Mit der Geschichte leben

January 27, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, English, Literatur, Romantik
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Helga Pfoertner Mahnmale, Gedenkstätten, Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus in München 1933-1945

Mit der Geschichte leben Band 2, I bis P

Literareon im Herbert Utz Verlag München 3

Titelbild: Denkmal am Platz der Opfer des Nationalsozialismus Foto: Hubert Engelbrecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben – auch bei nur auszugsweiser Verwendung – vorbehalten. Lektorat: Stefanie Siebers-Gfaller Satz und Layout: Herbert Utz ISBN 3-8316-1025-8

© 2003 · Helga Pfoertner Herstellung: Books on Demand GmbH Literareon im Herbert Utz Verlag GmbH · München Tel. 089-307796-93 · www.literareon.de

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Mahnmale, Gedenkstätten, Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus in München 1933–1945 Mit der Geschichte leben

Vorbemerkung Zur Trauerkultur der alten Römer gehörte, dass sie ihre Gräber am Rande großer Straßen anlegten, die die Reisenden zu verweilen gemahnten. Geschichte ist nicht nur vergangene Wirklichkeit, sondern auch das Bild, das wir uns von ihr machen. Dieses Bild entsteht in Auseinandersetzungen und Deutungsangeboten, die durch die Medien verbreitet werden. Gedenken ist öffentlich gestaltete Erinnerung. Um das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft aktiv zu halten und ihre Geschichte zu vermitteln, sind öffentliche Orte der Erinnerung wie Museen, Gedenkstätten, Denkmäler und Mahnmale notwendig. Denkmale regen beim Betrachter Fragen an, halten die Erinnerung wach und fördern die mentale Auseinandersetzung mit der Geschichte. Öffentliche Erinnerung ist Bestandteil der politischen Kultur. Dazu bedarf es neben Gedenkstätten am authentischen Ort ebenso Mahnmale und Denkmäler, die uns inmitten unseres Alltages begleiten und dazu auffordern: aus der Geschichte zu lernen und an die Fehler der Vergangenheit zu denken, die uns immer wieder einholen können, wenn wir uns ihnen nicht stellen und sie leugnen. Avi Primor, Vizepräsident der Universität von Tel Aviv, schloss „Die Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung“ am 6. Februar in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität mit den Worten: „Heute sollte die Lehre aus dem Widerstand der ,Weißen Rose‘ lauten: Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.“1 Diese Dokumentation gibt einen Überblick über die bisher geschaffenen Mahnmale, Gedenkstätten und Erinnerungsorte für der Opfer des Nationalsozialismus in München. Zugleich dient sie als Nachschlagewerk. Das in drei Bände aufgeteilte Informationsmaterial ist alphabetisch geordnet: Band 1: Buchstaben A bis H; Band 2: Buchstaben I bis P; Band 3: Buchstaben Q bis Z. 1

SZ Nr. 31 vom 7. 2. 2001: 17

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Den Anstoß zur Errichtung einer Gedenktafel oder eines Denkmales gaben meistens Bürgerinitiativen; dazu kamen Anträge von den Fraktionen der Münchner Stadtverwaltung und der Bayerischen Staatsregierung. Die Landeshauptstadt München leistete dazu im Hinblick auf Planung und Errichtung einen großen Beitrag. Das Buch kann als thematischer Stadtführer genutzt werden, da die Erreichbarkeit jedes Erinnerungsortes mit öffentlichen Verkehrsmitteln erklärt ist. Anlass und Entstehung der Erinnerungsorte, von der Initiative bis zur offiziellen Übergabe, kommen zur Sprache. Informationen über den Künstler werden gegeben, ebenso Äußerungen zu seinen Intentionen, die dem Betrachter einen Zugang zur Mahnmal-Kunst weisen. Spezielle Literaturhinweise folgen jedem Abschnitt. Der Biografie des Opfers misst diese Dokumentation einen besonderen Stellenwert bei. Politische, religiöse und weltanschauliche Motive von Widerstandskämpfern werden dargestellt und zeigen, dass der Mensch nicht unbegrenzt beeinflußbar ist. Das Ziel war, zu der betreffenden Einrichtung ein Textlesebuch zu schaffen, das sich in den Kontext der ortsgebundenen wie der allgemeinen Zeitgeschichte einfügt. Es gilt, diese Denkmäler in einen kollektiven Erinnerungsprozess einzubinden, in dem sie heute und in Zukunft als zusätzliches Medium der Geschichte genutzt werden können. Dank Am Anfang soll die Hilfe und das Entgegenkommen des Münchner Städtischen Baureferates, Hochbau I, von Herrn Baudirektor Hans Senninger gewürdigt werden. Seit kurzem wird diese Abteilung von Herrn Diplomingenieur Walter Sesemann betreut, auch ihm sei für die Hilfe gedankt. Weiterer Dank geht an die Mitarbeiter des Städtischen Bestattungsamtes, des Stadtarchivs München, der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte München, der Bayerischen Staatskanzlei, der Max-Planck-Gesellschaft München und der KZ-Gedenkstätte Dachau. Dankbar erwähnen möchte ich noch Herrn Forstdirektor Gerhard Stinglwagner, Frau Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn und Herrn Rechtsanwalt Dr. Otto Gritschneder, die für diese Dokumentation ihre privaten Photoarchive öffneten. Besonders zu würdigen ist die fotografische Leistung von Herrn Andreas Olsen, München. Mit Dank erwähnt werden müssen die Zitate der Mahnmal-Künstler, in denen sie ihre Werke erklären. Dem Herbert Utz Verlag danke ich für die Bereitschaft, diese Dokumentation zu verlegen. Ein ganz besonderes Dankeschön richte ich an meinen Mann, Herrn Dr. Hubert Engelbrecht, der mit grosser Hilfsbereitschaft, Gelassenheit und Geduld meine Arbeit während der ganzen Zeit begleitet hat.

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Dieses Werk ist Herrn Andreas Olsen (*1955 †2001) gewidmet, der durch seine fotografische Arbeit sehr zum Gelingen dieses Werkes beigetragen hat. München, im Februar 2003

Helga Pfoertner

Archiv-Verzeichnis Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem (Bildnachweis) Archivum Monacense Societatis Jesu, München (Bildnachweis) argum / C. Lehsten, München (Bildnachweis) Baureferat Hochbau I, Landeshauptstadt München Baureferat Hochbau, Gestaltung öffentlicher Raum, Landeshauptstadt München Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte, Phillips Universität Marburg, Bildarchiv Marburg (Bildnachweis) Deutsches Theatermuseum München (Bildnachweis) Dokumentations- und Informationszentrum München, Süddeutscher Verlag, Bilderdienst, München (Bildnachweis) Dr. Otto Gritschneder, München (Bildnachweis) Ida Seele Archiv Dillingen (Bildnachweis) Institut für Zeitgeschichte München (Bildnachweis) Israelitische Kultusgemeinde München Käthe-Kollwitz-Archiv der Berliner Akademie der Künste (Bildnachweis) Wolfram Kastner, München (Bildnachweis) Kriegsarchiv München KZ-Gedenkstätte Dachau (Bildnachweis) Marktarchiv Murnau Monacensia-Abteilung der Stadtbücherei München Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn, Bad-Tölz (Bildnachweis) Staatsarchiv München Stadtarchiv München (Bildnachweis) Städtisches Bestattungsamt München Stadtmuseum München (Bildnachweis) Gerhard K. Stinglwagner, München (Bildnachweis)

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Abkürzungen AMSJ BayHStA BayStA BPP BZA BDM DAW DGB DP FAB FB Gestapo GSI HJ HStAM IfZ IfZ-Archiv IKG Kapo KKV KL KM KPD KWG KZ LMU MBM M MM MNN MPG MPG-Archiv MPZ MSPD NSDAP OKW OT

Archivum Monacense Societatis Jesu Bayerisches Hauptstaatsarchiv Bayerisches Staatsarchiv Bayerische Politische Polizei Bezirksausschuss Bund Deutscher Mädchen Deutsche Ausrüstungswerke Deutscher Gewerkschaftsbund Displaced Persons Freiheitsaktion Bayern Freistaat Bayern (Bayerische Staatsregierung) Geheime Staatspolizei Geschwister-Scholl-Institut Hitlerjugend Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Institut für Zeitgeschichte Archiv des Instituts für Zeitgeschichte Israelitische Kultusgemeinde Arbeitskommandoführer im KZ, der selbst Häftling war Vereinigung der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung Konzentrationslager Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus Kommunistische Partei Deutschlands Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Konzentrationslager Ludwig-Maximilians-Universität München Miscellanea Bavarica Monacensia Landeshauptstadt München Münchner Merkur Münchner Neueste Nachrichten Max-Planck-Gesellschaft Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft Museums-Pädagogisches Zentrum Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberkommando der Wehrmacht Organisation Todt

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RSHA SA SD Sipo SJ SPD SS StadtA Mü SV TU USPD VfZ VGH VVN ZA

Reichsicherheitshauptamt Sturmabteilung (der NSDAP) Sicherheitsdienst Sicherheitspolizei Societas Jesu Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel (der NSDAP; auch polizeiliches Kfz-Kennzeichen der SS) Stadtarchiv München Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen Technische Universität München Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vierteljahresheft für Zeitgeschichte Volksgerichtshof Vereinigung Verfolgter des Naziregimes e. V. Zeitungsartikel

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Inhaltsverzeichnis

Israelitischer Friedhof – Alt

12

Israelitischer Friedhof – Neu

18

Israelitisches Kranken- und Schwesternheim

25

Judendeportation

29

Judenpogrom von 1938

42

Jüdisches Deportationslager Milbertshofen

48

Jüdisches Kinderheim

56

Jüdisches Museum München

62

Jüdische Rechtsanwälte

68

„Jüdisches Sammellager“ Berg am Laim

79

Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim

84

Dr. phil Erich Kästner

92

Kalter Haus, Tal 19

103

Paul Klee

107

Walter Klingenbeck

115

Waldemar von Knoeringen

120

Prof. Dr. Lothar König SJ

131

Annette Kolb

134

Prof. Dr. Käthe Kollwitz

144

Kriegsgefangene

154

KZ Ehrenhain I

157

KZ Ehrenhain II

160

Hans Leipelt

166

10

Karl Leisner Seliger Neupriester

173

Freiherr Ludwig von Leonrod

181

Prof. Dr. h. c. James Loeb

185

Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg

192

Luftkriegsopfer – Schwabinger Schuttberg

196

Luftkriegsopfer – Ehrenhain

198

Luftkriegsopfer – Olympiapark

200

Heinrich Mann

202

Thomas Mann

210

Pater Rupert Mayer Seliger SJ

222

Prof. Dr. Lise Meitner

234

Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim

242

Helmuth James Graf von Moltke

251

Dr. oec. publ. Emil Muhler

257

Prof. Dr. jur. Karl Neumeyer

261

Wilhelm Olschewski, Willy Olschewski jun., Otto Binder

268

Wilhelm Freiherr von Pechmann

272

Toni Pfülf

280

Platz der Freiheit

287

Platz der Opfer des Nationalsozialismus

290

Politische Opfer

293

Polnische Kriegsopfer

296

Presse

298

Hermann Christoph Armando Probst

303

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Israelitischer Friedhof – Alt „Kurz war Dein Leben, zählt man es nach Stunden, doch hast Du Freud und Leid so tief empfunden, dass reichlich Dir Dein Dasein ward bemessen. Der Zauber Deiner Seele zog jeden hin, dass der Dich lieben mußt` und wer Dich kannte, wird Dich nie vergessen.“ Grabinschrift für Blanche Heilbronner (1880–1906) auf dem Alten Israelitischen Friedhof.2

Grabmal von Dr. Gustav Böhm auf dem Alten Israelitischen Friedhof Foto: A. Olsen

Grabmal von Dr. Gustav Böhm auf dem Alten Israelitischen Friedhof Foto: A. Olsen

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Israelitischer Friedhof – Alt Thalkirchner Straße 240, Thalkirchen Brudermühlstraße U3 Eintritt nur nach Vereinbarung mit der Volkshochschule (VHS) München.

Namensinschrift auf dem Grabmal von Erwin Kahn (Alter Israelitischer Friedhof) Foto: A. Olsen

Grabmal von Max Luber auf dem Alten Israelitischen Friedhof Foto: A. Olsen

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Schubsky, Karl W. (1988): Jüdische Friedhöfe. In: Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe: 173

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GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Friedhof wurde 1816 weit außerhalb der Stadt „eine Viertelstunde westwärts vom allgemeinen Gottesacker (Südfriedhof)“3 angelegt. Die Anlage umfasst 2,27 Hektar. Im Jahre 1818 lebten in München 479 Juden und nach weiterem Zuwachs stieg die Zahl bis zum Jahre 1880 auf 4144 an. Aus diesem Grunde war ein Vergrößerung der Friedhofsanlage erforderlich. Nach Erweiterungen in den Jahren 1854, 1871 und 1881 diente sie bis heute als Begräbnisort, an dem sich circa 6000 Gräber befinden. Umgeben ist die Anlage von einer 2,5 Meter hohen, roten Ziegelsteinmauer. Der jüdische Friedhof ist eine „Stätte der Gräber“, „Stätte der Ewigkeit“, „Haus der Ewigkeit“ (letzteres bedeutet im Hebräischen Friedhof). Hier findet die Beisetzung der Verstorbenen in geweihter Erde statt, mit der Bedeutung, dass ihnen dieser Ort bis in alle „Ewigkeit“ gehört, das Grab kann nicht aufgelassen werden. Der nach Osten gerichtete Grabstein wird am Jahrestag des Todes aufgestellt. Besucher legen dort Steine ab; ein Brauch, der auf die Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste zurückgeht; man bedeckte die Gräber mit Steinen, um sie zu befestigen und vor wilden Tieren zu schützen. Der Verstorbene wird 24 Stunden nach seinem Tod begraben. Die Vorbereitungen dazu finden in einem Friedhofshaus (Tahara-Haus) statt. Bei der Bestattung sprechen zehn religionsmündige Männer das jüdische Totengebet, das Kaddisch. Aus der Pflege und Anlage der Gräber darf niemand verdienen, deshalb erscheinen die jüdischen Friedhöfe im Vergleich zu den christlichen schmucklos.4 Grabmäler prominenter Personen, errichtet und entworfen von bedeutenden Münchner Künstlern, wie von dem Architekten Friedrich von Thiersch und dem Bildhauer Wilhelm von Ruemann, belegen das friedliche Zusammenleben von Juden und Christen in München. I. Gedenkstätten Grabstätten, der im Konzentrationslager Dachau Ermordeten: Böhm, Gustav Dr. jur., Rechtsanwalt, 58 Jahre *6.11.1880 Mannheim †12.11.1938 KZ Dachau Grabmal: B 33/2/3 Kanzlei am Promenadeplatz. Letzte Wohnung: Schubertstraße 2.5

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Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München: 161 Schmid-Goetz, Irmtraud (1997): Der jüdische Friedhof Weissensee. In: Gedenkstättenpädagogik: 81f StadtAM Kennkartenantrag Dr. Gustav Böhm. KZ-Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 130

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Nach der Pogromnacht am 9./10. November 1938 wurde Dr. Gustav Böhm in das KZ Dachau verschleppt, wo er Suizid beging. Feust, Karl Dr. jur., Rechtsanwalt, 51 Jahre, B 25/4/4 *1.5.1887 München †25.11.1938 KZ Dachau Grabmal: B 25/4/4 Verheiratet mit Fanny (geb. Sulzbacher) *1900; sie emigrierte mit ihren drei Kindern 1939 nach Großbritannien. Letzte Wohnung: Widenmayerstraße 14.6 Dr. Julius Feust war Vorstandsmitglied der Religionsgemeinschaft Ohel Jakob und Mitglied der Gemeindevertretung der IKG. Nach dem Pogrom in der „Reichskristallnacht“ verschleppte man Dr. Feust in das KZ Dachau. Wie der Mithäftling Werner J. Cahnmann berichtete, sei Dr. Feust dort nachts von den Kapos ins Freie geschleppt und „mit Eimern eiskalten Wassers begossen“ worden. Er starb an den Folgen der Misshandlung.7 Haas, Bernhard, Rechtsanwalt, 37 Jahre *25.11.1871 Thalmässing †28.11.1938 KZ Dachau Grabmal: B 30/1/10 Verheiratet mit Viktoria (geb. Ziegler), seit 1902 in München ansässig. Letzte Wohnung: Sandstraße 1. Gutsbesitzer, Immobilienhändler und Inhaber eines Handels mit Autoölen und Fetten.8 Kahn, Erwin, Rechtsanwalt, 31 Jahre *? †16.4.1933 KZ Dachau Grabmal: B 35/12/15 Erwin Kahn war einer der Dachauer KZ-Häftlinge, der einen Tag nach der Übernahme durch die SS ermordet werden sollte.9 Zusammen mit vier Häftlingen brachte man ihn in einen nahegelegenen Wald. Das Wachpersonal schoss auf die Häftlinge mit Maschinenpistolen; Erwin Kahn, schwer verletzt von fünf Einschüssen überlebte wenige Tage in einer Münchner Klinik. Er hatte noch die Kraft, über die Geschehnisse vom 12. April 1933 zu berichten.10 6 7 8 9 10

StadtAM Kennkartenantrag Dr. Karl Feust. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): 131 KZ-Gedenkstätte Dachau, Archiv, Maschinenschriftlicher Bericht von Werner J. Cahnmann, S. 3. In Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“: 131–132 Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132 Distel, Barbara / Benz, Wolfgang (1994): Das Konzentrationslager Dachau 1933–1945: 51 Large, David Clay (1998): Hitlers München: 306–307

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Luber, Max, Rechtsanwalt, 70 Jahre *25.1.1869 †30.11.939 KZ Dachau Grabmal: B 34/3/2 Neustätter, Albert, Rechtsanwalt, 64 Jahre *5.2.1874 München †24.11.1938 KZ Dachau Grabmal: 17a/3/10 Ehefrau Anna, geb. Hochfeld (*1876 †1935). Letzte Wohnung: Friedrich-Herschel-Straße 21 Kaufmann, Inhaber einer Papierfabrikation, Landwehrstraße 60.11 Strauß, Alfred, Dr. jur. Rechtsanwalt, 31 Jahre *30.8.1902 München †25.5.1933 KZ Dachau Grabmal: B 14/15/2 Dr. jur. Alfred Strauß war seit 1928 als Rechtsanwalt in München tätig. Kurz nach Eröffnung des Konzentrationslagers Dachau wurden die dort inhaftierten jüdischen Rechtsanwälte Erwin Kahn am 16. April 1933 und Dr. Alfred Strauß am 25. Mai 1933 ermordet. Über Dr. Alfred Strauß existieren staatsanwaltliche Untersuchungen von Oberstaatsanwalt Dr. Winterberger.12 Dieser erhebt Anklage gegen den SS-Mann und KZ-Aufseher Johann Kantschuster wegen Mordes an Rechtsanwalt Dr. Alfred Strauß. Nach Angaben des SS-Mannes hatte sich Dr. Strauß als Schutzhaftgefangener im KZ Dachau auf einem vom Lagerarzt verordneten Spaziergang außerhalb des Lagers befunden, als er von ihm selbst durch zwei Schüsse getötet wurde.13 Literatur Belošickaja, L’uba (2000): In: Werner, Constance: Kiew – München – Kiew: 30 Brenner, Michael (2000): Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Verlag C. H. Beck, München Gedenkstättenpädagogik (1997): Handbuch für Unterricht und Exkursion. Hrsg. v. Museums-Pädagogischen Zentrum München und Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung, Dillingen. Löwen Druck, München Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (1988): Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Katalog zur Ausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Tümmels Buchdruckerei, Nürnberg Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (1988): Lebensläufe. Hrsg. v. Manfred Treml und Wolfgang Weigand unter Mitarbeit von Eyamaria Brockhoff. München 11 12 13

StadtAM Kennkartenantrag, KZ-Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 131 Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 432 Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in Bayern: 432

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Göppinger, Horst (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“. Entrechtung und Verfolgung. München. Heinrichs, Helmut et al. (Hrsg.): (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. München. Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938. Stadtarchiv München (Hrsg.). Buchendorfer Verlag, München. Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien Large, David Clay (1998): Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung. C. H. Beck Verlag, München Meyer, Michael A. / Brenner, Michael (Hrsg.) (1997): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hrsg. i. Auftrag d. Leo Baeck Instituts. 4 Bände. C. H. Beck Verlag, München Schmid-Goetz, Irmtraud (1997): Der jüdische Friedhof Weissensee. In: Gedenkstättenpädagogik (1997): Handbuch für Unterricht und Exkursion: 81f Schubsky, Karl W. (1988): Jüdische Friedhöfe. In: Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries Verlag, München Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries Verlag, München Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg. Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883–1939. Oldenburg Verlag, München Werner, Constance (2000): Kiew – München – Kiew. Schicksale ukrainischer Zwangsarbeiter. Hrsg. v. Kulturreferat der Landeshauptstadt München in Zusammenarbeit mit dem Verein Projekt Erinnerung e. V., Buchendorfer Verlag, München

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Israelitischer Friedhof – Neu „Siehe der Stein schreit aus der Mauer.“ Titel einer Ausstellung über die Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, konzipiert vom Haus der Bayerischen Geschichte.14

Mahnmal auf dem Neuen Israelitischen Friedhof Foto: A. Olsen

Grabmal auf dem Neuen Israelitischen Friedhof Foto: A. Olsen

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Israelitischer Friedhof – Neu Garchinger Straße 37 Studentenstadt U6 Öffnungszeiten: November bis März: Montag – Donnerstag 8–16 Uhr, Freitag 8–15 Uhr April bis Oktober: Montag – Donnerstag 8–17 Uhr, Freitag 8–16 Uhr. Samstag und an jüdischen Feiertagen geschlossen. I. Mahnmal M (1946) II. Gräber der NS-Opfer SV (1946) SV (1952) III. Renovierung des Friedhofes M (1989) Zu I. Mahnmal ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative der Landeshauptstadt München wurde im Neuen Israelitischen Friedhof ein Gedenkstein für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aufgestellt. Die Einweihung des Denkmals fand am 9. November 1946 unter der Teilnahme des Münchner Oberbürgermeisters Karl Scharnagl statt. Unter den Gästen waren auch der Staatskommissar Dr. Auerbach, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Dr. Julius Spanier, der Oberrabbiner Dr. Ohrenstein sowie Vertreter der Militärregierung, der Staatsregierung und der Landeshauptstadt München. KURZBESCHREIBUNG Neben der Friedhofshalle steht auf einem flachen quadratischen Sockel ein ungefähr vier Meter hoher Obelisk aus Sandsteinblöcken, der an den Kanten von schmalen Säulen um14

Diese wurde im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 25. Oktober 1988 bis 22. Januar 1989 gezeigt.

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geben und von einer flachen Feuerschale gekrönt ist. Die Inschrift in hebräischer und lateinischer Schrift lautet: „Den Opfern der schweren Verfolgungszeit 1933–1945 zum Andenken.“ Zu II. Gräber der NS-Opfer Deutsch, Erwin (siehe Band 1: S. 53–54). Grabmal: 20 Engelberg, Nechmias Grabmal: 12 *10.1.1857 Sieniawa †10.11.1942 Theresienstadt Eschen, Heinz (siehe Band 1: S. 93–95). Grabmal: 18/11/18 Klar, Max, Dr. med. Orthopäde und Chirurg *20.12.1875 Weimar †30.11.1938 KZ Dachau Grabmal 6/6/2 Der Orthopäde und Chirurg Dr. med. Max Klar führte in den Jahren von 1935 bis 1938 eine Praxis in der Hermann-Ling-Straße 18; seine letzte Wohnung befand sich in der Juttastraße 24. Verheiratet war er mit Sylvia, geb. Adlerstein, Tochter des Justizrates, geboren 1885, gestorben am 9. Juni 1942 im KZ Ravensbrück.15 Die Familie Klar stellte im Juli 1933 ihre Münchner Wohnung dem SPD-Politiker und späteren bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner) als Versteck zur Verfügung und ermöglichte ihm mit ihrem PKW die Flucht aus Deutschland.16 Männlein, Simon *29.3.1871 Dormitz (Kreis Forchheim) †1.12.1938 KZ Dachau Grabmal 5/2/15 Versicherungsinspektor a. D., letzte Wohnung: Gedonstraße 6.17 15 16

StadtAM Kennkartenantrag Dr. Max Klar. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132 Hoegner, Wilhelm (1959): Der schwierige Außenseiter: 120–121

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Mendle, Max *10.8.1873 Fischach (Kreis Augsburg) †30.11.1938 KZ Dachau Grabmal: 6/2/13 Kaufmännischer Direktor, letzte Wohnung: Bauerstraße 9, verheiratet mit Marie, geb. Held (*1881 †25.11.1941 in Kaunas).18 Mendle, Marie *12.1.1881, deportiert nach Riga 1941 Regensburger, Max, Dr. med., Kinderarzt *1.2.1871 Feuchtwangen †24.11.1938 KZ Dachau Grabmal: 9/8/10 Approbation 1896, Sanitätsrat, bis 1938 Praxis in der Kaiserstraße 50, verheiratet mit Elise, geb. Kohn (*1875), Suizid am 14.4.1939.19 Schreiber, Adolf *4. 4.1877 Wien †2.12.1938 KZ Dachau Grabmal: 6/2/9 Kaufmann, letzte Wohnung: Fraunhoferstraße 9, ledig.20 Wien, Ferdinand van *17.12.1872 Winschoten (Niederlande) †14.11.1938 KZ Dachau Grabmal: 18/15/9 Kaufmann, Inhaber der Tuchhandlung Gebrüder van Wien (Prielmayerstraße 20), seit 1905 in München, letzte Wohnung: Herzog-Heinrich-Straße 22, verheiratet mit Mathilde, geb. Ambrunn (*1886, Emigration am 26. September 1939 in die USA).21

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StadtAM Kennkartenantrag Simon Männlein. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132 StadtAM Kennkartenantrag Max Mendle. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132 StadtAM, Kennkartenantrag. – Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 131 Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 132 Gedenkstätte Dachau, Archiv, Totenbuch Dachau. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): 131

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Weitere Grabinschriften erinnern an Opfer des Holocaust: „Zum Gedenken an die Eltern und Geschwister, vernichtet in Treblinka 1942.“ „Durch die Shoah ausgelöscht.“ „... Auch für die Eltern und Großeltern, die kein Grab haben ...“ „... Zum Gedächtnis an ihren Gatten und Sohn, verschleppt und im KZ umgekommen ...“ ... Unsere innigst geliebten Eltern und Geschwister in den dunklen Jahren des Faschismus in Auschwitz ermordet ...22 Zu III. Renovierung des Friedhofes M (1989) ANLASS UND ENTSTEHUNG Nach einem Stadtratsbeschluss vom Juli 1985 wurde die Renovierung im Jahre 1989 begonnen. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Architekt Hans Grässl errichtete den neuen Israelitischen Friedhof in den Jahren 1905 bis 1907. Diese Anlage, umgeben von einer hohen Steinmauer, konzipierte er für einen Zeitraum von 100 Jahren und für ungefähr 16000 Gräber – und schuf damit einen seiner schönsten Friedhöfe. Von ihm stammen auch die Anlagen des Nord-, West- und Waldfriedhofs sowie die Friedhofshalle am Ostfriedhof. Dieser Friedhof kann als historisches Symbol für die Gemeinsamkeit jüdischer und christlicher Religion in München betrachtet werden. Viele Gräber erinnern an bedeutende Persönlichkeiten. Den Gefallenen des Ersten Weltkrieges ist ein Denkmal und ein Ehrenmal gewidmet. NS-ZEIT An die zahlreichen Schicksale und Opfer der NS-Zeit erinnern außer dem großen Denkmal zahlreiche Grabmale. Erinnert werden soll aber auch an das christliche Ehepaar Karl und Katharina Schörghofer, die im Friedhofsgebäude des Neuen Israelitischen Friedhofes wohnten. Sie verhinderten den Abtransport von Grabsteinen und religiösen Gegenständen. Mit ihrer Hilfe konnten sich Verfolgte in den Friedhofsanlagen verstecken und vor 22

Puvogel, U. / Stankowsky, M. (Hrsg.) (1998): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Band 1: 173

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der Deportation retten. Obwohl Karl Schörghofer mehrmals von der Gestapo verhört und festgenommen wurde, hat er immer wieder bedrohten Menschen geholfen.23 Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde, würdigte die selbstlose Hilfe der Familie Schörghofer und gedenkt der Opfer: „Was mag in den sieben jungen jüdischen Menschen vorgegangen sein und wie mögen sie mit sich gekämpft haben, die sich 1944 im jüdischen Friedhof in München versteckt haben, um der Deportation zu entgehen ...“24 In der „Allee der Gerechten“ in der Gedenkstätte „Jad Vashem“ (Jerusalem) erinnert heute noch ein 1969 gepflanzter Baum an die Zivilcourage dieses Ehepaares.255 Ausstellung 25. Oktober 1988 – 22. Januar 1989: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Konzipiert vom Haus der Bayerischen Geschichte. Gezeigt im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Literatur Ben Chorin, Schalom (1991): Jüdische Jugendbewegung in Deutschland vor 1933 am Beispiel München. In: Junge Juden in Deutschland. Hrsg. v. Ellen Presser und Bernhard Schoßig. München Ben-Chorin, Schalom (1994): Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München Chronik der Stadt München 1945–1948 (1980). Bearbeitet v. Wolfram Selig unter Mitwirkung v. Ludwig Morenz und Helmuth Stahleder. Manz Verlag, Dillingen Deckname „Betti“. Jugendlicher Widerstand gegen die Nationalsozialisten in München. Ein Projekt des Kreisjugendrings München-Stadt, 1997 München De Vries, S. Ph. (1993): Jüdische Riten und Symbole. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg Geschichte und Kultur der Juden in Bayern (1988): Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Katalog zur Ausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Tümmels Buchdruckerei, Nürnberg Grossmann, Kurt (1957): Zeugnisse menschlicher Tapferkeit im Dritten Reich. Karl Schörghofer, München. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 438–440 Grossmann, Kurt R. (1961): Die unbesungenen Helden. Berlin Jacobeit, Sigrid (Hrsg.) (1995): Ravensbrückerinnen. Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Band 4. Edition Hentrich, Berlin Jüdisches Leben in München in zwei Jahrhunderten (1989). Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Jüdisches Leben in München. (1995): Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München

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„Ich weiß, daß ich mein Leben gefährde ...“ Verfolgte und Retter auf dem Jüdischen Friedhof in München. In: Deckname „Betti“ (1997): 56 „Ich weiß, daß ich mein Leben gefährde ...“ Verfolgte und Retter auf dem Jüdischen Friedhof in München. In: Deckname „Betti“ (1997): 56–57 Weyerer, Benedikt (1996): München 1933–1949: 265

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Klein, Anton D. (o.J.): Die Judenretter aus Deutschland. Dossier Nr. 390, Yad Vashem Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 460 Nachama, A. / Sievenich, G. (1991): Jüdische Lebenswelten. Katalog. Berlin Ortag, Peter (1997): Jüdische Kultur und Geschichte. Ein Überblick. Sonderauflage der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Hrsg. v. d. Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung. Universitätsdruckerei der Verlagsgesellschaft, Potsdam Puvogel, Ulrike / Stankowsky, Martin (Hrsg.) (1995): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band 1. Bundeszentrale für politische Bildung Bonn. Edition Hentrich, Berlin Schwierz, Israel (1992): Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. Hrsg. v. d. Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit. SOV Graphische Betriebe, Bamberg Selig, Wolfram (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries Verlag, München Treml, Manfred (Hrsg.) (1988): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. 2 Bände. Augsburg Verus, Rita (1995): Erinnerungsbilder. „Bet Olam“, das Haus der Ewigkeit. In: Jüdisches Leben in München. Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München: 207–210 Weyerer, Benedikt (1996): München 1933–1949. Stadtrundgänge zur politischen Geschichte. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München

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Israelitisches Kranken- und Schwesternheim „Der Holocaust war gewiss eine jüdische Tragödie. Aber er war nicht nur dies. Er war auch eine christliche Tragödie für die westliche Zivilisation, ja für die gesamte Menschheit.“ So urteilte der Historiker David S. Wyman in seinem Buch Das unerwünschte Volk (1986).26

Mahnmal für das Israelitische Kranken- und Schwesternheim Foto: A. Olsen

Israelitisches Kranken- und Schwesternheim, HermannSchmid-Straße 5, 1911 Foto: Stadtarchiv München

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Israelitisches Kranken- und Schwesternheim Hermann-Schmid-Straße 5–7 Goetheplatz U3/U6 M (1993) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Antrag der SPD-Stadträtin Dr. Ingeborg Keyser brachte im April 1989 das Baureferat der Stadt München, eine Gedenktafel am ehemaligen Standort des Israelitischen Krankenhauses, markiert durch ein ovales Gebäudeschild mit den Maßen 0,52 m × 0,40 m, an der Turnhalle der Stielerschule mit folgendem Text an: „Hier stand von 1911 bis 1942 das Israelitische Kranken- und Schwesternheim.“ Bereits im Juli 1989 strebte Dr. Renate Jäckle, die Vorsitzende der „Liste der Demokratischen Ärztinnen und Ärzte“, eine bessere Gestaltung der Gedenkstätte an. In Zusammenarbeit mit dem Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter, dem Baureferat und der Israelitischen Kultusgemeinde einigte man sich darauf, ein Mahnmal zu errichten. Seine Einweihung fand am 2. Juni 1993 statt. KURZBESCHREIBUNG Neben einer rudimentären Gartenzaunsäule, einem Rest der ehemaligen Einfriedung des Israelitischen Krankenhauses, befindet sich eine etwa 4 m × 4 m große gepflasterte, von Sitzbänken umgebene Fläche, in deren Mitte das Mahnmal steht. Auf dem Gehweg weist ein Pflastersteinstreifen zum Standort. Das Mahnmal besteht aus zwei sich durchdringenden Stahlplatten. Die schräg gestellte Platte (1,8 m × 1,8 m) ist mit einem tiefen Riss durchzogen und trägt die Inschrift: „Hier stand von 1911 bis 1942 das Israelitische Krankenhaus und Schwesternheim. Am 3. und 4. Juni 1942 wurden Patienten, Schwestern und Ärzte in das KZ Theresienstadt deportiert.“ Diese Platte wird in der Mitte von einem quadratischen Gitter aus massiven Stäben durchbrochen. INTENTION DES KÜNSTLERS Professor Dr. Ing. Horst Auer beschreibt das von ihm geschaffene Mahnmal wie folgt:

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In: Der Spiegel Nr. 22. v. 28.5.2001: 160

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„Das Mahnmal bezieht seine intendierte Bild- und Aussagekraft aus dem Spannungsverhältnis einer geordneten, knappen Geometrie – und deren ,Störungen´. Zwei quadratische Stahlplatten erheblich unterschiedlicher Größe durchdringen einander. Die senkrecht stehende, kleinere Platte innerhalb ihrer dem Straßenraum zugeordneten Hälfte, durch eine – wiederum – quadratische Gittergestaltung partiell entmaterialisiert, wird von der größeren Platte längs deren Mittelachse diagonal durchbrochen. Das Gitterraster der vertikalen Platte soll bei dem Betrachter des Mahnmals spontane Assoziationen mit der Deportation erwecken. Der markante, durchgehende Riß durch die unter einem Winkel von 45° geneigte größere Platte steht als Versuch, die sinnlose und durch nichts zu rechtfertigende Zerstörung einer ursprünglichen Ganzheit anschaulich zu machen.“ 27 GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Auf Anregung der Ärzte Dr. August Feuchtwanger (er emigrierte 1935 nach Palästina) und Dr. Joseph Marschütz entstand am 25. März 1910 durch Ankauf und Umbau der Häuser an der Hermann-Schmid-Straße 5 und 7 das Israelitische Kranken- und Schwesternheim, „wobei die Anforderungen einer zeitgemäßen klinischen und hygienischen, wie einer hochkultivierten Inneneinrichtung volle Berücksichtigung fanden“.28 Es beherbergte bis 1933 Patienten aller Konfessionen; bekannte Münchner Ärzte benutzten es als Belegkrankenhaus. In Folge der restriktiven Maßnahmen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden Juden von städtischen und staatlichen Krankenhäusern abgewiesen, was zu gravierendem Platzmangel im Israelitischen Krankenhaus führte, zumal dieses auch Juden aus dem Regierungsbezirk Oberbayern mit zu betreuen hatte. „... die Seuche des Freitodes unter der jüdischen Bevölkerung wütete wie kaum jemals in der Geschichte. Es war keine Seltenheit, daß pro Tag acht bis zehn Selbstmordfälle im Israelitischen Krankenheim zur Aufnahme überwiesen wurden, ganz zu schweigen von der Zahl derer, bei denen die Aufnahme wegen Aussichtslosigkeit sich von selbst erübrigte“.29 Besondere Erschwernisse wie die Zuteilungsbeschränkung von Lebensmitteln und Medikamenten forderten von den Ärzten und Krankenschwestern außergewöhnlichen Einsatz. Nach dem 9. November 1938 ordnete die NS-Verwaltung die Entlassung aller nichtjüdischen Angestellten und Ärzte an. Im Juni 1942 wurde das Krankenhaus endgültig mit dem 27 28 29

Schreiben an Helga Pfoertner, 27.11.1997 Spanier, Julius Dr. (1958): Das israelitische Schwestern- und Krankenheim. In: Lamm, Hans: Vergangene Tage: 127 Spanier, Julius Dr. (1958): Das israelitische Schwestern- und Krankenheim. In: Lamm, Hans: Vergangene Tage: 128

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Befehl zur Räumung aufgelöst. „Am 4. Juni 1942 ging der erste Transport unter dem Befehl und der Aufsicht der Gestapo und der SS ab. Etwa fünfzig Kranke, Schwerstkranke und Sterbende, begleitet von drei Schwestern und dem Chefarzt (siehe Band 3: Spanier, Julius), wurden auf Krankenbahren in einem Möbelwagen verladen, zum Südbahnhof transportiert und in bereitstehende Waggons übergeführt“.30 Die Deportierten kamen nach Theresienstadt, ein „Durchgangslager“ zu den Vernichtungslagern im Osten, nach Treblinka und Auschwitz. Die geräumten Gebäude in der Hermann-Schmid-Straße 5–7 gingen in den Besitz der „Lebensborn e.V.“31 über. Beide Häuser wurden 1944 durch Bomben zerstört. Dr. Julius Spanier und seine Ehefrau Zipora kehrten als Überlebende zurück. Er leitete bis 1955 als Chefarzt die Kinderklinik in der Lachnerstraße; dort erinnert eine Gedenktafel an ihn. (siehe Band 3: Spanier, Julius). Literatur Auer, Horst, Prof. Dr. Ing.: Schreiben an Helga Pfoertner vom 27.11.1997 Jäckle, Renate (1988): Schicksale jüdischer und „staatsfeindlicher“ Ärztinnen und Ärzte nach 1933 in München. Dokumentation vorgelegt zum 50. Jahrestag des Erlöschens der Approbation vom 30.9.1938. Hrsg. v. d. Liste der Demokratischen Ärztinnen und Ärzte München. München Elkin, Rivka (1992): „Das Jüdische Krankenhaus muß erhalten bleiben“. Berlin 1938–1945. Das Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Edition Hentrich, Berlin Hartung, Dagmar / Doetinchem, von / Winau, Rolf (Hrsg.) (1982): Zerstörte Fortschritte. Zur Geschichte des Jüdischen Krankenhauses zu Berlin 1756, 1861, 1814, 1989. Edition Hentrich, Berlin Picht, Barbara (1994): Dr. jur. Silber. In: Bokovoy, D. / Meining, S. (Hrsg.) (1994): Versagte Heimat. Verlag Peter Glas, München Scheffler, Detlev / Scheffler, Wolfgang (1992): Theresienstadt, eine tödliche Täuschung. Edition Hentrich, Berlin Schmid-Köster, Dorothee (1997): „Deutsche Mutter, bist Du bereit ...“ Alltag im Lebensborn. Berlin Spanier, Julius (1958): Das Israelitische Schwestern- und Krankenheim: 126–129. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen, Müller Verlag, München, Wien

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Spanier, Julius Dr. (1958): Das israelitische Schwestern- und Krankenheim. In: Lamm, Hans: Vergangene Tage: 128 Der Verein Lebensborn wurde 1935 von Heinrich Himmler gegründet, um „den Kinderreichtum der SS“ zu unterstützen und „jede Mutter guten Blutes zu schützen“ – auch in eigenen Entbindungsheimen in besetzten Ländern. Ab 1941 kamen aus den besetzten Ländern „rassisch wertvolle“ Kinder, die zwangsweise eingedeutscht wurden. Die Zentrale war in München.

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Judendeportation „... Am Güterbahnhof stand ein langer Zug unter Dampf. Unter wüsten Beschimpfungen wurden die Leute hineingetrieben ... Dann kam ein Bus mit bewaffneter SS und den Kindern (kleinen) aus der Antonienstraße. Auch sie mußten wir in den Zug unterbringen ...“ Aus einem Bericht von Erwin Weil über die erste Deportation am 20. November 1941.32

Gedenktafel für die erste Judendeportation aus München Foto: H. Engelbrecht

Heinrich Picard Johanna Picard Fotos: Stadtarchiv München

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I. Gedenktafel im Fort IX von Kowno (Litauen) M (2000) II. Gedenktafel im Neuen Rathaus Marienplatz S1–8 und U3/U6 M (2000) ANLASS UND ENTSTEHUNG Ein Manuskript sowie Bildmaterial aus dem Nachlass eines NS-Juristen und städtischen Beamten33 gaben den Anlass, die Deportation von 1000 Münchner Juden in Erinnerung zu bringen. Auf Initiative des Münchner Stadtarchivs im Herbst 1995 entstand eine Gedenktafel für die erste Judendeportation. Am 20. November 2000 fand die Einweihung der Gedenktafel im Beisein des Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude und der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch, statt. Gleichzeitig stiftete die Landeshauptstadt München für die Gedenkstätte in Kowno (Kaunas) ein Mosaik (1,8 m × 1,5 m), das die Künstlerin Beate Passow entworfen hatte. Ausgeführt wurde es von den Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Gustav van Treeck in München. Im November 2000 konnte es im Fort IX von Kowno enthüllt werden. KURZBESCHREIBUNG Im Neuen Rathaus – Aufgang aus dem südlichen Prunkhof – befindet sich an der Wand des zweiten Treppenabsatzes eine Gedenktafel (1,22 m × 1,10 m) mit 54 Fotos von deoprtierten Münchner Bürgern jüdischer Abstammung. Darüber sind die Linien des MosaikMahnmals von Kaunas gelegt, um damit einen Bezug zu diesem Ort herzustellen. Auf der darüberliegenden Glasplatte ist folgender Text angebracht: „In Trauer und Scham und entsetzt über das Schweigen der Mitwissenden gedenkt die Landeshauptstadt München der 1000 jüdischen Männer und Frauen, die am 20. November 1941 von München nach Kowno deportiert und 5 Tage später an diesem Ort brutal ermordet wurden. Darunter waren auch 94 Kinder.“

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Dokument 14. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin.“ Michael Meister war dienstlich mit der sog. „Arisierung“, dem amtlichen Diebstahl jüdischer Vermögen beauftragt. Zitiert nach Bauer, Richard (2000): Ein Meister aus München. In: Stadtarchiv München (Hrsg.): „... verzogen, unbekannt wohin“: 9

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INTENTION DER KÜNSTLERIN „Das Mosaik ist eine alte, durch den Arbeitsaufwand wertvolle dauerhafte Technik. Durch das Material des Mosaiks lässt sich die Vielfalt der verschiedenen untergegangenen jüdischen Gemeinden symbolisieren, es verweist auch auf den Brauch, durch Steine auf den Grabsteinen der Toten zu gedenken. Die farbigen Glassteine sollten in verschiedenen Grauabstufungen gelegt sein. Durch schwarze Steine werden die Sprünge markiert. Die Schrift wird auch in Mosaik gelegt und ist damit gut lesbar“, so charakterisierte Beate Passow34 ihr Mahnmal in Kowno, über das Mahnmal in München schreibt sie: „Die Glasscheibe zeigt ein Foto der Gedenktafel in Kowno sowie Porträts jüdischer Bürger aus München, die deportiert wurden. So ist das Verbrechen, das in Kowno geschah, in angemessener Weise auch in München präsent.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Den Deportationen der jüdischen Mitbürger war eine Reihe antisemitischer Maßnahmen vorausgegangen. Anfangs waren es „Einzelaktionen“ gegen jüdische Bürger am 5. März 1933, danach folgte der Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland am 1. April desselben Jahres. Zusammen mit den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 und dem staatlich organisierten Pogrom am 9. November 1938 zielten weitere Verordnungen und „Aktionen“ auf die Deportation, den Raub von Hab und Gut der Juden und später auf deren Ermordung und „Vernichtung durch Arbeit“ hin. Sie mußten seit September 1941 den so genannten „Judenstern“ tragen. Dann wurde ihnen die Benutzung öffentlicher Telefone und später der Kauf von Zeitungen verboten. Seit November 1941 beschlagnahmten die Nationalsozialisten das Vermögen der ausgewanderten Juden. Die Enteignung ging so weit, dass man die Deportation offiziell als „Auswanderung“ bezeichnete, um so „legal“ an den jüdischen Besitz zu kommen. Auch für die Deportation wählten die NS-Ideologen den zynisch-euphemistischen Begriff „Umsiedlung“. Zur Beruhigung sagte man ihnen, dass sie zum Arbeitsdienst nach Polen umgesiedelt werden. Vor den meisten deutschen Juden lag ein langer Leidensweg, sie starben in Ghettos, in Erschießungsgräben und in den Gaskammern. Ein vom 31. Juli 1941 datiertes Schreiben des Reichsmarschalls Hermann Göring an den Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich lautete: „In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlaß vom 24. Januar 1939 übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erfor-

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Schreiben an das Städtische Baureferat München, Hochbau I, 1998

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derlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet von Europa ... Ich beauftrage sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen.“35 Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde nach dem Einmarsch der deutschen Reichsarmee mit der so genannten „Endlösung“ begonnen. Bereits ein Jahr zuvor trieb man die polnischen Juden in Ghettos zusammen und brachte sie unter dem Vorwand einer Umsiedlung zu Erschießungsstätten und in die ersten beiden Vernichtungslager Chelmno und Belzec. Ein Augenzeuge berichtet über die Erschießung der Juden in Dubno: „Als ich am 5. Oktober 1942 das Baubüro in Dubno besuchte, erzählte mir mein Polier Hubert Moennikes aus Hamburg-Harburg ..., daß in der Nähe der Baustelle in drei großen Gruben von je 30 Meter Länge und drei Meter Tiefe Juden aus Dubno erschossen worden seien. Man hätte täglich 1500 Menschen getötet. Alle vor der Aktion in Dubno noch vorhandenen etwa 5000 Juden sollten liquidiert werden ... Die von den Lastwagen abgestiegenen Menschen, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, mußten sich auf Aufforderung eines SS-Mannes, der in der Hand eine Reit- oder Hundepeitsche hielt, ausziehen und ihre Kleidung nach Schuhen, Ober- und Unterkleidern getrennt an bestimmte Stellen ablegen ... Da rief schon der SS-Mann an der Grube seinen Kameraden etwas zu. Dieser teilte ungefähr 20 Personen ab und wies sie an, hinter den Erdhügel zu gehen ... Ich ging um den Erdhügel herum und stand vor einem riesigen Grab. Dicht aneinandergepreßt lagen die Menschen so aufeinander, daß nur die Köpfe zu sehen waren ... Die vollständig nackten Menschen gingen an einer Treppe, die in die Lehmwand der Grube eingegraben war, hinab, rutschten über die Köpfe der Liegenden hinweg, bis zu der Stelle, die der SS-Mann anwies ... Dann hörte ich eine Reihe Schüsse.“36 In die auf diese Art freigewordenen Ghettos kamen die deportierten Juden aus dem „Altreich“. Ein Tagebuchbericht von Joseph Goebbels am 27. März 1942 gibt Auskunft über das mörderische Vorgehen: „... Die in den Städten des Generalgouvernements frei werdenden Ghettos werden jetzt mit den aus dem Reich abgeschobenen Juden gefüllt, und hier soll sich dann nach einer gewissen Zeit der Prozeß erneuern."37

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Zitiert in: Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern: 145 Eidesstattliche Erklärung des Bauingenieurs Hermann Friedrich Gräbe in Wiesbaden am 10. November 1945. In: Schoenberner, Gerhard (1992): Der Gelbe Stern: 120 Zitiert in: Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern: 114

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DEPORTATION DER MÜNCHNER JUDEN Am 15. Oktober 1941 begannen die Deportationen aus dem „Altreich“. 20 000 Juden aus Berlin, Köln, Frankfurt am Main, Hamburg, Düsseldorf, Wien und Prag zusammen mit 5000 Zigeunern aus dem Burgenland wurden Opfer dieser Mordaktion.38 Wie aus dem Dokument 5 des Stadtarchivs München39 hervorgeht, erhielt die Staatspolizei-Leitstelle München vom Chef der Ordnungspolizei einen Eilbrief mit dem Datum vom 24. Oktober 1941, der über die „Evakuierung von Juden aus dem Altreich und dem Protektorat“ informiert: „1. In der Zeit vom 1. November – 4. Dezember 1941 werden durch die Sicherheitspolizei aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat Böhmen und Mähren 50 000 Juden nach dem Osten in die Gegend von Riga und Minsk abgeschoben. Die Aussiedlungen erfolgen in Transportzügen der Reichsbahn zu je 1000 Personen. Die Transportzüge werden in Berlin, Hamburg, Hannover, Dortmund, Münster, Düsseldorf, Köln, Frankfurt/ M., Kassel, Stuttgart, Nürnberg, München, Wien, Breslau, Prag und Brünn zusammengestellt.“40 In München erhielt der Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde Julius Hechinger (*25.10.1895 in München, deportiert am 11.7.1942 nach Theresienstadt)41 den Befehl, 1000 Personen für die „Evakuierung“ zu benennen. Dr. Julius Spanier (siehe Band 3: Spanier, Julius) hatte die Aufgabe „festzustellen, ob die betroffenen Personen vom gesundheitlichen Standpunkt aus transportfähig waren ... Die Aufstellung solcher Listen hing auch von Gefühlsmomenten ab. Es war von der Vorstandschaft sicher nicht leicht, Menschen für die Transporte zu bestimmen. Es hat keiner von uns gewußt, wo diese hingehen, und was mit ihnen geschieht.“42 Die zur Deportation bestimmten Personen hatten ihre Wohnungen zu räumen; in diese zogen ausgewählte „Arier“ ein.43 Die Mitnahme von maximal 50 Kilogramm Gepäck war Vorschrift. Außerdem erhielten die Betroffenen eine schriftliche Anweisung, die den Raub im nachhinein dokumentierte. „Jeder Transportteilnehmer hat 50,– RM in bar mitzunehmen. Überschießende Beträge, Wertpapiere bzw. 38 39 40 41 42

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Longerich, Peter (1989): Politik der Vernichtung: 448f., 705 In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: o. S. Institut für Zeitgeschichte München. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Dokument 5 Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 22 Staatsarchiv München, Spruchkammerakt Theodor Koroncyk, Aussage von Julius Spanier während des Spruchkammerverfahrens vom 29./30.10.1947. Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 17 Aktenmaterial dazu im Stadtarchiv München, Wohnungsamt 58 und Rechtsamt 490 sowie Anschlussbericht der Arisierungsstelle des Gauleiters, Stadtarchiv München, Nachlass Meister, Dokument Nr. 22. Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 23

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Depotscheine, sonstige Bankauszüge u. dgl. sind in einem Umschlag mitzunehmen, der mit Namen und Inhaltsverzeichnis versehen ist. Außerdem ist das beiliegende Vermögensverzeichnis nach dem Stand vom 10.11.1941 in allen Teilen genau auszufüllen, zu unterschreiben und in einen besonderen, mit Namen versehenen, nicht verschlossenen Umschlag mitzubringen. Persönlichen Dokumente aller Art, Ausweispapiere, einschließlich Kennkarte und Pass, Lebensmittelkarten, sind ebenfalls mitzunehmen.“44 Wie aus einer Studie des Historikers Wolfgang Benz hervorgeht, riet die Münchner Gestapo den zur Deportation bestimmten, „möglichst viel Geld und Wertsachen mitzunehmen, die dann beim Appell in Milbertshofen konfisziert wurden.“45 Die Verzweiflung der Menschen kommt im Abschiedsbrief der Schwestern Elsa Balbier und Karoline Adler im November 1941 zum Ausdruck: „Meine liebe gute Frau Küffner! Nun ist leider das Gefürchtete eingetreten. Am 19. ds. geht unser Transport ab, unbestimmt wohin. Ist das nicht schrecklich? Heute früh ist schon Polizei aufgezogen, Sie können sich das alles nicht vorstellen.“46 Im Jüdischen Deportationslager Milbertshofen (siehe Band 2: Jüdisches Deportationslager) waren die zur Zwangsumsiedlung Bestimmten untergebracht. 80 Prozent der Jugendlichen der jüdischen Lehrwerkstatt, die zuletzt in der ehemaligen Synagoge in der Reichenbachstraße 27 untergebracht waren, gehörten zu den Opfern der ersten Münchner Deportation.477 DER WEG IN DEN TOD Am Morgen des 20. November 1941 gelangten die Deportierten nach längerem Fußmarsch von der Knorrstraße zum Bahnhof Milbertshofen. Dies belegt der 1998 vom Münchner Stadtarchiv übernommene Nachlass eines städtischen Beamten, der unter der vom Stadtarchiv veröffentlichten Bilddokumentation „...verzogen, unbekannt wohin“ (von Elisabeth Angermair) zu sehen ist. Der Augenzeuge Erwin Weil berichtete: „... Am Güterbahnhof stand ein langer Zug unter Dampf. Unter wüsten Beschimpfungen wurden die Leute hineingetrieben. Als es anfing hell zu werden, schrie man uns zu, das Gepäck rauszuwerfen, damit die Leute schneller reingepfercht werden konnten ...“48 Dieser Zug 44 45 46 47 48

In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941: Dokumente 8: o. S. Benz, Wolfgang (1990): Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat: 176. Auch in: Miesbeck, Peter (1993): Die Tagebücher der Elisabeth Block: 119 Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941: Dokument 9: o. S. Heinemann, Herbert (1995): Die jüdische Lehrwerkstatt in München 1932–1942. In: Jüdisches Leben in München. Geschichtswettbewerb der Landeshauptstadt München 1993/94: 104–107 Bericht von Erwin Weil. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941: Dokument 14: o. S.

