Militärgeschichte - Zentrum für Militärgeschichte und

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Geschichte, Weltgeschichte
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Zeitschrift für historische Bildung

C 21234

ISSN 0940 - 4163

Heft 4/2015

Militärgeschichte

Militärgeschichte im Bild: Friedrich der Große mit seiner Suite und Generalität vor der Schlacht bei Leuthen 1757, unvollendetes Gemälde von Adolph von Menzel (1859/1867).

Gründung Bundeswehr und NVA Russland und Polen Palästinafront 1916 Trauma Zweiter Weltkrieg

Militärgeschichtliches Forschungsamt

MGFA

Impressum

Editorial

Militärgeschichte

Zeitschrift für historische Bildung Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr durch Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack und Oberstleutnant Dr. Frank Hagemann (V.i.S.d.P.) Produktionsredakteur der aktuellen Ausgabe: Oberstleutnant Dr. Harald Potempa Redaktion: Friederike Höhn B.A. (fh) Hauptmann Ariane Huth M.A. (aau) Major Dr. Jochen Maurer (jm) Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp) Major Dr. Klaus Storkmann (ks) Mag. phil. Michael Thomae (mt) Bildredaktion: Dipl.-Phil. Marina Sandig Lektorat: Dr. Aleksandar-S. Vuletić Karten: Yvonn Mechtel, Dipl.-Ing. Bernd Nogli Layout/Grafik: Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang Anschrift der Redaktion: Redaktion »Militärgeschichte« Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam E-Mail: ZMSBwRedaktionMilGeschichte@ bundeswehr.org Homepage: www.zmsbw.de Manuskripte für die Militärgeschichte werden an obige Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung, Übersetzung usw. Die Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redak­ tion behält sich Änderungen von Beiträgen vor. Die Wiedergabe in Druckwerken oder Neuen Medien, auch auszugsweise, anderweitige Vervielfältigung sowie Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung erlaubt. Die Redaktion übernimmt keine Verantwortung für die Inhalte von in dieser Zeitschrift genannten Webseiten und deren Unterseiten. Für das Jahresabonnement gilt aktuell ein Preis von 14,00 Euro inklusive Versandkosten (innerhalb Deutschlands). Die Hefte erscheinen in der Regel jeweils zum Ende eines Quartals. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes. Ihre Bestellung richten Sie bitte an: SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Stellmacherstraße 14, 26506 Norden, E-Mail: [email protected] © 2015 für alle Beiträge beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) Druck: SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden ISSN 0940-4163

der 12. November 1955 gilt als der Geburts­tag der Bundeswehr: Die ersten 101 Freiwilligen erhielten ihre Ernen­ nungsurkunden. Von funktionieren­ den eigenen Streitkräften aber war die Bundesrepublik Deutschland an die­ sem Tag noch meilenweit entfernt. Ab Januar 1956 wurden Mannschaften, Unteroffiziere sowie Offiziere ausgebil­ det, im Laufe der nächsten Jahre wurden Einheiten, Verbände und Großver­ bände aufgestellt und der NATO als einsatzbereit gemeldet. Ähnliches ge­ schah ab dem 1. März 1956 in der DDR mit der Aufstellung der Nationalen Volksarmee im Bündnis des Warschauer Vertrages. Dieter H. Kollmer und Rüdiger Wenzke beleuchten die Anfangsjahre beider deutscher Armeen vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In der letzten Ausgabe der Militärgeschichte wurde damit begonnen, am Beispiel Serbiens und Rumäniens die eher »vergessenen« Fronten des Welt­ krieges 1914–1918 vorzustellen. Dieses Vorhaben setzt Marcel Serr mit ­seinem Beitrag in diesem Heft fort. Er »entführt« Sie zur Palästinafront des Ersten Weltkrieges sowie zu den Geschehnissen in der Levante insgesamt. Die Levante umfasst unter anderem die derzeit in der öffentlichen Aufmerk­ samkeit im Mittelpunkt stehenden Staaten Syrien, Israel, Jordanien, Libanon, Teile des Irak und der Türkei sowie die palästinensichen Gebiete westlich des Jordan und den Gaza-Streifen. Hier waren deutsche und österreichischungari­sche Truppenteile zu Lande, zu Wasser und in der Luft zur Unterstüt­ zung des verbündeten Osmanischen Reichs eingesetzt. Der Autor stellt dabei u.a. Bezüge vom Ersten Weltkrieg zur gegenwärtigen Situation in dieser ­Region her. Ähnlich aktuelle Bezüge bietet auch der historische Rückblick von Helmut Schuhart, der einen Blick auf die über tausendjährigen wechselhaften Bezie­ hungen zwischen Polen und Russen wirft. Während und vor allen Dingen nach allen Kriegen leiden Menschen an Traumata. Traumata wurden in der Vergangenheit zumeist anders benannt, nicht erkannt, verdrängt, vergessen bzw. verschwiegen. Auch heute ist dies noch teilweise der Fall. Traumata kamen und kommen oft erst nach Jahr­ zehnten wieder hoch und beschäftigen derzeit unter anderem das Personal in der Altenpflege. Von Traumata sind Soldaten und Zivilbevölkerung in Kriegen gleichermaßen betroffen. Katrin Hentschel widmet sich aus sozial­ wissenschaftlich-psychologischer Sicht dieser Thematik am Beispiel des Zweiten Weltkrieges und seiner langen psychischen Nachwirkungen auf Kriegsgefangene, Verwundete, Vergewaltigte, Flüchtlinge und Ausge­ bombte. Eine gewinnbringende Lektüre dieses Heftes wünscht Ihnen Ihr

Dr. Harald Potempa Oberstleutnant

Inhalt Doppelte Militärgeschichte? Die Gründung von Bundeswehr und NVA als deutsche Nachkriegsarmeen vor 60 Jahren

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Service Das historische Stichwort: Eumenes von Kardia 22 Neue Medien  24 Lesetipps26 Die historische Quelle 28 Geschichte kompakt 29 Ausstellungen30

Oberstleutnant Dr. Dieter H. Kollmer, geb. 1964 in Hamburg, Projektleiter Bundeswehrgeschichte im Forschungsbereich »Militärgeschichte nach 1945« am ZMSBw

Leitender Wiss. Dir. Dr. Rüdiger Wenzke, geb. 1955 in Baruth/Mark, Leiter des Forschungsbereiches »Militärgeschichte nach 1945« am ZMSBw

Militärgeschichte im Bild Adolph Menzels »Leuthen-Fragment« 

Russen und Polen Verfeindete Brüder

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Kapitänleutnant d.R. a.D. Helmut Schuhart, geb. 1944 in Georgenswalde (Ostpreußen), Oberstudienrat i.R.

Die Palästinafront Der Erste Weltkrieg in der Levante

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Marcel Serr M.A., geb. 1984 in Ludwigshafen am Rhein, Wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEI) in Jerusalem, Doktorand an der School of Political Sciences (Universität Haifa/Israel)

Trauma Zweiter Weltkrieg Weltkrieg. Zerstörungsbilder in der Realität und im Kopf Kapitänleutnant d.R., Dipl.Päd. Katrin ­ entschel B.sc., geb. 1976 in Potsdam, H Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZMSBw

Am 3. Dezember 1757, kurz vor der Schlacht bei Leuthen, hielt Friedrich II. eine Ansprache an seine Generale. Mit der monumentalen Umsetzung dieses Ereig­ nisses im Maße von 3,18 x 4,24 Meter wollte Adolph von Menzel (1815–1905) seinen Kritikern beweisen, dass er nicht bloß Genremalerei liefere. Das Werk blieb unvollendet: Angesichts aktuellerer Themen, allen voran die Einigungskriege, war Historienmalerei nicht mehr gefragt. Foto: bpk/Nationalgalerie/SMB/Klaus Göken

Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:

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Kapitänleutnant Leonie Hieck M.A., ZMSBw Ralf Höller, Bonn; Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis, Direktor ­Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultur­ besitz, Berlin; Stefan E.A. Wagner, Doktorand, Friedrich ­Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

pa/dpa/Alfred Hennig

Gründung Bundeswehr und NVA

5Rückzug der serbischen Armee im Herbst 1915. 5Bundeskanzler Konrad Adenauer besucht am 20. Januar 1956 erstmals gemeinsam mit dem Bundesminister für Verteidigung Theodor Blank die angetretenen Soldaten in Andernach.

Doppelte Militärgeschichte? Die Gründung von Bundeswehr und NVA als deutsche Nachkriegsarmeen vor 60 Jahren

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ls die Waffen ab dem 8. Mai 1945 in Europa schwiegen, schien es nicht vorstellbar, dass es jemals wieder deutsche Soldaten ge­ ben würde. Nachdem sich aber sehr schnell nach Ende des Zweiten Welt­ kriegs im Wechselspiel der politischen Kräfte zwei antagonistische Machtblö­ cke herausbildeten, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann west- und ostdeutsche Streitkräfte an die Seite ih­ rer jeweiligen Besatzungsmächte tre­ ten würden.

Auf dem Weg zu westdeutschen Streitkräften Bereits im Jahre 1950 – kurz nach Be­ ginn des Koreakrieges – hatte Bundes­ kanzler Konrad Adenauer eine Beteili­

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gung der Bundesrepublik Deutschland an der Verteidigung Westeuropas ge­ fordert. Dementsprechend beauftragte er ehemalige Wehrmachtoffiziere, ei­ nen zukünftigen westdeutschen Ver­ teidigungsbeitrag auszuplanen. Eines der Ergebnisse war die im Oktober 1950 während einer Klausurtagung in dem gleichnamigen Kloster entwor­ fene »Himmeroder Denkschrift«, die die inhaltliche und strukturelle Grund­ lage für zukünftige bundesdeutsche Streitkräfte schuf. Adenauer ging es dabei jedoch nicht so sehr um die Streitkräfte an sich, son­ dern vielmehr um die politische Be­ deutung eines Beitrags an der gemein­ schaftlichen Verteidigung des Westens gegen ein weiteres Vordringen des Kommunismus. Der Koreakrieg wurde

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letztlich zum Katalysator des Adenau­ erschen Ansinnens. Für ihn war eine Armee zugleich aber auch ein Mittel zum Zweck der Staatsräson: die militä­ rische Integration sollte die Tür zur bundesdeutschen Souveränität öffnen. Darüber hinaus traute der Kanzler der politischen Beständigkeit seiner Lands­ leute nur bedingt. Die Integration in die westliche Staatengemeinschaft bot daher aus seiner Sicht auch die Mög­ lichkeit, die demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen Westdeutschlands weiter zu festigen und damit gleichzeitig die bundes­ deutsche Position für Freund und Feind kalkulierbarer zu machen. In Er­ gänzung zum amerikanischen »Double­ containment« wollte Adenauer durch die Westintegration »Deutschland vor

SZ Photo/dpa

sich selbst schützen«. Vor diesem Hin­ tergrund berief er den christlichen Ge­ werkschafter Theodor Blank zum »Be­ auftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Trup­ pen zusammenhängenden Fragen«, dem späteren ersten Verteidigungs­ minister. Die dazugehörige Behörde wurde in das Bundeskanzleramt inte­ griert und von der Presse »Amt Blank« getauft. Die Umsetzung der Pläne Adenauers bewegte sich in den 1950er Jahren in einem steten Spannungsfeld zwischen außenpolitischen und innenpolitischen Anforderungen und Widerständen. So erklärte sich Bonn zunächst damit ein­ verstanden, deutsche Soldaten in eine von Frankreich geforderte Europa­ armee zu integrieren, um in diesem Prozess den südwestlichen Nachbarn die Angst vor einem vermeintlich neuen deutschen Militarismus zu neh­ men. Kurioserweise scheiterte dieser Versuch der so genannten Europäi­ schen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Sommer 1954 an der französischen Nationalversammlung. Infolgedessen waren die politisch Verantwortlichen in den westlichen Hauptstädten ge­ zwungen, so schnell wie möglich eine Alternative für den dringend benötig­ ten bundesdeutschen Verteidigungs­ beitrag in der Mitte Europas zu erar­ beiten. Ziel des neuen Versuchs war es, durch die Nutzung der bundesdeut­ schen Ressourcen eine Optimierung der westeuropäischen Verteidigungs­ anstrengungen und eine Entlastung der jeweiligen Staatshaushalte zu er­ zielen. Die Regierungen befürworteten daher unter gegebenen politischen und vertragsrechtlichen Voraussetzungen eine schnellstmögliche, gleichberech­ tigte Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die 1949 gegründete North Atlantic Treaty Organization (NATO). Die sicherheitspolitischen Be­ denken Frankreichs angesichts rein bundesdeutscher Streitkräfte als Teil der NATO konnten während der im Spätherbst 1954 geführten Verhand­ lungen im Rahmen der Londoner Neunmächtekonferenz ausgeräumt werden, u.a. auch deshalb, weil die Bundesregierung einen generellen Ge­ waltverzicht bei der Verfolgung west­ deutscher Interessen akzeptierte. Ob­ wohl Adenauer das Scheitern der EVG als »schwarzen Tag für Europa« be­

kungen und eine Manifestierung der deutschen Teilung durch die Aufrüs­ tung hatten aus den »besten Soldaten der Welt« (so die Einschätzung der Alliier­ten nach dem Zweiten Welt­ krieg) ein dem Militär wenig zu­ geneigtes Volk werden lassen.

Die Gründung der Bundeswehr

5Gewerkschaftsjugend demonstriert 1955 auf dem Königsplatz in München gegen die Wiederbewaffnung.

zeichnete und US-Außenminister John Foster Dulles die Entscheidung der Pari­ser Nationalversammlung als eine »Krise von katastrophalen Ausmaßen« wertete, führte eben dieser Vorgang dazu, dass die verteidigungspoliti­ schen Positionen Bonns und der NATO substanziell gestärkt wurden. Die ver­ hältnismäßig schwache Stellung der Bundesrepublik in der geplanten EVG wurde durch mehr Eigenständigkeit und Gleichberechtigung im Rahmen der NATO ersetzt. Das westliche Bünd­ nis wurde an der Nahtstelle zum War­ schauer Pakt durch die Streitkräfte sei­ nes neuen Mitgliedes stabilisiert und verstärkt. Innenpolitisch stieß die Absicht zur Aufstellung von Streitkräften aller­ dings auf eine breite Opposition. In verschiedenen Umfragen sprachen sich damals über zwei Drittel der Be­ völkerung der Bundesrepublik dage­ gen aus. Öffentlich zum Ausdruck wurde diese Ablehnung durch die »Ohne mich«-Bewegung und die Pauls­ kirchenbewegung gebracht. Eigene Streitkräfte als Grundpfeiler der Inte­ gration in das westliche Bündnis schie­ nen von Anfang an ein wenig geliebtes Kind der westdeutschen Demokratie zu sein. Insbesondere die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Verbre­ chen, die in deutschem Namen durch Soldaten der Wehrmacht begangen worden waren, aber auch die Furcht vor negativen ökonomischen Auswir­

Mit der Ratifizierung der Pariser Ver­ träge durch den Deutschen Bundestag und ihrem Inkrafttreten am 5. Mai 1955 trat die Bundesrepublik Deutschland endgültig der NATO bei. Die Vorgaben des westlichen Bündnisses stellten in den kommenden Jahren eine der größ­ ten Herausforderungen für die junge Bundesrepublik dar. Nicht nur, dass bei Vollbeschäftigung eine Streitmacht von rund 500 000 Mann aufgestellt werden sollte, diese musste auch mit modernstem Gerät ausgestattet, in Ka­ sernen untergebracht und in die Bünd­ nisstrukturen eingefügt werden. Dies war aber noch Zukunftsmusik, als mit der Ernennung der ersten 101 freiwilligen Soldaten am 12. November 1955 die neuen Streitkräfte gegründet wurden. Nicht zufällig war dies der 200. Geburtstag des preußischen Hee­ resreformers Gerhard von Scharn­ horst, der bis zum heutigen Tag für wichtige Grundwerte der Bundeswehr steht: ein bürgerliches Offizierkorps, Zukunftsvisionen, Bildung und Men­ schenrechte. Den Namen »Bundes­ wehr« erhielten die jungen Streitkräfte nach umfangreichen Diskussionen im Bundestag am 22. Februar 1956, nach­ dem in der Öffentlichkeit zeitweise die Bezeichnung der neuen Streitkräfte als »Wehrmacht« durchaus geläufig gewe­ sen war. Bereits Mitte Juli 1955 hatte der Deutsche Bundestag gegen die Stimmen der Opposition das Freiwilli­ gengesetz verabschiedet, das die Ein­ stellung von 6000 Freiwilligen gestat­ tete. Einstimmig hingegen billigte der Bundestag wenige Wochen später das Gesetz über den Personalgutachteraus­ schuss, der über die Wiederverwen­ dung von ehemaligen Offizieren der Wehrmacht vom Oberst aufwärts ent­ scheiden würde. Die ersten Wehr­ pflichtigen hingegen konnten erst nach der Verabschiedung des Wehrpflicht­ gesetzes durch den Deutschen Bundes­ tag Ende 1956 eingezogen werden. Das von den Parlamentariern heftig disku­

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SZ Photo/UPI

Gründung Bundeswehr und NVA

5Überführung von Teilen des Bundesgrenzschutzes (BGS) in die Bundeswehr: Großer Zapfenstreich in Bonn am 10. Juli 1956.

tierte Gesetz legte die Dauer des Wehr­ dienstes zunächst auf ein Jahr fest. Um den Aufwuchs der Bundeswehr zu be­ schleunigen, wurden zudem 9572 frei­ willige Beamte des Bundesgrenzschut­ zes (BGS) auf der Grundlage des am 30. Mai 1956 verabschiedeten »2. Ge­ setzes für den Bundesgrenzschutz« in die Bundeswehr übernommen. Die Grundrechte des Grundgesetzes bilden bis heute die Grundlage für das innere Gefüge der Bundeswehr mit der »Inneren Führung« als Kern. Die In­ nere Führung stellte das Verhältnis zwischen den Soldaten auf die rechts­ staatlichen Grundlagen einer sich ent­ wickelnden Zivilgesellschaft. Der da­ raus resultierende »Staatsbürger in Uniform« wurde zum Markenzeichen der Streitkräfte im demokratischen westdeutschen Staat. Einen militä­ rischen Eid auf den obersten Befehls­ haber gab es nicht mehr. Nach dem 1956 angenommenen so genannten Soldatengesetz hat der Soldat der Bun­ deswehr seitdem die Pflicht, der Bun­ desrepublik treu zu dienen und das »Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen«. Entge­ gen der Zusagen von Bundeskanzler Adenauer an die NATO, die Bundes­ wehr innerhalb von drei Jahren aufzu­ stellen, sollte es jedoch noch bis Mitte der 1960er Jahre dauern, bis ihr Aufbau endgültig abgeschlossen war.

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Aufbau der ostdeutschen ­Streitkräfte Die offizielle Gründung der Natio­ nalen Volksarmee (NVA) Anfang 1956 war weder die Entscheidung gewähl­ ter Volksvertreter noch der Beginn des Streitkräfteaufbaus im Osten Deutsch­ lands. Sie bildete vielmehr die logische Konsequenz aus dem jahrelangen Be­

mühen der SED, ihre Herrschaft zwi­ schen Elbe und Oder mit einer regu­ lären Armee militärisch abzusichern. Der Kalte Krieg sowie die politischen und militärischen Entwicklungen im Westen spielten dabei durchaus eine wichtige Rolle. Sie waren allerdings nicht die allein bestimmenden Fak­ toren. Vielmehr hatten die ostdeut­ schen Kommunisten mit Hilfe ihrer so­ wjetischen Ratgeber aus Gründen der eigenen Machterhaltung dafür gesorgt, dass in der SBZ/DDR frühzeitig die Grundlagen künftiger Streitkräfte ge­ legt wurden. Es entstand 1948/49 in Form von Kaderformationen ein mili­ tärischer Nukleus, der sich danach weiter unter dem Deckmantel der Poli­ zei zu einer 100 000-Mann-Truppe ent­ wickelte. Stalins Diktum »Volksarmee schaffen – ohne Geschrei« wurde zur militärpolitischen Leitlinie der SED. Tatsächlich entwickelte sich die 1952 geschaffene »Kasernierten Volkspoli­ zei« (KVP) in der ersten Hälfte der 1950er Jahre zu einer relativ starken bewaffneten Kraft, auch wenn sie von einer regulären, einsatzbereiten Koali­ tionsarmee in vielen Bereichen noch weit entfernt war. Mitte des Jahrzehnts, angesichts internationaler Entwick­ lungen wie der Aufnahme der Bundes­ republik Deutschland in die NATO im Mai 1955, schien die Gelegenheit güns­ tig, nochmals die Furcht vor den »im­

Führungspersonal im Bundesministerium für Verteidigung und in der Bundeswehr (Auswahl, 1955/57) Funktion/Amt

Dienstgrad und Name

letzter Wehrmachtdienstgrad

Bundesminister für Verteidigung

Theodor Blank (ab 7.6.1955)

Oberleutnant der Reserve

Franz Josef Stauß (ab 16.10.1956)

Oberleutnant der Reserve

Beamteter Staatssekretär

Dr. Josef Rust



Generalinspekteur

General Adolf Heusinger (ab 1.6.1957)

Generalleutnant

Inspekteur des Heeres

Generalleutnant Hans Röttiger (ab 1.6.1957)

General der Panzertruppe

Inspekteur der Luftwaffe

Generalleutnant Josef Kammhuber (ab 6.6.1957)

Generalmajor

Inspekteur der Marine

Vizeadmiral Friedrich Ruge (ab 1.6.1957)

Vizeadmiral

Inspekteur des Sanitäts- Generalstabsarzt Dr. Theodor dienstes Joedicke (ab 25.8.1957)

Oberstarzt

Befehlshaber des Generalleutnant Hans-Joachim Kommandos der von Horn (ab 18.11.1957) Territorialen Verteidigung

Generalleutnant

Quelle: Rudolf J. Schlaffer und Marina Sandig, Die Bundeswehr 1955 bis 2015. Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Demokratie, Freiburg i.Br. 2015, S.236 – 238.

