grotefeld, Quellentexte, 353-365. 125 Vgl. Grotefeld, Quellentexte, 420-424. 126 Vgl. Grotefeld, Quellentexte, 439-444. 127 Vgl. Grotefeld, Quellentexte, 477-480. 128 Zur theologischen Ethik vgl. Fischer, Ethik, 199-241; zur evangelischen Ethik vgl. Fischer, Grundkurs Ethik, 305-329. 129 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 19. 130 Surall, Ethik des Kindes, 19.

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fen kann. So müssen wir heute möglicherweise andere Akzente setzen, als dies die Reformatoren getan haben. Die Rechtfertigungslehre reagierte seinerzeit auf die Verunsicherung der Menschen hinsichtlich ihres eigenen Seelenheils, die durch die spätmittelalterliche, katholische Werkgerechtigkeit und Busspraxis entstanden ist. Allerdings kann auch in der Rechtfertigung allein aus Glauben – entgegen Luthers seelsorgerlichen Anliegen – ein Element der Verunsicherung gesehen werden. So wird sich der Einzelne immer wieder fragen, ob denn der eigene Glaube ausreichend ist, um sein Seelenheil zu sichern.131 Damit hängt auch die Frage der Werke zusammen. Die Lehre, dass allein der Glaube für das eigene Seelenheil von Bedeutung ist, legt prima facie nahe, die Hände in den Schoss zu legen und sich dem Müssiggang hinzugeben. Tatsächlich hat aber gerade der Protestantismus, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt werden wird, eine Lebensführung im Sinne einer vita activa an den Tag gelegt, wonach das christliche Leben ein ständiger Dienst zum Wohle des Nächsten ist.132

3.3.1. Luthers Freiheitstraktat und das sich daraus ableitende Freiheitsverständnis Wenden wir uns nun Luthers Auffassung von der Rechtfertigung allein aus Glauben und des Verhältnisses von Glaube und Werken zu, die er in seinem Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen von 1520 ausformuliert hat. Im Gegensatz zu anderen religiösen Ethiken, die, wie die des Judentums oder des Islams häufig Gesetzesethiken sind, lässt Luther das Gesetz zwar als gültigen Massstab stehen, stellt diesem aber das andere Wort Gottes, welches für ihn zum Entscheidenden wird, nämlich das Evangelium, gegenüber.133 Er thematisiert damit die Freiheit, stellt ihr aber zugleich die Dienstbarkeit gegenüber. „Eyn Christen mensch ist eyn freher herr über alle ding und niemandt unterthan. Ein Christen mensch ist eyn dienstbar knecht aller ding und yederman unterthan.“134

Damit führt er die von Paulus135 übernommene Unterscheidung vom inneren und dem äusseren Menschen ein. Dieser Unterscheidung entsprechend hat der Freiheitstraktat 131

In der Geschichte des Protestantismus, z.B. im Pietismus, spielte diese Verunsicherung immer wieder eine Rolle. Auch der syllogismus practicus leitet sich von dieser Verunsicherung ab; vgl. auch Bonhoeffer, Nachfolge, wo er zwischen billiger und teurer Gnade unterscheidet. 132 Vgl. Fischer, Grundkurs Ethik, 307-308. 133 Vgl. dazu die Unterscheidung von Evangelium und Gesetz in: Suda, Die Ethik Martin Luthers, 57-72. 134 Luther, WA 7, 21, 1-4.

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zwei Teile. Der erste handelt von der geistlichen Erneuerung des Menschen, der zweite von den Werken, die aus dem Glauben folgen. Der innere, d.h. der geistlich erneuerte Mensch ist dabei der Mensch in Gegenwart bzw. seiner Beziehung zu Gott (coram deo), der äussere dagegen der Mensch in Gegenwart bzw. seiner Beziehung zur Welt (coram mundo) oder zu den Menschen (coram hominibus)136, der sich in den Werken betätigt.137 Für das Verhältnis des Menschen zu Gott ist allein der Glaube entscheidend. Werke verlieren hier jede Bedeutung. Für die Beziehung des Menschen zur Welt sind Werke der Nächstenliebe – Werke, die dem Nächsten nützen138 – jedoch von grosser Wichtigkeit. Fromm139, das heisst recht vor Gott und somit frei, können den Menschen also keine Werke machen. Dies vermag allein der Glaube. Dabei vollzieht sich im Glauben an Christus ein „fröhlicher Wechsel“140, d.h. Christi Eigenschaften werden unsere, unsere dagegen die seinen, was nichts anderes bedeutet, als dass die Gerechtigkeit Christi auf den Menschen übergeht und die Sünde des Menschen auf Christus. Christus trägt demnach unsere Sünden. Dabei rechnet Luther mit einer realen Erneuerung des Menschen durch das im Glauben ergriffene Wort Gottes. Genau dies beschreibt er am Ende seiner Schrift: „Aus dem allenn folget der beschluß, das eyn Christen mensch lebt nit inn ihm selb, sondern in Christo und seynem nehstenn, inn Christo durch den glauben, im nehsten durch die liebe.“141

Da das Gottesverhältnis allein im Glauben gründet, muss der Mensch sich mit Werken also nichts vor Gott verdienen. Sie können, ja sollen somit ganz und ungeteilt um des Nächsten willen geschehen. Darin liegt eine radikale Entmoralisierung des Handelns, die als Grundzug der evangelischen Ethik angesehen werden kann. Demnach tut ein Christ seine Werke nicht, „weil es als gut bewertet wird – sei es durch Gott oder durch

135

z.B. Röm 8,4; 2. Kor 4,16; Gal 5,17. Die coram-Struktur geht auf Ebeling, Dogmatik, 349, zurück, der damit Luthers Denken charakterisieren wollte. So setzt sich die lateinische Präposition coram aus con (in) und ōs (Gesicht) zusammen, weshalb sie genau genommen mit angesichts, im Angesicht von oder in Gegenwart von übersetzt werden müsste und somit eine Relation der Nähe ausdrückt, die sowohl einen räumlichen als auch einen zeitlichen Charakter aufweist. 137 Vgl. Luther, WA 7, 21, 12 - 15. 138 Vgl. Luther, WA 7, 35, 9 - 10. 139 Das Wort fromm war zu Luthers Zeit keine religiöse Bezeichnung. Ein frommer Mann war ein rechter Mann. Erst durch Luthers Bibelübersetzung bekam dieses Wort seine religiöse Bedeutung. 140 Fischer, Grundkurs Ethik, 309. 141 Luther, WA 7, 38, 6-8. 136

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die Menschen – sondern um des Nächsten willen bzw. aus Liebe zu Gott und dem Nächsten“142. Trutz Rendtorff schreibt dazu: „Die Qualität des Guten im Handeln verläuft in erster Instanz nicht über das, was mit dem Handeln bewirkt wird, sondern wodurch sich der Mensch in seiner Lebensführung bestimmt weiss.“143

Diese Fokussierung auf die Person verbindet sich zwar mit einem konsequentialistischen Grundzug evangelischer Ethik, insofern sich das Handeln am Nutzen des Nächsten und somit an den Folgen orientiert. Indem sie ihr Gutsein aber von der Erneuerung der Person, die sich im Glauben vollzieht, bezieht, grenzt sie sich deutlich vom Utilitarismus ab, der das Gutsein einer Handlung eben nur von deren Folgen her bezieht. Luthers Verständnis von Freiheit unterscheidet sich somit grundlegend von demjenigen Mills.144

Die Freiheit, die Luther lehrt, ist Freiheit von Sünde und Freiheit vom Gesetz.145 Sie entsteht durch das Evangelium, im Glauben, d.h. im Vertrauen auf Gott. In Jesus Christus ist der gläubige Mensch angenommen und somit frei zur wirklich selbstlosen Liebe. Damit grenzt sich der Wittenberger Reformator von Aristoteles ab, wonach wir durch das Tun des Gerechten gerecht werden, wie dieser in seiner Nikomachischen Ethik formuliert hat. Aber auch die christliche Tugendethik, die die vier antiken Tugenden: iustitia, prudentia, fortitudo und temperantia durch Glaube, Hoffnung und Liebe ergänzt (Thomas von Aquin), ist Luther verdächtig, da sie den Begriff Glaube in die Kategorie Tugend einordnet. Demnach wäre auch der Glaube durch ständiges Erlernen und Einüben erst allmählich zu erwerben. Dies aber wäre in keinster Weise vereinbar mit Luthers Ethik der Rechtfertigung, der zufolge der Glaube konstitutiv sein muss.146 Denn nur, wer kraft seines Glaubens und der dadurch bedingten geistlichen Erneuerung gerecht ist, kann auch gerecht handeln. So schreibt Luther: „Gleych wie Christus sagt: Ein bößer baum tregt keyn gutte frucht. Ein gutter baum tregt keyn böße frucht. Nu ists offenbar, das die frucht tragen nit den baum, so wachsen auch die baum nit auff den fruchten, sondern widerumb, die baum tragen die frucht, und die frucht wachsen auff den baumen. Wie nu die baum mussen ehe seyn, den die frucht, und die frucht machen nit die baum wider gutte noch böße, sondern die 142

Fischer, Grundkurs Ethik, 310. Rendtorff, Ethik VII, 484. 144 Vgl. Kapitel 3.2.1. 145 Vgl. Luther, WA 7, 38, 12 - 14; vgl. zum Begriff der Sünde auch Suda, Die Ethik Martin Luthers , 15-17. 146 Näheres zu Ethik aus dem Glauben, vgl. Suda, Die Ethik Martin Luthers, 79-95. 143

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baum machen die früchte, also muss der mensch in der person zuvor frum oder böße seyn, ehe er gutte oder böße werk thut.“147

Die Werke machen also coram deo keinen Unterschied. Hat man die guten Werke, ist man vor Gott nicht besser, hat man sie nicht, ist man vor Gott nicht schlechter. Coram mundo machen die Werke aber einen erheblichen Unterschied. Er bemisst sich daran, ob sie dem Menschen nützen oder nicht. Damit scheinen aber doch wieder die Massstäbe des Gesetzes ins Spiel zu kommen. Dies widerspräche der oben getroffenen Feststellung der Entmoralisierung des Handelns. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Ausdruck das Gute um des Guten willen tun nicht bedeutet, dass es moralisch gut ist, sondern das Gute um des Guten willen tun orientiert sich in der lutherischen bzw. evangelischen Ethik an den Belangen des Anderen. Wir tun das Gute, um somit z.B. jemanden zu helfen, der in Not geraten ist. Leitend muss also immer die Frage sein, was in einer gegebenen Situation im Sinne des Nächsten ist, nicht, wie etwas moralisch zu bewerten ist. Damit folgt eine Verlagerung des Guten vom Werk auf die Person. Insofern kann der Mensch selbst nicht mit dem Bösen identifiziert werden. Verurteilt und gerichtet können immer nur Taten werden, nicht aber Menschen. Diese Unterscheidung impliziert die protestantische Interpretation des inhärenten Menschenwürdegedankens, dem gemäss jedem Menschen, egal ob Kind oder Erwachsenen, urteilsfähig oder nicht urteilsfähig, unabhängig von Rasse, Geschlecht, sozialen Status etc. die gleiche Würde gegeben ist. Demnach kann eine noch so verwerfliche Tat den Täter dennoch nicht seiner Würde berauben.148

Luthers Ethik lehrt nicht die moderne Autonomie, wie sie in Kapitel 3.2. beschrieben wurde. In seinem Freiheitstraktat meint Freiheit, wie bereits erwähnt, Freiheit von der Sünde, ja sogar Freiheit vom Gesetz.149 Sie versetzt uns in die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“150, welche ein Leben in der Einheit mit Gott meint. Frei sind also alle Menschen in Christus. Diese christliche Freiheit ist aber keine Wahlfreiheit. Der Mensch kann nicht entscheiden, ob das Gesetz gilt oder nicht, oder aber, ob Gott exis147

Luther, WA 7, 32, 9-17. Vgl. Härle, Ethik, 232-261; Fischer, Grundkurs Ethik, 312-313. Gen 1,26f spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen ist, d.h. zu Gottes Gegenüber und Beauftragten. Das verleiht dem Menschen seine unverlierbare und unantastbare Würde. 149 Vgl. Luther, WA 7, 38, 12 – 14. 150 Röm 8,21. 148

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tiert oder nicht. Er kann sich nicht selbst zum Guten bestimmen.151 Allerdings hat derjenige, der sein Leben in Einklang mit Gott lebt, gar nicht den Wunsch, sich gegen diesen zu entscheiden. Er selbst empfindet sich nicht als unfrei. Im Gegenteil verschafft ihm die Rechtfertigung als Gerecht-gesprochen-werden durch Gott einen solchen Status an Freiheit, dass er alles andere als unfrei ansieht.152 In den rein weltlich alltäglichen Entscheidungsprozessen jedoch hat der Mensch durchaus Willensfreiheit, die der „religiös-ethischen Unfreiheit des Willens“153 nicht widerspricht. So kann er überhaupt erst aus dieser christlichen Freiheit heraus Verantwortung tragen und übernehmen. Sie ist somit produktive, schöpferische, weltgestaltende Freiheit und verdankt sich der vorausgegangenen geistigen Erneuerung seiner Person, welche jedoch nicht sein Werk, sondern allein Gottes Werk ist. Insofern ist diese Freiheit auch nicht als Autonomie, also Selbstgesetzgebung im Sinne Immanuel Kants zu verstehen. So würde Luther die Absolutheitsrolle, die Kant der Vernunft zuspricht, ablehnen. Die Vernunft ist eine menschliche Fähigkeit, die dem Menschen zwar von Gott gegeben, jedoch genauso für die Sünde anfällig ist, wie alle anderen Fähigkeiten. Luther selbst sprach gar von der Hure Vernunft, womit er ausdrücken wollte, dass sie sich guten als auch bösen Absichten anbiete, weshalb sie nicht aus der Sünde entnommen werden könne. Wenn die Rechtfertigung und somit die Befreiung von der Sünde für den ganzen Menschen notwendig ist, dann auch für die Vernunft als seine ihn auszeichnende Fähigkeit.154

Mir ist bewusst, dass das Wort Sünde bzw. Sünder im heutigen alltäglichen Sprachgebrauch eher Befremden auslöst. Für die lutherische Ethik ist das Verständnis von Sünde jedoch grundlegend. Dabei kann im biblischen und somit auch im lutherischen Sprachgebrauch Sünde nicht aus dem Gottesbezug herausgelöst werden. Der Mensch führt sein Leben vor Gott. Sünde und Sündersein sind bei dem Reformator auf die Gegenüberstellung von Mensch und Gott bezogen, wobei der Mensch anerkennen muss, dass er der fehlbare, unvollkommene und ungerechte Mensch hier ist und dort der unfehlbare, vollkommene und gerechte Gott ist. Hier der Irrende, dort der Irrtumslo-

151

Vgl. Grotefeld, Quellentexte, 129-133. Vgl. Suda, Die Ethik Martin Luthers, 13. 153 Achtner, Willensfreiheit, 149. 154 Vgl. Suda, Die Ethik Martin Luthers, 12. 55-56. 152

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se.155 Oftmals wollen wir Menschen aber – heute noch mehr als zu Luthers Zeiten – diesen Unterschied nicht wahrhaben und sind uns selbst genug. So schreibt Ebeling: „Wie man die Sünde als ein Nichtwollen, dass Gott sei, charakterisieren kann, so will auch der Sünder nicht, dass er Sünder sei, wie er gleichfalls nicht will, dass er Geschöpf sei. Der Sünder will also die Sünde nicht wahrhaben. Würde er sie wahrnehmen und wahrhaben, wäre er schon nicht mehr im eigentlichen Sinne Sünder. Man könnte aber mit gewissem Recht auch anders akzentuieren: Erst dann ist er in Wahrheit Sünder. Deshalb konnte Luther sagen, der Mensch müsse erst zum Sünder werden, indem er sich als Sünder erkennt.“156

Den Menschen in der heutigen Zeit fällt es schwer, die eigene Fehlbarkeit zu akzeptieren. Sie verhalten sich eher wie gottgleiche Herrscher. Dies gilt nicht zuletzt auch in der Medizin157, vor allem in der hochspezialisierten und wunscherfüllenden Medizin sowie deren Steigerung, die das Bild des machbaren Menschen vor sich hat, wie bereits ausführlich in Kapitel 2.3. (Heilung als Heil) beschrieben wurde. Dabei stellen oft nicht nur die Ärzte und Ärztinnen extrem hohe, teilweise schon bis ins Absurde reichende Ansprüche an sich selbst als auch an die Wissenschaft, indem sie versuchen, Schicksal durch Machsal158 zu ersetzen, sondern auch Patienten und Angehörige erwarten, ausgesprochen oder unausgesprochen, immer öfter die völlige Wiederherstellung der Gesundheit.159 Indem sie dem Arzt damit indirekt ihr vollstes Vertrauen erweisen, liefern sie sich ihm ganz aus. Es steht somit immer eine unausgesprochene Erwartungshaltung, ja Forderung im Raum160, die allerdings oftmals die menschlichen Möglichkeiten zu übersteigen droht. Die Sünde bzw. Gottferne zeigt sich heute also im technischen Imperativ, in der Selbstgerechtigkeit, aber auch in der Verzweiflung und Sinnleere. Wenn wir nämlich an den Punkt gelangen, an dem wir erkennen müssen, dass wir nicht alles machen können, was wir machen wollen, wenn wir unseren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügen, an unserer eigenen Güte und Gerechtigkeit zweifeln und somit unseren Glauben an uns selbst als die letzte Instanz aufgeben müssen und hoffnungslos überfordert sind, stellt sich in der Tat Verzweiflung ein. In ethischer Hinsicht zeigt sich Gottferne also im Versuch, das ICH an die Stelle des Schöpfers und Erlösers zu setzen. 155

Vgl. Suda, Die Ethik Martin Luthers, 16-17; Honecker, Einführung in die theologische Ethik, 28-32. Ebeling, Dogmatik, 365. 157 Vgl. die Metapher für Ärzte: Götter in weiss. 158 Vgl. Marquard, Ende des Schicksals?, 67. 159 Vgl. die Ausführungen zu Gesundheit in Kapitel 2f. 160 Vgl. Logstrup, Ethische Forderung, 7-8. 156