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kam nach drei Tagen in Kowno an.49 Dann folgte ein Fußmarsch in das sechs Kilometer nordwestlich der Stadt Kowno gelegene Fort IX.50 Hier kamen die Deportierten an einem von der Reichswehr errichteten Ghetto vorbei, in dem sich auch Ganor Solly, ein Überlebender des Holocaust, befand. Ganor sah „im grauen Licht der Morgendämmerung eine endlose Kolonne Menschen den Berg hinaufgehen in Richtung Fort IX ... Bewaffnete Litauer säumten beide Seiten der Straße, so weit das Auge sehen konnte, bereit, jeden zu erschießen, der zu fliehen versuchte ... Die Kolonne war so lang, daß der Todesmarsch vom Tagesanbruch bis mittags dauerte.“51 Im Fort IX waren sie zwei Tage in Arrestzellen eingesperrt. DIE ERMORDUNG Am 25. November 1941 holte die „Einsatzgruppe 3“52 die Gefangenen in Gruppen von 80 Personen aus dem Fort und kommandierten sie in Richtung der Gräben. „Unmittelbar bei den Gräben schlugen sie auf die Opfer ein, sobald diese weglaufen wollten. Die meisten Opfer wurden erschossen, nachdem sie in die Gräben gefallen waren. Die Schüsse wurden mit Maschinengewehren abgefeuert, die auf dem bewaldeten Hügel bei den Gräben postiert waren. Diejenigen die nicht rannten oder in die andere Richtung rannten, wurden an Ort und Stelle von denjenigen Litauern und Deutschen erschossen, die sie vorher in Gruppen zusammengestellt hatten.“53 Ein weiterer Augenzeuge der Massenmorde in Osteuropa war der Bauingenieur Hermann Friedrich Gräbe54, der in der ukrainischen Stadt Dubno das Geschehen sah und später berichtete: „Eine achtköpfige Familie stand beisammen: Eine alte Frau hielt das Kleinkind und versuchte es zum Lachen zu bringen, der Vater tröstete einen weinenden Zehnjährigen, zeigte mit dem Finger zum Himmel und streichelte ihm über den Kopf und schien ihm etwas zu erklären.“55 Die Erschießungskommandos ließen die Nackten in die Grube hin49 50 51 52

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Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941: 18 Es gehörte zu einer im 19. Jahrhundert von Zar Nikolaus I. errichteten Festungsanlage. Ganor, Solly (1997): Das andere Leben. Kindheit im Holocaust: 107–108 „Im Polenfeldzug waren dies mobile, den fünf Armeen der Provinz Posen zugeordnete Einheiten der Sicherheitspolizei mit der Aufgabe, im jeweiligen Operationsgebiet hinter der Front einen Vernichtungskrieg gegen die polnische Oberschicht und die Juden zu führen.“ In: Schmitz-Berning, Cornelia (1998): Vokabular des Nationalsozialismus: 172 Bericht des Augenzeugen Kulish, zitiert in Porat: 382. Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): ... verzogen, unbekannt wohin: 19 Gräbe rettete Hunderten Juden in der Ukraine das Leben. Dafür wurde er in Jad Vaschem mit dem Pflanzen eines Namensbaumes an der „Allee der Gerechten“, 1965 geehrt. Hermann Friedrich Gräbe, zitiert in: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: Einer gegen die SS; von Christian Habbe: 132

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absteigen. „Sie legten sich vor die toten oder angeschossenen Menschen, einige streichelten die noch Lebenden und sprachen leise auf sie ein.“56 Gräbe sah, wie der SS-Mann schoss, „wie die Körper zuckten oder die Köpfe schon still auf den vor ihnen liegenden Körpern lagen.“57 Von München aus gingen insgesamt 44 Deportationszüge mit insgesamt 3666 Opfern. Sie gelangten nach Kowno, Piaski, Theresienstadt und Auschwitz.58 Lediglich für zwei Transporte (vom 20. November 1941 nach Kaunas und vom 4. April 1942 nach Piaski) existieren Deportationslisten; sie befinden sich im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München.59 Der englische Historiker Professor Peter Longerich vertritt die Ansicht, dass die Nazis bereits mit dem Kriegsbeginn „konzeptionell von der Verfolgung zur physischen Vernichtung übergingen. Je weiter sie den Krieg ausdehnten, desto mehr radikalisierten sie ihre ,Judenpolitik´. Für sie bildeten Krieg und Genozid eine Einheit ... Tatsächlich bestand der Holocaust aus einer nahezu ganz Europa umfassenden, über Jahre anhaltenden Serie von Massakern, von unvorstellbaren Grausamkeiten und Leid, verübt von Hunderttausenden – teilweise hoch motivierten – Tätern und Helfern und beobachtet von einer noch weitaus größeren Anzahl Augenzeugen.“60 Einzelne Schicksale Adler, Karoline *15.5.1902 München †25.11.1941 Kowno „Karoline Adler arbeitete in den 20er und 30er Jahren als Bürokraft und Privatsekretärin. Wegen der „Arisierung“ ihrer Wohnung musste sie 1940 von der Unertlstraße 4 in eine „Judenwohnung“ in der Giselastraße 6 umziehen. Im September veranlasste die Arisierungsstelle des Gauleiters ihren Umzug in das Barackenlager an der Knorrstraße 148. Im November 1941 wurde sie für den Transport nach Kaunas eingeteilt (Stadtarchiv München).“61

56 57 58 59 60 61

Hermann Friedrich Gräbe, zitiert in: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: 132 Hermann Friedrich Gräbe, zitiert in: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: 132 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1979): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945: 60 Dokumente im Institut für Zeitgeschichte (FA 208, FA 209). Auch in Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin: 14 Longerich, Peter (2001): Der ungeschriebene Befehl. In: Der Spiegel Nr. 33 v. 13.8.2001: 138 Dokument 10. Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin.“ Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941.

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Balbier, Elsa *21.2.1899 München †25.11.1941 Kowno „Elsa Balbier (geb. Adler), von Beruf Kindergärtnerin, lebte seit 1935 mit ihrer Schwester Karoline Adler in einem gemeinsamen Haushalt, zuerst in der Unertlstraße 4, seit März 1940 in einer „Judenwohnung“ in der Giselastraße 6. Zusammen mit Karoline Adler musste sie diese Wohnung aufgeben und in den „Judensiedlung Milbertshofen“ umziehen. Auch Elsa Balbier wurde für den Transport nach Kaunas am 20. November 1941 eingeteilt (Stadtarchiv München).“62 Blechner, Mina *5.10.1888 Nybelz (Polen) †25.11.1941 Kowno Die aus Osteuropa stammende jüdische Familie Blechner siedelte sich zwischen 1910 und 1914 in der Münchner Isarvorstadt, Klenzestraße 62, später 65, an.63 Mina Blechners Ehemann Mordechai – er nannte sich später Markus – war Inhaber der „Firma Blechner & Co., Großhandel mit Schuhwaren“, der laut Verordnung vom 1. Januar 1939 gezwungen war, seine Firma abzumelden; dies geschah am 21. Januar.64 Die Familie erhielt mit Hilfe Verwandter Ausreisepapiere in die Schweiz. Ihre begonnene Ausreise im August 1939 endete jedoch an der Schweizer Grenze, wo sie zurückgewiesen wurden.65 Zurück in München, floh der Sohn Salo Blechner nach Berlin; der Vater Markus Blechner kam in das KZ Buchenwald, wo er am 14. November 1939 starb.66 Für die allein in München lebende Mutter Mina Blechner begann ein langer Leidensweg, der nach der Einweisung in das „Jüdische Deportationslager“ in Milbertshofen (siehe Band 2: Jüdisches Deportationslager) mit ihrer Ermordnung in Kowno endete.67 Familie Koppel (nach Zeugnissen des überlebenden Sohnes Alfred (Al) Koppel, der heute in Fort Collin (USA) lebt.68) 62 63 64

65 66 67 68

Dokument 11. Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941. Seidel, Doris (2001): Zeitweilige Heimat – Die Blechners in München 1910 bis 1939. In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder: 27 Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001): „Mein einziger Wunsch ist mit lb Salo zusammen und mit alle meine lb Kinder!“ – Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Mina Blechner. In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder: 53 Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001) In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): 56 Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001) In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): 61 Institut für Zeitgeschichte München, Archiv, Fa 208, Kopie der Liste vom 15.11.1941. In: Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001) In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): 75 Koppel, Al (2000): Zuerst an der Reihe. Das Schicksal meiner Familie. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 37–43

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Die Familie Koppel war seit über 250 Jahren in Hamburg ansässig. Im Jahre 1931 zog die Familie „nach München, der Heimatstadt meiner Mutter, wo mein Vater den Lebensunterhalt als Importkaufmann für Lebensmittel verdiente.“ Nach dem Judenpogrom verbrachte der Vater „etwa sechs Wochen im KZ Dachau.“ Vergeblich versuchte die Familie, Ausreisevisa zu bekommen. „Dann wurde mein Vater ein Jahr später in das berüchtigte Gefängnis Stadelheim geworfen, wo er einige Wochen lang schmachtete ... Nach seiner Freilassung war er gezwungen, Deutschland in kürzester Zeit zu verlassen.“ Seine Angehörigen, die Mutter mit sechs Kindern, mussten in Deutschland zurückbleiben. Für zwei Söhne (Walter und Al Koppel), die inzwischen in Berlin bei Verwandten lebten, konnten Visa besorgt werden. Sie gelangten im Juli 1941 zu ihrem Vater nach New York. Zurück in München blieben: die Mutter Karola Koppel, 38 Jahre, mit den Kindern Günther, 17 Jahre, Hans, 5 Jahre, Ruth Koppel, 4 Jahre und Judis Koppel, 2 Jahre.69 Am 20. November 1941 kamen sie vom „Jüdischen Deportationslager“ in Milbertshofen mit dem Zug nach Kowno, wo sie am 25. November 1941 im Fort IX ermordet wurden. Dr. Paul Wassermann *3.3.1887 München †25.11.1941 Kowno Der in München geborene Sohn von Franz und Amalie Wassermann (geb. Fechheimer) besuchte das Luitpold Gymnasium in München; hier studierte er Chemie und promovierte 1910 in diesem Fach. Wassermann trat 1920 in den Freiwilligenkorps von Franz Ritter von Epp ein. Er war Vorsitzender der akademischen Unterrichtskurse für Arbeiter und zweiter Vorsitzender des Heimat- und Königbundes. Der unverheiratete Wassermann wohnte zuletzt bei seiner Schwester Ida und seinem Schwager in Schwabing. Er stand am 20. November 1941 auf der Deportationsliste nach Kowno und wurde dort fünf Tage später ermordet.70 Ausstellungen 1994: Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914–1945. Gezeigt in der Bibliothek des Deutschen Museums, München. 25. Februar – 6. April 1997: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941– 1944. Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Gezeigt in der Galerie des Neuen Rathauses, München.

69 70

Foto von Karola Koppel und ihren vier Kindern. Koppel, Al (2000): Zuerst an der Reihe. Das Schicksal meiner Familie. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: 40–41 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 273

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8. Februar – 26. Februar 1999: Und immer noch sehe ich ihre Gesichter ... Fotografien jüdischer Lebenswelten von Polen vor der Schoa. Konzipiert von der Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e. V., in Zusammenarbeit mit der Shalom Foundation Warschau und dem Jüdischen Museum der Stadt Frankfurt a. M.; mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus und der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Rathaus von München. 8. September – 5. Oktober 1999: Das kurze Leben einer Jüdin Felice Schragenheim. Eine Ausstellung zur Deutschen Geschichte.“ Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Foyer zum Carl-Orff-Saal im Gasteig, München. 13. März – 30. April 2000: „Schicksal (un)bekannt. Idee und Realisation von Wolfram Kastner. Gezeigt in der Münchner Evangelisch-Lutherischen Christuskirche und in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Gefördert durch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und das Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Stiftung Erinnerung. 23. November 2000 – Februar 2001: ... verzogen, unbekannt wohin. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941. Konzipiert vom Stadtarchiv München. Gezeigt im Neuen Rathaus von München. 19. Juli 2001 – 24. Januar 2002: Ich lebe! Das ist ein Wunder. Eine Ausstellung des Stadtarchivs München und der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur des historischen Seminars, Ludwig-Maximilians-Universität München. Gezeigt im Jüdischen Museum München, Reichenbachstraße 27 / Rückgebäude. 8. Oktober - 24. November 2002: Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges. Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Gezeigt im Stadtmuseum von München. Literatur Adler, Hans Günther (1955): Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen Adler, Hans Günther (1958): Die verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente. Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen Adler, Hans Günther (1974): Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland. Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen Arendt, Hannah (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a. M. Barkai, Avraham (1988): Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich. Fischer TB, Frankfurt a. M. Behrend, Rosenfeld / Luckner, Gertrud (Hrsg.) (1970): Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem Distrikt Lublin 1940–1943. München

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Benz, Wolfgang (Hrsg.) (1989): Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. C. H. Beck Verlag, München Benz, Wolfgang (1988): Deportation und Ermordung. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Hrsg. v. Manfred Treml und Josef Kirmeier. Kastner & Callwey, München: 498 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914–1945. Eine Veröffentlichung der Forschungsstelle deutsch-jüdischer Zeitgeschichte e. V., Verlag Dr. Peter Glas, München Bracher, Karl Dietrich (1969): Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur und Folgen des Nationalsozialismus. Ullstein Tb, Köln Breitmann, Richard (1996): Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden. Browning, Christopher (2001): Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Ganor, Solly (1997): Das andere Leben. Kindheit im Holocaust. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Habbe, Christian (2001): Einer gegen die SS. In: Der Spiegel Nr. 30 v. 23.7.2001: 132–134 Hanke, Peter (1967): Zur Geschichte der Juden in München zwischen 1933 und 1945: 337f Haus der Wannsee-Konferenz. Dauerausstellung, Katalogbroschüre o.J., Druckhaus Hentrich, Berlin Heusler, Andreas (2000): Fahrt in den Tod. Der Mord an den Münchner Juden in Kaunas (Litauen) am 25. November 1941. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“: 13–14 Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder. Schicksal einer Münchner Familie während des Holocaust. Eine Veröffentlichung d. Stadtarchivs München. Buchendorfer Verlag, München Hiob, Hanne / Koller, Gerd (Hrsg.) (1998): „Wir verreisen ...“ in die Vernichtung. Aufbau Taschen Verlag, Berlin Hockerts, Hans Günter (1993): Enteignung und „Entmietung“ Münchner Wohnraums. In: „München – Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 409– 410 Hoffmann, Alexa-Romana / Hoffmann, Diana-Patricia (2001): „Mein einziger Wunsch ist mit den lb Salo zusammen und mit alle meine lb Kinder!“ – Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Mina Blechner. In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist eine Wunder: 48–83 Holzmann, Helene (2000): „Dies Kind soll leben“. Die Aufzeichnungen der Helene Holzmann 1941–1944. Schoeffling & Co., Frankfurt a. M. Kaiser, Reinhard / Holzmann, Margarete (Hrsg.) (2000): „Dies Kind soll leben“. Aufzeichnungen der Helene Holzmann 1941–1944. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1993/ 94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Kaplan, Marion (2000): Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Aufbau Verlag, Berlin Koppel, Al (2000): Zuerst an der Reihe. Das Schicksal meiner Familie. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“: 37–43 Leuner, Heinz David (1997): Gerettet vor dem Holocaust. Menschen die halfen. Herbig Verlag, München Longerich, Peter (1998): Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Piper Verlag, München, Zürich Longerich, Peter (2001): Der ungeschriebene Befehl. In: Der Spiegel Nr. 33 v. 13.8.2001: 132–138 Matthäus, Jürgen (1996): Jenseits der Grenze. Die ersten Massenerschießungen von Juden in Litauen (JuniAugust 1941). In: Zeitschrift f. Geschichtswissenschaft 44: 101–126 Matthäus, Jürgen (1999): Das Ghetto in Kaunas und die „Endlösung“ in Litauen. In: Benz, W. /Meiss, M. (Hrsg.): Judenmord in Litauen. Studien u. Dokumente. Berlin Neumann, Franz (1984): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1945. Fischer Tb, Frankfurt a. M.

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Rürup, Reinhard (1975): Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft. Fischer Tb, Frankfurt a. M. Scheffler, Wolfgang (1992): Abgewandert nach Osten. Die Bevölkerungsstatistik der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland 1941–1945. Eine Dokumentation. Edition Hentrich, Berlin Schmitz-Berning, Cornelia (1998): Vokabular des Nationalsozialismus. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York Schneider, Peter (2000): „Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen ...“. Wie ein jüdischer Musiker die NaziJahre überlebte. Schoenberner, Gerhard (1988): Zeugen sagen aus. Berichte über die Judenverfolgung im Dritten Reich. Berlin (DDR) Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945. Fischer Tb, Frankfurt a. M. Seidel, Doris (2001): Zeitweilige Heimat – Die Blechners in München 1910 bis 1939. In: Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): Ich lebe! Das ist ein Wunder: 25–47 Selig, Wolfram (1994): Judenverfolgung in München 1933 bis 1944. In: „München – Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 402–406 Sommer-Lefkovits, Elisabeth (1998): Ihr seid auch hier in dieser Hölle? Lebensbericht 1944–1945. Pendo Verlag, Zürich, München Spiegel, Paul (2001): Wieder zu Hause? Erinnerungen. Ullstein Verlag, Berlin Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941. Pendo Verlag, Zürich, München Wiesemann, Falk (1975): Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/33. Berlin

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Judenpogrom von 1938 „Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass.“ Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag am 8. Mai 1985.71

Gedenktafel im Alten Rathaus Foto: H. Pfoertner

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In: Bulletin der Bundesregierung Nr. 52 vom 9.5.1985: 441. Auch in: Information zur politischen Bildung, Nr. 270, 1. Quartal 2001: 41

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Gedenktafel Altes Rathaus, Altstadt Marienplatz U3/U6 und S1-S8 M (2000) ANLASS UND ENTSTEHUNG Dr. Hans-Jochen Vogel, Altoberbürgermeister von München und Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen und für Demokratie“, initiierte am 4. April 2000 eine Gedenktafel, die in München im Alten Rathaus an Planung und Durchführung der antisemitischen Ausschreitungen und Verbrechen erinnern sollte. Sie wurde vom Münchner Oberbürgermeister Christian Ude im Beisein der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch am 23. November 2000 enthüllt. KURZBESCHREIBUNG Im Foyer, am Beginn des Treppenaufgangs zum Rathaussaal im Alten Münchner Rathaus, befindet sich die Gedenktafel (Maße 1,23 m × 1,03 m) mit folgendem Text: „Dieser Tanzsaal des Alten Rathauses war jahrhundertelang Schauplatz bürgerlicher und stadtherrlicher Zusammenkünfte und Feste. Das nationalsozialistische Regime missbrauchte diesen Ort für die Planung antisemitischer Verbrechen. Im Verlauf einer Parteifeier am Abend des 9. November 1939 wurden die seit Tagen in vielen Städten des Reiches angezettelten antijüdischen Ausschreitungen hier zu einem deutschlandweiten Pogrom ausgeweitet. Als ,Reichskristallnacht´ war dieses Pogrom Vorstufe der Vernichtung des europäischen Judentums.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Toni Preis. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG An der Stelle des ehemaligen Talburgtores errichtete der Architekt, Steinmetz und Baumeister Jörg von Halspach, der auch die Frauenkirche erbaute, zwischen 1470 und 1480 das Alte Rathaus, das ursprünglich Tanzhaus hieß. Es diente den Zusammenkünften der Ratsherren ebenso wie den Adeligen, Patriziern und Bürgern der Stadt. In dem großen Saal befanden sich seit 1480 die berühmten, von Erasmus Grasser geschaffenen Moriskentänzer, die heute im „Moriskensaal“ des Münchner Stadtmuseums zu sehen sind. Der Historiker und Stadtarchivleiter Dr. Michael Schattenhofer hat in seinem Werk Das Alte

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Rathaus in München eine Auswahl von Veranstaltungen verzeichnet, die im großen Saal des Alten Rathauses zwischen 1819 bis 1932 stattgefunden haben72; so z. B.: Am 11. Oktober 1829 „Erste Verteilung der Dienstbotenmedaillen“; 12. August 1860 „Festbankett anläßlich der Eröffnung der Bahnlinie Wien- Salzburg-München“; 14. Oktober 1862 „Abendfest zu Ehren des 2. Deutschen Handelstages, zu dem sich an die 400 Vertreter des deutschen Handelsstandes eingefunden hatten“; 2. August 1872 „Festbankett zur 400Jahr-Feier der Universität“; 22. Februar 1907 „Vortrag des Baurats Hans Grässel über Grabdenkmäler anläßlich der Eröffnung des Waldfriedhofs“; 11. November 1906 „Festmahl anlässlich der Grundsteinlegung zum Deutschen Museum am 13. November in Gegenwart Kaiser Wilhelm II. und der Kaiserin Augusta Victoria“; 9. September 1907 „Eröffnung des 16. Internationalen Friedenskongresses von Bertha Suttner“; 26. Oktober 1909 „3. Generalversammlung des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht. Dr. Anita Augspurg wird mit 60 von 77 Stimmen zur 1. Vorsitzenden gewählt“; 11. November 1932 „Geburtstagsfeier für Gerhart Hauptmann (70. Geburtstag) mit Darbietungen von Karl Valentin, Liesl Karlstadt und Käte Tellheim.“ Aufruf zum reichsweiten Pogrom gegen Juden In Deutschland gab es noch bis ins 19 Jahrhundert mehrere Pogromwellen: 1819, 1830, 1848 und 1872–1875. Der Ort, von dem 1938 der große reichsweite Pogrom ausging, war der Festsaal des Alten Rathauses in München. Hier traf sich am 9. November 1938 die Führerschaft der NSDAP zu einem „geselligen Beisammensein“. Danach war die Teilnahme an der Vereidigung der SS an der Feldherrnhalle vorgesehen.73 Der Vorwand für das geplante Pogrom war der Tod des deutschen Legationssekretärs Ernst von Rath in Paris. Er war zwei Tage zuvor von dem 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynspan bei einem Attentat verwundet worden. Grynspan protestierte damit, als er erfuhr, dass man seine Eltern und Geschwister zusammen mit 1700 anderen „polnischen“ Juden in Deutschland am 27. und 28. Oktober verhaftet und nach Polen deportiert hatte. Im Oktober 1938 hatten die NS-Organe wie Gestapo und SS alle „jüdischen Gewerbebetriebe“ reichsweit aufgelistet. Ebenso war die Zerstörung und Verwüstung der jüdischen Gotteshäuser und Einrichtungen geplant und vorbereitet. In der Nacht vom 9. zum 10. November sind in München circa 1000 jüdische Männer in Haft genommen oder verschleppt worden, die meisten kamen als so genannte „Aktionshäftlinge“ in das KZ Dachau. Von der Zerstörung der „jüdischen Gewerbebetriebe“ waren in München 42 jüdische Geschäfte betroffen.74 Es kam zur Zerstörung der Schaufenster, zu Plünderungen, Verwüstung 72 73

Schattenhofer, Michael (1972): Das alte Rathaus in München: 377–388 StadtA Mü BuR 458/3

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von Einrichtungen und Ausraubung der Geschäfte. Zur gleichen Zeit legten SA-Leute in Zivil Feuer in Münchner Synagogen, nachdem sie gewaltsam eingedrungen waren. Sie verwüsteten die Einrichtung und die Devotionalien der jüdischen Gotteshäuser (Siehe Band 3: Synagogen). Betroffen waren hauptsächlich die Synagogen in der Reichenbachstraße und in der Herzog-Rudolf-Straße, die durch den Brand völlig zerstört wurden und abgerissen werden mussten. Über die Zerstörung der Geschäftsstelle der Israelitischen Kultusgemeinde in der Lindwurmstraße berichtete der damalige Präsident Alfred Neumeyer: „Unser Verwaltungsgebäude an der Lindwurmstraße wurde in jener Nacht vollkommen verwüstet. Es wurden Schreibmaschinen, Geld und das ganze Gestühl verschleppt, und die überaus wertvolle Bibliothek weggenommen. Einige untergeordnete SS-Organe nahmen mit mir an Ort und Stelle unter höhnischen Bemerkungen ein Protokoll auf und stellen in Abrede, mitgewirkt zu haben oder die Täter zu kennen. Tatsächlich war die Zerstörung von der einschlägigen Ortsgruppe der SA durchgeführt. Ich mußte das Protokoll schriftlich anerkennen und auf jede Entschädigung gegenüber der Gestapo verzichten ... Wir hörten, daß das Anwesen bereits einem gewerblichen Unternehmen überlassen war.“75 Die so genannte „Reichskristallnacht“ war ein staatlich sanktioniertes Programm und bildete bis zu diesem Zeitpunkt einen Höhepunkt der Gewaltmaßnahmen gegen Juden. Judenverfolgungen von HJ-Führern Der Münchner Historiker Dr. Andreas Heusler stieß beim Studium einschlägiger Akten des Instituts für Zeitgeschichte der Außenstelle Berlin auf eine Besonderheit des Münchner Pogroms: Die „Sühnegeldaktion“. Die Idee hatte einer der ranghöchsten HJ-Führer, der nach der Veranstaltung im Alten Rathaussaal zur Tat schritt: Man zwang vermögende Juden, „Sühnegeld“ zu zahlen.76 Bei diesem erpresserischen Raubzug wurden insgesamt 127 800 Reichsmark erbeutet.77 Ausstellungen 28. Oktober – 19. November 1988: Dachau ist somit judenfrei ... Vor 60 Jahren „Reichskristallnacht“. 10. November 1938. Gezeigt im Foyer des Dachauer Rathauses. 25. Oktober 1988 – 22. Januar 1989: Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte 74 75 76 77

BayHStA Reichsstatthalter 823 vom 10.11.1938. Weger, Tobias (1998): In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 52 Neumeyer 1941–1944, Blatt 214ff. Weger, T. (1998): In: „Kristallnacht“: 75 Heusler, A. (1998): In: „Kristallnacht“: 95 ff Heusler, A. (1998): In: „Kristallnacht“: 107

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und Kultur der Juden in Bayern. Gezeigt im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Konzipiert vom Haus der Bayerischen Geschichte. September – November 1998: Kristallnacht. Gewalt gegen Münchner Juden im November 1938. Gezeigt im Alten Münchner Rathaus. Konzipiert vom Stadtarchiv München. 8. November – 15. November 1998: Zum Gedenken an den 9. November 1938. Die „Reichskristallnacht“ in München. Veranstaltungsreihe der Landeshauptstadt München unter Mitarbeit von Vereinen, Instituten und Organisationen. 8. Juni – 6. Juli 1999: Deutsche Jüdische Soldaten. Von der Epoche der Emanzipation bis zum Zeitalter der Weltkriege. Konzipiert vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam, in Zusammenarbeit mit dem Moses Mendelsohn Zentrum Potsdam und dem Centrum Judaicum, Berlin. Gezeigt im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Schönfeldstraße 5. 18. Oktober – 30. November 2000: Vom Mittelalter in die Neuzeit. Jüdische Städtebilder (Frankfurt, Prag und Amsterdam). Die Geschichte der Wissenschaft des Judentums. Konzipiert von der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg. Gezeigt im Bayer. Hauptstaatsarchiv München, Schönfeldstraße 5. Literatur Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (Hrsg.) (1994): Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914–1945. Verlag Dr. Peter Glas, München Friedländer, Saul (1998): Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. C. H. Beck Verlag, München Gidal, Nachum T. (1997): Die Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln Graml, Hermann (1988): Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich. dtv 4519, München Graml, Hermann (1993): Rassismus und Lebensraum. Völkermord im Zweiten Weltkrieg. In: Bracher, Karl Dietrich et al. (Hrsg.): Deutschland 1933–1945: 440–451 Haus der Bayerischen Geschichte (Hrsg.) (1988): Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Katalog zur Ausstellung vom Germanischen Nationalmuseum und vom Haus der Bayerischen Geschichte. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938. Eine Veröffentlichung des Stadtarchivs München. Buchendorfer Verlag, München Hilberg, Raul (1991): Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bände. Fischer Tb Verlag, Frankfurt a. M. Kaul, Friedrich Karl (1956): Der Fall des Herschel Grynspan. Berlin Kraft, Friedrich (Hrsg.) (1988): Kristallnacht in Bayern. Judenpogrom am 9.11.1938. Eine Dokumentation. München Krauss, Marita (1997): Familiengeschichte als Zeitgeschichte. Die jüdischen Familien Bernheimer, Feuchtwanger und Rosenfeld im Nationalsozialismus und Nachkriegszeit. In: Archiv für Familiengeschichtsforschung Band Nr. 9, 1997: 162–176

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„München – Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Ausstellungskatalog. Klinkhardt & Biermann, München Neumeyer, Alfred: Erinnerungen. Avigdor 1941–1944 (masch. Manuskript, in: Kopie im StadtA Mü) Ophir, Z. Baruch / Wiesemann, Falk (1997): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 462–489 Pätzold, Kurt / Runge, Irene (1988): Pogromnacht 1939. Berlin (Ost) Pehle, Walter H. (1988): Der Judenpogrom 1939. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord. Frankfurt a. M. Schattenhofer, Michael (1972): Das Alte Rathaus in München. Seine bauliche Entwicklung und seine stadtgeschichtliche Bedeutung. Süddeutscher Verlag, München Spiegel, Paul (2001): Wieder zu Hause? Erinnerungen. Ullstein Verlag, Berlin Strasser, Marguerite (1987): Ein jüdisches Mädchen erlebt die NS-Herrschaft in München. In: Verdunkeltes München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1985/86. Buchendorfer Verlag, München: 14–2

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Jüdisches Deportationslager Milbertshofen „... Somit nehme ich von Ihnen Abschied. An ein Wiedersehen glaube ich offengestanden nicht mehr ...“ Aus dem Abschiedsbrief des Rechtsanwalts und Schriftstellers Fritz Schnell vom 10. Juli 1942.78

Mahnmal für das Jüdische Deportationslager Foto: A. Olsen

Beim Aufbau des Jüdischen Deportationslagers in Milbertshofen Foto: Stadtarchiv München

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Brief aus dem Barackenlager an der Knorrstraße. Stadtarchiv München. Der 1872 in Augsburg geborene Rechtsanwalt und Schriftsteller Fritz Schnell wurde am 23. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 1. Februar 1943 starb. Zitiert nach Dokument 6. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941.

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Jüdisches Deportationslager Milbertshofen Knorrstraße148/Ecke Troppauerstraße, Milbertshofen Am Hart U2 M (1982) ANLASS UND ENTSTEHUNG Anlässlich einer Bürgerversammlung des Bezirksausschusses 27 (BA 27, heute BA 11) im Stadtbezirk Milbertshofen-Hart am 30. Oktober 1980, stellte Herr Otto Schmidl den Antrag, zur Erinnerung an das ehemalige Barackenlager für jüdische Bürger eine Gedenktafel zu schaffen. Das Gelände des früheren Lagergrundstückes wurde überwiegend in ein Gewerbegebiet umgewandelt; mit Ausnahme eines 14 Meter breiten, in städtischem Eigentum befindlichen Geländestreifens, der sich für die Aufstellung eines Denkmals eignete. Dieses wurde am 15. November 1982 vom Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter im Beisein des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Dr. Hans Lamm und des bayerischen Justizministers Dr. Engelhard eingeweiht. KURZBESCHREIBUNG Am Ort des ehemaligen Barackenlagers, des so genannten „Judenlagers Milbertshofen“, befindet sich eine Bronzeplastik, deren Form an einen abgestorbenen Baum erinnert. Er weist symbolisch auf das Leben der hier zwangsweise festgehaltenen Menschen hin, das zerstört und vernichtet wurde. Die etwa drei Meter hohe, in gepflastertem Boden eingelassene Plastik, ist von Rasen umsäumt. Der Stamm der Plastik trägt folgende Inschrift: „Für viele Jüdische Mitbürger begann in den Jahren 1941/43 der Leidensweg in die Vernichtungslager mit ihrer Einweisung in das Münchner Sammellager hier an der Knorrstraße 148.“ Wegen U-Bahn-Bauarbeiten war das Mahnmal ab 1988 vorübergehend auf dem Neuen Israelitischen Friedhof untergebracht. Anlässlich der Einweihung des U-Bahnhofes „Am Hart“ wurde am 20. November 1993 im Untergrundbereich, Aufgang zur Troppauerstraße, ein Hinweisschild „Denkmal jüdisches Deportationslager 1941/43 Milbertshofen“ angebracht. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Das Mahnmal wurde von Professor Robert Lippl gestaltet.

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GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Ab Mai 1939 waren sämtliche jüdischen Männer im Alter bis 55 Jahren und Frauen bis zu 50 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet. Der Tageslohn betrug 0,50 Reichsmark. Seit dem 17. März 1941 mussten unter einem streng bewachten Baukommando jüdische Zwangsarbeiter auf einem 14 500 m² großen Grundstück südlich der Troppauerstraße – Ecke Knorrstraße in Milbertshofen ein Barackenlager aufbauen. Die Baracken standen zuvor in Oberach am Tegernseee und an der Fahrstraße am Wallberg; dort dienten sie seit 1935 der SA als Unterkunft.79 Zur Zwangsarbeit verpflichtete Juden mussten sie dort abbrechen und in Milbertshofen wieder aufbauen. Sie hatten in einer Erklärung zu bestätigen, dass sie diese Arbeit zum eigenen Nutzen, freiwillig und unter Verzicht auf Entlohnung ausführten. Das von einem Stacheldrahtzaun umgebene Ghetto mit der offiziellen Bezeichnung „Judensiedlung Milbertshofen“ war mit 18 Baracken für 1100 Personen geplant. Die folgenden Zwangsmaßnahmen bezeichneten die Behörden als „Evakuierung“. Bereits am 11. Oktober 1941 waren in diesem Ghetto 412 Männer und 38 Frauen untergebracht.80 Die zur Zwangsarbeit verpflichteten Lagerinsassen mussten die im ganzen Stadtgebiet verstreuten Arbeitsstellen zu Fuß erreichen – das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln war ihnen bereits verboten – das bedeutete zusätzliche Strapazen zur offiziellen Arbeitszeit von 7.30 Uhr bis 17 Uhr. Durch die Zwangsumsiedlung der Münchener Juden wurden etwa 300 Wohnungen frei, die man im Wohnungsamt vorrangig an verdiente Parteigenossen vergab. Über die Behandlung der Gefangenen im Lager berichtet der damals zehnjährige Ernst Grube: So kam nachts die Gestapo, um Julius Hechinger, der bei der Zusammenstellung der Transporte behilflich war „mit dem Wasserschlauch durchs Lager zu treiben ... Ein anderes Mal mußte er mit bloßen Händen die Latrine reinigen ... Manchmal trieben die Gestapo ihn und andere Juden durch das Lager, bis alle vor Erschöpfung zusammenbrachen.“81

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Dokument der „Arisierungsstelle“: Tätigkeits- und Abschlußbericht zum 30. Juni 1943. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“: Dokument 22 Ophir, B. / Wiesemann, F. (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München 1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 483 Grube, Ernst (1993): „Den Stern, den tragt Ihr nicht!“ In: Dachauer Hefte 9/1993. Die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen: 7

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Einzelne Schicksale Carry Brachvogel *16.6.1862 München †20.11.1942 Theresienstadt Die Literatin Carry Brachvogel war Mitbegründerin des Schriftstellerinnenvereins in München und bis 1933 dessen Vorsitzende. Sie lebte fast drei Jahrzehnte in der Herzogstraße 55/I und wurde zusammen mit ihrem Bruder, dem entlassenen Universitätsprofessor Siegmund Hellmann, nach Milbertshofen deportiert.82 Die Münchner Autorin Gerty Spies kam am gleichen Tag, dem 22. Juli 1942, von diesem Lager aus „mit unbekanntem Ziel“, wie es im Amtsdeutsch hieß, nach Theresienstadt83. Sie schrieb darüber: „Vom Lager Milbertshofen aus, wo man uns eine Nacht festgehalten und unser Gepäck um die Hälfte des Gewichts erleichtert hatte, fuhr uns ein geschlossenener Möbelwagen zur Bahn ... Anderntags kamen wir in Bauschowitz (Tschechoslowakei) an. Es rieselte vom Himmel und im Schlamm, unterm Regen lagen Alte und Kranke noch vom Transport, der vor uns gekommen war – und warteten, daß man sie holte. Wir gingen zu Fuß nach Theresienstadt ... (sechs Kilometer; d. Verf.) Nachdem man unser Handgepäck ausgeraubt hatte, wurden wir durch den Ort geführt. Unbegreiflich! Wo war das Altersheim und das Wohnheim, von dem man uns versprochen hatte? Wo waren die sauberen Häuser, wo jeder sein eigenes wohl eingerichtetes Zimmer haben sollte?... Man brachte uns ins Quartier. Aber hier konnte man doch nicht leben! Es war ein Schuppen in einem Hinterhof. Im Hof kochte ein übelriechender Komposthaufen in der glühenden Mittagssonne. Im Schuppen war nichts. Kein Möbelstück, kein Ofen, kein Herd – nur der Fußboden, das Dach und die Fetzen, die von den Wänden hingen. Hier begann unser Dasein im Lager.“84 Die Verhältnisse in diesem Lager führten rasch zum Tod der 78-jährigen Carry Brachvogel: Sie starb drei Monate später, am 20. November 1942.85

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Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1864–1942), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe: 215 Ghetto und KZ, das in einer Festungsanlage aus dem 18. Jahrhundert untergebracht war. Es existierte vom November 1941 bis zur Befreiung am 8. Mai 1945. Zuerst war es ein Internierungslager für Juden aus Böhmen und Mähren; seit 1942 kamen dorthin auch alte gebrechliche Juden (über 65 Jahre) aus Deutschland und Weltkriegsteilnehmer mit ihren Ehefrauen. Theresienstadt war ein Durchgangslager auf dem Weg in die Vernichtungslager im Osten. Insgesamt wurden 141 000 Juden nach Theresienstadt deportiert; 42 345 kamen aus Deutschland. Aus München kamen mit 24 Transporten zwischen Mai und August 1942 1200 Juden nach Theresienstadt. Insgesamt kamen aus München 1555 nach Theresienstadt. Nur 297 von ihnen überlebten. (Enzyklopädie des Holocaust: 969, Benz, W. (1990): 758) Spies, Gerty (1984): Drei Jahre Theresienstadt: 34 Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1864–1842), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe: 215

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Die Familie Block86 Friedrich Block *12.3.1892 Hannover †? 1942 Mirjam Block, geb. Frensdorff *28.7.1896 Hannover †? 1942 Elisabeth Block *12.2.1923 Niedernburg †? 1942 Gertrud Block *28.10.1927 Niedernburg †? 1942 Johannes Arno Block *23.11.1928 Niedernburg †? 1942 Dem Schicksal einer oberbayerischen jüdischen Familie kann am Beispiel der Familie Block87, die in Niedernburg lebte, nachgespürt werden. Im März 1942 wurde diese Familie zum Umzug in das „Judensiedlung“ genannte Sammel- und Deportationslager gezwungen. Die vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Historischen Verein Rosenheim herausgegebenen Tagebücher der Elisabeth Block geben ein Bild über die persönliche Geschichte dieser Familie, deren Lebensspuren mit der Einweisung in das „Judenlager Milbertshofen“ und der anschließenden Deportation am 3. April 1942 in das Ghetto nach Piaski im Distrikt Lublin88 enden. Elisabeth Block führte ihr Tagebuch im Alter zwischen zehn und neunzehn Jahren, vom 12. März 1933 bis zum 8. März 1942.89 Sie vertraute vor ihrer erzwungenen Ausreise die Tagebücher einer langjährigen Haushälterin und treuen Freundin Kathi Geidobler an, die sie sorgsam aufbewahrte.90 Im so genannten „Judenlager Milbertshofen“ waren zeitweise 1376 Menschen91 isoliert und von der ständigen Gefahr der Deportation bedroht: Dieses Ghetto diente als Sammellager für die Transporte nach Riga, Kowno, Piaski, Theresienstadt und in die Todeslager. (Das bewachte Lagergebiet durfte nur mit Erlaubnis verlassen werden). Das Lager in Milbertshofen wurde am 19. August 1942 aufgelöst, die hier noch lebenden 86 87

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Dokument 28. In: Erinnerungszeichen. Die Tagebücher der Elisabeth Block: 347 Familie Block aus Niedernburg/ Obb.: Vater, Friedrich geb. 12.3.1892, Mutter, Miriam geb. 28.7.1896, Kinder: Elisabeth geb.12.2.1923, Gertrud geb.28.10.1927, Arno geb. 23.11.1928. Dokumente 28. In: Erinnerungszeichen. Die Tagebücher der Elisabeth Block: 347 Ziel der Deportationen waren die Vernichtungslager Sobibor, Belzec, Lublin. In: Hilberg, Raul (1982): Die Vernichtung der europäischen Juden: 956, 509 Miesbeck, Peter (1993): Die Tagebücher der Elisabeth Block: 103 Miesbeck, Peter (1993): In: Erinnerungszeichen. Die Tagebücher von Elisabeth Block: 47 Enzyklopädie des Holocaust: 969

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16 Menschen kamen in die „Heimanlage für Juden Berg am Laim“ (siehe Band 2: “Jüdisches Sammellager“ Berg am Laim). Das Barackenlager erwarb die BMW AG, um hier ihre ausländischen Arbeiter unterzubringen.92 Über den finanziellen Wert des arisierten Besitzes der in Piaski im Distrikt Lublin Ermordeten gibt das folgende Dokument Auskunft: „Dem Großdeutschen Reich wurden im Zug der Aktion ,Reinhardt‘ Lublin in der Zeit vom 1. April 1942 bis einschließlich 15. Dezember 1943 nachstehende Geld- und Sachwerte (in RM) zugeführt: Abgelieferte Geldmittel (Zloti- und RM-Noten) 73.852.080,74 Edelmetalle 8.973.651,60 Devisen in Noten 4.521.224,13 Devisen in gemünztem Gold 1.736.554,12 Juwelen und sonstige Werte 43.662.450,00 Spinnstoffe 46.000.000,00 Gesamt 178.745.960,59 Vorläufiger Abschlußbericht der Aktion ,Reinhardt‘ vom 5. Januar 1944“.93 In einem heute aufgefundenen Dokument über die Opfer des „Einsatzes Reinhardt“, die in einem Funkspruch vom britischen Geheimdienst am 11. Januar 1943 aufgefangen wurden sind die Opfer aus den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor, Treblinka und dem Großghetto Lublin und Lemberg aufgeführt: von Mitte März bis 31. Dezember 1942 waren es 1 274 166.94 Vor 1933 hatte die jüdische Gemeinde in München 10 000 Mitglieder. Im März 1946 lebten in München nur noch 746 Mitglieder der jüdischen Gemeinde.95 Von München aus sind insgesamt 2991966 Jüdinnen und Juden deportiert worden. Wenige überlebten den Holocaust.

92 93 94 95 96

Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... Verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941: Abb. 3 und 4 (Stadtarchiv München) Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945: 82 Witte, Peter (2002): „... zusammen 1 274 166“. In Die Zeit Nr. 3 v. 10.1.2002: 82 Bauer, Richard et al. (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer Großstadt: 139 Ophir, B. / Wiesemann, F. (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München 1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 488

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Ausstellungen 7. – 26. Februar 1999: Und immer noch sehe ich ihre Gesichter. Fotografien jüdischer Lebenswelten in Polen vor der Schoa. Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e. V. in Zusammenarbeit mit der Shalom Foundation Warschau und dem Jüdischen Museum Frankfurt a. M. mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, des Polnischen Ministeriums für Kultur und Kunst und der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Rathaus von München. 18. Oktober – 30. November 1999: Vom Mittelalter in die Neuzeit. Jüdische Städtebilder mit Sonderteil: Die Geschichte der Wissenschaft des Judentums. Präsentiert von der Gesellschaft zu Förderung jüdischer Kultur und Tradition e. V. und dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Gezeigt im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Schönfeldstraße 5. 24. Oktober – 14. November 1999: Bilder aus dem Waschauer Ghetto. Zeichnungen von Teofila Reich-Ranicki. Gezeigt im Alten Rathaus von München. 13. März – 30. April 2000: Schicksal (un)bekannt. Kunst- und Ausstellungsprojekt von Wolfram Kastner. Gezeigt in der Evangelischen Christus Kirche München. 23. November – 23. Dezember 2000: ... verzogen, unbekannt wohin. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941. Vom Stadtarchiv und der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Rathaus, München. 14. Februar – 11. März 2001: Oneg Schabbat. Dokumente aus dem Warschauer Ghetto. Vom Jüdischen Historischen Institut Warschau. Gezeigt in der Bayerischen Staatskanzlei am Franz-Josef-Strauß-Ring 1. 19. Juli 2001 – 24. Januar 2002: Ich lebe! Das ist ein Wunder. Eine Ausstellung des Stadtarchivs München und der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur dem Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gezeigt im Jüdischen Museum München. Literatur Angermair, Elisabeth (2000): Letzte Station Milbertshofen. Fotografische Zeugnisse der Deportation und ihre Überlieferung. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“: 25–36 Bauer, Richard / Stölzl, Christoph / Broszat, Martin / Prinz, Friedrich (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer Großstadt 1900–1950. Verlag Albert Langen, Georg Müller, München, Wien Bauer, Richard (2000): Ein Meister aus München. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): “...verzogen, unbekannt wohin“: 9–10 Behrend-Rosenfeld, Else (1988): Ich stand nicht allein. Leben einer Jüdin in Deutschland 1933–1944. Beck Verlag, München

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Benz, Wolfgang (1990): Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat. Studien zur Strukturund Mentalitätsgeschichte. Frankfurt a. M. Brentzel, Marianne (1996): Nesthäkchen kommt ins KZ. Annäherung an Else Ury 1877–1943. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Gutmann, Israel (Hrsg.) (1993): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Band 2. Piper Verlag, München, Zürich Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1886–1942), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe: 211–216 Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. (1988) Hrsg. v. Manfred Treml und Wolf Weigand unter Mitarbeit von Evamaria Brockhoff. Veröffentlichung zur Bayerischen Kultur u. Geschichte, Band 17. Kastner & Callwey, München Gleibs, Yvonne (1981): Juden im kulturellen und wissenschaftlichen Leben Münchens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. München. Miscellanea Bavarica Monacensia Band 76: 109–115 Hanke, Peter (1967): Zur Geschichte der Juden in München 1933–1945. Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs, München Heft 3: 282f Haus der Bayerischen Geschichte u. Historischer Verein Rosenheim (Hrsg.) (1993): Erinnerungszeichen. Die Tagebücher der Elisabeth Block. Mit Beiträgen v. Peter Miesbach u. Walter Treml. Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Stadt und des Landkreises Rosenheim, Band 12. Wendelstein Druck, Rosenheim Heuer, Renate (1988): Carry Brachvogel (1864–1942), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Band 18, Lebensläufe. Hrsg. v. Manfred Treml et al., Kastner & Callwey, München Hilberg, Raul (1990): Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. 3 Bände. Frankfurt a. M. Hiob, Hanne / Koller, Gerd (Hrsg.) (2000): „Wir verreisen ...“ in die Vernichtung. Briefe 1937–1944. Aufbau Taschen Verlag, Berlin Kaplan, Marion (2000): Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Aufbau Verlag, Berlin Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt. Begleitbuch zur Ausstellung in der Münchner Christus Kirche. Eigenverlag, München Klemperer, Viktor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941, Band 1. Aufbau Verlag, Berlin: 684ff Miesbeck, Peter (1993): Die Tagebücher der Elisabeth Block. Das Schicksal einer jüdischen Familie aus Oberbayern. In: Dachauer Hefte 9/1993. Die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen. Hrsg. v. Wolfgang Benz u. Barbara Distel. Verlag Dachauer Hefte, Dachau: 102–122 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München 1918–1945. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 462–494 Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945. Fischer Verlag, Frankfurt a. M Schoenberner, Gerhard (2000): Zeugen sagen aus. Berichte und Dokumente über die Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Aufbau Taschen Verlag, Berlin Spies, Gerty (1984): Drei Jahre Theresienstadt. München Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „...verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941. Pendo Verlag, Zürich, München Wiedenmann, Ursula (1988): Elsa Porges-Bernstein (1866–1949), Schriftstellerin. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Band 18. Lebensläufe. Hrsg. v. Manfred Treml et al., Kastner & Callwey, München: 217–224 Witte, Peter (2002): „... zusammen 1 274 166“. Der Funkspruch des SS-Sturmbannführers Hermann Höfle liefert ein Schlüsseldokument des Holocaust. In: Die Zeit Nr. 3 v. 10.1.2002

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Jüdisches Kinderheim „Ohne eine heitere und vollwertige Kindheit verkümmert das ganze spätere Leben. Das Kind wird nicht erst Mensch, es ist schon einer.“ Janusz Korczak97 „Aber ihre Leistung (von Elisabeth und Luise Merzbacher) dauert fort in den vielen, denen sie den Weg ins Leben zu ebnen geholfen haben.“ 98

Henny Seidemann vor dem Jüdischen Kinderheim, 1937 Foto: H. Seidemann (privat) Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße 7 Foto: Ida Seele Archiv, Dillingen

97

Tjaden, Katrin (2001): Die Steine weinten. Überleben und Tod des Janusz Korczak. In: Schulfunk und Schulfernsehen, Heft 9, Mai 2001. Auch in: Biewend, Edith (1974): Lieben ohne Illusion: 5. Janusz Korczak (Pseudonym von Henryk Goldszmit), 1878 oder 1879–1942, war Arzt, sozialkritischer Schriftsteller und Pädagoge. Korczak fühlte sich als Waisenhausleiter seinen Kindern verpflichtet. Als alle Vermittlungsversuche nichts halfen, ging er mit 200 Kinder aus dem Warschauer Ghetto am 5. August 1942 zur Deportation nach Treblinka, wo alle ermordet wurden.