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5Die kasernierte Volkspolizei (KVP) paradiert auf der Mai-Demonstration 1952 in Ost-Berlin.

perialistischen Kriegstreibern« im Wes­ ten zu schüren und endlich offiziell eine Armee zur Verteidigung des »Ar­ beiter-und-Bauern-Staates« DDR zu schaffen. Nachdem in Westdeutsch­ land die ersten Freiwilligen in die Bun­ deswehrkasernen eingezogen waren, schien für die SED der richtige Zeit­ punkt gekommen, die KVP in reguläre Streitkräfte zu überführen.

Der Volkskammerbeschluss vom 18. Januar 1956 Am 18. Januar 1956 wurde das »Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung« und der »Be­ schluss über die Einführung der Uni­ formen für die Nationale Volksarmee« kurzfristig auf die Tagesordnung der 10. Sitzung der laufenden 2. Wahlperi­ ode der DDR-Volkskammer gesetzt, nachdem die Vorlagen bereits zuvor vom SED-Politbüro, von den »sowje­ tischen Genossen« in Moskau und der DDR-Regierung gebilligt worden wa­ ren. Es sei aus »technischen Gründen« nicht möglich gewesen, so entschul­

digte sich Volkskammerpräsident Jo­ hannes Dieckmann bei den Abgeord­ neten, die Drucksachen rechtzeitig zur Verfügung zu stellen. Gut vorbereitet begründete dagegen KVP-General­ oberst Willi Stoph den Gesetzentwurf zur Schaffung von Streitkräften: An­ gesichts der »Aufstellung einer west­ deutschen Söldnerarmee und der Ein­ beziehung Westdeutschlands in den aggressiven Nordatlantikpakt« genüge es nicht, nur Friedensbeteuerungen ab­ zugeben, sondern es sei nunmehr not­ wendig, »Maßnahmen« zu treffen, welche die Verteidigungsfähigkeit der DDR gewährleisteten. Daraus ergäben sich das Recht und die Pflicht, eine Ar­ mee zur Erhaltung des Friedens und zum Schutz des Territoriums der DDR und seiner Bevölkerung zu schaffen. Die »Nationale Volksarmee« sollte aus Land-, Luft- und Seestreitkräften bestehen und die fortschrittlichen na­ tionalen Traditionen des deutschen Volkes verkörpern. Der Name für die »neuen« Streitkräfte war dabei Pro­ gramm und von der SED festgelegt worden. Der Begriff »national« sollte dabei die Verwurzelung in den Tradi­

tionen des deutschen Volkes und den Gegensatz zur »Amerikanisierung« der westdeutschen Streitkräfte ausdrü­ cken. Und die Bezeichnung »Volks­ armee« war gewählt worden, um die personelle Zusammensetzung der Streitkräfte als wahre »Armee des Volkes« zu glorifizieren, in der es keine »Klassenschranken« und keinen Stan­ desdünkel mehr gebe. Die Abgeordneten der Volkskammer brachten nach der Rede Stophs erwar­ tungsgemäß weder Bedenken noch Fragen zu der weitreichenden Proble­ matik der Schaffung einer regulären Armee zum Ausdruck. Alle Redner entsprachen mit ihren Beiträgen dem vorgegebenen Muster, dass die Heimat wegen der vorgeblichen westlichen Be­ drohung militärisch verteidigt werden müsse. Insofern verwundert es nicht, dass die Abgeordneten der nach Ein­ heitslisten gewählten höchsten Volks­ vertretung der DDR das Gesetz über die Schaffung der NVA noch am selben Tag einstimmig verabschiedeten. Es trat mit seiner Verkündung in Kraft. Ei­ nen Tag später, am 19. Januar 1956, wurde Generaloberst Stoph von Minis­

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Gründung Bundeswehr und NVA

Deutsche Militärgeschichte nach 1945: Parallel oder verflochten?

Führung der NVA (Auswahl), März 1956 Funktion/Amt

Dienstgrad und Name

letzter Wehrmachtdienstgrad

Minister für Nationale Verteidigung der DDR

Generaloberst Willi Stoph

Unteroffizier

1. Stellvertreter des Ministers

Generalmajor Heinrich Dollwetzel



Stellvertreter des Ministers und Chef des Hauptstabes

Generalleutnant Vincenz Müller

Generalleutnant

Stellvertreter des Ministers und Chef der Politischen Verwaltung

Generalmajor Friedrich Dickel



Stellvertreter des Ministers und Chef für Technik und Bewaffnung

Oberst Erwin Freyer



Chef des Militärbezirks Pasewalk

Generalmajor Hermann Rentzsch

Hauptmann

Chef des Militärbezirks Leipzig

Generalmajor Fritz Johne



Chef der Luftstreitkräfte

Generalmajor Heinz Bernhard Zorn

Major i.G.

Chef der Luftverteidigung

Oberst Gerhard Bauer

Leutnant

Chef der Seestreitkräfte

Konteradmiral Fritz Scheffler

Unteroffizier

Quelle: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR. Im Auftrag des MGFA hrsg. von Thorsten Diedrich u.a., Berlin 1998, S. 429.

terpräsident Otto Grotewohl zum Minis­ter für Nationale Verteidigung der DDR und damit zum obers­ten ­Militär der DDR berufen. Glaubt man der zeitgenössischen DDR-Propaganda, so rief die Verkün­ dung des Gesetzes zur NVA-Grün­ dung am 18. Januar 1956 ein breites und zustimmendes Echo in der DDRBevölkerung hervor. Eine Flut organi­ sierter Stellungnahmen und Zustim­ mungen, in denen Betriebsbelegschaf­ ten, Schulklassen, Funktionäre und Wissenschaftler die Armeegründung begrüßten, füllte die Tageszeitungen. Abseits der öffentlichen Propaganda und eingeforderter Zustimmungser­ klärungen erhielten die Partei- und Staatsorgane in internen Berichten je­ doch auch Kenntnis darüber, wie diffe­ renziert die Reaktionen der Bevölke­ rung auf den Gründungsakt der NVA in Wirklichkeit waren. Die meisten Menschen in der DDR standen dem Streitkräfteaufbau im Osten eher skep­ tisch, wenn nicht sogar ablehnend ge­ genüber. Sie befürchteten Auswir­ kungen auf den Lebensstandard, eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands, eine Erhöhung der Kriegsgefahr in Eu­ ropa und nicht zuletzt die Wiederkehr des Militarismus. »Volksarmee einver­ standen – aber ohne uns«; »Wir wollen nicht auf unsere Brüder schießen«; »1945 haben wir geschworen, nie wie­ der eine Waffe in die Hand zu nehmen,

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und lehnen es auch heute ab« und »Ganz gleich, ob ich in Westdeutsch­ land oder in der DDR Soldat bin, ich nehme in keinem Falle wieder eine Knarre in die Hand«, waren Sätze, wel­ che die Ansichten vieler DDR-Bürger widerspiegelten. Wenn sich auch man­ che der Ablehnungsgründe gegenüber der NVA in den folgenden Jahren ab­ schwächten, blieb die Volksarmee Zeit ihres Bestehens für die meisten DDRBürger weiterhin eher ein notwendiges Übel. Im Frühjahr 1956 erhielten die ost­ deutschen Streitkräfte formal einen gleichberechtigten Status im War­ schauer Pakt. Die DDR-Streitkräfte wurden von Anfang an als Koalitions­ armee, als Armee an der Seite der in Deutschland stationierten sowjeti­ schen Truppen auf- und ausgebaut. Die geplante Gesamtstärke der Armee belief sich anfangs auf 120 000 Mann. Sie wurde jedoch noch im Verlauf des Jahres 1956 angesichts der demonstra­ tiv beibehaltenen »Freiwilligkeit« des Wehrdienstes auf 90 000 reduziert. Das Ministerium für Nationale Ver­ teidigung nahm offiziell am 1. März 1956 in Strausberg seine Tätigkeit auf. Die meisten der bereits bestehenden KVP-Dienststellen wurden in der Re­ gel zu NVA-Einheiten umgewandelt. Der 1. März wurde später alljährlich als »Tag der Nationalen Volksarmee« feierlich begangen.

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015

Genau wie in der Bundeswehr galt es auch im Osten, eine Vielzahl von Auf­ gaben gleichzeitig zu lösen. Personelle Engpässe, mangelnde Sachkenntnis, Zeitdruck sowie technische und mate­ rielle Unzulänglichkeiten führten zu Problemen, Verzögerungen und Rei­ bungsverlusten. Dennoch herrschte in den Streitkräften beider deutscher Staaten eine gewisse Aufbruchsstim­ mung, die trotz aller Schwierigkeiten die wichtigsten Aufgaben meistern half. Nicht zuletzt leistete die jeweilige Führungsmacht – die USA und die UdSSR – eine große Unterstützung beim militärischen Aufbau Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR propagierten ihre Streitkräfte allerdings als die einzig legitime deut­ sche Armee und Fortsetzerin bester Traditionen der deutschen Militärge­ schichte. In der jeweiligen Öffentlich­ keit galt die Gründung der jeweils ande­ren Armee zudem als Ausdruck ­einer aggressiven Grundhaltung und der Kriegsbereitschaft. Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten war verpönt. Vielmehr stellte man die Unterschiede in den Mittelpunkt und sprach sich beispielsweise gegenseitig jegliche nationale Identität ab. Propa­ gandabegriffe wie »Aggressions- und Revanchearmee« für die Bundeswehr und »Satellitentruppe Moskaus« für die NVA prägten von Anfang an das Bild von der anderen, vermeintlich kriegslüsternen Seite. Der verglei­ chende historische Blick auf die »Grün­ dungsgeschichten« beider Streitkräfte offenbart heute – fern aller zeitgenös­ sischer Propaganda – durchaus manch interessante Erkenntnis. So bildeten die offiziellen Grün­ dungsakte beider Streitkräfte im No­ vember 1955 und im Januar 1956 we­ der im West- noch im Ostteil Deutsch­ lands den tatsächlichen Beginn des mi­ litärischen (Wieder-)Aufbaus. Freilich besaß die DDR hier einen gehörigen »Vorsprung«, wie bereits weiter oben beschrieben. Aber auch in der Bundes­ republik gab es seit den frühen 1950er Jahren Institutionen, Organisationen und Personen, die dabei halfen, den Aufbau regulärer Streitkräfte rechtzei­ tig mitvorzubereiten. Das »Amt Blank« generierte sich seit 1950 quasi zum

bpk/Herbert Hensky

5Angehörige des ersten Mechanisierten Regiments der NVA leisten den Fahneneid, 30. April 1956.

Vorgänger des späteren Bundesminis­ teriums für Verteidigung. Der 1951 ge­ schaffene paramilitärische BGS bildete 1955/56 in der Bundesrepublik das be­ deutendste Personalreservoir für die Bundeswehr. Er wurde allerdings bei der offiziellen Gründung des Militärs nicht wie die KVP in der DDR als Vor­ läufer nahezu geschlossen in dieses überführt, sondern er blieb auch nach Gründung der Bundeswehr erhalten. Während es für die herrschende SED im Ulbricht-Staat ausreichte, sich für die Schaffung von regulären Streitkräf­ ten von den Volksvertretern einen knappen Gesetzestext bestätigen zu lassen, hielt man es im anderen Teil Deutschlands, in der Bundesrepublik, angesichts der Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der NS-Zeit, für unerlässlich, die Wehrverfassung sowie die Rolle des Militärs in der par­ lamentarischen Demokratie breit zu

diskutieren und letztlich gesetzlich zu verankern. Ganz im Gegensatz zu ih­ ren ostdeutschen »Kollegen« hatten die Parlamentarier des Bundestages, insbesondere durch den Bundestags­ ausschuss für Verteidigung, auch die Möglichkeit und das Recht, die Perso­ nalstärke und Struktur der Bundes­ wehr zu kontrollieren und mitzube­ stimmen. Zusätzlich wurde im April 1957 die Institution des nur dem Parla­ ment verantwortlichen Wehrbeauftrag­ ten eingeführt. Er gilt seitdem als »Hilfs­ organ« des Bundestages bei der Aus­ übung der parlamentarischen Kontrolle und stellt damit eine in der deutschen Militärgeschichte einmalige Instanz dar. Jeder Soldat kann sich mit Be­ schwerden oder Eingaben unmittelbar an ihn wenden. Der kurze Blick auf die Gründungs­ jahre beider deutscher Armeen zeigt trotz mancher Parallelität und Gemein­

samkeit ganz klar signifikante Unter­ schiede. Ob sich diese Feststellung für beide Streitkräfte auch vor dem Hin­ tergrund neuer, u.a. technologischer Herausforderungen und Entwicklun­ gen in den 1970er und 1980er Jahren belegen lässt, soll ein neues Projekt des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) klären helfen. Die Geschichte von Bundeswehr und NVA wird darin in einer vergleichenden und gegebe­ nenfalls auch verflochtenen Perspek­ tive untersucht, ohne dass die sys­ tembedingten Unterschiede nivelliert werden. Das interdisziplinär angelegte Projekt einer deutsch-deutschen Mili­ tärgeschichte von 1970 bis 1990 zielt darauf ab, die bereits begonnenen, lange Zeit aber getrennten Forschungs­ stränge zur Geschichte der Bundes­ wehr und der NVA im Sinne einer ge­ meinsamen, in die Entwicklung der Bündnisse eingebundenen, deutschen Militärgeschichte nach 1945 zusam­ menzuführen. Die beiden deutschen Staaten und ihr Militär im Ost-WestKonflikt, das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepu­ blik und in der DDR, auch aus soziolo­ gischer Sicht, sowie Wirtschafts- und Rüstungsfragen, Strukturen und Prä­ gungen der jeweiligen militärische Elite und die Untersuchung von Bun­ deswehr und NVA als militärische Großorganisationen stellen wichtige Untersuchungs- und Themenfelder des Projekts dar. Geplant sind in den kommenden Jahren mehrere Bände in einer eigenständigen Reihe, die der Diskussion um die deutschen Militär­ geschichte nach 1945 sowohl in der Wissenschaft als auch in der interes­ sierten Öffentlichkeit neue Impulse verleihen sollen.

 Dieter H. Kollmer / Rüdiger Wenzke Literaturtipps Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970– 2000. Hrsg. von Frank Bösch, Göttingen 2015. Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Bd 3: Die Zeit nach 1945. Armeen im Wandel. Im Auftrag des MGFA hrsg. von Klaus-Volker Neugebauer, München 2008. Rüdiger Wenzke, Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volks­ armee 1956 bis 1971, Berlin 2013. Martin Rink, Die Bundeswehr 1950/55–1989, München 2015.

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ullstein bild – Reuters/Sergei Karpukhin

Russen und Polen

Russen und Polen. Verfeindete Brüder 5Gedenkstätte Katyn´ bei Smolensk, Russland: Mahnwache eines polnischen Soldaten, 2010. Bei Katyn´ wurden 1940 tausende ­polnische Offiziere durch NKWD-Angehörige ermordet.

P

olen und Russen blicken jeweils auf eine über 1000-jährige Natio­ nalgeschichte zurück. Dass Nach­ barschaft oft Feindschaft hervorbringt, ist nicht ungewöhnlich, die Heftigkeit, Dauer und Unversöhnlichkeit im pol­ nisch-russischen Fall aber schon. Dar­ über zu berichten, ist nicht nur von all­ gemeinbildendem Interesse, sondern hat angesichts der Ukraine-Krise auch tagespolitische Bedeutung, denn es geht um eine Vergangenheit, die Gefühle und Gedanken der beiden Völker ge­ prägt hat und die bis heute nachwirkt.

Zur Entstehung der polnisch-­russischen Rivalität Nicht Feindschaft, sondern brüder­ liche Verbundenheit stand am Anfang. Eine Legende berichtet von den Brü­ dern Čech, Lech und Rus, die einst auf der Suche nach Siedlungsland auszo­ gen und sich dort niederließen, wo heute ihre »Nachkommen« leben, nämlich die Tschechen, die Polen und die drei heutigen ostslawischen Völker der Russen, Ukrainer und Weißrussen. Was immer an früher Gemeinsamkeit vorhanden gewesen sein mag: Tren­ nendes stellte sich schon früh ein. Die gemeinsame slawische Ursprache fä­ cherte sich in das Ostslawische der Russen, Ukrainer und Weißrussen und das Westslawische der Tschechen und Polen auf. Folgenreich war auch eine andere Entwicklung: Beide Völker nahmen zwar den christlichen Glau­ ben an, aber während sich der polni­ sche Fürst Mieszko I. (960–992) im Jahr

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966 für das römisch-katholische Chris­ tentum entschied, wählte der Kiewer Großfürst Wladimir I. (960–1015) im Jahr 988 für sich und sein ostslawisches Großreich, die so genannte Kiewer Rus, das oströmisch-byzantinische Glaubensbekenntnis. Zur politisch-militärischen Konfron­ tation Polens mit dem Moskauer Russ­ land kam es erst spät und zwar im Bunde mit dem Großfürstentum Li­ tauen. Dieser ursprünglich kleine Staat war seit dem 13. Jahrhundert zu einem breiten Flächenstaat expandiert, der sich von der Ostsee bis in die Nähe des Schwarzen Meeres erstreckte. Das war eine Folge der wiederholten verhee­ renden Mongoleneinfälle seit 1237, die zum Zerfall der Kiewer Rus geführt und Litauen die Chance der großräu­ migen Expansion eröffnet hatten. Mit dem langsamen, aber stetigen Aufstieg der Moskauer Fürsten und Groß­ fürsten erwuchs den Litauern jedoch im Laufe der Zeit ein machtpolitischer Rivale, der nun Anspruch auf die alten »russischen« Territorien erhob. Iwan III. (1440-1505) war der erste Moskauer Fürst, der sich 1478 den programma­ tischen Titel »Herrscher von ganz Rus­ sland« zulegte. Diese Entwicklung be­ traf nun auch Polen, denn dieses war seit 1386 in Personalunion mit Litauen verbunden. Bedingt durch den Mos­ kauer Druck, erweiterten die beiden Staaten 1569 in Lublin ihren Bund zur Staatenunion. Damit war eine Konstel­ lation entstanden, die die osteuropä­ ische Geschichte für lange Zeit prägen sollte.