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Die Erkenntnis nun, dass wir im Grunde Nichts sind, ist gemäss Luther die Voraussetzung dafür, dass Gott etwas aus uns machen kann. 161 Der Reformator vermittelt uns mit seiner Rechtfertigungslehre die Sicherheit, erfolgreich jenen Weg des Glaubens an die unendliche Liebe Gottes zu gehen, den er selbst gegangen ist.162 Denn durch den Glauben und die damit verbundene Demut erkennen wir letztendlich, dass unser Leben in Gottes Hand ist. Diese Erkenntnis ermöglicht es uns, uns von übertriebenen Perfektionismus und Machbarkeitswahn zu befreien und unsere Fehlbarkeit anzuerkennen. Dies bedeutet aber nicht, sich dem Müssiggang hinzugeben, sondern es bedeutet vielmehr, die Sorge um sich selbst aufzubrechen und frei für den bedingungslosen Dienst am Nächsten zu sein – als guter Arzt frei von übersteigerten Ansprüchen an sich selbst, frei von der Sorge um sein eigenes Ansehen und das Prestige des Krankenhauses zu sein und selbstlos und verantwortungsvoll für die Patienten, die mehr noch als gesunde Menschen auf die bedingungslose Hilfe anderer angewiesen sind, da zu sein.163 Logstrup schreibt in seinem Buch Ethische Forderung dazu: „Unser Leben ist nun einmal ohne unser Zutun so geschaffen, dass es auf andere Weise nicht gelebt werden kann, als dass der eine Mensch sich dem anderen in erwiesenem oder verlangtem Vertrauen ausliefert und mehr oder weniger seines eigenen Lebens in die Hand des anderen legt.“164

Luthers Freiheitsbegriff als Freiheit von der Sünde könnte also trotz aller Einwände von Bedeutung bleiben. Diese christliche Freiheit wurde bereits in Röm 8,21 als die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ zitiert. Die vermittelte Gewissheit ist sowohl das Heraustreten aus der egoistischen Sicherheit des In-sich-Ruhens, des Hände in den SchossLegens, als auch das Heraustreten aus der fundamentalen Unsicherheit der Spätmo-

161

Luther schreibt in seiner ersten Vorlesung über die Psalmen 1523/1515 in: Luther Deutsch, Die Werke Luthers in Auswahl, 26: „[…] und wir bestehen nicht, wenn wir nicht vorher gefallen sind, weil wir schlecht standen. So sind auch ganz allgemein das Sein, die Heiligkeit, die Wahrheit, die Güte, das göttliche Leben usw., nicht in uns, wenn wir nicht zuerst zu einem Nichts, zu Unheiligen, Lügnern, Bösen, ja Toten vor Gott geworden sind. Sonst würde ja Gottes Gerechtigkeit verspottet und Christus wäre umsonst gestorben.“ 162 Vgl. Suda, Die Ethik Martin Luthers, 16-17. 163 In seiner Vorlesung zum Römerbrief 1515/1526 in: Luther Deutsch, Die Werke Luthers in Auswahl, 229, schreibt Luther: „Denn wie es im Bereich des Natürlichen fünf Stufen gibt: (nämlich) Nichtsein, Werden, Sein, Tätigsein und Erleiden – oder in der Terminologie des Aristoteles: Unvorhandenheit, Stoff, Form, Wirken und Erleiden – so auch im Bereich des Geistigen: bezeichnet eine Sache ohne Namen und den Menschen in Sünden; bezeichnet dessen Rechtfertigung; bezeichnet seine Gerechtigkeit; bezeichnet sein Handeln und Leben in Gerechtigkeit, und bezeichnet sein Vollkommen- und Vollendetwerden. Und diese fünf sind beim Menschen gleichsam in ständiger Bewegung.“ 164 Logstrup, Ethische Forderung, 18.

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derne und das Eintreten in eine Gemeinschaft mit Gott, welche in der Mitteilung von Gottes Gerechtigkeit und Weisheit besteht.165 Diese wiederum ist konstitutiv für die evangelische Sozialethik, die eine Lebensgestaltung im Sinne einer vita activa ist, wonach das christliche Leben ein ständiger Dienst zum Wohle des Nächsten ist. Im Folgenden soll etwas näher auf die evangelische Sozialethik als auch auf die in diesem Kontext wichtige Funktion der Agape eingegangen werden.

3.3.2. Agape (ἀγάπη) als grundlegendes Element der evangelischen Sozialethik Die Modellgeschichte für Agape ist „Der barmherzige Samariter“166. Die barmherzige Liebe, die sich hier zeigt, ist nicht von leidenschaftlicher Zuneigung oder dem Wunsch nach einem gemeinsamen Glück getrieben, sondern sie wendet sich dem anderen Menschen in seiner Not, in seiner Bedürftigkeit zu. Unter Agape versteht man die Zuwendung um des Anderen willen. So schreibt Bonhoeffer: „Sie will nichts vom anderen, sie will alles für den anderen.“167 Agape ist selbstlos und selbstvergessen. Sie erwartet keine Gegenliebe, keinen Dank und keine Vergeltung und ist als solche die höchste ethische Möglichkeit. Sie wäre aber missverstanden, wenn man sie als Bereitschaft interpretierte, dem Anderen alle Steine aus dem Weg zu nehmen, ihn zu verwöhnen und zu verziehen. Aber da wo sie dem Anderen Schweres zumutet, ist sie immer geleitet von der Frage: Was ist für ihn gut? Agape hat immer das Wohl des Empfängers im Blick, nie das eigene. Da sie grundsätzlich offen ist für alle, neigt sie zur Deformation und Degeneration, wenn sie exklusiv auf nur einen Menschen bzw. eine Kleingruppe bezogen wird, sei dies der eigene Partner, das eigene Kind oder die eigene Familie als Ganzes. Ihren Ursprung hat sie in der Erfahrung, dass die eigene Existenz eine Auswirkung schöpferischer Liebe ist, in der Erfahrung also, dass wir allein aus Liebe geschaffen wurden, weil Gott es so wollte. Daher ist das zu Agape passende Motiv die Dankbarkeit. Nach christlichem Verständnis ist ihre äusserste Möglichkeit die Feindesliebe, die, verstände man sie als Freundschaft (φιλíα) oder als erotische Liebe (ἔρως), sinnlos, ja sogar pervertiert wäre. Als Agape eröffnet sie aber die Möglichkeit, auch das Wohl derer wahr und ernst zu nehmen sowie wohlwollend denen gegenüber zu handeln, 165

Vgl. Suda, die Ethik Martin Luthers, 17. Lk 10, 25-37. 167 Bonhoeffer, Predigt zu 1 Kor 13, 4-7, 389. 166

39

von denen der Handelnde, zumindest vorerst, nichts Gutes zu erwarten hat.168 Da Agape immer das Wohl des anderen vor Augen hat, spielt sie unter anderem in der Spitalseelsorge und der Medizinethik, insbesondere in der Pädiatrie, eine entscheidende Rolle. So setzt die Respektierung des Patientenautonomieanspruchs, auch und vor allem in der medizinethischen Entscheidungsfindung, immer ein wohlwollendes, von Agape getragenes Verstehen des Beziehungscharakters seines Gegenüber voraus, weil erst die Beziehungen die Selbstbestimmung des Menschen ermöglichen und prägen. So ist der von Gott geschaffene Mensch ein Wesen, das konstitutiv zur Freiheit in Gemeinschaft geschaffen ist. Er existiert von Anfang an in Relationen: zu Gott, zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst. Als ein solches Beziehungswesen ist jeder Mensch Person und trägt somit Verantwortung für seine Mitgeschöpfe, wie dies von keinem anderen Geschöpf gesagt werden kann.169 Die evangelische Sozialethik kritisiert deshalb den Kontextarmut der Prinzipienethik und betont die intuitiven Antworten der Menschen mit ihrem jeweils individuellen Zugang.170 Das Bewusstsein für die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen als auch der Abhängigkeit vom Willen und der Liebe Gottes bildet die Grundlage dieser Ethik. Konflikte werden weniger durch die Betonung der Objektivität, d.h. der Analyse und Anwendung von Prinzipien, gelöst, sondern vielmehr durch den Rekurs auf gemeinsame Empfindungen. Von besonderer Bedeutung sind hier die Empathie und alle Formen der persönlichen und liebevollen Zuwendung zum Kranken.171

Im folgenden Abschnitt soll nun dargestellt werden, inwiefern diese Beziehungsethik, als Ausprägung der evangelischen Sozialethik, Voraussetzung der Patientenautonomie ist.

168

Vgl. Härle, Ethik, 332-333. Vgl. Härle, Ethik, 263-264. 170 Vgl. dazu auch „Kasuistik“, Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 71-72; Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizin II, 110-112. 171 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 138-139. 169

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3.3.3. Die Arzt-Patient-Beziehung als Voraussetzung der Patientenautonomie Die Respektierung des Autonomieanspruchs des Patienten seit den 1960er Jahren ist eine unbedingte Bedingung für gutes und angemessenes ärztliches Handeln. So kann ohne Berücksichtigung der Selbstbestimmung, bis auf wenige Einzelfälle, kein ärztlicher Eingriff gerechtfertigt werden. Diese antipaternalistische Umorientierung wurde im exemplarischen Kontext der Aufklärung des kranken Menschen vor allem durch das Recht unterstützt. Besonders die Richter haben in vielen Urteilen die Verpflichtung des Arztes unterstrichen, den Patienten aufzuklären und damit dessen Individualrechte vom Grundsatz her über die Gewissensentscheidung des Arztes zu stellen. So ist also eine allgemein verständliche und umfassende Aufklärung zwingende Voraussetzung für einen rechtsgültigen informed consent des Patienten. Der Patient hat somit nicht nur das Recht, geplante ärztliche Eingriffe im Sinne eines negativen Abwehrrechts abzulehnen (Kapitel 3.2.3), sondern ihm wird vielmehr das weitergehende Recht auf ausführliche Information zugesprochen. Die Implementierung der Aufklärungspflicht jedoch nur als eine Folgeerscheinung rechtlicher Vorgaben verstanden zu wissen, kann unter Umständen dazu führen, den genuin ethischen Bedeutungen der Aufklärung durch eine gelingende Arzt-Patient-Beziehung nicht gerecht zu werden. So erhält man als Arzt allein durch das Gespräch die Chance, in eine vertrauensvolle Beziehung mit dem Patienten einzutreten, die diesen erst in die Lage versetzt, eine autonome Entscheidung zu treffen.172 Was aber macht eine wirklich autonome Handlung aus? Was muss im Aufklärungsgespräch berücksichtigt werden, damit der Patient in die Lage versetzt wird, als Folge dieses Gesprächs selbstbestimmt handeln zu können? Faden und Beauchamp nennen vier essentielle Voraussetzungen, die es diesbezüglich zu bedenken gilt.173

1. Urteilsfähigkeit (Kompetenz) Unter Urteilsfähigkeit versteht man die Fähigkeit, die wichtigen und relevanten Informationen des Aufklärungsgesprächs aufzunehmen und zu verarbeiten. Dabei kann man von Urteilsfähigkeit nur sprechen, wenn der Patient auch die Konsequenzen seiner Einwilligung überblickt. Nach Art. 16 ZGB ist urteilsfähig, wer die „Fähigkeit [hat] 172 173

Vgl. Maio, Mittelpunkt, 165; Logstrup, Ethische Forderung, 14-15. Vgl. Faden/Beauchamp, A History and Theory of Informed Consent.

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vernunftgemäss zu handeln“, d.h. wer seinen Verstand gebrauchen, Sachverhalte verstehen, Situationen einschätzen, Konsequenzen absehen, eine eigene Meinung bilden und gemäss der eigenen Meinung handeln kann. Die Urteilsfähigkeit ist dabei keine kategoriale Grösse, die man entweder hat oder nicht hat, sondern sie muss eher als graduelle Fähigkeit angesehen werden, die man in verschiedenen Abstufungen haben, aber auch wieder verlieren kann. So sind z.B. Kleinkinder noch nicht voll urteilsfähig.174 Damit stellt die Urteilsfähigkeit ein Prädikativum dar. Sie gilt immer nur in Bezug auf bestimmte Entscheidungen. Ein Kleinkind kann in Bezug auf die Therapieentscheidung zwar nicht einwilligungsfähig sein, es kann aber durchaus in der Lage sein, eine Entscheidung zu treffen, die weniger Abstraktionsvermögen erfordert und z.B. entscheiden, ob es ein bestimmtes Medikament lieber in Form von Tropfen, eines Zäpfchens oder als Tablette einnehmen möchte. Die Frage nach der Urteilsfähigkeit muss also immer in Bezug auf eine konkrete Massnahme gestellt werden. Zur Überprüfung solcher Fähigkeiten stehen bestimmte Untersuchungsmöglichkeiten zur Verfügung, wie z.B. das Aid to Capacity Assessment (ACE). Bei Unklarheiten kann der Sachverstand eines Psychiaters herangezogen werden.175 Bei minderjährigen, noch urteilsunfähigen Kindern, sind gemäss Art. 304 Abs. 1 ZGB die Eltern die gesetzlichen Vertreter ihres Kindes. Sie sind dabei an das Kindeswohl gebunden (Kapitel 4.1ff).

2. Verstehen (Aufgeklärtheit) Das Verstehen gehört zu den Kernvoraussetzungen einer autonomen Handlung. Dabei ist das Kriterium, an dem sich das Verstehen misst, nicht nur die Vollständigkeit der Informationen, sondern sie müssen auch korrekt, adäquat und relevant sein. Oftmals beschränken sich Ärzte auf rein medizinische Informationen und übersehen dabei, dass viele Patienten ihre Erkrankung im Zusammenhang mit ihren sozialen Implikationen sehen.176 So hat jeder Mensch, wie bereits in Kapitel 2ff erörtert, seine eigene Selbst-Wahrnehmung und sein eigenes Selbst-Empfinden. Die gleiche Krankheitsausprägung kann somit von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen und gewichtet werden, da die Widerstandsressourcen, wie sie Antonovsky177 be174

Dies trifft ebenfalls auf Patienten mit Alzheimer-Demenz und psychischen Erkrankungen wie z.B. Schizophrenie etc. zu. 175 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 145-146. 176 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 146. 177 Vgl. Antonovsky, Salutogenese; vgl auch Kapitel 2.1. und 2.4.

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schreibt, von Person zu Person unterschiedlich sein können und die Fähigkeit eines jeden Einzelnen, darauf zurückzugreifen, variieren kann. Diese Aspekte, nicht nur die medizinischen und technischen Details, müssen daher wesentliche Inhalte des Aufklärungsgesprächs sein. Nur so kann das Prinzip des Verstehens, das die evangelische Ethik fordert, im vollen Umfang verwirklicht werden.

3. Freiwilligkeit Die Zustimmung in eine ärztliche Behandlung muss freiwillig sein. Das bedeutet, sie darf in keinster Weise beeinflusst sein – weder durch ökonomische, noch durch psychologische Gesichtspunkte. Dazu zählen auch Beeinflussungen, die auf Rollenerwartungen zurückzuführen sind, wie z.B. Angst, den Arzt zu enttäuschen oder seine Zeit zu verschwenden. In besonderem Masse kann die psychologische Beeinflussung in der Pädiatrie hinsichtlich der Eltern-Kind-Beziehung eine besondere Rolle spielen. So ist es durchaus möglich, dass Kinder ihre Zustimmung nur geben, um die Erwartungen der Eltern nicht zu enttäuschen.178 Eine klare Grenze ist dort zu ziehen, wo der Patient zum Mittel von Interessen Dritter gemacht wird.179 Ein kritischer Grenzbereich ist dort erreicht, wo das Gespräch auf Überredung setzt. In diesem Fall hängt es vom Kontext ab, inwieweit die Einwilligung als Ausdruck einer Übernahme der Sichtweise Dritter zu betrachten ist. Dabei ist zu beachten, dass zwischen Überredung und Überzeugung unterschieden werden muss, wobei Letztere die freiwillige Übernahme fremder Ansichten impliziert.180 Basiert das Aufklärungsgespräch auf dem Moment des Überzeugens und nicht auf dem des Überredens, ist die Autonomie des Kranken nicht gefährdet.

Vor allem in der wunscherfüllenden Medizin muss hinsichtlich der Selbstbestimmung reflektiert werden, ob und inwieweit von selbstbestimmten Entscheidungen überhaupt die Rede sein kann, da sich viele Menschen einem gewissen Konformitätsdruck beugen. So muss immer kritisch nachgefragt werden, wie autonom jemand ist, der sich von aktuellen Modetrends leiten lässt und aus Angst vor sozialer Benachteiligung einen chirurgischen Eingriff in Kauf nimmt. Maio berichtet von einem achtjährigen Jungen, 178

Vgl. dazu Kapitel 5.2.2. Vgl. dazu Kapitel 3.2.2 und 5.2.2. 180 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 147. 179

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dessen Eltern den Arzt darum bitten, ihrem Sohn Wachstumshormone zu verschreiben, damit er schneller wachse. Den Hinweis des Arztes, Wachstumshormone werden nur verabreicht, wenn eine Erkrankung mit Wachstumshormonmangel vorliegt, weisen die Eltern zurück, indem sie erklären, dass sie beide kleinwüchsig seien und deshalb in ihrem Leben schon viele Nachteile erdulden mussten, die sie ihrem Kind ersparen wollen. Selbst wenn der Junge seine Einwilligung zu diesem Eingriff gäbe, darf doch daran gezweifelt werden, ob es sich tatsächlich um eine autonome Entscheidung handelt. So unterliegen gerade Kinder und Jugendliche als vulnerable Personen einem Anpassungsdruck unter Gleichaltrigen, der durch ästhetische Interventionen nicht gemindert, sondern eher noch verschärft wird.181

Selbstverständlich kann von Freiwilligkeit nur die Rede sein, wenn eine ausreichende Kenntnis der Handlungssituation und der alternativen Handlungsoptionen gegeben ist. Aus diesem Grund hängt die Freiwilligkeit eng mit der Aufgeklärtheit zusammen. Bei unvollständiger Aufgeklärtheit – und damit ist auch das das Nicht-Verstehen des Patienten infolge fehlender Empathie gemeint – kann von einer freiwilligen Zustimmung nicht die Rede sein.182 So betonte bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik, eine Handlung sei nur dann freiwillig, wenn zusätzlich zur Absicht hinzukomme, dass der Handelnde auch „alles Einzelne kennt in Bezug auf den Bereich der Handlung.“183

4. Wohlüberlegtheit (Authentizität) Als letzte Grundvoraussetzung für eine autonome Handlung ist die Wohlüberlegtheit zu nennen. So hat der Arzt immer zu überdenken und zu beurteilen, ob die Entscheidung des Patienten auch wirklich authentisch ist. Denn aus der elementaren gegenseitigen Abhängigkeit folgt die Forderung, das Leben des anderen zu schützen. Die gleiche Forderung schliesst aber aus, dass dieser Schutz nicht darin bestehen darf, dem anderen die Selbständigkeit zu entreissen und den Patienten erziehen oder gar bevormunden zu wollen. „Verantwortung für den anderen zu tragen, kann niemals darin bestehen, die Verantwortung des anderen zu übernehmen.“184 Keinesfalls darf das Kriterium der Authentizität so verstanden werden, dass Entscheidungen, die aus Sicht des Arztes 181

Vgl. Maio, Mittelpunkt, 323-235. Vgl. Maio, Mittelpunkt, 147. 183 Aristoteles, NE, 1111a. 184 Logstrup, Ethische Forderung, 30. 182

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unvernünftig erscheinen, deshalb für unerheblich erklärt werden. Wohl aber ist der Arzt verpflichtet, kritisch nachzuhaken.