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Jüdisches Kinderheim Antonienstraße 6, Schwabing Dietlindenstraße U6 M (2002) ANLASS UND ENTSTEHUNG Janne Weinzierl, Mitglied der SPD-Fraktion im Bezirksausschuss 12, Schwabing-Freimann, stellte am 12. Dezember 1998 den Antrag zur Anbringung einer Gedenktafel oder eines Gedenksteins zur Erinnerung an das ehemalige Jüdische Kinderheim. Am Standort des ehemaligen jüdischen Kinderheimes befindet sich heute ein Wohnhaus. Deshalb errichtete man die Gedenkstätte am gegenüberliegenden Haus; auf dem Gelände der Berufsoberschule für Sozialwesen, Antonienstraße 6. Die Einweihung fand am 16. April 2002 statt. KURZBESCHREIBUNG Der geplante Entwurf sieht eine Umgestaltung des Vorgartens vor. Um von außen eine freie Sicht auf die Gedenkstätte zu haben, werden die hölzernen Zaunlatten durch Sichtscheiben ersetzt. Im Hof sollen quadratische, mit Steinen gefüllte Eisenbecken stehen. Auf dem Gehsteig wird das Kinderspiel „Himmel und Hölle“ in den Boden eingelassen.99 Zur Ausführung kam jedoch der Entwurf des Künstlers Hermann Kleinknecht. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Das Denkmal schuf Hermann Kleinknecht GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Im Jahr 1904 beschlossen Elisabeth und Luise Merzbacher, beide aus einer liberalen jüdischen Familie stammend, einen privaten Kindergarten zu gründen. Infolge der Pogrome in Russland war eine große Anzahl bedürftiger Familien nach München gekommen. Anfangs brachten die Merzbachers die Kinder in ihrer eigenen Wohnung unter. Später wurden weitere Zimmer und Wohnungen angemietet, um Kindergarten und Hort unterzubringen. Elisabeth Merzbacher100 war Mitbegründerin des Vereins „Israelitische Jugendhilfe e. V.“ Es kam zur offiziellen Errichtung eines Kindergartens, der von der Stadt München, 98 99

(1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 121 In: Münchner Merkur Nr. 27 v. 2.2.2001: Himmel und Hölle in der Antonienstraße (hab)

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von Spendern und Freunden unterstützt wurde. So konnte sich nach zehn Jahren die ursprüngliche Kapazität, entsprechend einer Drei-Zimmer-Wohnung (Baaderstraße 5) mit Platz für 30 Kinder, auf eine Größe erhöhen, die einer Anzahl von 150 Kindern entsprach.101 Das neue Heim in der Antonienstraße 1925 konnte das Haus in der Antonienstraße 7 gekauft werden. „Das neue Heim, in einem schönen Garten gelegen, bestand aus 20 Räumen. Die Inneneinrichtung übernahm der Schwesternbund der München-Loge. In vorbildlicher Weise, mit größter Umsicht wurde die Sammlung der Einrichtungsgegenstände, der Wäsche und was sonst nötig war, von Frau Dr. Baerwald (Ehefrau des Rabbiners Leo Baerwald) organisiert. Die MünchenLoge stiftete einen Betraum, der sehr geschmackvoll ausgestattet war und in dem an den Freitag-Abenden und an Feiertagen Gottesdienst abgehalten wurde.“102 Am 29. März 1926 war das Heim bezugsfertig, die Kinder konnten einziehen. Aufgenommen wurden Waisenkinder, uneheliche oder im Elternhaus gefährdete Kinder, dazu kamen gerade aus der Schule entlassene Kinder, die hier in Haushaltsführung und Kinderpflege ausgebildet wurden. Dem Heim war eine Säuglingsstation, eine Kleinkinderstation und eine Abteilung für Schulkinder angeschlossen. Der Kindergarten durfte nur von jüdischen Kindern besucht werden. Henny Seidemann erinnert sich an ihre Zeit im Antonienheim Ihr Tagesablauf und die spezielle Ausbildung zur Hausarbeit regelten ein genauer Plan. So mussten die Jugendlichen auch in der Küche, die unterteilt war in Großküche und Familienküche, lernen. Ebenso war die Arbeit in der Wäscherei geregelt. Hier war die Lehrerin Klara Mayer zuständig, die als 47-jährige am 4. April 1942 in das Ghetto nach Piaski kam.103 Besonders zuverlässige Jugendliche – zu denen Henny Seidemann gehörte – wurden im Kindergarten eingesetzt und in der Säuglingspflege ausgebildet. In der Zeit ihres Aufenthaltes war Alice Bendix dort Heimleiterin, eine nach Henny Seidemann „zuverlässige und korrekte Leiterin“, die mit „Disziplin“104 ihre Aufgabe erfüllte. Die 1922 in Berlin geborene Henny Seidemann stammt aus einer angesehenen, im religi100

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(1861 München-1966 Washington). Verheiratet mit Dr. jur. Wilhelm Kitzinger (1870–1945), der im November 1938 einen Monat im KZ Dachau verbrachte. Das Ehepaar konnte 1939 nach Israel ausreisen. Seit 1947 lebte Elisabeth Kitzinger in Washington, wo sie 1966 starb. Kitzinger, Elisabeth (1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 121 Kitzinger, Elisabeth (1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943: 123–124 Zitiert nach der Ausstellung: „Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße“ v. d. Berufsoberschule für Sozialwesen, erarbeitet v. Dagmar Kann u. Beate Folgner Interview mit Henny Seidemann, geführt von Helga Pfoertner am 19. August 2001

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ösen Bereich liberalen jüdischen Kaufmannsfamilie. Sie begann in der Schule die Schikanen bereits als Elfjährige zu spüren. Auch erlebte sie die Ausgrenzung aller jüdischen Menschen in verantwortungsvoller Position wie Juristen und Ärzte, die als Beamte im April 1933 ihre Kündigung erhielten.105 1935 emigrierte die Familie nach Barcelona (Spanien) zu Verwandten. Dort bekam die Familie Seidemann im Herbst 1936 vom deutschen Konsulat die Aufforderung, dass wegen der Kriegsgefahren (Bürgerkrieg seit 1936), Kinder, Jugendliche und Senioren nach Deutschland zurückzukehren hätten. Henny Seidemann wurde deshalb alleine nach Deutschland geschickt. Am Münchner Bahnhof erwarteten sie bereits Leute der Gestapo, die sie vier Tage im Wittelsbacher Palais als vermeintliche Spionin verhörten. Danach kam sie in das streng orthodox geführte jüdische Kinderheim in der Antonienstraße. Am 8. Juni 1938 war sie Augenzeugin beim Abriss der Hauptsynagoge in der Maxburgstraße (siehe Band 1: Hauptsynagoge). Nach zweijährigen Heimaufenthalt konnte Henny mit Hilfe von Verwandten über die Schweiz zurück nach Spanien zu ihren Eltern zurückkehren. Große Unterstützung während ihrer Münchner Zeit bekam sie von der Direktorin des Kinderheims Elisabeth Kitzinger, die „ihre schützende Hand“ 106 über sie hielt. Henny Seidemann kehrte 1957 wieder nach Deutschland zurück und engagierte sich für verschiedene jüdische Organisationen. Sie erhielt für ihr offizielles Engagement folgende Auszeichnungen: 1987 das Bundesverdienstkreuz am Bande, 1992 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und 1993 die Medaille „München leuchtet“. Seit 1983 wirkte sie als Vorsitzende der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, als Ehrenvorsitzende seit 1992. Bis heute setzt sich Henny Seidemann für die Aussöhnung zwischen den Religionen ein. Die Heimleiterinnen und das Personal des Antonienheimes Von 1928 bis 1932 leitete Hilde Rosenberg das Heim. Ab 1933 bis zur Auflösung 1942 hatte Alice Bendix die Heimleitung inne. Die ärztliche Leitung übernahm Dr. Ludwig Kaumheimer. Zum Personal gehörten: Merry Gaber: geboren 29. August 1920 in Dresden. Im Antonienheim war sie von Januar 1933 bis April 1942 tätig. Nach ihrem Umzug in die „Judensiedlung Milbertshofen“, wo sie bis Juni 1942 blieb, folgte die Einweisung in die „Heimanlage“ Berg am Laim bis März 1943. Von hier wurde sie nach Auschwitz deportiert.107 105

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Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933“ konnten jüdische Beamte entlassen oder in den vorzeitigen Ruhestand versetzt werden. Vgl. Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates: 36f Interview mit Henny Seidemann, geführt von Helga Pfoertner am 19. August 2001 Zitiert nach der Ausstellung: „Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße“ v. d. Berufsoberschule für Sozialwesen, erarbeitet v. Dagmar Kann u. Beate Folgner

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Die erste Deportation von Münchner Juden Vom Betreuungspersonal des Antonienheims kamen folgende Personen auf die erste Deportation am 20. November 1941: Isabella Pmogar (*4.2.1929 München), Johanna Roth (*9.4.1891 München), Elisabeth Löb (*7.5.1888 Mannheim), Elisabeth Mann (*23.8.1895 Mannheim) und der Schreinerlehrling Josef Stettner (*5.2.1925 München).108 Sie wurden fünf Tage später in Kowno ermordet. Auflösung des Antonienheimes Bereits 1938 verlangte das Stadtjugendamt die Auflösung des Kinderheimes. Dies konnte bis zum Frühjahr 1942 hinausgezögert werden. Mit 13 Kindern übersiedelten die Betreuerinnen Alice Bendix und Hedwig Jakobi im April desselben Jahres in die „Heimanlage für Juden“ in Berg am Laim. Beide kamen zusammen mit 113 Deportierten auf den Transport am 13. März 1943 nach Auschwitz, wo sie am 16./17. März in den Gaskammern des KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurden.109 Das Schicksal der Kinderheimleiterin Alice Bendix, kann mit dem aufopfernden Handeln des Waisenhausleiters Janusz Korczak im Warschauer Ghetto verglichen werden. Beide gingen sie den letzten Weg mit ihren Schützlingen. Das Gebäude des aufgelösten Antonienheims kam auf Befehl des Reichsicherheitshauptamtes in Berlin in den Besitz des SS-Vereins „Lebensborn e. V.“. Das im Krieg beschädigte Haus wurde später abgerissen. Heute befinden sich dort Wohngebäude. Ausstellungen Februar – 26. Februar 2001: Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße. Konzipiert als Wanderausstellung von den Schülerinnen der 13. Klasse der Berufsoberschule für Sozialwesen, Dagmar Kann und Beate Folgner. Berufsoberschule für Sozialwesen, Antonienstraße 6. 28. Februar – 28. März 2001: Dieselbe Ausstellung wurde im Münchner MaximiliansGymnasium in der Karl-Theodor-Straße 9 gezeigt. Film November 1999: Kindertransport in eine fremde Welt. Dokumentarfilm von Mark Jo108 109

Zitiert nach der Ausstellung: „Jüdisches Kinderheim in der Antonienstraße“ v. d. Berufsoberschule für Sozialwesen, Antonienstraße 6 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München 1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 485

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nathan Harris. Literatur Berger, Manfred (1995): Elisabeth Kitzinger (1881–1966) und die jüdische Wohlfahrtsarbeit in München (1904–1943). In: Jüdisches Leben in München. Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München: 57–63 Epstein, Helen (1987): Die Kinder des Holocaust: Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden. München Grube, Ernst (1993): „Den Stern, den tragt ihr nicht“. Kindheitserinnerungen an die Judenverfolgung in München. In: Dachauer Hefte 9/1993: Die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen. Hrsg. v. Wolfgang Benz und Barbara Distel. Dachau: 3–13 Grube, Ernst (1995): „Du Jud´, schleich dich!“ Kindheit in München 1932 bis 1945. In: Jüdisches Leben in München. Lesebuch zum Geschichtswettbewerb 1993/94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Kitzinger, Elisabeth (1958): Jüdische Jugendfürsorge in München, 1904–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller, München, Wien Kössel, Ina (1995): Bildungs- und Sozialeinrichtungen für jüdische Kinder und Jugendliche in München bis 1943. In: Jüdisches Leben in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München: 64–75 Kohlenberger-Müller, H. (1990): Elisabeth Kitzinger und der Münchner Verein Israelitischer Jugendhilfe. In: Brehmer, I. (Hrsg.) (1990): Mütterlichkeit und Profession. Pfaffenweiler Lifton, J. B. (1990): Der König der Kinder. Das Leben von Januscz Korczak. Stuttgart Ruch, Martin (1992): Familie Cohn. Offenburg Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München 1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller, München, Wien Pelzer, Wolfgang (1987): Janusz Korczak. Eine Biographie. Rowohlts Monographien. Reinbek b. Hamburg Seidemann, Henny: Interview, geführt von Helga Pfoertner am 18. Februar u. 19. August 2001

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Jüdisches Museum München „Jetzt beginnt endlich die Teamarbeit.“ Richard Grimm110

Im Jüdischen Museum München Foto: H. Pfoertner

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Süddeutsche Zeitung v. 22.12.1998. Zitiert in: Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 29

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Jüdisches Museum München Reichenbachstraße 27, Rückgebäude, Isarvorstadt Fraunhoferstraße U1/U2/U8 Privat (1989) M (1998) Öffnungszeiten: Dienstag bis Donnerstag 14–18 Uhr, Mittwoch 9–12 Uhr. Tel.: (089) 20 00 96 93 ANLASS UND ENTSTEHUNG Der Münchner Galerist Richard Grimm gründete im Januar 1989 in Eigeninitiative das Jüdische Museum München in der Maximilianstraße 36. Er wollte damit „einen Platz schaffen, wo Menschen ohne Schwellenangst Einstieg finden in die jüdische Kultur, und ein Forum für Vergangenheit und Gegenwart der Juden. Ich will an die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Juden erinnern und an das Furchtbare, das hier geschehen ist.“111 Anfang November 1998 erfolgte der Umzug des Museums in die Räume der Israelitischen Kultusgemeinde. Es gelangte damit unter die Obhut des Münchner Stadtmuseums und unter die Verwaltung der Landeshauptstadt München. Am 21. Dezember 1998 fand im Beisein der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch und des Kulturreferenten Professor Dr. Julian Nida-Rümelin, die Eröffnung statt. KURZBESCHREIBUNG Das Jüdische Museum befindet sich im Rückgebäude der Israelitischen Kultusgemeinde, Reichenbachstraße 27. Gezeigt werden Dokumente und Exponate zur jüdischen Kultur und Geschichte. Dazu gehört die Kapsel im Schlussstein der Münchner Hauptsynagoge (siehe Band 1: Hauptsynagoge) von 1887. Wechselnde Ausstellungen informieren über Historie, Religion und Brauchtum. Geleitet und betreut wird das Museum von seinem Gründer Richard Grimm, der den Besuchern während der Öffnungszeiten als Berater zur Seite steht. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG In München waren bereits einige Jahrzehnte nach der Stadtgründung (um 1170) Juden ansässig. Die erste Synagoge wurde 1381 in der „Judengasse“, im Bereich des heutigen Marienhofs errichtet. Die wechselvolle Geschichte der Juden in München ist von Pogromen (1285, 1345, 1349, 1413, 1442) und der Ausweisungspolitik der bayerischen Landesherrn

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Puvogel, U. / Stankowski, M. (1995): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus: 174

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gekennzeichnet. Nach der Vertreibung von 1442 gab es in München keine jüdische Gemeinde mehr. Dies blieb so bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.112 Erst Jahrzehnte später war die Eingliederung der Juden in das bürgerliche Leben vollzogen. Das so genannte „Judenedikt“ führte zu einer reichsweiten Regelung des Status der Juden und leitete deren rechtliche Gleichstellung ein. So erlaubte das Edikt die Gründung einer jüdischen Gemeinde pro Ort, was in München zur Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde führte. Zu Beginn des Jahres 1815 konnte ein Friedhof angelegt und der Bau einer Synagoge begonnen werden. Die erste Synagoge erbaute Jean Baptist Métivier (1781–1853) im Jahre 1826 an der Westenriederstraße. Mit der Zuwanderung der Juden aus Osteuropa vergrößerte sich die jüdische Gemeinde Münchens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und machte den Bau der Hauptsynagoge (1884–1887, siehe Band 1: Hauptsynagoge) notwendig. Volle Gleichberechtigung in Gesellschaft und Staat erreichte die jüdische Gemeinde erst in den Jahren 1869 und 1871.113 Kurz danach fand im Beisein des bayerischen Prinzregenten Luitpold die Einweihung der Münchner Hauptsynagoge statt. In der Zeit bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung konnten sich die jüdischen Mitbürger assimilieren und ein reges religiöses Leben führen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in München war trotz der Zunahme der Immigranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Vergleich zur Gesamtbevölkerung gering: Ihr Anteil lag im Jahre 1910 bei 1,9 Prozent.114 Im Jahre 1933 hatte München 1,2 Prozent jüdische Einwohner.115 Die „Entfernung“ der Juden war von Anfang an ein geplantes Ziel der nationalsozialistischen Politik. Die NS-Gesetzgebung, der nationalsozialistische Rassebegriff und der verbreitete Antisemitismus hatten die Ausgrenzung, Vertreibung und schließlich den Massenmord zur Folge. Die Juden wurden entrechtet, enteignet, deportiert oder in die Emigration gezwungen. Viele entzogen sich der Deportation durch Suizid. Das Jüdische Museum München Einer der Initiatoren des Jüdischen Museums war der damalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Dr. Hans Lamm. Er strebte einen Bau auf der Grünfläche der ehemaligen Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße an. Hier sollte ein „Haus der offenen 112 113 114 115

Baerwald, Leo (1982): Juden und jüdische Gemeinden in München vom 12. bis 20. Jahrhundert. In: Lamm, Hans (Hrsg.): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 19–30 Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und Jüdische Friedhöfe: 58 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1979): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945: 33 16Statistik des Deutschen Reiches, Band 451, Heft 5, Berlin 1936, S. 10. In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 17

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Türe des Judentums“, Bildungs- und Kunstzentrum mit Bibliothek, Vortragssaal, Ausstellungsräumen und Literatencafé errichtet werden.116 Dieser Bau konnte jedoch wegen Platzmangels und rechtlicher Gründe nicht durchgeführt werden.117 Der Galerist Richard Grimm führte fort, was sein Mentor Hans Lamm begann, „weil er ein Mann war, ... der mit seiner ganzen Person für die Versöhnung eingetreten ist.“118 Er initiierte das 1989 gegründete Jüdische Museum, das zuerst in einer Zweizimmerwohnung (etwa 30m²) untergebracht war. Zu den Aufgaben des Jüdischen Museums gehört die Darstellung jüdischer Kultur, Tradition und Geschichte. Das Konzept sieht wechselnde Ausstellungen vor (siehe Aufstellung). Die Resonanz war durchaus positiv: bis Februar 1992 konnten 22 500, bis Januar 1997 100 000 Besucher gezählt werden.119 Die Landeshauptstadt München unterstützt seit 1995 den Bau eines Jüdischen Museums am Jakobsplatz, was anlässlich einer Gedenkfeier am 9. November 1995 der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude mit folgenden Worten bekräftigte: „Wir glauben, daß die Juden in München nicht nur eine Geschichte, sondern auch eine Zukunft haben. Und deshalb wird die Stadt alles daran setzen, daß ein Jüdisches Museum auf ihre Bedeutung in der Vergangenheit hinweist, und daß ein Gemeindezentrum entsteht, in dem sich das gegenwärtige Leben entfalten kann.“120 Im Juli 2001 fiel die Entscheidung, den Entwurf des Saarbrücker Architektenteams Wandel, Hoefer und Lorch für ein Jüdisches Zentrum samt Jüdischem Museum auf dem Jakobsplatz zu verwirklichen. Um die Ausstellungsfläche des Jüdischen Museums zu vergrößern, beschloss der Museumsleiter Richard Grimm im Januar 1998, ein Gartenhaus (240 m²) anzumieten. Der Umzug erfolgte im März desselben Jahres. Die damit verbundenen Kosten zogen einen finanziellen Engpass nach sich. Als alle Rettungsmaßnahmen versagten, beschloss die Israelitische Kultusgemeinde, Räume in ihrem Gemeindezentrum in der Reichenbachstraße 27 zur Verfügung zu stellen. Seit dem Umzug dorthin im November 1998 ist die Landeshauptstadt München Träger des Jüdischen Museums; das Münchner Stadtmuseum übernahm die Beratung. Die vier Ausstellungsräume (120 m²) werden von dem Museumsgründer Richard Grimm betreut.121 116 117 118 119 120 121

Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 6 Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 6 Süddeutsche Zeitung v. 9.3.1989. In: Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 4 Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 12 u. 17 Süddeutsche Zeitung v. 16./17.12.1995. In: Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 23 Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München: 29

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Ausstellungen (bis 1999, zitiert nach Kallweit) Ein bescheidener Anfang. Eröffnungsausstellung (1989) „Jüdische Postkarten“ „E. M. Lilien – Zeichnungen“ Schüler in Bayern malen zum Versöhnungstag (Jom Kippur). Ausstellung ausgewählter Bilder „Raoul Wallenberg – er rettete hunderttausend Juden das Leben“ Alltag in Jerusalem. Fotografien von Sonia Gidal. In Zusammenarbeit mit der Literaturhandlung Das Buch Esther – Purim. Zeichnungen von David Bennett. In Zusammenarbeit mit der Literaturhandlung Teddy Kolleck – Bürgermeister von Jerusalem. Ein Porträt Münchner Synagogen – ein historischer Rückblick. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv München „6 000 001 – Holzschnitte Moshe Hoffmann (1938–1983)“ Das Ghetto in Venedig. Photographien von Edmund Höfer. In Zusammenarbeit mit der Literaturhandlung Varian Fry – Marseille 1940/41. Rettung deutscher Emigranten. In Zusammenarbeit mit Jörg Bundschuh und der Literaturhandlung Juden in Indien. Fotografien von Frédéric Brenner Der Davidstern. Zeichen der Schmach, Symbol der Hoffnung Jüdische Zeremonien. Kupferstiche von Bernard Picart (1673–1733) Schalom ben-Chorin, Jerusalem. Ein Porträt von Sonia Gidal „Fluchtpunkt Schanghai 1938–1945“ „60 Jahre Aufbau“ Ein Leben aufs Neue – Jüdische „Displaced Persons” auf deutschem Boden 1945– 1948. In Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main und der Literaturhandlung Vertreibung – Deportation – Vernichtung. Lebensskizzen jüdischer Bürger in München während der NS-Zeit. Eine Ausstellung des Stadtarchivs München vom November 1995 – März 1996 Wir sind eine Familie. (Nicht-)Alltägliches im Shoul-Eisenberg-Seniorenheim der Israelitischen Kultusgemeinde München. Photographien von Catharina Hess. Mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, des Vereins „Freunde des Jüdischen Museums e.V.“ und José Moskovits, Buenos Aires Jüdisches Leben in München. Die Anfangsjahre 1945. In Zusammenarbeit mit dem Jugend- und Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München Kristallnacht – Gewalt gegen die Münchner Juden vom November 1998 – März 1999

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Beth ha – Knesseth, Ort der Zusammenkunft. Zur Geschichte der Münchner Synagogen, ihrer Rabbiner und Kantoren im Jüdischen Museum München. Eine Ausstellung des Stadtarchivs München vom 2. Dezember 1999 – 31. Mai 2000 David Ludwig Bloch. München – Schanghai – New York. Eine Ausstellung zum 90. Geburtstag des Künstlers vom 19. Juli – 14. Dezember 2000 Jüdisches. Eine Fotoausstellung von Peter Loewy in Zusammenarbeit mit dem Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München vom 22. Februar – 14. Juni 2001 München Ich lebe! Das ist ein Wunder. Das Schicksal einer Münchner Familie während des Holocaust. Eine Ausstellung des Stadtarchivs München und der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München vom 19. Juli 2001 – 24. Januar 2002 Where I Was. Eine Fotoausstellung von Erich Hartmann. Gezeigt in München und New York. 23. Mai - 12. September 2002 Die Rosenthals - Der Aufstieg einer jüdischen Antiquarsfamilie zu Weltruhm. 23. Oktober 2002 - 23. Oktober 2003 Literatur Beth ha – Knesseth, Ort der Zusammenkunft. Zur Geschichte der Münchner Synagogen, ihrer Rabbiner und Kantoren. Stadtarchiv München (Hrsg.) (1999). Buchendorfer Verlag, München Hartmann, Erich (2002): Where I Was. Persönliche Fotografien. Otto Müller Verlag, Salzburg Heusler, Andreas (1995): Vertreibung. Deportation. Vernichtung. Jüdische Schicksale in München Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938. Stadtarchiv München (Hrsg). Buchendorfer Verlag, München Heusler, Andreas (Hrsg.) (2001): „Ich lebe! Das ist ein Wunder“. Schicksal einer Münchner Familie während des Holocaust. Mit einem Vorwort von Michael Brenner. Hrsg. v. Stadtarchiv München. Buchendorfer Verlag, München Kallweit, Doreen (2000): Die Geschichte des Jüdischen Museums München. Hauptseminar-Arbeit im Fach Neuere und Neueste Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Prof. Dr. Michael Brenner. Unveröffentl. Manuskript Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries Verlag, München Stahleder, Helmut (1988): Die Münchner Juden im Mittelalter und ihre Kultstätten. In: Selig, Wolfram (Hrsg.) (1988): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München: 11–34 Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1979): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945. Verlag Langen Müller, München, Wien Puvogel, Ulrike / Stankowski, Martin (1995): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band 1, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn. Edition Hentrich, Bonn

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Jüdische Rechtsanwälte „Das ist das höchste Unrecht, das sich in der Form des Rechts vollzieht.“ Plato

Ausstellung „Anwalt ohne Recht“ im Lichthof des Justizpalasts Foto: H. Pfoertner

Dr. Elisabeth Kohn Foto: Stadtarchiv München

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Gedenktafel Prielmayerstraße 7, Justizpalast, Altstadt Karlsplatz-/Stachus S1–S8 M (1998) ANLASS UND ENTSTEHUNG Am 30. November 1998 enthüllte der bayerische Justizminister Alfred Sauter im Beisein der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch zu Ehren der vor 60 Jahren entrechteten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte eine Gedenktafel. KURZBESCHREIBUNG Die Gedenktafel befindet sich in einer Wandnische nahe der Eingangstüre. Auf einer Plexiglastafel (0,40 m × 0,60 m) steht in weißer Schrift folgender Text: „Die Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk München gedenkt den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die während der Herrschaft des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 als Juden verfolgt und entrechtet wurden. Sie ehrt ihr Andenken durch die Aufzeichnung ihrer Namen zum 60. Jahrestag ihrer Vertreibung aus der Anwaltschaft am 30. November 1938. (RGBl I 1938, 1403). Paul Adler – Paul Adler – Siegfried Adler – Leopold Ambrunn – Hans Auerbach – Alfred Bacherach – Julius Baer – Fritz Ballin – Alfred Bauer – Max Bauer – Hans Baumann – Robert Bee – Richard Bellmann – Leo Benario – Ernst Berg – Georg Franz Bergmann – Hans Bernstein – Franz Berolzheimer – Hans Berolzheimer – Richard Berolzheimer – Adolf Bing – Adolf Bloch – Eduard Bloch – Hans Bloch – Karl Blumenstein – Richard Boscowitz – Gustav Böhm – Heinrich Buff – Fritz Dispeker – Siegfried Dispeker – Ludwig Dreifuß – Eugen Drey – Alex Dinkelsbühler – Josef Eilbott – Oskar Einstein – Max Ellinger – Albert Engel – Theodor Erlanger – Wilhelm Esslinger – Otto Feldheim – Ludwig Feuchtwanger – Max Feuchtwanger – Sigbert Feuchtwanger – Karl Feust – Martin Flaschner – Justin Fleischmann – Fritz Forchheimer – Emil Fränkel – Heinrich Frankenburger – Leopold Frei – Friedrich Freudenreich – Martin Friedenreich – Max Friedländer – Hans Fröhlich – Max Gardé – Arthur Gern – Hermann Gerstle – Oskar Gerstle – Ludwig Goldmann – Albert Goldschmidt – Friedrich Goldschmidt – Jakob Goldschmidt – Ernst Gottscho – Friedrich Guggenheim – Eugen Gunz – Josef Gunzenhäuser – Stefan Gutmann – Salomon Hähnlein – Isidor Harburger – Ludwig Haymann – Julius Heilbronner – Herbert Heinemann – Robert Held – Felix Herzfelder – Franz Herfelder – Max Hirschberg – Siegfried Holzer – Konrad Homberger – Herbert Jacobi – Alfred Jacoby – Hugo Jacoby – Siegfried Jacoby – Ferdinand Kahn – Fritz Kahn – Maximilian Kahn –

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Willy Kahn – Wilhelm Jakob Kahn – Albert Kann – Heinrich Kastor – Ignatz Katz – Adolf Kaufmann – Wilhelm Kitzinger – Fritz Klopfer – Sally Koblenzer – Arthur Königsberger – Felix Königsberger – Elisabeth Kohn – Jakob Kohnstamm – Emil Krämer – August Kronbacher – Ludwig Kurzmann – Emil Landecker – Willy Lederer – Leo Lemle – Wilhelm Levinger – Ludwig Levy – Benno Löffel – Julius Robert Löwenfeld – Philipp Löwenfeld – Karl Löwenstein – Siegfried Löwentritt – Arthur Luchs – Adolf Lustig – Max Mahler – Oskar Maron – Adolf Mayer – Arthur Mayer – Eugen Meyer – Hans Erich Mohr – David Mosbacher – Kurt Mosbacher –Sigmund Neu – Ary Neuburger – Fritz Siegfried Neuburger – Wilhelm Neuburger – Siegfried Neuland – Robert Neumark – Albert Oppenheimer – Ernst Oppenheimer – Siegfried Oppenheimer – Max Pereles – Alfred Perlmutter – Max Prager – Hermann Raff – Meinhold Rau – Ludwig Regensteiner – Franz Reinach – Heinrich Reinach – Fritz Reis – Walter Rheinheimer – Heinrich Rheinstrom – Leopold Rieser – Alfred Rosenberg – Paul Rosenberg – Julius Rosenbusch – Erich Rostousky – Hugo Rothschild – Moritz Schlesinger – Eugen Schmidt – Josef Schnaier – Friedrich Schnell – Adolf Schülein – Benno Schülein – Fritz Schulmann – Robert Schulmann – Felix Schwarz – Ernst Seidenberger – Reinhold Seligmann – Anna Selo – Alfred Selz – Julius Siegel – Michael Siegel – Fritz Silber – Emil Silbermann – Hans Silberschmidt – Josef Sinn – Karl Sonnenthal – Sigmund Steinharter – Kurt Steinmeier – Walter Steppacher – Adolf Stern – Alfred Strauß – Eugen Strauß – Elias Strauß – Hans Taub – Robert Theilhaber – Herbert Thomé – Arthur Teutsch – Robert Teutsch – Alfred Toussaint – Fritz Vogel – Alfred Wachsmann – Hans Weil – Josef Weil – Leo Weil – David Weiler – Leopold Weinmann – Arnold Weisbach – Jakob Weisbart – Jakob Weitzfelder – Alfred Werner – Simon Wertheimer – Robert Wetzler – Siegbert van Wein – Richard Wolf – Felix Zedermann München, den 30. November 1998.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Justizpalast kam auf das ehemalige Gelände des Herzoggartens und des ClemensSchlösschens, das zuletzt als Soldatenunterkunft diente und 1890 dem Neubau weichen musste. Dieser entstand während der Amtszeit des Prinzregenten Luitpold in den Jahren 1890–1897 nach den Plänen des Architekten und Professors der Baukunst an der Technischen Hochschule München, Friedrich Ritter von Thiersch (1852–1952). Der Bau zählt kunsthistorisch zu einem der bedeutendsten Bauten des ausgehenden Historismus. Der prächtige viergeschossige Monumentalbau wird von einer Eisen-Glas-Kuppel überragt und ist mit reichem Figurenschmuck ausgestattet. Das freistehende Gebäude entwickelt nach Osten zum Lenbachplatz einen vorgewölbten Gebäudeteil mit ausgeprägter Plastik. Dieser reichhaltige Figurenschmuck setzt sich im südlichen Mittelbau fort. Dort befindet sich über den Mittelfenstern im Giebelfeld eine Figurengruppe, die Unschuld, Gerechtig-

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keit und Laster symbolisieren. Im Zentralbau befinden sich ein groß angelegter Lichthof, Bibliotheks-, Repräsentations- und Schwurgerichtssaal. Hier fanden in der NS-Zeit Prozesse vor dem Volksgerichtshof statt. Durch Bomben entstanden im Dezember 1944 und im Januar 1945 erhebliche Gebäudeschäden. Der Wiederaufbau nach dem Krieg erfolgte in den 60er Jahren weitgehend nach den Plänen des Architekten Friedrich von Thiersch. Diese Arbeit konnte Ende 1988, nach vorausgegangener Innenrenovierung (1977–1982), mit der Sanierung der Fassaden abgeschlossen werden. Der Justizpalast war für die gesamte Münchner Justiz konzipiert. Heute beherbergt das Haus das Bayerische Staatsministerium der Justiz und Teile des Landgerichts München I. Jüdische Anwälte in Deutschland nach 1933 Der Vorsitzende des NS-Juristenbundes und bayerische Justizminister beabsichtigte, wie sein preußischer Kollege Kerrl, die Entfernung aller Juden aus der Justiz. So hatten die Justizminister der Länder am 1. April 1933 alle jüdischen Richter, Staats- und Amtsanwälte beurlaubt. Richter „nichtarischer Abstammung“ konnten ohne nähere Begründung aus „dienstlichen Notwendigkeiten“ versetzt oder in den „vorzeitigen Ruhestand“ entlassen werden. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933“ hatte nach einem „Erlaß des Preußischen Justizministers zur Entfernung jüdischer Richter und Rechtsanwälte“ geführt. Gleichzeitig galt das Verbot, die Gerichtsgebäude weiterhin zu betreten. Im Oberlandesgerichtsbezirk München verloren aufgrund dieses Gesetzes 50 Amtspersonen, einschließlich der beiden Anwältinnen Dr. Elisabeth Kohn (siehe S. 74-75) und Anna Selo (*1896 – ?), ihre Zulassung. Anfang 1933 waren im Oberlandesgerichtsbezirk 225 jüdische Rechtsanwälte zugelassen. Der Anwaltskammer München gehörten 208 Anwälte jüdischer Herkunft an. 205 von ihnen waren in München zugelassen.122 In Berlin war etwa die Hälfte der Anwälte vom Erlass am 7. April 1933 betroffen. Die Gleichschaltung der Justiz führte dazu, dass sich die richterlichen Berufsverbände in den „Bund nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ einzugliedern hatten. Bis zum 30. Mai 1933 war die Gleichschaltung der gesamten Richtervereine vollzogen.123 Im Berliner Kriminalgericht Moabit war es so genannten „Berichterstattern kommunistischer Richtung“ und „Juristen jüdischer Abstammung“ verboten, das Gerichtsgebäude zu betreten. Bei Nichtbefolgung drohte eine Klage wegen Hausfriedensbruch.124 122 123 124

Dr. Reinhard Weber, in der Wanderausstellung „Anwalt ohne Recht“. Ortner, Helmut (1993): Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers: 75–77 Haber, Fritz: (1995): Briefe an Richard Willstätter: 23

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Der Münchner Rechtsanwalt Dr. Michael Siegel (*1882 †1979) hatte sich Anfang April 1933 für einen in „Schutzhaft“ genommenen Klienten im Polizeipräsidium eingesetzt. Als Strafe dafür schnitt ihm die SS die Hosenbeine ab und trieb ihn barfuß durch die Kaufingerstraße. Dabei musste er ein Schild mit folgender Aufschrift tragen: „Ich werde mich nie wieder bei der Polizei beschweren!“ Siegel gelang noch 1940 die Flucht nach Peru, wo er 1979 verstorben ist. Judenpogrom In einem Fernschreiben aus Berlin vom 9. November 1938 / Nr. 234 404 forderte man alle Staatspolizei-Stellen und Leitstellen unter der Ziffer 3 auf, die Festnahmen von etwa 20000 bis 30000 Juden vorzubereiten; vor allem „sind vermögende Juden auszuwählen.“125 In München wurden in diesem Zusammenhang etwa 1000 jüdische Männer festgenommen, unter ihnen befanden sich 60 der bereits 1933 entrechteten jüdischen Rechtsanwälte, die trotzdem ihren Beruf weiter ausgeübt hatten (siehe Band 2: Gräber der NSOpfer auf dem Alten Israelitischen Friedhof). Auf dem Transport in das KZ Dachau kam Leopold Rieser ums Leben. Dr. Gustav Böhm nahm sich dort das Leben, Dr. Karl Feust starb an den im KZ erlittenen Misshandlungen. Mit der Verordnung Reichsgesetzblatt (RGB)1 I 1938, 1403 vom 30. November 1938 schloss man die in der Anwaltschaft zugelassenen Rechtsanwälte von der Rechtsanwaltskammer aus. Von dieser Regelung konnten die so genannten Altanwälte mit einer Zulassung vor dem 1. August 1914 befreit werden, ebenso die Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs. Im Oberlandesgerichtsbezirk München waren davon etwa 200 zugelassene und 55 bereits entlassene Rechtsanwälte betroffen, was einem Gesamtanteil von 38 Prozent entspricht.126 In München entfernte man aus den amtlichen Listen zuerst die jüdischen Rechtsanwälte, die der SPD angehörten. Zu ihnen zählte auch Max Hirschberg, der am 10. März 1933 für fünfeinhalb Monate festgenommen wurde.127 Er konnte im April 1934 nach Italien emigrieren. Einzelne Beispiele Dr. Otto Feldheim (3.10.1884 Bamberg – ?) Er hatte gemeinsam mit Hugo Rothschild und Anton Doll eine Kanzlei in der Müllerstraße 54/I. Seine Wohnung befand sich in der Frauenlobstraße 24. Er war verheiratet mit Alice Rosenthal; zusammen hatten sie eine Tochter. 1938 wurde ihm die Zulassung entzogen. 125 126 127

Schoenberner, Gerhard (1992): Der gelbe Stern: 21 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg. Jude und Demokrat: 28 Freisleder: Süddeutsche Zeitung Nr. 100 v. 9.9.1998. Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 278 ff

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Dr. Otto Feldheim emigrierte im April 1939 nach New York.128 Dr. Ludwig Feuchtwanger (1885–1947) Der Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger (siehe Band 1: Feuchtwanger) arbeitete von 1915–1933 als Rechtsanwalt in München und von 1914 bis 1936 als Lektor; 1915 wurde er Direktor des Verlags Duncker und Humblot. 1939 emigrierte Feuchtwanger nach England (Winchester). Sein Nachlass befindet sich im Leo-Baeck-Institut, New York.129 Dr. jur. Karl Feust (1887–1938) Der Münchner Rechtsanwalt war nach dem Pogrom in das KZ Dachau eingeliefert worden und ist dort an den Folgen seiner Misshandlung gestorben130 (siehe Band 2: Israelitischer Friedhof). Martin Friedenreich (1887–1962) Er war seit 1924 Rechtsanwalt in München. 1935 emigrierte er nach Paris. Nach 1945 erhielt er in München die Wiederzulassung.131 Dr. jur. Max Friedlaender (1873–1956) Seit 1899 Rechtsanwalt in München.132 Er gehörte zu den angesehensten deutschen Juristen, war Mitbegründer des Bayerischen Anwaltsvereins und viele Jahre Vorstandsmitglied der Münchner Anwaltskammer.133 Er flüchtete am 11. November 1938 über die Schweiz nach England. Dr. jur. Hans David Fröhlich (1895–1980) Seit 1924 Rechtsanwalt in München. Er meldete sich 1936 nach Mailand ab und übersiedelte 1939 zusammen mit seiner Ehefrau Margarete Fröhlich, geb. Jacoby (*1898) in die USA.134 Dr. Arthur Gern (1884–1941) Sein Studium absolvierte er in München und Berlin. Im Ersten Weltkrieg diente er als Leutnant der Reserve. Gemeinsam mit Theodor Stern hatte er eine Kanzlei in der Reichenbachstraße 1/II und wohnte in der Fraunhoferstraße 4. Dr. Gern war mit Elisabeth Ehrlich verheiratet und hatte drei Söhne: Ernst, Helmut und Karl. Sein Spezialgebiet war das 128 129 130 131 132 133 134

Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 270 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 42 StAM, AG München NR 1938/3930 u. Polizeidirektion München 12306. In: Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 290 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 283 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: 78. In: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (1993): 555–569 Haas, E. (1993). In: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 111 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 307

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Grundbuchrecht. Er wurde am 20. November 1941 deportiert und am 25. November in Kaunas ermordet.135 Friedrich Goldschmidt (1871 Ludwigshafen – 1938 München) Der Justizrat nahm sich am 4. Dezember 1938 mit einer Überdosis Veronal das Leben.136 Dr. jur. Felix Herzfelder (1863 Speyer – 1944 Istanbul) Der Geheimrat emigrierte mit seiner Ehefrau Emma, geb. Oberndoerfer (*9.5.1873) nach Istanbul und starb dort im Oktober 1944.137 Dr. Max Hirschberg (13.11.1883 München – 21.6.1964 New York) Rechtsanwalt in München seit 1919. Er emigrierte 1934 über die Schweiz nach Italien und 1939 weiter in die USA.138 Dr. jur. Hugo Jacoby (1869–1935) Seit 1896 Rechtsanwalt in München. Dr. jur. Siegfried Jacoby (1865–1935) Seit 1893 Rechtsanwalt in München.139 Adolf Kaufmann (1883–1933) Rechtsanwalt in München seit 1911 und Mitglied der SPD. Er war in den zwanziger Jahren geschäftsführender Direktor der Münchner Kammerspiele, emigrierte 1933 nach Wien und ist dort verstorben.140 Sally Koblenzer (1876–1953) Seit 1903 Rechtsanwalt in München. 1938 verlor er die Zulassung aus rassischen Gründen und emigrierte deshalb nach England.141 Dr. jur. Elisabeth Kohn (11.2.1902 München – 25.11.1941 Kowno) Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in München studierte Elisabeth Kohn als eine der wenigen Frauen an der Universität München Rechtswissenschaften. Nach der Promotion am 24. Juli 1924 entschied sie sich für den höheren Justiz-Verwaltungsdienst. Seit dem 7. November 1928 war sie als Rechtsanwältin bei den Landgerichten München I 135 136 137 138 139 140 141

Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 271 Zitiert nach: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 141 Zit. nach: Heusler, A. / Weger, T. (1998): „Kristallnacht“: 110f Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 278ff Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 78 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 136 StAM, Polizeidirektion München 14604 u. Oberlandesgericht (OLG) München 704 In: Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 78

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und II und beim Oberlandesgericht München zugelassen.142 Elisabeth Kohn war Mitarbeiterin in der Anwaltskanzlei bei Dr. Max Hirschberg und Philipp Löwenfeld. Nach dem Berufsverbot 1933 erfolgte am 5. August 1933 die Aufhebung ihrer Zulassung. Danach war sie als Fürsorgerin bei der Israelitischen Kultusgemeinde tätig.143 Im sozialen Bereich engagierte sich Dr. Elisabeth Kohn für die „Liga der Menschenrechte“ und im politischen Bereich für die SPD. Ihrer Schwester und Mutter zuliebe verzichtete sie auf die Emigration.144 Ihre Schwester, Marie Luise Kohn (25.1.1904 München – 25.11.1941 Kowno), Malerin, Graphikerin und Bühnenbildnerin mit dem Künstlernamen „Maria Luiko“, arbeitete für das Marionettentheater im Jüdischen Kulturbund. Der Historiker Schalom Ben Chorin beschrieb sie „als überaus sensible junge Frau mit verträumten großen schwarzen Augen.“145 1924 entwarf sie Dekoration und Masken zu Franz Werfels Paulus unter den Juden. Am 20. November 1941 wurde Elisabeth Kohn zusammen mit ihrer Schwester Marie Luise und ihrer Mutter Olga deportiert und am 25. November 1941 in Kowno (siehe Band 2: Judendeportation) ermordet.146 Dr. Willy Lederer (24.10.1885 – 12. 4.1940) Der Münchner Rechtsanwalt, der seit 1933 Wohnung und Kanzlei in der Ruffinistraße 23 hatte, setzte seinem Leben selbst ein Ende.147 Philipp Löwenfeld (1887–1963) Er war Rechtsanwalt in München, engagierter Sozialdemokrat und mit Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner) befreundet. Emigrierte 1933 in die Schweiz und von dort 1938 nach USA. Seine unveröffentlichten Erinnerungen befinden sich im Leo-Baeck-Institut, New York.148 Karl Löwenstein (1891–1973) Der Jurist und Politologe war von 1919 bis 1933 als Rechtsanwalt in München tätig und dozierte von 1931 bis 1933 an der Universität München. 1933 emigrierte Karl Löwenstein in die USA und wurde dort Professor in Yale und Amherst. 1945/46 war er Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS). 1956/57 übernahm Karl Lö142 143 144 145 146

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Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 36 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 36 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 37 Ben Chorin, Schalom (1982): Jugend an der Isar. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage: 297–298 Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt: 34– 37. Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 56. Zitiert in: Löwenthal, Ernst G. (Hrsg.) (1965): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch: 103–105 Ulrich, Herta / Baumann, Günther (1993): Jüdische Schicksale aus Neuhausen: 153 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat:131

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wenstein eine Gastprofessur in München.14950 Dr. jur. Fritz Neuburger (1884–1945) Rechtsanwalt in München.150 Dr. jur. Siegfried Oppenheimer (20.2.1893 München – 25.11.1941 Kowno)151 Dr. jur. Ludwig Regensteiner (1893–1976) Der seit 1919 in München tätige Rechtsanwalt meldete sich 1940 in die Dominikanische Republik ab.152 Dr. jur. Walter Rheinheimer (6.7.1906 Pirmasens – 25.11.1941 Kowno) Er wohnte von 1940 bis 1941 in der Müllerstraße 14b und wurde am 20. November 1941 nach Kaunas deportiert.153 Prof. Dr. jur. Heinrich Rheinstrom (1884–1960) Der Rechtsanwalt und Notar in München hatte bis 1933 zusätzlich eine Honorarprofessur für Finanzwirtschaft und Steuerrecht an der Technischen Hochschule München inne. Von 1933 bis 1936 führte er Kanzleien in Paris und London und übte von 1936 bis 1939 eine Lehrtätigkeit in Paris aus. 1937 erfolgte seine Ausbürgerung aus rassischen Gründen. Er emigrierte 1939 in die USA. Verheiratet war er mit Clairisse Niedermeier (*1891).154 Professor Rheinstrom war Rechtsberater des Kunstsammlers und Mäzens Dr. James Loeb (siehe Band 2: Loeb). Hugo Rothschild (15.2.1875 München – 13.2.1945 KZ Dachau) Gemeinsam mit Otto Feldheim und Anton Doll hatte er eine Kanzlei in der Müllerstraße 54/1. Stock. Er war verheiratet mit Emma Boltshauser und hatte zwei Kinder: Erna und Fritz Erich. 1931 ist Rothschild aus dem Judentum ausgetreten. Er starb im KZ Dachau.155 Dr. jur. Fritz Silber (1.8.1899 München – 1983 München) Gemeinsam mit Felix Schnauth hatte er eine Kanzlei am Frauenplatz 10/3. Stock, wo er auch von 1929 bis 1933 wohnte. Von 1933 bis 1935 lebte Fritz Silber in der Müllerstraße 3/2. Stock. Er war verheiratet mit Ella Gundersheimer und hatte drei Kinder: Walter Erich, Ernst Gerhard und Manfred. Im Ersten Weltkrieg diente er im Ersten Infanterieregiment 149 150 151 152 153 154 155

Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 264 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 70 Deportationsliste in der Ausstellung: „... verzogen, unbekannt wohin“. November 2000 im Neuen Rathaus München Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 137 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 271 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 84, 76 Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat: 271

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München. Silber emigrierte im Juni 1941 mit seiner Familie nach New York.156 Dr. jur. Alfred Strauß (30.8.1902 München – 24.5.1933 KZ Dachau) Er war seit 1928 als Rechtsanwalt in München tätig. Am 24. Mai 1933 wurde er im KZ Dachau ermordet. (siehe Band 2: Israelitischer Friedhof - Alt)157 Dr. Robert Theilhaber (14.10.1881 Bamberg – ?1942 Auschwitz) Robert Theilhaber lebte sei 1888 in München. Seit 24. März 1933 wohnte er in der Löfftzstraße 5/3. Stock. Als Rechtsanwalt hatte er eine Kanzlei am Promenadeplatz 10/2. Stock. Er emigrierte am 1. August 1939 nach Paris. Von dort kam er 1940 in ein Internierungslager in Südfrankreich und danach in das Vernichtungslager Auschwitz, wo er ermordet wurde. Seine in München zurückgebliebenen Eltern, Dr. Adolf Theilhaber und Therese, geborene Cohen, waren unter den Deportierten vom 20. November 1941, die am 25. November 1941 in Kowno ermordet wurden.158 Alfred Werner (1891–1965) Der seit 1919 als Rechtsanwalt in München tätige A. Werner emigrierte 1933 nach Frankreich und von dort nach England und Palästina. Nach seiner Rückkehr 1953 war er Rechtsanwalt in Düsseldorf.159 Ausstellungen 13. März – 30. April 2000: Schicksal (un)bekannt. Ein Kunst- und Ausstellungsprojekt konzipiert von Wolfram Kastner. Gezeigt in der Münchner Christuskirche und vom 7. Mai – 31. Mai 2000 in der KZ-Gedenkstätte Dachau. 23. November – 24. Dezember 2000: ... verzogen, unbekannt wohin. Die erste Deportation Münchner Juden im November 1941. Konzipiert vom Stadtarchiv München und der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Rathaus München. 4. Oktober – 2. November 2001: Anwalt ohne Recht. Schicksale jüdischer Anwälte in Deutschland nach 1933. Dokumentation einer Ausgrenzung. Eine Wanderausstellung des Deutschen Juristentages e. V. und der Bundesrechtsanwaltskammer. Gezeigt von der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk München im Justizpalast Mün156 157

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Picht, Barbara (1994): Lebenswege: 273; vgl. auch Dr. jur. Fritz Silber. In: Bokovoy, D. / Meining, S. (Hrsg.): Versagte Heimat: 293–302 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 290. In: Heinrich, R. (1979): 100 Jahre Rechtsanwaltskammer in München: 119. In: Göppinger, H. (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“: 62 f Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Kastner, Wolfram (2000): Schicksal (un)bekannt: 56 Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat: 148

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chen (Lichthof), Prielmayerstraße 7. Die Ausstellung hatte bis zum Frühjahr 2001 Station gemacht in Heidelberg, Darmstadt und Bochum. Bis Anfang des Jahres 2003 wird die Ausstellung u. a. in folgenden Städten gezeigt: Freiburg, Schwerin, Nürnberg, München, Ravensburg, Köln, Celle, Stuttgart, Mainz, Erfurt, Potsdam, Kiel und Hamburg. Literatur Benz, Wolfgang (1993): Von der Entrechtung zur Verfolgung und Vernichtung. In: Heinrichs, H. C. / Franzki, H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag, München Bokovoy, Douglas / Meining, Stefan (1994): Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914–1945. Eine Veröffentlichung der Forschungsstelle deutsch-jüdischer Zeitgeschichte e. V. Verlag Dr. Peter Glas, München Göppinger, Horst (1990): Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich“. Entrechtung und Verfolgung. München Grosshut, Friedrich S. (1962): Staatsnot, Recht und Gewalt. Nürnberg Gruchmann, Lothar (1988): Justiz im Dritten Reich. 1933–1940. München Haber, Fritz (1995): Briefe an Richard Willstätter 1910–1934. Hrsg. v. Petra Werner und Angelika Irmscher. Verlag f. Wissenschaft u. Regionalgeschichte, Dr. Michael Engel, Berlin Heinrich, Robert (1979): 100 Jahre Rechtsanwaltskammer in München. Festschrift. München Heinrichs, H. C. / Franzki H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag, München Heusler, Andreas / Weger, Tobias (1998): „Kristallnacht“. Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938. Buchendorfer Verlag, München Kastner, Wolfram (Hrsg.) (2000): Schicksal (un)bekannt. Ein Kunst- und Ausstellungsprojekt. München, Dachau. Eigenverlag Krach, Tillmann (1991): Jüdische Rechtsanwälte in Preußen. Über die Bedeutung der freien Advokatur und ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus. Berlin Ladwig-Winters, Simone (1998): Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933. Hrsg. v. d. Rechtsanwaltskammer Berlin. be.bra verlag, Berlin-Brandenburg Löwenthal, Ernst G.(Hrsg.) (1965): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch. Stuttgart Ophir, Z. Baruch / Wiesemann, Falk (1979): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München 1918–1945. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 473 Ortner, Helmut (1993): Der Hinrichter. Roland Freisler. Mörder im Dienste Hitlers. Zsolnay Verlag, Wien Pförtner, Jasmin (2000): Spurensuche. In: Schicksal (un)bekannt. Ein Kunst- und Ausstellungsprojekt. München, Dachau. Eigenverlag Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941. Pendo Verlag, Zürich, München Weber, Reinhard (1998): Max Hirschberg: Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchner Rechtsanwalts 1883–1939. Biographische Quellen zur Zeitgeschichte. Band 20. Hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München von Werner Röder und Udo Wengst. Oldenburg Verlag, München Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen in München. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 323–327 Wiesemann, Falk (1975): Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtergreifung in Bayern 1932/33. Berlin

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„Jüdisches Sammellager“ Berg am Laim

Mahnmal für das „Jüdische Sammellager“ Foto: A. Olsen

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Mahnmal Clemens-August-Straße, Berg am Laim Michaelibad U2, Bus 137 M (1987) ANLASS UND ENTSTEHUNG Oberstudienrat Erich Kasberger, vom nahe des Mahnmals gelegenen Michaeli-Gymnasiums, erstellte 1985 mit einer 10. Klasse eine erste Dokumentation über die „Heimanlage für Juden Berg am Laim“. Dies geschah im Rahmen eines Geschichtswettbewerbes der Landeshauptstadt München zum Thema „Nationalsozialistische Gewaltherrschaft und ihre Folgen“. Mit der Unterstützung des Bezirksausschuss-Vorsitzenden Hermann Weinhauser ging an die Landeshauptstadt München am 28. Mai 1985 der Antrag, eine Gedenktafel bzw. ein Mahnmal anzubringen. Der Entwurf des Bildhauers Nikolaus Gerhart wurde aus drei weiteren eingereichten Vorschlägen ausgewählt. Die Einweihung fand am 7. Juli 1987 durch den zweiten Münchner Bürgermeister Dr. Klaus Hahnzog statt. KURZBESCHREIBUNG Das Portal aus Naturstein blieb erhalten, als in den achtziger Jahren der Nordflügel des alten Klostergebäudes abgebrochen wurde. Es war Bestandteil der „Heimanlage für Juden Berg am Laim“, die als Sammelstelle für die zur Deportation bestimmten Juden galt. Hier war der Startpunkt des grausamen Weges, den sie gezwungen wurden zu gehen. Das Mahnmal symbolisiert die ausweglose Situation, der die Menschen damals ausgesetzt waren. Heute ist das Portal durch einen schweren, in der unteren Hälfte quer zum Durchgang perforierten Granitquader (1,5 m × 1,9 × 1,0 m) verstellt; sein enormes Gewicht soll das brutale Ausmaß des NS-Verbrechens verdeutlichen. Auf der Vorderseite des Blockes wurden der Davidstern und die Jahreszahlen 1941–1943 eingraviert. Eine daneben angebrachte Bronzetafel weist auf das Mahnmal hin: „Als Mahnung und zur Erinnerung an das Sammellager für jüdische Bürger in den Jahren 1941– 1943.“ so die Inschrift. Ergänzend dazu wurde in der Nähe eine Gedenktafel zur Erinnerung an Dr. Else BehrendRosenfeld (siehe Band 1: Behrend-Rosenfeld) angebracht. INTENTION DES KÜNSTLERS Nikolaus Gerhart interpretiert das von ihm geschaffene Mahnmal in einem Schreiben vom 11. Mai 1986: Der Steinbogen des Tores, der bereits Bestandteil des Mahnmales ist, kann

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so nicht genutzt werden, „denn er war Zeuge vom Ein- und Ausgehen hilfloser, todahnender Menschen. Der Durchgang wird von einem vorgestellten Granitblock unpassierbar gemacht.“ Der durch den Block verlaufende „Hohlraum läßt somit eine Verbindung vom Steinblock zum freistehenden Portal erkennen“.160 GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Nach der seit dem Frühjahr 1941 bestehenden „Judensiedlung Milbertshofen“ wurde im Juli desselben Jahres im Klosterbau der Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz und Hl. Paul in Berg am Laim, St. Michael-Straße 16, auf zwei Etagen eine so genannte „Heimanlage für Juden“ eingerichtet. In 38 Zimmern konnten 275 bis 300 Personen untergebracht werden. Am 31. Dezember 1941 betrug die Belegzahl in der „Heimanlage“ 222 Personen.161 Die Kosten für Unterbringung und Verpflegung hatten die Insassen selbst zu tragen, für die Ausstattung musste die Israelitische Gemeinde München aufkommen. Else Behrend-Rosenfeld, die zuvor zur Zwangsarbeit in einer Flachsfabrik in Lohhof verpflichtet war, übernahm im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde die Wirtschaftsführung des Heimes. Obwohl den Klosterschwestern von der Gestapo, die das Heim kontrollierte, jeder Kontakt mit den neuen Bewohnern untersagt war, zeichneten sie sich durch Hilfsbereitschaft und Solidarität den verfolgten Menschen gegenüber aus. „Wir alle sind hier draußen wie von einem Druck befreit, der in der Stadt ständig auf uns lag ... die stets gleichen freundlichen Gesichter der Nonnen, ... und das wohlwollende Bewußtsein, von ihnen nicht gehaßt und verachtet, sondern mit schwesterlicher Zuneigung betrachtet zu werden, bedeutet eine große Entlastung“162, so schrieb Else Behrend-Rosenfeld. Doch weiterer Zuzug bis zur Vollbelegung mit 320 Personen und immer neue Repressalien erschwerten die Lebensumstände erheblich. „Wir bekamen Bescheid, daß von jedem Insassen pro Tag fünfzig Pfennig für das Wohnen zu zahlen seien. ... Das ganze Mietgeld muß jeden Freitag mit der genauen Aufstellung der Insassenzahl in die Widenmayerstraße gebracht werden, zusammen mit dem Küchenzettel für die kommende Woche, den ich zu machen habe.“163 Am 6. November 1941 setzten die Vorbereitungen für die ersten Transporte von deutschen Juden nach Riga, Minsk und Kowno ein; sie führten direkt in den Tod. Vom ersten Transport von München aus, am 20. November 1941 mit 999 Personen nach Riga164, gab es keine Überlebenden. „– Und von keinem von allen, die deportiert wurden, ist je wieder eine Nachricht gekommen,“ bezeugte Else Behrend-Rosenfeld, die viele persönliche Schick160 161 162 163 164

Brief vom 11.5.1986 an das Städt. Baureferat, Hochbau I der Landeshauptstadt München. Dokument: 20. Zitiert in: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“, o. S. Behrend-Rosenfeld, Else Dr. (1988): Ich stand nicht allein: 114 Behrend-Rosenfeld, Else Dr. (1988): Ich stand nicht allein: 119 Wegen Überfüllung des dortigen Ghettos wurde der Transport nach Kowno umgeleitet.