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Die Polen in Russland Innerhalb des west-östlichen Ringens um die politische und territoriale Vor­ macht in Osteuropa gab es eine Phase, in der die polnische Seite die Oberhand zu gewinnen schien. Es handelt sich um die Zeit nach dem Tode Iwans IV. im Jahre 1584. Dieser hatte durch einen langen und sieglosen Eroberungsfeld­ zug ins Baltikum Russland an den Rand des Ruins gebracht. Und da au­ ßerdem seine innenpolitische Herr­ schaft zu einem Terrorregime gewor­ den war, entspannten sich nach seinem Tode politische Kämpfe und soziale Unruhen. Polnische Adlige und Aben­ teurer mischten sich in der Hoffnung auf Titel und Besitztümer ein. Höhe­ punkt polnischer Machtentfaltung war die Besetzung Moskaus zwischen 1610 und 1612 in der Regierungszeit König Sigismunds III. Wasa (1566–1632) und die Wahl seines Sohnes Władysław zum Zaren, nachdem vorher ausrei­ chende Bedingungen zum Schutz der russischen Selbstständigkeit ausgehan­ delt worden waren. Aber nicht nur Wi­ derstände in Russland selbst, sondern auch Sigismund trugen dazu bei, dass die unterschriebenen Vereinbarungen nicht verwirklicht wurden. Sigismund selbst wollte nun plötzlich an Stelle sei­ nes Sohnes Zar werden – und das schuf eine neue, für die russische Seite unan­ nehmbare Situation. Ein amtierender polnischer König auf dem Zarenthron hätte machtpolitisch bedeutet, dass Moskau mit Polen-Litauen in Personal­ union vereinigt worden wäre. Un­

Andersartigkeit und seinen politischen Ambitionen, blieb bestehen. Das nega­ tive polnische »Russlandbild« kommt in einem Schreiben des Königs Sigis­ mund II. August (1520–1572) an die englische Königin Elisabeth I. aus dem Jahre 1569 deutlich zum Ausdruck. Si­ gismund bittet darin um ein englisches Handelsembargo gegen Moskau mit der Begründung: »Als Feind aller Frei­ heit unter dem Himmel, wird der Mos­ kowiter immer mächtiger [...] So wird er befähigt, sich für die Unterwerfung aller anderen Fürsten vorzubereiten [...] Wir wissen genau, dass Eure Maje­ stät sich darüber im klaren sein muss, wie grausam und stark dieser Feind ist, wie tyrannisch er seine Untertanen be­ handelt, und wie sklavisch sie sich ihm fügen müssen.«

Die Russen in Polen Der Szenenwechsel könnte drastischer nicht sein: Aus dem Triumph der Polen über Russland zu Beginn des 17. Jahr­ hunderts wurde der vernichtende, dauerhafte Triumph der Russen über Polen Ende des 18. Jahrhunderts. Im Endergebnis eines sich von 1772 bis 1795 hinziehenden Dramas teilten Rus­ sland, Preußen und Österreich das pol­ nische Reich vollständig untereinander auf und löschten es als souveränen Staat von der Landkarte. Treibende Kraft war die russische Zarin Katha­ rina II. (1762–1796), die auch die größte Nutznießerin der Teilungen war: 60

Prozent der Fläche und 50 Prozent der polnischen Bevölkerung fielen an Russ­land. Damit hatte das Zarenreich in der Person Katharinas das histo­ rische Ziel der Moskauer Fürsten er­ reicht, nämlich die Rückeroberung al­ ler ehemaligen Gebiete der Kiewer Rus. Nur in Galizien verblieben noch orthodoxe Ukrainer unter jetzt öster­ reichischer Fremdherrschaft. Auch andere Staaten waren und sind von stärkeren Nachbarn umgeben und haben dennoch ihre staatliche Existenz behauptet. Im Falle Polens müssen also Besonderheiten vorliegen, die diesen Zusammenbruch erklärlich machen. Eine davon war die ungewöhnliche Staatsverfassung. Die »Republik P ­ olen« war eine Angelegenheit ausschließlich des Kriegeradels, der »Szlachta«. Er al­ lein hatte neben wirtschaftlichen Privi­ legien auch umfassende politische Freiheits- und Teilhaberechte. Zudem gelangte der polnische König seit 1573 nicht mehr durch Erbfolge auf den Thron, sondern durch die Wahlent­ scheidung einer dazu einberufenen Vollversammlung der Adligen. Der polnische Adelsstand folgte damit ei­ nerseits dem demokratischen Ideal der absoluten Rechtsgleichheit untereinan­ der und anderseits dem politischen Ideal der unbedingten Teilhabe an al­ len Entscheidungsprozessen gemäß dem Motto: »Nichts über uns ohne uns!« Die Radikalität dieses Denkens kommt im Grundsatz des »liberum veto« deutlich zum Ausdruck: Das ullstein bild - Heritage Images/The Art Collector

ullstein bild – SPUTNIK

denkbar war auch, dass ein Katholik, der als polnischer König nicht zur Or­ thodoxie konvertieren konnte, auf den Thron der »rechtgläubigen« Zaren ge­ kommen wäre. Das überstieg die Kon­ zessionsbereitschaft auch derjenigen Russen, die ansonsten einer Anpas­ sung an westliche Vorbilder nicht ab­ geneigt waren. Der daraus erwach­ sende Widerstand wuchs sich zu einem allgemeinen Volksaufstand aus, der die Polen aus Moskau vertrieb und zur Wahl eines Zaren aus den eigenen Rei­ hen führte. Dieser hieß Michail und wurde der Begründer der RomanowDynastie (ab 1762 Romanow-HolsteinGottorp), die das Russische Reich bis 1917 regierte. Aus russischer Sicht waren die Polen Invasoren, die den Kern russischer staatlicher Existenz und russischen Glaubens bedrohten. Sie hatten sich nicht nur durch Arroganz, Raub und Gewaltakte verhasst gemacht, sondern auch dadurch, dass man sie verdäch­ tigte, die russische Orthodoxie schwä­ chen oder gar in den »Schoß« der ka­ tholischen Kirche zurückführen zu wollen. Aber sowohl die Selbstherr­ schaft der Zaren als auch die russischorthodoxe Glaubenslehre waren für die Mehrheit der Russen unantastbare Traditionen. So bildete sich in Russ­ land ein negatives Bild von Polen im Besonderen und vom »gottlosen« Wes­ ten im Allgemeinen heraus. Aus polnischer Sicht markiert diese Episode einen Triumph über den rus­ sischen Feind, der mit seinen territoria­ len Ansprüchen und als selbsternannte Schutzmacht für die orthodoxen Chris­ ten auf polnisch-litauischem Boden existenzbedrohlich geworden war. Eine polnische Briefmarke der Zwi­ schenkriegszeit erinnert an die Erobe­ rung Moskaus und zeigt zu Füßen der siegreichen polnischen Feldherrn die berühmte russische Zarenkrone, die »Mütze Monomachs«, von der es heißt, sie sei ein Geschenk des byzanti­ nischen Kaisers Konstantin IX. Mono­ machos (1042–1055) an den Kiewer Großfürsten Wladimir II. (1113–1125) gewesen. Die Krone zu Füßen der Po­ len lässt den kritischen Betrachter aber auch an die verspielte Chance denken, sie »aufzuheben« und auf ein pol­ nisches Fürstenhaupt zu setzen. Dieser Sieg war jedoch nur ein kurzfristiger, und die Furcht vor Russland, seiner

5Bogdan Chmel’nickij (1595–1657, Abb. l.), Hetman der Dnjepr-Kosaken, ging 1654 ein Bündnis mit dem russischen Zar Alexei I. (1629–1676, Abb. r.) gegen die Herrschaft Polen-Litauens in der Ukraine ein.

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Russen und Polen

Die Teilungen Polens 1772 – 1795 S

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1793 an Russland (1) und Preußen (3)

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1795 an Russland (1), Österreich (2) und Preußen (3) Teilungen

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Verfassungsreform von 1791. Sie hatte Ideen der Gewaltenteilung und der Volksouveränität aufgenommen und aus dem Wahlkönigtum ein Erbkönig­ tum gemacht, um die Kontinuität der Staatsmacht zu stärken. Das nahm Ka­ tharina II. zum Anlass, die polnischen Reformen in Anspielung auf die revo­ lutionären Vorgänge in Frankreich als »französische Pest an der Weichsel« zu diffamieren, die russische Armee ein­ marschieren zu lassen und anschlie­ ßend (zusammen mit Österreich und Preußen) Polen in Gänze aufzuteilen. Natürlich können Verfassungseigen­ tümlichkeiten nicht allein den nahezu 200 Jahre dauernden staatlichen Ab­ stieg Polens bis zu seiner gänzlichen staatlichen Auslöschung erklären. Es kam ein Bündel politisch-militärischer Katastrophen »biblischen« Ausmaßes hinzu: 1654/55 ein Einfall der Russen und zwischen 1655 und 1657 eine Inva­ sion der Schweden. Und schließlich war schon 1648 in der polnischen Ukraine ein Aufstand der Dnjepr­

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Grenze Polens vor 1772

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07680-04 Quelle: N. Davies, Im Herzen Europas, München 2002, S. 279.

Nein eines einzigen Adligen im polni­ schen Reichstag reichte aus, ihn be­ schluss­unfähig zu machen! Solange ge­ nug politische Vernunft in der Adels­kas­te waltete, die persönlichen Interessen gegebenenfalls den gesamt­staat­lichen Notwendigkeiten unterzuordnen, be­ wahrte die polnische Adelsdemokratie ihre politische Handlungsfähigkeit. Als das nicht mehr der Fall war, wurde sie zu einem Sargnagel der Nation. Russland nutzte diese besonderen Um­ stände als Hebel der Einmischung. Es unterstützte zum einen zielstrebig die Kräfte und die jeweiligen Interessen­ gruppen, die aus Eigennutz keine Ver­ änderung der bestehenden Verhält­ nisse wünschten. Und es trat zum ­anderen als Schutzmacht für die tat­ sächlich oder vorgeblich verfolgten or­ thodoxen Glaubensangehörigen auf polnisch-litauischem Boden auf. In bei­ den Fällen nahm Russland ein Inter­ ventionsrecht in Anspruch. Die Skru­ pellosigkeit dieser Politik belegt die russische Reaktion auf die polnische

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Kosa­ken unter dem Anführer Bogdan Chmel‘nickij ausgebrochen. Im Ab­ wehrkampf gegen Polen suchten die Kosaken den Schutz der Moskauer Za­ ren. 1654 leisteten sie in Perejaslavl den Vertretern des damaligen Zaren Alexei I. (1629–1676) den Treueeid – ein bis heute in seiner Bedeutung umstrittener Vorgang. Denn während die Ukrainer Chmel‘nickijs Kosakenstaat als frühe Form eines ukrainischen National­ staates sehen und der Akt von 1654 als vorübergehendes Beistandsabkommen bewertet wird, interpretieren die Rus­ sen das Geschehen als Unterwerfung und »Wiedervereinigung« der Ukraine mit Russland. Im Zarentitel »Selbst­ herrscher von ganz Groß- und Klein­ russland« kommt dieser neue An­ spruch zum Ausdruck. Polen, innenund außenpolitisch geschwächt, musste die Oberherrschaft des Zaren über die Kosaken hinnehmen und ihn zudem als Garanten für die Religions­ freiheit der übrigen Orthodoxen auf polnisch-litauischem Boden anerken­

ullstein bild - CTK

5Sarkophag mit den Überresten des 2010 ums Leben gekommenen polnischen Präsidenten Lech Kaczyn´ski und seiner Frau, 2012.

nen. Die Ukraine selbst wurde entlang des Dnjepr geteilt. Einschließlich der Stadt Kiew gingen damit für Polen 233 000 Quadratkilometer fruchtbaren Landes mit 1,6 Millionen Menschen an den Moskauer Gegner verloren. Für Polen war die Bilanz dieser Zeit verheerend. Zu den Gebietsverlusten an Russland in der Ukraine und an Schweden im Baltikum kamen schwer­ wiegende materielle und bevölke­ rungsmäßige Einbußen. Ähnlich wie Deutschland nach dem Dreißigjäh­ rigen Krieg war Polen großflächig ver­ wüstet und bevölkerungsmäßig stark geschrumpft, die Städte als Zentren von Handel und Wandel zerstört und ihrer wirtschaftlichen Funktion be­ raubt. Es brauchte nahezu ein Jahrhun­ dert, ehe Stadt und Land wieder den »Vorkriegszustand« erreicht hatten. Das waren keine günstigen Vorausset­ zungen dafür, sich gegenüber einem immer stärker werdenden Gegner er­ folgreich zu behaupten. Der polnisch-russische Konflikt zeigt im Rückblick bis ins 17. Jahrhundert ein Hin und Her und Auf und Ab, ehe der Stern des einen unaufhaltsam zu Gunsten des anderen sank. Seit dem 18. Jahrhundert gerieten Initiative und Vorteil ganz auf die russische Seite. Alle polnischen Aufstände gegen die russischen Interventionen und Inva­ sionen sowie gegen das Joch der spä­ teren Fremdherrschaft, namentlich die von 1830 und 1863, wurden blutig nie­ dergeschlagen. Die polnischen Rebel­ len wurden eingekerkert, erschossen und zu Zehntausenden nach Sibirien deportiert. Man demütigte die Nation, indem man nach dem Aufstand von 1863 den Namen »Königreich Polen« von der Landkarte löschte und durch

die Bezeichnung »Weichselgebiet« er­ setzte. Zudem erfolgte eine Russifizie­ rung des gesamten öffentlichen Le­ bens. Unter dem Einfluss des aufblü­ henden russischen Nationalismus ver­ stieg man sich sogar dazu, den Polen abzusprechen, »wahre« Slawen zu sein. Alles in allem waren das für die Polen Vorgänge leidvoller Erinnerung und für die Russen Quell negativer As­ soziationen, die vermutlich bis heute im russischen Polenbild mitschwin­ gen.

Die Vergangenheit in der ­Gegenwart Der letzte Szenenwechsel führt in die Gegenwart. Eines der Symbole für die polnisch-russische Feindschaft, die bis heute nicht vergehen will, ist Katyń. Wo immer man in Polen weilt: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, eine Katyń-Gedenkstätte zu finden. An die­ sem russischen Ort sowie an zwei wei­ teren waren im Frühjahr 1940 über 20 000 polnische kriegsgefangene Be­ rufs- und Reserveoffiziere sowie viele andere inhaftierte Polen einzeln durch Kopfschuss hingerichtet und in Mas­ sengräbern verscharrt worden. Tat­ motiv war, jene zu liquidieren, die als Träger des polnischen Nationalbe­ wusstseins galten und damit als poten­ zielle Gefahr für das erklärte Ziel, nie wieder einen polnischen Nationalstaat entstehen zu lassen. Aber auch die Tat­ leugnung machte und macht dieses Geschehen zu einem Trauma für Polen und zu einer Schande für Russland – und im gewissen Sinne auch für die westlichen Alliierten USA und Groß­ britannien, denn sie deckten lange wi­ der besseres Wissen die Lüge. Die Tä­

ter stritten die Tat bis in die 1990er Jahre ab und bringen es bis heute nicht fertig, die Polen von der Aufrichtigkeit und Echtheit ihres Bedauerns zu über­ zeugen. Der tragische Absturz einer der beiden polnischen Regierungsma­ schinen bei Smolensk 2010 mit 96 töd­ lich verunglückten Passagieren, darun­ ter der polnische Staatspräsident Lech Kaczyński und seine Ehefrau, hat die­ ses andauernde Spannungsverhältnis in aller Polemik und Brisanz neu auf­ brechen lassen. Das beleuchtet schlag­ lichtartig, wie tief diese »Todfeind­ schaft« nach wie vor sitzt. Es gibt aber auch auf russischer Seite eine »Vergangenheit in der Gegen­ wart«. Hier wurde beispielweise nicht vergessen, dass das nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandene Polen dem bürgerkriegsgeschwächten bolsche­ wistischen Russland mit militärischer Gewalt eine Grenze aufgezwungen hatte, die ausgedehnte weißrussischwestukrainische Gebiete einbezog. Be­ zeichnend für die russische Sicht der Dinge ist auch, dass der russische Staatspräsident Wladimir Putin im Jahr 2005 den 4. November als »Tag der Einheit des Volkes« zum Nationalfeier­ tag machte, weil an diesem Tag vor da­ mals 393 Jahren die letzten Polen, mili­ tärisch geschlagen, den besetzten Kreml räumen mussten! Das heutige freie und unabhängige Polen lebt in einer Gegenwart, die nach wie vor durch die Erinnerung an den stalinistisch-kommunistischen Terror der Kriegs- und der Nachkriegszeit ge­ prägt ist. Das belegen die allgegenwär­ tigen Gedenkstätten und Erinnerungs­ tafeln. Die »alte« und die »junge« Ver­ gangenheit erklären die besondere Empfindlichkeit gegenüber Russland und den ausgeprägten Willen der ­Polen von heute, ihre neuerrungene Freiheit um jeden Preis zu bewahren.

 Helmut Schuhart Literaturtipps Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000. Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003. Günther Stökl und Manfred Alexander, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2009.

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Palästinafront 1916

Die Ausgangslage Anfang des 20. Jahrhunderts war das Osmanische Reich die vorherrschende Macht im Nahen Osten. Hatte das Reich einst eine erstrangige militä­ rische Bedrohung für Europa darge­ stellt, waren seine expansiven Tage zu diesem Zeitpunkt jedoch längst Ge­ schichte. Die Wirtschaft des Imperi­ ums blieb agrarisch geprägt. Hinzu kamen innere Schwierigkeiten: Die ­ Völker des multiethnischen Reiches entwickelten nationale Identitäten, der Widerstand wuchs. Auch Reformver­ suche durch die Bewegung der Jung­ türken konnten den Abwärtstrend des Großreiches nicht umkehren. Militä­ rische Niederlagen und territo­ riale

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Die Palästinafront Der Erste Weltkrieg in der Levante bpk

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er 11. Dezember 1917 markierte das Ende einer Ära in Palästina. An diesem Tag betrat der briti­ sche General Sir Edmund Allenby Jeru­ salem und beendete die 400-jährige Herrschaft des Osmanischen Reiches über eine Stadt, die für alle drei mono­ theistischen Weltreligionen eine heraus­ ragende Rolle spielt. Obgleich nur ein Nebenschauplatz des Ersten Welt­ krieges war die Einnahme Jerusalems ein bedeutender Erfolg für Großbritan­ nien. Angesichts dreier verlustreicher und frustrierender Kriegsjahre an der Westfront war der Sieg im Nahen Osten ein willkommenes Kontrastprogramm. Im Gegensatz zu den europäischen Schützengräben, die in langen, verlust­ reichen Abnutzungsschlachten im Stel­ lungskrieg verharrten, konnte in der Levante ein konventioneller Bewe­ gungskrieg geführt werden, in dem die Kavallerie noch einmal eine gewichtige Rolle spielte. Daher verwundert es nicht, wenn bedeutende Teile der bri­ tischen Führung zu der Überzeugung gelangten, dass der Krieg gegen die Mittelmächte im Heiligen Land (mit-) entschieden werde. Neben dieser militärhistorischen Be­ deutung hat der Erste Weltkrieg im Nahen Osten auch eine nachhaltige po­ litische Komponente. Denn die heutige regionale Staatenwelt ist im Wesent­ lichen eine Folge des Krieges. Auch die Instabilität der Region, die geprägt ist von Jahrzehnte währenden Konflikten, wurzelt in den Ereignissen dieses Kon­ fliktes und der unmittelbaren Nach­ kriegszeit.

5Eroberung Jerusalems durch britische Truppen am 11. Dezember 1917.

Einbußen häuften sich: 1911/12 er­ oberten italienische Truppen Libyen; im Ersten Balkankrieg 1912/13 gingen die Territorien auf dem Balkan verlo­ ren. Diese Niederlagen spiegelten den Zustand der osmanischen Armee wi­ der. Modernisierungsversuche mit Hilfe des Deutschen Reiches kamen zu spät. Ägypten war eine politische Anoma­ lie im Osmanischen Reich: Konstitutio­ nell eigentlich seit 1517 Teil des Reiches hatten die Briten das Land 1882 be­ setzt, um die Kontrolle des Suezkanals zu sichern. Als schnellste Verbindung nach Fernost war der 1869 eingeweihte Kanal eine lebenswichtige Versor­ gungsader des britischen Empires. Mit dem Beginn des Ersten Welt­ krieges in Europa entschied die Hohe Pforte, die Regierung in Konstantino­ pel (heute: Istanbul), dem Bündnis der Mittelmächte – Deutsches Reich und Österreich-Ungarn, ab 1915 auch Bul­ garien – gegen die Entente – Großbri­ tannien, Frankreich, Russland – beizu­ treten. Damit wurde der Nahe Osten Schauplatz des Ersten Weltkrieges. Die Kriegsziele des Osmanischen Reiches in der Levante konzentrierten sich auf

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die Rückeroberung Ägyptens. Doch dabei handelte es sich um nur eine Front von vielen. Im nordöstlichen Kaukasien und östlichen Mesopota­ mien sollten lange zuvor verlorene Ge­ biete zurückerobert werden; im Wes­ ten zielte die Hohe Pforte – auf die Rückeroberung der seit 1912/13 verlo­ renen Gebiete auf dem Balkan. Dage­ gen waren die militärischen Ziele Großbritanniens in der Levante zumin­ dest anfangs rein defensiv: die Siche­ rung der britischen Herrschaft über Ägypten und den Suezkanal.