3.3.4. Ethische Entscheidungsfindung Aufbauend auf diesen vier Grundvoraussetzungen wurde von Frau Baumann-Hölzle, in Anlehnung an die Diskursethik, ein ethisches Entscheidungsmodell in sieben Schritten185 entworfen, um eine für den Patienten angemessene Entscheidung bei ethischen Dilemma-Situationen186 bzw. Handlungskonflikten187 zu treffen. So soll dem urteilsfähigen Patienten, dessen gesetzlichen Stellvertreter oder seinen Bezugspersonen ein ethisch reflektierter Vorschlag unterbreitet werden, dessen Entscheid begründet werden muss. Die sich anschliessende Entscheidungsfindung durch den Patienten bzw. seine Bezugsperson darf durch unterschiedliche Einzelmeinungen der Behandelnden und Betreuenden nicht beeinflusst werden. Ist der Patientenwille eines urteilsunfähigen Kindes nicht ermittelbar, muss stellvertretend für dieses entschieden werden. Diese stellvertretenden Entscheide des nicht urteilsfähigen Patienten bedürfen stets eines interdisziplinären Austausches, um den mutmasslichen Willen des Patienten feststellen zu können.188 Zu berücksichtigen sind dabei unter anderem verbale oder averbale Äusserungen des Kindes hinsichtlich anstehender Therapieentscheidungen, Äusserungen von Bezugspersonen über den mutmasslichen Kindeswillen oder gegebenenfalls Überlegungen dazu, wie das Kind bisher in vergleichbaren Situationen entschieden hat.189

Die Respektierung der Autonomie bzw. Selbstbestimmung des Patienten stellt also eine grundlegende Maxime ärztlichen Handelns dar. Wie die vorangegangenen Erläuterungen verdeutlicht haben, darf die Autonomie aber nicht in einem solipsistischen 185

Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 75-87; Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizin II, 120-130; Dialog Ethik, Interdisziplinärer Entscheidungsfindungsprozess. 186 Dialog Ethik, Interdisziplinärer Entscheidungsfindungsprozess, 5: eine ethische Dilemma-Situation liegt vor, wenn zwei der vier bioethischen Prinzipien: „Autonomieprinzip, Prinzip nicht zu schaden, Prinzip Gutes zu tun, Gerechtigkeitsprinzip“ […] „in Gegensatz zueinander stehen und dass man, was immer man tut, eines der Prinzipien verletzt wird.“ 187 Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 69-71; Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik II, 108-110. 188 Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 75; Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizin II, 120-121. 189 Vgl. Dialog Ethik, Interdisziplinärer Entscheidungsfindungsprozess, 4-5.

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Sinne verstanden werden, deren Respektierung gleichzusetzten ist mit der schematischen Bestimmung eines Patientenwillens. Dies würde nämlich bedeuten, den schwerkranken Menschen in seiner Freiheit allein zu lassen. Die Betonung einer solch liberalistischen Vorstellung als reines Abwehrrecht wäre eine verschleierte Form von Gleichgültigkeit und mit dem evangelischen bzw. lutherischen Freiheitsverständnis, wie es in Kapitel 3.3.1 dargestellt wurde, nicht zu vereinbaren.

Besondere Bedeutung kommt, wie bereits angesprochen, dem normativen Autonomieanspruch des Kindes zu. Im Folgenden soll nun näher darauf eingegangen werden.

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III. Das Kind als Patient In der Pädiatrie stellen sich im medizinischen Umgang mit Minderjährigen ganz spezifische ethische Probleme. Die Folgewirkungen des ärztlichen Tuns sind wesentlich weitreichender als in der Erwachsenenmedizin, da durch Behandlung und Betreuung möglicherweise Einfluss auf die Entwicklung des Kindes genommen werden kann, welche wiederum, unter Umständen, irreversible Auswirkungen auf das gesamte künftige Leben haben könnte. Die ethische Entscheidungsfindung in der Pädiatrie vor den Möglichkeiten einer hochspezialisierten Medizin, bei der das individuelle Kindeswohl im Vordergrund stehen soll, ist daher von besonderer Wichtigkeit. Sie ist als ein Prozess zu verstehen, der alle Personen mit einbezieht, die an der Betreuung des Kindes beteiligt sind. Neben Eltern, Ärzten, Ärztinnen und Pflegepersonal zählen dazu gegebenenfalls auch Sozialarbeiter, Psychologen, Seelsorger, Krankengymnasten etc.190 Durch die Einbeziehung des grösseren Personenkreises können zusätzliche Konflikte entstehen, da die moralischen Intuitionen der einzelnen Beteiligten voneinander abweichen können. So müssen sich z.B. die Wertmassstäbe der Eltern nicht immer mit denen des medizinischen Personals decken. Eine Ethikberatung in konfliktträchtigen Situationen ist daher oft notwendig. Konkret stellt sich dabei immer die Frage, inwiefern man dem minderjährigen Kind Autonomie bzw. Beteiligungsautonomie zubilligen kann und welche Voraussetzungen dafür notwendig sind, muss doch, wie bereits in Kapitel 3.2.3 erläutert, zwischen dem normativen Würde- und Autonomieanspruch, welcher völlig unabhängig von den Fähigkeiten und Eigenschaften des Kindes ist, und den konkreten empirischen Autonomiefähigkeiten des Kindes unterschieden werden. Zwar gilt auch für bereits einwilligungsunfähige Jugendliche der informed consent191, da das Kind in seiner grundsätzlichen Unverfügbarkeit respektiert werden muss, allerdings lässt sich das Prinzip des Respekts der Autonomie des Erwachsenen nicht einfach auf das Kind übertragen. So ergeben sich im Umgang mit urteilsunfähigen Kindern andere Verpflichtungen als nur das Gewähren von Freiheitsräumen, da das urteilsunfähige Kind zur Formulierung des autonomen Willens noch nicht vollumfänglich fähig ist. Der Schwerpunkt der kindorientierten Medizinethik muss also darin liegen, das Kind primär nicht als Freiheitsträger zu betrachten, sondern in erster Linie als Interessenträger zu sehen, als welcher es vornehmlich zu schützen gilt. Der Respekt vor dem Kind, der sich aus der 190 191

Vgl. von Siebenthal/Baumann-Hölzle, Ein interdisziplinäres Modell. Vgl. Maio, Mittelpunkt, 267.

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Gleichheit Erwachsener und Kinder coram deo ableiten lässt, lässt sich also letztendlich als solchen um die Sorge des Kindeswohls erreichen. Diese Sorge impliziert den Schutz der Interessen und zugleich die Anerkennung des Kindes als einer „unverwechselbaren, einzigartig wertvollen, und zugleich unverfügbaren Person“192. Während also gemäss Art. 19c ZGB urteilsfähige Minderjährige höchstpersönliche Rechte selbst wahrnehmen und somit selbst über ihre Behandlung bzw. ihren Behandlungsabbruch entscheiden, sind für das minderjährige, noch urteilsunfähige Kind gemäss Art. 304 Abs. 1 ZGB die Eltern deren gesetzliche Vertreter. Dabei sind sie bei ihren Entscheidungen gemäss Art. 301 Abs. 1 an das Kindeswohl gebunden.193 Was aber genau bedeutet Kindeswohl bei urteilsunfähigen, minderjährigen und hospitalisierten Kindern, für die eine spezielle medizinische Behandlung oder gegebenenfalls ein lebenserhaltender Therapieabbruch in Frage kommt? Fragt man nach Konkretionen aus diesen ethischen Überlegungen, hat man zwischen drei Ebenen zu unterscheiden194: • • •

Makroebene (politischer Bereich: KVG, IV, Kinder- und Erwachsenenschutzrecht, nationale Organisationen, UNICEF, UN-KRK, etc.) Mesoebene (Ärzte, Therapeuten, Pflegepersonal, Psychologen, Sozialarbeiter, Krankenversicherer, etc.) Mikroebene (minderjährige (urteilsunfähige) Kinder, Eltern, Geschwister, etc.)

Im Folgenden wird in einem ersten Schritt auf die Makroebene Bezug genommen. Es wird vor allem auf die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) und deren Ausarbeitung der Zentralnorm des Kindeswohls, die sich wiederum in drei kinderrechtlichen Basisnormen verwirklicht, eingegangen. Im Anschluss daran werden dann auf der Mikround der Mesoebene die Wertvorstellungen des Begriffs des Kindeswohls erfasst und erörtert, welche Anforderungen sich hinsichtlich des Kindeswohls sowohl an alle Personen, die an der Betreuung des Kindes beteiligt sind als auch an die medizinischen Einrichtungen stellen. Dem folgt abschliessend eine theologisch-ethische Reflexion.

192

Maio, Mittelpunkt, 270. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.3.3. (Urteilsfähigkeit (Kompetenz)) und Kapitel 5.2ff. 194 Vgl. Eibach, Menschenwürde, 204f. 193

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4. Kindeswohl auf der Makroebene – UN-Kinderrechtskonvention Seit 1989 ist die UN-Kinderechtskonvention auf völkerrechtlicher Ebene zentraler Bezugspunkt kinderrechtlicher Argumentation. Als gültiger Ausdruck einer angemessenen ethischen Haltung gegenüber Kindern wird sie auch von unterschiedlichen Gruppen und Verbänden der Zivilgesellschaft akzeptiert. Als Kind wird dabei nach UN-KRK Art. 1 derjenige Mensch definiert, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und nach einzelstaatlichem Recht noch nicht volljährig ist. Das normative Zentrum195 der UN-KRK stellt Art. 3, Abs. 1 dar: „Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“196

Demnach darf das Kindeswohl in keinem Bereich von Staat und Gesellschaft, auch nicht im Gesundheitswesen, einem vermeintlich höherrangigen Ziel untergeordnet werden. Gemäss Art. 12 der UN-KRK muss die Meinung des Kindes in allen Angelegenheiten, die es betreffen, „angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“ berücksichtigt werden. Damit kommt ein grundlegender Paradigmenwechsel zum Ausdruck, der von dem Leitbild einer fürsorglichen Betreuung oder Behandlung des Kindes, als eines kindlichen Objekts hin zu einer subjektorientierten Partizipation des Kindes an sozialen Gütern geführt hat. Die bewusste Wahrnehmung der Wandlung des Konzeptes von Kindheit entspricht den Voraussetzungen der Moderne, die vom Autonomieanspruch des Menschen geprägt ist (Kapitel 3.2). Dieser Paradigmenwechsel vollzog sich in den Einzelrechten der UN-KRK vor allem in den Freiheits-, Anspruch- und Beteiligungsrechten, die dem Kind selbst unmittelbar in einem Umfang zugestanden wurden, der sich von demjenigen Recht Erwachsener prinzipiell nicht unterschied. So wurden dem Kind grundsätzlich dieselben Rechte wie dem Erwachsenen, unter anderem das Recht auf Zugang zu Medien und Informationen (Art. 13/17), das Recht auf Gesundheitsdienste (Art. 24/25, 39) sowie Leistungen der sozialen Sicherheit (Art. 26) zugestanden. Unterschiede, die in der Umsetzung und Reichweite der Freiheits- und Anspruchsrechte auftraten, wurden mit dem spezifischen Schutzanspruch des Kindes begründet. So durchlaufe das Kind gemäss Art. 27, Abs. 1 eine körperliche, geistige,

195 196

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 75. UN-KRK, Art 3, Abs. 1.

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seelische, sittliche und soziale Entwicklung. Nach Art. 27, Abs. 2 ist es primär die „Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen.“ Art. 3 gewährt dem Kind in Abs. 2 nach wie vor „den Schutz und die Fürsorge […] die zu seinem Wohlergehen notwendig sind.“

4.1.

Zentralnorm des Kindeswohls

Die UN-KRK enthält also nicht nur eine blosse Auflistung von Einzelrechten, sondern darüber hinaus auch eine konsistente, normative Ausrichtung, wobei Art. 3 Abs. 1 mit seiner Zentralnorm des Kindeswohls unbestritten das normative Zentrum darstellt.197 Was aber versteht man genau unter der vorrangingen Ausrichtung am Kindeswohl? Noch Ende des 19. Jahrhunderts war der Begriff Kindeswohl sehr eng – kinderrechtlich engagierte Kritiker fanden zu eng – mit dem paternalistischen Schutzgedanken verbunden. Daher schlug man vor, sich an der englischen Fassung von Art. 3 UN-KRK zu orientieren, in der von „best interests of child“ die Rede ist. Man ging davon aus, der Begriff des Kindesinteresses enthalte eine subjektive Komponente und könne damit das Anliegen der Kinderrechte besser zum Ausdruck bringen. In medizinischen Schriften und Richtlinien wird im medizinischen Kontext der Best-Interest Standard als handlungsleitendes Prinzip genannt.198 Demnach ist „moralisch gerechtfertigt [ist] gemäss dem Prinzip des besten Interesses die Entscheidung für diejenige Therapieoption, die für das minderjährige urteilsunfähige Kind den Netto-Nutzen maximiert.“199 Was genau bedeutet dies aber im Einzelnen? Was versteht man unter besten Interessen? Buchanan, Brock, Dörries, Beauchamp und Childress machen sehr allgemeine Angaben zur Bestimmung des Best-Interest Standard, wie die Vermeidung von Schmerzen, Leiden, Behinderung und Tod oder die Wiederherstellung der körperlichen Funktionalität.200 Angaben über spezifisch kindliche Interessen, wie die Entwicklung einer Identi-

197

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 77. Vgl. Beauchamp/Childress, Principles; Buchanan/Brock, Deciding; Schulz-Baldes, Therapiebegrenzung; 88; American Academy of Pediatrics, Guidelines; Dörries, Der Best-Interest Standard, 116-129. 199 Schulz-Baldes, Therapiebegrenzung, 90; vgl. auch Buchanan/Brock, Deciding, 123, Beauchamp/Childress, Principles, 102 und Dörries, Der Best-Interest Standard, 118. 127. 200 Vgl. Buchanan/Brock, Deciding, 122; Beauchamp/Childress, Principles, 102; Dörries, Der Best-Interest Standard, 117-118. 198

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tät oder die Möglichkeit der Selbstverwirklichung fehlen jedoch.201 Eine weitere Frage bei der Bestimmung des Best-Interest Standard ist, ob die Beurteilung der Belastungen nur auf die physiologischen Leiden des Kindes begrenzt werden sollen, oder ob nicht auch die Gesamtsituation inklusive der psychischen Konsequenzen der Familie miteinbezogen werden müssten.202 In Fachkreisen wird der Best-Interest Standard immer wieder als zu vage und dehnbar kritisiert. Ferner sei das Prinzip nicht sinnvoll, da es das „Maximale und absolut Beste“203 von den Entscheidungsträgern verlange und somit zu Überforderung führe. Ausserdem ist der Rückgriff auf die englische Fassung auch dahingehend nicht sehr überzeugend, als im deutschsprachigen Raum der Begriff Interesse eng mit der „Rechtsschule der Interessenjurisprudenz“204 verbunden ist und somit ungewollte Konnotationen enthält.205 Ethisch dagegen besteht die Gefahr, dass er ähnlich wie im angelsächsischen Präferenzutilitarismus, sehr einseitig interpretiert wird.206 Die amtliche deutsche Übersetzung der UN-KRK hat sich deshalb für den Begriff Kindeswohl entschieden. Der Begriff ist dabei als ein „offener, unbestimmter Rechtsbegriff, der viel Spielraum für den Einzelfall lässt“207 und keinesfalls auf die frühere einseitige Verbindung mit dem Schutzgedanken festgelegt ist, zu verstehen. Art. 302 ZGB beinhaltet folgende Kerndefinition: „Förderung und Schutz der körperlichen, geistigen und sittlichen Entfaltung“, womit implizit gesagt wird, dass es bei der Ausübung der Elternsorge primär nicht um die Interessen der Eltern, sondern um diejenigen des Kindes gehen soll.208 Eine grosse Rolle spielen dabei auch emotionale, persönliche, kulturelle und soziale Aspekte. Weiterhin gilt zu bedenken, dass der Begriff Kindeswohl sowohl die Gegenwarts- als auch die Zukunftsperspektive beinhaltet. Gemäss UN-KRK Art. 12 muss auch „entsprechend seinem Alter und seiner Reife“, der Kindeswille berücksichtigt werden. Mit diesen Punkten wird nun eine subjektive Komponente in das Verständnis des Kindeswohls hineingetragen. Somit sind im Konzept des Kindeswohls sowohl die objektive Tradition des Wohlergehens in Form von Schutz und Fürsorge als auch die subjektive Tradition des Wohlbefindens des Kindes eine untrennbare Ver-

201

Vgl. Schulz-Baldes, Therapiebegrenzung, 91. Vgl. Dörries, Der Best-Interest Standard, 118. 127. 203 Archard, Children’s Rights, 22f. 204 Surall, Ethik des Kindes, 77. 205 Vgl. Krawietz, Art. Interessensjurisprudenz, 494ff. 206 Vgl. Singer, praktische Ethik. 207 Michel, Kindeswohl, 5. 208 Vgl. auch BGB §§ 1626 III, 1666 I. 202

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knüpfung eingegangen.209 Im Folgenden sollen nun diese beiden Komponenten, die dieser Begriff durchaus spannungsvoll in sich vereint, anhand drei kinderrechtlicher Basisnormen, in denen sich das Kindeswohl verwirklicht, konkretisiert werden. Diese Normen: Schutz, Beteiligung und Förderung hat sich auch die NC (National Coalition) für die Umsetzung der UN-KRK in Deutschland zu eigen gemacht und betonte ausdrücklich, dass „Schutz, Förderung und Beteiligung […] in ihrer Gesamtheit die Achtung der Würde des Kindes wiederspiegeln.“210 Die Schutznorm stellt dabei die objektive Komponente dar, Beteiligung bzw. Partizipation dagegen die innovative, subjektive Komponente. Für letztere ist dabei die Fördernorm unverzichtbar.