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sale beschrieben hat. In der „Heimanlage für Juden“ waren 83 Personen für die erste Deportation bestimmt: „Jeder sollte für drei Tage Proviant bekommen, an Gepäck durfte jeder fünfzig Kilogramm mitnehmen, verteilt auf je einen Koffer, einen Rucksack oder eine Reisetasche und eine Deckenrolle. Keiner der Beteiligten durfte bis zum Abtransport ins Sammellager das Heim verlassen.“165 In einem Brief des Rabbiners und Heimbewohners Bruno Finkelscherer vom 30. November 1942 an den Oberlandesgerichtsrat Alfred Neumeyer sind 171 Heiminsassen genannt.166 An Finkelscherers Schicksal, der seit 1940 die Stellung des Gemeinderabbiners Leo Baerwald167 übernommen hatte, kann die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung Münchner Juden exemplarisch aufgezeigt werden. Zuerst musste er aus der elterlichen Wohnung in der Arcostraße 3 in das Schulhaus Herzog-Rudolf-Straße umziehen und von dort in die „Heimanlage Berg am Laim“.168 Da er seit Juli 1942 Zwangsarbeit leistete und nebenher die Beerdigung verstorbener Gemeindemitglieder auf dem Neuen Israelitischen Friedhof vornahm, hatte er den sieben Kilometer langen Weg dorthin zu Fuß zurückzulegen, da Juden keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen durften.169 Bruno Finkelscherer kam am 13. März 1943 in das KZ-Auschwitz170 und musste trotz eines Beinbruchs in einem Brunnenkommando arbeiten; er starb am 5. April 1943. Bei der Auflösung des „Judenlagers Milbertshofen“ wurden am 19. August 1942 die letzten 16 Insassen in die so genannte „Heimanlage Berg am Laim“ gebracht, die noch bis zum 1. März 1943 existierte. Die dort verbliebenen Heiminsassen (circa 40 Personen) kamen dann in das Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde in der Lindwurmstraße 125. Ein weiteres Sammellager befand sich auf dem Gelände der Flachsröste Lohhof bei Unterschleißheim. Dort waren in einer Holzbaracke 80 jüdische Zwangsarbeiterinnen bis zum 23. Oktober 1942 untergebracht. Nach der Auflösung des Lagers kamen 60 polnische Jüdinnen zur Firma Christian Dierig AG nach Augsburg.171

165 166 167 168 169 170

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Behrend-Rosenfeld, Else (1988): Ich stand nicht allein: 125 Finkelscherer, Bruno. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage: 459 (1883–1970) lebte von 1898 bis 1940 in München wo er seit 1911 Rabbiner war. Finkelscherer, Bruno. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage: 461 Löwenthal, E. G. (1965): 48. Auch in: Weger, Tobias (1999): Die Synagoge in der Lindwurmstraße: 200 StadtAM Verzeichnis der am 13.3.1943 nach Auschwitz deportierten Personen (erstellt von der IKG München, 1951).Weger, Tobias (1999): Die Synagoge in der Lindwurmstraße. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (1999): Beth ha-Knesseth: 200 Dokument: 21. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (2000): „... verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941.

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Ausstellung 14. Februar – 11. März 2001: Oneg Schabbat. Dokumente über das Warschauer Ghetto des Jüdischen Historischen Instituts Warschau. Konzipiert von der Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur in München. Gezeigt in der Bayer. Staatskanzlei am Franz-JosefStrauß-Ring 1, München. Literatur Behrend-Rosenfeld, Else (1988): Ich stand nicht allein. Leben einer Jüdin in Deutschland 1933–1944. C. H. Beck Verlag, München Gerhard, Nikolaus (1986): Brief vom 11.5.1986 an das Städt. Baureferat Hochbau I der Landeshauptstadt München Heusler, Andreas (1995): Vertreibung. Deportation. Vernichtung. Jüdische Schicksale in München 1933– 1945. Hrsg. v. Stadtarchiv München. München Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1993/ 94. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Kasberger, Erich (1993): „... zur Erinnerung und als Mahnung“. Die Errichtung eines Mahnmals in München Berg am Laim. In: Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.) (1993): Didaktische Arbeit in KZGedenkstätten. Erfahrungen und Perspektiven. Druckhaus Coburg: 37–42 Landeshauptstadt München (Hrsg.) (1987): Verdunkeltes München. Die Gewaltherrschaft und ihre Folgen. Geschichtswettbewerb 1985/86. Buchendorfer Verlag, München Löwenthal, E. G. (1965): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch. Stuttgart Ophir, Baruch Z. / Wiesemann, Falk (1958): Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinde in München 1918–1945. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen, Müller Verlag, München, Wien: 462–494 Stadtarchiv München (Hrsg.) (1999): Beth ha-Knesseth – Ort der Zusammenkunft. Zur Geschichte der Münchner Synagogen, ihrer Rabbiner und Kantoren. Buchendorfer Verlag, München. Weger, Tobias (1999): Die Synagoge in der Lindwurmstraße 125. In: Stadtarchiv München (Hrsg.) (1999): Beth ha-Knesseth. Ort der Zusammenkunft: 196–200

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Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim „Noch gestern hat er vier zum Strick verdammt, und heute liegt er tot in den Ruinen, wird keinen mehr zu Strang und Beil bedienen, ein Haufen Trümmer ist sein ganzes Amt.“ Albrecht Haushofer172

Mahnmal in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim Foto: A. Olsen

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Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim Stadelheimer Straße 12, Giesing Schwanseestraße (Endstation) Tram 27 M (1963, 1970, 1973) In der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim (JVA) gibt es vier Gedenkstätten mit folgenden Gründungsjahren: I. 1963: Gedächtnisstätte in der Kapelle der Anstaltskirche II. 2. Juli 1970: Gedenkraum in der Kapelle der Anstaltskirche III. 1973: Mahnmal, integriert in die erweiterte Gefängnisanlage IV. 1973: Erinnerungsort zur Hinrichtungsstätte in der JVA München-Stadelheim Die Gedenkstätten I, II und IV sind für Besucher nicht öffentlich zugänglich. Zu I. 1963: Gedächtnisstätte in der Kapelle der Anstaltskirche KURZBESCHREIBUNG Im Vorraum der Anstaltskirche der JVA München-Stadelheim befinden sich Kruzifix und Betstuhl aus den ehemaligen Todeszellen. Zu II. 2. Juli 1970: Gedenkraum in der Kapelle der Anstaltskirche KURZBESCHREIBUNG Die Gedächtnisstätte in der Kapelle wurde zu einem Gedenkraum erweitert, der mit einer Wandinschrift an die Opfer mit folgender Aufschrift erinnert: „Den Opfern der Gewaltherrschaft von 1933–1945 zum Gedenken.“

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Albrecht Haushofer (1904–1945) war Professor für Geographie und Geopolitik in Berlin, der einem Kreis Intellektueller gegen den Nationalsozialismus angehörte und Kontakte zu der Widerstandsgruppe vom 20. Juli pflegte. Er kam nach dem Zusammenbruch des militärischen Widerstands in Haft und wurde in den letzten Kriegstagen erschossen. Während seiner Haftzeit entstanden Texte, die er Moabiter Sonette nannte, aus dem auch der zitierte Ausschnitt stammt. Zitiert aus seinem Gedicht Nemesis, das auf den Tod des Blutrichters Freisler anspielt.

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Zu III. 1973: Mahnmal, integriert in die erweiterte Gefängnisanlage ANLASS UND ENTSTEHUNG Im Rahmen eines Neubaues der JVA Stadelheim wurde die Gedenkstätte173 in die erweiterte Gefängnisanlage integriert. Der Freisinger Bildhauer Wilhelm Breitsameder übernahm die Gestaltung dieses Mahnmals. KURZBESCHREIBUNG Das Mahnmal befindet sich nicht am authentischen Ort der ehemaligen Hinrichtungsstätte; diese lag neben den Garagen mit einem davor befindlichen Raum, von dem aus die Gefangenen zur Hinrichtung geführt wurden. Bereits der Weg zum Mahnmal über einen fensterlosen, mit Eisengittern gesicherten, engen Gang, vermittelt das Gefühl des Gefangenseins. Der darauf folgende, im Grundriss quadratische, nach oben offene Raum (6 m × 6 m) ist mit drei Meter hohen Betonmauern umgeben. Symbolisiert liegen darauf Galgen und Guillotine aus Bronze gegossen. Aus dem Boden ragt ein Richtblock, der die Inschrift mit hervorgehobener Schrift trägt: „Den Opfern der Gewaltherrschaft von 1933–1945.“ INTENTION DES KÜNSTLERS Wilhelm Breitsameder, akademischer Bildhauer schrieb am 18. Februar 1998: „Die den Opfern der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus gewidmete Gedenkstätte versucht, Brutalität und Unmenschlichkeit dieses Terrorregimes einerseits sowie Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit der wegen ihrer Überzeugung verfolgten Widerstandskämpfer andererseits zum Ausdruck zu bringen. Die Staatsgewalt wurde denen zum Gefängnis, die sich ihr aus Gewissensgründen widersetzten. Freilich: Das Gefängnis ist nach oben hin offen – Symbol für die Freiheit und Würde des Menschen, für jenes Residuum, das wir Gewissen nennen, und das auch durch äußerste Gewalt nicht gebrochen wird.“174

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Der Urkundentext des entsprechenden Mahnmals in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee von 1952 lautet: „An dieser Stelle sind in den Jahren der Hitlerdiktatur von 1933–1945 Hunderte von Menschen wegen ihres Kampfes gegen die Diktatur für die Menschenrechte und politische Freiheit durch Justizmord ums Leben gekommen. Unter diesen befanden sich Angehörige aller Gesellschaftsschichten und fast aller Nationen ...“ In: Oleschinski, Brigitte (1995): Gedenkstätte Plötzensee: 4 Schreiben von Wilhelm Breitsameder an Helga Pfoertner.

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Zu IV. 1973: Erinnerungsort zur Hinrichtungsstätte in der JVA München-Stadelheim KURZBESCHREIBUNG Im Zuge der Erweiterungsbauten der JVA München-Stadelheim entstand über der ehemaligen Hinrichtungsstätte ein Neubau. Der ehemalige Ort ist mit einer in die Wand eingelassenen Kachel (10 cm × 10 cm) mit einem markanten durchgehenden Kreuz gekennzeichnet. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, dem der Reichstag mit Ausnahme der SPD zustimmte – die Mandate der KPD waren zuvor für ungültig erklärt worden – übertrug der Regierung das Recht der Gesetzgebung ohne parlamentarische Zustimmung. Dieses Gesetz kann als Grundlage der nationalsozialistischen Gesetzgebung angesehen werden. Damit vollzog sich der legale Umbruch von der Demokratie zur Diktatur. Die Grundrechte wie Freiheit der Person und freie Meinungsäußerung galten nicht mehr. Die Hauptziele der Nationalsozialisten waren: Sicherung und Ausweitung der Macht, Wiederaufrüstung und territoriale Expansion. Das NS-Regime entwickelte mit dem neu eingerichteten System der Konzentrationslager und dem Strafvollzug ein politisches Instrument der Unterdrückung und Ausgrenzung. In der Öffentlichkeit wurden die Gefangenen als „Berufsverbrecher“ und „Volksfeinde“ diffamiert. Ab 1933 war das Strafgefängnis in MünchenStadelheim die zentrale Haft- und Untersuchungsanstalt für so genannte politisch Kriminelle aus ganz Bayern – für Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter und Regimegegner. Die Strafjustiz spielte bei der Durchführung der nationalsozialistischen Diktatur eine besondere Rolle. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) konnte seit dem 26. April 1933 ohne gerichtliche Anordnung und auf unbestimmte Zeit Verhaftungen anordnen und die Opfer im KZ festsetzen; dies wurde auch „Schutzhaft“ genannt. Die Bildung des Volksgerichtshofs (VGH) erfolgte mit einem Gesetz vom 29. April 1934 und wurde zur „Aburteilung von Hochverrats- und Landesverratssachen“ eingesetzt.175 Von ihm, „dem gefürchteten Terrorinstrument staatlicher Unrechtssprechung“, gingen 5234 Todesurteile176 aus, von denen ungefähr 1400 in München-Stadelheim vollstreckt wurden. Strafbestände wie Hochverrat, Brandstiftung und Sabotage, konnten mit dem Tode bestraft werden. Seit dem 29. März 1933 galt das „Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe“, die Voll175 176

Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates: 99 Boberach, Heinz (1991): Inventar archivalischer Quellen des NS-Staates: 228

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streckung konnte durch den Strang erfolgen.177 Damit war die Todesstrafe gesetzlich verankert und ein bevorzugtes Mittel, staatliche Härte zu demonstrieren und besonders mit politischen Gegnern abzurechnen. In der Weimarer Republik war zuvor die Vollstreckung der Todesurteile wegen ihrer besonderen ethischen Problematik minimiert worden; innerhalb von 14 Jahren waren von 1184 ausgesprochenen Urteilen nur 184 vollstreckt worden. Die seit dem 21. März 1933 eingesetzten Sondergerichte konnten alle politischen und unpolitischen Delikte nach dem Kriegssonderstrafrecht anklagen.178 Verschärft verfolgt wurden Angriffe auf Staat und Partei nach dem so genannten „Heimtückegesetz“ von 1934. Demnach konnten auch geringfügige Vergehen – vom politischen Witz bis zum Missbrauch der Uniform – mit schweren Strafen belegt werden. „In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden.“179 Mit Kriegsbeginn entstanden weitere Gesetze, wie z.B. die „Verordnung gegen Volksschädlinge“ vom 5. September 1939180, die auch für die besetzten Gebiete galten. Die als „Nacht- und Nebel-Erlass“ genannte Maßnahme vom 7. Dezember 1941 sollte Widerstandsbewegungen in den besetzten westeuropäischen Ländern niederhalten. Ziel dieses Erlasses war, die Bevölkerung an der Beteiligung an Untergrundaktionen zu hindern. Deshalb konnten die Militärgerichte gegen Untergrundaktionisten die Todesstrafe verhängen. Dieser Erlass galt in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Die Mehrzahl der verhängten Todesurteile wurden in Köln vollstreckt, gefolgt von Brandenburg, Dortmund und München-Stadelheim. Vollzug der Todesstrafe Nach der Machtergreifung wurde die Vollstreckung der Todesurteile durch den Strang und, – zur Abschreckung – wieder mit dem Handbeil vollzogen. Wegen der ansteigenden Zahl der Hinrichtungen181 setzte man im Reichsgebiet seit dem 28. Oktober 1936 die Guillotine ein. Es gab insgesamt vierzehn Hinrichtungsstätten; München-Stadelheim war für die Gerichtsbezirke München, Bamberg, Nürnberg und für den Bereich der Sondergerichte Eger, Salzburg und Innsbruck zuständig. Drei hauptamtliche Scharfrichter, die mit der zusammenlegbaren, in Kisten verpackten Guillotine ihr blutiges „Handwerk“ ausführten, waren hierfür eingesetzt.182 Ihr Jahresgehalt betrug 3000,– Reichsmark und 60 bis 65 Reichsmark Vergütung pro Hinrichtung. Am Abend vor der Hinrichtung musste die bevorstehende Vollstreckung des Urteils dem Kandidaten im Beisein von Justizbeamten 177 178 179 180 181

Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates: 90 Boberach, Heinz (1991): Inventar archivalischer Quellen des NS-Staates: 229 Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen. Vom Dezember 1934. In: Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates: 73 Reichsgesetzblatt I S. 1679. In: Münch, Ingo von (Hrsg) (1994): Gesetze des NS-Staates: 96 1933: 64, 1934: 79, 1935: 94. (Von 1933 bis 1935 ein Anstieg um ca. 50 Prozent) In: Oleschinski, Brigitte (1995): Gedenkstätte Plötzensee: 16

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mitgeteilt werden. Darauf folgte die Überführung in die so genannte „Todeszelle“, wo ihn ein Anstaltsgeistlicher besuchen durfte. In München-Stadelheim übernahmen die Geistlichen Karl Alt und Ferdinand Brinkmann diese Aufgabe. Die Vollstreckungen fanden meistens am frühen Morgen statt. Der Gefangene wurde zur Hinrichtungsstätte geführt, wo man ihm das Urteil verlas; der Henker vollzog dann die Tötung. Die Hinrichtung wurde genau protokolliert und dauerte nur wenige Sekunden. Die Kosten für Haftaufenthalt, Hinrichtung und Vergütung des Scharfrichters hatten die Angehörigen des Opfers zu begleichen. Die Bestattung fand auf dem nahe gelegenen Friedhof Perlacher Forst statt. Es gab aber auch Überführungen der Leichname zu den medizinischen Instituten der Universitäten München und Würzburg. SCHLUSSBETRACHTUNG In einem Essay Betrachtungen zur Todesstrafe schrieb der französische Philosoph, Schriftsteller und Journalist Albert Camus (1913–1960) über die Todesstrafe: „Gewiß sie ist eine Strafe, eine entsetzliche physische und moralische Qual. Exemplarisch ist sie jedoch nur in einer Hinsicht: der Sittenverderbnis. Sie bestraft, aber sie verhütet nichts, ja, sie ist viel eher dazu angetan, Mordgelüste wachzurufen. Es ist als gäbe es sie nicht, außer für den, der sie erleidet, zunächst seelisch während Monaten und Jahren, und dann körperlich in jener verzweifelten und gewalttätigen Stunde, da er in zwei Stücke gehauen wird, ohne gleich das Leben zu verlieren. Wir wollen sie bei ihrem Namen nennen, einen Namen der ihr an Ermangelung eines anderen Adels wenigstens den der Wahrheit verleihen wird, wir wollen sie als das erkennen, was sie ihrem Wesen nach ist: Rache. – “183 Für Camus bedeutete die Todesstrafe Mord. Ihm zufolge verwandelt der Staat damit einen Menschen in eine Sache – angeblich höheren Zwecken zuliebe. Der in Cambridge lehrende Historiker Richard J. Evans kam in seinem neuesten Werk über die deutsche Geschichte der Todesstrafe von 1532 bis 1987 zu dem Schluss, dass die Todesstrafe weltweit geächtet werden sollte, „da sie die menschliche Würde nicht fördert, sondern herabsetze und mit ihr den Staat, in dem sich die menschliche Gesellschaft organisiert hat."184 182

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Über den Scharfrichter in München-Stadelheim J. Reichhart erschien am 18. Dezember 1948 im Berliner „Nachtexpreß“ folgende Nachricht: „Der sechsundfünfzigjährige Scharfrichter Johann Reichart, der bis 1945 insgesamt rund 2500 Hinrichtungen durchgeführt hat, wurde gestern im Wiederaufnahmeverfahren von einer Münchner Spruchkammer in die Gruppe der Belasteten eingereiht. Reichhart wird auf zwei Jahre in ein Arbeitslager eingewiesen, wobei ihm die bisherige Haft von 18 Monaten abgerechnet wird.“ Zitiert in: Poelchau, Harald (1987): Die letzten Stunden: 30. In der Zeit vom 1.2.–29.2.1944 bekamen er und seine Gehilfen für 25 Hinrichtungen insgesamt 3836,– RM ausgezahlt. In: Weisenborn, G. (1974): Der lautlose Aufstand: 253 Camus Albert (1960): Fragen der Zeit. Auszug aus dem Essay „Betrachtungen zur Todesstrafe. In: Die Zeit Nr. 22 v. 23.5.2001: 13

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Literatur Alt, Karl (1994): Überschreiten von Grenzen. Strafgefängnis München-Stadelheim zwischen 1934 und 1945: Der evangelische Seelsorger und Zeitzeuge Karl Alt begleitet die zum Tode Verurteilten bis zur Hinrichtung (Texte, Briefe, Gespräche), überarbeitete Neuauflage nach der Originalausgabe: Karl, Alt, Todeskandidaten (1946). Hrsg. v. Werner Reuter. Verlag Ökologie & Pädagogik, München Angermund, Ralph (1993): „Recht ist, was dem Volke nutzt.“ Zum Niedergang von Recht und Justiz im Dritten Reich. In: Bracher, Karl Dietrich / Funke, Manfred / Jakobsen, Hans-Adolf (Hrsg.) (1993): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn: 57–75 Barring, L. (1998): Die Todesstrafe in der Geschichte der Menschheit. Boberach, Heinz (Hrsg.) (1975): Richterbriefe. Boppard Bracher, Karl Dietrich / Funke, Manfred / Jakobsen, Hans-Adolf (Hrsg.) (1993): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn Breitsameder, Wilhelm: Schreiben v. 18.2.1998 an Helga Pfoertner Camus, Albert (1960): Fragen der Zeit. Deutsch von Guido Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek Dachs, Johann (1996): Tod durch das Fallbeil. Der deutsche Scharfrichter Johann Reichhart (1893–1972). Mittelbayerische Druckerei und Verlagsgesellschaft, Regensburg Dreßen, Willi (1990): Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung der NS-Verbrechen in Ludwigsburg. In: Dachauer Hefte Nr. 6/ 1990: 85–93 Dreßen, Willi (1998): Blinde Justiz – NS-Justizverbrechen vor Gericht. In: Weber, J. / Piazolo, M. (Hrsg) (1998): Justiz im Zwielicht. Günter Olzog Verlag, München: 77–96 Eiber, Ludwig (1993): Polizei, Justiz, Verfolgung in München 1933–1945. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Ausstellungskatalog. Klinkhardt & Biermann, München: 235–244 Evans, Richard J. (2001): Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532 –1987. Kindler Verlag, Berlin, und Hamburger Edition, Hamburg Giordano, Ralph (1999): Perfekte Morde. In: Die Zeit, Nr. 37. v. 9.9.1999 Gritschneder, Otto (1998): Furchtbare Richter. Verbrecherische Todesurteile deutscher Kriegsgerichte. Beck`sche Reihe Nr. 1272, München Gruchmann, Lothar (1988): Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. München Gruchmann, Lothar (1997): Die bayerische Justiz im politischen Machtkampf 1933/34. Ihr Scheitern bei der Strafverfolgung von Mordfällen in Dachau. In: Broszat, Martin / Fröhlich, Elke (Hrsg.): Bayern in der NSZeit, Band II, Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. München u.a. : 415–428 Haushofer, Albrecht (1976): Moabiter Sonette. Deutscher Taschenbuch Verlag, München Herbert, Ulrich (1996): Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903– 1989. Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, Bonn Hoffmann, Hasso (2000): Gerechtigkeit ist keine Illusion. Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Jahntz, Bernhard (1998): Diener des Unrechts: Funktionen und Selbstverständnis der NS-Strafjustiz. In: Weber, J. und Piazolo, M. (Hrsg.) (1998): Justiz im Zwielicht. Günter Olzog Verlag, München: 39–64 Koch, Hansjoachim (1987): Volksgerichtshof. Politische Justiz im Dritten Reich. München Müller, Ingo (1989): Furchtbare Juristen: Unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. C. H. Beck, München Münch, Ingo von (Hrsg.) (1994): Gesetze des NS-Staates. Dokumente eines Unrechtssystems. UTB Wissenschaft, Verlag F. Schöningh, Paderborn

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Ullrich, Volker (2001): Theater des Grauens. In: Die Zeit Nr. 20 v. 10.5.2001: 46

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Oleschinski, Brigitte (1995): Gedenkstätte Plötzensee. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin (Hrsg). Berlin Ortner, Helmut (1993): Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers. Zsolnay Verlag, Wien Pfoertner, Helga (1997): Gedenkstätte Plötzensee. In: Gedenkstättenpädagogik. Handbuch für Unterricht und Exkursion. Hrsg. v. Museums-Pädagogischen Zentrum München und der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen. Löwen Druck, München: 68–72 Poelchau, Harald (1982): Pfarrer am Schafott der Nazis: Der authentische Bericht des Mannes, der über 1000 Opfer des Hitler-Regimes auf ihren Gang zum Henker begleitete. Hrsg. v. Werner Maser. Rastatt Poelchau, Harald (1987): Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. Verlag Volk und Welt, Berlin Vieregg, Hildegard (1993): „Menschen seid wachsam.“ Mahnmale und Gedenkstätten für die Opfer der NSGewaltherrschaft 1933–1945. MPZ-Themenhefte zur Zeitgeschichte. Löwen Druck, München: 36–38 Weber, Jürgen / Piazolo, Michael (Hrsg.) (1998): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates. Akademiebeiträge zur politischen Bildung, Akademie für politische Bildung, Tutzing. Günter Olzog Verlag, München Weisenborn, Günther (1974): Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945. Rowohlt-Verlag, Hamburg

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Kästner, Erich Dr. phil. *23.2.1889 Dresden †29.7.1974 München „Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es.“ Erich Kästner

Erich Kästner, 1959 Foto: Stadtarchiv München

Gedenktafel für Erich Kästner in der Fuchsstraße 2 Foto: H. Engelbrecht

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I. Gedenktafel, Fuchsstraße 2, Schwabing Münchner Freiheit U3/U6 M (1998) II. Bronzebüste, Staatsgalerie Moderner Kunst, Lehel Odeonsplatz U2–U6 und Bus 53 M (1959) III. Grabstätte auf dem Friedhof St. Georg, Bogenhausen: Sekt. 4a M (1974) IV. Erich-Kästner-Straße, Schwabing-West (4) M (1977) V. Erich-Kästner-Realschule, Petrarcastraße 1, 80933 München, Hasenbergl Hasenbergl U2 M (1979) Zu I. Gedenktafel, Fuchsstraße 2, Schwabing ANLASS UND ENTSTEHUNG Im Zusammenhang mit der Ehrung bekannter Personen, die sich durch ihr Schaffen für die Stadt München verdient gemacht haben, beschloss die Landeshauptstadt München im Jahre 1988, eine Gedenktafel für Erich Kästner zu schaffen. Die Enthüllung dieser Gedenktafel am 17. November 1998 übernahm der Kulturreferent Professor Julian Nida-Rümelin. KURZBESCHREIBUNG Eine Bronzetafel mit den Maßen 45 cm × 65 cm, die das Porträt von Erich Kästner zeigt, trägt folgende Inschrift: „In diesem Haus wohnte von 1946–1953 der Schriftsteller Erich Kästner.“ Heute befindet sich hier ein Studentinnenheim des Bildungszentrums Aurach. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Toni Preis.

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Zu II. Bronzebüste in der Staatsgalerie Moderner Kunst, Lehel ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Bronzebüste schuf der Münchner Bildhauer Theodor Frayer. Sie wurde anlässlich Erich Kästners 60. Geburtstages von der Landeshauptstadt München erworben und ist seit März 1959 in der Staatsgemäldesammlung im Haus der Kunst verwahrt. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Kästner, der sich selbst als „Moralisten“ und „politischen Dichter“ einstufte, wird von dem Literaturhistoriker Heinz Kamnitzer als „satirischer Berichterstatter in Versen, als lakonischer Lyriker des 20. Jahrhunderts, dem jedes Pathos nicht nur fremd, sondern widerwärtig“ gewesen ist, dargestellt.185 Erich Kästner wurde am 23. Februar 1899 als einziger Sohn der Eheleute Ida (geb. Augustin) und Emil Kästner in Dresden geboren. Die Mutter war Hausfrau und Heimarbeiterin, der Vater Sattler in der industriellen Fertigung. In dem 1982 erschienenen Buch von Werner Schneyder wird auf die Abstammung Erich Kästners eingegangen: Demnach soll Kästner der leibliche Sohn des jüdischen Hausarztes der Familie, Dr. Zimmermann, gewesen sein; dieser emigrierte vor Kriegsbeginn nach Brasilien. Dies wurde von Friedel Siebert, der Mutter des leiblichen Sohnes Thomas von Erich Kästner, bestätigt.186 Erich Kästner wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Verdienst des Vaters lag unter dem Existenzminimum. Deshalb arbeitete die Mutter als Friseuse, um die soziale und finanzielle Lage der Familie zu bessern. Zusätzlich wurde noch ein Zimmer der Wohnung vermietet; Ida Kästner achtete darauf, dass die Untermieter Lehrer waren. Denn dies war der Beruf, den die Mutter für ihren Sohn ausgewählt hatte. Sie machte ihren Sohn zur zentralen Figur ihres Lebens. Vater Emil blieb in dieser engen Mutter-SohnBeziehung außen vor. Schon sehr früh interessierte sich Kästner für Bücher, ebenso begeistert turnte er. Seine Schulzeit war von Anfang an mit Erfolg gekrönt, der auf seinem starken Wissensdrang und Bildungswillen gründete. Zuhause half er seiner Mutter; er war ein verständiges und einsichtiges Kind. Über den Sanitätsrat Dr. Zimmermann sagte Erich Kästner später: „Er kannte mich, seit dem ich auf der Welt war.“187 Zimmermann half wohl auch bei finanziellen Problemen. Gemäß dem Wunsch der Mutter, den Lehrerberuf zu ergreifen, wurde Kästner ab Ostern 1913 Schüler des Lehrerseminars in Dresden. Doch der hier vorherrschende Drill und militärische Ton behagte ihm nicht. Bei 185 186 187

Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 254 Schneyder, Werner (1982): Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor: 20 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 28

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Kriegsbeginn war er 15 Jahre alt und erlebt schon die Gestellungsbefehle an seine Mitschüler. Ihn traf es im Juli 1917: “Wir hatten Angst vor diesem Krieg. Dann zog man uns ein. Wir hatten Angst. Und hofften gar, es spräche einer halt! Wir waren damals achtzehn Jahr, und das ist nicht sehr alt.“188 Es folgte die Militärausbildung. Die böswilligen Schikanen seiner Vorgesetzten hatten seinen körperlich-seelischen Zusammenbruch und schließlich seine vorzeitige Entlassung zu Folge; er kehrte zurück zu den Eltern nach Dresden. Doch mochte er die begonnene Ausbildung am Lehrerseminar nicht weiterführen; statt dessen erreichte er die Zustimmung der Mutter, auf das König-Georg-Gymnasium wechseln zu dürfen. Wegen seiner hervorragenden Leistungen erhielt Kästner das „Goldene Stipendium der Stadt Dresden“ mit der Bedingung, in einer sächsischen Stadt zu studieren. In Leipzig begann er das Studium der Germanistik und der Theaterwissenschaft. Um sein weiteres Studium zu finanzieren, nahm er Tätigkeiten als Hilfsbuchhalter und Verkäufer an. Durch eine Glosse im „Leipziger Tagblatt“ wurde der Verlagsdirektor Richard Katz auf ihn aufmerksam und bot ihm eine Redakteurstelle an. Das finanziell so abgesicherte Studium konnte er erfolgreich am 25. Oktober 1924 abschließen. Kästner schrieb für verschiedenen Leipziger Magazine und auch für die in ganz Deutschland bekannte Familienzeitschrift „Beyers für alle“; hier erschienen einige seiner Gedichte, die der Zeichner Erich Ohser illustrierte. Mit letzterem, der den Künstlernamen „e.o. plauen“ führte, und mit Erich Knauf begann in diesen Jahren eine lebenslange Freundschaft.189 Politische Satiren entstanden unter dem Pseudonym „Flint“ für das linksbürgerlich-pazifistische Blatt „Drachen“, bei dem u.a. Joseph Roth und Joachim Ringelnatz mitarbeiteten.190 Einfluss auf seine literarische Arbeit nahmen in dieser Zeit der Kunst- und Literaturkritiker Hans Natonek und der Publizist Max Krell, die ihn förderten und ihm uneigennützig Kontakte vermittelten.191 Der 26-jährige Kästner erfüllte sich einen lange gehegten Wunsch: die Promotion zum Dr. phil. Sein Doktorvater Professor Wittkowski bewertete die Arbeit „als hoch über den Durchschnitt unserer germanischen Dissertationen stehend ein.“192 Kästners Tätigkeit in 188 189 190 191 192

Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 39 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 66 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 68 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 71 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 73

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der Redaktion der „Neuen Leipziger Zeitung“ wurde wegen eines zweideutigen Gedichtes – Abendlied eines Kammervirtuosen – gekündigt. Erich Ohser, der das Gedicht illustriert hatte, verlor ebenfalls seine Stelle. Im Herbst 1927 zog Kästner nach Berlin. Dort erhielt er von dem Leipziger Verleger Curt Weller erstmals ein Angebot, einen Gedichtband herauszugeben. Der gewählte Titel: Herz auf Taille, mit Zeichnungen von Erich Ohser. Der Band enthielt 49 ausgewählte Gedichte und fand Anklang, so dass die erste Auflage mit 2000 Exemplaren bald verkauft war. Mitarbeiter der Berliner „Weltbühne“ Der Schriftsteller Hermann Kesten berichtete über das erste Zusammentreffen mit Kästner bei der Witwe von Siegfried Jakobsohn, die die Absicht hatte, „... ihren Mitarbeitern Ideen für neue Artikel einzublasen.“193 „Ziemlich verloren stand ich bei meinem ersten Besuch im Salon der Weltbühnenwitwe herum, zwischen lauter Redakteuren und Mitarbeitern, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Walter Mehring, Heinz Pol, Ernst Toller, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Werner Hegemann, Alfred Polgar und vielen bekannten Unbekannten, als der eben der Universität entronnene Rudolf Arnheim, ein jugendfrischer Redakteur der Weltbühne zu mir sagte: ,Sie wollen sicher Erich Kästner kennenlernen!´ Ich schüttelte die Hand eines hübschen adretten jungen Mannes, der mich mit einem freundlich verschmitzten Lächeln begrüßte. Sogleich begannen wir ein langes Gespräch und unsere Freundschaft.“194 Erich Kästner, der Kinderbuchautor Bei einem so genannten „Weltbühnentee“ regte Edith Jacobsohn, Chefredakteurin und zugleich Besitzerin des Kinderbuchverlages Williams & Co. Erich Kästner an, ein Kinderbuch zu schreiben. Seine angemeldeten folgenden Zweifel zerstreute sie mit folgenden Worten: „In Ihren Kurzgeschichten kommen häufig Kinder vor, davon verstehen Sie eine ganze Menge. Es ist nur noch ein Schritt. Schreiben sie einmal nicht über Kinder, sondern auch für Kinder!“195 Bereits im Herbst 1928 war der Kinderroman Emil und die Detektive, illustriert von Walter Trier, fertig. Dieser Roman, ein Kinderbuch-Bestseller, wurde mehrfach verfilmt, für Rundfunk und Bühne bearbeitet und in dreißig Sprachen übersetzt. Der Erfolg seiner Jugend- und Kinderbücher lag in der klaren, präzisen und verständlichen Sprache. Kästner, der nach dem Wunsch der Mutter Pädagoge werden sollte, wurde es nun auch in seinen Kinderbüchern, die zeigen, dass er an den Wert der Erziehung glaubte. Sei193 194 195

Kesten, Hermann (1958): Freundschaftlicher Steckbrief für Erich Kästner. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 238 v. 4. 8. 1958. StadtA Mü ZA Personen Kesten, Hermann (1958): Freundschaftlicher Steckbrief für Erich Kästner. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 238 v. 4. 8. 1958. StadtA Mü ZA Personen Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 104

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ne Überzeugung von der Macht der Erziehung und ihren Möglichkeiten stellte er in seinen Geschichten dar, um die Diskrepanz zwischen der Erwachsenen- und der Kinderwelt auszugleichen. Kästner erwartete von einem Kinderbuchautor, er solle „der Jugend die Sterne zeigen und deuten, den Zauber der Heimat und Glanz der Ferne heraufbeschwören und den Kompaß des Gewissens in die Hand drücken.“196 In diesen Jahren entstehen Theaterstücke, Bühnenwerke, Gedichte, der Roman Fabian (1931) und Kinderbücher. Beim Appell im Juli 1932, der die Forderungen der demonstrierenden Arbeiter und die Vorschläge der KPD unterstützte, war er einer der Unterzeichnenden. Prominente deutsche Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler wie Albert Einstein, Heinrich Mann, Ernst Toller, Arnold Zweig, Theodor Plievier, Käthe Kollwitz und viele andere waren der Meinung, dass alle den Nationalsozialismus ablehnenden Kräfte in den Parteien (der SPD und KPD) und in den Arbeiterorganisationen gemeinsam in der Lage wären, den Faschismus abzuwehren und erfolgreich parlamentarisch auszuschalten. Machtwechsel in Deutschland Kästner befand sich auf einer Urlaubsreise in der Schweiz, als am 27. Februar 1933 der Berliner Reichstag brannte. In Zürich kamen Flüchtlinge aus Deutschland an, die sich vor dem Zugriff der Nazis retten konnten. Die offiziellen Meldungen, wonach Kommunisten den Reichstag angezündet hätten, deutete er als innenpolitisch geplante Gewaltmaßnahme, um den Angriff auf politische Feinde als bloße Selbstverteidigung hinzustellen.197 Trotz aller Mahnungen und Warnungen konnte ihn niemand dazu bewegen, unter diesen Umständen nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Welche Gründe hatte der politische Schriftsteller und Moralist Erich Kästner? Hermann Kesten, der im März 1933 nach Paris emigrierte, berichtete von einem Gespräch, das er kurz vor seiner Abreise mit Kästner führte: „Er erwiderte, er wolle bleiben, seiner Mutter wegen und um Augenzeuge der kommenden Gräuel zu sein, er wolle den Roman der Nazidiktatur schreiben, und er wolle dabeigewesen sein, als ihr künftiger Ankläger.“198 Schon in den ersten Monaten der Gewaltherrschaft war er Zeuge von Verhaftungen und Festnahmen. Die Schriftsteller Carl von Ossietzky, Erich Knauf und Hans Otto waren bereits in „Schutzhaft“. Zunächst wusste er nicht, dass auch er bereits auf der Liste der „unerwünschten Autoren“ stand, die im Februar und März „reichseinheitlich“ im Auftrag des Propagandaministeriums zusammengestellt war, um die „unerwünschten Autoren für Druck und Bibliotheken auszuschalten“ und die Verbrennung der „marxistischen“ und „jüdischen“ Bücher vorzubereiten. Alle Werke Erich Kästners waren verboten, außer Emil 196 197 198

Kästner, Erich (1977): Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band 5: 512 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 261 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 262

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und die Detektive. Am 10. Mai 1933 erlebte er die Bücherverbrennung vor der Berliner Staatsoper unter den Linden als Zuschauer mit. Während in Deutschland Kästners Bücher verboten waren, erhielt er die offizielle Erlaubnis, im Ausland zu publizieren. In dieser Situation konnte er weder für noch gegen das Dritte Reich schreiben. In dieser Zeit waren im Ausland folgende Titel erschienen: Das fliegende Klassenzimmer (1933), Drei Männer im Schnee, Emil und die drei Zwillinge (1934), Die verschwundene Miniatur (1935), Doktor Erich Kästners Hausapotheke (1936), Georg und die Zwischenfälle, Till Eulenspiegel (1938).199 Die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger bezeichnete die in den ersten Jahren der NS-Herrschaft entstandenen Bücher als „sehr gekonnte Kitschromane für Erwachsene“.200 Kästner selbst rechtfertigte diese Bücher als „humoristische Romane“, die er „unter Kontrolle“ geschrieben habe.201 Wie konnte Kästner in dieser von Schrecken und Gewalt gezeichneten Zeit aufheiternde Unterhaltungsliteratur hervorbringen? War es Realitätsflucht? Friedrich Dürrenmatt erklärte dies so: „Versagen, ein Sichflüchten in die Welt der Kinder – wirklich? Gibt es nur die Position des Helden, ist jede andere Position Feigheit? Im Griff der Gewalt herrscht eine andere Dialektik. Auch Negieren kann tödlich sein, stellt eine der Geheimwaffen des Geistes dar, nicht nur der Protest.“202 Auch Kästners Kinderromane kamen laut Ruth Klüger in die Kritik, denn sie „sind im Grunde sentimentale Bücher, die den gängigen Vorstellungen ihrer Entstehungszeit entsprechen. Sie sind oft unehrlich in ihrer Darstellung menschlicher Beziehungen, und was sie an ,Ethik´ enthalten, ist primitiv“. Interessant erschienen ihr die „äußerst witzigen Formulierungen, aber pädagogisch sind die anfechtbar.“ Sie seien aber „ausgezeichnete Unterhaltungsliteratur, d. h. sie reizen zum Weiterlesen und sind durchgehend amüsant“.203 Was ihren Erfolg begründete, so Ruth Klüger. Vorerst konnte Kästner sein Leben durch die im Ausland verkauften Bücher, bis zu der Verordnung vom 23. November 1933 finanzieren. Diese Verordnung, die von der Gestapo an den Deutschen Bankenverband gerichtet war, lautete: „... die Konten von vierundvierzig Schriftstellern – es war eine namentliche Aufstellung beigefügt – zu sperren. Auf der Liste der Personen, deren Vermögen polizeilich beschlagnahmt war, standen unter anderem Bertolt Brecht, Max Brod, Leonhard Frank, Joseph Roth, Ernst Ottwalt, Anna Seghers, Oskar Maria Graf, Erich Kästner, Hermann Kesten, Erich Weinert, Arnold Zweig.“204 Bei seiner ersten Verhaftung wurde Kästner vorgeworfen, von Prag aus gegen 199 200 201 202 203 204

Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 271 Klüger, Ruth (1996): Korrupte Moral. Kästners Kinderbücher: 64 Kästner, Erich (1977): Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band 3: 8. In: Klüger, Ruth (1996): Korrupte Moral: 64 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 278 Klüger, Ruth (1996): Korrupte Moral. Kästners Kinderbücher: 80 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 280

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das NS-Regime geschrieben zu haben. Dies konnte er glaubhaft widerlegen.205 Im Juni 1937 wurde bei ihm eine Hausdurchsuchung vorgenommen und er musste ein dreistündiges Verhör im Polizeipräsidium am Alexanderplatz durchstehen. Seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle berichtete in ihrer Biographie über die gesundheitlichen Folgen, Magenkrankheit und Herzattacken, die sich bei Kästner nach dieser Maßnahme einstellten. Mit seinem Freund Walter Trier206, der als Emigrant in Österreich lebte, hatte er ein neues Buch geplant. Im August 1937 trafen sie sich, um u. a. an den Salzburger Festspielen teilzunehmen. Die ersten Aufzeichnungen mit dem Titel Der kleine Grenzverkehr oder Georg und die Zwischenfälle entstanden. Walter Trier hielt dazu in farbigen Bildern die Ansichten Salzburgs fest. In Salzburg traf er mit zwei Mitarbeitern der „Weltbühne“ zusammen und den im Exil tätigen Autoren Walter Mehring und Ödön von Horvath. Kästner berichtete ihnen über die aktuellen politischen und kulturellen Ereignisse in Deutschland. Die Frage Ödön von Horvaths, „Wollen Sie denn wirklich nach Deutschland zurück? Ich hätte davor zuviel Angst!“207, ließ keinen Zweifel an dem Entschluss zu seiner Rückkehr aufkommen. Die so genannte „Reichskristallnacht“ erlebte Kästner in Berlin auf der nächtlichen Heimfahrt von seinem Stammcafé, am 9. November 1938, so: „Es klang als würden Dutzende von Waggons voller Glas umgekippt. Ich blickte aus dem Taxi und sah, links wie rechts, vor etwa jedem fünften Haus einen Mann stehen, der, mächtig ausholend mit einer langen Eisenstange ein Schaufenster einschlug ... Außer diesen Männern, die schwarze Breeches, Reitstiefeln und Ziviljackets trugen, war weit und breit kein Mensch zu entdecken ...“208 Die neuen Machthaber brauchen einen Drehbuchautor Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Filmproduktionsgesellschaft UFA erhielt Kästner den Auftrag, das Drehbuch zum Film Münchhausen zu schreiben. Im Anschluss daran entstand das Manuskript zur Verfilmung Der kleine Grenzverkehr und Das doppelte Lottchen. Während der Dreharbeiten zum Kleinen Grenzverkehr widerrief die Reichskulturkammer am 25. Juli 1942 Kästners Sondergenehmigung als Schriftsteller tätig zu sein. Kästner hatte für den Staat einen anspruchsvollen Film zustande gebracht und wurde nun nicht mehr gebraucht. Der Film Münchhausen lief in den Kinos, ohne dass sein Name genannt wurde. Am 15. Januar 1944 wurde Kästners Wohnung durch Brandbomben zerstört. Er zog zu der Journalistin Luiselotte Enderle. Seine Musterung zum Volkssturm beschrieb er in seinem 205 206 207 208

Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 281 Emigrierte über England nach Kanada, wo er im Juli 1951 starb. Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 308 Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 311