Die Offensiven gegen den Suezkanal Mit dem Kriegsausbruch im Nahen Osten etablierten die Briten ihre Vertei­ digungslinie entlang des 160 km lan­ gen Suezkanals. Mit der Ankunft von zusätzlichen Truppen aus Indien, Aus­ tralien und Neuseeland im Dezember 1914 verfügten sie über 70 000 Solda­ ten. Die osmanische Armee konzentrierte dagegen 65 000 Mann in Palästina und Syrien. Mitte Januar 1915 rückten

20 000 Soldaten in den Sinai vor. Am 2./3. Februar starteten sie den Angriff auf den Suezkanal. Mit Booten ver­ suchten sie im Sturmangriff über den Kanal zu setzen, wurden jedoch rasch vom britischen Maschinengewehr­ feuer gestoppt. Schnell wurde die Aus­ sichtslosigkeit des Unterfangens klar. Die Überwindung des Kanals bei vollem gegnerischem Beschuss hätte selbst eine ausgezeichnet ausgebildete und disziplinierte Truppe vor eine große Herausforderung gestellt. Da­ von waren die eingesetzten osma­ nischen Soldaten jedoch weit entfernt. Bereits am Morgen des 4. Februar stell­ ten die Briten fest, dass die gegne­ rischen Truppen auf dem Rückzug ­waren. Sie verzichteten auf einen Ge­ genangriff und konzentrierten sich da­ rauf, den Kanal wieder für die zivile Schifffahrt zu öffnen. Die Briten rechneten mit einem zwei­ ten Angriff. Doch im Frühjahr 1915 konzentrierten sich die Kriegshand­ lungen im Nahen Osten auf die Darda­ nellen, wo die Entente-Mächte eine Großoffensive auf die Gallipoli-Halb­ insel unternahmen. Anschließend rich­ tete sich die Aufmerksamkeit der os­ manischen Kriegführung auf russische Operationen im Kaukasus. Dies gab den Ägyptischen Expeditionsstreit­

kräften der Briten unter dem Kom­ mando von Sir Archibald Murray Zeit, die Verteidigung zu optimieren. Erst im Juli 1916 setzten sich die os­ manischen Truppen unter der Füh­ rung des bayrischen Generals Fried­ rich Kress von Kressenstein ein zweites Mal gen Suezkanal in Bewegung. Dank der Hilfe von deutschen Offizieren wa­ ren die Streitkräfte besser ausgebildet und ausgerüstet als zuvor. Gut vorbe­ reitet auf den Angriff, gelang es den britischen Streitkräften dennoch, die Offensive der Osmanen abzuwehren und diesen eine empfindliche Nieder­ lage beizubringen. Dieser Sieg mar­ kierte den Wendepunkt an der Palä­ stinafront: Von nun an war die briti­ sche Herrschaft in Ägypten nicht mehr in Gefahr. Die militärische Initiative ging auf die Briten über.

Die Arabische Revolte Parallel bedeutete der Beginn der Ara­ bischen Revolte im Juni 1916 die Eröff­ nung einer weiteren Front für die Hohe Pforte in der Hedschas-Provinz auf der arabischen Halbinsel. Trotz ihrer schlechten Ausrüstung und wankel­ mütigen Kampfbereitschaft konnten die Araber durch Guerillaangriffe eine gehörige Anzahl osmanischer Truppen

Die Palästinafront ab 1916 RUSSISCHES REICH

Kaspisches Meer

RUMÄN. Schwarzes Meer BULG.

KONSTANTINOPEL Angora

Kämpfe März 1915 bis Januar 1916

Ersindschan

OSMANISCHES Harput REICH Iskenderun

Aleppo Tibni Deir es-Zor

Damaskus

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Quelle: Wegweiser zur Geschichte: Naher Osten, 2. Aufl., Paderborn 2009, S. 54.

NEDSCHD

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Vormarsch der Mittelmächte Vormarsch der Entente Türkische Abwehrstellungen

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Kaukasusfront im September 1915

PERSIEN

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Sultanabad

Kut-al-Amara

September 1915 Basra

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© ZMSBw

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Persischer Golf

binden, die andernfalls gegen die Briten an der Palästinafront eingesetzt worden wären. Der britische Hochkommissar von Ägypten, Sir Henry McMahon, hatte die Araber unter Führung von Hussein ibn Ali, dem Scherifen von Mekka, zum Aufstand gegen die osmanische Herrschaft bewegen können, indem er ihnen die britische Unterstützung für die Errichtung eines arabischen Groß­ reiches von der Arabischen Halbinsel bis in die Levante versprach. Neben den Gesprächen mit den Arabern stand Großbritannien jedoch zugleich in ge­ heimen Verhandlungen mit Frank­ reich, die im April 1916 zum Abschluss des sogenannten Sykes-Picot-Abkom­ men führten. Entgegen den Abspra­ chen mit den arabischen Verbündeten wurde die Levante darin in eine fran­ zösische und eine britische Einfluss­ sphäre aufgeteilt. Darüber hinaus er­ klärten die Briten im November 1917 im Rahmen der Balfour-Deklaration, dass man die »Errichtung einer natio­ nalen Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina« mit »Wohlwollen« be­ trachtete.

Der britische Vormarsch durch den Sinai Währenddessen rückten die Briten im Sinai vor und drängten die gegne­ rischen Truppen bis Ende Dezember 1916 auf die neue Frontlinie Beer Scheva–Gaza zurück. Im Frühjahr 1917 bereiteten sich beide Kriegsparteien auf die Schlacht um Gaza vor, dem Tor nach Palästina. Die britischen Nach­ schublinien wurden bis an die Belas­ tungsgrenze beansprucht. Der osma­ nische Kommandant von Gaza hatte derweil den Befehl erhalten, die Stadt bis zum letzten Mann zu halten. Die Briten starteten zwei große Fron­ talangriffe auf Gaza (26. März und 19. April). Beide wurden durch die sich unerbittlich verteidigenden Osmanen zurückgeschlagen. Neben der über­ dehnten Versorgungslinie wurden die britischen Offensiven durch Schwä­ chen auf der Kommando-Ebene ge­ hemmt. General Murray befehligte die Truppen von seinem Kommandopo­ sten bei El Arish und war daher zu weit von den Kampfgeschehnissen entfernt. Nach zwei Niederlagen in Folge wurde er als Befehlshaber abberufen.

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Palästinafront 1916

handlungen nahe den religiös bedeu­ tenden Stätten zu vermeiden. Sechs Wochen nach Beginn seiner Offensive hatte Allenbys Entschlossenheit Groß­ britannien einen wichtigen Sieg be­ schert.

Die Entscheidung

5Deutsches und türkisches Militär vor dem Bahnhof in Jerusalem 1917.

Daraufhin überdachte das britische Oberkommando die bisherige strate­ gische Ausrichtung, denn es war er­ sichtlich geworden, dass die Einnahme Palästinas mehr Truppen benötigte als gedacht. Entgegen skeptischen Stim­ men, die dafür plädierten, alle verfüg­ baren Ressourcen an der Westfront zu konzentrieren, setzte sich Premiermi­ nister David Lloyd George mit der Überzeugung durch, dass die militä­ rische Pattsituation an der Westfront durchbrochen werden könnte, wenn man an anderen Fronten gegen die Verbündeten des Deutschen Reiches Fortschritte erzielen würde. Siege an diesen Kriegsschauplätzen würden nicht nur die britische Moral stärken, sondern ein militärischer Durchbruch könnte zur Niederlage der Mittel­ mächte beitragen.

Allenby ante portas Ende Juni 1917 übernahm Sir Edmund Allenby das Kommando an der Paläs­ tinafront. Lloyd George hatte ihm mit auf den Weg gegeben, dass die bri­ tische Regierung die Eroberung Jerusa­ lems noch vor Weihnachten erwarte. Um dieses Ziel zu erreichen, plante ­Allenby einen Überraschungsangriff gegen die schwache Flanke der tür­ kischen Linie bei Beer Scheva. Unbe­ merkt vom Gegner verlegten die Briten einen Großteil der Fronttruppen von Gaza nach Beer Scheva. Am 31. Okto­ ber starteten die britischen Streitkräfte

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den Angriff. Die Überraschung glückte und die Wüstenstadt fiel nach kurzem Kampf. Von der Flanke rückten die Briten nun gegen Gaza vor. Die Osma­ nen gerieten in Panik und zogen sich von der Gaza–Beer Scheva-Linie zu­ rück. So marschierten die britische Ar­ mee am 6./7. November in Gaza ein. Allenby ließ die fliehenden gegne­ rischen Truppen umgehend verfolgen. Er wollte ihnen keine Zeit lassen, er­ neut Verteidigungspositionen zu be­ ziehen. Doch die osmanische Nachhut konnte ein vollständiges Desaster ver­ meiden und den britischen Vormarsch abbremsen, sodass sich die Mehrheit der osmanischen Truppen rund 12 km südlich von Jaffa sammeln und eine neue Verteidigungslinie errichten konnte. Erneut kam es zur Schlacht. Dabei konnten die Briten einen wich­ tigen Eisenbahnknotenpunkt einneh­ men und dadurch den Bahnverkehr nach Jerusalem unterbrechen. Wenig später eroberten sie Jaffa. Allenby setzte den Vormarsch nach Jerusalem umgehend fort, der jedoch beschwerlich war: Die Osmanen hatten die Straßen zerstört; außerdem setzte der Winterregen ein, sodass Fahrzeuge und Artillerie große Schwierigkeiten hatten. Derweil organisierte der vom Deutschen Reich entsandte General Erich von Falkenhayn die Verteidi­ gung Jerusalems. Nach erbitterten Kämpfen gelang den Briten am 7./8. Dezember der Durchbruch. Die Tür­ ken räumten die Stadt, um Kampf­

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Angesichts des Friedens von Brest-­ Litowsk an der Ostfront im März 1918 und der Verlegung frei gewordener deutscher Truppen nach Frankreich, drängte London auf die Entscheidung an der Palästinafront. Ungeachtet der logistischen Schwierigkeiten setzte Al­ lenby daher die Kampfhandlungen im Februar 1918 fort: Die Briten wandten sich zunächst der östlichen Flanke zu und sicherten das Jordantal. Anschlie­ ßend setzten sie Ende März und Ende April zu zwei Überfällen auf Amman – östlich des Jordans – an. Diese schei­ terten zwar, machten den Gegner aber glauben, dass weitere britische Offen­ siven jenseits des Jordans bevorstün­ den. Ganz wie Allenby sich erhofft hatte, verstärkte daher die osmanische Armee massiv ihre Defensivstellung östlich des Jordans auf Kosten ihrer Truppen in Palästina. Entsprechend wandte sich Allenby wieder der Front in Palästina zu. Die Kavallerie sollte am Mittelmeer durch die Front brechen und dann weit hinter feindliche Linien vorstoßen. Wieder setzte Allenby auf die Täuschung des Gegners: Die Briten gaukelten den Tür­ ken einen erneuten Angriff östlich des Jordans vor. Um die Verlegung eines Großteils der Truppen ans Mittelmeer zu verbergen, wurden die Zelte einfach stehen gelassen und 15 000 PferdeAttrap­pen aufgestellt. Die Schlacht in der Sharon-Ebene am Mittelmeer begann am 19. September 1918. Die osmanische Front kapitu­ lierte bald aufgrund des überraschen­ den britischen Ansturms. Wie geplant brach die britische Kavallerie durch die gegnerischen Reihen. Entscheidend war dabei die Aktivität der britischen Luftwaffe, die strategische osmanische Stellungen angriff und die Kommuni­ kation zwischen der Front und dem Hauptquartier in Nazareth unterbrach. Aufgrund fehlender Befehle brach die osmanische Front sehr schnell zusam­ men. Innerhalb von 36 Stunden war es den Briten gelungen, die gegnerischen

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Truppen an der Küste zu umfassen. Die osmanischen Kräfte in Palästina waren damit in Auflösung begriffen.

Das Ende Im dritten Anlauf eroberten die bri­ tischen Truppen am 25. September Amman. Noch bevor die Osmanen eine neue Verteidigungslinie etablieren konnten, ließ Allenby weiter vorrü­ cken. Bereits am Morgen des 30. Sep­ tember standen die Briten kurz vor Da­ maskus. Der Gegner zog sich weiter zurück. 19 000 osmanische Soldaten befanden sich nun auf der Flucht; die Artillerie war beinahe vollständig ver­ loren, Transportmittel existierten nicht mehr. An eine geordnete Verteidigung war nicht mehr zu denken. Die Briten setzten ihren Vorstoß nun nach Aleppo fort. Allenby geriet aus London unter Druck, den Osmanen endlich den Todesstoß zu versetzen. Mit der wohl letzten größeren Kavalle­ rie-Aktion in der Geschichte ordnete Allenby daher den Sturm auf Aleppo an. Doch bei Ankunft der Briten hatten die Osmanen die Stadt bereits ge­ räumt. Am 30. Oktober unterzeichnete das Osmanische Reich einen Waffen­ stillstand an Bord des britischen Kriegsschiffes »Agamemnon« im ­Hafen von Moudros (Limnos). Damit endete der Erste Weltkrieg in der ­Levante. Zeitgleich hatten die Entente-Mächte auch in Mitteleuropa entscheidende Siege erringen können. Nach dem Durchbruch der sogenannten Sieg­ fried-Linie Ende September 1918 drängte die deutsche Oberste Heeres­ leitung auf einen Waffenstillstand. Auch in Mesopotamien waren die Briten auf dem Vormarsch und näher­ ten sich Mossul. Auf dem Balkan brach die bulgarische Front Mitte September 1918 zusammen. Dadurch verlor Kon­ stantinopel seine Kommunikationsli­ nie nach Berlin.

Die Folgen Die Niederlage an der Palästinafront führte zum vollständigen Zusammen­ bruch des Osmanischen Reiches. Im Vertrag von Sèvres, dem Friedensver­ trag zwischen Entente und der Hohen Pforte, sollte das Reich zerschlagen und der Einfluss Konstantinopels auf

5General Sir Edmund Allenby reitet an der Spitze seiner Truppen in Jerusalem ein.

die anatolischen Kerngebiete be­ schränkt werden. Die türkischen Na­ tionalisten um Mustafa Kemal wollten dies nicht hinnehmen. Der folgende Türkische Befreiungskrieg (1919 bis 1923) gegen die Entente, vor allem aber gegen Griechenland führte schließlich zur Entstehung der modernen Türkei. Im Rahmen des Krieges kam es zu mil­ lionenfachen Zwangsumsiedlungen zwischen Griechenland und der Türkei, die bis heute die Beziehungen beider Länder belasten. Die arabischen Territorien des Osma­ nischen Reiches wurden auf der Kon­ ferenz von San Remo (1920) zwischen Großbritannien und Frankreich aufge­ teilt. Der Völkerbund festigte die an­ glo-französische Dominanz im Nahen Osten durch die Erteilung von soge­ nannten Mandaten an die imperialen Mächte. Damit entstand die franzö­ sische Herrschaft über den Libanon und Syrien. Großbritannien kontrol­ lierte Ägypten, Transjordanien, Palä­ stina und den Irak. Während Ägypten noch bis in die 1950er Jahre das Zen­ trum britischer Interessen im Nahen Osten bleiben sollte, erwies sich Paläs­ tina als nicht kontrollierbar. Schon ab den 1920er Jahren spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Ju­ den und Arabern zu und mündeten schließlich im offenen Krieg. Überfor­ dert und frustriert legte Großbritan­ nien am 14. Mai 1948 sein Mandat nie­ der. Am selben Tag rief David Ben ­Gurion den Staat Israel aus. Einen Tag

später begann mit dem Einmarsch aller arabischen Nachbarstaaten der Israe­ lische Unabhängigkeitskrieg (1948/49). Dies markiert den Beginn des israe­ lisch-arabischen Konflikts. Die Araber fühlten sich von den Briten betrogen: Während Hussein selbst die Hedschas-Provinz als König­ reich erhielt, wurde seinen Söhnen Ab­ dullah und Feisal die Herrschaft über (Trans-)Jordanien und Irak übertragen. Letztlich sollte sich die haschemitische Dynastie nur in Jordanien behaupten können. Bereits zwischen 1919 und 1925 eroberte Ibn Saud das Königreich Hedschas und etablierte 1932 sein neues Königreich Saudi-Arabien. 1963 wurde die Haschemiten-Dynastie im Irak durch die Baath-Partei gestürzt. Die moderne politische Staatenwelt des Nahen Ostens ist damit eine di­ rekte politische Folge des Ersten Welt­ krieges. Die Instabilität, die diese Re­ gion fortan charakterisieren sollte, wurzelt in den Entscheidungen und Weichenstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit.  Marcel Serr Literaturtipps Anthony Bruce, The Last Crusade. The Palestine Campaign in the First World War, London 2013. Roger Ford, Eden To Armageddon. World War I in the Middle East, London 2009. James Barr, A Line in the Sand. Britain, France and the Struggle for the Mastery of the Mid-dle East, London 2011.

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Trauma Zweiter Weltkrieg – Zerstörungsbilder in der Realität und im Kopf

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er Zweite Weltkrieg hinterließ zahlreiche sichtbare und an­ dere, auf den ersten Blick nicht sofort erkennbare Spuren. Allein die Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs forderten rund 800 000 Tote unter der deutschen Zivilbevölkerung. Etwa ein Viertel der deutschen Kinder wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Vater auf. Die deutschen Gefal­ lenen ließen etwa 1,7 Mio. Frauen als Witwen zurück. 2,5 Mio. Kinder wur­ den zu Halbwaisen sowie fast 100 000 Kinder zu Vollwaisen. Über zwölf Mil­ lionen Deutsche waren vertrieben wor­ den oder angesichts der vorrückenden alliierten Truppen auf der Flucht. Auch unter den Heimatvertriebenen befan­ den sich etwa zwei Millio­nen Kinder und Jugendliche. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren bis zu zwölf Millio­ nen »Displaced Persons« – ehemalige Zwangsarbeiter und ausländische KZInsassen – unterwegs, die nach Kriegs­ ende auf der Suche nach einer neuen Heimat waren. Millionen von Fami­ lien waren zerrissen oder auf der Suche nach Familienangehörigen und schick­ ten sich gegenseitig Lebenszeichen. Als erschütterndes Gesamtausmaß wird die Zahl der Opfer des Zweiten Welt­ krieges, Soldaten wie Zivilbevölke­ rung, auf etwa 65 Millionen geschätzt. Überlebende, Vertriebene und Heim­ kehrer waren nach diesen schreck­ lichen Erlebnissen und Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit mit Tod, Verwundung oder Vertreibung und Vergewaltigung häufig traumati­ siert. Gleichzeitig war die Nachkriegs­ zeit für die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung verstörend und beunru­ higend, da kaum Orientierung und Stabilität geboten wurden. Susannes Mutter ist 1926 geboren. Sie wollte immer Lehrerin werden. Am Tag der Flucht versuchte sie noch, ihre Eltern zu finden, verpasste sie aber und traf sie erst sehr viel später wieder. Sie erzählte

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5Deutsche Flüchtlinge in Danzig im April 1945. viel von ihrer Angst vor den russischen Soldaten während der Flucht – von ihrer Angst vor Vergewaltigung. Sie erzählte vom Krieg, vom Alltag, vom Mangel. Sehr belastend für sie war, alle ihre männlichen Freunde durch den Krieg zu verlieren: »Meine Freunde sind gefallen, die Jungen in meinem Alter mussten im letzten Kriegsjahr noch zum Militär. Es ist kaum einer wiedergekommen. Die Jungen aus der Tanzstunde waren weg. Sie rissen sich noch drum, Soldat zu werden, sie durften dann schneller Abitur machen. Alle, praktisch alle, sind nicht wiedergekommen.« Sehr geprägt wurde Susannes Mutter von der ersten Zeit nach der Flucht, die sie mit ihren Eltern in einem Flüchtlingslager verbrachte. Sie fühlte sich dort nie wohl. Noch Mitte der 60er-Jahre sagte eine Nachbarin über ihre Familie: »Das ist ja alles Pack aus dem Osten.« Dieser Satz verfolgt Susannes Mutter bis heute und sie sagt: »Viele andere haben auch unter dem Krieg gelitten, aber manche haben wenigstens ihr Zuhause behalten und den Ort, an dem sie aufgewachsen sind.« (B. Alberti, Seelische Trümmer, München 2010)

Der Zweite Weltkrieg hinterließ gra­ vierende materielle Zerstörungen: Die Bomben vernichteten mindestens drei Millionen Wohnungen im gesamten Deutschen Reich, was einen Verlust von etwa 20 Prozent des Gesamtwohn­ raums, in Großstädten sogar bis zu 60 Prozent, bedeutete. Ganze Dörfer und Städte, Infrastruktur sowie Versor­ gungseinrichtungen waren dem Erd­ boden gleichgemacht oder stark be­ schädigt. Wohnraummangel, Krank­ heiten und Hungersnot waren in der Nachkriegszeit Alltag – die Menschen blickten einer unsicheren Zukunft ent­ gegen. Aber welche Erinnerungen, Erleb­ nisse, Bilder dieser Zerstörung sind bei