4.1.1. Basisnorm Beteiligung Unter dem Begriff Beteiligung oder Partizipation211 versteht man im Zusammenhang mit den kinderrechtlichen Basisnormen in erster Linie die aktive Teilnahme an Entscheidungsprozessen und in abgeleiteter Weise die Teilhabe an bestimmten Gütern. So können Eltern ihr Kind passiv an Gütern teilhaben lassen, indem sie es z.B. mit Nahrung versorgen, aber erst wenn das Kind Auswahl, Menge und Zeitpunkt mitbestimmen kann, kommt eine subjektive Beteiligung zustande. Eine subjektive Partizipation des Kindes an bestimmten Entscheidungsprozessen erfordert die Übernahme von Eigenverantwortung und muss daher hinsichtlich ihrer Reichweite differenziert werden. Sozialpädagogisch lassen sich dabei verschiedene Stufen der Verteilung von Kontrollrechten ausmachen: 1. „Der Erwachsene entscheidet autonom. 2. Der Erwachsene entscheidet autonom, hat aber eine Anhörungspflicht gegenüber dem Kind. 3. Der Erwachsene entscheidet, das Kind hat ein Vetorecht. 4. Der Erwachsene und das Kind müssen eine Entscheidung im Konsens treffen. 5. Das Kind entscheidet, der Erwachsene hat ein Vetorecht. 6. Das Kind entscheidet autonom, hat aber eine Anhörungspflicht gegenüber dem Erwachsenen. 7. Das Kind entscheidet autonom.“212

Nur bei den Stufen 2 bis 6 handelt es sich um Beteiligung. Art. 12 UN-KRK bestimmt dabei, dass die Eltern die „wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kin-

209

Vgl. Stuhlinger, Das Kindeswohl,154. 159. NC, Kinderrechte sind Menschenrechte, 17. 211 Dieser Begriff setzt sich aus dem lateinischen pars für Teil und capere für nehmen zusammen. 212 Aufstellung nach Blandow et al., in: Kriener Beteiligung, 134; vgl. auch Zitelmann, Kindeswohl, 235ff. 210

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des zu selbstständigen verantwortungsbewussten Handeln“ zu berücksichtigen und einvernehmliche Lösungen anzustreben haben. Der Grad der Einschränkung der Erziehungsautonomie kann dabei unterschiedlich sein. In konkreten Einzelfällen ist daher immer zu klären, welche Reichweite die Partizipation von Kindern hat und haben soll.213 Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei die Abwägung zwischen Beteiligung und Schutz des Kindes. So kann es vorkommen, dass der Kindeswille mit den objektiven Kriterien des Kindeswohls in Konflikt gerät und in manchen Fällen zu einem selbstschädigenden Verhalten des Kindes führen kann.214 Der Wille des Kindes hat zwar Priorität, ihm kommt jedoch keine unumschränkte Geltung zu, wenn er seinem eigenen Interesse zuwiderläuft. Insofern übernimmt, unter bestimmten Umständen, das Kindeswohl im Sinne des objektiven Wohlergehens eine Ersatzfunktion für den subjektiven Kindeswillen.215 Die subjektive Basisnorm Beteiligung muss also durch die Basisnorm Schutz, welche die objektive Dimension des Kindeswohls repräsentiert, ergänzt werden.

4.1.2. Basisnorm Schutz Der Schutz hat im Allgemeinen die Sicherheit des Kindes zum Ziel, schränkt aber seine Autonomie ein. Die Schutznorm führt jedoch nur dann zu einem problematischen und paternalistischen Kinderschutz, wenn sie absolute Geltung hat. Dies ist durch die Anwendung der Beteiligungsnorm nicht der Fall. Insofern wird der Schutz im Kontext der kinderrechtlichen Basisnormen relativiert und ein paternalistisches Verständnis, wie es noch bis Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschte, ausgeschlossen. Schutz und Beteiligung stellen gleichrangige Basisnormen dar. Die Partizipation des Kindes hängt dabei gemäss UN-KRK Art. 12 von der Entwicklung, Reife und Verantwortungsfähigkeit des Kindes ab. Schutz und Beteiligung müssen in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden. Ein solch relativierter Schutz wird zur unverzichtbaren Voraussetzung einer altersgemässen Partizipation des Kindes. Eine ungeschützte Beteiligung an allen Prozessen des Erwachsenenlebens würde das Kind nur überfordern und es schlimmstenfalls gefährden, instrumentalisieren und ausbeuten.216 213

Vgl. dazu Kapitel 3.3.3 (Urteilsfähigkeit) und Kapitel 5.2ff. Vgl. Zitelmann, Kindeswohl, 301ff; Dettenborn, Kindeswohl und Kindeswille, 60ff. 215 Vgl. Zitelmann, Kindeswohl, 118ff. 169ff. 216 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 82-84. 214

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Prinzipiell entscheiden die Eltern, was zum Wohle ihres minderjährigen, urteilsunfähigen Kindes ist. Um die Elternautonomie weitestgehend zu respektieren, greift der Staat erst bei Gefährdung des Kindeswohles ein.217 Dieses liegt dann vor, wenn die basic needs, die von der UN-KRK festgelegt wurden, verletzt werden bzw. „wenn nach den Umständen die ernstliche Möglichkeit einer Beeinträchtigung des körperlichen, sittlichen und/oder psychischen Wohls des Kindes vorherzusehen ist.“218 Die basic needs sind: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Ernährung und Versorgung Erhaltung der Gesundheit Schutz vor Gefahren Zuwendung und Liebe Stabile Bindung Vermittlung von Wissen und Erfahrungen

Die Ursachen der Gefährdung sind dabei unerheblich. Können oder wollen Eltern keine oder nur ungeeignete Massnahmen zum Schutz ihrer minderjährigen, urteilsunfähigen Kinder treffen, führt dies zu einem behördlichen Eingreifen (Subsidiaritätsprinzip). Interessenskollisionen haben dabei nach 306 ZGB einen Wegfall der elterlichen Vertretungsrechte zur Folge. Ob eine Interessenskollision vorliegt, ist allerdings – gemäss ZGB 392 Ziff. 2 – „abstrakt und nicht korrekt zu bestimmen“.

Um nun die Beteiligungsnorm entsprechend auszuschöpfen, bedarf es, wie bereits in den basic needs verankert, der Vermittlung von Wissen und Erfahrungen.219 Daher ist die dritte, nämlich die Fördernorm von grosser Wichtigkeit.

4.1.3. Basisnorm Förderung In den UN-KRK wird kindliches Leben dynamisch als in Entwicklung begriffenes Leben verstanden. Das angeborene Recht auf Leben (Art 6, Abs. 1) reicht dabei weit über das hergebrachte Verständnis als Schutzrecht hinaus. So beinhaltet es nicht nur den Anspruch, „in grösstmöglichen Umfang“ das blosse „Überleben“, sondern darüber hinaus in gleicher Weise „die Entwicklung des Kindes“ zu gewährleisten (Art. 6, Abs. 2). Beides steht dabei in einem engen Zusammenhang: Der Schutz des Lebens ist unabdingbare 217

Vgl. Michel, Kindeswohl, 7. Michel, Kindeswohl, 7. 219 Vgl. dazu auch Kapitel 5.3. 218

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Voraussetzung dafür, dass eine Entwicklung des Kindes stattfinden kann, die wiederum Gegenstand der Förderung ist. Förderung muss dabei immer, ethisch als auch pädagogisch, auf das Ziel einer umfassenden Beteiligung des Kindes an allen anfallenden Entscheidungssituationen ausgerichtet sein. Eine solche Förderung unter dem normativen Primat der Partizipation als auch unter Berücksichtigung des notwendigen Schutzes vor Überforderung erfordert immer so viel Anregung durch die Eltern oder andere Bezugspersonen wie nötig und so viel Begleitung der Eigeninitiative des Kindes wie möglich.220 Als allgemeines materiales Förderrecht enthält die UN-KRK vor allem in Art. 28 das Recht auf Bildung, deren Ziele explizit in Art. 29 angeführt sind. In Art. 23 wird geistig und körperlich behinderten Kindern die Förderung der Selbständigkeit und die Erleichterung der „aktive[n] Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“ zugesagt. Grundlegend richtet Art. 18 Abs. 1 die kindliche Entwicklung auf das normative Zentrum des Kindeswohls nach Art. 3 aus: „Für die Erziehung und Entwicklung des Kindes sind in erster Linie die Eltern oder gegebenenfalls der Vormund verantwortlich. Dabei ist das Wohl des Kindes ihr Grundanliegen.“ Indem nun das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt gestellt wird, wird die in Art. 5 zugestandene und sogar zur Pflicht erklärte elterliche Führung des Kindes von blosser Willkür abgegrenzt. Der Förderung kommt also insofern eine zentrale Bedeutung zu, als Schutz und Beteiligung ohne die verbindende Dynamik der Förderung isolierte, wenn nicht gar antagonistische Prinzipien blieben.

5. Kindeswohl im Spannungsfeld der drei Basisnormen auf der Mikro- und Mesoebene Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene stellt Gesundheit ein Handlungsfeld dar, in dem Kinderrechte primär umgesetzt werden sollen.221 So enthält auch die UN-KRK in Art. 24 das Recht auf Gesundheitsversorgung (Kapitel 4).222 Art. 24 Abs. 1 lautet: „die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit.“ Auf diesen 220

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 84-86. Vgl. Annan, We the children, Der Report We the children des UN-Generalsekretärs aus dem Jahr 2001 nannte die drei Grossbereiche 1) Health, nutrition, water and sanitation, 2) Education and literacy, 3) Children´s protection and civil rights. 222 Wie in den Kapiteln 2ff ausführlich dargestellt, ist es nicht möglich, den Gesundheitsbegriff klar zu definieren, weshalb ich hier und im Folgenden vom Kinderrecht auf Gesundheitsversorgung, nicht dem Recht auf Gesundheit spreche. 221

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Artikel beziehen sich die EACH-Charta und die Deklaration des Weltärztebundes (WMA), die sich für das Wohl kranker Kinder einsetzen. Die Rezeption des Kinderrechts auf Gesundheitsversorgung und damit verbunden die Reflexion des Begriffs des Kindeswohls muss dabei im Spannungsfeld der drei Basisnormen erfolgen. So nähme z.B. aus theologischer Perspektive die einseitige Orientierung am Schutz des Kindes die Gleichheit von Kindern und Erwachsenen coram deo nicht ernst genug. Eine einseitige Ausrichtung an der Beteiligung des Kindes wäre dagegen „als schwärmerische Identifizierung der Verhältnisse coram deo mit denjenigen coram hominibus zu qualifizieren und entsprechend abzulehnen“223. Eine einseitige Förderung würde Schutz und Beteiligung, die aktuell notwendig sind, ignorieren.224

In den folgenden Kapiteln soll nun, unter Einbeziehung aller bisherigen Kapitel, auf der Mikro- und der Mesoebene der Begriff des Kindeswohls im Kontext der hochspezialisierten Medizin bestimmt und untersucht werden, welche Anforderungen die jeweiligen Basisnormen, in denen sich das Kindeswohl verwirklicht, sowohl an die an der Behandlung und Betreuung des Kindes beteiligten Personen als auch an die medizinischen Institutionen stellen und welche Probleme sich aus individual- und sozialethischer Perspektive ergeben können. Dieser Untersuchung liegt primär die EACH-Charta zu Grunde.

Themenbereiche, die in globaler Hinsicht beim Kinderrecht auf Gesundheitsversorgung vordringlich sind, wie: medizinische Grundversorgung, Zugang zu sauberen Wasser, ausreichende Nahrung, Bekämpfung von AIDS etc. können in dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden. Ich beschränke ich mich daher, um deren Rahmen nicht zu sprengen, auf die westlichen Industriestaaten, insbesondere auf die Schweiz und auf Deutschland.

223 224

Surall, Ethik des Kindes, 276. Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 275-276.

56

5.1.

Schutznorm

Eine grundlegende Besonderheit der Situationen des Kindes im Gesundheitswesen leitet sich aus seinem Bedürfnis ab, Beziehungen zu seinen Mitmenschen einzugehen und zu gestalten. So ist ein Kind wesentlich stärker auf die Stabilität seiner Umweltstrukturen angewiesen als ein Erwachsener. Gemäss zwei führenden Pädiatern und Kinderpsychologen in den USA rangiert das „Bedürfnis nach beständigen, liebevollen Beziehungen“225 unter sieben Grundbedürfnissen von Kindern, die sie zusammengestellt haben, an erster Stelle. Während man bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts primär die Folgen langdauernder Krankenhausaufenthalte in den Blick nahm, stellte man ab den 60er Jahren verstärkt auch psychische Deprivationen und psychosomatische Symptome infolge Kurzklinikaufenthalten bei Kindern fest.226 Der weite Gesundheitsbegriff der WHO (Kapitel 2; 2.1), der trotz Kritik infolge seines problematischen Maximalismus weitestgehend akzeptiert ist, bezieht aber auch das geistige und soziale Wohlbefinden mit ein. Demnach erfasst das Kinderrecht auf Gesundheitsversorgung als Schutzanspruch nicht nur den Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes, sondern auch den Schutz seiner einzigartigen Beziehungsmuster, in welchen sich seine geistig-soziale Konstitution niederschlägt. Dieser multifaktorielle Schutz begründet den Vorrang 1) ambulanter und häuslicher Versorgung, 2) der Aufrechterhaltung der Beziehungen des Kindes im Spital und 3) der Notwendigkeit der personellen und institutionellen Spezialisierung.227

5.1.1. Schutz durch den Vorrang häuslicher und ambulanter Versorgung Artikel 1 der EACH-Charta lautet: „Kinder sollen nur dann in ein Krankenhaus aufgenommen werden, wenn die medizinische Betreuung, die sie benötigen, nicht ebenso gut zu Hause oder in Tagespflege erfolgen kann.“ Eine ähnliche Bestimmung enthält auch Grundsatz Nr. 19 der Deklaration des Weltärztebundes (WMA). Selbstverständlich dürfen Krankheiten nicht bagatellisiert werden. Es gibt natürlich Fälle, bei denen eine Aufnahme in ein Spital unumgänglich ist. Es gilt jedoch immer abzuwägen, wann 225

Brazelton/Greenspan, zur besonderen Bedeutung, 31ff; vgl. dazu auch Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 235-237. 290-297; Dialog Ethik/Kalbermatten, Inhaltliche Bestimmung des Kindeswohl aus ethischer Sicht und die basic needs der UN-KRK. 226 Vgl. Caviezel-Hidber, Lieber schnell und schmerzhaft?, 16. 227 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 277.

57

ein Klinikaufenthalt von Nöten ist und wann nicht.228 So haben sich die Möglichkeiten ambulanter und teilstationärer Versorgung, verknüpft mit dem Angebot häuslicher Krankenpflege, in den letzten Jahren deutlich verbessert.229 Als eine Ursache ist allerdings auch der latente ökonomische Druck infolge der tarifwirksamen DRG-Einführung in der Schweiz am 01. Januar 2012 zu nennen, der die Entwicklung kostengünstigerer Alternativen im Vergleich zu teuren Klinikaufenthalten fördern soll. Zwar weisen der Zwang zu sparen und die ethische Norm, dem Bedürfnis des Kindes nach Stabilität im sozialen Umfeld nachzukommen, in die gleiche Richtung, es gilt aber zu bedenken, dass eine rein ökonomisch motivierte Entscheidung für eine ambulante oder teilstationäre Behandlung ebenso im Widerspruch zum Kinderrecht auf Gesundheitsversorgung steht wie ein ungerechtfertigter Klinikaufenthalt. Die Zweckmässigkeit der für das Kind gewählten Betreuungsform muss immer individuell geprüft und abgewogen werden. Auch wenn ethisch gesehen den kindlichen Sozialbeziehungen besondere Aufmerksamkeit zukommen muss, heisst das nicht automatisch, dass grundsätzlich ambulant durchführbare Eingriffe auch immer nur ambulant durchgeführt werden sollten. Sind z.B. nach einem Eingriff längere Beobachtungszeiten und/oder Bettruhe nötig, kann es sinnvoller sein, sich für einen stationären Aufenthalt zu entscheiden, da, abhängig von Alter und Reifegrad, noch nicht jedes urteilsunfähige, minderjährige Kind die Verantwortung für sich selbst übernehmen kann. Oft ist es noch nicht in der Lage, die entsprechende Selbstdisziplin aufzubringen. Aufgrund fehlenden medizinischen Sachverstandes, auf entsprechende Symptome zu achten, besteht zudem die Gefahr, gesundheitliche Risiken einzugehen.230 Auch die Tatsache, dass inzwischen immer mehr Kinder zwei erwerbsstätige Elternteile haben und Familien oftmals auf zwei Einkommen angewiesen sind, kann dazu führen, dass die häusliche Pflege nicht ausreichend sichergestellt werden kann. Nach Art. 36, Abs. 3 des Arbeitsgesetzes ist der Arbeitgeber in der Schweiz lediglich verpflichtet, für die Betreuung kranker Kinder drei arbeitsfreie Tage pro Krankheitsfall zu gewähren. Sonderlösungen sind zwar möglich, oft entstehen aber, z.B. infolge unbezahlten Urlaubs, finanzielle Engpässe und in manchen Fällen gar das Risiko des Jobverlustes. Bei der Frage, wie die Gesundheit des Kindes in ihrer „so-

228

Vgl. dazu auch Staubli, Sterbehilfe, 3. Vgl. Kind und Spital, ein Kind ist krank – was braucht die Familie?, 2. 230 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 278-279. 229

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matischen, psychischen und sozialen Dimension am besten geschützt werden kann“231, ist neben dem medizinischen Sachverhalt auch die häusliche Situation und das Alter bzw. der Reifegrad des Kindes zu berücksichtigen. Medizinische Indikation und psychosoziale Faktoren sind also gegeneinander abzuwägen.