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Tagebuch am 2. März 1945: „Der Stabsarzt fragte mich, während ich nackt und stramm vor ihm stand, nach Namen und Beruf. Er sagt dann: ,so, der Kästner sind Sie!´ Die Bemerkung verhieß nichts Gutes. Als ich dann aber von dem uralten Musterungsmajor, den ein Monokel zierte, erfuhr, daß ich für militärisch untauglich befunden und ausgemustert worden sei, wußte ich, daß mir der Arzt sehr gewogen sein mußte. Wie man Freunde hat, die einem nicht mehr kennen wollen, hat man, zum Ausgleich, andere, die man selber nicht kennt.“209 In den letzten Kriegsmonaten kam Kästner mit Unterstützung des UFA-Produktionsleiters Eberhard Schmidt auf abenteuerliche Weise nach Mayerhofen in Tirol, wo er bis zum Einmarsch der Amerikaner am 8. Mai 1945 geblieben ist. In München Ende Juni 1945 nahm Kästner in München Kontakte zu Schauspielern und dem Intendanten Otto Falckenberg auf. Die Jahre des erzwungenen Schweigens waren vorbei. Als Redaktionsleiter der „Neuen Zeitung“ trat er für einen demokratischen Neuaufbau ein und bot Intellektuellen und Schriftstellern ein Forum. Er gründete die Kabaretts „Die Schaubude“ (1945) und „Die kleine Freiheit“ (1951). Warum hat Kästner die Dokumentation der Ereignisse, die er als authentischer Zeuge der Nachwelt hinterlassen wollte, nicht geschrieben? „... das ist schwer zu sagen. Vielleicht haben die aktuellen Verpflichtungen, die er erfüllen mußte, ihn zu stark belastet,“ so der Autor Heinz Stephan.210 In seinem Haus im Herzogpark feierte er am 23. Februar 1974 seinen 75. Geburtstag. Nach schwerer Krankheit stirbt Erich Kästner am 29. Juli 1974 in München. Ausstellung 2. Juli - 31. Oktober 1999: Erich Kästner zum 100. Geburtstag. Gezeigt im Münchner Stadtmuseum. Ehrungen 1956 Literaturpreis der Stadt München. 1957 Georg-Büchner-Preis. 1960 Hans-Christian-Andersen-Preis. 1966 „Goldener Igel“. Humoristenpreis der bulgarischen Jugendzeitung „Narodna Mladesch“. 209 210

Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk: 338 Stephan, Heinz (1974): In: Theater Rundschau 20 (1974) Nr. 9. StadtA Mü ZA Personen

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1968 Literaturpreis der Deutschen Freimaurer. 1969 Ehrenmitglied der Wilhelm-Busch-Gesellschaft. 1970 Kultureller Ehrenpreis der Stadt München. 1974 Goldene Ehrenmünze der Stadt München. 115 Schulen in Deutschland tragen seinen Namen. Stiftung 1999 Das „Erich-Kästner-Kinderdorf“ in Oberschwarzach (Unterfranken) erhielt das gesamte Mobiliar des Hauses von Erich Kästner in München.211 Literatur Bemmann, Helga (1994): Erich Kästner. Leben und Werk. Ullstein, Frankfurt a. M., Berlin Chiu, Charles S. (1996): „Zwischen Eros und Tod – Ungewöhnliche Liebesgeschichten“. Verlag Carl Ueberreuter, Wien Ebbert, Birgit (1994): Erziehung zur Menschlichkeit und Demokratie. Enderle, Luiselotte (1993): Erich Kästner. Rowohlts Bildmongraphien, Reinbek bei Hamburg Ganz, Dagmar (1977): Erich Kästners Kinderbücher im Verhältnis zu seiner Literatur für Erwachsene. In: Lypp, Maria (Hrsg.) (1977): Literatur für Kinder. Studien über ihr Verhältnis zur Gesamtliteratur. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 7 Görtz, Franz Josef / Sarkowicz, Hans (1998): Erich Kästner. Piper Verlag, München Görtz, Franz Josef (Hrsg.) (1998): Erich Kästner. Werke in neun Bänden. Hanser Verlag, München Hanuscheck, Sven (1998): Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Hanser Verlag, München Kästner, Erich / Lemke Horst (1993): Die Schildbürger. Dressler Verlag, Hamburg Kästner, Erich (1946): Bei Durchsicht meiner Bücher. Rowohlt Verlag, Stuttgart Kästner, Erich (1962): Erich Kästner-Buch. Bertelsmann Lesering, Gütersloh Kästner, Erich (1965): Gesammelte Werke in sieben Bänden. 3. Aufl., Atrium Verlag, Zürich Kästner, Erich (1965): Aus meiner Kindheit. Matthiesen Verlag, Lübeck Kästner, Erich (1972): Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Kohlhammer Verlag, Stuttgart Kästner, Erich (1975): Aus einer kleinen Versfabrik. dtv, München Kästner, Erich /1975): „Was nicht in euren Lesebüchern steht.“ Hrsg. v. Wilhelm Rausch. Fischer Tb-Verlag Nr. 875, Frankfurt a. M. Kästner, Erich (1976): Auswahl. Dressler Verlag, Berlin Kästner, Erich (1977): Briefe aus dem Tessin. Die Arche, Zürich Kästner, Erich (1977): Als ich ein kleiner Junge war. Dressler Verlag, Hamburg Kästner, Erich (1983): Dreizehn Monate. Droemer, Knaur, München Kästner, Erich (1985): Emil und die Detektive. Emil und die drei Zwillinge. Deutscher Bücherbund, Stuttgart Kästner, Erich (1985): Erich Kästner erzählt. Betz Verlag, München Kästner, Erich (1986): Erich Kästner erzählt die wunderbaren Reisen und Abenteuer zu Wasser und zu Lande des Freiherrn von Hamburg. Dressler Verlag, Hamburg Kästner, Erich (1988): Don Quichotte. O. Maier Verlag, Ravensburg 211

Otzelberger, Manfred (1999): In Süddeutsche Zeitung Nr. 44 v. 23.2.1999

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Kästner, Erich (1989): Fabian. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. M. Kästner, Erich (1990): Gedichte. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a. M. Kästner, Erich (1990): Doktor Kästners lyrische Hausapotheke. Atrium Verlag, Zürich Kästner, Erich (1999): Möblierte Melancholie. Gedichte, Ansprachen, Interviews von und mit Erich Kästner. Der Hör-Verlag, 71 Min. Kästner, Erich (1975): Das große Erich-Kästner-Buch. Hrsg. v. Sylvia List. Piper Verlag, München, Zürich Kästner, Erich (1933): Das fliegende Klassenzimmer; (1934) Drei Männer im Schnee; (1934) Emil und die drei Zwillinge; (1935) Die verschwundene Miniatur; (1936) Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke; (1938) Georg und die Zwischenfälle. Späterer Titel: Der kleine Grenzverkehr; (1938) Till Eulenspiegel; (1939) Die Doppelgänger. Romanfragment; (1940) Chauvelin oder lang lebe der König!; (1940) Das Haus der Erinnerung; (1940) Das lebenslängliche Kind. Unter dem Pseudonym Robert Neuner nach dem Roman „Drei Männer im Schnee“ entstanden; Münchhausen. Drehbuch; Der kleine Grenzverkehr; Das doppelte Lottchen; (1943) Zu treuen Händen Kästner, Erich / Trier, Walter (2000): Der gestiefelte Kater. Atrium Verlag, Zürich Kästner, Erich (2001): Mein liebes Muttchen, Du! Dein oller Junge. Knaus Verlag Klüger, Ruth (1996): Korrupte Moral: Erich Kästners Kinderbücher. In: Klüger, Ruth (1996): Frauen lesen anders. Essays. Deutscher Taschenbuch Verlag, München: 63–82 Kordon, Klaus (1995): Die Zeit ist kaputt. Die Lebensgeschichte des Erich Kästner. Beltz & Gelberg, Weinheim Plauen, e.o. (1997): Vater und Sohn. Bildgeschichten. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart Schikorsky, Isa (1998): Erich Kästner. Deutscher Taschenbuch Verlag, München Schneyder, Werner (1982): Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor. Kindlers Literarische Portraits. Kindler Verlag, München Wegner, Manfred (Hrsg.) (1999): „Die Zeit fährt Auto“. Erich Kästner zum 100. Geburtstag. DBL Berlin u. Münchner Stadtmuseum

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Kalter Haus, Tal 19 „... Ich bin schon seit einer Woche hier, aber ich kann mich nicht erholen, die letzten Monate waren eine ständige Qual für mich, erst recht die Zeit seit dem 9.11. Ich bin im größten Regen und Wind zwei Tage und zwei Nächte rumgeirrt (an der Grenze), konnte aber nicht rein ... Nun bin ich endlich hier, möchte aber so schnell wie möglich nach Amerika.“ Brief vom 15. Dezember 1938 von Eda Kalter in Amsterdam an ihren Sohn in Amerika.212

Kalter Haus im Tal 19 Foto H. Engelbrecht

Namensinschrift auf der Grabstätte der Familie Kalter (Neuer Israelitischer Friedhof) Foto: H. Engelbrecht

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Zitiert nach: Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal. In: Münchner Stadtanzeiger Nr. 18: 14

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I. Gedenktafel Kalterhaus Tal 19 Sendlinger Tor S1–S8, U2/U3 und U6/U8 II. Grabstätten auf dem Neuen Israelitischen Friedhof, Sekt. 12 Garchinger Straße 37 Studentenstadt U6 Familie Kalter Kalter, Ernestine Eda *6.3.1885 München †2.11.1942 Auschwitz Kalter, Max *1906 München †1987 New York Kalter, Ludwig *4.5.1909 München †22.10.1995 München Zu I. Gedenktafel Kalterhaus KURZBESCHREIBUNG Am Haus im Tal 19 und am Eingang zum Haus in der Dürnbräugasse befindet sich ein blaues, mit weißen Linien eingerahmtes Schild mit der Aufschrift: „Kalter Haus, Goldene 19, Tal 19“. Zu II. Grabstätten auf dem Neuen Israelitischen Friedhof KURZBESCHREIBUNG Die Grabinschrift für das Ehepaar Kalter lautet: „Jakob Kalter geb. 15. Nov. 1879, gest. 20. Jan. 1925. Es heißt nicht sterben, lebt man im Herzen der Menschen weiter, die man verlassen mußte. Ernestine Eda Kalter, geb. Nagel, geb. 6. März 1885, gest. 2. Nov. 1942. Ein Opfer der Verfolgungszeit. Ihr Vorbild, ihre Liebe und Arbeit leben weiter.“ Die Grabinschrift für Ludwig Kalter lautet: „Zum ewigen Gedenken an einen großen Wohltäter und Humanisten, Ludwig Kalter geb. 4.5.1909 in München, gest. 22.10.1995. Du warst die Liebe und das Licht, das selbst im Tode nicht erlischt. Wir werden nie aufhören dich zu lieben, als wärst du niemals von uns geschieden.“

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GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der jüdische Geschäftsmann Pinkus Kalter hatte ein Geschäft für Herren- und Knabenkleidung in Rzeszow in Polen gegründet.213 1895 erfolgte die Verlegung des Geschäfts nach München, in das Haus im Tal Nr. 19, weitere Filialen gab es in der Sendlingerstraße. 1901 überschrieb Kalter das bekannte und populäre Herrenbekleidungsgeschäft „Goldene 19“ seinem Sohn Jakob. Geschickt verstand dieser, die Hausnummer „19“ werbewirksam einzusetzen; so betrug der Höchstpreis für ein Kleidungsstück 19 Reichsmark. Jakob Kalter und Ernestine Eda Nagel heirateten im Jahre 1905. Ihre Kinder waren: Max (*1906), Ludwig (*1909), Luise (*1910), Lene (*1913) und Sophie (*1915).214 Jakob Kalter war im Ersten Weltkrieg eingesetzt, während seine Frau das Geschäft weiterführte. Gesundheitlich angeschlagen kehrte er aus dem Krieg zurück und starb 1925 im Alter von nur 45 Jahren. Das 40-jährige Firmenjubiläum wurde 1935 noch mit einer großen Feier begangen. Die antijüdischen Maßnahmen führten jedoch bereits dazu, dass der älteste Sohn Max 1937 nach New York in die USA emigrierte. Ludwig Kalter konnte noch vor dem Pogrom 1938 ausreisen. Die Fensterscheiben des Geschäftes im Tal 19 wurden in der Pogromnacht eingeschlagen. Mutter Eda Kalter begab sich am 9. November 1938 auf die Flucht. Sie gelangte mit ihrer jüngsten Tochter Sophie nach Amsterdam, wo sie in einem Versteck lebte. In ihren verzweifelten Briefen an ihren Sohn richtete sie den dringenden Wunsch: „... ich möchte aber so schnell wie möglich nach Amerika.“215 Vom November 1938 bis Juli 1942 lebte Eda Kalter illegal in Amsterdam, bis sie von einem holländischen Nachbarn denunziert wurde. Sie erhielt für den 15. Juli 1942 eine amtliche Vorladung in die Gestapoleitstelle216; dort stellte man sie unter Arrest. Ihr Sohn Max Kalter hat später bei seinen Nachforschungen herausgefunden, dass seine Mutter nach Auschwitz deportiert und dort am 2. November 1942 ermordet wurde.217 Firmengeschichte und Lebensgeschichte von Max und Ludwig Kalter Das „Kalterhaus im Tal 19“ wechselte nach dem Pogrom 1938 zur Firma „Gustav Lenkeit & Co.“ Die Rückerstattung des Anwesens Tal 19 an die Überlebenden Max und Ludwig Kalter fand am 25. Januar 1949 statt.218

213 214 215 216 217 218

Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14

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Max Kalter hatte die höhere Handelsschule besucht, absolvierte eine Ausbildung im Bankwesen und besuchte Textilschulen in Cottbus, Berlin und Düsseldorf. Bis zur Emigration 1937 war er im elterlichen Herrenbekleidungsgeschäft tätig. In New York gründete er ein Damenspezialgeschäft. 1981 wurde Max Kalter vom Bürgermeister der Stadt New York zum Mitglied der „Majors Task Force for the Erection of a Holocaust Memorial in New York“ ernannt.219 Er starb 1987 in New York. Ludwig Kalter kehrte nach Kriegsende wieder nach München zurück. Hier setzte er sich für die Deutsche Suchthilfe ein und gründete als ehrenamtlicher Alleingesellschafter von „Daytop“, „Phönix“ und „Seca“ etwa 40 Kliniken. Kalter war erster Vorsitzender des Fachverbandes „Freier Einrichtungen in der Suchtarbeit“ (FES) und der Telefonnotrufe. „Einen Telefonnotruf brachte er in den Räumen seines Hauses Tal 19 unter.“220 Nach seinem Tod hob der Gründer der Suchthilfe Dr. Ulrich Johannes Osterhues die Verdienste des Wohltäters und Mentors Ludwig Kalter hervor: „Die Suchthilfe in Deutschland hatte einen bedeutenden Mentor, ich habe einen väterlichen Freund verloren. Ludwig Kalter hat Spuren in seinem Leben hinterlassen – Spuren auf guten Wegen. Er liebte die großen Worte nicht ... Fakt ist, dass Daytop und Phönix ohne Ludwig Kalter niemals so erfolgreich geworden wären. Sein Anliegen war jedoch nicht der große Erfolg an sich, sondern die erfolgreiche Hilfe für Menschen in Not ... Er führte ein erfülltes und beispielgebendes Leben ...“221 Literatur Kalter, Max (1980): Hundert Jahre Ostjuden in München 1880–1980. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 394–399 Selig, Wolfram (1993): Judenverfolgung in München 1933–1941. In: „München – Hauptstadt der Bewegung.“ Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Ausstellungskatalog. Klinkhardt & Biermann, München: 398–410 Zuber, Elfi (1997): Die Geschichte der jüdischen Familie Kalter. In: drogen-report 18 (1997) Nr. 3/1997: 30– 31 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal. Die tragische Geschichte der Kaufmannsfamilie Kalter. In: Münchner Stadtanzeiger Nr. 18. v. 30. April 1997: 14

219 220 221

Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 502 Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14 Zitiert nach Zuber, Elfi (1997): Das Stammhaus steht im Tal: 14

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Klee, Paul *18.12.1879 Münchenbuchsee bei Bern †29.6.1940 Muralto-Locarno „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Paul Klee, Vortrag in Jena, 1924222

Paul Klee Foto: Süddeutscher Verlag

Gedenktafel in der Feilitzschstraße 3 Foto H. Pfoertner

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Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 64

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I. Paul-Klee-Straße, Parkstadt Solln M (1964) II. Gedenktafel Feilitzschstraße 3, Schwabing Münchner Freiheit U3/U6 und Bus 36 M (1975) KURZBESCHREIBUNG An der Fassade des Hauses Feilitzschstraße 3 befindet sich eine Gedenktafel für Paul Klee mit folgendem Text. „Der Maler und Graphiker Paul Klee hatte in diesem Haus sein Atelier von 1908–1919.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Eugen Weiß. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Jugendjahre 1879–1898 Paul Klee kam als zweites Kind der Eheleute Ida (geb. Frick) und Hans Klee am 18. Dezember 1879 in Münchenbuchsee im Kanton Bern (Schweiz) auf die Welt. Seine Mutter stammte aus Basel, der Vater aus Thüringen, der als Musikpädagoge in Bern am Lehrerseminar in Hochwill tätig war und dieses bis ins hohe Alter betreute. Schon früh zeigte sich Pauls zeichnerisches Talent, das seine Mutter förderte. Auf Wunsch des Vaters kam der Sohn an das literarische Gymnasium in Bern, wo ihn die griechische Sprache und Literatur neben der französischen fesselte und lebenslang begeisterte. Bei seinen Mitschülern war er wegen seiner kecken Karikaturen sehr beliebt; besonders bestaunt aber wurde sein Geigenspiel, das Paul Klee meisterhaft beherrschte und das ihm schon bald einen Platz im städtischen Orchester sicherte. Die Wahl, ob er sich für eine Zukunft als Musiker oder Zeichner und Maler entscheiden sollte, fiel ihm daher nicht leicht. Klee entschied sich fürs Malen. Die Musik begleitete ihn jedoch sein ganzes Leben lang und spielte für seine Kunst eine wichtige Rolle. Kunststudien in München und Bern 1898–1914 Um sich auf das Kunststudium vorzubereiten, lernte Klee zunächst in einer privaten Münchner Zeichenschule bei Heinrich Knirr. Im Oktober 1900 bekam er die Zulassung an die Münchner Akademie und trat in die Klasse von Franz von Stuck ein, wo auch Wassily

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Kandinsky studierte. Klee kehrte nach Bern zurück. Es folgten Studienreisen nach Italien. 1905 unternahm Klee mit dem Schweizer Maler Louis Moilliet ein Reise nach Paris, wo ihn die Werke älterer Meister beeindruckten. Die Werke französischer Impressionisten (Cézanne, Daumier, Toulouse-Lautrec, Ensor) lernte er durch verschiedene Ausstellungen in München kennen. Hier hatte er sich nach seiner Heirat (1906) mit der Pianistin Lily Stumpf niedergelassen. In dieser Zeit erarbeitete er sich seine künstlerischen Grundlagen und äußerte sich dazu in einem Tagebucheintrag von 1909: „Wenn bei meinen Sachen manchmal ein primitiver Eindruck entsteht, so erklärt sich diese Primitivität aus meiner Disziplin, auf wenige Stufen zu reduzieren. Sie ist nur Sparsamkeit als letzte professionelle Erkenntnis, also das Gegenteil von wirklicher Primitivität.“ 1911 fand in der Galerie Thannhauser in München die erste Paul-Klee-Ausstellung statt. Seit dieser Zeit listete Klee alle seine Werke bis zu seinem Lebensende auf. Im gleichen Jahr machte er die Bekanntschaft mit dem Kreis des „Blauen Reiters“. Neben Wassily Kandinsky lernte er August Macke, Alexej von Jawlensky, Franz Marc, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin, Alfred Kubin und Heinrich Campendonk kennen. Vom 12. Februar bis April 1912 nahm er an der zweiten Ausstellung der neu gegründeten Künstlergruppe in der Münchner Galerie Goltz teil, die aus der Redaktion des Almanachs mit dem Namen „Blauer Reiter“ hervorgegangen war, und die nur auf grafische Arbeiten spezialisiert war. Während eines Aufenthalts in Paris besuchte er Robert Delaunay, einem Hauptvertreter des Orphismus223 und Karl Hofer, einen Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Er begegnete in Paris den Werken von Henri Matisse, Pablo Picasso und Henri Rousseau. Seit 1914 wirkte er als Mitbegründer der „Neuen Münchner Sezession“. Im April desselben Jahres unternahmen Klee, August Macke und Louis Moilliet eine Reise nach Tunis und Kairouan. Während dieser Reise entdeckte Klee seinen Weg zur Farbe über die Technik der Aquarellmalerei. Gleichzeitig fand er zu einer reduzierten Bildsprache. Angeregt durch Robert Delaunays Fensterbilder setzte er geometrische Farbflächen ein, die zusammen mit reinen Farbkontrasten Stimmung und Farbklang erzeugten. Die Zeit des Ersten Weltkrieges 1914–1918 Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges trennten sich die Wege der Künstler: Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin mussten als russische Staatsbürger Deutschland verlassen. Franz Marc und August Macke melden sich als Kriegsfreiwillige und wurden im Frankreichfeldzug eingesetzt. August Macke, Klees engster Freund, fiel am 26. September 1914 in der Champagne. Franz Marc wurde am 4. März 1916 während eines Erkundungsritts vor Verdun bei einem Granateinschlag tödlich verletzt. Paul Klee erhielt seine Einberufung zum Militärdienst am gleichen Tag wie die 223

Eine Kunstrichtung, die die Farbe als wichtigstes Ausdrucksmittel bildnerischer Gestaltung erklärt.

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Nachricht vom Tod seines Künstlerfreundes Franz Marc, beides am 11. März 1916. Nach der Rekruten-Ausbildung in Landshut kam er im August 1916 zur Werftkompanie der Fliegerersatz-Abteilung in Schleißheim, wo er Reparatur-, Anstreicharbeiten wie die Tarnanstriche von Flugzeugen und handwerkliche Hilfsarbeiten verrichtete sowie den Transport von Flugzeugen begleitete. Von der Flugwerft in Schleißheim kam er in die neu gegründete Fliegerschule von Gersthofen bei Augsburg, wo er bis über das Kriegsende hinaus in der Kassenverwaltung des Flugplatzes eingesetzt war. Neben seinem Militärdienst fand Klee Gelegenheit, weiter künstlerisch zu arbeiten. Lehrtätigkeit am Bauhaus 1921–1931 Im November 1920 erhielt Paul Klee vom Gründer des Staatlichen Bauhauses224 in Weimar, dem Architekten Walter Gropius, einen Ruf an sein Haus. Klee folgte der Berufung und leitete seit 1921 verschiedene Werkstätten, hielt Kurse in Gestaltungslehre und lehrte Aktzeichnen. Zugleich war er schriftstellerisch tätig und verfasste kunsttheoretische Werke. Über seine gestalterischen Ziele gab er in einem Jenaer Vortrag (1924) Auskunft: „Wollte ich den Menschen geben, so ,wie er ist´, dann brauchte ich zu dieser Gestaltung ein so verwirrendes Liniendurcheinander, daß von einer elementaren Darstellung nicht die Rede sein könnte, sondern eine Trübung bis zur Unkenntlichkeit einträte. Außerdem will ich den Menschen auch gar nicht geben wie er ist, sondern nur so, wie er auch sein könnte“. Er nahm an Ausstellungen in München (1920), Wiesbaden und Berlin (1922) teil. Im Jahr der Übersiedelung des Bauhauses nach Dessau (1925), beteiligte er sich in Paris an der ersten Gruppenausstellung der Surrealisten. In seiner kunsttheoretischen Schrift Wege des Naturstudiums (1923) definiert er zugleich die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft: „Der heutige Künstler ist mehr als eine verfeinerte Kamera, er ist komplizierter, reicher, räumlicher. Er ist Geschöpf auf der Erde und Geschöpf innerhalb des Ganzen, das heißt Geschöpf auf einem Stern unter Sternen.“225 1931 löste Klee den Vertrag mit dem Staatlichen Bauhaus in Dessau und übernahm eine Professur an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf. Die erzwungene Emigration 1933 Die Nationalsozialisten griffen das künstlerische Schaffen Paul Klees heftig an. Es folgte bereits am 1. April 1933 seine Entlassung aus dem Lehramt an der Düsseldorfer Akademie

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1919 von Walter Gropius gegründet. Architektur, bildende Kunst und Kunsthandwerk sollten zusammengeführt werden, um die Einheit zwischen den visuellen Künsten und dem Handwerk wiederherzustellen. An dieser Schule waren herausragende Künstler der Zeit versammelt. Das Bauhaus wurde 1933 von den Nationalsozialisten geschlossen. Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 64. Auch in: Klee, Paul (1923): Wege des Naturstudiums:

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der Künste. Diese hoffnungslose Situation führte dazu, dass Klee sich in das erzwungene Exil nach Bern begab. Klee emigrierte am 23. Dezember 1933 mit seiner Familie. Seine persönliche Meinung dazu lautete: „Meine Herren, es riecht in Europa bedenklich nach Leichen.“226 Seine Entlassung aus dem Lehramt an der Akademie in Düsseldorf wurde in der nationalsozialistischen Zeitung „Deutsche Kulturwacht“ als wichtige Etappe zur Befreiung der von „artfremden Elementen geknebelten deutschen Kunst“ bejubelt. Lebensjahre im Schweizer Exil von 1933–1940 Im Jahre 1934 hatte Klee seine erste große Ausstellung in England in der Mayor Gallery, London. Die in Deutschland von Will Grohmann veröffentlichten Paul Klee Handzeichnungen 1921–1930 konfiszierte die Geheime Staatspolizei. Mehr als hundert seiner Werke, die bis dahin von deutschen Museen erworben waren, wurden beschlagnahmt und aus den Museen entfernt – als „entartet“ diffamiert. In der am 19. Juli 1937 eröffneten Ausstellung „Entartete Kunst“227 im alten Galeriegebäude der Hofgartenarkaden der Residenz in München waren 17 Werke von Paul Klee ausgestellt. Zu diesen gehörte Der goldene Fisch, 1925. Die ausgestellten Werke erhielten von den Nationalsozialisten beleidigende Titel wie „Verwirrung“ und „Krankheit“. Im Begleitheft zur Ausstellung war Klees Aquarell Die Heilige vom Inneren Licht abgebildet und mit der Arbeit eines Schizophrenen verglichen worden. Weitere Ausführungen rückten Klees Kunst in die Nähe des seelisch-krankhaften.228 Insgesamt wurden 102 seiner Werke in deutschen Museen beschlagnahmt.229 Paul Klee führte ein völlig zurückgezogenes, der Meditation und Arbeit gewidmetes Leben. In Bern entstand ein umfangreiches Werk in großer stilistischer und inhaltlicher Vielfalt. Seine Künstlerfreunde Pablo Picasso, George Braque, Ernst Ludwig Kirchner und Wassily Kandinsky – mit letzterem verband ihn seit der Bauhauszeit eine enge Freundschaft – besuchten ihn in seinem Schweizer Exil. Im Jahre 1937 während der Berner Kandinsky-Ausstellung kamen die Freunde noch einmal zusammen. Klees geplante Reise nach Paris kam wegen seines schlechten Gesundheitsstandes nicht mehr zustande. Klee litt an der unheilbaren Krankheit Sklerodermie. Sein bildnerisches Werk dieser Jahre war erfüllt von seelischer Erlösung sowie vom nahenden Tod geprägt. Klee „erlebte und ahnte 226 227

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Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 95 Die Nationalsozialisten übertrugen den Vorwurf einer krankhaften „Entartung“ auf die moderne Kunst mit allen Stilrichtungen bis hin zur Abstraktion. In der Münchner Ausstellung waren Werke von 113 verfemten Künstlern vertreten. Der so genannten Säuberungsaktion fielen 17 000 Kunstwerke (Ernst Piper, 1983) zum Opfer. Zur Devisenbeschaffung sind die Werke am 30. Juni 1939 in Luzern (Schweiz) versteigert worden. Damit konnte eine Vielzahl gerettet werden. Beispiele Kunst in der Verfolgung, hrsg. v. Norbert Berghof. Neckar-Verlag, Villingen

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den Tod wie das Leben in tausendfältigen Gesichtern.“230 Er schuf Serien mit dem Thema Engel und widmete sich damit dem Übergang des Menschen zu einem himmlischen Wesen. Damit wird Klees Streben, das die Sehnsucht des Menschen nach einer zeitlos-geistigen Existenz verkörpert, offenbart. Am 29. Juni 1940 starb Paul Klee in einer Klinik in Muralto-Locarno in der Schweiz. Auf seinem Grabstein ist ein Zitat aus seinem Tagebuch eingraviert: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar, denn ich wohne grad so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen, etwas näher der Schöpfung als üblich und noch lange nicht nahe genug. Denn ich wohne gerade so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen als üblich. Und noch lange nicht nahe genug.“ Ausstellungen 1954: Paul-Klee-Ausstellung. Gezeigt im Haus der Kunst, München. 1962: Entartete Kunst – Bildersturm vor 25 Jahren. Gezeigt im Haus der Kunst, München. 1970: Paul Klee 1897–1940. Gezeigt im Haus der Kunst, München. 1979/80: Paul Klee. Das Frühwerk 1883–1922. Gezeigt von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München. 1988: Paul Klee. Die Sammlung Berggruen. Gezeigt im Metropolitan Museum, New York und im Musée National d´Art Moderne Paris und in der Kunsthalle Tübingen. 8. Mai – 30. September 1997: Paul Klee in Schleißheim. Und ich flog. Gezeigt im Deutschen Museum, Flugwerft Schleißheim, Sonderausstellung. 7. September 1997 – 11. Januar 1998: Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land. Gezeigt im Martin-Gropius-Bau, Berlin. 30. Juli – 7. November 1999: Paul Klee und seine Weggefährten. Gezeigt im Schlossmuseum Murnau a. Staffelsee. 8. Februar - 4. März 2003: Paul Klee 1933. In Zusammenarbeit mit der Berner Paul-KleeStiftung, gezeigt von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München. Literatur Benz-Zauner, Margareta (1984): Werkanalytische Untersuchungen zu den Tunesien-Aquarellen Paul Klees. Frankfurt a. M. Busch, Günter (1969): Entartete Kunst. Geschichte und Moral. Societäts-Verlag, Frankfurt a. M.

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Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee: 97

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Deutsches Museum München (Hrsg.) (1997): Paul Klee in Schleißheim. Und ich flog. Konzept u. Aufbau v. Benz-Zauner, Margareta / Cichowski, Sabine / Heinzerling, Werner / Holzer, Hans / Filchner, Gerhard. Bruckmann Verlag, München Dückers, Alexander (1997): Zu Paul Klees späten Werkfolgen. In: Gillen, Eckhart (Hrsg.) (1997): Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land: 76 Frey, Stefan / Kersten, Wolfgang / Klee, Alexander (Hrsg.) (2001): Klee-Studien. Beiträge zur internationalen Paul-Klee-Forschung und Edition historischer Quellen. Band 1. ZIP-Verlag, Zürich Geelhaar, Jürgen (1974): Paul Klee, Leben und Werk. Köln Giedion-Welcker, Carola (1991): Paul Klee mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Gillen, Eckhart (Hrsg.) (1997): Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land. Katalog zur zentralen Ausstellung. Du Mont Verlag, Köln Giordano, Mario (2001): Der Mann mit der Zwitschermaschine – Augenreise mit Paul Klee. Aufbau Verlag, Berlin Glaesemer, Jürgen (1976): Paul Klee. Die farbigen Werke im Kunstmuseum Bern. Bern Glaesemer, Jürgen / Huggler, Max (Hrsg.) (1977): Der pädagogische Nachlaß von Paul Klee. Bern Glaesemer, Jürgen (1987): Paul Klee und die deutsche Romantik. In: Paul Klee. Leben und Werk. Ausstellungskatalog hrsg. v. d. Paul-Klee-Stiftung, dem Kunstmuseum Bern und dem Museum of Modern Art, New York Haftmann, Werner (1950): Paul Klees Wege des bildnerischen Denkens. Prestel Verlag, München Hausenstein, Wilhelm (1921): Kairuan oder die Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters. München Helfenstein, Josef / Frey, Stefan (1990): Paul Klee. Das Schaffen im Todesjahr. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Bern. Bern Hoppe-Sailer, Richard (1993): Paul Klee. Ad Parnassum. Eine Kunst-Monographie. Insel Tb, Frankfurt a. M. Kandinsky, Wassily / Marc, Franz (Hrsg.) (1979): Der blaue Reiter. Neuausgabe von Klaus Lankheit. München Kersten, Wolfgang (1986): Paul Klees Beziehung zum „Blauen Reiter“. In: Der Blaue Reiter. Kunstmuseum Bern (Katalog), Bern Kersten, Wolfgang (1990): „Übermut“. Allegorie der künstlerischen Existenz. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg Kersten, Wolfgang (Hrsg.) (2000): Das „Skizzenbuch Bürgi“, 1924/25. ZIP-Verlag, Zürich Klee, Felix (Hrsg.) (1960): Paul Klee. Leben und Werk in Dokumenten. Ausgewählt aus den nachgelassenen Aufzeichnungen und den unveröffentlichten Briefen. Zürich Klee, Felix (Hrsg.) (1979): Paul Klee. Briefe an die Familie. 2 Bände. Köln Klee, Paul (1970): Unendliche Naturgeschichte. Prinzipielle Ordnung der bildnerischen Mittel verbunden mit Naturstudium und konstruktiven Kompositionswegen. Schriften zur Form- und Gestaltungslehre. Teil 2. Hrsg. u. bearb. v. Jürg Spiller. Basel, Stuttgart Klee, Paul (1970): Paul Klee 1879–1940. Hrsg. v. Jürg Spiller u.a., München Haus der Kunst (Katalog), München Klee, Paul (1971): Das bildnerische Denken. Teil 1. Schriften zur Form- und Gestaltungslehre. Hrsg. u. bearb. v. Jürg Spiller. Basel, Stuttgart Klee, Paul (1979): Paul Klee. Das Frühwerk 1883–1922. Hrsg. v. Armin von Zweite. Städtische Galerie im Lenbachhaus (Katalog), München Klee, Paul (1980): Gedichte und Zeichnungen. Hrsg. v. Felix Klee. Basel Klee, Paul (1988): Tagebücher 1898–1918. Hrsg. v. der Paul-Klee-Stiftung und dem Kunstmuseum Bern, bearbeitet v. Wolfgang Kersten. Stuttgart, Teufen Lanchner, Carloyn (Hrsg.) (1987): Paul Klee. Museum of Modern Art, New York. Ausstellungskatalog. New York Moe, Ole Henrik (Hrsg.) (1986): Paul Klee und die Musik. Schirn Kunsthalle, Frankfurt a. M.

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Osterwald, Tillmann (1990): Paul Klee. Späte Werke. Württembergischer Kunstverein, Stuttgart Petsch, Joachim (1994): Kunst im Dritten Reich. Architektur, Plastik, Malerei, Alltagsästhetik. Vista Point Verlag, Köln Partsch, Susanna (1990): Paul Klee 1879–1940. Köln Rewald, Sabine (1988): The Berggruen Klee Collection in the Metropolitan Museum of Art (Sammlungskatalog), New York Roethel, Hans Konrad (1971): Paul Klee in München. Bern Schlossmuseum Murnau (Hrsg.) (1999): Paul Klee und seine Weggefährten. Bearb. v. Brigitte Salmen. RießDruck, Benediktbeuren Schuster, Peter-Klaus (Hrsg.) (1987): Dokumentation zum nationalsozialistischen Bildersturm am Bestand der Staatsgalerie moderner Kunst in München. Verlag Klein u. Volbert, München Schuster, Peter-Klaus (1987): Nationalsozialismus und „Entartete Kunst“. Dokumentation zum nationalsozialistischen Bildersturm am Bestand der Staatsgalerie moderner Kunst in München. Prestel Verlag, München Staatsgalerie Stuttgart (Hrsg.) (1979): Klee und Kandinsky. Erinnerung an eine Künstlerfreundschaft anlässlich Klees 100. Geburtstag (Katalog), Stuttgart Verdi, Richard (1984): Klee and Nature. London Verdi, Richard (1985): The Late Klee. German Art in the 20th Century. Richard Verdi. London Werckmeister, Otto Karl (1981): Versuche über Paul Klee. Frankfurt a. M. Werckmeister, Otto Karl (1987): Von der Revolution zum Exil. In: Paul Klee. Leben und Werk. Ausstellungskatalog hrsg. v. d. Paul-Klee-Stiftung, dem Kunstmuseum Bern und dem Museum of Modern Art, New York Werckmeister, Otto Karl (1989): The Making of Paul Klee´s Career 1914–1920. Chicago Zweite, Armin von (Hrsg.) (1979): Paul Klee. Das Frühwerk 1883–1922. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Ausstellungskatalog. München

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Klingenbeck, Walter *30.3.1924 München †5.8.1943 München-Stadelheim „Ich weiß, wofür ich mein Leben lasse“. Aus seinem Abschiedsbrief am 5. August 1943.231 Walter Klingenbeck Foto: IfZ München, Archiv Grabmal von Walter Klingenbeck (Waldfriedhof) Foto: Andreas Olsen

231 32Hartrumpf-Böck,

Gerhard (1997): Etwas tun – Die Wahrheit verbreiten! In: Deckname „Betti“: 71

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I. Walter-Klingenbeck-Schule Staatliche Realschule Taufkirchen, Köglweg 104, 82024 Taufkirchen KM (1995) II. Grabstätte im Westfriedhof: 39/4/21 III. Walter-Klingenbeck-Weg, Maxvorstadt M (1998) Universität U3/U6 IV. Walter-Klingenbeck-Saal, Dachau Jugendbegegnungszentrum Dachau (1998) Zu I. Walter-Klingenbeck-Schule ANLASS UND ENTSTEHUNG Initiatoren der Namengebung war der Realschulkonrektor Franz Pacher (†1996) und der Realschuldirektor Bernd Schmitz. Die offizielle Verleihung durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht, Kultus und Wissenschaft fand am 30. März 1995 statt. DENKMAL Auf einer von innen beleuchteten Bildsäule in der Schulaula wird mit Fotos, Dokumenten und Texten an Walter Klingenbeck und seine Freunde erinnert. Am 27. Januar 1997, dem Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus, wurde im Rahmen einer Feierstunde im Beisein von Angehörigen Walter Klingenbecks die Bildsäule enthüllt. SCHULINTERNE SCHRIFTEN Der Jahresbericht 1996 gibt auf den Seiten 1 bis 16 Auskunft über den Namenspatron. Im Jahresbericht 1997 findet man auf den Seiten 45 bis 48 einen Beitrag zur Gedenkfeier und zur Einweihung der Bildsäule.

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Zu II. Walter-Klingenbeck-Weg, Maxvorstadt ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Mitglieder der „Aktion Maxvorstadt“ richteten an den Bezirksausschuss 3, (Maxvorstadt) am 1. März 1997 den Antrag, einen Erinnerungsort für Walter Klingenbeck zu schaffen. Diese Initiative führte am 24. Januar 1998 zur Einweihung des Walter-Klingenbeck-Weges zwischen der Kaulbach- und Ludwigstraße, nördlich der Bayerischen Staatsbibliothek. KURZBESCHREIBUNG Dieser Weg befindet sich in der Nähe der Kirchengemeinde St. Ludwig, der Klingenbeck in der katholischen Jungschar bis zu ihrer Auflösung durch die Nazis angehörte. Ebenso befindet sich der Weg in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung in der Amalienstraße 44, Rückgebäude. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Walter Klingenbeck stammte aus einer streng katholischen Familie, die sich nicht davon abbringen ließ, die Rundfunksendungen des Radio Vatikan zu hören. Bereits seit August 1933 waren von der Reichsregierung zu Propagadazwecken spezielle preisgünstige Radiogeräte (sog. „Volksempfänger“) zu einem Preis von 76 Reichsmark erhältlich, was durch staatliche Subventionen möglich wurde. Die Geräte waren so konstruiert, dass die Frequenzen von Auslandssendern nicht mehr empfangen werden konnten. Durch diese Einschränkung avancierte das Radio zum wichtigsten Instrument der nationalsozialistischen Medienpolitik.232 Zusammen mit seinem Vater gelang es Walter Klingenbeck dennoch, Radio Vatikan zu hören, wo sie von den Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen die katholische Kirche erfuhren. Mit der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1.9.1939“ konnte das Abhören ausländischer Sender mit dem Tode bestraft werden. Klingenbeck ließ sich davon aber nicht beirren. Er empfing BBC London, Radio Moskau, Gustav Siegfried 1 und weihte seinen Freund Hans Haberl ein, der wiederum seinen Zimmergenossen Erwin Eidel einbezog. Es kam zu Treffen und Erfahrungsaustausch mit Hans Haberl und Erwin Eidel in der Firma für Meß- und Nachrichtentechnik Rohde & Schwarz, wo Klingenbeck als Schaltmechanikerlehrling arbeitete. Dort lernte er auch den Praktikanten Daniel von Recklinghausen kennen, der sich in der Hochfrequenz- und Rundfunktechnik gut auskannte. In einer 232

Der Staatliche Rundfunk stand unter der Leitung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.

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ersten gemeinsamen Aktion brachten sie das „Victory“-Zeichen heimlich an öffentlichen Stellen an. Sie zeichneten das „V“ mit schwarzer Ölfarbe im Stadtteil Bogenhausen auf Verkehrszeichen und Häuserwände. Angeregt von einem Aufruf des BBC London führten sie auch die nächste Aktion aus. Diesmal verstreuten sie Flugblätter mit dem Titel „Hitler kann den Krieg nie gewinnen, er kann ihn nur verlängern“. Die Gruppe kam auf die originelle Idee, die Flugblätter von einem ferngesteuerten Flugzeug aus zu verteilen. Erwin Eidel sollte dieses Flugzeug konstruieren. Der Erfindungsreichtum beflügelte die jungen Männer zum Bau eines eigenen Senders. Über diesen wollten sie die Nachrichten ausländischer Sender, mit Kommentaren und Musik versehen, über den Äther verbreiten. Zur Erschwerung der Ortung wechselten sie ständig die Sendestationen. Die Vorbereitungen zur Ausführung des Vorhabens waren noch im Gange, als Walter Klingenbeck denunziert und am 26. Januar 1942 festgenommen wurde. Einen Tag später erfolgte die Verhaftung Daniel von Recklinghausens, kurz danach die von Hans Haberl und Erwin Eidel. Bis zum Prozess ließ man die Inhaftierten im Ungewissen. Klingenbeck, von Recklinghausen und Haberl wurden zum Tode verurteilt, Eidel erhielt eine achtjährige Zuchthausstrafe. Für die drei Todeskandidaten begann nun eine fast einjährige seelische Tortur im Gefängnis München-Stadelheim. Am 2. August 1943 erfuhren von Recklinghausen und Haberl, dass ihre Gnadengesuche angenommen wurden und ihre Todesstrafe in acht Jahre Zuchthaus umgewandelt worden sei. Klingenbeck sagte man, dass seine Hinrichtung am 5. August 1943 um 11 Uhr erfolgen wird. An seinen Freund Haberl schrieb er seine letzten Worte: „Lieber Jonny! Vorhin habe ich von Deiner Begnadigung erfahren. Gratuliere! Mein Gesuch ist allerdings abgelehnt. Ergo geht´s dahin. Nimm´s net tragisch. Du bist ja durch. Das ist schon viel wert. Ich habe soeben die Sakramente empfangen und bin jetzt ganz gefaßt. Wenn Du etwas für mich tun willst, bete ein paar Vaterunser. Lebe wohl, Walter.“233 Aus seinen Abschiedsbriefen geht klar hervor, dass Klingenbeck von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war und wusste, in welche Gefahr er sich begeben hatte. Ausstellungen 1997 – 1998: Deckname „Betti“. Jugendlicher Widerstand und Opposition gegen die Nationalsozialisten in München oder: Plädoyer für „Junge Demokratie“. Ein Projekt des Kreisjugendrings München-Stadt und DGB-Jugend München. In Zusammenarbeit mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Eine Wanderausstellung, gezeigt in Instituten und Schulen in Bayern. 9. Oktober – 8. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das

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Hartrumpf-Böck, Gerhard (1997): Etwas tun – Die Wahrheit verbreiten! In Deckname „Betti“:71

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NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Rathaus von München. Film Bundesfilmpreis 1982 „Von Richtern und anderen Sympathisanten“. Eine Dokumentation von A. Engstfeld. VHS, 62 Minuten. Literatur Baumeister, Martin (1993): Der Münchner Katholizismus. Die „Hauptstadt der Bewegung“ – eine katholische Metropole. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“: 418–423 Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg) (1991): Dachauer Hefte. Heft 7 (1991): Solidarität und Widerstand. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Im Auftrag des Comité de Dachau, Brüssel. Verlag Dachauer Hefte, Dachau Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das nationalsozialistische Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin (Hrsg.) (1990): Sektion 18: Jugendopposition. Widerstand junger Christen. Berlin Harttrumpf, Gerhard (1997): Etwas tun – Die Wahrheit verbreiten! In: Deckname „Betti“: 70–73 Jahnke, Karl-Heinz (1985): Jugend im Widerstand 1933–1945. Frankfurt a. M. Klönne, Arno (1993): Jugend im Dritten Reich. In: Bracher / Funke / Jacobson: Deutschland 1933–1945: 218– 239 Klönne, Arno (1981): Jugendprotest und Jugendopposition im NS-Staat. München. In: Broszat, M. et al. (Hrsg.) (1981): Bayern in der NS-Zeit. Band 4. München: 527ff Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand. Steinberg-Verlag, Zürich Roth, Harald (Hrsg.) (1997): Widerstand. Jugend gegen Nazis. Otto Maier Verlag, Ravensburg Schwaiger, Georg / Pfister, Peter (1999): Blutzeugen der Erzdiözese München und Freising. Schnell & Steiner, Regensburg Ühlein, Erhard (1953–54) Briefe an Walter Hammer. In: Sammlung Hammer ED 106, Band 52. Institut für Zeitgeschichte München, Archiv Vier Jungen für Deutschland. In: Heute. Eine neue Illustrierte Zeitschrift Nr. 21 v. 1.10.1946 Zarusky, Jürgen (1991): „... nur eine Wachstumskrankheit?“ Jugendwiderstand in Hamburg und München. In: Dachauer Hefte 7 (1991): Solidarität und Widerstand: 210–229

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Knoeringen, Waldemar von *6.10.1906 Rechetsberg b. Weilheim in Oberbayern †7.7.1971 Höhenried bei Bernried am Starnberger See „Ich hab mir die Nazis genau betrachtet und die Überzeugung gewonnen, daß diese Partei alles andere vertritt, nur nicht den Freiheits- und Lebenswillen der Entrechteten, wenn man sich auch noch so sozialistisch aufspielt ... Ich wollte nicht hetzen, aber meine Empörung gegen Diktatur und Faschismus, die schrie ich hinaus, so laut ich nur konnte.“ Auszug aus einem Brief von Waldemar von Knoeringens an seinen Großvater vom 5. September 1932.234 Waldemar von Knoeringen Foto: Stadtarchiv München

Grabmal von Waldemar von Knoeringen auf dem Waldfriedhof Foto H. Engelbrecht

234

Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 13 u. 15

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I. Grabmal, Waldfriedhof Sektion 90 1971 II. Von-Knoeringen-Straße, Neuperlach M (1973) GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Landesvorsitzende der Bayerischen SPD, Dr. Helmut Rothemund zählte Waldemar von Knoeringen „zu den bedeutendsten Männern der bayerischen Sozialdemokratie und zu den profiliertesten Persönlichkeiten der bayerischen Politik der Nachkriegsjahre.“235 Karl Ludwig Waldemar von Knoeringen war das erste und einzige Kind des Ehepaars Clemens von Knoeringen und Magdalena (geb. Schuster), das am 6. Oktober 1906 auf Gut Rechetsberg in Huglfing bei Weilheim auf die Welt kam. Ein Jahr später zog die Familie nach Aising bei Rosenheim. Zwei Jahre lang besuchte er das Rosenheimer Ignaz-GüntherGymnasium. Nach dem Besuch der Handelsschule absolvierte er eine Lehre im Büro, um dann als Kanzlei-Assistent bei der Ortskrankenkasse in Rosenheim zu arbeiten.236 Sein Interesse galt schon früh den Naturwissenschaften. Nächtelang beobachtete er mit dem Spiegelteleskop seines Vaters die Gestirne. Den geistigen Zugang bot indes die väterliche Bibliothek. Beeindruckt haben von Knoeringen die Schriften des Naturforschers Ernst Haeckel Welträtsel und die Autobiographie von Bruno H. Bürgel Vom Arbeiter zum Astronomen.237 Doch allmählich fand er zu seinem eigentlichen Streben. Waldemar von Knoeringen widmete sich den „den großen Fragen der Menschheit“. So kam es, dass „nicht mehr die Sterne“ sondern „der Mensch in den Mittelpunkt meiner Welt trat.“238 Der 17-Jährige von Knoeringen schloss sich dem Touristenverein „Die Naturfreunde“ an. Nach dem Tod des nur 45-jährigen Vaters geriet die Familie in wirtschaftliche Not. Waldemar von Knoeringen trat im Oktober 1926239 in die Sozialdemokratische Partei in Rosenheim ein. Um beruflich voran zu kommen, konnte von Knoeringen mit der finanziellen Unterstützung seines Großvaters Karl Schuster in Bamberg eine höhere Schulbildung in München absolvieren. Neben der Ausbildung zum Bibliothekar bereitete er sich auf das Abitur vor. Ende der Zwanziger Jahre empfand von Knoeringen bereits, dass der Wahlsieg der Nationalis235 236 237 238 239

Rothemund, Helmut (1981): Vorwort. In: Waldemar von Knoeringen (1981): Reden und Aufsätze: 7 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 26 Dieser populäre Roman erschien 1919. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 26 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 27 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 29

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ten eine Bedrohung der Weimarer Republik darstellte. In seinen Reden machte er auf die Notwendigkeit einer umfassenden Bildung der Arbeiter aufmerksam, um eine weitere Ausbreitung des Nationalsozialismus zu verhindern. In einem Brief an seinen Großvater bringt er dies zur Sprache: „... Mir war es klar, eine Diktatur dieses Hitlers wäre eine namenlose Schande für ein Land Fichtes, Schillers, Goethes, Kants, wäre eine Vernichtung der Freiheit der deutschen Wissenschaft und des Geistes, wäre ein Triumph der Barbarei und des Scheingeistes. Und so stieg in mir die Verpflichtung auf, meine Kraft einzusetzen, um die Abwehrfront gegen diese Barbarei der Neuzeit zu stärken ...“240 Er ordnete die Nationalsozialisten richtig ein und wusste, dass er nicht in Deutschland bleiben konnte, falls diese an die Macht kämen. Dies lies er seinen Großvater am 5. September 1932 in einem Brief wissen: „... denn in einer Nacht der langen Messer werden die Naziwürger an meiner Tür nicht vorübergehen.“241 NS-Zeit Am 23. März 1933 lehnte die Sozialdemokratische Partei in Anbetracht der bereits verfolgten Parteimitglieder vor dem Reichstag das Ermächtigungsgesetz ab. Der Parteivorsitzende Otto Wels hatte in seinem Bekenntnis zur Demokratie betont, dass „kein Ermächtigungsgesetz“ den Nationalsozialisten die Macht gebe „Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“242 Nach dem endgültigen Verbot aller Parteien emigrierte der SPDParteivorstand nach Prag. Von dort wurden in allen Deutschlands angrenzenden Nachbarländern (Tschechoslowakei, Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland) SPD-Grenzsekretariate eingerichtet. Für das Grenzsekretariat Südbayern war Waldemar von Knoeringen zuständig. In Bayern existierten dreizehn illegale, „unabhängig von einander arbeitende Gruppen“.243 Nach Kriegsbeginn war der Kontakt zwischen den illegalen Inlandsverbänden und den Grenzsekretariaten unterbrochen. So blieb für die Verständigung einzig der konspirative Briefverkehr. Dazu kam ein in England stationierter „Sender der europäischen Revolution“ (SER), deren Leiter von Knoeringen war. In Deutschland konnte die verbotene SPD bis zur ihrer Zerschlagung 1942 durch die Gestapo wirken.244 Flucht und Versteck Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten musste von Knoeringen fliehen, um sein Leben zu retten. Zuerst hielt er sich bei seinem Parteigenossen Hans Lenk in Wörgl in Tirol (Österreich) auf. Mitte Mai 1933 machte er illegal in München Station, um die Reichs240 241 242 243 244

Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 35 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 15 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 130 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 135 Knoeringen, Waldemar von (1982): Reden und Aufsätze: 136

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tagsabgeordnete Toni Pfülf (siehe Band 2: Pfülf) zur Flucht in die Schweiz zu bewegen.245 Juliane Astner, die Verlobte Waldemar von Knoeringens, kam im Juni 1933 vorübergehend in „Schutzhaft“. Ende September gelang ihr die Flucht über die grüne Grenze nach Österreich246, wo sie in Wörgl mit ihrem Verlobten zusammentraf. Seitdem begleitete sie ihn während der Zeit im Exil. Von Knoeringens nächster Aufenthalt war Wien, wo er ein dreiviertel Jahr verbrachte. Seit Herbst 1933 hielt er Kontakt mit der in Bayern aktiven Gruppe „Neu Beginnen“, zu der auch Hermann Frieb gehörte (siehe Band 1: Frieb). Während der Februarkämpfe in Österreich (1934) konnte sich von Knoeringen verstecken, bis ihm die Flucht in die Tschechoslowakei gelang. Hier setzte ihn der Parteivorstand der „Sopade“247 als Grenzsekretär ein. In einen Brief an Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner) berichtete er Folgendes: „Ich ging in den Böhmerwald in einen Ort, der mir die Möglichkeit gab, die Verbindungen mit drüben wieder aufzunehmen, Nýrsko (Neuern) ist 6 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Ich habe von hier aus wieder zu arbeiten begonnen und habe rege Verbindungen.“248 Hier lebt er unter dem Pseudonym Walter Kerber, sein Deckname gegenüber der Partei lautete „Michel“. Seine konspirative Arbeit, sowohl für den Parteivorstand der „Sopade“ in Prag und als auch für seine Verbindung zu „Neu Beginnen“ in Oberbayern und Schwaben, machte komplizierte Methoden der Geheimhaltung notwendig. Am 16. Januar 1935 heirateten Juliane Astner249 und Waldemar von Knoeringen. Aufgaben der Grenzsekretäre Zu den Aufgaben der Grenzsekretäre gehörte das Verteilen des „Neuen Vorwärts“, der seit Herbst 1933 erscheinenden Zeitung, die von der „Sopade“ in Prag herausgegeben wurde. Auf Seidenpapier und in Kleinstdruck hergestellt, eignete sie sich für den Schmuggel. Dazu kamen Flugblätter, Klebezettel und Tarnbroschüren, die „... in unauffällig aussehenden Probepackungen bekannter Nahrungsmittelfirmen, in Shampoo, Rasierseife oder Tee verborgen, als Groschenromane ...“250 verborgen waren und von Knoeringens Gehilfen Josef Denk und Johann Lenk über die Grenze nach Deutschland gebracht wurden. Im Austausch brachten die Grenzgänger Berichte aus Deutschland mit. Die so genannten mo245 246 247 248 249 250

Interview von Hartmut Mehringer mit Emil Holzapfel v. 23.2.1965. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 56 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 64 So nannte sich die emigrierte Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Brief von Waldemar von Knoeringen an Wilhelm Hoegner v. 17.4.1934. In: IfZ Archiv ED 120/6. Zitiert in Mehringer, Hartmut (1989): 80 Juliane von Knoeringen (20.5.1906 – 5.2.1973). In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 80 u. 384 Edinger, Lewis J. (1960): Sozialdemokratie und Nationalsozialismus: 45. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 86

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natlich zusammengefassten Deutschland-Berichte informierten über die Verhältnisse unter dem NS-Regime und seiner Mediendiktatur. Um die internationale Öffentlichkeit zu informieren, gab es seit 1937 englische und französische Ausgaben der Deutschland-Berichte. Diese in Prag hergestellten Schriften fanden ihre Verteiler bei den Mitgliedern der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) in Südbayern, deren Bezirksleiter Eugen Nerdinger und der SAJ-Funktionär Josef (Bebo) Wager die Verbreitung der illegalen Literatur übernahmen.251 1934 kam es zu einem Treffen von Nerdinger und Wager bei Waldemar von Knoeringen in der Tschechoslowakei. Als die tschechischen Behörden die deutschen Emigranten aus den Grenzgebieten verdrängten, wechselte von Knoeringen ins böhmisch-mährische Hochland nach Budweis, wo er etwa ein Jahr verbrachte, um danach nach Prag zu siedeln.252 In Folge des Münchner Abkommens vom 30. September 1938 entschloss sich die SPD-Parteiführung, den Standort und Stützpunkt Prag aufzugeben und in Paris eine Niederlassung zu gründen. Von Knoeringen war für den neuen Stützpunkt der Exil-Organisation von „Neu-Beginnen“ in Paris zuständig. Nach einem knappen Jahr entstanden wegen Kenntnis von den Kriegsvorbereitungen Pläne, das Büro von „Neu Beginnen“ nach London zu verlegen. Infolge dessen reiste von Knoeringen im August 1939 nach England. Der Sender der Europäischen Revolution (SER) Der SER in Großbritannien war ein Medium, das von deutschen Sozialisten genutzt wurde, um ihre politischen Ansichten in Nazi-Deutschland zu verbreiten. Über zwei Jahre (1940–1942) lang war es möglich, mittels dieses Senders über den Kriegsverlauf aus ihrer Sicht zu informieren. Waldemar von Knoeringen nahm dabei eine leitende Funktion ein. Die Hörer sollten davon überzeugt werden, dass Hitler den Krieg nicht gewinnen könne; hieß es in einer Sendung am 14. April 1941: „Darum bringt Hitler nicht das Ende des Kriegs, sondern der Krieg bringt das Ende Hitlers!“253 Als alle Radiobeiträge zensiert werden sollten, entschloss sich von Knoeringen, die Sendungen einzustellen.254 In Deutschland kam es unterdessen durch Ermittlungen der Gestapo zur Zerschlagung der aktiven illegalen Gruppe von „Neu Beginnen“. Hermann Frieb (siehe Band 1: Frieb) und Bebo Wager verurteilte der Volksgerichtshof im Mai 1943 zum Tode. Einsatz für britische Behörden in Nordafrika 251 252 253 254

Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 102–103 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 139 Archiv der sozialen Demokratie, Nachlass Waldemar von Knoeringen 249A. Zitiert in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 221 Aussage Waldemars von Knoeringen im Hedler Prozess. Zitiert in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 226

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Britische und amerikanische Truppen hatten in Nordafrika die Oberhand gewonnen, nachdem deutsche und italienische Streitkräfte kapitulierten. Für die psychologisch-politische Betreuung zahlreicher deutscher Kriegsgefangener fehlte der britischen Regierung Personal. Waldemar von Knoeringen und einige seiner politischen Freunde fanden sich bereit zu helfen. Die Reise über Gibraltar nach Algier fand im Februar 1943 statt.255 Hier bekamen sie die Aufgabe, in den Lagern deutsche Gefangene mit antifaschistischer Einstellung zu finden. Dabei machte von Knoeringen enttäuschende Erfahrungen, da die Kriegsgefangenen ablehnend und feindselig eingestellt waren.256 Im Sommer 1944 trat von Knoeringen die Rückreise nach London an. Auch hier war er mit den von der britischen Regierung eingeführten „Reeducation-Aufgaben“ betraut. Henry Faulk257 und Hartmut Mehringer258 informierten über die Hintergründe des Scheiterns dieser Idee. „Training Centre Wilton Park“ Am 17. Januar 1946 konnten die im Auftrag des Political Intelligence Department (PID) eingerichteten Kurse im Trainings Centre Wilton Park beginnen. Hier sollte die begonnene Umerziehung der Kriegsgefangenen von besonders ausgebildeten Referenten ergänzt und verbessert werden. Waldemar von Knoeringen war am Aufbau dieses Schulungslagers beteiligt und leitete politisch-aufklärerische Kurse. Er hatte dafür ein Manuskript mit zwölf Vorlesungen unter dem Titel Deutsche Geschichte im neuen Licht verfasst.259 Von Knoeringen wirkte vom Januar bis April 1946 im „Training Centre Wilton Park“. Rückkehr nach Deutschland Waldemar von Knoeringen wollte in seine Heimat zurückkehren, weil er die Überzeugung hatte: „Heimkommen und das Schicksal mit ihnen teilen und alles geben, was noch übrig geblieben ist nach den langen Jahren in der Fremde.“260 Als Unbelasteter war er Kandidat für verschiedene Aufgaben und politische Ämter. In München erfuhr er vom gewaltsamen Tod seiner politischen Freunde Hermann Frieb und Bebo Wager. Während seiner politischen Tätigkeit fühlte er sich weiterhin verpflichtet, die Erinnerung an sie wachzuhalten. Auf Veranlassung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner), kehrte Waldemar von Knoeringen im April 1946 in seine 255 256 257 258 259 260

Interview von Hartmut Mehringer mit Fritz Heine am 16.4.1983. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 240 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 242 In: Die deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien. Reeducation. Band IX/2 Waldemar von Knoeringen: 245–248 0Dieses Manuskript ist Eigentum von Heinrich Kröller. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 255–257 Waldemar von Knoeringen in einem Brief an Willi Müller (Karl Frank) v. 3.3.1946. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 270

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Heimat nach Aising zurück. Kurze Zeit später wurde er von den SPD-Delegierten der Stadt und des Landkreises Rosenheim einstimmig als Kandidat nominiert; so erhielt er einen Sitz in der verfassungsgebenden Landesversammlung. Ein Amt für politische Erziehung Waldemar von Knoeringen überreichte dem damaligen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner am 3. Juli 1946 eine Denkschrift zu einem Amt für politische Erziehung. Nach von Knoeringens Vorstellungen sollten darin drei Abteilungen enthalten sein: „eine Forschungsabteilung, deren Aufgabe vor allem in der Erfassung von politisch-pädagogisch geeigneten Persönlichkeiten und Gruppen, in der Auswertung von Presse und Rundfunk und in der Beschaffung von Informationen über ähnliche Ansätze außerhalb Deutschlands bestehe; eine zweite Abteilung, die sich um die Planung und Durchführung sowie um die Propagierung von Bildungsveranstaltungen zu kümmern und den Kontakt zur Militärregierung zu halten habe; eine dritte Abteilung für wissenschaftliche Beratung und Auswertung einschlägiger Literatur und zur Kontaktpflege mit der Wissenschaft sowie zur Vorbereitung eines ,Training Centre´ für politische Bildung.“261 Weil das angestrebte Unternehmen zunächst auf staatlicher Ebene gescheitert war, wurde statt dessen eine Politische Bildungszentrale der SPD eingerichtet. Die Verwirklichung von Knoeringens Konzept nahm weitere Jahre in Anspruch, bis im November 1955 die Regierung unter Ministerpräsident Wilhelm Hoegner die „Bayerische Zentrale für Heimatdienst“ gründete. Diese wurde 1964 in die heutige „Landeszentrale für Politische Bildung“ umbenannt.262 Gründung der Georg-von-Vollmar-Schule in Kochel am See263 Als Leiter der politischen Bildungszentrale der SPD (seit September 1946) erkannte Waldemar von Knoeringen, dass es in dieser Zeit um eine entscheidende historische Weichenstellung gehe. Dabei gehe es jetzt um „die Erhaltung der menschlichen Freiheit und die soziale Gerechtigkeit in einer zwangsläufig gelenkten Wirtschaft“, um die „Synthese zwischen einer notwendig gewordenen Planung, ohne die wir in Anarchie versinken müßten, und der Erhaltung der Freiheit, ohne die ein wahres Menschentum unmöglich ist.“264 Ei261

262 263

Eine in Details abweichende deutsche Version vom 1.7.1946 findet sich bei den Unterlagen zur späteren Gründung der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildung, sowie im Nachlass Wilhelm Hoegner, IfZ ED 120/203. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 291–292 Unterlagen in der Registratur der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildung. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 294 Der Namenspatron Georg von Vollmar (1850–1922) war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der SPD in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg und ein Vertreter der „königlich-bayerischen Sozialdemokraten“. Als einer der ersten Sozialdemokraten im Bayerischen Landtag (1893)vertrat er einen demokratischen Sozialismus und war maßgeblich am Aufbau der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beteiligt. Seit 1915 lebte er in seinem Landhaus Soyensaß am Walchensee. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Münchner Waldfriedhof, Sekt. 90.

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nes seiner Hauptanliegen war eine umfassende politische Bildung des Volkes. Als er von der Bayerischen Staatskanzlei eine Ministerialstelle angeboten bekam, lehnte er diese ab, da er befürchtete, seine Erziehungs- und Bildungsarbeit nicht weiter fortführen zu können.265 Auf der Suche nach einem Gebäude für ein Schulungszentrum war von Knoeringen auf das Schloss Aspenstein am Kochelsee (Oberbayern, Landkreis Bad-Tölz) aufmerksam geworden. Dieses Schloss war ursprünglich Eigentum der Adelsfamilie von Dessauer. Während der NS-Zeit gelangte es in den Besitz des Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Nach 1945 diente es der amerikanischen Luftwaffe und wurde dann Eigentum der Sozialdemokratischen Partei. Nach dem Umbau des Schlosses in ein Bildungszentrum konnte am 25. Juli 1948 mit dem Schulungsbetrieb begonnen werden. Es trägt seit 1949 den Namen „Georg-von-Vollmar-Schule“. Als freie Hochschule für politische und soziale Demokratie erfolgte später die Umbenennung in „Georg-von-Vollmar-Akademie“.266 Von Knoeringen war als Schulleiter für das Programm, die Auswahl die Referenten und den Kursbetrieb verantwortlich. Im Jahre 1946/47 übernahm Waldemar von Knoeringen die stellvertretende Leitung der Landtagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei in Bayern; seit 1950 war er Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion und seit 1952 Mitglied des bayerischen Landtags. Als Leiter der Bildungskommission im Bayerischen Landtag strebte von Knoeringen in seinem Bildungsplan ein Bündnis zwischen Wissenschaft und Politik an. So konnte nach einem Bayerischen Landesgesetz von 1957 die „Akademie für politische Bildung“ in Tutzing gegründet werden. 1958 erhielt von Knoeringen den Posten des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundespartei. Um sich auf die Grundlagen- und Bildungsarbeit und auf die Gesellschafts- und Kulturpolitik zu konzentrieren, verzichtete von Knoeringen 1963 auf die Kandidatur des Landesvorsitzenden der SPD. In seiner Rede stellte er dies dar: „Seit 37 Jahren gehöre ich dieser Partei an. Begeistert von ihren Ideen bin ich als Zwanzigjähriger zu ihr gestoßen ... 36 Jahre habe ich ihr in verantwortlichen Funktionen dienen dürfen. Ich kenne die Stürme der vorfaschistischen Zeit und ich hatte die Ehre – die höchste, die mir zuteil wurde – in den zwölf Jahren der Illegalität der Grenzsekretär unserer Partei in Bayern zu sein ... Ich kenne die Partei. Sie war, sie ist mein Leben und gerade darum will ich einen Schritt zurücktreten aus der vordersten Reihe. Was ich in der Vergangenheit mit Leidenschaft verfolgt habe, aber nur nebenher tun konnte, möchte ich nun mit ganzer Kraft betreiben. Es ist der Arbeitsbereich Kultur- und Gesellschaftspolitik ... Wenn ich die 264 265 266

Knoeringen, Waldemar von: Der Weg in die Sozialdemokratie. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 335 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 310–311 Arbeitsbericht 1948. In: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 337

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Unterstützung der Partei dabei finde ... werden sich auch die Früchte dieser Arbeit zeigen.“267 Waldemar von Knoeringen setzte beharrlich darauf, seine Erkenntnis zu verbreiten, dass sozialdemokratische Politik nicht allein den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt, sondern den Menschen in den Mittelpunkt aller Politik stellen sollte. Schon damals (1968) befasste er sich mit höchst aktuellen Fragestellungen wie der „Bedrohung des biologischen, klimatischen und landschaftlichen Gleichgewichts“, den „soziokulturellen Problemen der Arbeitszeitverkürzung“ und der Frage der „sozialen und wirtschaftlichen Integration“ von Gastarbeitern.“268 Waldemar von Knoeringen trat mit seiner Person für den humanen Sozialismus ein und stellte seine Persönlichkeit in den Dienst der Sozialdemokratischen Partei. Bereits in jungen Jahren wusste er: „Ich aber finde keinen Sinn in einem Leben, das nur auf persönliches Wohl und Glück eingerichtet ist. Ich bedauere die Menschen, die in ärmlicher Sorge nur darauf bedacht sind, daß sie in der Gesellschaft nicht ,anecken´. Diese bürgerliche Halbbildung, dieses schöne und doch scheinheilige Getue hat schon viel Unheil angerichtet und verbirgt seine Hohlheit auch nicht hinter schönen Kleidern und modernen Moden.“269 Im Alter von 64 Jahren starb Waldemar von Knoeringen am 2. Juli 1971 an Herzversagen. Seine Aufsätze, Texte und Beiträge sind nicht nur geschichtliche Dokumente, sondern „Waldemar von Knoeringen hat uns auch heute noch viel zu sagen.“270 Ehrungen Waldemar-von-Knoeringen-Preis: Verliehen am 4. Juni 1983 in Kochel an Karl Anders. 1984 verliehen an Professor Richard Löwenthal. Ausstellung 9. Oktober – 26. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das NS-Regime in München. Projekt des Kulturreferats und der Landeshauptstadt München; konzipiert von Marion Detjen und Peter Dorsch. Gezeigt im Neuen Münchner Rathaus. 267 268 269 270

Werner, Emil (1982): Im Dienste der Demokratie: 185f. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 383–384 Knoeringen, Waldemar von (1968): Geplante Zukunft. München. Auch in: Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen: 384 Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze: 16 Rothemund, Helmut (1981): Vorwort. In: Waldemar von Knoeringen (1981): Reden und Aufsätze: 10

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Tagung 6.–7. Juli 2001: Mobilisierung der Demokratie. Tagung anlässlich des 30. Todestages von Waldemar von Knoeringen. Ein Zukunftsthema in Erinnerung an Waldemar von Knoeringen in der Akademie für politische Bildung Tutzing. Sendung im Bayerischen Rundfunk 1. Mai 1977: Waldemar von Knoeringen. Zusammengestellt von Heike Bretschneider. Literatur Asgodom, Sabine (Hrsg.) (1983): „Halt´s Maul – sonst kommst nach Dachau!“ Männer und Frauen der Arbeiterbewegung berichten über Widerstand und Verfolgung unter dem Nationalsozialismus. Köln Boberach, Heiz (1965): Die Quellenlage zur Erforschung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. In: Stand und Problematik der Erforschung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Bonn, Bad-Godesberg: 84–112 Bretschneider, Heike (1968): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945. München Broszat, Martin et al. (Hrsg.) (1983): Bayern in der NS-Zeit. Band 1–4. München, Wien Edinger, Lewis J. (1960): Sozialdemokratie und Nationalsozialismus. Der Parteivorstand der SPD im Exil 1933–1945. Hannover, Frankfurt a. M. Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NSRegime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Faulk, Henry (1970): Die deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien (= Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, Band IX/2) München Felder, Josef (1982): Mein Weg. Buchdrucker – Journalist – SPD-Politiker. In: Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Band 1. Boppard a. Rhein Grebing, Helga (1970): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick. München Grebing, Helga (Hrsg.) (1984): Entscheidung für die SPD. Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten 1944–1949. München Grebing, Helga (1985): Was wird aus Deutschland nach dem Krieg? Perspektiven linkssozialistischer Emigranten für den Neubau Deutschlands nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur. In: Exilforschung 3/1985: 31–42 Kraus, Elisabeth (1993): Das sozialistische Arbeitermilieu. Zur Soziologie des sozialistischen Arbeitermilieus in München. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 425–432 Knoeringen, Waldemar von (Hrsg.) (1966): Mobilisierung der Demokratie. Ein Beitrag zur Demokratiereform. Olzog Verlag Knoeringen, Waldemar von / Lohmar, Ulrich (Hrsg.) (1968): Was bleibt vom Sozialismus. Schriftenreihe „Mobilisierung der Demokratie“. Verlag für Literatur u. Zeitgeschehen, Hannover Knoeringen, Waldemar von (1981): Reden und Aufsätze. Zusammengestellt von Emil Werner. Hrsg. v. SPDLandesverband Bayern. Druckhaus Bayreuth, Bayreuth Knoeringen, Waldemar von (1981): Anthropologische Orientierung der Politik. In: Knoeringen, Waldemar von / Lohmar, Ulrich (Hrsg.) (1981): Was bleibt vom Sozialismus? Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, Hannover: 93–107

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Kronawitter, Hildegard (1988): Wirtschaftskonzeption und Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie in Bayern. München, New York, London, Paris Löwenthal, Richard / von zur Mühlen, Patrik (Hrsg.) (1982): Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933–1945. Dietz Verlag, Bonn Löwenthal, Richard (1984): Die Haltung der Sozialdemokratie zur Zukunft. Rede anlässlich der Verleihung des Waldemar-von-Knoeringen-Preises 1984. In: Georg-von-Vollmar-Akademie (Hrsg.): Waldemar-vonKnoeringen-Preis 1984. München Mehringer, Hartmut (1983): Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS-Regimes. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand. In: Bayern in der NS-Zeit, hrsg. v. Martin Broszat u. Hartmut Mehringer. München, Wien: 287–432 Mehringer, Hartmut (1989): Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zu sozialen Demokratie. Hrsg. v. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung u. d. Institut für Zeitgeschichte München. Schriftenreihe der Georg-von-Vollmar-Akademie. Band 2. K. G. Saur Verlag, München Nerdinger, Eugen (1965): Die unterliegen nicht, die für eine große Sache sterben! Augsburg Nerdinger, Eugen (1979): Flamme unter Asche. Augsburg Nerdinger, Eugen (1984): Brüder zum Licht empor. Ein Beitrag zur Geschichte der Augsburger Arbeiterbewegung. Hirmer Verlag, Augsburg Seebacher-Brandt, Brigitte (1984): Biedermann und Patriot. Erich Ollenhauer – ein sozialdemokratisches Leben. Diss. phil. FU Berlin. Rheinbreitbach Sontheimer, Kurt (1979): Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren. München Sontheimer, Kurt (1979): Die Bundesrepublik und ihre Bürger. In: Scheel, Walter (Hrsg.): Nach dreißig Jahren. Die Bundesrepublik Deutschland – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Stuttgart Vollmar, Georg von (1891): Vom Optimismus. Aufsätze. In: Münchner Post v. 1.–4.8.1891 Werner, Emil (1980): Im Dienste der Demokratie. Die bayerische Sozialdemokratie nach der Wiedergründung 1945. München Werner, Emil (1985): Waldemar von Knoeringen 1906–1971. München Wiesemann, Falk (1971): Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/ 1933. Berlin zur Mühlen, Patrik von (1982): Sozialdemokraten gegen Hitler. In: Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933–1945. Hrsg. v. Richard Löwenthal und Patrik von zur Mühlen. Dietz Verlag, Bonn: 57–75

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König, Lothar Prof. Dr. SJ *3.1.1906 Stuttgart †5.5.1946 München „Wiederherstellung des Bewußtseins von naturgegebenen, von jeder staatlichen und politischen Ordnung unabhängigen Menschenrechten, deren Beschneidung oder Vergewaltigung den Menschen zerstört und jedem gemeinschaftlichen Leben Sinn und Berechtigung nimmt.“ So formulierte Pater Alfred Delp SJ die Ziele des „Kreisauer Kreises.“271

Pater Lothar König SJ Foto: Archivum Monacense SJ

Gedenktafel am Berchmanskolleg Foto: H. Engelbrecht

271

Delp, Alfred (1985): Gesammelte Schriften, Band IV: 380. Auch in: Roon, Ger van (1998): Widerstand im Dritten Reich: 152

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Gedenktafel Berchmanskolleg, Kaulbachstraße 31a, Schwabing Giselastraße U3/U6 Katholische Kirche 1996 KURZBESCHREIBUNG Am Eingang zum Berchmanskolleg steht auf einer Gedenktafel folgender Text: „Dieses Haus war unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ein Zentrum des katholischen Widerstands. Hier trafen sich mit dem Jesuitenprovinzial Augustinus Rösch die Patres – Rupert Mayer – Lothar König – Alfred Delp. Hier fanden 1942–1943 mit Helmuth Graf Moltke geheime Treffen des Kreisauer Kreises statt. Alle riskierten ihr Leben, viele verloren es.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Rolle im Widerstand „Kreisauer Kreis“ Der Jesuitenpater Dr. Lothar König (Professor für Kosmologie) übernahm als engster Mitarbeiter von Augustinus Rösch die Rolle eines Kuriers. Mit seinen zahlreichen Reisen sorgte er für ausreichenden Informationsfluss und zeitliche Abstimmung der Aktivitäten in den Widerstandskreisen. So schrieb er in seinen Taschenkalender über den Zeitraum des Jahres 1941 „Fahrtkilometer Januar bis zum 4.12.1941: 77 000 km“. Er übernahm dabei die Übermittlung von Nachrichten und Dokumenten, traf sich persönlich mit James Graf von Moltke, Eugen Gerstenmeier und anderen Vertretern der Widerstandsgruppen in Bayern. Wie in den Schriften der Historiker Ger van Roons und Roman Bleisteins aufgezeigt wurde, hatten Pater König und Pater Rösch wesentlichen Anteil daran, dass die Mehrzahl der Bischöfe stärker und auch öffentlich ihre Stimme gegen den Nationalsozialismus erhoben. Er war in den Attentatsplan gegen Hitler eingeweiht und diesen voll bejaht. Ebenso wie Rösch (siehe Band 3: Rösch) wurde Lothar König nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 steckbrieflich gesucht. Der Verhaftung im Pullacher Berchmanskolleg (hier war bis 1969 die Philosophische Hochschule der Jesuiten) konnte er in letzter Sekunde entgehen. Er fand dort im Kohlenkeller ein sicheres Versteck, in dem er trotz einer schweren Krankheit und dank der Hilfe des Mitbruders Max Manall überlebte. Lothar König starb am 5. Mai 1946 an den Auswirkungen der unmenschlichen Lebensbedingungen während der Verfolgung.

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Literatur Bleistein, Roman (1982–1985): Alfred Delp. Gesammelte Werke. 4 Bände. München Bleistein, Roman (1986): Lothar König ein Jesuit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Stimmen der Zeit Nr. 204: 313ff Bleistein, Roman (1987): Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Aus dem Nachlass von Lothar König S. J. Knecht Verlag, Frankfurt a. M. Bleistein, Roman (1993): Die Jesuiten und der Kreisauer Kreis in München. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 436–437 Bleistein, Roman (1993/94): Topographie des Widerstands in München – Weiße Rose – Kreisauer Kreis. Hochschule für Philosophie München Delp, Alfred (1955): Kämpfer, Beter, Zeuge. Letzte Beiträge von Freunden. Morus Verlag, Berlin Delp, Alfred (1985): Im Angesicht des Todes. Gesammelte Schriften, Band 4. Knecht Verlag, Frankfurt a. M. Delp, Alfred / Bleistein, Roman (1992): Gesammelte Schriften. Knecht Verlag, Frankfurt a. M. Oswald, Julius / Bleistein, Roman (2000): Schule des Denkens. 75 Jahre Philosophische Fakultät der Jesuiten in Pullach und München. Verlag Kohlhammer, Stuttgart Roon, Ger van (1967): Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. C. H. Beck Verlag, München Roon, Ger van (1986): Der Kreisauer Kreis im Ausland. In: Politik und Zeitgeschichte, Band 50/86: 31–46 Roon, Ger van (1988): Der Kreisauer Kreis zwischen Widerstand und Umbruch. Beiträge zum Widerstand 1933–1945, Heft 26. Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin. Felgentreff & Goebel, Berlin Roon, Ger van (1998): Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. Beck´sche Reihe Band 19: 141–158 Schoenhoven, Klaus (1983): Der politische Katholizismus in Byern unter der NS-Herrschaft 1933–1945. In: Bayern in der NS-Zeit, Band 5. München Schwaiger, Georg / Pfister, Peter (1999): Blutzeugen der Erzdiözese München und Freising. Schnell & Steiner, Regensburg Winterhager, Wilhelm Ernst (1985): Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Mainz Winterhager, Wilhelm Ernst (1987): Politischer Weitblick und moralische Konsequenz. Der Kreisauer Kreis in seiner Bedeutung für die deutsche Zeitgeschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 38: 402–417

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Kolb, Annette *3.2.1870 München †3.12.1967 München „Ihre Bücher gehören zu den wichtigsten gesellschaftskritischen Zeugnissen unserer Literatur seit Fontane, sie enthalten wahrhafte politische, auch völkerpsychologische Einsichten jenseits der beliebten, bequemen und meistens pharisäerhaft wertenden oder abwertenden Klischees.“ Max Rychner, der Schweizer Literaturhistoriker über Annette Kolb272 Annette Kolb Foto: Stadtarchiv München

Grabmal von Annette Kolb (Bogenhausener Friedhof) Foto: H. Pfoertner

272

Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 183

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I. Grabmal Friedhof St. Georg, Kirchplatz 1, Bogenhausen Max-Weber-Platz U4/U5 und Tram 18 M (1967) II. Annette-Kolb-Anger, Neuperlach M (1971) III. Gedenktafel Händelstraße1, Bogenhausen Max-Weber-Platz U4/U4 und Tram 18 M (1985) Zu III. Gedenktafel ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Landeshauptstadt München veranlasste im Januar 1981 die Anbringung einer Gedenktafel für die Schriftstellerin Annette Kolb. Die Gedenktafel wurde am 1. Juli 1985 vom zweiten Münchner Bürgermeister Dr. Klaus Hahnzog enthüllt. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel hat Professor Dr. Ing. Horst Auer gestaltet. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Anne Mathilde, genannt Annette, wurde als drittes Kind von Sophie (geb. Danvin) und Max Kolb am 3. Februar 1870 in München in der Sophienstraße 7 geboren. Sie ist das drittjüngste von sechs, das Säuglingsalter überlebenden Kindern. Die in Paris geborene Mutter stammte aus der Familie des bekannten französischen Landschaftsmalers Félix Danvin und Constance Amélie Lambert Danvin, die am Pariser Konservatorium als Pianistin ausgebildet worden war. Der Vater Max Kolb war „als illegitimer Sohn einer Zofe der Königin Therese von Bayern und eines unbekannten Adeligen“273 in München geboren. Zum Gartenarchitekten ausgebildet, erhielt er vom Hofe der Wittelsbacher den Auftrag, die Gartenanlagen zur Weltausstellung in Paris zu gestalten. Hier lernten sich die El273

Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 10–11

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tern von Annette Kolb kennen, wo auch die Vermählung stattfand. Als Max Kolb vom König Maximilian II. von Bayern die Ernennung zum Inspektor des Botanischen Gartens in München erhielt, siedelte das junge Paar in die Residenzstadt. Sophie Kolb stimmte einen Umzug nach München zu, wollte ihn aber zeitlich begrenzen. Hier schuf sie einen Salon, in dem bedeutende Persönlichkeiten aus Europa verkehrten; insbesondere pflegte sie Freundschaft mit dem Hofkonzertmeister Hans von Bülow und dessen Gattin Cosima, die spätere Ehefrau von Richard Wagner. Mit ihren beiden älteren Schwestern Louise (*1865) und Germaine (*1867) verband Annette Kolb eine innige Beziehung. Im Alter von sechs Jahren bekam sie eine Freistelle in der von den Salesianern geleiteten Klosterschule Thurnfeld bei Hall in Tirol. Dies war der Dank des Klosters dafür, dass Max Kolb den Klostergarten gestaltet hatte.274 Nach sechsjähriger Schulzeit kehrte Annette auf eigenen Wunsch nach München zurück. Hier besuchte sie die Privatschule von Therese Ascher. Sie erhielt zusätzlich musikalische Ausbildung und berichtete über diese Jahre: „Ich hatte am Speicher oben ein Zimmer mit sechs kleinen Fenstern und einen Flügel. Man gab mir gute Lehrer für das Klavier. Ich spielte als Kind sehr gut, und es wurde schon daran gedacht, daß ich vielleicht Pianistin werden würde ... Ich war keine wirkliche Pianistin, und darum ließ ich es auch sein. Aber ich spielte zu meinem Vergnügen.“275 In dem geselligen Haus, das die Mutter pflegte, lernte Annette viele hochgestellte Persönlichkeiten kennen. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörte der Bildhauer Adolf von Hildebrand, die Familie des Malers Friedrich von Kaulbach und die des „Malerfürsten“ Franz von Lenbach. So unterhielt die Familie Kolb auch Kontakt zu der Familie des angesehenen Mathematikprofessors Pringsheim. Seine Tochter – die spätere Katia Mann – sagte dazu, dass sie Annette Kolb kannte, lange bevor sie Thomas Mann begegnete.276 Auch besuchten Diplomaten aus Frankreich und Großbritannien das Kolb‘sche Haus. Der Weg zur Schriftstellerin Erste schriftstellerische Versuche unternahm Annette Kolb 1899 mit kurzen Aufsätzen, die sie in verschiedenen Zeitschriften publizierte. Die Inhalte bezogen sich auf die politische und gesellschaftspolitische Situation Europas sowie auf bedeutende französische Künstler, Diplomaten und Intellektuelle. Dabei war eines ihrer Hauptanliegen die Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich. In einem Selbstporträt nahm sie dazu Stellung: „... und als ich aufwuchs, da lag mir immer mehr am Herzen, daß die Franzosen und die Deutschen sich so liebten, wie ich die beiden zusammen liebte, denn ich habe zu beiden in gleichem Maße gehört.“277 274 275 276

Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 18 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 111 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 14

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1905 erschien in der „Neuen Rundschau“ in Berlin der Text Torso. Unterstützt von ihrem wichtigsten Förderer, dem Schriftsteller Franz Blei (1871–1942), der Novellist, zeitkritischer Essayist und Herausgeber der Zeitschrift „Hyperion“ war, übersetzte sie Gilbert Keith Chestertons Roman Orthodoxie für die gleichnamige Zeitschrift. Über Annette Kolb hielt Blei in Glanz und Elend berühmter Frauen und in dem Großen Bestarium der modernen Literatur Folgendes fest: „Annette hat den Typus einer Frau als Vorläuferin vorweggenommen und lebendig hingestellt, wie wir ihn als geläufigen Typus für einmal in dreißig Jahren erhoffen ... Ja, die große Vorläuferin dieses erlösten und erlösenden Frauentypus ist die Annette.“278 Der Durchbruch als Autorin gelang Annette Kolb 1912 mit dem Roman Das Exemplar, der zuerst in der „Neuen Rundschau“ veröffentlicht wurde. Ein Jahr später erschien dieser Roman als Buch beim Samuel Fischer Verlag in Berlin. Die Schriftstellerin Luise Rinser äußerte sich dazu in der „Züricher Woche“: „Wer Annette Kolb kennenlernen will, tut gut ihren frühen Roman „Das Exemplar“ zu lesen. Denn die Heldin dieses Romans ist Mariclée, ist Annette Kolb; alle ihre spätere Erfahrung ist in diesem Buch vorweggenommen. Ein Meisterstück der Selbstdarstellung, aus einer großen Distanz zu sich selber entstanden, voll gescheiter und melancholischer Selbstironie, voller Humor und Witz, und nicht zu vergessen; ein bezaubernder und eigentümlicher Liebesroman.“279 1914 erschien ein Band im Leipziger Verlag der Weißen Bücher unter dem Titel Wege und Umwege, den Franz Blei redigiert hatte. Erster Weltkrieg Mit der Kriegserklärung an Frankreich am 3. August 1914 marschierten die Deutschen gegen das Land, das Annette Kolb so verehrte. Sie konnte ihre Verzweiflung darüber nicht verbergen und drückte in einem Brief an den Schriftsteller Alfred Walter Heymel (1878– 1914) ihre Stimmung mit folgenden Worten aus: „... ich beneide die Toten.“280 War Annette Kolb anfangs von einem deutschen Patriotismus ergriffen, so wandelte sie sich zur radikalen Pazifistin. Als ihr Freund Walter Heymel am 26. November 1914 im Alter von 36 Jahren gefallen war, begehrte sie gegen dieses sinnlose „Heldentod“-Sterben auf. Mit einem Vortrag in Dresden am 25. Januar 1915 löste Annette Kolb eine deutsche Pressekampagne aus, als sie sich für die Gründung der „Internationalen Rundschau“, einer Zeitschrift pazifistischer Richtung, aussprach. Ihr Engagement für politischen Frieden hatte 277 278 279 280

Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 87 Blei, Franz (1927): Glanz und Elend berühmter Frauen. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 78 Weltwoche Zürich v. 12.8.1955, Fragmentarisches über Annette Kolb. In: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 96 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zusagen: 90

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für sie behördliche Überwachung und schließlich polizeiliche Briefsperre und Reiseverbot zur Folge.281 Von ihrem Freund, dem Diplomaten Richard von Kühlmann vermittelt, erhielt Annette Kolb vom späteren Reichsaußenminister Walter Rathenau einen neuen Pass, der ihr die Ausreise ermöglichte. Über ihre Ankunft in der Schweiz schrieb sie in Zarastro: „Am 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv nach Bern. Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision wurde die Mutlosigkeit, gegen die ich anzukämpfen hatte, immer drückender, und geradezu trostlos gestaltete sich meine Einfahrt in die Bahnhofshalle.“282 In Bern verbrachte sie die folgenden drei Jahre. Hier traf sie René Schickle, den Schriftsteller, Journalisten und Herausgeber der „Weißen Blätter“. Ihm gefiel Kolbs Einsatz für die Völkerverständigung, außerdem fühlte er sich persönlich mit ihr verbunden, da er ebenfalls eine französische Mutter und einen deutschen Vater hatte. Während des in Bern stattfindenden „Internationalen Arbeiter- und Sozialistenkongresses“ im Februar 1919 lernte sie den Politiker Kurt Eisner (siehe Band 1: Eisner) kennen, der sie sehr beeindruckte. Nach seinem gewaltsamen Tod durch den Mörder Graf von Arco kam sie in Zarastro darauf zurück: „Wir aber, die in Bern Zeugen der ungeheuren Wirkung seines Auftretens waren, welche Werbekraft für Deutschland er dort entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck machte es auf uns, in München nicht etwa die Züge dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das unbesonnene Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen vorzufinden, dessen hirnloses und unheilvolles Verbrechen die Schrecken der Räteregierung und alle Gräuel, die von links und dann von rechts daraus erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die Frei(spruch)kugel gegen mich drehen, dafür, daß in diesem wahrscheinlich viel gelesenen Buch die Wahrheit steht.“283 Nach Kriegsende erkundete Annette Kolb auf Reisen in Europa die kulturellen Veränderungen, die inzwischen stattgefunden hatten. Besonders verfolgte sie die Entwicklung in Frankreich hinsichtlich Politik und Literatur. Ebenso galt ihr Interesse dem literarischen Schaffen der Weimarer Republik in Deutschland. In Berlin bemühten sie die Verleger der „Neuen Weltbühne“ und des „Berliner Tagblattes“ um ihre Beiträge. Hier traf sie den Kunstmäzen und Sammler Harry Graf Kessler (1867–1937) und den belgischen Architekten Henry van den Velde (1863–1957). Ihr Wunsch nach einem eigenen Heim entstand, als sich ihre guten Bekannten René und Anna Schickle in Badenweiler in ihrem neu erbauten Haus niederließen. So konnte sie 1923 dort in der Nachbarschaft dieses Ehepaares in ihr eigenes Haus einziehen.

281 282 283

Dokumente 69, 70 und 71 in: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 94–95 Kolb, Annette (1921): Zarastro: 11. Auch in: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 103 Kolb, Annette (1921): Zarastro. Auch in: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 106–107

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Kolbs nächster Roman ist ihrer vielbewunderten, jedoch jung verstorbenen ältesten Schwester Louise gewidmet und handelt von der Münchner Vorkriegszeit. Ihr Selbstbildnis darin ist ein jungenhaftes Mädchen mit dem Namen „Mathias“. Nach dem Erscheinen dieses Romans mit dem Titel Daphne Herbst erhielt sie vom Schriftsteller Jakob Wassermann eine positive Resonanz.284 Vom Rowohlt Verlag in Berlin erhielt Annette Kolb den Auftrag, den damaligen französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand in einem Werk zu würdigen. Der Versuch über Briand erschien 1929. Er hatte sich nach Kriegsende um eine deutsch-französische Annäherung bemüht und durch sein Mitwirken an Verträgen Deutschland den Wiedereintritt in den Völkerbund ermöglicht. Von deutscher Seite unterstützte ihn der Politiker und Nationalökonom Gustav Stresemann. Briand und Stresemann erhielten 1926 dafür den Friedensnobelpreis.285 In kulturhistorischen Aufsätzen folgten Berichte über die Städte Paris, Berlin, München und Wien. In der Kleinen Fanfare sind die Charakteristika der Städte aufgezeichnet.1932 erschienen Aufsätze Annette Kolbs im Beschwerdebuch. NS-Zeit Als die Schriftstellerin aus dem Beschwerdebuch am 5. Februar 1933 beim Kölner Rundfunk vorlas, flogen einige kleine Stinkbomben ins Aufnahmestudio.286 Dennoch hoffte sie noch immer auf einen politischen Wandel. Der Schriftsteller Manfred Hausmann machte sie jedoch darauf aufmerksam, dass das neue Regime kein Recht auf freie Meinungsäußerung gewähre. Damit konnte sich Kolb nicht arrangieren und sie entschloss sich, sofort zu emigrieren. Am 21. Februar 1933 verließ sie ihr Haus in Badenweiler und fuhr über die Schweizer Grenze nach Basel. Sie ahnte das nahende Unglück. „Nun mit einem Male dämmte der Gedanke an das namenlose Unglück, das ich über Deutschland verhängt sah, jede Genugtuung zurück.“287 In dieser Zeit entstand der autobiographische Roman Die Schaukel, in dem ausgehend vom Brand des Münchner Glaspalastes die Geschichte einer deutsch-französischen Familie – ihrer Familie – dargestellt wird. Eltern und Geschwistern schuf sie damit literarische Ebenbilder. Unter Vermittlung des ebenfalls emigrierten Bankiers und sozialdemokratischen Politikers Hugo Simon konnte Annette Kolb in Paris eine Wohnung beziehen. 1936 erhielt sie die ersehnte Staatsangehörigkeit ihres „Mutterlandes“.288 Doch war auch dieser Aufent284 285 286 287

Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 146 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 108 Kolb, Annette (1960): Memento: 10. In: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 169 Kolb, Annette (1960): Memento: 16. In: Werner Charlotte (2000): Annette Kolb: 10

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halt nicht von Dauer: Als die deutschen Truppen im Anmarsch waren, organisierte Annette Kolb ihre Emigration nach Amerika. Der bereits in New York lebende Schriftsteller Hermann Kesten erhielt ihre Hilferufe, als sie bereits in Lissabon auf ihre Abreise wartete. In diesen Tagen fühlte sie sich von Europa vergessen und verlassen. „Niemand schreibt mir nur ein Sterbenswort.“289 Im April 1940 konnte sie dann nach New York abfliegen. Im Gepäck hatte sie ihr in Barcelona beendetes Manuskript Franz Schubert. Sein Leben. Mit der Veröffentlichung dieses Buches konnte sie in New York ihren Lebensunterhalt bestreiten. Der Sohn von Thomas Mann – Klaus Mann – gehörte zu denen, die Annette Kolb im Exil halfen. In einer von Klaus Mann gegründeten Zeitschrift „Decision“ erschien ein Aufsatz von ihr unter dem Titel La Débacle. Hier kam ihre politische Einstellung zu Hitler-Deutschland zum Ausdruck. „Wenn ich heute sage, es gibt Nazis in allen Ländern, wer könnte mir da widersprechen? Aus verschiedenen psychologischen und politischen Gründen trägt Deutschland die schreckliche Verantwortung, diese Seuche über die Welt gebracht zu haben, aber an der Verantwortung für ihre wachsende Verbreitung haben alle Teil.“290 Im amerikanischen Exil versuchte sie der öffentlichen Meinung entgegenzuwirken, die Nationalsozialismus mit den Deutschen gleichsetzte. Annette Kolb hörte nicht auf, an das deutsche Volk zu appellieren und zum Widerstand aufzufordern: „... Schleppt eure Tyrannen vor die Tribunale, bevor es zu spät ist. Sie wollen nicht, daß die Welt zwischen ihnen und euch unterscheidet. Und das ist die größte Gefahr, vor der ihr steht.“291 Auch bemühte sie sich um ihre in Nizza zurückgebliebene und gefährdete Freundin Lotte Kronheim und ihre Mutter, die auf die Ausreise warteten. Alle Bemühungen kamen zu spät. Am 20. Januar 1944 wurden sie aus dem Lager Drancy nach Auschwitz deportiert.292 Rückkehr nach Europa In Amerika stellte Annette Kolb fest, „habe sie bemerkt, wie europäisch sie sei.“293 Sie kehrte trotz aller Mahnungen am 25. Oktober 1945 über Irland nach Paris zurück. Das Ausmaß der kriegerischen Zerstörung sah Annette Kolb, als sie im September 1946 nach München kam, um an der Beerdigung ihrer Schwester Franziska teilzunehmen. Ihren Kommentar zur Ruinenstadt beendete sie mit folgenden Worten: „Man hätte auf mich hören sollen, dann wäre alles nicht so gekommen wie es gekommen ist.“294 1963 begrüßte 288 289 290 291 292 293

Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 135 Annette Kolb: Brief an von der Mühl, in Monacensia Archiv 81.820/14. Auch in Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 229 Annette Kolb in: Decision, Vol. 2, 1941, Nos. 5–6 Münchner Stadtbibliothek, Handschriftenabteilung. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 171 Annette Kolb: Typoskript Münchner Stadtbibliothek, Handschriftenabteilung. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 174–175 Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 172–173 Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 237

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sie die deutsch-französische Versöhnung mit der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags und war erfreut über den freundlichen Empfang des Staatsmannes General de Gaulle in München. Mit großer Freude sah sie die Ernennung von Wilhelm Hausenstein (siehe Band 1: Hausenstein) zum Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Paris. Annette Kolb hatte Hausenstein 1903 in München kennen gelernt; mit ihm und seiner Familie verband sie eine lebenslange Freundschaft. Rückkehr nach München Auf Drängen vieler Freunde zog Annette Kolb am 16. Mai 1961 in eine Münchner Wohnung in der Händelstraße 1 ein. Hier verbrachte sie ihre letzten Lebensjahre. In den 1964 erschienen Essays Zeitbilder stellte sie an ihre Schriftstellerfreunde die Frage: „wann wird einer von den unseren in einem kleinen Auto unser schönes Bayernland, seine Gebirgswelt, kreuz und quer befahren und sich wieder weiden an den verstreuten Kapellen, den Kirchen, den Fassaden, den Schildern, den Wirtshäusern, den Gärten?“295 Im März 1967 unternahm Annette Kolb eine lange ersehnte Reise nach Israel, die sie selbst als den letzten Wunsch ihres Lebens bezeichnete. Die 96-Jährige starb am 3. Dezember 1967 in ihrer Geburtsstadt München. Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof von St. Georg in Bogenhausen. Anlässlich einer Ansprache nach der Verleihung des Goethepreises 1955 hatte die Schriftstellerin gesagt: „Diesen Ausruf: ,Wie gut ist es, daß der Mensch sterbe´, habe ich nicht zu meinem Wahlspruch gewählt, sondern er bemächtigte sich schon sehr früh meiner, um nie von mir zu lassen, als ein wachsender Akkord, aufseufzend, beschwichtigend, beschwingend, tröstend, aufrichtend, erdröhnend.“296 Annette Kolb war Kultur- und Gesellschaftskritikerin, die mit scharfem Blick die politische Szene beobachtete und kommentierte. Sie äußerte sich zu den Fragen der Zeit, wie zu den Veränderungen im Leben der Frau und zu sozialen Veränderungen. Mit großer Weitsicht dachte sie stets über Nationalgrenzen hinaus und erkannte die Notwendigkeit zur Völkerversöhnung und Verständigung, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland. Hier fühlte sich Annette Kolb dazu berufen, die Rolle einer Vermittlerin zu übernehmen; sah sie doch in der Bewältigung dieser Frage die Voraussetzung für das zukünftige Europa. Ihre Ablehnung gegen den Nationalismus hatte seine Wurzel in der Erkenntnis, dass die Welt mit der Vielfalt der Völker nicht auf diese eine Dimension reduzierbar ist. In der Auseinandersetzung mit der deutschen, französischen, italienischen und 294 295 296

Süddeutsche Zeitung v. 17.9.1946: In: Werner, Charlotte (2000): Annette Kolb: 238 Kolb, Annette (1964): 1907–1964 Zeitbilder: 203 Kolb, Annette (1964): 1907–1964 Zeitbilder: 203

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englischen Kultur, Politik und Gesellschaft kam sie zu der Überzeugung, dass es besser wäre, „nicht mehr nach dem Schema der Nationalitäten zu denken“ 297, da dieses Denken den Nationalismus einseitig fördere. Ausstellung 24. September – 29. Oktober 1993: Ich habe etwas zu sagen: Annette Kolb 1870–1967. Ausstellung anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Münchner Stadtbibliothek. Gezeigt in der Münchner Stadtbibliothek, Am Gasteig. Rundfunk 1964 Porträt über Annette Kolb im Westdeutschen Rundfunk. Film 1983 Die Schaukel. Regie Percy Adlon. Die Rolle des Mathias übernahm Anja Jaenicke, Madame Lautenschlag spielte Christine Kaufmann. Ehrungen 1919 Bronzebüste, gestaltet von Georg Kolbe, Kunstmuseum Bern 1931 Gerhard-Hauptmann-Preis 1949 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz 1950 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1951 Kunstpreis für Literatur der Landeshauptstadt München für das Jahr 1950 1955 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt a. M.; Ehrenbürgerbrief der Gemeinde Badenweiler 1958 Mitglied der Légion d’honneur 1959 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1961 Chevallier des la Légion d’honneur; Bayerischer Verdienstorden; Literaturpreis der Stadt Köln 1965 Bronzebüste, modelliert vom österreichischen Professors Ernst Andreas Rauch (1901–1990) 1966 Pour lé mérite für Wissenschaft und Künste. Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1967 Bronzebüste (Privatbesitz), gestaltet von Professor Hans Wimmer 297

Kolb, Annette: England, Irland, Shakespeare. Typoskript, Münchner Stadtbibliothek, Handschriftenabteilung. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 18