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den Überlebenden dieser Kriegs- und Nachkriegszeit heute noch oder erneut präsent und welche Auswirkungen ha­ ben die Erlebnisse auf die weitere per­ sönliche Entwicklung gehabt? Was be­ deutet es, wenn »Bombenhagel«, »Flucht oder Vertreibung« und »Feuer­ sturm« seit mehr als 70 Jahre nicht en­ den wollen und die (Zerstörungs-)Bil­ der auch heute noch wiederkehren, in Träumen oder plötzlich und unerwar­ tet – ohne an Intensität verloren zu ha­ ben. Welche Auswirkungen können diese Erlebnisse der Kriegs- und Nach­ kriegsgeneration heute noch haben? Isolde sitzt zusammengesunken auf einem Stuhl und malt sich – als kleines Mädchen – sie malt das Trauma ihres Lebens – jetzt – Jahrzehnte nach den schrecklichen Erlebnissen: »Trauer kann man nicht lösen, blinde Flecken verdecken Geschichte, Qual entbindet sich nicht, mein Mund ist verschlossen, verriegelt, Atemnot. Gewalterfahrung lähmt, die Worte bleiben in meinen Fingern stecken, Scham, Schuldgefühle, meine Finger verkrampfen. Ach könnte ich mich verkriechen im Bauch meiner Mutter und neu werden.« Isoldes Lebenstrauma ist fest mit dem letzten Jahr des Krieges verknüpft. »Von unserer Wohnung aus konnten wir sehen, wie immer mehr Soldaten über die Chaussee fortzogen. Es blieb kaum jemand zurück, der uns und unsere Städte verteidigen konnte. Dabei hatte man uns immer versprochen, dass unsere Soldaten uns schützen würden.« Und immer hatte es auch grausige Warnungen gegeben. »Wir waren auf das Schlimmste gefasst, denn man erzählte sich, dass die Russen Zettel an ihre Soldaten verteilt hätten, auf denen stand, die deutschen Frauen seien Freiwild.« Was das bedeutete, musste sie leidvoll und schmerzhaft erfahren. (I. Jacobs, Freiwild, Berlin 2008)

bpk/Museum Berlin-Karlshorst/Timofej Melnik

Trauma Zweiter Weltkrieg

Nachwirkungen bis heute Innerhalb der letzten Jahrzehnte sind diverse wissenschaftliche Studien zu diesem Themenbereich erschienen. Dabei wurden verschiedene Gruppen von Betroffenen untersucht, etwa Op­ fer von Flucht und Vertreibung sowie von Vergewaltigungen oder von Bom­ benangriffen. Die Betroffenen berichte­ ten häufig von mehrfachen trauma­ tischen Erfahrungen (z.B. Vergewalti­ gungen, Bombenangriffe, Miterleben des Todes naher Angehöriger). Gleich­ zeitig wirkten sich die in der Kriegsund Nachkriegszeit herrschenden Lebens­bedingungen als zusätzlich be­ lastende Faktoren aus, die eine Bewäl­ tigung der traumatischen Erlebnisse erschwerten oder verhinderten. »Man hat uns schon in ganz jungen Jahren beigebracht: Darüber spricht man nicht, das erzählt man nicht! Schau nach vorn! Sei froh, dass du noch lebst. Vergiss alles! Und das haben die meisten von uns getan. Um zu überleben und nicht am Rande stehen zu bleiben ein Leben lang, muss man sich anpassen.« (M. Grundmann u.a., Kriegskinder in Deutschland zwischen Trauma und Normalität, Berlin

2009)

Kriegskinder waren häufig mehrfa­ chen Belastungen ausgesetzt. Zum ei­ nen durch die Abwesenheit des Vaters sowie durch die gleichzeitig einge­ schränkte Verfügbarkeit der Mutter als ständige Bezugsperson. Diese hatte Aufgaben zur Sicherung des Lebens­ unterhalts übernommen oder litt selbst unter traumatischen Erfahrungen. Zum anderen belastete die Kriegs­ kinder das Erleben von Bombenangrif­ fen oder Kinderlandverschickungen und die damit verbundene Trennung von den Eltern oder anderen Bezugs­ personen. Diese Belastungen sowie die Lang­ zeitfolgen des Zweiten Weltkriegs the­ matisieren mehrere Studien aus dem Jahre 2007. Zahlreiche Untersuchun­ gen betonen, dass nicht nur direkte Kriegseinwirkungen (z.B. Fronterfah­ rungen oder Bombenangriffe), sondern auch Kriegsfolgeerscheinungen wie Zerstörungen, Trennung oder Verlust von Bezugs­personen, emotionale Ver­ nachlässigung, Heimatverlust oder Mangel­ernährung weitreichende und lang­fris­tige Folgen hatten. Auch die

Städtebombardierungen, die Nächte in den Luftschutzbunkern, verkohlt hin­ terlassene Städte und verschüttete, tote oder verstümmelte Menschen wurden von den Zeitzeugen als belastend er­ lebt. Je nach Alter zum Zeitpunkt des Geschehens oder der Häufigkeit und auch der Art dieser Erlebnisse re­sul­ tierten daraus unterschiedlichste Stö­ rungen. Körperliche und psychosoma­ tische Leiden sowie psychische Belas­ tungen konnten vorübergehend sein, sich über den Krieg hinaus hartnäckig halten oder erst zeitlich verzögert. Außer­dem berichteten die Betrof­fenen von wiederkehrenden belas­ tenden Träumen zum erlebten dramatischen Ereignis, Angstausbrüchen und Ag­ gressionen. Gleichzeitig wird von einer Verstärkung der Beschwerden bei ähn­ lichen Ereignissen oder Bedingungen gesprochen (Witterungslagen wie z.B. Schnee, einschlägige Geräusche wie Feuerwerksdetonationen), bei be­ stimmten Jahres- und Gedenktagen, Festumzügen, angesichts von Stachel­ drahtzäunen oder Uniformen. Ebenso traten Zwangsgedanken oder Zwangs­ handlungen auf. Als besonders heftige oder resignierende Reaktionen zeigen sich Selbsttötungsgedanken (z.B. we­ gen Überlebensschuldgefühlen). Bei Kindern traten nach den trauma­ tischen Erlebnissen während der Kriegsjahre psychisch bedingte Sprachstörungen, Asthma, Depressio­ nen oder Schlafwandeln auf. Beobach­ tete Reaktionen auf traumatische Er­ fahrungen konnten sich ebenso als unter­drückter Schmerz, innere Leere, suchtartige Suche nach Ablenkung oder unkontrollierte Wut äußern. Viel­ fach wurde Erlebtes auch verdrängt oder verschwiegen. Als Reaktion auf traumatische Erfahrungen im Kindes­ alter kann der Erwachsene an Erschöp­ fung und körperlicher Krankheit lei­ den – sozusagen eine allgemein akzep­ tierte Form seelischen Leids –, ohne die »wahren Ursachen« thematisieren zu müssen. Auch Existenz- und Identitäts­ unsicherheiten konnten die Folge von traumatischen Erfahrungen sein. Zeitzeugen von Bombenangriffen be­ richten Jahrzehnte nach diesen Erleb­ nissen, dass die »Gänsehaut immer noch spürbar« und »die Angst in der Nacht« nach wie vor vorhanden sei. Die Bilder der Bombennächte, in denen der Himmel dunkelrot gefärbt war,

sind bei einigen Zeitzeugen auch Jahr­ zehnte nach dem Erleben präsent und werden als »das Schlimmste, was er­ lebt wurde«, genannt. In diesem Zu­ sammenhang werden brennende Städte beschrieben, in denen das Feuer wütete und man über Leichen steigen musste, die »ganz klein zusammenge­ schrumpft waren von den Phosphor­ bomben«. Dabei wird herausgestellt, dass diese Erlebnisse die ersten Begeg­ nungen mit Toten überhaupt waren und dass es für das erlebte Entsetzen keine Worte gibt, weshalb Verstummen die einzige Lösung war. Wenn es um die Auswirkungen der traumatischen Erlebnisse bis in die Gegenwart geht, berichten Zeitzeugen beispielsweise auch davon, dass sie »bis heute« nicht grillen, diesen Geruch nach verbrann­ tem Fleisch, verbrannter Kohle und verkohltem Holz nicht ertragen kön­ nen, da es «damals genauso gerochen hätte« und dieser Geruch die schreck­ lichen Bilder wieder heraufbeschwöre. Auch noch Ende der 1990er Jahre beschrei­ben »Kriegskinder« ihre Er­ lebnisse an die Kriegs- und Nach­ kriegsjahre sehr eindrücklich und plas­ tisch. Doris (Jg. 1939): »Das Schlimmste war für mich immer, wenn der Luftschutzwart die Stollentüre endgültig schloss. Dann konnte niemand mehr hinein oder heraus. Ich fühlte mich eingeschlossen und bekam häufig Asthmaanfälle.« Rolf (Jg. 1931): »Auf der Allee wunderte ich mich über die vielen Figuren, bis ich merkte, dass es sich dabei um verkohlte Leichen handelte. Es war furchtbar. Das Elternhaus war zerstört, überall Trümmer und Brände sowie Leichen. Leichen, Leichen: Das schlimmste Bild hatte ich im Garten des Krankenhauses vor mir. Hier sammelte man die Leichen. Ich glaube, es waren Hunderte. Für mich ein Anblick, den ich nie in meinem Leben vergaß. Wochenlang wachte ich nachts immer wieder auf und hatte diese Bilder vor mir, die mich in Angst und Schrecken versetzten.« (M. Dörr, Der Krieg hat uns geprägt, Bd 1, Frankfurt a.M. 2007)

Trauma und Traumaforschung Ursprünglich stammt der Begriff Trauma aus dem Griechischen und be­ deutet Wunde. Zuerst verstand man unter diesem »Wundbegriff« eine me­ chanische Verletzung der Haut, ent­

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Trauma Zweiter Weltkrieg

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jede traumatische Situation eine psy­ chische Traumatisierung zur Folge ha­ ben. Nach der traumatischen Situation greift die traumatisierte Person auf zur Verfügung stehende Abwehr- und Be­ wältigungsmechanismen zurück (trau­ matische Reaktion). Bei einigen Perso­ nen kann die traumatische Reaktion einen chronischen Verlauf nehmen ­ und in einen traumatischen Prozess münden. Charakteristisch für diesen traumatischen Prozess sind u.a. emotio­ nale Taubheit, Vermeidung von Rei­ zen, die an das Trauma erinnern, oder Übererregungsphänomene (Schlafstö­ rungen, Wutausbrüche, Schreckhaftig­ keit). Gleichzeitig können sich nicht steuerbare Erinnerungen an das Ereig­ nis aufdrängen (Intrusionen), die als »Flashbacks« (Wiedererleben der trau­ matischen Situation im Wachzustand) oder als Alpträume auftreten. In der Wissenschaft wurde lange Zeit diskutiert, ob die Erlebnisse eines Welt­ krieges dauerhafte Schäden bei gesun­ den Menschen verursachen können. Dabei spielten immer wieder folgende Kernthemen eine Rolle: Gab es über­ haupt einen Zusammenhang zwischen einem Trauma und etwaigen Sympto­ men? Angenommen es gäbe einen, wie wäre dieser zu erklären? Wirkte sich das Trauma unmittelbar auf den Kör­ per aus, sodass Symptome als Aus­ druck einer organischen Störung ver­ standen werden konnten? Oder wirkte das Trauma ausschließlich auf psychi­ scher Ebene? Und immer wieder tauchte die Frage auf, ob es sich hierbei überhaupt um eine Krankheit im ei­ gentlichen Sinn handelte. Hieraus wird schon ersichtlich, dass dieses Thema – unter verschiedenen Perspektiven – durchaus bereits seit dem späten 19. Jahrhundert eine Rolle spielte.

dass die psychischen Folgen und das persönliche Belastungserleben eine eher unter­geord­nete Bedeutung hatten und somit weniger thematisiert wur­ den. Zudem brachten die zu bewälti­ genden Aufgaben Ablenkung von den traumatischen Erlebnissen: Es wurde bis zur Erschöpfung gearbeitet und nach vorn geschaut, um die belasten­ den Erlebnisse nicht mehr thematisie­ ren zu müssen und sie aus der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt zu ver­ bannen. Dennoch sind gerade für die Kriegs­ generation die erlittenen Traumatisie­ rungen eine wichtige historisch-bio­ grafische Bedingung, die untrennbar mit den Lebenswegen jedes Einzelnen verknüpft sind und auch 70 Jahre nach Kriegsende mit körperlichen und psy­ chischen Folgen oder Beeinträchtigun­ gen einhergehen können. Klinische Be­ obachtungen aus den Jahren 2005/06 zeigen, dass die Folgen der trauma­ tischen Erfahrungen häufig erst im hö­ heren Alter artikuliert und im Zusam­ menhang mit aktuellen psychischen oder körperlichen Belastungen bzw. Beschwerden gesehen werden. Denn in diesen Lebensphasen kann es zum Zusammenbruch der jahrzehntelang funktionierenden Bewältigungsme­ chanismen kommen und damit einher­ gehend zu einer Traumareaktivierung – beispielsweise durch kritische Le­ bensereignisse wie Verlust wichtiger Bezugspersonen (Lebenspartner) oder Verrentung, Funktionseinbußen oder chronische Krankheit. Im Zweiten Weltkrieg schwer belas­ tete oder traumatisierte Kinder hatten nach einem erfolgreichen und unauf­ fälligem Erwachsenenleben nach dem 60. Lebensjahr in akuten physischen

Auftreten im Alter Gerade in der Endphase des Zweiten Weltkrieges und in den Nachkriegsjah­ ren stand der tägliche Kampf um das Überleben an erster Stelle: es musste sich um Wohnraum, mini­ male medi­zini­sche Versor­ gung, Ernährung, ­Klei­dung, Ausbildungsmöglichkeiten gekümmert werden, so­ 5Ausgebombte auf der Straße 1945.

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standen durch eine äußere Verletzung. Ab den 1880er Jahren wurde der Be­ griff Trauma auch zunehmend im Sinne einer seelischen Verwundung verwendet. Er weitete sich mithin auf die seelische Verfassung aus. Verschie­ dene Umstände (z.B. die zunehmende Industrialisierung) spielten hierbei eine Rolle, aber besonders die Herausbil­ dung von Psychiatrie und Psychologie als akademische Wissenschaften. Trauma ist dem heutigen Verständnis nach eine Extremform von Stress und mit einer erheblichen Bedrohung der körperlichen oder psychischen Unver­ sehrtheit des Menschen verbunden. Das Erleben wird durch intensive ­Gefühle von Furcht, Hilflosigkeit, Ent­ setzen sowie Todesangst durch ange­ nommene oder reale Todesbedrohung begleitet. Gleichzeitig wird die Situa­ tion meist als unkontrollierbar emp­ funden. Dabei kann das Ereignis di­ rekt selbst erlebt werden (z.B. bei einem Bombenangriff verschüttet zu werden) oder jemand kann Beobachter dieses Ereignisses sein, ohne direkt daran be­ teilgt zu sein. Nach den Richtlinien der internatio­ nalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesund­ heitsprobleme (ICD-10) zur Diagnose psychischer Störungen wird Trauma definiert als: »ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweif­ lung hervorrufen würde«. In der Lite­ ratur wird der Begriff Trauma als »ein Ereignis im Leben des Subjekts [ver­ standen], das definiert wird durch seine Intensität [...] die Unfähigkeit des Subjekts, angemessen zu reagieren, und die Erschütterung, die es in der psychischen Organisation des Subjekts hervorruft«. Dabei wird davon ausge­ gangen, dass eine psychische Trauma­ tisierung aus drei Komponenten be­ steht: der traumatischen Situation, der traumatischen Reaktion und dem trau­ matischen Prozess. Das Erleben der traumatischen Situation, die mit den normalen Ressourcen der Person nicht zu bewältigen ist, ist ausschlaggebend für eine psychische Traumatisierung. Während der traumatischen Situation ist die Person Gefühlen von extremer Hilflosigkeit, Ohnmacht und Entsetzen ausgeliefert. Allerdings muss nicht

Bedrohungssituationen unvermittelt wieder ihre kriegsbedingten Erfah­ rungen realitätsnah vor Augen. Viele der heute noch Lebenden erfuhren diese Traumata in Kindheit und Ju­ gend – und damit teilweise auch in Entwicklungsphasen mit höherer An­ fälligkeit für seelische Verletzungen und noch nicht voll ausgereiften Be­ wältigungs- sowie Anpassungsfähig­ keiten. Die Folgen des Aufwachsens im Krieg für die Persönlichkeitsentwick­ lung, die Gestaltung sozialer Bezie­ hungen oder die Ausdifferenzierung von Bewältigungsfähigkeiten spielen dabei eine große Rolle für die Ressour­ cen, die später bei der Bewältigung des Alterungsprozesses auch mobilisiert werden müssen. Insbesondere im Alter spielen die Rückschau auf das eigene Leben sowie die Beschäftigung mit früheren Erfah­ rungen eine Rolle, was die Alterspsy­ chologie zunehmend beschäftigt. Der Alterungsprozess ist verbunden mit dem Verlust von Bezugspersonen, dem beruflichen Status, einer – auch daraus resultierenden – Verringerung sozialer Interaktionen sowie einer Vielzahl kör­ perlicher Beschwerden und daraus entstehender Funktionseinbußen. Die im Alter erlebten Verluste von wich­ tigen Bezugspersonen können an frühere traumatische Erfahrungen und dabei erlebte Verluste erinnern. Auch die verstärkte Beschäftigung mit dem eigenen Leben, befördert durch die ge­ ringer werdende Anregung von außen (z.B. nach Verrentung und Auszug von Kindern), kann zu einer Reaktivierung des erlebten Traumas und posttrauma­ tischen Störungen führen. Begleiterkrankungen im Zusammen­ hang mit diesen posttraumatischen Störungen sind u.a. affektive Stö­ rungen, Angststörungen, Persönlich­ keitsstörungen, Einschränkungen der psychosozialen Funktionsfähigkeit so­ wie Substanzmissbrauch. Bei psychi­ schen und physischen Problemen oder Erkrankungen Älterer sollte also auch immer die Möglichkeit früherer Trau­ matisierungen in Kriegs- und Nach­ kriegszeit mit bedacht werden. Psychische Abwehr belastender trau­ matischer Erlebnisse kann mit zuneh­ mendem Alter zusammenbrechen. Die heutige ältere Generation der Zeitzeu­ gen des Zweiten Weltkriegs kann im hohen Alter von bis dahin gut abge­

wehrten traumatischen Erfahrungen und belastende Erinnerungen wieder eingeholt werden. »Die Geschehnisse sind in einem drin wie eingebrannt […] Man versucht, die Narben nicht anzuschauen ... Im Alter fangen die jeweiligen Narben zeitweise an zu schmerzen. Man fühlt sich genötigt, gelegentlich davon zu sprechen.« »Es ist heute üblich, bei jedem tiefgreifenden, schreckensvollen Ereignis von traumatischer Wirkung auf die Betroffenen zu sprechen. Damals waren solche Begriffe unbekannt, aber dennoch hat der Krieg […] mein ganzes Leben beeinflusst, meine Gefühlsweklt entscheidend geprägt und wird wohl nie aufhören, in der Erinnerung immer wieder Schatten auf mein Gemüt zu werfen – und aus Gesprächen weiß ich, dass es unzähligen Altersgefährten ebenso geht.« (M. Dörr, Der Krieg hat uns geprägt, Bd 2, Frankfurt a.M. 2007)

Schon kurz nach Kriegsende gab es erste Untersuchungen zu Kriegsfolge­ schäden in Europa und Deutschland, beispielsweise Langzeitstudien über die Lebenssituation von Nachkriegs­ kindern. Im Bereich der psychoanaly­ tisch geprägten Forschung wurden ­einige Studien unmittelbar nach 1945 initiiert. Sie alle belegen erhebliche Entwicklungsschäden auf Grund von Kriegsbedingungen, Kriegsverlauf und Kriegsverhältnissen. 1947/48 wurden mit der »DarmstadtStudie« die Reaktionen von etwa 1800 Darmstädter Kindern und Jugend­ lichen auf den Bombenangriff vom 11. September 1944 untersucht. Im Rah­ men der Untersuchungen sprach nicht eines der Kinder von sich aus von sei­ nen persönlichen Erlebnissen während des Bombenangriffs oder während der Flucht. Das Hauptaugenmerk ihrer eher nüchternen und unemotionalen Schilderungen lag auf aktuellem Man­ gelerleben (Lebensmittel, Wohnraum, Material). Sogar auf direkte Nachfra­ gen zu den Bombenangriffen kamen nur zögerliche und stockende Antwor­ ten vonseiten der Kinder. Oft wurden auch nur zusammenhanglos Eindrü­ cke berichtet, ohne Empfindungen an­ zusprechen, was auf eine mangelhafte Verarbeitung des Erlebten schließen lässt. Wichtige aus dieser Zeit immer wie­ der berichtete Erfahrungen sind: »Über die schrecklichen und leidvollen Erfah­

rungen und damit verbundene Emo­ tionen wurde von Erwachsenen nicht gesprochen. Die zurückgekehrten Männer fragten nicht nach den Erfah­ rungen ihrer Frauen in den Kriegsund Nachkriegsjahren, die Frauen wollten nicht wissen, was ihre Männer im Krieg erlebt und getan hatten. Also wurde gegenüber dem jeweiligen Ehe­ partner und den Kindern geschwie­ gen. Das Schweigen in den Familien und die daraus resultierende fehlende Trauerarbeit gaben erwartete Verhal­ tensweisen vor. Die Botschaft der Er­ wachsenen an die Kinder lautet: »Euer Leid ist gering im Vergleich zu un­ serem Leid, ist nichts besonderes.« Gleichzeitig erlebten die Kinder und Jugendlichen zahlreiche ähnliche Schicksale anderer in ihrem Umfeld: Viele hatten keinen Vater mehr oder wussten nichts über dessen Verbleib. Andere waren auch ausgebomt oder aus ihrer Heimat vertrieben worden. Die eigenen schrecklichen Erfahrungen waren sozusagen »normal« für die da­ maligen Kriegs- und Nachkriegsjahre. Diese kollektive Leiderfahrung kann den individuellen Abwehrprozess mit unterstützt haben.« Auch wenn persönliche Abwehrstra­ tegien bei zahlreichen Betroffenen jahre- oder jahrzehntelang funktioniert haben, unterstreichen verschiedene Studien und Befunde zum Belastungs­ erleben und -empfinden der Kriegsund Nachkriegsgeneration, dass ein Krieg noch lange, nachdem er vorbei ist, nachwirkt – in unterschiedlichen Formen mit den verschiedensten Aus­ wirkungen in unterschiedlichen Stär­ ken. Manchmal tritt diese Wirkung dann auch völlig unerwartet und nach einigen Jahrzehnten Latenzzeit auf, woraus sich auch die Möglichkeit zeit­ verzögert auftretender Belastungsre­ aktionen im hohen Alter ergibt.