5.1.2. Schutz durch die Aufrechterhaltung der Beziehungen des Kindes im Krankenhaus Oftmals ist es unumgänglich, ein Kind ins Spital einzuweisen. In diesem Fall muss alles dafür getan werden, den Fortfall des familiären und sozialen Beziehungsfeldes zu kompensieren. Vertraute Beziehungen sind soweit als möglich aufrechtzuerhalten. Dieser Tatbestand erfordert eine möglichst flexible Besuchsregelung. So wurde bereits vor über 40 Jahren ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Besuchen und der Vermeidung von Verhaltensstörungen festgestellt.232 Selbstverständlich müssen im Einzelfall, im Sinne der Schutznorm, Beschränkungen vorgenommen werden, wenn ein Besuch dem Wohl des Kindes schaden könnte. Diese Entscheidung sollte gemäss der WMA-Deklaration nicht allein der Arzt vornehmen, auch das Urteil der Eltern ist aussagekräftig. Letztendlich ist aus Sicht der Beteiligungsnorm das Kind selbst zu fragen. Die wichtigste Rolle hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Grundbeziehung ist diejenige zu seinen Eltern. So bieten bereits viele Schweizer Kliniken, gemäss Artikel 3 der EACH-Charta, die Mitübernachtung eines Elternteils (ohne Verpflegung) gratis an. Bei längeren Spitalaufenthalten werden auch die täglichen Transportkosten übernommen.233 Im Einzelfall sollte immer abgeklärt werden, wer welche Kosten übernimmt. Die Wahl einer kinderfreundlichen Krankenkasse im vornherein ist sinnvoll. Allerdings können nicht nur finanzielle Engpässe auftreten, nicht selten müssen auch noch minderjährige Geschwisterkinder betreut werden. Es darf nicht vergessen werden, dass auch diese in schwierigen familiären Situationen, wie es ein längerer Klinikaufenthalt des chronisch kranken Bruders oder der Schwester mit sich führen kann, besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Für Eltern, die auf Grund einer solch schwierigen familiären Situation Beratung und Hilfe wünschen, stellen die Sozialämter der jeweiligen Spitäler eine erste Anlaufstelle dar. 231

Surall, Ethik des Kindes, 279 Vgl. Caviezel-Hidber, Lieber schnell und schmerzhaft?, 21. 233 Vgl. Kind und Spital, ein Kind ist krank – was braucht die Familie?, 3. 232

59

Die Mitaufnahme der Eltern muss jedoch nicht in jedem Fall sinnvoll sein. So z.B. wenn der Verdacht besteht, dass „der Heilungsprozess eines Kindes durch die ständige Anwesenheit einer überängstlichen oder psychisch nicht ausgeglichenen Begleitperson verzögert oder beeinträchtigt“234 würde. Oft stellen Eltern überhöhte Ansprüche an sich selbst, die Ärzte als auch an die minderjährigen Kinder und erwarten nicht selten, entgegen der ärztlichen Prognosen, die völlige Wiederherstellung der Gesundheit ihres Kindes.235 Der Elternverband AKIK überschrieb eine Bitte an betroffene Eltern: „Einfühlungsvermögen – besser als Beharrungsvermögen“.236 Eltern sollen sich der Ausnahmesituation, in der sie und ihr Kind stehen, bewusst sein und auch Verständnis für die professionelle Perspektive des Klinikpersonals aufbringen. Die Grenze wird durch eine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls markiert, dessen psychische und soziale Dimension die Eltern meist kompetenter beurteilen können als Aussenstehende, da das Kind ihnen eher mitteilt, was es stört oder ängstigt. Dennoch dürfen Eltern den Aufbau von Beziehungen ihres Kindes zu den Ärzten und Pflegern nicht unterbinden, was letztere zum Teil, manchmal vielleicht auch nicht ganz unberechtigt, befürchten.237 Letztendlich sollte auch der Kindeswille bezüglich der Mitaufnahme der Eltern berücksichtiget werden. So ergab eine Befragung von 8 bis 11-jährigen Kindern, dass ca. 80%-90% ihre Eltern bei einer schmerzhaften Behandlung oder vor einer Operation bei sich haben wollen. Ca. 50% wollten jedoch am Abend beim Einschlafen oder bei einer schmerzfreien Operation alleine sein.238 Hier wird der Zusammenhang zwischen Schutz- und Beteiligungsnorm deutlich. Die Eltern können nicht beanspruchen, ihr Kind so umfassend zu vertreten, dass ein direkter Kontakt zwischen Klinikpersonal und Kind überflüssig zu sein scheint. So verlangt die Anerkennung der kindlichen Subjektivität als anthropologische Grundlage des Kinderrechts auf Gesundheitsversorgung, dass das Kind von Beginn an als Patient ernst genommen wird.239 234

Pant/Prütting, Krankenhausgesetz Nordrhein-Westfalen, 55f. Vgl. dazu Protokoll Subprojekt 2 vom 25.03.2014. Vgl. dazu auch Kapitel 2ff, Krankheit und Gesundheit. 236 AKIK, Integrationspapier, 58. Die AKIK ist ein deutscher gemeinnütziger Verein mit Sitz in Frankfurt am Main. Er will den Eltern-Kind-Kontakt von Geburt an sichern, zum Wohlergehen von Kindern im Krankenhaus beitragen, Voraussetzungen schaffen, um seelischen Schaden von Kindern im Krankenhaus abzuwenden und die Rechte von Kindern im Krankenhaus einfordern, so wie sie in der EACH-Charta beschrieben sind. Der Verein wurde 1968 gegründet. Die Mitglieder arbeiten ausschliesslich ehrenamtlich. 237 Vgl. AKIK, Integrationspapier, 58f. 238 Vgl. AKIK, Integrationspapier, 43ff. 239 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 285. 235

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Grundsätzlich macht es einen erheblichen Unterschied, ob Eltern nur geduldet sind oder ob ihre Anwesenheit wirklich erwünscht ist, weil ihre positive Auswirkung auf die Gesundheit des Kindes anerkannt wird. Bei der Umsetzung der Mitaufnahmeregelung ist Untersuchungen zufolge oft mit Befürchtungen des Klinikpersonals zu rechnen, dass die Eltern den Stationsalltag stören könnten und die Kinder somit schlechter beaufsichtigt würden. Grundsätzlich setzt das Leitbild der Integration beidseitige Bemühungen und eine positive Einstellung voraus, sowohl von Seiten der Eltern als auch des Klinikpersonals. So können Eltern den Ärzten und Pflegern gegenüber als Experten für die Gewohnheiten und Eigenarten ihrer Kinder zur Seite stehen, andererseits müssen sie aber auch die Krankenhausregeln beachten und sich informieren. Das Klinikpersonal sollte bereit sein, die Eltern verständnisvoll zu informieren und Fragen zu beantworten sowie ausreichende und geeignete Räumlichkeiten und geeignete Infrastruktur zur Verfügung stellen. Gemäss Artikel 3 der EACH-Charta ist auch vorgesehen, dass Eltern an der Pflege ihres kranken Kindes teilnehmen können. Diese sollten daher in die Grundpflege und den Stationsalltag eingeführt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass es nicht zu einem Missbrauch der Elternintegration kommt. Eine ethische Grenze ist da zu ziehen, wo die Übertragung bestimmter Aufgaben vom Personal auf die Eltern zu einer qualitativ schlechteren Versorgung der Kinder führt oder Eltern sich durch die Verantwortung, die ihnen übertragen wurde, überfordert fühlen.240

5.1.3. Schutz durch personelle und institutionelle Spezialisierung Der Gleichheitsgrundsatz, der sich notwendigerweise aus der gleichen, angeborenen Würde aller Menschen ergibt, gilt auch für Kinder (Kapitel 3.3.1). Aus diesem Gleichheitsgrundsatz, d.h. der ethischen Forderung, Gleiches auch gleich zu behandeln, lässt sich gemäss dem aristotelischen Grundsatz formaler Gerechtigkeit die Ungleichbehandlung des Ungleichen ableiten.241 Da Gleichheit ein Relationsbegriff ist und es eine absolute Gleichheit prinzipiell nicht gibt, ist bei einer Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz immer zu bestimmen, „in Bezug worauf Personen gleich und folglich gleich

240

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 285; vgl. auch Interview 1_Transkript, 14-16. Vgl. Aristoteles, NE, 1131a; vgl. dazu auch die evangelische Sozialethik, bzw. Situationsethik, die sich immer an den Bedürfnissen der Betroffenen ausrichtet, was eine absolute Gleichbehandlung unmöglich macht, da die Bedürfnisse unterschiedlich sein können. 241

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zu behandeln sind.“242 In rechtlicher Hinsicht lässt sich daraus ableiten: „Der Gleichheitssatz enthält […] kein Verbot von Differenzierungen oder Ungleichbehandlungen, sondern zwingt den Gesetzgeber lediglich zu einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung.“243 Dieser Gleichheitsgrundsatz impliziert keine identische Behandlung im Spital von Erwachsenen und Kindern. Medizinische Einrichtungen ermöglichen nur dann eine Gleichbehandlung von Kindern, wenn sie kindgerecht konzipiert sind. So gesteht man Kindern die gleiche Würde zu wie Erwachsenen, wenn man ihren spezifischen Bedürfnissen in gleicher Weise Rechnung trägt wie den Erwachsenen. Dies erfordert im medizinischen Kontext vor allem besondere Kompetenz und Ausbildung des Personals, um gemäss der WMA-Deklaration244 „in geeigneter Weise den medizinischen, physischen, emotionalen und psychologischen Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien gerecht zu werden“. So benötigen Kinder nicht nur, wie bereits in den vorangegangen Kapiteln beschrieben, stabilere soziale Bindungen als Erwachsene und die Möglichkeit, auch mit Gleichaltrigen in Beziehung treten zu können245, sondern es ist auch kindspezifische Fachkompetenz gefragt. Gemäss EACH-Charta Artikel 5 sollen „Kinder vor unnötigen Untersuchungen und Behandlungen geschützt werden.“ So ist z.B. in jedem Einzelfall zu überlegen, ob eine Blutentnahme gerade jetzt nötig ist, oder ob man sie „vielleicht auch im Operationssaal machen [kann], wenn das Kind sowieso schläft.“246 Aber auch Überlegungen zur Aussetzung unnötiger Belastungen durch ionisierende Röntgenstrahlen sind geboten. Selbstverständlich kann nicht immer auf derartige Untersuchungen verzichtet oder auf alternative Systeme wie z.B. spezieller Ultraschall oder MRT zurückgegriffen werden. Es muss daher immer abgewogen werden, welche Art von Untersuchung am sinnvollsten ist.

In Artikel 7 formuliert die EACH-Charta das Recht von Kindern „auf eine Umgebung, die ihrem Alter und ihrem Zustand entspricht, und die ihnen umfangreiche Möglichkeiten zum Spielen, zur Erholung und Schulbildung gibt. Die Umgebung soll den Bedürfnissen 242

Surall, Ethik des Kindes, 98. Heun, Gleichheit, 176. 244 Vgl. dazu auch den entsprechenden Artikel 8 der EACH-Charta. 245 Vgl. dazu Artikel 6 der EACH-Charta, wonach Kinder gemeinsam mit anderen Kindern betreut werden sollen, die ähnliche Bedürfnisse haben wie sie. So kann der Abbruch zu vertrauten Beziehungen zu Gleichaltrigen durch eine flexible Besuchsregelung lediglich abgemildert werden. Das Spital sollte kompensatorische Möglichkeiten anbieten, die die kranken Kinder im Rahmen ihrer Möglichkeiten nützen können, damit der Aufbau von kindlichen Ersatzbeziehungen erleichtert wird. 246 Interview 1_Transkript, 15. 243

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der Kinder entsprechend geplant und eingerichtet sein und über das entsprechende Personal verfügen.“ Dazu gehört vor allem, dass bei Neu- und Umbauten die Möglichkeit der Unterbringung der Eltern mit berücksichtigt wird. Ferner sollten Möglichkeiten zur Spiel- und Freizeitplanung, dem Alter entsprechend, durch Spielräume, Schulräume etc. bedacht werden.247 Im untersuchten Kinderspital wird zudem einmal im Jahr ein einwöchiges Lager für kranke Kinder und deren gesunde Geschwister organisiert, das von speziell ausgebildeten Pflegenden geleitet wird. Ziel dieses Lagers ist es unter anderem, dass die Kinder sich gegenseitig kennenlernen, miteinander spielen und somit etwas Normalität in ihren Alltag bringen, aber sich auch gegenseitig helfen und Mut machen. So können z.B. ältere Kinder und Jugendliche, die gelernt haben, ihre Krankheit zu akzeptieren und mit ihr zu leben, den jüngeren sinnvolle Unterstützung und Vorbildfunktion in ihrer Krankheitsbewältigung bieten. Ferner bieten sich in diesem Rahmen immer wieder Gelegenheiten für das Pflegepersonal, mit den jungen Patienten ins Gespräch zu kommen und so in Erfahrung zu bringen, was sie im Moment bewegt und wie man sie noch besser unterstützen könnte.248 Das Bedürfnis Erwachsener auf Ruhe und Zurückgezogenheit lässt sich nicht unbedingt auf Kinder übertragen. Letztere benötigen Kontakt zu Gleichaltrigen, der auch bei gemeinsamen Mahlzeiten und durch eine Unterbringung in Mehrbettzimmern ermöglicht wird. Für nicht gehfähige Kinder, die ans Bett gebunden sind, hat sich in einigen deutschen Kliniken eine Uförmige Anordnung der Zimmer um einen Mittelbereich als Kommunikationszentrum bewährt, auf den die Kinder von ihrem Bett aus durch eine vollverglaste Front Einblick haben. Der ständige Blickkontakt mit den Pflegenden vermittelt ihnen zudem Sicherheit und Schutz. Jalousien, die vom Bett aus leicht zu bedienen sind, ermöglichen den Kindern Ruhephasen. Sie können selbst entscheiden, ob und wann sie am Geschehen teilhaben wollen und wann nicht. Insofern treffen hier wieder Schutz- und Beteiligungsnorm zusammen (Kapitel 4.1.2 und 4.1.1).249

247

Vgl. AKIK, Für ein Miteinander, 19, wonach Untersuchungen gezeigt haben, dass sich jüngere Schulkinder selbstständig im Krankenhaus zurechtfinden wollen und entsprechende Orientierungshilfen sowie Aussenspielmöglichkeiten schätzen. Jugendliche ab 11 Jahren möchten ihre Zimmer und ihre Umgebung gerne selbst gestalten (Poster etc.). Kleinkinder dagegen legen auf eine spezielle Beleuchtung wert, die keine Schattenbildung hervorruft, die sie ängstigen könnte; vgl. zu kindgerechter Umgebung auch Interview 1_Transkript, 7. 13. 248 Vgl. Interview 1_Transkript, 5-7. 249 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 289.

63

5.2.

Beteiligungsnorm

Während beim urteilsfähigen Erwachsenen seine Unverfügbarkeit dadurch respektiert wird, dass er in eine medizinische Behandlung in Form eines informed consent eingewilligt hat, lässt sich die Unverfügbarkeit des urteilsunfähigen Kindes dadurch zum Ausdruck bringen, dass die Eltern vor jedem Eingriff gefragt werden. Dadurch zeigt sich bereits, dass nicht willkürlich am Kind gehandelt wird. Allerdings fordert es der Respekt vor dem Kind, dieses so früh wie möglich in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Der Grad der Einbeziehung nimmt dabei mit zunehmendem Alter zu. Was aber ist zu tun, wenn das Kind seine Zustimmung zu einem lebenserhaltenden medizinischen Eingriff verweigert? Darf man sich über die fehlende Zustimmung hinwegsetzen und gegen den Kindeswillen handeln? Sieht man das zentrale Kriterium des Kindeswohls im Schutz der gesundheitlichen Kindesinteressen, heisst dies, dass die Freiheit des Kindes nur soweit gewährt werden darf, wie es durch diese Gewährung seinen eigenen gesundheitlichen Interessen nicht zuwiderläuft (vgl. Kapitel 4.1.1). Was aber heisst das genau und wie kann man das Kind vor Entscheidungen, die es vielleicht später bereuen wird oder die gar sein Leben aufs Spiel setzen, schützen? In erster Linie bedarf es dazu einer kindgerechten Aufklärung, denn nur dann kann das Kind auch an medizinischen Entscheidungen partizipieren.

5.2.1. Recht auf Aufklärung Sobald das Kind in der Lage ist, Informationen aufzunehmen, zu reflektieren und zu verarbeiten, kommt ihm das gleiche Recht auf Aufklärung zu wie erwachsenen Patienten. Dabei bedeutet dies gemäss dem Gleichheitsgrundsatz (Kapitel 5.1.3) nicht, dass Kinder das Recht auf dieselbe Aufklärung haben wie Erwachsene. Vielmehr müssen sie in einer Weise aufgeklärt werden, die ihrer Verständnisfähigkeit entspricht. So kann man bei sehr jungen Kindern mit Zeichnungen oder Bilderbüchern arbeiten, die es zu den verschiedensten Krankheitsbildern gibt.250 Die Aufklärung sollte immer im Sinne der evangelischen Sozialethik, als Ausprägung der christlichen Nächstenliebe bzw. Agape stattfinden. Empathie, Verständnis für die Lage des Kindes als auch seiner Angehörigen und Verstehen-wollen haben dabei oberste Priorität (Kapitel 3.3.2 und 3.3.3). Kindern eine beschwerliche Therapie zuzumuten, ohne sie kindgerecht zu in250

Vgl. Interview 1_Transkript,4.