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Literatur Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: Annette Kolb 1870–1967. Katalog zur Ausstellung der Münchner Stadtbibliothek. Eugen Diederichs Verlag, München Bauschinger, Sigrid / Cocalis, Susan L. (Hrsg.) (1993): Wider den Faschismus. Exilliteratur als Geschichte. Verlag Francke, Tübingen, Basel Benyoetz, Elazar (1970): Annette Kolb und Israel. Lothar Stiehm Verlag, Heidelberg Benyoetz, Elazar (1993): Aufklärung findet immer im Dunkeln statt: Drei Briefe, Annette Kolb und die Juden betreffend. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 27–38 Bermann-Fischer, Gottfried (1967): Bedroht – Bewahrt. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Bermann-Fischer, Gottfried / Bermann-Fischer, Brigitte (1990): Briefwechsel mit Autoren. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Betraux, Pierre (2001): Un Normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927–1933. Edutées, annotées et commentées par Manfred Bock, Gilbert Krebs et Hansgerd Schulte. Publications de l´Institut d´ Allemand. Université de la Sorbonne Nouvelle. Paris Blei, Franz (1911): Gott und die Frauen. Ein Traktat. Georg Müller Verlag, Leipzig Blei, Franz (1927): Glanz und Elend berühmter Frauen. Rowohlt Verlag, Berlin Fetzer, John (1993): Die musikalische Muse und Annette Kolb. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen: 19–26 Kolb, Annette (1899): Kurze Aufsätze. Putze Verlag, München Kolb, Annette (1906): Sieben Studien. L´Ame aux deux patries. Jaffe Verlag, München; Die Schaukel. Wiener Rundschau 5; (1913) Das Exemplar. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin; (1916) Briefe einer Deutsch-Französin. Reiss Verlag, Berlin; (1918) Die Last. Rascher Verlag, Zürich; (1919) Wege und Umwege. 2. u. 3. Aufl., Hyperion Verlag, Berlin; (1921) Zarasto. Westliche Tage. S. Fischer Verlag, Berlin; (1928) Daphne Herbst. Roman. S. Fischer Verlag, Berlin; (1929) Versuch über Briand. Rowohlt Verlag, Berlin; (1930) Kleine Fanfare. Rowohlt Verlag, Berlin; (1932) Beschwerdebuch. Rowohlt Verlag, Berlin; (1937) Mozart. Sein Leben. Bermann-Fischer Verlag, Wien; (1940) Glückliche Reise. Bermann-Fischer Verlag, Stockholm; (1947) König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner. Querido Verlag, Amsterdam; (1953) Beschwerdebuch. Kiepenhauer & Witsch Verlag, Köln, Berlin; (1954) Blätter in den Wind. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1960) Memento. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1968) Daphne Herbst. In: Die Romane: Das Exemplar. Daphne Herbst. Die Schaukel. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1983) König Ludwig II. von Bayern u. Richard Wagner. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1984) Mozart. Sein Leben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M; (1964) Zeitbilder 1907–1964. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; (1987) Schubert. Sein Leben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Kolb, Annette / Schickle, René (1987): Briefe im Exil 1933–1940. In Zusammenarbeit m. Heidemarie Gruppe, hrsg. v. Hans Bender. Die Mainzer Reihe, Band 65. Verlag Hase & Koehler, Mainz Lemp, Richard (1970): Annette Kolb. Leben und Werk einer Europäerin. Verlag Hase & Koehler, Mainz Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Saint-Gille, Anne-Marie (1993): Die Deutsch-Französin und die Politik. In: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.) (1993): Ich habe etwas zu sagen. Annette Kolb 1870–1967: 44–49 Spalek, John M. / Strelka, Joseph (Hrsg.) (1989): Deutschsprachige Exilliteratur. Seit 1933. Band 2. Verlag Francke, Bern Werner, Charlotte Marlo (2000): Annette Kolb. Biographie einer literarischen Stimme Europas. Ulrike Helmer Verlag, Königstein, Taunus

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Kollwitz, Käthe, Prof. Dr. *8.7.1867 Königsberg (heute Kaliningrad) †22.4.1945 Moritzburg, Landkreis Meißen „Meine Kunst ist keine Atelierkunst, sondern eine Kunst, die lebendige Wurzeln hat.“ Käthe Kollwitz298

„So etwas von Stille um mich. – Das muß alles erlebt werden!“ Käthe Kollwitz, November 1936299

Käthe Kollwitz, 1929 Foto: Süddeutscher Verlag

298

Pels-Leusden, Hans (Hrsg.) (o. J.): Käthe-Kollwitz-Museum Berlin

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I. Städtisches Käthe-Kollwitz-Gymnasium, Nymphenburg Nibelungenstraße 51a, 80639 München Rotkreuzplatz U1 und Romanplatz Tram 17 M (1968) II. Kollwitzstraße, Milbertshofen M (1947) Zu I. Städtisches Käthe-Kollwitz-Gymnasium M (1968) ANLASS UND ENTSTEHUNG Der Initiator Oberstudiendirektor Hauenstein beantragte im Jahre 1967 die Namensänderung. Die offizielle Umbenennung der Schule, die bis dahin „Louise-Schröder-Gymnasium II“ hieß, erfolgte im Jahre 1968. KURZBESCHREIBUNG In der Eingangshalle des Hauses A (Ostseite) befindet sich eine Kopie eines Selbstbildnisses von Käthe Kollwitz. SCHULINTERNE SCHRIFTEN Walter, Paul (Hrsg.) (1979): Käthe Kollwitz. Leben, Zeitumstände und Werk der Künstlerin. Hrsg. v. einer SMV-Arbeitsgruppe des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums München. Verlag Th. Kriesl, Geretsried Walter, Paul (Hrsg.) (1992): 25 Jahre Käthe-Kollwitz-Gymnasium 1967–1992. Jahresbericht 1991/92. Festschrift zur Feier am 20./21./22. Oktober 1992. Hudak-Druck, München-Moosach SCHULVERANSTALTUNGEN Veranstaltungen, Jahresberichte, Ausstellungen, Gedenkreden und Aufsätze erinnern an Leben und Werk der Künstlerin. 299

Fischer, Hannelore (1995). In: Lammert, Angela (Hrsg.) (1994): Ateliergemeinschaft Klosterstraße Berlin 1933–1945: 8

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GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Käthe Kollwitz war das fünfte Kind von Carl und Katharina Schmidt, geborene Rupp. Der Vater hatte in Königsberg ein Maurergeschäft eröffnet, nachdem er seine juristische Laufbahn aufgeben musste, da er der verbotenen „Freien Gemeinde“ angehörte. Käthes künstlerische Begabung wurde von der Familie früh entdeckt und durch privaten Zeichenunterricht bei einem Königsberger Kupferstecher gefördert. Schon früh entwickelte sich ihre tiefe Sympathie für die Menschen, die Sujets in ihrem späteren umfangreichen Werk werden sollen. Mit Begeisterung verfolgte und beobachtete sie das lebhafte Treiben im Königsberger Hafengelände. Gemeinsam mit ihrer Mutter und Schwester unternahm sie Reisen, um die Kunst zu entdecken. In München fand ihre erste Begegnung mit Werken Alter Meister in der Alten Pinakothek statt. In dieser Zeit lernte sie den Schriftsteller Gerhard Hauptmann in Berlin kennen. Da sie als Mädchen die Kunstschule ihrer Heimatstadt nicht besuchen durfte, wechselte sie an die Berliner Künstlerinnenschule unter der Leitung des Schweizers Karl Stauffer-Bern und dessen Freund Max Klinger. Hier wird ihr Zeichentalent erkannt und gefördert. Bereits in diesen Jahren entstanden Arbeiten, die sich mit dem individuellen Leid der Armen befassten. In München setzte sie ihr Studium bei Ludwig Herterich (1856–1932) fort. In dieser Zeit (1888/87) wohnte sie in der Georgenstraße 8 (heute 25).300 Sie kam auf Wunsch ihres Vaters hierher, der die Heirat mit dem Medizinstudenten Karl Kollwitz verhindern wollte. In dieser Zeit wendete sie sich vor allem der Tonmalerei zu; Vorbilder waren die frühen Werke Wilhelm Leibls und Max Liebermanns. Unter ihren Studienkolleginnen fand Käthe Anerkennung mit einer Darstellung zum Thema „Kampf“. Über ihre Erfahrung in München berichtete sie: „Wieder hatte ich großes Glück mit dem Lehrer Ludwig Herterich. Er wies mich zwar nicht so konsequent auf die Zeichnung hin, sondern nahm mich in seine Malklasse auf. Das Leben, das mich umgab, war aufregend und beglückend. Ich las zufällig von Max Klinger die Broschüre „Malerei in der Zeichnung“. Da merkte ich: ich bin ja gar keine Malerin. Aber Herterich konnte die Augen ausgezeichnet schulen, ich habe in München wirklich sehen gelernt.“301 Käthe kehrte nach Berlin zurück und verlobte sich mit ihrem Jugendfreund Karl Kollwitz, der in Berlin sein Praktikum als Arzt absolvierte. „Das Leben hatte dort, verglichen mit München, etwas Brausendes. Vielleicht wäre ich untergegangen in jenem Lebensstrudel, vielleicht hätte er furchtbar auf mich gewirkt. Jedenfalls im Jahr darauf, 1890, war ich wieder in Königsberg.“302 Hier widmete sie sich mit tiefer Sympathie der Darstellung von Menschen; sie zeichnete sie in Markthallen, Kellerlokalen, auf Straßen und bei der Arbeit. So war Käthe Kollwitz schon als junges Mädchen vom Sujet des arbeitenden Menschen fasziniert. 300 301 302

Das Haus wurde am 13.7.1944 durch Bomben zerstört. In: StadtA Mü Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 28 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 28

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Später erklärte sie, warum sie künstlerische Darstellungen aus diesem Themenbereichen vorzog: „... weil die aus dieser Sphäre gewählten Motive mir einfach bedingungslos gaben, was ich als schön empfand. Schön war für mich der Königsberger Lastträger, schön waren die polnischen Jimkies auf ihren Witinnen, schön war die Großzügigkeit der Bewegung im Volke. Ohne jeden Reiz waren mir Menschen aus dem bürgerlichen Leben ... Dagegen einen großen Wurf hatte das Proletariat. Erst viel später ... erfaßte mich mit ganzer Stärke des Schicksal des Proletariats und aller seiner Nebenerscheinungen.“303 Am 13. Juni 1891 heiratete sie nach siebenjähriger Verlobungszeit Karl Kollwitz und siedelte ganz nach Berlin über, wo ihr Mann im Stadtteil Prenzlauer Berg eine Arztpraxis eröffnete. In ihrer künstlerischen Arbeit wurde Käthe Kollwitz von ihrem Mann unterstützt. Oft begleitete sie ihren Mann, der als Armenarzt arbeitete. Das Elend, das sie sah, kam in ihren Kunstwerken zum Ausdruck. Ihr erster Sohn Hans wurde 1892 geboren, Sohn Peter kam 1896 zur Welt. Von 1900 bis 1903 wirkte sie als Lehrerin an der Berliner Künstlerinnenschule. In ihrem Werk widmete sich Käthe Kollwitz nun ganz der Graphik. Dabei entdeckte sie die kraftvolle Präsenz dieser bildnerischen Technik, die sie zu leidenschaftlicher Expressivität steigert. Nach dem Besuch der Uraufführung von Gerhard Hauptmanns Die Weber – das Stück handelt vom Aufstand der schlesischen Weber im Jahre 1844 – begann sie den Zyklus Ein Weberaufstand. Dieser Zyklus setzt Gefühl und Moral, Empörung und Appell in eine körperliche Sprache um. In der Aktfolge Not, Tod, Beratung, Weberzug und Sturm kamen die durch das soziale Elend mobilisierten letzten Kräfte der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Ein geschichtliches Ereignis erhielt damit einen symbolhaften Bezug zur Gegenwart, da es nun auf die Klassenkampfsituation im kaiserlichen Deutschland anspielte. Mit diesem Werk, das erstmals auf der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt wurde, gelang ihr der künstlerische Durchbruch. Der Lohn, die Verleihung einer Medaille von der Berliner Akademie der Künste, wurde ihr vom Kaiser Wilhelm II. mit der Begründung verweigert: „Das käme ja einer Herabwürdigung jeder hohen Auszeichnung gleich. Orden und Auszeichnungen gehören auf die Brust verdienter Männer.“304 In einem zweiten grafischen Werk Der Bauernkrieg-Zyklus beschäftigte sich Kollwitz mit dem Bauernkrieg. Diese in den Jahren 1902–1908 entstandenen großformatigen Radierungen zählen zweifellos zu ihren besten Werken. Als Mitglied der „Berliner Secession“ (deren Vorsitzender Max Liebermann war), einer Gegenströmung zum traditionellen Kunstbetrieb der Jahrhundertwende, traf Käthe Kollwitz mit jungen Künstlern zusammen. Ihre erste Studienreise (1904) führte sie nach Paris, um sich in der Bildhauerklasse der Akadémie Julian Grundkenntnisse im plastischen Ar303 304

Kollwitz, Tagebücher: 741. In: Fischer, Hannelore (Hrsg.) (1995): Käthe Kollwitz: 35–36 Kollwitz, Tagebücher: 738. Auch in: Fischer, Hannelore (Hrsg.) (1995): Käthe Kollwitz: 37

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beiten zu erwerben. Sie besuchte auch die berühmten Bildhauer Auguste Rodin und Théophile Alexandre Steinlein in ihren Ateliers. Vom März bis Juni 1907 unternahm sie durch den von Max Klinger gestifteten „Villa-Romana-Preis“ eine fünfmonatige Reise, die sie nach Florenz und Rom führte. Ihre Mitarbeit an der Wochenzeitschrift „Simplicissimus“ (gegründet von dem Verleger Albert Langen; erschienen von 1896 bis 1944 in München) begann im Jahre 1907 und dauerte bis 1909. Sie schuf in dieser Zeit sozialkritische Blätter, dabei sind die Szenen genau erfasst und machten jeden Kommentar überflüssig.305 Ein einschneidendes Erlebnis im Leben von Käthe Kollwitz war der Tod ihres 18-jährigen Sohnes Peter, der als Kriegsfreiwilliger am 22. Oktober 1914 in Flandern fiel. Fünf Wochen danach fasste sie den Entschluss, ein Denkmal für ihn zu schaffen.306 Ihre Tagebucheintragungen aus dieser Zeit zeigen, wie sich Käthe Kollwitz zur Kriegsgegnerin wandelte. Anlässlich ihres 50. Geburtstags ehrte sie der Philosoph Paul Cassirer mit einer großen Jubiläumsausstellung. Damit war Käthe Kollwitz berühmt. Die Preußische Akademie der Künste nahm sie im Jahre 1919 als erste Frau in der Akademie der Künste auf; einige Monate später erhielt sie den Professorentitel. Die damit verbundene finanzielle Sicherheit und ein eigenes Atelier in der Akademie entlasteten ihren Mann, der bisher für ihren Lebensunterhalt sorgte. Zwischen 1922 und 1923 schuf Kollwitz die erste Holzschnittfolge Krieg, die eine treffende Anklage gegen die Schrecken des Krieges darstellt. Das Denkmal für ihren Sohn Peter stellte Käthe Kollwitz Ende des Jahres 1931 fertig: es ist Symbol für die grenzenlose Trauer der Eltern und es ist zugleich ein vollendetes Meisterwerk. Es ist in Zusammenarbeit mit zwei Bildhauern entstanden: „Wir arbeiten einträchtig zusammen, der Bildhauer und ich. Er mit dem Meißel und ich immer noch am Gips, hier und dort, vor allem noch am Kopf“ (der Mutterfigur).307 Die Steinfiguren kamen am 2. Juni 1932 in die Vorhalle der Nationalgalerie. Zwei kniende Plastiken, die in ihrer Haltung nichts anderes als Schmerz, Leid und Trauer in ungeheurer Intensität ausdrücken. In ihren Tagebuchaufzeichnungen vom 13. Oktober 1925 nahm sie die Gestaltung dieses in Stein gegossenen tiefen Gefühls vorweg: „Die Mutter soll knien und über die vielen Gräber blicken. Die Arme breitet sie aus über alle ihre Söhne. Der Vater auch kniend. Er hat die Hände in den Schoß zusammengepreßt.“308 Das Elterndenkmal kam im Juli 1932 nach Belgien und befindet sich dort seit 1955 am Eingang des Soldatenfriedhofs von Roggenvelde. 1954 entstanden unter Leitung des Bildhauers Ewald Mataré Kopien, die seit 1959 als Bronzeabguss in der Ruine der Kölner Sankt Alban-Kirche stehen. 305 306 307 308

Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 59 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 76 Bonus-Jeep, Beate (1948): Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz. In: Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 77 9Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 78

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Gemeinsam mit Albert Einstein, Heinrich Mann, Arnold Zweig und anderen beteiligte sich Käthe Kollwitz am 18. Juli 1932 angesichts der bevorstehenden Reichstagswahlen an einem Aufruf zur Einigung der KPD und SPD. Wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung erhielt sie zusammen mit Heinrich Mann die Aufforderung, aus der Preußischen Akademie der Künste auszutreten. Für die neuen Machthaber gehörte Käthe Kollwitz wegen der Darstellung sozialer Missstände und wegen ihrer pazifistischen Einstellung zu den Gegnern. Die international angesehene Künstlerin, die sich auf der Seite der Friedensstifter befand, zwang man zur „inneren Emigration“. Gleichzeitig verlor sie ihr Amt als Leiterin der Meisterklasse Grafik an der Akademie und damit ihr Atelier. Ihre Werke entfernte man aus den öffentlichen Sammlungen. Die 66-jährige Künstlerin fand daraufhin im Atelierhaus Klosterstraße in Berlin Ersatz. Die geplante umfangreiche Retrospektive anlässlich ihres 70. Geburtstages im Jahre 1937 in der Berliner Galerie Nierendorf durfte wegen eines Ausstellungsverbotes – seit 1936 unterlag ihr Werk einer offiziellen Zensur – nicht stattfinden. Daraufhin schrieb sie an ihre Freundin Beate: „Da ich bereits meine Graphiken schön geordnet für Nierendorf ... zusammen hatte, hab ich sie jetzt in mein Atelier bringen lassen und hänge da die Wand voll. Ich liebe es sonst gar nicht, meine eigenen Arbeiten aufzuhängen, aber dies ergibt eine andere Art Ausstellung. Ein Überblick, wenn auch sehr lückenhaft über die vierzig Jahre meiner Arbeit.“309 In den Jahren 1934–1937 schuf Kollwitz acht Lithographien der Folge Tod. In der am 19. Juli 1937 eröffneten Münchner Schandausstellung „Entartete Kunst“ war die 1897 entstandene Lithographie von Käthe Kollwitz Not aus dem Zyklus Ein Weberaufstand ausgestellt. Aus mehreren Museen wurden ihre Holzschnitte und Radierungen beschlagnahmt – insgesamt 31 Arbeiten. Der Künstler Werner Heldt (1904–1954), der sie im Atelierhaus Klosterstraße kennen gelernt hatte, schrieb über eine Begegnung mit Käthe Kollwitz: „Man kann sich keine größere Schlichtheit, Stille, ja fast Schüchternheit vorstellen. Im Atelier von Hilde Plate feierten wir ihren 70. Geburtstag. Nachher führte sie uns in ihr Atelier und zeigte uns ihr jüngstes Werk. Man sah ein junges Weib kauern und mit schützender Gebärde ihre Kinder an sich drücken („Mutter mit Zwillingen“). Niemals habe ich einen Menschen gekannt, der, ohne selbst ein Wort zu sprechen, durch seine bloße Gegenwart einen solchen Eindruck machte. Das war das Wunder einer ganz großen Mütterlichkeit. Man mußte sie einfach liebhaben. Uns Jüngeren hat sie in den Zeiten der Unterdrückung Trost und Hoffnung gegeben, sie, die selber verfolgt und beleidigt wurde.“310

309 310

Bonus-Jeep, Beate (1948): Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz. In: Lammert, Angela (Hrsg.) (1994): Ateliergemeinschaft Klosterstraße Berlin 1933–1945: 8 Kollwitz, Käthe (1966): Briefe der Freundschaft: 186. In: Lammert, Angela (Hrsg.) (1994): Ateliergemeinschaft Klosterstraße Berlin 1933–1945: 210

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1938 erhielt sie von einer Klientin Frau Levy den Auftrag, ein Grabmal für ihren verstorbenen Mann zu schaffen. Für die jüdische Frau brachte sie ihr Mitgefühl zum Ausdruck: „Ich habe wiederholt an sie gedacht, liebe Frau Levy, nicht nur zur Grabstätte gingen die Gedanken, sondern zu Ihnen. Glauben Sie mir, wir litten alle gemeinsam tief. Schmerz und Scham fühlen wir. Und Empörung.“311 Mit dem Künstler Ernst Barlach verband Kollwitz eine enge Freundschaft. Von ihm erhielt sie Anregungen zu eigenen Holzschnitten und bildhauerischen Arbeiten. Barlach (1870–1938) hat Käthe Kollwitz mit seiner schwebenden Figur im Güstrower Dom ein Denkmal gesetzt, diese trägt die Gesichtszüge der Künstlerin. Als Barlach im Oktober 1938 starb, verfasste Käthe Kollwitz einen Nachruf: „... worauf der starke Eindruck beruht, den Barlachs Arbeiten von jeher auf mich machen, so glaube ich, ist es dies, wie er selbst einmal formuliert hat: ,es ist außen wie innen ... – Seine Arbeit ist außen wie innen, Form und Inhalt decken sich aufs genaueste.“312 Ihr Ehemann, Dr. Karl Kollwitz, der aus gesundheitlichen Gründen seine Praxis aufgab, starb nach langer Krankheit am 19. Juli 1940. Käthe Kollwitz, 73-jährig, musste ihr Atelier in der Klosterstraße aufgeben und verlagerte es in ihre Wohnung in die Weißenburger Straße 24 (heute Kollwitzstraße). Die Rekrutierung Minderjähriger zum „Volkssturm“ kommentierte die Künstlerin nun mit dem Werk Saatfrüchte sollen nicht zermalen werden. Wegen der immer häufigeren Bombenangriffe auf Berlin zog Käthe Kollwitz zur Bildhauerin Margret Böning nach Nordhausen. Die 78-jährige musste ihre Wohnung, in der sie über 50 Jahre gelebt hatte, verlassen. Eine Bombe zerstörte das Haus; viele Bilder und Druckwerke der Künstlerin wurden dabei vernichtet. Ein weiterer Umzug wurde im Juli 1944 nötig, da Nordhausen ebenfalls nicht mehr sicher schien. Durch Vermittlung des Prinzen Ernst Heinrich von Sachsen übersiedelte sie auf den „Rüdenhof“ in Moritzburg bei Dresden. Dort starb Käthe Kollwitz am 22. April 1945, 78-jährig. Vorerst wurde sie in Moritzburg beerdigt; später kam ihre Urne in das Familiengrab auf den Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfeld. Dort steht auf dem von ihr selbst geschaffenen Grabrelief, an dem sie seit 1935/ 36 gearbeitet hatte, das Goethe-Zitat: „Ruht im Frieden seiner Hände“. In ihrem Tagebuch schrieb Käthe Kollwitz: „Aus niedergedrückter Stimmung und dem Gefühl, doch nichts mehr zu sagen zu haben in meiner Arbeit, tauchte wieder der frühere Wunsch auf, ein Relief für unser Grab zu machen. Nun hab ich es begonnen. Ich bin eigentlich verwundert darüber, daß die Grabmalkunst so gar nicht gepflegt wird. Man bracht nur einmal anzufangen, sich damit beschäftigen, so strömen einem geradezu die Motive entgegen.“313 311 312 313

Kollwitz, Käthe (1966): Briefe der Freundschaft: 86. In: Krahmer Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 122 Jansen, Elmar: Auguste Rodin: 52. In: Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 123 Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 121

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Die große Spannweite des künstlerischen Schaffens von Käthe Kollwitz umfasste alle Facetten des menschlichen Seins und seiner steten Auseinandersetzung mit dem Leben. Dabei deutete sie nicht nur auf die dunklen Seiten des Lebens wie Not, Hunger, Krieg und Tod, sondern auch auf die kleinen Freuden menschlicher Zuneigung, der Hoffnung und menschlichen Glücks. Käthe Kollwitz hat sich selbstbewusst und mit intensiver Lebenskraft der Wirklichkeit gestellt. Ihr origineller Stil ist zeitlos und hat bis heute nichts von seiner Aussagekraft verloren. Die Schriftstellerin Ilse Reicke, die Käthe Kollwitz persönlich kannte, war von ihrer Person tief beeindruckt „wie ein Felsenhaupt inmitten flüchtiger, schillernder, plaudernder Wellen: so bedingungslos, wahrhaftig, so unerschütterlich in sich selbst ruhend, so echt, so stark, so ganz gelassene Kraft.“314 Ehrungen 1899 1907 1919

Kleine Goldene Medaille in Dresden Villa-Romana-Preis Erstes weibliches Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Professorentitel 1929 Orden „Pour le mérite“ 1928–1933 Leiterin des Meisterateliers für Graphik an der Preußischen Akademie der Künste, Berlin Archiv, Gedenk- und Forschungsstätten Käthe-Kollwitz-Archiv der Berliner Akademie der Künste 1995Gedenkstätte auf dem „Rüdenhof“ in Moritzburg Ausstellungen 1926: Ausstellung in Moskau. 1932: Ausstellung in Moskau und Leningrad anlässlich ihres 65. Geburtstages. 1938: Exhibition of 20th Century German Art. Gezeigt in London. Oktober – November 1945: Käthe Kollwitz-Gedächtnisausstellung. Berlin. 1946: Käthe Kollwitz zum Gedächtnis. Augustiner Museum in Freiburg im Breisgau. 1952/53: Käthe Kollwitz. Gezeigt in der Staatlichen Graphischen Sammlung München. 1953: Käthe Kollwitz – Zeichnungen, Graphik, Plastik. Gezeigt im Museum der Villa Stuck, München.

314

Ilse Reicke, 1961 zitiert in: Krahmer, Catherine (1986): Käthe Kollwitz: 150

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1960: Käthe Kollwitz Graphik und Zeichnungen aus dem Dresdner Kupferstichkabinett. Gezeigt im Dresdner Albertinum. 1967: Käthe Kollwitz zum 100. Geburtstag. Gezeigt im Haus der Kunst, München. 1967: Käthe Kollwitz in ihrer Zeit. Ernst-Barlach-Haus Hamburg. „Die Zeichnerin Käthe Kollwitz.“ Gezeigt in den Graphischen Sammlungen der Staatsgalerie Stuttgart. 1967/68: Käthe Kollwitz. Gezeigt in der Akademie der Künste, Berlin. 1967/68: Käthe Kollwitz und Ernst Barlach. Gezeigt in London und New York. 1969: Mostra di Käthe Kollwitz. Gezeigt in Venedig. 1971/72: Käthe Kollwitz. Gezeigt in Tel Aviv und Jerusalem. 1973: Käthe Kollwitz. Zeichnungen. Gezeigt im Wallraf-Richartz-Museum Köln. 1973/74: Ausstellung Käthe Kollwitz. Gezeigt in Frankfurt a. M., Stuttgart und Berlin. 1977: Käthe Kollwitz. Gezeigt im Museum der Villa Stuck, München. 1985: Käthe Kollwitz-Sammlung der Kreissparkasse Köln. Köln. 20. April – 18. Juni 1995: Käthe Kollwitz, Meisterwerke Zeichnung. Gezeigt im KätheKollwitz-Museum, Köln. 8. August – 31. Oktober 1999 : Käthe Kollwitz. Gezeigt im Olaf-Gulbransson-Museum Tegernsee. 12. Mai – 8. Juli 2001: Paula Modersohn-Becker, Käthe Kollwitz. Zwei Künstlerinnen zu Beginn der Moderne. Gezeigt im Käthe Kollwitz Museum Köln. 16. Juni – 12. August 2001: Käthe Kollwitz – Ernst Barlach. Begegnung. Gezeigt im Ernst-Barlach-Museum, Wedel. Museen Käthe-Kollwitz-Museum Berlin / Charlottenburg, Fasanenstraße 24 und Käthe-Kollwitz-Museum Köln, Neumarkt 18–24 Denkmal in Berlin 1993 schuf der Berliner Bildhauer Harald Haacke die vierfach vergrößerte Replik der Käthe Kollwitz Figur Pietá, 1937, Mutter mit totem Sohn für die Neue Wache in Berlin, die in die „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ integriert wurde. Literatur Bauer, Arnold (1967): Käthe Kollwitz. Berlin Bohnke-Kollwitz, Jutta (Hrsg.) (1989): Käthe Kollwitz. Die Tagebücher. Berlin Bohnke-Kollwitz, Jutta (Hrsg.) (1992): Käthe Kollwitz. Briefe an den Sohn 1904–1945. Berlin

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Bonus, Arthur (1925): Das Käthe-Kollwitz-Werk. Dresden. Erweiterte Ausgabe, 1930, Dresden Bonus-Jeep, Beate (1948): Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz. Darmstadt Dreimal Deutschland (1981): Lenbach, Liebermann, Kollwitz. Hamburg Fischer, Hannelore (Hrsg.) (1995): Käthe Kollwitz: Meisterwerke der Zeichnung. Käthe-Kollwitz-Museum Köln und DuMont Buchverlag, Köln Jentsch, Ralph (Hrsg.) (1979): Käthe Kollwitz, Radierungen – Lithographien – Holzschnitte. Eßlingen Käthe-Kollwitz-Gymnasium (Hrsg.) (1979): Käthe Kollwitz. Leben, Zeitumstände und Werk der Künstlerin. Hrsg. v. einer SMV-Arbeitsgruppe des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums München Käthe Kollwitz. In: Thieme, U. / Becker, F. (Hrsg.) (1927): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Band 21, Leipzig Kleberger, Ilse (1987): Käthe Kollwitz – Eine Gabe ist eine Aufgabe. München Kollwitz, Hans (Hrsg.) (1948): Käthe Kollwitz. Tagebücher und Briefe. Berlin Kollwitz, Hans (Hrsg.) (1968): Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken. Ein Leben mit Selbstzeugnissen. Aus Tagebüchern. Wiesbaden Kollwitz, Käthe (1952): Ich will wirken in dieser Zeit. Auswahl von Tagebüchern und Briefen. Ullstein Verlag, München Kollwitz, Käthe (1955): Aus Tagebüchern und Briefen. Auswahl v. Horst Wandrey. Berlin Kollwitz, Käthe (1955): The Diary and Letters of Käthe Kollwitz. Chicago Kollwitz, Käthe (1966): Briefe der Freundschaft und Begegnungen. München Kollwitz, Käthe (1967): Briefe an Dr. Heinrich Becker. Bielefeld Kollwitz, Käthe (1989): Eine Gabe ist eine Aufgabe. Erika Klopp-Verlag, Berlin Kollwitz, Käthe (1992): Briefe an den Sohn. 1904-1945. Siedler Verlag, Berlin Kollwitz, Käthe (1992): Die Tagebücher. Siedler Verlag, Berlin Krahmer, Catherine (1981): Käthe Kollwitz. Rororo Bildmonographien, Band 294. Reinbek b. Hamburg Koerber, Lenka von (1959): Erlebtes mit Käthe Kollwitz. Darmstadt Lammert, Angela (Hrsg.) (1994): Ateliergemeinschaft Klosterstraße Berlin 1933–1945. Künstler in der Zeit des Nationalsozialismus. Edition Hentrich, Berlin Nagel, Otto (1964): Käthe Kollwitz. In: Frauen der ganzen Welt. Berlin DDR, Band 9: 28/29 Nagel, Otto (1965): Die Selbstbildnisse der Käthe Kollwitz. Berlin Nagel, Otto / Timm, Werner (1972): Käthe Kollwitz. Die Handzeichnungen. Berlin Pels-Leusden, Hans (Hrsg.) (o. J.): Käthe-Kollwitz-Museum Berlin. Studio Pels-Leusden, Berlin Robels, Hella (1973): Käthe Kollwitz. Zeichnungen. Vorwort zum Katalog einer Ausstellung im WallrafRichartz-Museum Köln. Köln Schad, Martha (1998): Käthe Kollwitz. In: Schad, Martha (1998): Frauen, die die Welt bewegten. Pattloch Verlag, Augsburg: 126–129 Schmidt-Linsenhoff, Victoria (1987): Käthe Kollwitz (1867–1945) „Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden“. Wider den Krieg. Große Pazifisten von Immanuel Kant bis Heinrich Böll. Hrsg. v. Christiane Rajewsky und Dieter Riesenberger. Beck´sche Reihe 322, München Schulz-Hoffmann, Carla (Hrsg.) (1977): Simplicissimus. Eine satirische Zeitschrift. München 1896–1944. Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst München v. 119.11.1977–15.1.1978. Karl Thiemig Verlag, München: 283, 464 Thieme, U. / Becker, F. (Hrsg.) (1927): Eintrag zu Käthe Kollwitz in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Band 21, Leipzig Timm, Werner (1975): Zeichnungen von Käthe Kollwitz. In: Dialog 75. Positionen und Tendenzen. Berlin, DDR Timmer, Werner (Hrsg.) (1993): Käthe Kollwitz. Meisterwerke. Schirmer / Mosel, München

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Kriegsgefangene „Rußland, den 11.1.43 Liebe Mutter! Leider kann ich Dir heute auch keine bessere Nachricht geben. Jetzt erst weiß ich, was Hunger ist und wie weh er tut. Schon Wochen lang muß ich am Tag mit 1½ Schnitten Brot und eimem halben Kochgeschirr Wassersuppe auskommen ... Keine Zeilen, keine Päckchen habe ich seit dem 18. Nov. ... mehr von Dir erhalten. Aber ich weiß, daß es nicht Deine Schuld ist, ich weiß auch, daß Du immer an mich denkst. Gut ist es, daß Du mich nicht in dem Elend siehst ... Im festen Glauben an eine baldige Änderung grüßt und küßt Dich Dein Sohn Hans.“ Auszug aus einem Brief von der Ostfront.315

Mahnmal für die nicht zurückgekehrten Kriegsgefangenen Foto: H. Engelbrecht

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Mahnmal Durchgang im Alten Rathaus, Altstadt Marienplatz S1–S8 und U3/U6 M (1954) ANLASS UND ENTSTEHUNG Zur Erinnerung an die noch nicht zurückgekehrten Kriegsgefangenen Münchens initiierten die Stadträte ein Mahnmal, das am 10. Oktober 1954 von Oberbürgermeister Thomas Wimmer eingeweiht werden konnte. KURZBESCHREIBUNG Drei trauernde Frauengestalten sind auf einer Muschelkalkplatte (Blaubank) eingemeißelt. Die Inschrift lautet: „Wir warten auf die Heimkehr unserer Kriegsgefangenen. Ihre Leiden bleiben unvergessen. Stadt München.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Dieses Mahnmal schuf der Münchner Bildhauer Professor Franz-Josef Mikorey. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Münchner Oberbürgermeister Thomas Wimmer erinnerte bei der Einweihung des Mahnmals die Deutschen an ihre Verpflichtung, alles zu tun, um in der Zukunft solche „mörderischen Kriege“ zu vermeiden.316 LITERATUR „Abends, wenn wir essen, fehlt uns immer einer.“ (2000): Kinder schreiben an die Väter 1939–1945. Rowohlt Verlag, Berlin Dönhoff, Friedrich / Barenberg, Jasper (1998): Ich war bestimmt kein Held. Die Lebensgeschichte von Tönnies Hellmann. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg Golovchansky, Anatoly / Osipov, Valentin / Prokopenko, Anatoly et al. (Hrsg.) (1993): „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“. Deutsche Briefe von der Ostfront 1941–1945. Aus sowjetischen Archiven. Rowohlt Tb Verlag Nr. 9325, Reinbek b. Hamburg Hiemer, Alfred (1997): Zurück aus der Kriegsgefangenschaft. In: Münchner Nachkriegsjahre. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1995/96. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München: 161–166 315

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Die von der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges beschlagnahmten Briefe stammen aus sowjetischen Archiven. Zitiert nach Golovchansky, A. et al. (Hrsg.) (1993): „Ich will raus aus diesem Wahnsinn“: 207–208 Süddeutsche Zeitung Nr. 235 v. 11.10.1954. In: StadtA Mü ZA Denkmäler

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Hilger, Andreas (2000): Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und Erinnerung. Klartext Verlag, Essen Kaminsky, Annette (Hrsg.) (2000): Heimkehr 1948. Geschichte und Schicksale deutscher Kriegsgefangener. C. H. Beck Verlag, München Kurz, Georg (1994): 3002 Tage Russland, Erinnerungen an meine Kriegs- und Gefangenenjahre. Gerhard Hess Verlag, Ulm-Kisslegg Lindenauer, Hans (1997): Wieder daheim. In: Münchner Nachkriegsjahre. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1995/95. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München: 148–150 Overmann, Rüdiger (2000): Soldaten hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Propyläen Verlag, München Streit, Christian (1997): Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. J. H. W. Dietz Verlag, Bonn Streit, Christian (2000): Zweierlei Leid. Andreas Hilgers Studie über die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. In: Die Zeit Nr. 48 v. 23.11.2000: 70

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KZ Ehrenhain I „Die Zeit der physischen und psychischen Anpassung an das Lager war besonders schwer. Die meisten Häftlinge starben während der ersten drei Monate.“ Stanislav Zamecnik war vom 22. Februar 1941 bis 29. April 1945 Häftling im KZ Dachau.317

Gedenkstein im KZ Ehrenhain I Foto: Andreas Olsen

KZ Ehrenhain I Foto: Andreas Olsen

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(geb. 12.11.1922). Zitiert in: Benz, W. / Distel, B. (Hrsg.) (1988): Dachauer Hefte 4/1988: 129

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KZ Ehrenhain I Friedhof Perlacher Forst, Gräberfeld 58–61, Giesing Stadelheimer Straße 240 Schwanseestraße Tram 27 SV (1950) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Landeshauptstadt München ließ nach dem Stadtratsbeschluss vom 7. Februar 1950 eine Grabstätte für die circa 4000 in den Kellerräumen des Krematoriums Ostfriedhof vorgefundenen Urnen errichten. Am 10. September 1950 fand im Beisein von Vertretern der Staatsregierung und der Stadtverwaltung die Einweihung mit einer Ansprache des Münchner Oberbürgermeisters Thomas Wimmer statt. KURZBESCHREIBUNG In der 2800 Quadratmeter großen, mit Linden bepflanzten Anlage sind 3996 Urnen bestattet. Kreuzförmig angelegte Wege laufen in der Mitte der Anlage auf einen Brunnen (2,5 m × 4,3 m) zu, dessen Einfassung folgender Text ziert: „Den Toten zur Ehre, den Lebenden zur steten Mahnung. Anno MCML.“ Auf dem Boden des Brunnens stellt ein Mosaik das Tor zum Jenseits mit dem Stern der Hoffnung dar. 44 Gräberfelder, von dem jedes 90 Urnen enthält, sind mit Steinplatten (0,6 m × 0,6 m) versehen. Den Eingang zum Ehrenhain markiert ein Gedenkstein (0,43 m × 0,80 m × 0,52 m), der folgende Auskunft gibt: „Hier ruhen 4092 Opfer nationalsozialistischer Willkür zur letzten Ruhe bestattet“. INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLER Der Ehrenhain ist unter der Leitung des Münchner Professors Karl Knappe in Zusammenarbeit mit den Architekten H. Grill und F. Fredrich vom Münchner Städtischen Baureferat Hochbau I entstanden. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Friedhof Perlacher Forst wurde am 1. Februar 1931 eröffnet. „Der Friedhof, der der größte Münchens ist, ist ordentlicher Begräbnisort für die Stadtteile rechts der Isar und für die Pfarreien St. Peter, Hl. Geist, St. Maximilian und St. Lukas.“318

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Die Asche der Toten stammt zumeist von Opfern aus dem Konzentrationslager Dachau, die in das Krematorium im Ostfriedhof gebracht wurden. Dazu kommen die Opfer, die im Zusammenhang mit der Euthanasie (siehe Band 1: Euthanasie) in den Tötungsanstalten Hartheim, Sonnenstein, Fürstenberg, Grafeneck und Steyr in den Gaskammern ermordet wurden. Unter den Toten sind Deutsche, Franzosen, Holländer, Österreicher, Polen, Russen und Tschechen. Ihre Bestattung fand im Jahre 1950 statt. Die Namensliste befindet sich im Archiv der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen. Literatur Alt, Karl (1946): Todeskandidaten. Erlebnisse eines Seelsorgers. Neubau Verlag A. Groß, München Alt, Karl / Reuter, Werner (Hrsg.) (1994): Überschreiten von Grenzen. Strafgefängnis München-Stadelheim. Verlag Ökologie & Pädagogik, München Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg.): Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. (1985) Heft 1, Die Befreiung; (1986) Heft 2, Sklavenarbeit im KZ Dachau; (1987) Heft 3, Frauen – Verfolgung und Widerstand; (1988) Heft 4, Medizin im NS-Staat – Täter, Opfer, Handlanger; (1989) Heft 5, Die vergessenen Lager; (1990) Heft 6, Erinnern oder Verweigern. Das schwierige Thema Nationalsozialismus; (1991) Heft 7, Solidarität und Widerstand; (1992) Heft 8, Überleben und Spätfolgen; (1993) Heft 9, Die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen; (1994) Heft 10, Täter und Opfer; (1995) Heft 11, Orte der Erinnerung 1945–1995; (1996) Heft 12, Konzentrationslager: Lebenswelten und Umfeld; (1997) Heft 13, Gericht und Gerechtigkeit; (1998) Heft 14, Verfolgung als Gruppenschicksal; (1999) Heft 15, KZ-Außenlager. Geschichte und Erinnerung; (2000) Heft 16, Zwangsarbeit; (2001) Heft 17, Öffentlichkeit und das KZ. Was wusste die Bevölkerung; (2002) Heft 18, Terror und Kunst. Kupfer-Koberwitz, Edgar (1960): Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau. 2 Bände. Stuttgart Kupfer-Koberwitz, Edgar (1997): Dachauer Tagebücher. Die Aufzeichnungen des Häftlings 24814. Kindler Verlag, München Richardi, Hans-Günther (1983): Schule der Gewalt. Das Konzentrationslager Dachau 1933–1945. C. H. Beck Verlag, München Rost, Nico (1981): Goethe in Dachau. Hamburg Rovan, Joseph (1989): Geschichten aus Dachau. Stuttgart Sigel, Robert (1992): Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945–1948. Frankfurt a. M.

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Münchner Post Nr. 24 v. 30.1.1931: 6

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KZ Ehrenhain II „Ich bin ganz ruhig. Ich bin zum Tode verurteilt, ich muss sterben, aber ich habe alles getan, was ich tun musste, vor allem die Spuren meiner Arbeit verwischt. Lebt wohl, meine lieben Freunde und Kameraden! Leb wohl, jüdisches Volk! Lasst nicht zu, dass solch eine Katastrophe je wieder geschieht!“ Gela Seksztajn am 1. August 1942. Künstlerin, circa 33 Jahre alt, geboren in Warschau.319

Gedenkstein der Grabanlage für politische Opfer (KZ Ehrenhain II) Foto: Andreas Olsen

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KZ Ehrenhain II Friedhof Perlacher Forst, Gräberfeld 77, Giesing Stadelheimer Straße 240 Schwanseestraße Tram 27 SV (1954) SV (1996) ANLASS UND ENTSTEHUNG Der Münchner Oberbürgermeister Karl Scharnagl sprach sich anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag 1945 für die Errichtung einer Grabanlage für die im Strafgefängnis München-Stadelheim Hingerichteten aus. Nach dem Münchner Stadtratsbeschluss vom 22. Juni 1954 entstand diese Grabstätte für politische Opfer, die aus Reihengräbern umgebettet wurden. Die Namensliste befindet sich im Archiv der Bayerischen Verwaltung Staatlicher Schlösser, Gärten und Seen. Die Beisetzung der Opfer fand im Jahre 1954 statt. Die Grabstätte erhielt die Bezeichnung KZ Ehrenhain II, sie befindet sich in unmittelbarer Nähe zum KZ Ehrenhain I (siehe Band 2: KZ-Ehrenhain). Die Gedenktafeln und das einem Sarkophag ähnelnde Grabmal in der Mitte der Anlage entstanden auf Initiative von Dr. Marie Luise Schultze-Jahn; sie war eine Vertraute des Widerstandskämpfers Hans Leipelt (siehe Band 2: Leipelt), der hier begraben liegt. Die Einweihung fand am 18. Juli 1996 statt. KURZBESCHREIBUNG Die von einer Hecke begrenzte Grabanlage (1575m²) mit 93 Reihengräbern ist in der Mitte durch einen Betonquader (2,67 m × 0,60 m × 0,28 m) gekennzeichnet. Auf diesem sind vier Stahlplatten (0,3 m × 0,42 m) mit eingraviertem Text angebracht: „Hier ruhen 94 Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sie wurden aus politischen Gründen in der Zeit zwischen 1942–1945 im Gefängnis Stadelheim ermordet.“ (1. Platte) Es folgen zwei Tafeln mit den Namen der Opfer. „Viele von ihnen waren Mitglieder von Widerstandsgruppen. Hans C. Leipelt gehörte zum studentischen Widerstandskreis „Weiße Rose“ und wurde am 29. Januar 1945 enthauptet.“ (4. Platte) 319

Das Dokument, gefunden in den Geheimarchiven des Warschauer Ghetto, ist in jiddischer Sprache abgefasst. Zitiert nach: Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 467

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INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Den Gedenkstein gestaltete der Architekt Ulrich Hartmann von der Bayerischen Verwaltung Staatlicher Schlösser, Gärten und Seen. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Die meist aus politischen Gründen im Gefängnis München-Stadelheim Hingerichteten waren Gegner des Nationalsozialismus, die sich z. T. in Widerstandsgruppen organisierten. Sie wurden von der NS-Justiz wegen „Hochverrat“, „Landesverrat“, „Feindbegünstigung“ und „Rundfunkverbrechen“320 zum Tode verurteilt. Unter ihnen befanden sich in der Mehrzahl Tschechen, etliche Deutsche, Österreicher und Polen.321 Die Situation in der Tschechoslowakei Nach der militärischen Besetzung von Böhmen, Mähren und Tschechisch-Schlesien erhielt das neu errichtete Protektorat Böhmen und Mähren einen Reichsprotektor (März 1939). Nach dem Muster Deutschlands traten die allgemeinen NS-Gesetze und die so genannten „Rassen-Gesetze“ in Kraft. Zur gleichen Zeit, zwischen März und April 1939, formierte sich eine tschechische Geheimtruppe. Im folgenden Jahr entstanden die Widerstandsorganisationen der Tschechischen Kommunistischen Partei und ein Zentralkomitee des inneren Widerstandes. Nach dem Attentat tschechischer Patrioten auf den Reichsprotektor Reinhard Heydrich vollzog das NS-Regime schreckliche Vergeltungsmaßnahmen. Bereits in der ersten Woche danach fand die Aburteilung und Hinrichtung von 1800 „Politischen“ statt.322 Die Zivilbevölkerung wurde ebenfalls in die Vergeltungsmaßnahmen einbezogen, da die Gestapo vermutete, dass die Attentäter in dem Dorf Lidice Unterschlupf gefunden hätten. Das Dorf ist zerstört worden, 184 Männer und 7 Frauen fanden durch Erschießen den Tod. 203 Frauen und 104 Waisenkinder kamen in das Konzentrationslager Theresienstadt.323

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Bezeichnung für das Abhören ausländischer Sender. Beispiel: der englische Sender BBC übertrug seit April 1939 täglich deutschsprachige Programme. Namensliste ist bei der Bayerischen Verwaltung Staatlicher Schlösser, Gärten und Seen (Schloss Nymphenburg 16, 80638 München) einsehbar. Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 487 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 487

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Einzelne Schicksale: Famfulk, Frantisek *28.9.1912 Litomysl (Mähren) †28.9.1944 München-Stadelheim Frantisek Famfulk, von Beruf Maler, war während der Besetzung durch deutsche Truppen seit März 1939 in einer kommunistischen Untergrundorganisation aktiv. Nach seiner Verhaftung am 20. April 1944 kam er vom Gefängnis Pardubice, Prag über Theresienstadt nach München, wo er am 26. September 1944 verurteilt und hingerichtet wurde.324 Ein Auszug aus seinem letzten Brief an seine Frau und sein Kind: „München-Stadelheim, den 26.9.1944 Meine geliebte Anicka und mein lieber Stanicek! In den letzten Augenblicken meines Lebens nehme ich Abschied von Euch, und dabei strömt mir das Herz über von einer Liebe, die ich Euch oft verschwiegen habe, die aber immer gross war, wie die Liebe eines Arbeiters zu seiner lieben Familie sein soll.“325 Dolak, Jaroslav *24.5.1910 †31.8.1942 München-Stadelheim Jaroslav Dolak, von Beruf Buchdrucker, war seit seiner Jugend Mitglied der tschechoslowakischen kommunistischen Partei. Nach der Besetzung durch deutsche Truppen wirkte er im Geheimen für seine Partei tätig. Am 31. Mai 1940 wurde er verhaftet und kam in das Prager Gefängnis „Pankrac“, später nach Theresienstadt, München und Berlin. Von dort überführte man ihn nach München-Stadelheim, wo er am 31. August 1942 mit zwölf weiteren Gruppenmitgliedern hingerichtet wurde.326 Der 32-Jährige nahm mit folgenden Worten von seiner Frau Abschied: „ ,Sei glücklich in deinem Leben und ruhig in deinen Träumen, vergiss alles, mein Kind, denn den Himmel gibt es nicht, und die Hölle gibt es nicht, und auf der Erde werden wir uns nicht wiedersehen.´ Ich kann keine besseren Worte finden als diese Dichterworte. Ich küsse dich, ich küsse dich, meine tapfere, kluge Frau. Dein Jaroslav Dolak.“327

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Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 520 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 520 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 495 Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 496

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Hartwimmer, Hans und Olschewski, Wilhelm und Willi *31.7.1902 Braunschweig †31.10.1944 München-Stadelheim Hartwimmer war als 20-jähriger dem reaktionären Freikorps- und Wehrverband „Bund Oberland“ beigetreten, der die Weimarer Republik bekämpfte. Später setzte er sich von den rechts-orientierten Parteien ab und engagierte sich in der KPD. Das Programm der damaligen KPD war eine „Nationale und soziale Befreiung des deutschen Volkes.“ Seit 1931 engagierte sich Hartwimmer aktiv in dem Arbeitskreis der Widerstandsgruppe um Beppo Römer, der die Zeitschrift „Aufbruch“ herausbrachte. Nach seiner erstmaligen Verhaftung lautete die Anklage vom 15. April 1935 „Vorbereitung zum Hochverrat“. Hartwimmer wurde wegen mangelnder Beweise freigesprochen, kam aber bis Ende 1937 in das KZ Dachau. Nach seiner Haftentlassung nahm er Kontakt zum Kreis um Olschewski (siehe Band 2: Olschewski), einem KPD-Funktionär, auf. Die kommunistische Untergrundorganisation in Berlin um Robert Uhrig (1903–1944) und Beppo Römer (1892–1944) nahm Verbindung mit der Münchner Gruppe auf, um Ziele und Vorgehensweisen wie Flugblattaktionen und Sabotageakte zu koordinieren. Die Hartwimmer/Olschewski-Gruppe erhoffte sich von gezielten Sabotageakten – Waffen- und Sprengstofflager waren vorhanden – im Bereich der Rohstoff- und Energieversorgung eine erhebliche Schwächung der Wirtschafts- und Rüstungskapazität der Machthaber. Das Ziel war der Umsturz mit einem darauf folgenden kommunistischen Staat auf nationaler Grundlage.328 Anfang 1942 hatte die Gruppe eine so genannte Generallinie für das ganze Reich erarbeitet mit dem Ziel, durch Zusammenarbeit von Bürgertum, Wirtschaft und Militär den Sturz des NS-Regimes herbeizuführen. Auflösung, Verhaftung, Prozesse Im Februar 1942 gelang es der Gestapo die Berliner Uhrig-Gruppe und die Münchner Hartwimmer/Olschewski-Gruppe aufzudecken. Am 18. April 1943 wurde Hans Hartwimmer vor dem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung fand am 31. Oktober 1944 im Strafgefängnis München-Stadelheim statt. Der Sohn von Wilhelm Olschewski wurde zwei Tage später zum Tode verurteilt. Hartwimmers Grabstätte befindet sich im KZ Ehrenhain für politische Opfer, Sektion 65. Reisinger, Johann (Hans) *8.2.1897 Oberschleißheim †30.10.1944 München-Stadelheim In München hatte Johann Reisinger als gelernter Maschinenschlosser eine Stelle als Museumswärter im Deutschen Museum. Dort lernte er Simon Hutzler (1889–1943) kennen,

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Bretschneider, Heike (1968): Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945: 81

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der zur kommunistischen Widerstandsgruppe Hartwimmer/Olschewski (siehe Band 2: Olschewski) gehörte. Wegen Verbreitung kommunistischer Schriften war Hans Reisinger in den Jahren 1934, 1936 und 1943 angeklagt. Vom 29. April 1936 bis 24. November 1938 war er im KZ Dachau inhaftiert.329 Nach der Entdeckung der Berliner Uhrig-Gruppe, die seit 1940 mit der Münchner Hartwimmer/Olschewski-Gruppe Kontakt pflegte, kam es zur wiederholten Festnahme von Hans Reisinger. Der Prozess vor dem Volksgerichtshof am 30. April 1944 endete mit dem Todesurteil wegen „Hochverrats“ für Reisinger, das am 30. Oktober 1944 in München-Stadelheim vollstreckt wurde. Ausstellung 9. Oktober – 26. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das NS-Regime in München. Gezeigt vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München in der Ausstellungshalle im Neuen Rathaus. Literatur Alt, Karl (1946): Todeskandidaten. Erlebnisse eines Seelsorgers. Neubau Verlag, A. Groß, München Alt, Karl / Reuter, Werner (Hrsg.) (1994): Überschreiten von Grenzen. Strafgefängnis München-Stadelheim. Verlag Ökologie & Pädagogik, München Bretschneider, Heike (1968): Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945. Miscellanea Bavarica Monacensia, Band 4. München Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt ...“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-Regime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Deutsche Kommunistische Partei München (Hrsg.) (1998): Die wieder gefundene Liste. Porträts von Münchner Kommunistinnen und Kommunisten, die im antifaschistischen Widerstandskampf ihr Leben ließen. Entdeckt von Resi Huber. Verlag Otto Barck, München Gritschneder, Otto (1998): Furchtbare Richter. Verbrecherische Todesurteile deutscher Kriegsgerichte. Verlag C. H. Beck, München Letzte Briefe tschechoslowakischer Widerstandskämpfer (1950). Dietz Verlag, Berlin Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand. „Und die Flamme soll euch nicht versengen“. Mit einem Vorwort von Thomas Mann. Steinberg-Verlag, Zürich Schlüter, Holger (1995): Die Urteilspraxis des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs. Berlin Schreibmayr, Erich (1989): Wer? Wann? Wo? Persönlichkeiten in Münchner Friedhöfen. Verlag Erich Schreibmayr, München Stuiber, Irene (1999): Die internationale Dimension des Terrors. Spuren von Widerstand und Verfolgung auf dem Münchner Friedhof am Perlacher Forst. Unveröffentlichtes Manuskript Wagner, Walter (1974): Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat. Stuttgart

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In: Deutsche Kommunistische Partei München (Hrsg.) (1998): Die wieder gefundene Liste: 82

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Leipelt, Hans *21.7.1921 Wien †29.1.1945 München-Stadelheim „Hans hat die Folgen der Nürnberger Gesetze für seine Familie als persönliche Verletzung und Entwürdigung empfunden. Deshalb haßte er die Nationalsozialisten, das trieb ihn in den Widerstand.“ Marie-Luise Jahn330

Hans Leipelt Fotos: Dr. M.-.L. Schultze-Jahn, Archiv

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Schultze-Jahn, Marie-Luise (1991): Hans Leipelt – ein Kapitel Münchner Hochschule im Nationalsozialismus: 67–68

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I. Grabstätte Friedhof Perlacher Forst 85/118, Giesing SV (1945) Schwanseestraße Tram 27 II. Gedenktafel im Lichthof der Universität, II. Stock, „Weiße Rose“ Universität U3/U6 M u. LMU (1946) III. Mahnmal im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität, Schwabing, „Weiße Rose“ Universität U3/U6 M u. LMU (1958) IV. Hans-Leipelt-Straße, Studentenstadt, Freimann M (1963) V. Bodendenkmal am Haupteingang der Ludwig-Maximilians-Universität, Schwabing, „Weiße Rose“ Universität U3/U6 M (1988) VI. Gedenktafel, Justizpalast, „Weiße Rose“ Prielmayerstraße 7 Karlsplatz/Stachus S1–S8 und Tram 19/20/27 M (1993) VII. Grabtafel, KZ Ehrenhain II, Friedhof Perlacher Forst 85/118, Giesing Schwanseestraße Tram 27 SV 1996

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VIII. Denkraum in der Ludwig-Maximilians-Universität, „Weiße Rose“ Universität U3/U6 M, LMU u. Weiße Rose Stiftung (1997) IX. Hans-Leipelt-Seminarraum KM (1999) Pharmazeutisches Institut der Ludwig-Maximilians-Universität, Großhadern (Butenandtstraße) Zu VII. Grabtafel, KZ Ehrenhain II, Friedhof Perlacher Forst 85/118, Giesing SV (1996) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative von Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn, einer ehemaligen Studienkollegin von Hans Leipelt, wurde auf dem Denkmal für politische Opfer im KZ Ehrenhain II des Friedhofs am Perlacher Forst im Jahre 1996 eine Grabtafel angebracht. KURZBESCHREIBUNG Auf einem Betonsockel (2,67 m × 0,6 m × 0,28 m) mit Sarkophag-Habitus sind die Namen von 93 Opfern auf Stahlplatten eingraviert. Eine dieser Platten (30 cm × 42 cm) trägt folgende Inschrift: „Viele von ihnen waren Mitglieder von Widerstandsgruppen. Hans Leipelt gehörte zum studentischen Widerstandskreis ,Weiße Rose´ und wurde am 29. Januar 1945 enthauptet.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Hans Leipelt wurde in Wien geboren. Seine Mutter, Dr. Katharina Leipelt (geb. Baron) stammte aus einer österreichisch-böhmischen, jüdischen Familie und war promovierte Chemikerin. Der Vater, Diplom-Ingenieur Conrad Leipelt, kam aus Schlesien. Die Familie siedelte nach Hamburg-Wilhelmsburg über, wo Conrad Leipelt in einem bedeutenden Unternehmen eine leitende Stellung übernahm. Hans Leipelt wuchs zusammen mit seiner vier Jahre jüngeren Schwester Maria in einem Elternhaus auf, das besonders durch seine „hochintelligente, äußerst liebenswerte und sehr musikalische“331 Mutter geprägt war.