Katrin Hentschel Literaturtipps Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München, 2009. Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs, München, 2015. Sabine Bode, Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter, Stuttgart, 2011.

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Das historische Stichwort

Eumenes von ­Kardia D

er Grieche Eumenes von Kardia ist einer derjenigen Feldherren in der Geschichte, denen von der Nachwelt wenig bis gar keine Auf­ merksamkeit geschenkt wird. Dies liegt zum Teil daran, dass sein Kampf erfolglos blieb, aber auch daran, dass er und sein vergebliches Bemühen um den Zusammenhalt des einstigen Ale­ xanderreiches im Schatten erfolgrei­ cherer Persönlichkeiten standen. Dabei deutete zum Beginn der Karri­ ere des Kardianers, dessen Biografie der Grieche Plutarch im 2. Jahrhundert n.Chr. verfasste, nichts auf eine derar­ tig aktive Laufbahn im Zeichen militä­ rischer Konflikte hin: Geboren Ende der 360er Jahre v.Chr., avancierte Eume­nes unter dem makedonischen König Philipp II. zuerst zum Gramma­ teus, also zu einer Art Sekretär des ehr­ geizigen Monarchen. Unter Philipps Sohn Alexander dem Großen wurde er zum Archigrammateus, d.h. zum Vor­ steher der Königlichen Kanzlei ernannt. Als solcher erlebte er den gewaltigen Eroberungszug Alexanders hautnah mit – wenngleich er auch niemals selbst die Waffe erhob: Seine Schlacht­ felder waren die Welt der Sendschrei­ ben und diplomatischen Noten, der Königsbriefe und der geheimen Depe­ schen. Nur ein einziges Mal, anlässlich des Indienfeldzuges 326 v.Chr., über­ trug Alexander ihm ein militärisches Kommando, das jedoch nur aus dem Befehl über 300 Reiter und der Aufgabe bestand, die Kapitulation zweier Städte entgegenzunehmen. Bei der Massen­ hochzeit von Susa wurde Eumenes mit einer persischen Aristokratin namens Artonis vermählt. Anders als die mei­ sten anderen der Generale Alexanders verstieß er seine Ehefrau später nicht; zusammen mit Seleukos Nikator sollte Eumenes tatsächlich einer der wenigen sein, die ihrer von Alexander zuge­ dachten Gemahlin die Treue hielten. Als Alexander der Große 323 v.Chr. starb, einigten sich die Mächtigen des Reiches auf eine prekäre Nachfolgere­

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gelung: Alexanders Bruder Philipp ­Arrhidaios sollte so lange herrschen, bis Alexanders eigener Sohn mündig war, um selbst die Nachfolge antreten zu können. Da Philipp Arrhidaios als schwachsinnig galt, übernahm ein ma­ kedonischer Adliger namens Perdik­ kas fortan stellvertretend im Namen der Familie Alexanders die Regie­ rungsgeschäfte. Doch zahlreiche Satra­ pen, Statthalter der Zentralgewalt in den Provinzen des riesigen Reiches, hielten sich nicht an Perdikkas’ Anwei­ sungen und forcierten mit eigenwil­ ligen Aktionen die Abspaltung und Autarkisierung ihrer Territorien. An der Spitze dieser Separatisten standen Männer wie Ptolemaios, der Ägypten zu seiner Domäne machte – und Anti­ gonos »Monophthalmos« (»der Einäu­ gige«), der in Kleinasien seine Macht­ basis aufzubauen wusste. Eumenes von Kardia stellte sich in diesem sich langsam zuspitzenden Konflikt inner­ halb der Machthaber des Reiches auf die Seite der Zentralgewalt – auf die Seite des Perdikkas und somit auch auf die Seite der Familie Alexanders. Zunächst vertraute Perdikkas dem bis dato militärisch nahezu vollkom­ men unerfahrenen Kardianer den Oberbefehl über die loyalistischen Truppen in Kleinasien an. Obwohl Eume­nes selbst bis dahin nie gekämpft hatte, stellte er sein hohes militärisches Talent unter Beweis, als er im Mai 320 v.Chr. eine feindliche Armee unter dem Kommando des Makedonen Kra­ teros zerschlug. Einen weiteren gegne­ rischen Anführer, Neoptolemos, tötete Eumenes sogar im Kampf Mann gegen Mann – für jemanden, der bis zu die­ sem Zeitpunkt vor allem als Schreiber tätig gewesen war, eine herausragende Leistung, umso mehr, da ein Teil seiner eigenen Truppen vor der Schlacht noch zum Feind desertiert war. Doch Eume­ nes besiegte auch diese Kontingente. Eumenes’ glänzender Erfolg stellte sich jedoch im Hinblick auf das Kriegs­ geschehen als bedeutungslos heraus,

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da Perdikkas zwischenzeitlich in Ägyp­ ten einem Mordkomplott zum Opfer gefallen war. Die Stimmung im Reichs­ heer schwang innerhalb kürzester Zeit um, und nach einer Kon­ferenz der ma­ kedonischen Reichs­aristokratie im sy­ rischen Triparadeisos bemäch­tigten sich die Angehörigen der vormals auf­ ständischen Satrapen der wichtigen Posten in der Reichsverwaltung. Anti­ gonos Monophthalmos, der Erzfeind des Kardianers, schaffte es, den Posten eines obersten Strategen des makedo­ nischen Heeres zu erringen und Eume­ nes zum Reichsfeind erklären zu las­ sen. Eumenes, der unter Perdikkas ­einer der wichtigsten Männer im Ma­ kedonenreich gewesen war, stand nun inmitten eines unerbittlichen Kampfes, in dem er nahezu keinen Verbündeten mehr hatte. 319 v.Chr. erlitt er eine vernichtende Niederlage, als Antigo­ nos bei Orkynia g ­ egen ihn in die Offen­ sive ging: 8000 seiner Männer fanden den Tod oder desertierten zum Feind. An der Spitze einiger weniger Getreuer schaffte es Eumenes gerade noch zu entkommen; von den Truppen des An­ tigonos wurde er in der Festung Nora eingeschlossen und belagert. Als der Einäugige von Eumenes forderte, sich ihm unterzuordnen, erwiderte er: »Ich sehe niemanden für höher an als mich, solange ich noch Herr meines Schwer­ tes bin« (Plut. Eumenes 10, nach Übers. Ziegler-Wuhrmann). Verhandlungen der Kontrahenten brachten kein Ergeb­ nis und Antigonos hob die Belagerung der Feste nicht auf. Doch den Kardianer konnte auch dieser Schicksalsschlag nicht lange be­ hindern. Da der einäugige Anführer des Reichsheeres der Belagerung im Folgenden nicht beiwohnte, gelang es Eumenes mittels eines Tricks, aus der umzingelten Bergfestung zu entkom­ men. In Kilikien warb er neue Truppen an und erzielte einen herausragenden Erfolg, nachdem er Alexanders ein­ stige Elitetruppe, die Argyraspiden (»Silberschildner«), in seinen Dienst genommen hatte. Die Art und Weise, wie er die Veteranen zahlreicher Feld­ züge und Schlachten auf seine Seite zu ziehen vermochte, beeindruckte antike ebenso wie neuzeitliche Historiker. Der preußische Geschichtswissen­ schaftler Johann Gustav Droysen etwa schrieb in seinem Standardwerk, der »Geschichte des Hellenismus«:

genden Heereszüge des Eumenes wurde der leere Thron Alexanders im­ mer wieder aufgestellt. Die Idee, die Eumenes entwickelte – der Kult eines leeren Thrones unter der faktischen Herrschaft der Militärs im Hinter­ grund –, wurde im Reich so beliebt, dass sich neben den Argyraspiden viele weitere Truppeneinheiten für die Sache des Eumenes anwerben ließen. Als der Krieg zwischen den auftän­ dischen Satrapen (Provinzstatthalter) – allen voran Antigonos und Ptolemaios – und dem letzten Vertreter von der Idee der Herrschaft der Familie Ale­ xanders des Großen, Eumenes von Kardia, wieder begann, konnte jener auf eine stattliche Streitmacht von 35 000 Infanteristen, 6000 Reitern und 125 Kampfelefanten zurückgreifen. Im östlichen Mittelmeerraum kreuzten überdies verbündete Flotteneinheiten. Foto: Wagner

»›So lasst uns denn‹, schloss er [Eume­nes], ›ein königliches Zelt er­ richten, und drinnen einen goldenen Thron, darauf wir das Diadem legen und das Zepter und den Kranz und al­ len anderen Schmuck des glorreichen Königs [des verstorbenen Alexanders]; dann wollen wir Führer jeden Morgen ins Zelt treten und ihm das Morgenop­ fer bringen, uns dann um den Thron setzen zur Beratung und die Be­ schlüsse fassen in seinem Namen, als ob er unter uns lebe und sein Reich durch uns verwalte‹« (Droysen II., Nachdr. 2008, S. 323). Eumenes schuf also, um die rang­ höchsten Anführer seines Heeres zur Kooperation zu bewegen, einen Kult um die Person Alexanders des Großen – dadurch sollten die Männer daran er­ innert werden, wem ihre eigentliche Loyalität galt. Im Verlauf der fol­

Antigonos, der Hauptgegner des Eume­nes, verzichtete zunächst auf den Kampf zu Land und wandte sich der Ausschaltung eben dieser gegneri­ schen Flotte zu. Bei Rhossos (in Kili­ kien) konnte er die meisten der Schiffs­ kommandanten des Eumenes dazu bewe­gen, die Seite zu wechseln. Hier zeigte sich zum ersten Mal ein Pro­ blem, mit dem Eumenes in der Folge noch in viel drastischerem Ausmaß konfrontiert werden sollte: die schwan­ kende Loyalität seiner Truppen. Als sich die beiden Heere des einäu­ gigen Antigonos und des Eumenes schließlich in der Ebene von Paraita­ kene, weit im Osten des Reiches, ge­ genüberstanden, kam es zunächst zu keiner Entscheidung. Antigonos atta­ ckierte jedoch wenig später erneut – und Peukestas, ein Untergebener des Eumenes, zog seine Truppen vom Schlachtfeld ab und desertierte. Der Ausgang der Schlacht war wiederum unklar – es hatte keinen eindeutigen Sieger gegeben, und Eumenes hatte noch alle Chancen, den berechtigten Machtanspruch der Familie Alexand­ ers des Großen durchzusetzen. Doch angesichts des geflohenen Peukestas und aufgrund der Tatsache, dass ihre Frauen und Kinder durch einen un­ glücklichen Zufall in die Gewalt der Feinde geraten waren, entschlossen sich die Anführer der Argyraspiden dazu, ihren Feldherrn Eumenes an An­ tigonos auszuliefern, der seine Hin­ richtung anordnete. Eumenes starb – im Feld unbesiegt – 316 v.Chr., und so war der letzte loyale Heerführer im ehemaligen Alexanderreich, ein fä­ higer und gewandter Feldherr, letzten Endes an der Illoyalität seiner Unterge­ benen gescheitert. In der Folgezeit sollte der Einfluss der bedrohten Ar­ geadenfamilie auf die Herrschaft des Reiches immer weiter schwinden, bis schließlich, gegen Ende des 4. Jahrhun­ derts v.Chr., die siegreichen Generale das Reich unter sich aufgeteilt und die Familie Alexanders des Großen ermor­ det hatten. Stefan E.A. Wagner

Literaturtipp 5Kampfelefant mit Turm, Besatzung und Elefantenjüngern, Rom, Museo Nazionale Etrusco di Villa Giulia.

Christoph Schäfer, Eumenes von Kardia und der Kampf um die Macht im Alexanderreich, Frankfurt a.M. 2002.

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Neue Medien

Comics & Graphic Novels

eit Dezember 1979 hielten bis zu 120 000 Mann der Roten Armee Afgha­nistan besetzt. Um – militärische – Hilfe bei seinem nördlichen Nach­ barn hatte das erst kurz ­zuvor, im April 1978, an die Macht gekommene sowjetfreundliche Militärregime geru­ fen, da es sich mit einem wachsenden gewaltsamen Widerstand konfrontiert sah. Dieser Widerstand setzte sich nach der sowjetischen Intervention fort. Geführt wurde nunmehr ein »Hei­ liger Krieg« (Dschihad) gegen die ­Besatzer und deren afghanische Stell­ vertreter. Basen für den Widerstand waren zum einen die unzugänglichen Gebirgsregionen Afghanistens, zum anderen das Nachbarland Pakis­tan, wo sich in der Grenzstadt Peshawar ein Zentrum des Widerstandes herausge­ bildet hatte. Unterstützung erfuhr der Wider­ stand in vielfältiger Form durch den Westen. Unter der Bekämpfung der Aufständischen durch die Rote Armee hatte dann vor allem die Zivilbevölke­ rung zu leiden. Mehrere Millionen Flüchtlinge und eine Million Tote bis zum Februar 1989, dem Ende der Be­ satzung, waren die Folge. Von Pakistan aus operierte seit 1980 auch die Organisation »Médecins sans

Emmanuel Guibert/Didier Lefèvre/Frédéric Lemercier, Der Fotograf, Zürich: Edition Moderne 2015. ISBN 978-3-03731-142-4; 264 S., 39,00 Euro

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Frontièrs« (MSF, Ärzte ohne Grenzen), deren Arbeit in Afghanistan der Foto­ graf Didier Lefèvre dokumentieren sollte. Von Peshawar aus macht sich Lefèvre im August 1986 gemeinsam mit einer Gruppe von Ärzten und Pfle­ gepersonal auf einen gefahrvollen Weg: Ins Innere Afghanistans gelangen können Sie nur als Anhängsel einer Ka­ rawane, bestehend aus einhundert Eseln, zwanzig Pferden und »einer Hundertschaft Männer«. Die Aufgabe dieser und vieler anderer Karawanen: Waffen zu schmuggeln – all dies unter größten körperlichen Strapazen und unter Beschuss durch sowjetische Truppen. Unterwegs durchquert das Personal von MSF und mit ihm Lefèvre die unterschiedlichsten Stammesge­ biete, behandelt afghanische Kinder und Erwachsene sowie immer wieder auch im Kampf verletzte Mudschahed­ din – unter nach westlichen Standards primitivsten medizinischen Bedin­ gungen. Auf den beschwerlichen Rück­ weg nach Pakistan macht sich der Foto­ graf dann alleine – begleitet nur von vier unfähigen afghanischen (»Reise«-) Führern, die schließlich das Weite su­ chen. Dem Tod springt er nur knapp von der Schippe und gelangt mit letz­ ter Kraft zurück nach Peshawar. Aus Didier Lefèvres Erlebnissen hat Emmanuel Guibert einen Comic ge­ macht, der nicht nur durch die beein­ druckend erzählte Geschichte besticht, sondern auch oder vor allem durch die zahlreichen Aufnahmen des Foto­ grafen, die alle in Schwarz-Weiß gehal­ ten sind und dadurch den farbigen Co­ mic auf interessante Weise brechen. Die Fotos vermitteln einen bleibenden Eindruck von Land und Leuten – und von der Arbeit der MSF. Nicht zuletzt sind die hier gezeigten Aufnahmen Do­ kumente einer Gesellschaft, die durch sowjetische Besatzung, Herrschaft der Taliban und nachfolgenden Isaf-Ein­ satz so heute vermutlich nicht mehr be­ steht. Besser als viele gelehrte Werke nimmt einen diese Graphic Novel mit in ein Stück Vergangenheit eines Lan­ des und seiner Menschen, das trotz al­ ler Medienpräsenz der letzten Jahre eine Terra incognita geblieben ist. Das Verdienst von Zeichner und Fotograf sowie des Verlages kann daher nicht genug gewürdigt werden.

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Zeitungen im 17. Jahrhundert

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eder die »Frankfurter Allge­ meine« noch die »Süddeutsche« sind gemeint, wenn der Graf von Kent in Friedrich Schillers »Maria Stuart« ausruft: »Hättet ihr den Jubel des Volkes gesehen, als diese Zeitung sich verbreitet« (2. Aufzug, 1. Auftritt).Viel­ mehr bezeichnete das Wort eine »Neu­ igkeit« und übertrug sich erst später auf die uns bekannte gedruckte Vari­ ante. Welche Fülle von Nachrichten die ersten Zeitungen in sich trugen, davon kündet die vorliegende Internetseite, die aus einem Forschungsprojekt des Deutschen Instituts für Pressefor­ schung und der Staats- und Universi­ tätsbibliothek Bremen hervorging. Mehr als 600 Zeitungen, zumeist aus einer oder zwei Seiten bestehend, sind nun in digitalisierter Form öffentlich zugänglich. Es kann nach Titel, Jahr bzw. Jahrzehnt und Druckort ausge­ wählt und gesucht werden. Der Zeit­ strahl beginnt bislang mit dem Eintrag 1581–1590 und endet 1781–1790. Das Projekt befindet sich im Aufbau, die Einträge sollen einmal 1551 anfangen und 1850 schließen. Diese frühen Zeitungen bildeten ne­ ben Korrespondenzen und Erzäh­ lungen im Wesentlichen die einzigen Informationsmittel der damaligen Zeit. Sie berichteten aber schon 1610 nach ei­ genem Bekunden darüber, »was sich begeben und zugetragen hat in Deuts.vnd Welschland, Spannien, Nieder­ land, Engelland, Franckreich, Vngern, Österreich, Schweden, Polen«. Die Nachrichtenverbreitung und der Infor­ mationsstand der damaligen Zeit, un­ ter anderem während des Dreißigjäh­

http://brema.suub.uni-bremen.de/zeitungen17

neue

rigen Krieges mit seinen Schrecken, wird somit fassbar. Möglicherweise müssen so einige Vorstellungen über die finstere Frühe Neuzeit korrigiert werden. Die Seite macht einen hoff­ nungsvollen Anfang. So ganz neu sind Diskussionen über das Urheberrecht auch nicht: Verleger wehrten sich schon 1666 gegen Raub­ drucke. hp

25 Jahre Wiedervereinigung – Portal des Bundesarchivs

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rivatreisen nach dem Ausland kön­ nen ohne Vorliegen von Vorausset­ zungen […] beantragt werden. Die Geneh­migungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspoli­ zeikreisämter in der DDR sind ange­ wiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß da­ bei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.« – »Gilt das auch für Westber­ lin?« – »Also, doch, doch. Die ständige Ausreise kann über alle Grenzüber­ gangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Westberlin erfolgen.« – »Wann tritt das in Kraft?« – »Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüg­ lich.« Diese Worte des kürzlich ver­ storbenen Günther Schabowski, Mit­ glied des Politbüros des Zentralkomi­ tees der SED, setzten den Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in Gang und beendeten die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges be­ stehende Teilung Deutschlands. Zwi­ schen November 1989 und Oktober 1990 fand in kürzester Zeit ein enor­ mer Umwälzungsprozess statt, der das Ende der DDR besiegelte und mit dem

http://wiedervereinigung.bundesarchiv.de/

Beitritt der ostdeutschen Gebiete zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 zur staatlichen Einheit führte. Anlässlich des 25. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung hat das Bundesarchiv ein umfangreiches On­ line-Portal eingerichtet, das anhand von Bildern, Tonaufnahmen, Akten und Filmen die Ereignisse nachzeich­ net. Durch die Ankündigung der Auf­ hebung der Reisebeschränkungen durch Schabowski wurde noch in der­ selben Nacht die Berliner Mauer (zu­ mindest in Teilen) eingerissen; die ge­ teilte Stadt Berlin – Brennpunkt des Kalten Krieges – lag sich vor dem Bran­ denburger Tor in den Armen. Doch bis zur politischen Einheit war es noch ein weiter Weg. Mittels der Akten wird Einblick in den Entscheidungsfin­ dungsprozess gewährt, den die Regie­

rungen beider Länder miteinander und mit den Siegermächten des Zwei­ ten Weltkrieges führten und der von Gewerkschaften, Parteien und Bürger­ initiativen begleitet wurde. In Porträts werden die wichtigsten Akteure vorge­ stellt. Besonders hervorzuheben sind die kleinen virtuellen Ausstellungen, die zu zentralen Fragen erstellt wur­ den. In technisch wie optisch anspre­ chender Form kann man sich hier über den Fall der Mauer, die ersten freien Volkskammer-Wahlen in der DDR vom 18. März 1990 und die daraus her­ vorgegangene Regierung unter Lothar de Maizière, aber auch über die Ge­ schichte des deutschen Nationalfeier­ tags und die Situation des Gesund­ heitswesens in den sogenannten Neuen Ländern 1989 bis 1994 informie­ ren. fh

www.gda.bayern.de/findmitteldatenbank

Bayerisches Hauptstaatsarchiv Abt. IV (Kriegsarchiv)