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formieren, so dass sie deren Sinn begreifen oder zumindest Vertrauen gewinnen können, dass sie einen Sinn hat, würde subjektiv vom Kind her betrachtet in die Nähe der Folter gerückt, die grundlos Schmerzen zufügt und wäre somit menschenunwürdig.251 Obwohl viele Schweizer Kliniken Führungen zur Krankenhausvorbereitung für Kinder und ihre Familien anbieten, bei denen sich die Kinder durchaus auch einmal in Ärzte oder Anästhesisten verkleiden, deren Rolle einnehmen und einen Blick in den Operationssaal werfen dürfen252, ist die Aufklärung bei Kindern oft noch ungenügend. So werden sie nicht selten von Eltern aufgeklärt, die mit dieser Aufgabe überfordert sind und nicht wissen, wie sie mit ihrem Kind über seine schwere Krankheit reden sollen.253 Vor allem in Familien aus fremden Kulturkreisen kommt es öfter vor, dass Eltern mit ihren Kindern gar nicht über deren Krankheit reden, um diese nicht zu ängstigen und zu belasten, obwohl medizinische Eingriffe bei gut informierten Kindern aufgrund ihrer besseren Compliance erfahrungsgemäss zu besseren Resultaten führen.254 Es gehört daher zu den Aufgaben der Kinderärzte und Ärztinnen, die Eltern bei der Aufklärung ihrer kranken Kinder zu unterstützen.255 So haben, gemäss einer Pflegefachkraft im untersuchten Kinderspital, die Eltern einen grossen Einfluss auf die jungen Patientinnen und Patienten. „Es gibt wenige Kinder, die etwas fragen, was ihre Eltern nicht sagen.“256 Oftmals ahnen sie zwar schon viel, sprechen es aber nicht explizit aus, um die Eltern zu schonen.257 Peg Belson, Psychologin und langjährige UK-Delegierte im EACH-Komitee drängt deshalb auf den interfamiliären Dialog und die elterliche Aufklärung und brachte Letzteres auf folgende Kurzformel:258 • • • •

Höre dem Kind gut zu Stelle fest, was es schon weiss Gib seinem Alter entsprechende Informationen, die ihm fehlen Überprüfe, was das Kind verstanden hat

251

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 294. Vgl. Kind und Spital, Geplant, 2; Interview 1_Transkript, 12-13. 253 Vgl. Niethammer, Kinder im Angesicht ihres Todes, 102-106; vgl. dazu auch Protokoll Subprojekt 2 vom 25.03.2014. 254 Interview 1_Transkript, 13: „Die andere Seite ist aber auch, dass wir von der Pflege mehr das Knowhow haben und wissen, dass es wichtig ist für postoperativ, wenn die Kinder informiert sind, dass wir bessere Resultate haben, dass es besser …, dass die ganze Betreuung besser läuft. Dass sie [die Kinder] sich die Infusionen weniger ausreissen, dass sie einfach besser mit machen.“ 255 Vgl. Kind und Spital, Geplant; vgl. auch Interview 1_Transkript, 10-13. 256 Interview 1_Transkript, 11. 257 Vgl. Interview 1_Transkript, 12. 258 Vgl. Kind und Spital, Kinderpartizipation, 3. 252

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Einige medizinische Einrichtungen haben die Aufklärung von Kindern bereits fest institutionalisiert. So beschloss man an der Universität Tübingen bereits vor einigen Jahren, die Aufnahme notfalls sogar zu verweigern, wenn Eltern darauf bestehen, ihr Kind unaufgeklärt einer aggressiven Krebstherapie zu unterziehen. Mit allen Kindern, die bereites kommunikationsfähig sind, wird dort vor der Therapie ein Vertrag abgeschlossen, der juristisch zwar nicht bindend ist, jedoch mit voller moralischer Verbindlichkeit zusichert: 1. „Du kannst immer alles wissen, auch wenn es schlimm ist, 2. Wir werden niemals lügen, 3. Wir werden versuchen, Dich und Deine Eltern mit Euren Problemen und Schwierigkeiten nicht alleine zu lassen. 4. Du wirst nie auch nur einen Tag grundlos in der Klinik bleiben müssen.“259

Das Kind kann partiell mit entscheiden, wie viel es wissen will. Durch sein Recht auf vorbehaltlose Information wird es in die Lage versetzt, aktiv mit seiner Krankheit umzugehen. Es kann somit nach vorne schauen und zukunftsorientierte Fragen stellen. Der besondere Schutzanspruch zeigt sich hier also nicht im Verschweigen unangenehmer Informationen, wie es bis in die 1970er Jahre gang und gäbe war260, sondern im kindgemässen Dialog über die Krankheit und Unterstützung bei der Verarbeitung.

Besonders anspruchsvoll ist die Aufklärung am Lebensende. Einer 2005 durchgeführten Untersuchung zufolge gaben 86% der Eltern tödlich erkrankter Kinder an, ihr Kind habe geahnt oder gewusst, dass es bald sterben würde. Dabei können sich die Kinder durchaus mit dem Tod arrangieren.261 Das Gehen-lassen und nicht das Hinwegtäuschen über den Ernst der Lage und das Festhalten-wollen ist wohl die grösste Hilfe, die ihnen ihre Eltern dabei geben können. Dadurch haben die sterbenden Kinder nicht das Gefühl die Eltern noch mit ihrem eigenen Schmerz zu be259

Niethammer, Kinder im Angesicht ihres Todes, 103-104; vgl. Interview 1_Transkript, 12: Auch im untersuchten Kinderspital kann es vorkommen, dass auf eine Operation verzichtet wird, wenn das Kind nicht entsprechend informiert ist, so berichtet eine Intensivpflegefachkraft: „Und hier üben wir schon mehr oder weniger fest Druck auf die Eltern aus, dass das Kind wissen muss, dass es in den Operationssaal muss und nachher eine Narbe haben wird. Also da haben wir … Also da tun wir den Eltern dringend … sagen, dass sie das sagen müssen. Und gewisse Sachen, denke ich, würden wir nicht operieren, wenn die Eltern, das Kind nicht informiert sind.“ 260 Vgl. Niethammer, Kinder im Angesicht ihres Todes, 102. 261 Vgl. Niethammer, soll man mit schwerkranken Kindern, 120-121; Staubli bestätigt in seinem Interview in Zeitonline zur Sterbehilfe, 1, dass Kinder häufig spüren, wenn sie sterben müssen.

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lasten. Lassen sich Erwachsene darauf ein, sind Gespräche über Sterben und Tod schon mit sehr jungen Kindern möglich und für beide Seiten hilfreich. Dabei beschäftigen sich todkranke Kinder gemäss den Erfahrungen Niethammers vor allen mit folgenden Fragen:262 • • • •

Wie ist Sterben und tut es weh? Wann wird es soweit sein? Bin ich alleine, wenn ich sterben muss? Was kommt danach? Werde ich meine Grosseltern wieder sehen?

So sinnvoll und entlastend das elterliche Gespräch mit sterbenden Kindern sein kann, ist dennoch zu akzeptieren, dass viele Eltern emotional und psychisch nicht in der Lage sind, mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Viele Eltern hoffen noch auf eine Lebenschance und können sich mit der Tatsache, dass eine lebenserhaltende Therapie nicht mehr möglich ist, nicht abfinden.263 So ergab eine Studie, dass von den 86% der Eltern, die von dem bevorstehenden Tod ihres Kindes ausgingen, nur 48% mit dem Kind darüber gesprochen haben.264 74% der Eltern, die ihr Kind aufgeklärt haben, empfanden dies als positiv. Ein Drittel der Eltern, die auf ein Gespräch verzichtet hatten, gaben an, sie hatten nicht den Mut dazu. Rückblickend beurteilten 38% der Eltern den Verzicht auf das Gespräch positiv, 33% bereuten keins geführt zu haben. Dagegen lehnten lediglich 6,5% der betroffenen Kinder ein Gespräch ab.265 Die Entscheidung darüber, ob und wie ein Gespräch über den bevorstehenden Tod und/oder den damit verbundenen Therapieabbruch geführt werden und das Kind informiert werden soll, sollte in jedem Fall individuell getroffen werden, wobei primär das Wohl bzw. der Wille des Kindes im Mittelpunkt stehen muss. Niebers konnte in ihrer Untersuchung feststellen, dass man durch sukzessive Aufklärung des Kindes die nachvollziehbaren Hemmungen vor einem schicksalsschweren Einzelgespräch überwinden kann. Die vordergründige Konsequenz aus den Untersuchungsergebnissen war die Forderung nach einer professionellen, kindgerechten, interdisziplinären Beratung und Begleitung der betroffenen Eltern bei der Aufklärung ihrer Kinder.266 Eltern, Angehörigen und Kindern sind in 262

Vgl. Niethammer, Kinder im Angesicht ihres Todes, 109. Vgl. dazu Protokoll Subprojekt 2 vom 25.03.2014. 264 Vgl. Niebers, Eltern begleiten ihre sterbenden Kinder, 214. 265 Vgl. Niebers, Eltern begleiten ihre sterbenden Kinder, 180. 216-217. 266 Vgl. Niebers, Eltern begleiten ihre sterbenden Kinder, 212. 218. 263

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dieser schwierigen Phase in jedem Fall seelsorgerliche und medizinische Unterstützung und gegebenenfalls Gespräche zur ethischen Entscheidungsfindung anzubieten.

Das Recht auf Aufklärung bei totkranken Kindern ist nicht in geringerem Masse, sondern in erweitertem Masse anzuerkennen als bei kranken Kindern überhaupt, gehen doch die Fragen nach Sterben und Tod über das medizinische Fachwissen hinaus. Dieser erweiterte Anspruch auf Information stellt dabei eine moralische Verpflichtung dar, die im Gegensatz zum medizinischen Informationsanspruch im engeren Sinne zwar keine allgemeinverbindliche Kodifizierung zulässt, jedoch ethisch genauso ernst zu nehmen ist.267

5.2.2. Recht auf Partizipation an medizinischen Entscheiden In Bezug auf Krankheit oder Gesundheit spielt ferner, wie vorab schon öfter erwähnt, die Partizipation des Kindes eine grosse Rolle. So ist bekannt, dass das Gefühl ausgeliefert zu sein selbst krank machen kann.268 Die Möglichkeit dagegen, selbst Einfluss zu nehmen und die eigene Situation mitgestalten zu können, stärkt im Sinne eines „sense of coherence“ (vgl. Antonovsky) die Menschen im Umgang mit Belastungen und Störungen. Dies gilt bereits für Kinder ab einem sehr jungen Alter. Es ist daher von Wichtigkeit, die vielfältigen Möglichkeiten der Partizipation auszuloten. Das noch nicht urteilsfähige Kind muss, ähnlich wie in rechtlichen Verfahren, von den verantwortlichen Erwachsenen angehört werden. Dabei sind die Fragen und Wünsche der Kinder oftmals wichtige Wegweiser. Oft ist es nicht der grundsätzliche Therapieentscheid an sich, sondern die konkrete Umsetzung, die Möglichkeiten für das Mitwirken des Kindes eröffnet. So ist die Urteilsfähigkeit insbesondere bei Kindern, wie in Kapitel 3.3.3 bereits beschrieben, ein Prädikativum das immer nur in Bezug auf bestimmte Entscheidungen gilt. Im untersuchten Kinderspital zeigt sich dies unter anderem daran, dass man z.B. versucht auf die Wünsche des kranken Kindes einzugehen, indem man mal ein Auge zudrückt und die Verbände eines Kindes, das monatelang mit schweren Brandwunden

267 268

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 301. Vgl. Kind und Spital, Kinderpartizipation, 1.

68

im Spital liegt, nicht wechselt, wenn es das gerade nicht will269, oder man fragt es, ob es sein Medikament lieber in Form eines Zäpfchens oder einer Tablette einnehmen will.270 Allerdings merken Kinder schnell, wenn das Angebot der Partizipation nur eine Alibi-Übung ist271 und wenn die Bereitschaft fehlt, zuzuhören, was sie wirklich zu sagen haben und wünschen.272 Gemäss Artikel 12 der UN-KRK wird „dem Kind, das fähig ist, das Recht zugesichert, seine Meinung frei zu äussern und diese Meinung angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife zu berücksichtigen.“ Dies gilt insbesondere im Gesundheitswesen. Dabei kam es in den letzten Jahrzehnten zu enormen Veränderungen der Vorstellungen darüber, ob und ab wann Kinder fähig sind, ihre Rechte wahrzunehmen. Galten die Vorstellungen und Meinungen von Kindern bis in die 1960er Jahre als unreif, weil ihnen Kenntnisse und Erfahrungen der Erwachsenen fehlten, weiss man inzwischen auf Grund zahlreicher wissenschaftlicher Studien, dass bereits sehr junge Kinder durchaus eine sie betreffende Situation einschätzen können und ihre Meinung als gleichwertig zu betrachten und zu berücksichtigen ist, wie die Erwachsener.273 Die bekannte Soziologin Priscilla Alderson konnte anhand von Untersuchungen mit 120 Patienten und Patientinnen zwischen 8 und 15 Jahren, die sich einem nicht notfallmässigen chirurgischen Eingriff unterziehen sollten nachweisen, dass deren Entscheidungen in der Regel von Eltern und Krankenhauspersonal respektiert wurden. Die Einwilligungsfähigkeit der Kinder hängt dabei nicht vordergründig von Alter, Intelligenz und Bildungsgrad ab, sondern eher von ihren Erfahrungen mit Krankheit, Behinderungen und früheren Behandlungsmassnahmen.274 Bereits 1995 berichtete Alderson auf einer EACH-Konferenz in Graz, dass schon 5 bis 7-jährige Kinder in der Lage seien, Entscheidungen in Bezug auf ihre Behandlung und Betreuung zu fällen. Interessant ist dabei, dass Kinder ihre Umwelt teilweise ganz anderes wahrnehmen als Erwachsene. So sind englischen Untersuchungen zufolge die weissen Kittel der Ärzte für Kinder angsteinflössend, weshalb sie in England bereits abgeschafft wurden. Aufschlussreich war auch die Aussage chronisch kranker Kinder, die man über ihren Alltag

269

Vgl. Staubli, Sterbehilfe, 2. Vgl. Interview 1_Transkript, 9. 271 Vgl. dazu Interview 1_Transkript, 9: Weiss man z.B. im voraus, dass man einem bestimmten Wunsch, wie z.B. ein gemeinsames Spiel am Abend aus Zeitgründen bzw. Personalmangel nicht nachkommen kann, sollte man das Kind erst gar nicht danach fragen, um es nicht enttäuschen zu müssen. 272 Vgl. Kind und Spital, Kinderpartizipation, 1 273 Vgl. Alderson, Die Autonomie des Kindes, 28-29; Kind uns Spital, Kinderpartizipation, 2 274 Vgl. Alderson, Die Autonomie des Kindes, 28. 270

69

befragte, der von ständiger medizinischer Behandlung begleitet ist. Während die Erwachsenen fest davon überzeugt waren, dass die heutigen technisch-medizinisch ausgefeilten Behandlungsmöglichkeiten von Diabetes eine grosse Erleichterung gegenüber früheren Methoden seien, empfinden Kinder diese Krankheit als sehr belastend, da sie ihnen keine spontane Alltagsgestaltung erlaubt.275 Die Perspektive auf die Krankheit als auch die Interessen von Eltern und Kindern können also durchaus konfligieren. Aus diesen prinzipiellen Unterscheidungen der kindlichen Interessen von denjenigen der Eltern folgt, dass die Interessen formal-rechtlich-nicht-einwilligungsfähiger Kinder nicht nur stellvertretend durch ihre Eltern in medizinische Entscheidungen miteinbezogen werden dürfen, sondern vor allem durch deren persönliche Beteiligung. Der Grad der Einbeziehung wird dabei mit zunehmendem Alter immer grösser. Dabei werden die kinderrechtlichen Basisnormen Schutz und Beteiligung „nicht wie bei einwilligungsfähigen Kindern unter dem Vorrecht der Beteiligung, sondern die Beteiligung des Kindes unter dem Vorrecht des Schutzes gewahrt.“276 Verweigert das urteilsunfähige Kind allerdings seine Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung muss man sich vergegenwärtigen, dass die Freiheit nur so weit gewährt werden darf, wie durch diese Gewährung dem gesundheitlichen Wohl des Kindes nicht zuwidergehandelt wird. So würde man z.B. nie auf eine Blinddarmoperation verzichten, nur weil das Kind dies nicht will.277 Wollen Eltern jedoch einen elektiven Eingriff bei ihrem nicht urteilsfähigen Kind vornehmen lassen, der nicht notwendigerweise eine eindeutige Hilfe für das Kind bedeutet, wäre es ethisch problematisch, diesen Eingriff auch vorzunehmen, wenn das Kind seine Zustimmung verweigert.278 Eine Zustimmung des Kindes dagegen muss immer freiwillig sein und darf nicht zum Mittel von Interessen Dritter gemacht werden. Es muss sichergestellt werden, dass das Kind keinesfalls nur der Eltern oder des medizinischen Personals zuliebe seine Zustimmung gibt (Kapitel 3.3.3). Lehnt ein urteilsunfähiges Kind jedoch seine Zustimmung zu einem eindeutig notwendigen Eingriff, z.B. im Falle eines bösartigen Knochentumors, der nach einer fehlgeschlagenen Chemothera275

Vgl. Kind uns Spital, Kinderpartizipation, 3; vgl. dazu aber auch die Aussage einer Pflegefachkraft am untersuchten Kinderspital, Interview 1_Transkript, 5: „Also dort wo ich mit ihnen [den Kindern] in Kontakt komme, würde ich sagen, sie sind wie andere Kinder auch, zufrieden und glücklich. Natürlich mit ihren Einschränkungen, welche sie haben, aber welche sie auch integrieren in ihr Leben hinein […]. Und da ist schon ein Unterschied, wahrscheinlich zwischen solchen, welche frisch erkrankt sind und solchen, welche eine Geschichte mit der Krankheit haben." 276 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 303. 277 Vgl. Staubli, Sterbehilfe, 2. 278 Vgl. Maio, Mittelpunkt, 271.

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pie nur mittels Amputation behandelt werden kann, um eine Metastasierung zu verhindern, ab, wäre in diesem Fall dennoch eine Behandlung angezeigt. Die langfristigen gesundheitlichen Interessen des Kindes hätten in diesem Fall Vorrang vor der Gewährung seiner Freiheit.279 Eine vorgängige kindgemässe Aufklärung versteht sich von selbst (Kapitel 5.2.1). Prinzipiell ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Kindern und Ärzten, gemäss dem seit 15 Jahren als leitender Arzt am Kinderspital Zürich tätigen Dr. Staubli, in den meisten Fällen problemlos. Allerdings verweigern Eltern ihren urteilsunfähigen Kindern, selbst nach intensiver Aufklärung, heute etwas häufiger als früher eine schulmedizinische Behandlung. Den Ärzten sind in solchen Fällen die Hände gebunden, da die Eltern entscheiden, was zum Wohle ihres urteilsunfähigen Kindes ist und sie das Risiko übernehmen. Erst wenn es lebensbedrohlich wird und auch ethische Gespräche nicht weiterhelfen, wird die Kinder- und Erwachsenschutzbehörde eingeschalten, die dann entscheidet, ob den Eltern das medizinische Sorgerecht entzogen wird bis das Kind wieder gesund ist (Kapitel 4.1.2). Im Kinderspital Zürich kommt dies etwa zwei bis dreimal im Jahr vor.280 Staubli berichtet von einem Fall, wo kürzlich eine Therapie bei einem an Leukämie erkrankten Kind, einer Krankheit, die in 80% aller Fälle heilbar ist, um drei Monate verzögert wurde. Das Kind starb während der Therapie. Ob es überlebt hätte, wenn man keine Zeit verloren hätte, weiss man nicht. „Aber der Fall hinterliess ein sehr ungutes Gefühl.“281 In seltenen Fällen kommt es auch vor, dass Eltern ihr behindert zur Welt gekommenes Kind nicht leiden sehen können und es deshalb sterben lassen wollen. Die Aufgabe des Arztes ist es dann zu erklären, das Kind nicht sterben zu lassen und notfalls die Behörden einzuschalten. Oft sind die Eltern dann im Nachhinein, nach der Überwindung des ersten Schocks, dankbar und schaffen es, eine liebevolle Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen. Nur in sehr seltenen Fällen geben sie ihr Kind zur Adoption frei.282

Prinzipiell ist die Verweigerung einer Partizipation des urteilsunfähigen Kindes umso weniger zu rechtfertigen, je weniger bei akuten Erkrankungen schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen und je mehr bei einem chronischen Krankheitsverlauf die 279

Vgl. Maio, Mittelpunkt, 272-273. Vgl. Staubli, Sterbehilfe, 2. 281 Staubli, Sterbehilfe,2. 282 Vgl. Staubli, Sterbehilfe, 2. 280

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Mitwirkung des Kindes zu einer Sekundär- und Tertiärprävention nötig ist. Das Recht auf Gesundheit(sversorgung) besagt für chronisch kranke Kinder nicht nur, sich an der Wahl der therapeutischen Mittel eigenverantwortlich zu beteiligen, sondern auch am Ziel der Bestimmung von Gesundheit.283 So erlaubt z.B. Rösslers Verständnis von Gesundheit einem chronisch kranken Kind durchaus, sich als gesund zu betrachten, wenn es eine für sich befriedigende Weise gefunden hat, sein Leben mit seiner Krankheit zu gestalten (Kapitel 2).

Ethische Entscheidungsfindungen, wie in Kapitel 3.3.4 dargestellt, stehen vor allem bei infausten Diagnosen an. Eine solche Diagnose bedeutet in der Regel, dass eine Heilung nicht mehr möglich und mit dem konsekutiven Tod zu rechnen ist. Dennoch kämpft man, wenn sich ein Kind in dieser Situation befindet, oft ganz anders als bei älteren Patienten. So sind Entscheidungen zum Behandlungsverzicht bei Kindern seltener, obwohl die Erfolgsaussichten nicht grösser sind als bei Erwachsenen.284 Staubli sagt dazu: „Die Möglichkeiten der modernen Medizin haben aber dazu geführt, dass wir todkranke Kinder manchmal nicht mehr sterben lassen – das beschäftigt mich sehr. […]Die hochspezialisierte Medizin lässt alle, auch uns Ärzte, glauben: Alles ist möglich! Dass sie manchmal das Sterben verhindert und das Leiden verlängert, sollten wir häufiger bedenken.“285

Bei Kindern zeigt sich daher die Ambivalenz des medizinisch-technischen Fortschritts in der hochspezialisierten Medizin (Kapitel 3.1), die neue Möglichkeiten der Leidensminderung aber auch der Leidensverlängerung geschaffen hat, in ganz besonderem Masse. Oft sind Eltern nicht bereit, ihr sterbendes Kind in Würde gehen zu lassen und setzen es, gegen seinen Willen, unermesslichen Leiden aus.286 Der Entscheid, eine Therapie abzubrechen, sollte allerdings nie von einem Menschen allein getroffen werden, weder von den Eltern noch vom behandelnden Arzt. So werden im Kinderspital Zürich solche Fälle im Rahmen eines ethischen Gesprächs diskutiert, an dem, wie in Kapitel 3.3.4 beschrieben, alle involvierten Fachpersonen beteiligt sind. Anschliessend wird den Eltern, als Stellvertreter des urteilsunfähigen Kindes, ein Vorschlag unterbreitet, wie weiter verfahren werden soll. Teilen diese den Vorschlag nicht, findet ein weiteres Gespräch statt. Gemäss Staubli fanden in den letzten fünf Jahren 80 solcher Gespräche 283

Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 307-308. Vgl. Vrakking, Medical End-of-Life, 806. 285 Staubli, Sterbehilfe, 1. 286 Vgl. Protokoll Subprojekt 2 vom 25.03.2014. 284

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statt. In acht von zehn Fällen konnte dabei ein Entscheid gefunden werden, der von allen unterstützt wurde. In den Fällen, bei denen dies nicht möglich ist, ist es die Aufgabe der Ärzte, das „Recht des Kindes auf Sterben zu verteidigen“.287 Ist das Kind zu einer angemessenen Einschätzung der Lage fähig, sollten Eltern und Ärzte ernsthaft prüfen, ob auch der Kindeswille zu berücksichtigen ist. Entwicklungspsychologisch scheint die Altersgrenze von 12 Jahren angemessen. Gemäss Lohaus markiert sie den durchschnittlichen Übergang zum „formal-operationalen Stadium, indem ein Kind in der Lage ist, verschiedene Entscheidungsoptionen und deren jeweilige Konsequenzen hypothetisch zu durchdenken.“288 Eine allgemeinverbindliche Altersgrenze hat man für eine Beteiligung von Minderjährigen jedoch nicht festgesetzt. Die Partizipation des Kindes zeigt sich im Zürcher Kinderspital auch darin, dass die Verantwortlichen gerade ein sogenanntes „Wish-Dokument“289 entwickeln, indem ein schwerkrankes Kind festhalten kann was ihm wichtig ist, wenn es nicht mehr in der Lage ist, seine Bedürfnisse selbst zu formulieren. Darin wird z.B. festgehalten, wer dabei sein soll, wenn es stirbt oder wie es beerdigt werden will.290 Eine aktive Sterbehilfe auf Wunsch urteilsunfähiger Kinder, wie gerade in Belgien beschlossen, ist derzeit in der Schweiz nicht vorstellbar. Allerdings werden auch im Kinderspital Zürich Therapien abgebrochen, wenn die Situation ausweglos ist. Andererseits kommt es aber auch vor, dass Kinder operiert werden, obwohl wahrscheinlich ist, dass sie den Eingriff nicht überleben, nur um sagen zu können, man hätte alles versucht. Diese Sachverhalte sollten gemäss Staubli mehr thematisiert und diskutiert werden.291

Im Folgenden soll nun näher auf die Fördernorm eingegangen werden, die im tripolaren Spannungsfeld der kinderrechtlichen Basisnormen eine wichtige Rolle spielt, indem sie sukzessive, unter Wahrung des gegenwärtig notwendigen Schutzes, die Voraussetzungen für eine künftige eigenverantwortliche Partizipation des Kindes schafft.

287

Staubli, Sterbehilfe, 1. Lohaus, Gesundheit, 34ff. 71ff. 289 Staubli, Sterbehilfe, 2. 290 Vgl. Staubli, Sterbehilfe, 2. 291 Vgl. Staubli, Sterbehilfe. 288

73

5.3.

Fördernorm

Bereits in Kapitel 2.1 wurde hinsichtlich des salutogenetischen Ansatzes, im Rahmen von Public Health, die Betonung des Präventionsgedankens in Bezug auf Krankheit erörtert. Der Gesundheitsförderung zur Vermeidung von Krankheit kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Ihr primäres Ziel ist es, allen Menschen, insbesondere aber den noch urteilsunfähigen Kindern, ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen, womit sie zu deren Stärkung befähigt werden sollen. Idealerweise erfolgt die Gesundheitserziehung schon frühzeitig durch die eigenen Eltern durch entsprechendes Vorbildverhalten und kindgerechte Anleitung und Unterstützung. Wie in Kapitel 2.1. dargestellt, ist die Fähigkeit bzw. der Wille zur Gesundheitsförderung aber stark von der jeweiligen sozialen Schicht abhängig. Nicht alle Eltern sind in der Lage, ihr Kind entsprechend aufzuklären und zu erziehen. Oftmals agiert die Familie sogar kontraproduktiv, indem sie durch eine gesundheitsschädigende Lebensführung, wie zu wenig Bewegung, ungesundes Essen, Rauchen, übermässigen Alkoholkonsum etc. ein zusätzliches Gesundheitsrisiko für ihr Kind darstellt. Da die Schule, im Gegensatz zu Kindergärten und Vereinen, auf Grund ihrer allgemeinen Schulpflicht eine nahezu 100%ige Reichweite als zentrale Bildungsinstanz hat, wäre meines Erachtens eine Integrierung der Gesundheitsförderung ins allgemeine Bildungssystem, im Rahmen eines eigenen Schulfaches Gesundheitserziehung, in allen Schultypen über alle Jahre hinweg zu begrüssen. Genauso wichtig ist es aber auch, hospitalisierten Kindern, im Rahmen einer im Spital integrierten Schule für Kranke (Kapitel 5.1.3), fundierte Kenntnisse zur Gesundheitsförderung zu vermitteln, die ihnen neben der Vermeidung und/oder Bewältigung von Krankheit Möglichkeiten aufweist, individuell mit ihrer eigenen Krankheit in einer für sie zufriedenstellenden Art und Weise umgehen zu können. Ferner muss den hospitalisierten Kindern, wenn immer möglich, der Zugang zu einer allgemeinen Schulbildung ermöglicht werden, stellt doch die Schule heute für Kinder und Jugendliche die wichtigste Bildungsinstitution dar und leistet damit nicht nur einen unverzichtbaren Beitrag zur Umsetzung des Kinderrechts auf Bildung, wie es Artikel 28 der UN-KRK postuliert (Kapitel 4.1.3), sondern stellt gleichzeitig den für Kinder so wichtigen Kontakt zu Gleichaltrigen dar, den die Schutznorm fordert (Kapitel 5.1ff). So kann die Spitalschule durchaus „das Highlight des Tages sein, eine Struktur, die sie [die kran-

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ken Kinder] trägt und die etwas Normalität in den Spitalalltag bringt. Dann sind sie Schülerinnen und Schüler – und nicht primär Patienten.“292

Selbstverständlich erfordert eine solche Schule für Kranke von allen Beteiligten enorme Flexibilität. So ist nicht nur pädagogisches und didaktisches Können gefragt, sondern ebenso medizinisches, psychologisches und gegebenenfalls psychiatrisches Fachwissen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist daher unumgänglich. So gehören z.B. zum Kinderspital Zürich drei Behandlungsbereiche: 1) das Rehabilitationszentrum Affoltern am Albis, 2) die Psychosomatisch-Psychiatrische Therapiestation in Zürich und 3) das Akutspital in Zürich-Hottingen. Die zum universitären Kinderspital gehörende Spitalschule unterrichtet stationär untergebrachte Kinder in diesen drei Bereichen.

In der Schule im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis werden rund 50 Kinder und Jugendliche schulisch betreut. Der kognitive Schulunterricht wird dabei im Stundenplan individuell mit den verschiedenen Therapien abgestimmt. Unterrichtet werden Kinder vom Vorschulalter an bis zur Oberstufe, wobei jedes Kind einen individuell abgestimmten Förderplan in Absprache mit dem medizinischen Personal und der Herkunftsschule hat. Dass dies einer extrem ausgeklügelten Organisation bedarf und nicht immer einfach zu koordinieren ist, muss nicht extra erwähnt werden. Dennoch spricht eine Klassenlehrerin von der tiefen Befriedigung, die diese Tätigkeit mit sich bringt. Sie erzählt von einem Kind, das nach einem Unfall nicht mehr sprechen konnte und fast daran verzweifelte, da es ja wusste, dass es dies einmal konnte. Nach einiger Zeit war dieses Kind wieder in der Lage, mit wenigen Sätzen eine Geschichte zu erzählen. Das war für alle Beteiligten ein befreiendes, unheimlich schönes und tiefgehendes Erlebnis.293

In der Psychosomatisch-Psychiatrischen Therapiestation des Kinderspitals in der Stadt Zürich dagegen werden Kinder und Jugendliche aufgenommen, die an komplexen, oft langandauernden psychosomatischen Störungen, insbesondere Bulimie oder Anorexie, leiden. Diese Krankheiten können durch ambulante Behandlungen oft nicht therapiert werden. Kinder und Jugendliche, die hier untergebracht sind, bleiben im Durchschnitt 292 293

Loriol, im Spital, 4. Vgl. Loriol, im Spital, 4.

75

drei Monate. Neben der kognitiven Schulbildung, die nach der Rückkehr wieder einen Anschluss an die Herkunftsschule ermöglichen soll, steht hier der therapeutische Auftrag im Mittelpunkt. Die jungen Patientinnen und Patienten sollen mit dem Alltag konfrontiert und eine sinnvolle Tagesstruktur vermittelt bekommen. Von immenser Wichtigkeit sind die interdisziplinäre Information und die genaue Beobachtung. Ein Leitsatz lautet: „Die Lehrpersonen sehen und denken therapeutisch, handeln jedoch stets als Schulpädagogen.“294 Der Unterricht soll in erster Linie „der Begegnung mit der Realität“295 dienen.

Im Akutspital sind Kinder untergebracht, die eine Krankheit haben, welche eine akute Behandlung verlangt. In der Regel handelt es sich um Herzpatienten, Krebspatienten, Dialysepatienten, die auf eine Niere warten, Kinder mit schweren Verbrennungen oder solchen, bei denen eine Operation zu schweren Komplikationen führte. In manchen Fällen kann sich ein Spitalaufenthalt Wochen, Monate oder sogar bis zu einem Jahr hinziehen. Teilweise müssen diese Kinder, z.B. wenn ihr Immunsystem durch eine Knochenmark-Transplantation stark geschwächt ist, in Isolierzimmern liegen. Für solche Fälle haben die Pädagogen ein Schulmobil, „ein zur Bibliothek und zur Materialsammlung umfunktioniertes , bestückt mit Farbstiften, Lineal, Aufgabensammlungen, Lernspielen und Arbeitsblättern.“296 Damit kommen sie mit dem speziell gereinigten, desinfizierten und in Boxen verpackten Material zu den jungen Patientinnen und Patienten ans Bett. Neben der Vermittlung von Lehrstoff, die einen Anschluss an die Stammschule ermöglichen soll, schätzen die Kinder aber auch die Ablenkung und Fürsorge, die ihnen so entgegen gebracht wird. Eine Lehrerin betont, die Kinder gehen solange zur Schule, wie sie Freude daran haben, auch wenn sie todkrank sind und wissen, dass sie bald sterben werden. Viele der sterbenskranken jungen Patienten wollen bis kurz vor ihrem Tod unterrichtet werden. Für sie weist die Schule nicht nur in die Zukunft sondern ist auch Gegenwart und somit Lebensqualität.297

Dank der hochspezialisierten Medizin bleiben heute wesentlich mehr Kinder am Leben, die früher gestorben wären. Oftmals führen sie jedoch ein Leben mit gesundheitlichen 294

Loriol, im Spital, 5. Loriol, im Spital, 5. 296 Loriol, im Spital, 5. 297 Vgl. Loriol, im Spital, 5. 295

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Einschränkungen. Aktuellen Statistiken zufolge geht man heute in der Schweiz von 12% bis 15% aller Schulkinder aus, die chronisch, schwer krank oder verletzt sind und die Schule nicht regelmässig besuchen können.298 So werden Phasen, in denen sie durchaus sehr leistungsfähig sind von solchen abgelöst, in denen sie aus gesundheitlichen Gründen keine Regelschule besuchen können. Die Tendenz ist steigend. Dieser Sachverhalt stellt die Bildungslandschaft in diesem Land vor eine grosse Herausforderung. Interdisziplinäre Spitalschulen, in denen Lehrer der verschiedensten Schultypen zusammen mit Heilpraktikern, Pflegern, Sozialarbeitern, Psychologen, Logopäden, Physiotherapeuten etc. arbeiten, werden immer wichtiger.299 Bedauerlicherweise ist die Finanzierung vieler Spitalschulen seit der Einführung des Finanzausgleichs und der Fallpauschalen schwieriger geworden. Allerdings wurde der Handlungsbedarf bereits erkannt.300 So sind Spitalschulen ein ausserordentlich wichtiger Faktor in Bezug auf das Kindeswohl. Neben dem Bildungsauftrag helfen sie auch, soziale Kontakte zu pflegen, bringen etwas Normalität in den Krankenhausalltag und bieten den schwerkranken Kindern Spass, Arbeit, Kreativität aber auch Regeln und Pflichten, an die sie sich halten müssen und tragen damit nicht wenig zur Würde des kranken Kindes bei. Es bleibt daher zu hoffen, dass künftig nicht nur die Aufrechterhaltung der Krankenhausschulen erhalten bleibt, sondern auch deren Ausbau und die fachspezifische Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte gefördert wird.

298

Vgl. Walser, chronisch kranke Kinder, 3. Vgl. Walser, chronisch kranke Kinder, 3. 300 Vgl. Walser, chronisch kranke Kinder, 3. 299

77

IV. Schlussdiskussion flexion

und

theologisch-ethische

Re-

Ziel dieser Arbeit war es, hinsichtlich des neuen Kinder- und Erwachsenenschutzrechtes, das am 1. Januar 2013 in der Schweiz in Kraft gesetzt wurde und das die Stärkung der Familiensolidarität, die Förderung der Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten als auch den Schutz von urteilsunfähigen Personen in medizinischen Einrichtungen anstrebt, den Begriff des Kindeswohls vor den Möglichkeiten der hochspezialisierten Medizin zu erfassen. Dem Anspruch auf informed consent des urteilsunfähigen Kindes und der Stellvertreterstellung der Eltern im Namen des Kindeswohls kam dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Es wurde vor allem unter Rückgriff auf die UNKinderrechtskonvention, die das Kindeswohl als Zentralnorm formuliert, welche sich in den drei gleichwertig zu betrachtenden Basisnormen Schutz, Beteiligung (Partizipation) und Förderung verwirklicht und die EACH-Charta untersucht, welche Anforderungen sich an Pflegende, Betreuende und Angehörige sowie die medizinischen Institutionen stellen. Die Ergebnisse werden nun im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst und unter Zugrundelegung von Luthers Schrift Über die Freiheit eines Christenmenschen, die konstitutiv für die evangelische Ethik ist, theologisch-ethisch reflektiert.