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ayern mag so manchem »Nord­ licht« spanisch vorkommen. Im Falle der Findmitteldatenbank des Ba­ yerischen Hauptstaatsarchivs stimmt es sogar. Schließlich ist sie neben Eng­ lisch, Französisch und Italienisch eben auch auf Spanisch benutzbar. Dank der Förderung durch die Deut­ sche Forschungsgemeinschaft sind die Findmittel zu 30 Beständen des Kriegsarchivs (Abt. IV Bayerisches Hauptstaatsarchiv), das das Schriftgut der ehemaligen Bayerischen Armee (1682–1918) verwahrt, mit 320 000 Ak­ ten, Amtsbüchern, Karten und Bildern retrokonvertiert und online zur Verfü­ gung gestellt worden. Dies betrifft zum größten Teil die Personalakten von Of­ fizieren und Unteroffizieren (194 500 Akten), die Truppenakten (70 800

Stück) sowie die Bilder (36 700 Stück). Somit können beispielsweise Offizier­ personalakten, vom Generalfeldmar­ schall bis zum Fähnrich, online recher­ chiert werden, und dadurch lässt sich gegebenenfalls der Großvater oder Ur­ großvater finden. Hinzu kommen etwa 10 700 Dienstvorschriften, die hier ver­ zeichnet sind. Insgesamt ist somit gut die Hälfte der 50 Weltkriegsbestände des Kriegsar­ chivs in München online recherchier­ bar. Dies betrifft namentlich die Zeit des Ersten Weltkrieges. In gar nicht mehr so ferner Zukunft sollen die On­ linefindmittel der gesamten Staatli­ chen Archive Bayerns ausgebaut sein. Das erleichert die Arbeit der Histori­ke­ rinnen und Historiker ungemein. hp 

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Lesetipp

Preußen nach Napoleon

Südtirol 1916

Revolution in München 1918/19

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ie preußischen Staats- und Militär­ reformen, entstanden ab 1806/07, sind mit den Namen Gneisenau, Scharnhorst, Stein und Hardenberg verbunden. Diese Reformen bilden eine der drei Traditionssäulen der Bun­ deswehr. Was aber wurde aus den Mo­ dernisierungsideen und den Refor­ mern, nachdem Napoleon 1815 besiegt worden war? Diesem Thema nähert sich Jürgen Luh in seinem neuesten Buch. Als roter Faden dient ihm dabei das 1817 von Karl Friedrich Schinkel vollendete allegorische Gemälde »Tri­ umphbogen«, aus dem in jedem Kapi­ tel ein anderer Ausschnitt als Aufhän­ ger dient. Es verweist auf die preußi­ sche Vergangenheit in Gestalt von Rei­ terstatuen Friedrichs des Großen und des Großen Kurfürsten sowie auf die Jahre 1814/15, als die Quadriga des Brandenburger Tores nach Berlin zu­ rückgeholt und die Wagenlenkerin zur Viktoria umgestaltet wurde. Über den Reiterstandbildern des Gemäldes be­ findet sich ein antiker Triumphbogen, im Hintergrund eine gotische Kirche und die Stadt Berlin. Luh beschreibt Preußens Situation ab 1805, den Hass auf Napoleon, aber auch die Schwärmerei für ihn, das En­ gagement für die Befreiungskriege und das Zurückdrängen der Ideen von Freiheit, Selbstbestimmung, Bürgerbe­ teiligung sowie demokratischen Ansät­ zen nach 1815. Er führt frei nach dem Motto Schillers: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann ge­ gen«, gekonnt aus, wie die Reformer und Reformen angesichts von Restau­ ration und später des Nationalismus scheiterten. Insgesamt: Ein wichtiges Thema, das gut sowie leicht erzählt wird und an dessen Idee, ein Bild als Aufhänger zu nehmen, sich historische Bildung visualisieren lässt. hp

Jürgen Luh, Der kurze Traum der Freiheit. Preußen nach Napoleon, München 2015. ISBN 978-3-8275-0039-7; 239 S., 24,99 Euro

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as Jahr 1916 ist mit dem verwir­ renden und verharmlosenden Be­ griff der »Materialschlachten« etiket­ tiert worden. Tatsächlich jedoch waren die Masse des »geschlachteten Materi­ als« Soldaten, so bei Verdun, an der Somme, oder aber im vorliegenden Fall in Südtirol. Gerhard Artl, Archivar am Österrei­ chischen Staatsarchiv – Kriegsarchiv, hatte sich bereits 1983 in seiner Doktor­ arbeit mit der österreichisch-unga­ rischen Offensive in Südtirol 1916 be­ fasst. Für das vorliegende Buch wertete er zusätzliche Literatur und Akten aus, so etwa zu den Luftstreitkräften. Er klärt dabei u.a. die Frage, wie es zu der

Gerhard Artl, Die »Strafexpedition«. ÖsterreichUngarns Südtiroloffensive 1916, Brixen 2015. ISBN 978-88-6563-127-0; 360 S., 25,00 Euro

italienischen Bezeichnung »Strafexpe­ dition« für diese Offensive gegen das einst mit der Monarchie verbündete und sich nun im Kreise der Gegner be­ findliche Italien kam. Artl behandelt sein Thema in vier großen Kapiteln. Er beleuchtet die Grundlagen für den Ent­ schluss des Armeeoberkommandos zum Angriff auf Italien, analysiert die Vorbereitungen und beschreibt die drei Phasen der Offensive: Anfangser­ folge (15. bis 22. Mai), Verlangsamung des Angriffs (23. bis 30. Mai) und Fest­ laufen (31. Mai bis 17. Juni). In seiner Schlussbetrachtung spinnt Artl einen Faden aus der Einleitung fort: das Verhältnis zum deutschen Bündnispartner. Er macht damit ein­ drucksvoll erneut deutlich, dass der (Kriegs-)Einsatz deutscher Soldaten in den letzten 300 Jahren immer im Rah­ men von Bündnissen erfolgte, das galt einmal mehr für das Zeitalter der Welt­ kriege. Detailkarten, Fotos und Tabel­ len der Kriegsgliederung runden das Buch ab, das einmal mehr den Stellen­ wert von Operationsgeschichtsschrei­ bung unterstreicht. Für das Verständ­ nis eines Krieges im Hochgebirge ist sie unabdingbar. hp

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wei Dinge sind der geneigten Le­ serschaft bekannt: Zum einen stürzte Kurt Eisner (USPD) am 7. No­ vember 1918 in München die erste Mo­ narchie in Deutschland, und Bayern wurde der erste Freistaat. Zum ande­ ren wurden die Tagebücher des getauf­ ten Romanisten mit jüdischen Wurzeln,Victor Klemperer, aus der NS-Zeit unter dem Titel »Ich will Zeug­ nis ablegen bis zuletzt« vor einigen Jahren veröffentlicht und und sogar verfilmt. Doch was hat beides miteinander zu tun? Klemperer schrieb als Münchner Korrespondent unter dem Pseudonym »A.B« (= Anti Bavaricus) für die Leip­ ziger Neuesten Nachrichten. Seine Ar­ tikelserie begann Anfang Februar 1919 und endete am 17. Januar 1920. In dem Band sind sowohl seine tatsächlich ge­ druckten Beiträge als auch die unver­ öffentlichten Manuskripte publiziert. Der habilitierte Romanist Klemperer hatte sich 1915 als Kriegsfreiwilliger gemeldet, diente bis März 1916 an der Westfront und war nach einem Laza­ rettaufenthalt bis 1918 als Zensor im Buchprüfungsamt der Presse-Abteilung des Militärgouvernements Litauen in Kowno und Leipzig eingesetzt. Er er­ weist sich in seinen Artikeln als wacher und aufmerksamer Beobachter der Verhältnisse in München. Er beschreibt sehr genau die Radikalisierung der Re­ volution nach der Ermordung des Mi­ nisterpräsidenten Eisner, charakteri­ siert die Hauptakteure und schildert die Niederschlagung der Revolution durch die Truppen Franz von Epps. Dabei kam es zu regelrechten Gefech­ ten, bei denen Artillerie und Flieger eingesetzt wurden. Klemperer registriert auch aufmerksam den einsetzenden Antisemitismus, nicht von ungefähr wurde München einige Jahre später zur »Hauptstadt der Bewegung«. hp Victor Klemperer, Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Mit einem Vorwort von Christopher Clark und einem historischen Essay von Wolfram Wette, Berlin 2015. ISBN 978-3-351-03598-3; 263 S., 19,95 Euro

Mein Kampf

Widerstand im Dritten Reich

Tagebuch Zweiter Weltkrieg

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ngeblich war er völlig selbstlos und widmete seine ganze Kraft dem Deutschen Reich. Die Rede ist von Hitler. Bevor er ab 1933 die Bezüge eines Reichskanzlers und ab 1934 zu­ sätzlich die des Reichspräsidenten ­erhielt, benötigte der mittel- sowie stel­ lenlose Weltkriegsveteran und abge­ lehnte Kunststudent vor allen Dingen eines: Geld. Sven Felix Kellerhoff schil­ dert ausgiebig, wie Hitler einerseits massive Zuwendungen von gut be­ tuchten Münchner Honoratioren be­ kam und andererseits hoffte, mit sei­ nem Buch »Mein Kampf« umfang­ reiche Einnahmen zu erzielen, was ihm bei einer Gesamtauflage von über zwölf Millionen auch gelang. So ganz nebenbei knackt Kellerhoff noch eine ganze Reihe von Hitlers selbst­ gestrickten Mythen, wie etwa eine Ant­ wort König Ludwigs III. von Bayern auf Hitlers Einstellungsersuchen bei einem bayerischen Regiment 1914 oder sein angeblich langer Dienst als Front­ kämpfer in der ersten Linie, was ihm sein Eisernes Kreuz erster Klasse ein­ brachte, das er fortwährend trug. Kellerhoff identifiziert genau, welche Quellen der eifrige Leser Hitler be­ nutzte, wie »Mein Kampf« bei der Lite­ raturkritik zunächst durchfiel, welche nachträglichen Änderungen ange­ bracht wurden und welche verhee­ rende Wirkung dieses vorgeblich so häufig gelesene Buch entfaltete, wobei die Zahl der tatsächlichen Leserschaft zumindest bis 1933 eher gering war. Abschließend geht Kellerhoff auf die juristische Situation 2015 ein und gibt Ausblicke auf die Zeit nach Ablauf des Urheberrechts für »Mein Kampf« . We­ nigstens ein Gutes bewirkten die Blei­ lettern des Buches noch: Mit ihnen wurde die erste Ausgabe einer Zeitung des demokratischen Neubeginns ge­ setzt: die Süddeutsche Zeitung. hp

Sven Felix Kellerhoff, »Mein Kampf«. Die Karriere eines deutschen Buches, Stuttgart 2015. ISBN 978-3-60894895-0; 367 S., 24,95 Euro

m Jahr 2015 jährte sich das Ende des Nationalsozialismus in Deutschland zum 70. Mal. Unter den Publikationen zu diesem Gedenken finden sich auch die ersten beiden Bände der Reihe »Die Deutschen und der Nationalsozialis­ mus«, herausgegeben vom Jenaer His­ toriker Norbert Frei. Die auf insgesamt sieben Bände angelegte Reihe wendet sich an ein jüngeres Publikum, dem der Kontakt und Austausch mit Zeit­ zeugen aufgrund der biologischen Uhr zunehmend verwehrt bleiben wird. Markus Roth setzt sich im ersten Band mit Verfolgung, Terror und Wider­ stand im Dritten Reich auseinander und macht es sich zur Aufgabe, diese Phänomene im Rahmen der alltäg­ lichen Lebenswelt der Deutschen in dieser Zeit zu schildern. Im Zentrum seiner Darstellung ste­ hen die wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten im Dreieck von Verfolgern, Verfolgten und der breiten Masse der Bevölkerung. Wie wirkten sich offene Zustimmung, Schweigen oder demonstrative Ablehnung und Widerstand auf die Dynamik des Natio­nalsozialismus aus? Und wie ver­ änderte sich wiederum die Gesell­ schaft unter dem Eindruck von Terror und Gewalt? Roth beschreibt anschau­ lich und beispielreich, wie der Applaus oder die stille Hinnahme der Vielen so­ wie der Widerstand der Wenigen das NS-Regime geprägt und in seiner Ent­ wicklung beeinflusst haben. Dabei fin­ den sowohl die großen Ereignisse und Entwicklungen der Zeit, wie die Reichskristallnacht im Rahmen der Ju­ denverfolgung, Berücksichtigung, als auch kleine Gesten und Begebenheiten, die ein Bild von Mitgefühl und Solida­ rität unter den Menschen zeichnen. Insgesamt ein ansprechendes und kompaktes Buch. Leonie Hieck

Markus Roth, »Ihr wisst, wollt es aber nicht wissen«. Verfolgung, Terror und Widerstand im Dritten Reich, München 2015. ISBN 978-3-406-67517-1; 296 S., 16,95 Euro

eutral waren sie im Zweiten Welt­ krieg beide: die Schweiz und Schweden. Trotzdem fühlten sich die Zeitgenossen als Kriegsgeneration. Im eidgenössischen Fall hat dies u.a. Max Frisch in Tagebuchform beschrieben, im königlich-schwedischen Fall Astrid Lindgren. Die Neutralität beider Länder war bedroht, daher machten sie mobil und sicherten ihr Territorium zu Lande, in der Luft und Schweden auch zur See. Um die Grenzen des Ostsee-König­ reiches tobte der Krieg: im September 1939 in Polen, von November 1939 bis März 1940 in Finnland, im Jahre 1940 in Dänemark und Norwegen und ab 1941 in der Sowjetunion. Bei Lindgren spiegelt sich die schwedische Zerris­ senheit wider: Sie sieht NS-Deutsch­ land als die Hauptbedrohung, zum an­ deren registriert sie sehr genau das brutale Vorgehen der Sowjetunion un­ ter Stalin gegen Polen und Finnland. Am finnisch-sowjetischen Winterkrieg beteiligten sich offensichtlich auch schwedische Freiwillige an der Seite des skandinavischen Bruders. Und im neutralen Schweden wusste man zum Teil um die Judenverfolgung und den beginnenden Holocaust, so auch Astrid Lindgren. Allerdings muss hier­ bei erwähnt werden, dass Lindgren als Journalistin an der Quelle saß. Sie ar­ beitete in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes und hatte die deutsche Post aus den besetzten Ländern bzw. aus Schweden auf landeskritische Inhalte hin zu über­ wachen. Nicht zuletzt beschreibt sie ih­ ren Alltag, geht auf ihre Eheprobleme ein und schildert die Einschränkungen durch den Krieg sowie die Lebensmit­ telrationierungen. Trotzdem oder viel­ leicht gerade deswegen entstand zu dieser Zeit auch das zauberhafte Buch »Pippi Langstrumpf«. hp

Astrid Lindgren, Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945, Berlin 2015. ISBN 978-3550-08121-7; 573 S., 19,99 Euro

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Service

Die historische Quelle

Bundesarchiv, Abt. Militärarchiv

»Geheim«: Das BMVg informiert den Minister über Frankreichs Ausscheiden aus der NATO-Militärstruktur

Z

BArch, BW 1/73455/a, Bl. 30

u den jetzt offengelegten bislang geheimen Doku­ menten im Militärarchiv des Bundesarchivs gehört auch ein am 30. März 1966 um 10.20 Uhr im Bundesminis­ terium der Verteidigung (BMVg) abgesandtes Fernschrei­ ben des Adjutanten an den zum Truppenbesuch in Mün­ chen und Neubiberg befindlichen Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel. Die Information für den Minister war höchst eilig und brisant. Hinter den wenigen, knap­ pen Angaben des Fernschreibens stand eine der größten Krisen der NATO-Geschichte: Der französische Staats­ präsident Charles de Gaulle hatte entschieden, dass Frank­reich die militärische Struktur der NATO verlassen sollte. Am 29. März gab die Regierung in Paris in einer di­ plomatischen Note (»aide mèmoire«) den Zeitplan be­ kannt: Bereits zum 1. Juli 1966 würde Frankreich seine Truppen der Unterstellung (»Assignierung«) unter die NATO entziehen und alle seine Offiziere aus den NATOHauptquartieren SHAPE, AFCENT, AFSOUTH und allen nachgeordneten Stäben zurückziehen. Bis Ende März des kommenden Jahres gab de Gaulle der NATO Zeit, alle auf französischem Boden dislozierten alliierten Stäbe und Truppen abzuziehen.

Da sich fast alle höheren NATO-Stäbe in Frankreich be­ fanden und die starken französischen Streitkräfte ein Eckpfeiler der NATO-Verteidigungsplanung waren, löste de Gaulle ein politisches und militärisches Erdbeben aus. Die Konsequenzen der in nur wenigen Monaten zu voll­ ziehenden Schritte waren schwerwiegend und tiefgrei­ fend. Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) wurde bis März 1967 von Rocquencourt bei Pa­ ris ins belgische Casteau bei Mons verlegt. Das Haupt­ quartier Allied Forces Central Europe (AFCENT) wurde zeitgleich von Fontainebleau ins südniederländische Brunssum verlagert. Zunächst waren auch Aachen und Trier im Gespräch gewesen. Das NATO Defence College wurde von Paris nach Rom verlegt. Aus militärischer Sicht entscheidender waren aber die Konsequenzen für die Verteidigungsplanung insbesondere für den Süden der Bundesrepublik Deutschland. Durch den Wegfall der französischen 1. Armee, der bislang auch das II. deutsche Korps im Verteidigungs-Fall unterstand, musste die ­Central Army Group (CENTAG) neu organisiert und ­disloziert werden. Das II. deutsche Korps hatte fortan die Verteidigung des gesamten Raumes südlich der von amerikani­schen Truppen abgedeck­ten hessischen und fränkischen Gebiete alleine zu stemmen . Das abgebildete Fern­ schreiben trägt den Ein­ gangsstempel des damals noch in Neubiberg statio­ nierten Luftransportge­ schwaders 61 sowie die grüne Paraphe (»H« mit Datum) des Ministers von Hassel. Zu sehen sind zu­ dem die Deklassifizie­ rungsmerkmale zur Of­ fenlegung des Doku­ ments. Klaus Storkmann

3Fernschreiben des BMVg an Bundesverteidigungsminister von Hassel vom 30. März 1966.

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Geschichte kompakt

1. März 1896:

20. Januar 1969:

Schlacht von Adua

Der Soldatenmord von Lebach

talien griff erst spät in den Wettlauf um die koloniale Auf­ teilung Afrikas ein. Im Februar 1885 besetzten seine Trup­ pen den Hafen Massaua am Roten Meer, der bis dahin zum türkischen Einflussbereich gehörte. Vier Jahre später wurde Asmara erobert und das Gebiet zur Kolonie Eritrea ausge­ baut. Einer weiteren Expansion stand das Kaiserreich Äthio­pien entgegen: Im Vertrag von Wichale hatten sich 1889 beide Staaten ewige Freundschaft geschworen. Der Vertrag war in zwei Fassungen ausgearbeitet worden. Von einem italienischen Protektoratsanspruch war nur in der italienischen, nicht jedoch in der äthiopischen Version die Rede. Italien versuchte seinen Einfluss am Horn von Afrika zu erweitern. Der äthiopische Kaiser Menelik II. hin­ gegen kaufte unterdessen in ganz Euro­pa Waffen. Woche für ­Woche verließen bis zu 100 Karawanen den französi­ schen Hafen Djibouti in Richtung Äthiopien. Als sich in Ostafrika ein Interessenausgleich Italiens mit Großbritannien und Frankreich abzeichnete, ordnete Menelik die Generalmobilmachung an. Ministerpräsident Francesco Crispi übertrug den Oberbefehl über die italie­ nischen Truppen in Eritrea an General Oreste Baratieri, ­einen alten Mitstreiter Giuseppe Garibaldis bei dessen Eini­ gungsfeldzug 1860 in Italien. Baratieries Truppen kamen rasch voran. Bald wurde die Provinz Tigre der Kolonie Eritrea einverleibt, und Menelik sendete erste Friedenssignale. Crispi rückte nicht von sei­ ner Maximalforderung ab: Menelik solle endlich das italie­ nische Protektorat über, wie es die Italiener nannten, Abes­ sinien anerkennen. Infolge der Weigerung Meneliks befahl Crispi den weiteren Vormarsch. Doch Baratieri erkannte die Risiken. Bislang hatten Befestigungen und Schützengrä­ ben die Äthiopier an einem siegreichen Vorgehen gehin­ dert. Der Verzicht darauf zugunsten einer offenen Feld­ schlacht machte den wichtigsten taktischen Vorteil der Ita­ liener zunichte. Am 1. März 1896 traf Italiens Heer bei Adua nahe der Grenze zu Eritrea auf Meneliks Streitmacht. In der bis da­ hin größten Schlacht auf afrikanischem Boden standen 9000 Italiener und 11000 afrikanische Askari viermal so vielen Verteidigern gegenüber. Das war ein übliches Kräftever­ hältnis in Kolonialkriegen – bis auf die moderne Bewaff­ nung der Einheimischen: Repetiergewehre, Schnellfeuerka­ nonen und Gatlings. Die Schlacht von Adua dauerte nur einen Tag. Am Abend waren zwei Drittel der Italiener und eine große Anzahl As­ kari gefallen; 1865 weitere Soldaten gerieten in Gefangen­ schaft. Crispi reichte sofort nach Bekanntwerden des Desas­ ters seinen Rücktritt ein. Im Vertrag von Addis Abeba (26. Ok­ tober 1896) erlitt Italien keine territorialen Verluste, musste aber Äthiopiens Unabhängigkeit anerkennen. Nach Adua blieb Äthionien von den europäischen Kolonialmächten un­ be­helligt. Der Jahrestag der Schlacht ist dort bis heute Feier­ tag. Ralf Höller

D

ie wachhabenden Soldaten in der »Standortmunitions­ niederlage« Landsweiler bei Lebach wurden von dem heimtückischen Überfall auf ihr Wachlokal nachts um 3 Uhr überrascht: Der Gefreite Dieter Horn, der Obergefreite Arno Bales und der Unteroffizier Erwin Poth wurden noch im Schlaf erschossen, der schwer verwundete Gefreite Ewald Marx erlag später seiner Verletzung. Ein weiterer Soldat überlebte schwer verwundet. Die beiden Täter ent­ wendeten drei G3, zwei P1 sowie 1000 Schuss Munition. Der Militärische Abschirmdienst (MAD), Polizei und Staatsanwaltschaft gingen bei ihren Ermittlungen zunächst von einem vermutlich politisch, d.h. linksradikal moti­ vierten Überfall auf die Bundeswehr aus. Sie verdächtigten die damals sehr aktive Außerparlamentarische Opposition (APO) oder eine mögliche kommunistische Untergrund­ gruppe, die sich für e­ inen Guerillakampf im Fall eines even­ tuellen Krieges mit dem Ostblock zu bewaffnen suchte. Der MAD hatte in seiner Analyse der möglichen Hintergründe sogar erwogen, dass Sympathisanten der Bundeswehr oder gar Angehörige der Streitkräfte mit dem Überfall auf gra­ vierende Sicherheitslücken in der Bewachung aufmerksam machen wollten, dieses Erklärungmuster aber als äußerst unwahrscheinlich verworfen und sich auf den besagten linksradikalen politischen Hintergrund konzentriert. Der Fall wurde aber nicht vom MAD, sondern durch »Ak­ tenzeichen XY … ungelöst« und durch eine von den Tätern erpresste Wahrsagerin aus Remagen aufgeklärt. Das Motiv überraschte Polizei wie MAD: Ein bis Dezember 1968 beim Fallschirmjägerbataillon 261 in Lebach als Wehrpflichtiger gedienter junger Mann und sein Freund hatten den Über­ fall auf das ihm gut bekannte Munitionslager geplant, um sich Waffen und Munition für weitere Banküberfälle zu be­ schaffen. Dazu hatte der Wehrpflichtige zuvor bei einer Übung in Baumholder eine P38 gestolen, sein Freund hatte als Justizsekretär eine Pistole aus der Asservatenkammer des Amtsgerichts Landau entwendet. An der Planung des Überfalls beteiligt war zudem ein weiterer Freund, der zur Tatzeit seinen Wehrdienst im Bundeswehrkrankenhaus Ko­ blenz ableistete. Das Motiv war der Wunsch der drei homo­ sexuellen Freunde, ein gemeinsames Leben außerhalb der von ihnen als feindseelig empfundenen deutschen Gesell­ schaft in Südamerika oder der Südsee zu finanzieren. Das im August 1970 ge­ sprochene Urteil des Landgerichts Saarbrü­ cken lautete zweimal le­ benslänglich wegen Mordes für die beiden Täter und sechs Jahre Haft für den Koblenzer Wehrplichtigen wegen Beihilfe zum Mord.

Historischer Verein Lebach e.V.

I

5Schlagzeile in der Bild-Zeitung

ks

vom 21. Januar 1969.

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• Aldersbach Bier in Bayern Bayerische Landes­ ausstellung 2016 Kloster Aldersbach im Passauer Land Freiherr-von-AretinPlatz 94501 Aldersbach Tel.: 08 21 / 45 05 74 57 www.hdbg.de 29. April bis 30. Oktober 2016 täglich 9.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 10.00 Euro ermäßigt: 8.00 Euro

• Berlin Who was a Nazi? Entnazifizierung in Deutschland nach 1945 Alliiertenmuseum Clayallee 135 – Outpost 14195 Berlin-Zehlendorf Tel.: 0 30 / 81 81 99 0 www.alliiertenmuseum.de bis 29. Mai 2016 Donnerstag bis Dienstag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: frei Relikte des Kalten Krieges. Fotografien von Martin Roemers sowie Immer Bunter. Einwanderungsland Deutschland Deutsches Historisches Museum Unter den Linden 2 10117 Berlin Tel.: 0 30 / 20 30 40 www.dhm.de 4. März bis 14. August 2016 (Relikte des ­Kalten Krieges) 21. Mai bis 16. Oktober 2016 (Immer bunter) täglich 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 8,00 Euro (unter 18 Jahren Eintritt frei) Führungsdienste der Luftwaffe Militärhistorisches ­Museum Flugplatz Berlin-Gatow Am Flugplatz Gatow 33 14089 Berlin Tel.: 0 30 / 36 87 26 91 www.mhm-gatow.de

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Ausstellungen

Ständige Ausstellung Hangar 7 Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: frei

• Bonn Unter Druck! Medien und Politik bis 17. April 2016 sowie Schamlos? Sexualmoral im Wandel Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Willy-Brandt-Allee 14 53113 Bonn Tel.: 02 28 / 91 65 0 www.hdg.de bis 14. Februar 2016 Dienstag bis Freitag 9.00 bis 19.00 Uhr Samstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: frei

• Dresden 60 Jahre Bundeswehr sowie ACHTUNG Spione Militärhistorisches ­Museum der Bundes­ wehr Olbrichtplatz 2 01099 Dresden Tel.: 03 51 / 82 32 85 1 www.mhmbw.de bis 31. März 2016 (60 Jahre Bundeswehr) ab 18. März 2016 (ACHTUNG Spione) Montag 10.00 bis 21.00 Uhr Donnerstag bis Dienstag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 5,00 Euro ermäßigt: 3,00 Euro (für Bundeswehr-­ Angehörige Eintritt frei)

• Gotha Die Ernestiner. Eine Dynastie prägt Europa. Thüringer Landesaus­ stellung in Gotha und Weimar Schloss Friedenstein ­Gotha sowie Herzogliches Museum Gotha Parkallee 15 99867 Gotha Tel.: 03 62 1 / 82 34 58 1 www.ernestiner2016.de

24. April bis 28. August 2016 Dienstag bis Sonntag 9.00 bis 17.00 Uhr Eintritt (Kombiticket): 16,00 Euro ermäßigt: 12,00 Euro

• Ingolstadt Die Alpen in Krieg – Krieg in den Alpen. Die Anfänge der deut­ schen Gebirgstruppe 1915 Bayerisches Armee­ museum Reduit Tilly im ­Klenzepark Paradeplatz 4 85049 Ingolstadt Tel.: 08 41 / 9 37 70

www.hdbg.de bis 2017 täglich 9.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 9,00 Euro

• Potsdam UNI-FORM? Körper, Mode und ­Arbeit nach Maß Haus der Branden­ burgisch-Preußischen Geschichte Am Neuen Markt 9 14467 Potsdam Tel.: 03 31 / 62 08 55 0 www.hbpg.de 15. April bis 24. Juli 2016 Dienstag bis Donnerstag 10.00 bis 17.00 Uhr Freitag bis Sonntag Eintritt: 6,00 Euro ermäßigt: 4,00 Euro

• Stuttgart 100 Jahre Bibliothek für Zeitgeschichte Württembergische Landes­bibliothek Konrad-Adenauer-Str. 8 70173 Stuttgart Tel.: 07 11 / 21 24 51 6 [email protected] bis 5. März 2016 Montag bis Freitag 8.00 bis 20.00 Uhr Samstag 9.00 bis 13.00 Uhr Eintritt: frei

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015

Heft 1/2016

Service

Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung

 Vorschau Im Frühling 1916 befand sich die Welt im dritten Kriegsjahr, drei Jahre, die bereits abertausenden Menschen das Leben geko­ stete hatten und doch war kein Ende in Sicht. Die Kriegführung änderte sich: An allen Fronten Europas kam es zu großen soge­ nannten Materialschlachten, deren Ausmaße die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bis heute am nachhaltigsten prägen. Die Großof­ fensiven der Entente begannen am 1. Juli 1916 mit der Somme-Schlacht. Mit der 6. IsonzoSchlacht wurde der Kampf an der Italien­front intensiviert, im Osten hatte die russische Ar­ mee bereits am 4. Juni die »Brussi­low«Offensive gestartet. Doch die Mittelmächte hielten den Angriffen weiter stand. In Deutschland und Frankreich ist es vor allem die Schlacht von Verdun von Februar bis De­ zember 1916, die sich in das kollektive Ge­ dächtnis eingebrannt hat und zum Schre­ ckensbild des modernen Krieges wurde. Auf beiden Seiten starben etwa 250 000 Soldaten. Die Motive der Erinnerung, deren Auswir­ kungen und Formen in beiden Ländern stellt Florian Reichenberger vor. In einem zweiten Beitrag zu unserem Schwerpunktthema Erster Weltkrieg verlas­ sen wir den europäischen Kriegsschauplatz und blicken nach Asien: Gerhard Krebs schreibt über Japans Rolle im Krieg 1914 bis 1918, das ganz eigene machtpolitische Ziele in Ostasien verfolgte. An der Somme kämpfte als einfacher Ge­ freiter auch Adolf Hitler. Doch wie wurde aus ihm, dem Weltkriegsveteran und erfolg­ losen Maler der mächtigste Politiker und Feldherr Europas? Mit einem neuen Blick wendet sich Wolfram Pyta der Biografie Adolf Hitlers zu und zeigt, welchen starken Einfluss künstlerische und ästhetische Prin­ zipien auf Herrschaft und Kriegführung des Diktators hatten. Krieg bedeutet leider immer auch Gewalt gegen Unschuldige, darunter insbesondere auch die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen in besetzten oder eroberten Gebie­ ten des Feindes. Diesem schrecklichen, aber bis heute viel zu wenig wahrgenommenen Thema nähert sich Miriam Gebhardt an. Sie schreibt über die Gewalt an Frauen in Deutschland 1945. fh/jm

Militärgeschichte im Bild

Adolph Menzels »Leuthen-Fragment«

W

»Ja, das müsste ein infamer Hundsfott sein; nun wäre es die Zeit!« Es ist der »Billerbeck-Moment«, der dem »Leuthen«-Bild in überraschender Weise die Konzentration auf einen höchstdramatischen Augenblick ver­ leiht. Damit ist in Menzels großartig modernem Gemälde ein historischer Höhepunkt im Quellenkontext der ihm in allen Einzelheiten vertrauten preu­ ßischen Militärgeschichtstradition ge­ fasst. Aber besagter Höhepunkt kon­ zentriert sich nicht nur auf Friedrich, sondern auch auf dessen Offiziere. De­ ren Teilvorgänge dieser Militär­ ge­ schichts­tradition werden als Wirkun­ gen einer einzigen Ursache erkennbar, von der sie sich freilich nicht loslösen, sondern auf diese zurück verweisen. Durch diese brillante Kombination von erfundenem Detail und erforschter Vergangenheit reagierte der Künstler auf die zeitgenössische Kritik, die ihm vorwarf, mit seiner Malerei keine dra­ matischen Geschichtssmomente zu ge­ stalten, sondern allenfalls historisches Genre zu gestalten. »Leuthen« gab da­ rauf die Antwort im kühnen Versuch, die von Menzel immer wieder sensibel notierte Vielschichtigkeit des gemalten Moments mit der historischen Ursache einmal in vollen Einklang zu bringen. bpk/Zander und Labisch

as kommt heraus, wenn sich ein Militärhistoriker an die Interpre­ tation von Kunstwerken wagt – noch dazu an eines vom Range des »Leuthen«-Fragments, Adolph Men­ zels 1859 begonnenes, doch unvollen­ det gebliebenes Friedrich-Bild, das die Rede des Königs an seine Offiziere vor der großen Schlacht am 5. Dezember 1757 inszenierte? Zunächst eine mit Menzelscher Akribie anhand von Uni­ formen und Porträtvorlagen durchge­ führte Untersuchung, wer im OffizierEnsemble des Gemäldes überhaupt zu sehen ist, wer noch und wer nicht. Auf einmal werden auch die unbemalt ge­ bliebenen Leinwandflächen des Bildes lebendig, deren bislang völlig unbe­ achtet gebliebenen Kreidelinien digi­ taltechnisch nachzuzeichnen sind. Man erkennt eine Figur mit offenem, rufenden Mund. Also: Was ist auf die­ sem so grandios gescheiterten Kunst­ werk noch heute – zu hören? Klar: eben nicht nur Fridericus Rex (Friedrich II.), der seine tapferen Offiziere gerade fragt, ob einer von ihnen angesichts kommender Todesgefahren seinen Ab­ schied nehmen wolle, sondern auch der brave Major Konstantin von Biller­ beck, der an dieser Stelle – historisch verbürgt – dem Redner ins Wort fällt:

Warum in aller Welt hat Menzel die­ ses großartige Werk nicht zur Vollen­ dung gebracht? Die Antworten darauf finden sich in den Überlieferungen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Aus den Ministerialakten und Hofjournalen geht hervor, dass Menzel das Opfer einer Trendentwick­ lung wurde, die im Sog der Bismarck­ schen Reichsgründungspolitik stand. Besonders die Einigungskriege (1864, 1866, 1870/71) boten den Historienund Schlachtenmalern nun aktuelle Stoffe in Hülle und Fülle. Auf dem Kunstmarkt waren jetzt Künstler ge­ fragt, die »moderne« Themen unter den Vorzeichen einer nationalen Sinn­ stiftung zu behandeln verstanden. Menzels Historienmalerei wurde von dieser Entwicklung ins Abseits gestellt. Seine »Zopfzeit«-Themen gerieten so ins Hintertreffen, wie das ihnen zu­ grunde liegende systemkritische Kon­ zept von »Friedrich und den Seinen« seinen politischen Kontext verlor und deshalb mit den mittlerweile ange­ sagten Bildern von Königen, die ihre Truppen siegreich in den Schlachten führten nicht mehr konkurrieren konnte. Die Katastrophe kam, als Men­ zel im Frühjahr 1867 über das immer noch verlockende Ziel verhandelte, ei­ nen offiziellen Auftrag zur Werk-Voll­ endung für die im Aufbau befindliche Nationalgalerie zu erhalten. Aber auf wessen Betreiben und warum auch im­ mer die »Leuthen«-Bildfrage zwischen dem 1. Juni und dem 13. August 1867 bei Hofe gegen Menzel entschieden wurde: Am traurigen Ende dieser Ent­ wicklung kam sein Gemälde einfach nicht mehr in Betracht und verstaubte im Atelier, aus dem es bis zum Tode Menzels im Jahre 1905 nicht wieder he­ rauskommen sollte. Jürgen Kloosterhuis Literaturtipp

5Adolph Menzel in seinem Atelier in der Sigismundstraße (1895).

Jürgen Kloosterhuis, Menzel militaris. Sein »Armeewerk« und das »Leuthen«-Bild im militärhistorischen Quellenkontext, Berlin 2015. Bezug über den Buchhandel (ISBN 978-3-923579-21-1) oder Online-Shop: www.gsta.sph-berlin.de

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015

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ZMSBw

Neue Publikationen des ZMSBw

neue PUBLIKATIONEN

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Matthias Rogg, Kompass Militärgeschichte. Ein historischer Überblick für Einsteiger. Jahresabonnement: 14,00 Euro inkl. MwSt. Hrsg. vom ZMSBw, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2013, X, 384 S., 19,80 Euro und Versandkosten (innerhalb Deutschlands, ISBN 978-3-7930-9732-7 Martin Rink, Die Bundeswehr 1950/55–1989, München: DeGruyter Oldenbourg 2015 (= Militärgeschichte kompakt, 6); 224 S., 19,95 Euro ISBN 978-3-11-044096-6

Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung. Im Auftrag des ZMSBw hrsg. von Michael Epkenhans und Carmen Winkel, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2013, 120 S., 10 Euro ISBN 978-3-7930-9729-7

Auslandsabonnementpreise auf Anfrage) Kündigungsfrist: 6 Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes.

Kontakt zum Bezug der Zeitschrift: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr z.Hd. Frau Christine Mauersberger Postfach 60 11 22, 14471 Potsdam Tel.: 0331/9714 599, Fax: 0331/9714 509 Mail: [email protected] Die Betreuung des Abonnements erfolgt über die Firma SKN Druck und Verlag, Stellmacher Straße 14, 26506 Norden, die sich mit den Interessenten in Verbindung setzen wird.

»Vom Einsatz her denken!« Bedeutung und Nutzen von Militärgeschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mit Beiträgen von Donald Abenheim, Eberhard Birk, Bernhard Chiari, Antje Dierking, Axel F. Gablik, Winfried Heinemann, Hans-Hubertus Mack und Peter Andreas Popp. Im Auftrag des ZMSBw hrsg. von Dieter H. Kollmer, Potsdam: Rudolf J. Schlaffer und Marina ZMSBw 2013,Sandig, 107 S. (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte, 22), 9,80 Euro Die Bundes­wehr 1955 bis 2015: ISBN 978-3-941571-26-6 Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Demokratie. Analysen, Bilder und Übersichten. Hrsg. vom ZMSBw, Freiburg i.Br. [u.a.]: Rombach 2015; 248 S., 28,00 Euro ISBN 978-3-7930-9836-2

Abonnement Jahresabonnement: 14,00 Euro inkl. MwSt. und Versandkosten (innerhalb Deutschlands, Auslandsabonnementpreise auf Anfrage) Kündigungsfrist: 6 Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes.

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der Zeitschrift:

Wegweiser zur Geschichte:icZentrales hte und Afrika. h Militärgeschichte escfür rg ä it il Imtr Auftrag des Zentrums M r fü m n uSozialwissenschaften Zeund undeswehrin r BBundeswehr e d n e der ft a h c s zialwissen miteder SoZusammenarbeit uersberger aLandesverteidiM n ti s ri h C d. Frau gungsakademie des Österreichischen z.H 1 PotsdamBundes-9 47Kollmer, 4H. 1 , 2 2 1 1 0 6 heeres hrsg. von Dieter h /9714 50 ostfac PKonopka 0331Torsten : x a F , 9 9 org 5 und Martin Rink, Paderborn: 4 1 7 bundeswehr. el.: 0331/9 r@ TSchöningh e rg e b 2015; 263 S., 19,90 Euro rs e u ChristineMa ail:978-3-506-78470-4 M ISBN Firma SKN

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Piraterie in der Geschichte. Mit Beiträgen von Robert Bohn, Martin Hofbauer, Teresa Modler, Gorch Pieken und Martin Rink. Im Auftrag der Deutschen Kommission für Militärgeschichte sowie des ZMSBw hrsg. von Martin Hofbauer, Potsdam: ZMSBw 2013, V, 85 S. (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte, 21), 9,80 Euro ISBN 978-3-941571-25-9

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