Es wurde in dieser Arbeit gezeigt, dass es unmöglich ist, Gesundheit eindeutig und klar zu definieren. Sie ist heute ein Gut, das von Zufall und Schicksal nicht mehr so abhängig ist wie früher. So wird in der heutigen Zeit, gerade vor den Möglichkeiten der hochspezialisierten Medizin, Gesundheit häufig normativ definiert (Kapitel 2ff). So unbestritten die Erfolge der modernen Medizin sind, die zu den Grundausstattungen einer heutigen menschenwürdigen Gesellschaft gehören und die wir nicht missen wollen, wachsen doch auch die Ansprüche, die wir an die Gesundheit stellen immer mehr.301 So bieten vor allem die wunscherfüllende Medizin und der Enhancement-Ansatz heute Möglichkeiten, an die vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht zu denken war. Als Steigerung dieser wunscherfüllenden Medizin kann das Bild des machbaren Menschen angesehen werden, das uns suggeriert, alles sei möglich und das uns Schicksal als Machsal verkauft (Kapitel 2.3 und 3.3.1). Der Anspruch auf Autonomie fordert dabei, dass jeder für sich selbst entscheiden muss, was Gesundheit für ihn persönlich bedeutet (Kapitel 301

Vgl. Wils/Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik I, 39.

78

3.2ff). Medizinische Interventionen dürfen daher ohne informed consent nicht durchgeführt werden. Dies gilt auch für urteilsunfähige Kinder. Dennoch kann das Prinzip des Autonomieanspruchs des Erwachsenen nicht einfach auf das Kind übertragen werden. So fordert es der Respekt vor diesem, der sich aus der Gleichheit Erwachsener und Kinder coram deo ableiten lässt, das Kindeswohl in den Mittelpunkt zu stellen. Dieses fordert einerseits den Schutz der kindlichen Interessen, zugleich aber auch die Anerkennung des Kindes als einer „unverwechselbaren, einzigartig wertvollen, und zugleich unverfügbaren Person“302, die ein Recht auf Partizipation hat. Um die Beteiligung entsprechend ausschöpfen zu können, ist eine kindgerechte Aufklärung und die Vermittlung von Wissen, die sich in der Fördernorm niederschlägt, essentiell (Kapitel 4.1.3; 5.3). Mit den drei Basisnormen: Schutz, Beteiligung und Förderung wird somit auch im medizinethischen Kontext ein in der kinderrechtlichen Debatte akzeptiertes Interpretationsmodell einer kindorientierten Ethik, in deren Zentrum das Kindeswohl steht, vertreten. So ist die natürliche Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen, in der die Ungleichheit gegenüber dem Erwachsenen abnimmt und die Gleichheit zunimmt, durch adäquaten Schutz und angemessene Förderung gleichermassen zu unterstützen, damit eine grössere Beteiligung und somit ein höheres Mass an Selbstbestimmung ermöglicht wird. Allerdings gilt die Ungleichheit des urteilsunfähigen Kindes und des Erwachsenen nur auf der anthropologischen Ebene, also coram mundo bzw. coram hominibus. Coram deo sind, auf Grund der unverfügbaren Gnade Gottes, die in Christus allen Menschen, Erwachsenen wie auch urteilsunfähigen Kindern, gilt, alle Menschen gleich (Kapitel 3.3.1). Die folgende Abbildung von Surall veranschaulicht das Spannungsfeld der kinderrechtlichen Basisnormen in theologisch-ethischer Perspektive sehr schön.

302

Maio, Mittelpunkt, 270.

79

aktueller Zustand (Kind)

Prozess (Erziehung / Bildung)

anthropologische Ebene (coram hominibus)

Differenz

Abnehmende Differenz, zunehmende Gleichheit

Normative Ebene (Kindeswohl)

Schutz vs. Beteiligung

Förderung (abnehmender Schutz, zunehmende Beteiligung)

Theologische Ebene (coram deo)

Gleichheit

-

prospektiver Zustand (Erwachsener) Gleichheit

Beteiligung

Gleichheit

Abb. 1: Das Spannungsfeld der kinderrechtlichen Basisnormen303

Die Tabelle verdeutlicht, dass die Förderung als Bindeglied zwischen Schutz und Beteiligung fungiert. Ziel ist dabei, die Gleichheit coram hominibus zu erreichen, die sich in gleichen objektiven und subjektiven Partizipationsmöglichkeiten ausdrückt. Somit ist die Fördernorm den beiden anderen Basisnormen gleichrangig. Eine Absolutsetzung einer der drei Basisnormen lässt sich, aus kinderrechtlicher wie auch aus christlicher Sicht, nicht rechtfertigen.304 So würde die Absolutsetzung der Fördernorm den notwendigen Schutz der Kinder vernachlässigen (Kapitel 4.1.2; 5.1ff) und statt einer möglichst grossen Partizipation des Kindes den grösstmöglichen Nutzen für Eltern, Gesellschaft und die hochspezialisierte Medizin zum obersten Förderziel erklären. Dies käme jedoch einer Instrumentalisierung des Kindes gleich und verstiesse somit gegen die inhärente Menschenwürde. Die Beteiligung des urteilsunfähigen Kindes bliebe dagegen ohne Grundlage des Schutzes und Vermittlung einer altersgemässen Förderung hinter ihrem eigenen Anspruch zurück und wäre für die Kinder eine enorme Überforderung.305 Eine derartige Interpretation würde die faktische Einbindung des Kindes in 303

Surall, Ethik des Kindes, 336. Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 338. 305 Es sei hier darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen Ausführungen um einen kinderspezifischen Schutz handelt, den Kinder über den Schutz hinaus, den alle Menschen benötigen, brauchen. Auch dem Bildungsprozess kommt in Bezug auf das Kind eine besondere und grundlegende Bedeutung zu, was aber nicht heisst, dass er mit dem Erreichen einer bestimmten Entwicklungsstufe aufhört. 304

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sein soziales Umfeld, insbesondere in das seiner Familie negieren und zu Lasten des Kindeswohls gehen. Absolute Freiheit, welche die sozialen Bindungen ignorierte und das urteilsunfähige Kind sich selbst überliesse wäre nicht mit der christlichen Freiheit, wie in Kapitel 3.3.1 erläutert, zu vereinbaren. So legt gerade die evangelische Ethik eine von Agape getragene vita activa an den Tag, wonach das christliche Leben ein ständiger Dienst zum Wohle des Nächsten ist. Dies beinhaltet auch, Verantwortung für das noch urteilsunfähige Kind zu tragen, solange dies selbst die es betreffende Situation noch nicht überblicken und erfassen kann. Logstrup schreibt dazu: „Der Einzelne […] ist immer schon verantwortlich, ob er will oder nicht. Er hat sein Leben nicht selbst geordnet. […] immer schon finden wir uns gebunden an andere Menschen, einander verhaftet in verantwortlichen Beziehungen.“306

Freilich darf dabei die Differenz von Kindern und Erwachsenen coram hominibus, auf Grund der Gleichheit coram deo, keinesfalls in einem hierarchischen Autoritätsverhältnis festgeschrieben werden, das Kindern um den Preis von Gehorsam und Unterordnung Schutz und Sicherheit bietet. Vielmehr motiviert die Gleichheit coram deo dazu, die kindliche Entwicklung durch eine aktive, angemessene und dem Kind entsprechende Förderung, die im medizinethischen Kontext sowohl Gesundheitserziehung, den Umgang mit der eigenen Krankheit als auch allgemeine Bildung umfasst, zu begleiten (Kapitel 5.3). Ziel ist dabei die Gleichheit coram hominibus zu erreichen, die sich letztendlich in der eigenverantwortlichen Patientenautonomie (Kapitel 3.2.3) ausdrückt. So ging bereits Luther, der in seinen zahlreichen Auslegungen des Elterngebotes (viertes Gebot) immer die Pflicht der Kinder zu Ehrfurcht, Demut und Gehorsam priorisierte, von einer Begrenzung der elterlichen Herrschaft über das Kind aus, wenn der Wille der Eltern nicht mit dem Willen Gottes übereinstimmte. In diesem Falle sei gar Ungehorsamkeit gegen das elterliche Gebot gefordert, „dan got ist in den ersten dreyen gebotten hoher zuachtenn den die eltern.“307

Eine absolute Pflicht zum Gehorsam gibt es daher bei Luther nicht, weder gegenüber den Eltern noch gegenüber anderen Autoritäten.308 Konsequenterweise schrieb er in

306

Logstrup, Ethische Forderung, 118. Auch hier sei angemerkt, dass wir für urteilsunfähige Kinder in besonderem Masse Verantwortung tragen, was aber nicht heisst, dass wir nicht für alle Mitmenschen Verantwortung mittragen müssen. 307 Luther, WA 6, 253, 2-3. 308 Vgl. Surall, Ethik des Kindes, 127.

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seinem Grossen Katechismus, die Eltern sollen sich im Gehorsam gegen Gott so verhalten, dass ihre Kinder ihnen gehorchen können und ihnen nicht unter Berufung auf die ersten drei Gebote widersprechen müssen. Gott habe den Eltern die Macht und Herrschaft nicht verliehen, damit sie „sich anbeten lassen“309. Sie sollen vielmehr immer daran denken, dass sie selbst „unter Gottes Gehorsam sind“310. Im Zusammenhang mit dem Schutz der Kinder betonte Luther immer wieder die Liebe der Eltern, die er im Sinne von Agape verstanden wissen wollte (Kapitel 3.3.2). So erweist sich die Elternliebe als Motiv für einen unbegrenzten, selbstlosen Einsatz zum Wohle des Kindes. Er fasst zusammen: „Bey den Eltern ist keine forcht und schrecken sondern lautter liebe.“311

Der Reformator kritisiert die elterliche Liebe aber, wo sie, bewusst oder unbewusst, aus egoistischen Gründen im Übermass zu Lasten des kindlichen Gehorsams geht, weil dies zur Förderung des kindlichen Eigensinnes führe und letztendlich dem Kindeswohl entgegen stehe.312 Hinsichtlich der heutigen modernen, hochspezialisierten Medizin würde sich dann das kranke Kind vielleicht wichtigen und lebensrettenden Massnahmen und Therapien gegenüber unkooperativ verhalten oder diese gar abzulehnen versuchen und dadurch Gesundheit und Leben aufs Spiel setzen. Andererseits kann solch falsch verstandene Elternliebe im Übermass aber auch zu unermesslichen Leiden des schwerkranken Kindes führen, weil die Eltern z.B. nicht bereit sind, ihr todkrankes und von schrecklichen Schmerzen geplagtes Kind, das keine Aussicht mehr darauf hat, wieder in das menschliche Beziehungsnetz zurückgeholt zu werden, in Würde sterben zu lassen, sondern es gegen seinen Willen schweren Therapien unterziehen, die sein Leiden nur verlängern (Kapitel 5.2.2). In diesem Fall muss von einer Instrumentalisierung und somit Würdeverletzung des Kindes gesprochen werden, da nicht das Kindeswohl, sondern die Interessen der Eltern im Zentrum stehen. Das Kind wird hier nicht als Subjekt mit eigenen Bedürfnissen gesehen, sondern es steht lediglich ein Teil seines We-

309

BSLK, Die Bekenntnisschriften, 603. BSLK, Die Bekenntnisschriften, 603. 311 Luther, WA 16, 489, 10. 312 Vgl. dazu Interview 1_Transkript, 20-24. So besteht heute oftmals die Tendenz, seinem Kind alle Steine aus dem Weg zu räumen und ihm negative Erfahrungen und „Frustrationen“ zu ersparen. Ob man ihm damit etwas Gutes tut, darf bezweifelt werden. So ist gerade für die gesunde Entwicklung und Persönlichkeitsbildung eines Kindes auch die Überwindung und Bewältigung von „Frustrationen“ von grosser Bedeutung. 310

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sens, nämlich seine körperliche Funktion im Mittelpunkt. Aus lutherischer Perspektive wäre dies, wie in Kapitel 3.3.1 beschrieben, Sünde, da der Mensch hier versucht, Schicksal durch Machsal zu ersetzen und sich selbst an die Stelle Gottes setzt, indem er mit allen Mitteln versucht, das Leben des Kindes zu verlängern. Aus dem gleichen Grund wäre es aber auch als Sünde anzusehen, wenn Eltern, wie in Kapitel 5.2.2 / Anmerkung 281 und 282 beschrieben, ihrem Kind eine lebensrettende Therapie verweigern oder ihr behindert geborenes Kind sterben lassen wollen. Aus evangelischer Sicht steht es dem Menschen nicht zu, zu entscheiden, welches Leben lebenswert ist und welches nicht.313 So spricht Luther, auch wenn Gesundheit nicht als letzter Selbstzweck angesehen werden kann (Kapitel 2.3), hinsichtlich einer Ablehnung der ärztlichen Hilfeleistung von einer Versuchung Gottes (Anmerkung 54).

Mit der Gleichheit von Kindern und Erwachsenen coram deo ist also die absolute Dienstbarkeit des urteilsunfähigen Kindes coram hominibus, die keinerlei Raum für eine angemessene und zumutbare Eigenverantwortung liesse, genauso wie die absolute Selbstbestimmung des urteilsunfähigen Kindes, nicht vereinbar. Vielmehr verlangt es die Verantwortung der Eltern vor Gott für ihre Kinder, diese angemessen aufzuklären und zu fördern, um dem Kind coram hominibus sukzessive die gleichen Partizipationsmöglichkeiten zu erschliessen wie den Erwachsenen, die letztendlich in der eigenverantwortlichen Patientenautonomie münden. Die Freiheit eines Christenmenschen ist auch die Freiheit des Kindes. Anstatt ihm diese Freiheit gänzlich abzusprechen, ist die Relationalität kindspezifisch zu modifizieren. So ist „die Freiheit des anderen […] auch im Kind zu achten.“314 Unter dieser Voraussetzung lassen sich die drei gleichrangig zu behandelnden kinderrechtlichen Basisnormen zur Grundlegung einer kindorientierten und kindgerechten Medizinethik, bei der das Kindeswohl im Zentrum steht, nicht nur theologisch rechtfertigen, sondern auch theologisch begründen und verantworten. Dabei beansprucht die theologische Begründung keine Exklusivität, sondern konvergiert durchaus mit Argumenten aus der neueren Psychologie, Psychiatrie, Pädagogik, und Soziologie.

313

Es gibt zwar einzelne Fälle, in denen ein assistierter Suizid gerechtfertigt sein kann, auf das weite Thema der Sterbeproblematik kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht eingegangen werden. 314 Frey, Theologische Ethik, 143.

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V.

Abkürzungen

ACE AKIK BASS BGB BSLK BV DRGs EACH EKD GG HSM KESR NC SAMW UN-ERK UN-KRK WHO WMA ZGB ZIF

Aid to Capacity Assessment Aktionskomitee Kind im Krankenhaus Büro Für Arbeits- und sozialpolitische Studien Bürgerliches Gesetzbuch Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche Schweizer Bundesverfassung Diagnosis Related Groups European Association for Children in Hospital Evangelische Kirche Deutschland Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Hochspezialisierte Medizin Kinder- und Erwachsenenschutzrecht National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland Schweizer Akademie für medizinische Wissenschaften Erklärung der Rechte des Kindes der Vereinten Nationen (1959) Kinderrechtskonvention der vereinten Nationen Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation) Weltärztebund (World Medical Association) Zivilgesetzbuch der Schweiz Zentrum für interdisziplinäre Forschung

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93

VII. Danksagung Hiermit danke ich Herrn Dr. Christoph Ammann sehr für die Betreuung dieser Masterarbeit sowie seine wertvollen Anregungen und Ratschläge.

Besonderen Dank möchte ich auch Frau Dr. Ruth Baumann Hölzle, der Leiterin des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen, Dialog Ethik, aussprechen, die mir neben wertvollen Ratschlägen und interessanten Diskussionen auch die Möglichkeit bot, regelmässig an Meetings zum Thema Ethische Grundsatzfragen in der Hochspezialisierten Medizin teilzunehmen, die in Zusammenarbeit mit ihrem Institut und dem Zentrum für Ethik in der Pädiatrie und Kinderchirurgie eines Schweizer Kinderspitals stattfanden.

Vor allem aber danke ich meinem Mann Albert und meinen beiden Kindern Adrian und Julia, die mich während meines gesamten Theologiestudiums immer wieder motiviert und unterstützt haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

94

VIII. Selbständigkeitserklärung Hiermit erkläre ich, dass die Masterarbeit von mir selbst und ohne unerlaubte Beihilfe verfasst worden ist und ich die Grundsätze wissenschaftlicher Redlichkeit eingehalten habe.

Ort und Datum:

.......................................................................................................................................

Unterschrift

.......................................................................................................................................

95

IX.

Curriculum vitae

Name: Adresse:

Staatsangehörigkeit: Religion:

Claudia Mehl, geb. Schepl Bühlstrasse 14 8125 Zollikerberg Tel: 043/5416593 e-mail: [email protected] 15.10.1965 Nürnberg verheiratet mit Prof. Dr. Albert Mehl Adrian Mehl, geb. 16.06.1992 Julia Mehl, geb. 01.03.1994 deutsch reformiert

Fachhochschulreife:

30.06.1984

Praktikum:

10/84 – 01/85

Praktikum am St. Theresienkrankenhaus Nürnberg

Studium:

1985 – 1989 12.12.1989

Studium an der Fachhochschule in Sigmaringen Abschluss als Dipl. Ing.(FH) für Haushalts- und Ernährungstechnik mit Schwerpunkt Betriebs-und Lebensmittelhygiene

Beruf:

10/89 – 12/90

Mitarbeiterin am Institut für Biotechnologie der Versuchsanstalt für Bierbrauerei mit Institut für Lebensmittelchemie und Biochemie in Nürnberg Leiterin des Werkslabors bei der Firma Kimberly-Clark GmbH in Forchheim

Geburtsdatum: Geburtsort: Familienstand: Kinder:

12/90 – 08/92

08/92 – 05/01

Familienarbeit und Erziehung unserer beiden Kinder

05/01 – 06/08

Qualitätsmanagerin für klinische Studien am Klinikum der Universität München-Grosshadern in der Studienzentrale der Medizinischen Klinik und Poliklinik III

21.07.2008

Umzug mit der Familie in die Schweiz

Studium:

ab HS 2010 31.07.2013 31.07.2014

Reformierte Theologie an der Universität Zürich Bachelor in reformierter Theologie Master in reformierter Theologie; Major: Ethik

Vikariat:

ab 01.08.2014

Reformierte Kirchgemeinde Knonau

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