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Die zu Hause gepflegte Offenheit wurde Hans schon früh zum Verhängnis: wegen einer kritischen Äußerung musste er 1935 die Schule wechseln. Der 17-jährige Leipelt absolvierte schon im Frühjahr 1938 die Matura. Nach der freiwilligen Teilnahme am Reichsarbeitsdienst erhielt er für seinen Einsatz am Bau des Westwalls ein Ehrenabzeichen. Nach der Einberufung in die Wehrmacht wurde er an der Front in Frankreich und Polen eingesetzt. Für seine Tapferkeit bekam er wiederum Auszeichnungen, so das Eiserne Kreuz 2. Klasse und das Panzerkampfabzeichen in Bronze.332 Zu den Leidtragenden der „1. Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre vom 14. November 1935“ gehörte die Familie Leipelt. Die Mutter wurde zur „Privilegierten Volljüdin“, Hans und Maria zu „Mischlingen 1. Grades“ erklärt. Bei der Einverleibung Österreichs durch das Deutsche Reich im März 1938 nahm sich Leipelts jüdischer Onkel das Leben. Seine Großeltern flohen in die Tschechoslowakei. Nach dem Tod des Großvaters holte Conrad Leipelt die Großmutter nach Hamburg-Wilhelmsburg, weil er sie dort sicherer wähnte.333 Auf Grund des geheimen Führererlasses vom August 1940 wurde Hans Leipelt als „Halbjude“ aus der Wehrmacht entlassen. Weitere Schwierigkeiten brachte die Immatrikulation für das Chemiestudium an der Hamburger Universität mit sich, da bereits die Zulassung so genannter „jüdischer Mischlinge“ durch Erlass vom 5. Januar 1940 verboten war. Wohl durch Vermittlung seines Vaters konnte er in Hamburg sein Studium beginnen. Hier traf er auf Gleichgesinnte, die das nationalsozialistische Regime ablehnten. „Zu ihnen gehörten Karl Ludwig Schneider (Absolvent der Lichtwark-Schule), Heinz Kucharski (Student der Philosophie, Ethnologie und Orientalistik), seine Freundin, die Medizinstudentin Margaretha Rothe (Universitätsklinik Eppendorf), die Musikstudentin Dorle Zill sowie der Philologiestudent Howard Beinhoff.“334 Wegen der sich verschlechternden Studienbedingungen in Hamburg setzte er mit Beginn des Wintersemesters 1940/41 sein Chemiestudium in München fort. Er fand Aufnahme bei Professor Heinrich Wieland (Nachfolger des freiwillig aus dem Amt geschiedenen Richard Willstätter (siehe Band 3: Willstätter), der in seinem Institut etwa einem Dutzend „Halbjuden“ das Studium ermöglichte. „Die Gäste des Geheimrates bekamen ihre abgelegten Examina mit dem Zusatz schriftlich bescheinigt, ,man werde das später regeln.´“335 Wieland nahm sich vor, „irgend etwas dagegen zu unternehmen, etwas, das er auch die ganze Zeit durchhalten könnte. Da sei ihm 331 332 333 334 335

Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 4 Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 5 Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 5 Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 5 Freise, Gerda (1988): Der Nobelpreisträger Heinrich Wieland. In: Schultze-Jahn, M.-L. (1994): Hans Leipelt: 3

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eben dies eingefallen: Den Antisemitismus und später die Nürnberger Gesetze einfach zu ignorieren.“ 336 Hans Leipelts Familie erfuhr weiteres Leid: Seine jüngere Schwester Maria musste 1942 die öffentliche Schule verlassen. Am 19. Juli 1942 wurde seine 76-jährige Großmutter nach Theresienstadt deportiert; sie starb dort nach kurzer Zeit. Als im gleichen Jahr sein „arischer“ Vater starb, verlor die Familie ihren letzten juristischen Schutz. „Mit ungeheurer Willenskraft, die ständige Aktivität bedeutete, hat Hans Leipelt versucht, sein schweres Schicksal zu ertragen.“337 In dieser aussichtslosen Lage wandte sich seine Mutter an einen Schweizer Kommilitonen ihres Sohnes, der ihr helfen sollte, ihre 15-jährige Tochter ins Ausland zu bringen.338 Am Chemischen Institut von Professor Wieland schloss sich Leipelt inzwischen einem Freundeskreis an, zu dem Marie-Luise Jahn, Wolfgang Erlenbach, Valentin Freise, Liselotte Dreyfeldt, Ernst Holzer und Miriam David gehörten. Sie propagierten unzensierte Literatur, Kunst und Musik. Leipelt hörte ausländische Sender und gab die Informationen weiter. Einige Tage nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl (siehe Band 1: Geschwister Scholl) und Christoph Probst (siehe Band 2: Probst) hielt er das sechste Flugblatt in den Händen, das er gemeinsam mit seiner Vertrauten Marie-Luise Jahn vervielfältigte und unter dem Titel „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter“ verbreitete. Zu Ostern 1943 brachten sie das Flugblatt nach Hamburg, wo es seine Freunde weiter verteilten. Sie planten auch Sabotageaktionen. „In München erfuhren wir von einem Institutsangestellten, daß die Angehörigen von Prof. Kurt Huber .... keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente haben. So veranstalteten wir eine Sammelaktion unter Münchner und Hamburger Freunden. Den Erlös konnten wir der Familie von Prof. Huber anonym zukommen lassen. Durch Denunziation erhielt die Gestapo Kunde von dieser Sammelaktion.“339 Hans Leipelt wurde am 8. Oktober 1943 gefasst, Marie-Luise Jahn zehn Tage später; seine Hamburger und Münchner Freunde (circa 40 Personen) in den darauf folgenden Monaten. Seine Schwester wurde am 9. November 1943 in Haft gesetzt, die jüdische Mutter festgenommen. Dr. Katharina Leipelt starb unter noch ungeklärten Umständen im Gestapogefängnis Fuhlsbüttel. Der Prozess gegen Leipelt und seine Münchner Mitangeklagten fand am 13. Oktober 1944 vor dem Zweiten Senat des VGH in Donauwörth statt. Dieser tagte in der Kleinstadt Donauwörth, um einerseits Schutz vor den massiven alliierten Bombenangriffen auf München zu haben, und andererseits zu verschleiern, dass die „Weiße Rose“ 336 337 338 339

Chemiker im Gespräch: Erinnerungen an Heinrich Wieland. In: Chemie in unserer Zeit. Jg. 11 (1977) Nr. 5: 144. Auch in: Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?: 208. Möller, Klaus (1988): Hans Leipelt und die Weiße Rose: 8 Forster, Otto (1994): Hans Leipelt, o. S. Schultze-Jahn, M.-L. (1994): Hans Leipelt: 5

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Nachfolger gefunden hatte. Professor Wieland ließ seine „Schützlinge“ auch in dieser Lage nicht in Stich. Er hielt Kontakt „zu den Angehörigen, erkundigte sich nach Rechtsanwälten, war auch in einem Fall bereit, die Anwaltskosten zu tragen; er schickte auch Lebensmittelpäckchen an die Inhaftierten.“340 Hans Leipelt wurde zum Tode verurteilt. Alle Quellen bestätigten, dass Leipelt versuchte, seine Mitangeklagten zu entlasten. So erfuhr Marie-Luise Schultze-Jahn von ihrem Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Kartini, dass ihm Leipelts Verhalten „als tiefer persönlicher Eindruck bei jener Hauptverhandlung beim VGH geblieben ist: ... er hat mich in einer persönlichen Rücksprache auf dem Gang des Gerichtsgebäudes, die wir trotz der damaligen Gestapo-Überwachung organisieren konnten, beschworen, unter allen Umständen zu versuchen, Ihnen (M.-L. Jahn) zu helfen, und, wenn es irgend ginge, ihn zu belasten.“341 Tatsächlich wurde die am 22. Juli 1944 in Berlin beantragte Todesstrafe für Marie-Luise Jahn342 in eine zwölfjährige Zuchthausstrafe umgewandelt; ihre Befreiung erfolgte am 8. Mai 1945 im Gefängnis Aichach. Der 23-jährige Leipelt befand sich drei Monate mit Heinrich Hamm im so genannten „Haus des Todes“ im Gefängnis München-Stadelheim. Sein letzter Tag war am 29. Januar 1945. Hans Leipelt verabschiedete sich von seinem Zellennachbarn: „ ,Heinrich, ich danke dir für allen Trost und Zuspruch in den letzten Monaten. An Gott glaubst du ja nicht, so wollen wir uns dann auch nicht Wiedersehen sagen, aber laß uns noch einmal Lebewohl sagen.´ Wir drückten uns zum letzten Mal die Hand. Taumelnd falle ich auf meine Pritsche. Da schlägt die Uhr viermal. Ich drücke die Daumen fest in die Ohren, damit ich das Beil nicht fallen höre.“343 Seine Beisetzung fand am 3. Februar 1945 auf dem Friedhof Perlacher Forst statt. Die Kostenrechnung für Hinrichtung und Bestattung erhielt Leipelts Tante in Wien. Ehrungen, Namenspatronage 1994: Hans-Leipelt-Schule (Staatliche Fachoberschule) in Donauwörth. 29. Januar 2000: Denkstunde am Grab von Hans Leipelt anlässlich des 55. Todestags im Beisein von Dr. Marie-Luise Schultze-Jahn. 340 341 342 343

Freise, Gerda (1988): Ein Beispiel für Zivilcourage in der Zeit des Nationalsozialismus: 3 Rechtsanwalt Dr. Kartini: Brief vom 17.5.1972 an M.-L. Jahn. In: Schultze-Jahn, M.-L. (1994): Hans Leipelt: 6 Anklageschrift -11J118/44- Institut für Marxismus-Leninismus Berlin, Zentralarchiv der SED: 54. Auch in: Dr. M.-L. Schultze-Jahn, Privatarchiv Hamm, Heinrich (1965): Der letzte Zweig der „Weißen Rose“. In: Die Tat v. 30.1.1965

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Literatur Bottin, Angela (1992): Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität. Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Band 11. Hamburg Die Weiße Rose (1998): Hans Leipelt. Begleitheft zur Wanderausstellung „Weiße Rose“. München Forster, Otto (1994): Hans Leipelt. Unveröffentlichtes Manuskript Freise, Valentin (1946): Der Todesweg eines Kämpfers. Hans Leipelt – ein Kapitel Hochschule. In: Süddeutsche Zeitung v. 8.3.1946 Freise, Gerda (1988): Der Nobelpreisträger Heinrich Wieland. Ein Beispiel für Zivilcourage in der Zeit des Nationalsozialismus. Vortrag am 14.11.1988 in Pforzheim. Unveröffentlichtes Manuskript Hamm, Hans (1965): Mit Hans Leipelt in der Todeszelle. In: Die Tat v. 30.1.1965. Hamm-Brücher, Hildegard (1997): „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit“. Die „Weiße Rose“ und unsere Zeit. Aufbau Verlag, Berlin Hédiard, J.(1993): „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“. In: Deckname Betti. Jugendlicher Widerstand und Opposition gegen die Nationalsozialisten in München. Ein Projekt des Kreisjugendrings München und der Landeshauptstadt München (1997): 52–55. Möller, Klaus (1986): Hans Leipelt und die Weiße Rose. Vortrag, gehalten am 24.2.1986 an der Freien Akademie der Künste Hamburg. Unveröffentlichtes Manuskript Schultze-Jahn, Marie-Luise (1991): Hans Leipelt – ein Kapitel Münchener Hochschule im Nationalsozialismus. Unveröffentlichtes Manuskript Schultze-Jahn, Marie-Luise (1993): Rede zum 50jährigen Gedenken der Weißen Rose. Manuskript Schultze-Jahn, Marie-Luise (1994): Hans Leipelt – ein Kapitel Münchner Hochschule im Nationalsozialismus. In: Siefken, Hinrich / Vieregg, Hildegard (Hrsg.) (1993): Student Resistance to National Socialism. Arbeiter, Christen, Jugendliche, Eliten. Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte. University of Nottingham, Nottingham: 67–76 Tuckova, A. (1995): Cousine Hans Leipelts erinnert sich. In: Elbe Extra, vom 8.2.1995, im Privatarchiv v. Dr. M.-L. Schultze-Jahn Weiße Rose Stiftung (zusammengestellt) (1990): Die „Weiße Rose“. Der Widerstand von Studenten gegen Hitler 1942/43. Verlag G. J. Manz, München Wünsche, Frederic (2000): Marie-Luise Schultze-Jahn. Ein Leben für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Zeichen der „Weißen Rose“. Ein Beitrag zum Bertini-Preis 1999. Heisenberg-Gymnasium Hamburg

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Leisner, Karl Seliger Neupriester *28.2.1915 Rees, Niederrhein †12.8.1945 Planegg „An Hitler aber glaube ich nicht.“ Titel des biographischen Romans von Pfarrer Klaus-Peter Vosen

„Für die Jugend hat er sein Leben geopfert.“ Pater Otto Pies SJ brachte die erste Biographie über Karl Leisner heraus.344

Karl Leisner, 1944 Foto: Mit freundlicher Genehmigung des Internationalen Karl-Leisner-Kreises, Kleve

Bronzebüste von Karl Leisner Foto: H. Engelbrecht

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I. Karl-Leisner-Gedenkraum Katholische Kirche (1945) Waldsanatorium der Barmherzigen Schwestern, heute Alten- und Pflegeheim Sanatoriumstraße, Krailling. Planegg S6, Bus 967 II. Büste von Karl Leisner Katholische Kirche und Gemeinde (1997) Waldsanatorium, Sanatoriumstraße, Krailling Planegg S6, Bus 967 III. Karl-Leisner-Weg Planegg-Krailling (1996) Zu II: Büste von Karl Leisner ANLASS UND ENTSTEHUNG Der Münchner Weihbischof Engelbert Siebler hat die Errichtung des Denkmals initiiert. Die Einweihung fand am 12. August 1997 in seinem Beisein statt, zusammen mit dem Bürgermeister Dieter Haager und dem Präsidenten des Internationalen Leisner Kreises Hans-Karl-Seeger. Kurzbeschreibung Die Bronzebüste (0,5m hoch) steht in einem kleinen Ehrenhain (Maße ca. 7 m x 5 m) auf einem Travertinsockel (1,40 m hoch) mit quadratischem Querschnitt (0,4 m x 0,4 m) und trägt folgende Inschrift: „Seliger Karl Leisner, Priester, Märtyrer *1915 in Rees †1945 im Waldsanatorium. Seligsprechung 1996 von Papst Johannes Paul II.“ Diese wird von zwei kleineren, analog gestalteten Säulen flankiert. Die Inschrift auf der linken Säule lautet: „Du armes Europa, zurück zu Deinem Herrn Jesus Christus! 16. Juni 1945.“

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war vom 2. August 1941 – 27. März 1945 im KZ Dachau aufgrund seines Protestes gegen die Aufhebung eines Jesuitenklosters. Zitiert in: Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 969

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Die auf der rechten lautet: „Viktor in vinculis (Sieger in Fesseln). Segne auch Höchster meine Feinde! 25. Juli 1945.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER / DIE KÜNSTLERIN Die Bronzebüste schuf der Künstler Dr. Joseph Alexander Henselmann. Den Platz gestaltete die Landschaftsarchitektin Adelheid Schönborn. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Karl erblickte am 28. Februar 1915 als erstes Kind des Gerichtssekretärs Wilhelm Leisner und seiner Ehefrau Amalie, geb. Falkenstein, das Licht der Welt. Seine Geschwister waren: Willi (*1916), Maria (*1917), Paula (*1919) und Elisabeth (*1923). In Kleve besuchte Karl von 1921-1925 die Volksschule und trat in das dortige Gymnasium ein. Im gleichen Jahr begann der Zwölfjährige seine Tätigkeit im katholischen Jungkreuzbund als Schriftführer. 1928 engagierte sich Leisner für die Neugründung der Jugendgruppe „Katholischer Wandervogel“. Dieses außergewöhnliche Engagement hatte später seine Ernennung zum Bezirksjungscharführer in Kleve zur Folge. Auch diese anspruchsvolle Aufgabe mit der Übernahme von Verantwortung einer Jugendgruppe konnte er neben den üblichen Schülerpflichten bewältigen. Nach erfolgreichem Schulabschluss (Abitur 1934) entschloss er sich zum Studium der Theologie, um Priester zu werden. Auch in dieser Zeit setzte er die Jugendgruppenarbeit fort, was zu seiner Ernennung zum Diözesanjugendführer in der Diözese Münster durch Bischof von Galen führte. Karl Leisner hatte sich bereits früh ein klares politisches Urteil über die Zeit nach der Machtergreifung gebildet. Dies führte bereits 1936 dazu, dass die Gestapo eine Akte über ihn anlegte und seine Post kontrollierte. Vom 1. April bis 23. Oktober 1937 absolvierte Leisner den Reichsarbeitsdienst in Sachsen und in Emsland. Kurz darauf beschlagnahmte die Gestapo seine seit 1927 geführten Tagebücher.345 Das Studium der Theologie setzte Leisner in Münster fort. In dieser Zeit erschüttern ihn innere Zweifel: soll er sich zur Ehe entscheiden oder zum Priestertum? Am 4. März 1939 hielt er vor der Subdiakonsweihe in seinem Tagebuch fest: „Es war ein tödlicher Kampf. Aber ich bin zum Priestertum berufen – und diesem Beruf opfere ich alles.“346 Am 25. März 1939 erhielt er die Diakonsweihe. Die kurz danach diagnostizierte Lungentuberku345 346

Riße, Klaus (1996): Karl Leisner (1915-1945): Text zur Ausstellung: 3 Zitiert in: St. Christophorus Wolfsburg: der selige Karl Leisner: 1

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lose führte zur Unterbrechung der Vorbereitungen zur Priesterweihe, da ein Sanatoriumsaufenthalt nötig war. Er kam in das „Fürstabt Gerbert Haus“ in St. Blasien im Schwarzwald. Der 24-jährige Student hatte sich die Lungentuberkulose beim Moorkommando im Reichsarbeitsdienst zugezogen, wo er monatelang im Sumpf stand und schweren Dienst leisten musste.347 Seine Genesung in der Heilanstalt machte Fortschritte und eine baldige Entlassung stand in Aussicht. Beginn des Leidensweges Als die Nachricht vom fehlgeschlagenen Attentat von Georg Elser (siehe Band 1: Elser) auf Hitler bekanntgegeben wurde, äußerte sich Leisner, der Hitler „radikal ablehnte“ (Johann Krein), gegenüber seinen beiden Zimmerkameraden Johann Krein und Kaplan Stein. Er kommentierte das missglückte Attentat: „Schade, dass er (Hitler) nicht dabeigewesen ist.“348 Ein anderer Mitpatient zwang Johann Krein dazu, die Worte Leisners vor einem Ortsgruppenleiter zu wiederholen.349 Doch bevor Leisner abgeführt werden konnte, musste der Chefarzt des Sanatoriums seine Haftfähigkeit bestätigen, was dieser tat. Am 9. November 1939 wurde Karl Leisner in St. Blasien verhaftet und kam in Schutzhaft ins Gefängnis Freiburg. Während dieser Zeit notiert er in sein Tagebuch am 11. November 1939: „Gott, ich danke Dir für die Tage der schweren Krankheit und jetzt wieder für die Tage der Unfreiheit und Gefangenschaft. Alles hat seinen Sinn, Du meinst es überaus gut mit mir.“350 Von dort verlegte man ihn am 5. Februar 1940 ins Gefängnis nach Mannheim. Nach einem Monat fand seine Überstellung in das KZ Sachsenhausen statt. Trotz der äußeren unliebsamen Bedingungen blieb der Häftling Karl Leisner seinem Lebens- und Glaubensprinzip treu. Über diese Zeit schrieb der Geistliche Otto Pies: „Im Lager machte Karl sich bald überall beliebt. Sein sonniges, immer frohes Wesen und seine Hilfsbereitschaft öffneten ihm Türen und Herzen. Auch mit den Kameraden von der SPD und KPD verstand er gut auszukommen. Er hatte überall Freunde.“351 Die KZ-Wärter hatten es jedoch auf die Priester abgesehen und behandelten diese besonders schlecht. Über seine Ankunft im KZ Buchenwald berichtete der französische Geistliche Henoque: „Ich wurde von einer Gruppe von SS-Leuten angefallen, die meine Soutane abrissen, unter höhnischem Grinsen mein Brevier zertraten.“352 Auch war in allen Konzentrationslagern die Ausübung jeder Religion unter Todesstrafe verboten. 347 348 349 350 351 352

Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 967 Riße, Klaus (1996): Karl Leisner (1915-1945): Text zur Ausstellung: 6 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 967 Zitiert in: St. Christophorus Wolfsburg: 2 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 968 Konzentrationslager Dokument F 321 für den internationalen Militärgerichtshof Nürnberg: 61

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Seit Dezember 1940 zog man die in Gefängnissen und anderen Konzentrationslagern festgehaltenen Geistlichen im Konzentrationslager Dachau zusammen. Hier wurden sie zuerst in den Blöcken 26, 28 und 30 festgehalten. Eine Stube im Block 26 diente als eine von der Kommandantur genehmigte Kapelle. Diese Blöcke umgab ein Stacheldrahtzaun und durften unter strengster Strafandrohung von anderen nicht betreten werden. Zunächst erhielten diese geistlichen Gefangenen Privilegien: pro Tag ein viertel Liter Wein und die gleiche Menge Kakao. Außerdem waren alle Geistlichen von körperlicher Zwangsarbeit freigestellt. Von diesen Vergünstigungen waren aber seit dem 19. September 1941 alle polnischen Geistlichen ausgeschlossen, die auch die Kapelle im Priesterblock nicht mehr betreten durften. Auch für die deutschen Geistlichen endete die Wein- und Kakaozuteilung am 11. Februar 1942; darauf folgte am 1. Mai desselben Jahres die Aufhebung der Freistellung von körperlicher Arbeit.353 „Wenn auch amtlich mitgeteilt wurde, daß die Geistlichen zu leichter Gartenarbeit herangezogen würden, so ist doch ganz unbestreitbar, daß die Kommandos „Plantage“ und „Liebhof“ die schwersten und am meisten gefürchteten waren. In diesen Kommandos waren die Geistlichen fast ausschließlich beschäftigt. Die 300 toten Priester aus dem Jahre 1942 sind zum größten Teil auf Kosten dieser Kommandos zu buchen.“354 Kaplan Theodor Brasse, der zwei Jahre im KZ Dachau inhaftiert war, berichtete ausführlich über das Gemeinschaftsleben und die Lebensumstände seiner Leidensgenossen: Zur täglichen Arbeit waren die meisten auf der „Plantage“, wo Heilkräuter, Gewürze, aber auch Drogen angebaut wurden. Hier musste bei Wind und Wetter in kniender Haltung schwerste Gartenarbeit geleistet werden. Die Verpflegung bestand aus einer Tagesration von 350g Brot (morgens), 1 Liter Rüben- oder Weißkohlsuppe (mittags) und 1 Liter Suppe (abends). Im Konzentrationslager Dachau355 Am 12. Dezember 1940 kam Karl Leisner mit weiteren Priestern in das KZ Dachau. Hier bekam er die Häftlingsnummer 22356. Er lag auf einer Holzpritsche, eingeengt mit circa 200 Mitgefangenen im „Priesterblock“. Im März 1942 musste er infolge seiner Lungenkrankheit, die nach den Entbehrungen in der Haft wieder auftrat, ins Krankenrevier, wo 120 bis 150 Kranke und Sterbende, zusammengepfercht und dem Tode nahe, untergebracht waren. Doch auch hier hatte der stets heitere Gelassenheit Ausstrahlende für jeden etwas übrig, „jeder kam gerne zu ihm, kaum konnte er zur notwendigen Ruhe kommen, weil er ständig Besuch bekam. Und alle verstand er, ob es ein Pole war oder ein junger 353 354 355

Brasse, Theodor (1971): Die Priester im KZ Dachau. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 1112-1113 Brasse, Theodor (1971): Die Priester im KZ Dachau. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 1113 Hier waren insgesamt 2796 Geistliche aus 20 Nationen inhaftiert. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau. Geistliche in Dachau nach Nationen (nach Bornefeld): 45

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Russe war, er wußte, was der Leidensgefährte erzählen oder sagen wollte. Immer teilte er das wenige, das er hatte. Geben war ihm Notwendigkeit und Freude. Wenn man ihm Vorhaltungen darüber machte, daß er alles wegschenkte, wies er mit spitzbübischem Lächeln nach, daß Gott ihm doppelt wiedergebe, was er verschenke, darum sei er so großherzig und gut.“356 Dreimal konnte er wieder in die Priesterbaracke zurückkehren mit der Hoffnung, geheilt zu sein. Unter seinem Kopfkissen versteckt bewahrte er das heilige Sakrament auf, um „heimlich die Sterbenden mit dem Brot des Lebens zu stärken und vielen anderen die heilige Kommunion zu schenken.“357 Die Willkür und Brutalität der KZ-Aufseher kannte keine Grenzen: Am Karfreitag führten sie 60 Gefangene aus dem „Priesterblock“ zum Baumhängen. Dies war für die meisten das Todesurteil. Die so Gequälten waren auf Dauer arbeitsunfähig kamen nach einer Selektion durch eine Ärztekommission auf die so genannten „Invalidentransporte“ nach Schloss Hartheim bei Linz, wo sie in Gaskammern ermordet wurden358 (siehe Band 1: „Euthanasie“-Opfer) . Karl Leisner empfing am 17. Dezember 1944 von dem Mitgefangenen französischen Bischof Gabriel Piquet,359 der seit dem 6. September desselben Jahres im Konzentrationslager Dachau festgehalten war, im geheimen die Priesterweihe. In der eigens im Priesterblock eingerichteten Notkapelle durfte Leisner am 26. Dezember 1944 die Primiz feiern, „dabei ließ Christus ihn seine unmittelbare Nähe und die Liebe und Größe seines Herzens wissen und spüren. Später hat Karl immer daran gedacht und sich gesehnt nach dem Altar.“360 Auf seine Befreiung musste er noch bis zum 29. April 1945 warten, als die US-Armee das Konzentrationslager Dachau befreite. Leisner wusste selber genau, dass „jeder Tag noch im Lager an meinem Leben zehre.“361 Am 4. Mai 1945 erwirkten der Jesuitenpater Otto Pies zusammen mit dem Dachauer Pfarrer Pfanzelt Leisners Entlassung aus dem unter Quarantäne stehenden Lager. Der schwerkranke Karl Leisner kam in die Lungenheilanstalt der Barmherzigen Schwestern nach Planegg. Am 23. Juli 1945 schrieb er in sein Tagebuch: „Wir armen Kzler! Sie wollten unsere Seele töten. O Gott, ich danke Dir für die Errettung ins Reich der Liebe und Menschenwürde. Herr, gib, daß ich immer mehr Dich 356 357 358 359 360 361

Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau: 968 Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau: 969 Im Jahr 1942 kamen 3166 Häftlinge nach Schloss Hartheim. In: Konzentrationslager Dachau 1933-1945: 157 Am 28.5.1944 in Clermont-Ferrand wegen Widerstandes verhaftet. Er kam am 24. April 1945 mit über 100 anderen nach Tirol, wo er befreit wurde. (Weiler, 1971: 521) Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau: 969 Steinbock, Johann (1948): Das Ende von Dachau. In: Weiler, Eugen (1971). Die Geistlichen im KZ Dachau: 1099

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liebe. Liebe und Sühne! Ich danke Dir für alles. Verzeih mir meine Schwäche!“362 Der 30-jährige Priester starb am 12. August 1945. Seine Beisetzung erfolgte am 20. August 1945 auf den Friedhof in Kleve. Im Jahre 1966 wurde Leisner in der Märtyerkrypta des Domes in Xanten zur letzten Ruhe gebettet. Ehrungen 1973 1975 1977 1980 1988

Gründung des „Freundeskreises Karl Leisner“ Gründung des „Internationalen Karl-Leisner-Kreises“ Einleitung des Seligsprechungsprozesses Genehmigung des Seligsprechungsprozesses 8. Oktober: Papst Johannes Paul II. empfiehlt in Straßburg 42 000 Jugendlichen aus ganz Europa Karl Leisner und den Franzosen Marcel Callo als Vorbilder 1996 23. Juni: Seligsprechung gemeinsam mit Domprobst Bernhard Lichtenberg durch Papst Johannes Paul II. im Olympiastadion von Berlin Ausstellung 1996 Karl Leisner (1915-1945) Menschentreue – Glaubensfreude – Hoffnungszeichen. Wanderausstellung vom Bischöflichen Generalvikariat Münster. Rundfunk Bayerischer Rundfunk: Sendung am 12.11.1999 von Michael Weberpals und Friedrich Schloffer Priesterweihe im Konzentrationslager. Literatur Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (1998): Band 14, Verlag Traugott Bautz. Spalten 1185-1187 Brasse, Theodor (1971): Die Prieser im KZ Dachau – Ihr Gemeinschaftsleben und Wirken daselbst. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen: 1112-1121 Feldmann, Christian (1996): Wer glaubt, muss widerstehen. Bernhard Lichtenberg – Karl Leisner. Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien Goldhagen, Daniel Jonah (2002): Die katholische Kirche und der Holocaust. Siedler Verlag, Berlin Gotto, Klaus / Repgen, Konrad (Hrsg.) (1990): Die Katholiken und das Dritte Reich. Mainz

362

Zitiert in: St. Christophorus Wolfsburg: Der selige Karl Leisner: 2

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Haas, Wilhelm (1977): „Christus meine Leidenschaft“. Karl Leisner. Sein Leben in Bildern und Dokumenten. Kevelaer Haas, Wilhelm (Hrsg.) (1979): Mit Christus leben. Gedanken für jeden Tag. Kevelear Heckens, Josef (Hrsg.) (1996): Rote Rosen und Stacheldraht: der selige Märtyrer Karl Leisner. Kevelaer Holzapfel, Theo (Hrsg.) (1996): Ein Zeuge des Glaubens in dunkler Zeit: Karl Leisner 1915-1945. Münster

Konzentrationslager Dachau 1933-1945. Hrsg. v. Comité International de Dachau (1998). Lipp Verlag, München Leisner, Karl (2000): Karl Leisners letztes Tagebuch. Hrsg. v. Hans K. Seeger. Münster Lejeune, René von (1999): Wie Gold im Feuer geläutert. Karl Leisner (1919-1945). Parvis Verlag, Maria heute. Hauteville / Schweiz Lettmann, R. (1996): Flagge zeigen – Gegen den Strom schwimmen. In: L`Osservatore Romano (Deutsche Ausgabe) 26. Jg. Nr. 25.,21. Juni, 1,4 Mertens, Mathias (1988): Priesterweihe hinter Stacheldraht. Gaesdonker Blätter Mussinghoff, H. (1996): Leidenschaft für Christus und den Nächsten – Karl Leisner, ein Leben für die Jugend. In: L`Osservatore Romano (Deutsche Ausgabe) 26. Jg. Nr. 25, 21. Juni, 9 Pies, Otto (1961): Geweihte Hände in Fesseln. Priesterweihe im KZ. Kevelaer Pies, Otto (1962): Stephanus heute. Karl Leisner. Priester und Opfer des KZ. Kevelaer Pies, Otto (1971): Karl Leisner. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling: 967-969 Riße, Klaus (1996): Karl Leisner (1915-1945) Menschentreue – Glaubensfreude –Hoffnungszeichen. Vortrag zur Wanderausstellung Roon, Ger van (1998): Widerstand im Dritten Reich. Beck`sche Reihe, München Schmiedl, Joachim (1996): Leben für die Jugend. Vallendar-Schönstatt Schmiedl, Joachim (1999): Mit letzter Konsequenz: Karl Leisner 1915-1945. Münster Seeger, Hans-Karl (Hrsg.) (2001): Karl Leisners letztes Tagebuch. Kevelaer Steinbock, Johann (1948): Das Ende von Dachau. In: Weiler Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling: 1069-1105 Sterzinsky, G. C. (1996): Zeugen des Glaubens und Boten der Versöhnung. Zur Seligsprechung von Bernhard Lichtenberg und Karl Leisner am 23. Juni im Olympiastadion von Berlin. I: L`Osservatore Romano (Deutsche Ausgabe) 26. Jg. Nr. 24, 14. Juni, 9-10 Thoma, Emil (1971): Wie dieser Bericht in Dachau vorbereitet wurde. In: Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen: 21-36 Vosen, Klaus-Peter (2000): An Hitler aber glaube ich nicht. Karl Leisner - ein Lebensweg. Köln Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen in Dachau sowie anderen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Nachlass von Pfarrer Emil Thomas. Erw. u. hrsg. v. Eugen Weiler. Missionsdruckerei St. Gabriel, Mödling

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Leonrod, Ludwig Freiherr von *17.9.1906 †28.8.1944 Berlin-Plötzensee „Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.“ Dietrich Bonhoeffer schrieb dieses Gedicht mit dem Titel Stationen auf dem Weg zur Freiheit mit dem Untertitel Tat nach dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli 1944 im Berliner Gefängnis Tegel.363

Freiherr Ludwig von Leonrod vor dem VGH in Berlin Foto: Institut für Zeitgeschichte München, Archiv

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Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand: 125

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I. Leonrodstraße, Neuhausen M (1906) II. Leonrodplatz, Neuhausen M (1927) III. Gedenktafel St. Georg, Bogenhausener Kirchplatz 1, Bogenhausen Max-Weber-Platz U4/U5 und Tram 18 Kath. Kirche (1946) Zu III. Gedenktafel ANLASS UND ENTSTEHUNG Für die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ermordeten Widerstandskämpfer Ludwig Freiherr von Leonrod, Pater Alfred Delp, Dr. Hermann Wehrle und Franz Sperr errichtete die katholische Kirche eine Gedenktafel, die am 31. Oktober 1946 eingeweiht und enthüllt wurde. KURZBESCHREIBUNG An der westlichen Kirchenmauer von St. Georg befindet sich die durch ein Kreuz in vier Teile gegliederte Gedenktafel. Eine der vier Segmente ist Ludwig Freiherr von Leonrod mit folgender Inschrift gewidmet: „Selig der Mann, der in der Prüfung stand hält. Denn wenn er sich bewährt hat, wird er die Krone des Lebens empfangen. Jak.1, 12. Ludwig Freiherr von Leonrod, geboren 17. September 1906. Hingerichtet 25. Aug. 1944. Im Kampf mit den Mächten der Finsternis fiel er für seinen Glauben, seine Freunde, sein Vaterland.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf der Architekt Hansjakob Lill. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Ludwig Freiherr von Leonrod stammte aus einer Familie, die traditionell ihre männlichen

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Mitglieder militärisch ausbilden ließ. Während der Ausbildung zum Berufssoldaten lernte von Leonrod Claus Graf von Stauffenberg (siehe Band 3: Stauffenberg) beim 17. Reiterregiment in Bamberg kennen. Im Juli 1933 erfolgte seine Ernennung zum Oberleutnant, was mit dem Führereid verbunden war. Mit Kriegsbeginn leistete er Frontdienst und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Eine schwere Verwundung brachte Anfang 1942 eine Versetzung nach München mit sich. Von Leonrod heiratete im Frühjahr 1943 und bezog mit seiner Frau eine Wohnung in der Möhlstraße (Bogenhausen). Von Stauffenberg weihte von Leonrod Ende 1943 in die Attentatspläne ein und erhielt seine Zusage zur Unterstützung. Ein Problem dabei war für von Leonrod der geleistete Eid: „... als gläubiger Katholik sei ich auf Grund der Ausführungen über die politische und militärische Lage schon gewissenmäßig verpflichtet, entgegen diesem Eid zu handeln. Trotzdem hatte ich auf meiner Heimreise (...) Gewissensqualen, ob die Handlungsweise richtig sei und ich nicht in einem Zustand der Sünde stehe, da ich von dem geplanten Attentat auf den Führer Kenntnis hatte.“364 Der strenggläubige Katholik Freiherr Ludwig von Leonrod suchte wegen diesem Gewissenskonflikt seinen Beichtvater Kaplan J. Wehrle in St. Georg in Bogenhausen auf, um zu erfahren, ob bereits das Wissen über ein geplantes Attentat auf den Führer Sünde sei. Kaplan Wehrle verneinte dies, riet jedoch nach der kirchlichen Lehrmeinung vom Tyrannenmord ab. Von Stauffenberg hatte von Leonrod beim geplanten Umsturz als Verbindungsoffizier für Berlin vorgesehen. Zur Zeit des Umsturzversuchs war von Leonrod auf einem Lehrgang für höhere Adjutanten in Potsdam-Krampnitz. Dort wurde er am 21. Juli 1944 verhaftet. In seinem Gnadengesuch versuchte er, seine Entscheidung zum Widerstand Kaplan Wehrle anzulasten: „Wahrscheinlich hätte schon ein anderer Beichtvater genügt. Mein Unglück ist eben, daß ich an diesen geraten war.“365 Nach einer Gegenüberstellung vor dem von Roland Freisler geleiteten VGH mit Kaplan Wehrle sagte er: „Wehrle habe gesagt, er brauche nicht zu beichten, denn ,Wissen um ein solches Attentat sei keine Sünde.‘“366 Nach Meinung Freislers hatte von Leonrod die Attentatspläne unterstützt und war als Verschwörer und Verräter zum Tode zu verurteilen. Am 26. August 1944 wurde von Leonrod mit dem Fallbeil hingerichtet. Im Zuge der Sippenhaft367 kam die Witwe Monika 364 365 366 367

Morschhäuser, Franz J. (1994): Hermann Joseph Wehrle (1899–1944). Zeuge des Glaubens in bedrängter Zeit: 175. In: Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind erklärt“: 187 Gritschneder, Otto: Von NS-Schergen erhängt: 18. Auch in: Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?: 195 Urteil des VGH. AZ 1 L 321/44 O J 14/444gRs.: 8, IfZ-Archiv München. In: Vieregg (1993): 193 Die Sippenhaft wurde am 21.11.1944 von den Nazis verhängt. Durch sie konnten Angehörige eines Täters für dessen „Delikte“ strafbar gemacht werden. Gestapochef Heinrich Müller ordnete ein einheitliches Verfahren für alle Sippenhäftlinge an. „Unter Sippe ist zu verstehen: Ehegatte, Kinder, Geschwister, Eltern und sonstige Verwandte, wenn letztere nachteilig bekannt sind.“ BAK, R58 1027, fol. 326. In: Hett / Tuchel (Hrsg.) (1994): 384

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Freifrau von Leonrod auch wegen Nichtanzeige ihres Ehemanns in Haft und noch am 18. April 1945 vor den VGH. Sie hat überlebt.368 Ausstellung 9. Oktober – 8. November 1998: Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Wissenschaftliche Leitung: Marion Detjen und Peter Dorsch. Gezeigt in der Kassenhalle des Münchner Neuen Rathauses. Literatur Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand. Aus dem Kreis der Familie Bonhoeffer. Kaiser Verlag, München Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NSRegime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Gritschneder, Otto (1985): Von NS-Schergen erhängt. In: Münchner Stadtanzeiger Nr. 90 v. 22.2.1985 Gritschneder, Otto (1986): Roland Freisler liefert Kaplan Wehrle dem Henker aus. In: Gritschneder, Otto (1986): Weitere Randbemerkungen. Selbstverlag Otto Gritschneder, München: 304-318 Hett, Ulrike / Tuchel, Johannes (1994): Die Reaktionen des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.) (1994): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sonderauflage d. Bayerischen Landeszentrale f. politische Bildungsarbeit. Bonn: 377–389 Maier, Hans (1993): Christlicher Widerstand im Dritten Reich. In: Siefken, Hinrich / Vieregg, Hildegard (Hrsg.): Resistance to National Socialism: Arbeiter, Christen, Jugendliche, Eliten: 21–38 Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber? München: Hochburg des Nationalsozialismus und Zentrum des Widerstands. Universitätsdruckerei u. Verlag Dr. C. Wolf & Sohn, München

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Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?: 195

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Loeb, James, Prof. Dr.h.c. *6.8.1867 New York †27.5.1933 Murnau-Hochried „Nur wenige Menschen in dieser denkmallosen Zeit haben eine schönere und dauerhafte Erinnerung hinterlassen als James Loeb, der in dieser Woche starb ... Mag auch das Zeitalter der Förderer mit dem 18. Jahrhundert versunken sein, – es ist, wie das Leben James Loebs zeigt, noch immer ein Raum für ein zwar weniger brillantes, jedoch keineswegs unbedeutendes Mäzenatentum ...“ The Times, 2. Juni 1933369

Stiftertafel im MarieAntonie-Haus Foto: H. Engelbrecht

James Loeb Foto: Stadtarchiv München

Gedenktafel für James Loeb Maria-Josepha-Straße 8 Foto: A. Olsen

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I. Gedenktafel, Maria-Josepha-Str. 8, Schwabing Giselastr. U3/U6 M (1990) II. James-Loeb-Straße, Schwabing M (1983) III. James-Loeb-Gedenktafel, Kraepelinstr. 2-10 Deutsches Forschungsinstitut für Psychiatrie (1928) IV. Stiftertafel im Marie-Antonie-Haus, Studentinnen-Wohnheim, Kaulbachstr. 49 Giselastr. U3/U6 Privat (1930) Zu I. Gedenktafel, Maria-Josepha-Str. 8, Schwabing M (1990) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative von Brigitte Pflug wurde im Jahre 1989 eine Gedenktafel für James Loeb geplant. Einige Jahre zuvor hatte sich die Stadträtin Cäcilie Götschel (CSU) bereits erfolgreich für eine James-Loeb-Straße (1983 in Schwabing) eingesetzt. Die Gedenktafel wurde am 1. August 1990 vom Münchner Oberbürgermeister Christian Ude enthüllt. KURZBESCHREIBUNG Dieses Haus ließ sich James Loeb in den Jahren 1909-1911 vom Architekten Carl Sattler errichteten. Hier lebte er bis zu seinem Umzug 1922 nach Murnau. An der mit antiken Motiven geschmückten Fassade befindet sich die Gedenktafel mit folgender Inschrift: „James Loeb 1867-1933 Förderer von Kunst und Wissenschaft und Stifter bedeutender sozialer Einrichtungen lebte in diesem Hause.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Der Münchner Bildhauer Toni Preis schuf diese Gedenktafel. 369

Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): James Loeb. Mäzen von Beruf: o. S.

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Zu IV. Stiftertafel im Marie-Antonie-Haus, Studentinnen-Wohnh., Kaulbachstr. 49 KURZBESCHREIBUNG In der Eingangshalle befindet sich eine in die Mauer eingelassene Gedenktafel (1,45 m x 1 m) aus poliertem Solnhofener Kalk mit eingemeißelter Inschrift: „Der Bau dieses Hauses wurde ermöglicht durch die Stiftung eines gütigen Menschen. Es soll den Studentinnen der Münchner Hochschulen ein gemütliches Daheim sein sowie eine Stätte edlen Strebens und guter Kameradschaft. Zu Ehren der Gemahlin des Stifters trägt das Haus den Namen „Marie-Antonie-Haus“. Sie selbst hat durch eine besondere Stiftung die Ausschmückung des Hauses ermöglicht und seine Wohnlichkeit erhöht. In Dankbarkeit sei ferner der gütigen Stifter gedacht, die ausserdem zur Verwirklichung des Studentinnenwohnheimes beigetragen haben: Frau Geheimrat Duisburg u. Frau von Veltheim; Herr u. Frau Ministerpräsident Dr. Held; Geheimrat Dr. Caro; Albert Fürst von Thurn und Taxis; Direktor Dr. Hess; Staatsminister Dr. Goldenberger; Akademikerinnen-Bund München; Frau Professor Sattler; F. W. Lafrentz, New-York; Quarter-Collection, NewYork; Mr and Mrs. Rudolf Erbslöh, New-York; Mrs. Louis Stern, Californien; Mrs. E. S. Heller, Californien; Mr. and Mrs. Wunderlich, New-York; Frauen der Dozenten der Universität; Frau Professor von Klenze; Frau Geheimrat Dantscher; Frau Geheimrat Berthold; Mrs. Emory E. Cochran, New-York; Mount Holy Coke College, U.S.A.; Vassar College, U.S.A.; Frau Professor M. Mueller, Wellesley-College, U.S.A.; Frauengruppe München des Bundes der Auslandsdeutschen; Mrs. J. H. Schiff, New-York; Herr und Frau Hambuechen; Theodore Spiering.“ Die beschriftete Gedenktafel ist ober- und unterhalb mit grün-grauem Mosaik verziert. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG James Loeb erblickte als zweites Kind von Solomon Loeb und Betty (geb. Gallenberg) in New York das Licht der Welt. Die Mutter war eine in Paris und Mannheim ausgebildete Pianistin. Sein Vater war 1829 in Worms geboren. Einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammend, wanderte er nach Amerika aus und gründete dort ein eigenes Bankunternehmen, Kuhn, Loeb & Co. „Wohlstand, verbunden mit dem sozialen Prestige wie der Nüchternheit des Bankiersberufes, bestimmen das Familienleben.“370 James Loeb studierte an der Harvard-University Wirtschaftsgeschichte, Nationalökonomie, Handelsrecht, Geschichte und Altphilologie.371 Er schloss sein Studium der Altertumswissenschaften mit dem Bachelor of Art ab. Auf Wunsch des Vaters begann er die 370

Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): James Loeb. Mäzen von Beruf: o. S.

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Arbeit im väterlichen Bankhaus und avancierte nach sechsjähriger „Lehre“ zum Teilhaber. 1901 schied Loeb 1901 aus dem Familienunternehmen aus. Danach widmete er sich seinen wissenschaftlichen Interessen und vergrößerte seine Antikensammlung durch Ankäufe. Vier Jahre später entschloss sich Loeb zur Übersiedlung nach Europa. Ein psychisches Leiden veranlasste Loeb, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auf der Suche nach einer führenden Kapazität fand er den bekannten Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926) in München. Am 14. November 1906 bezog Loeb eine Wohnung in der Konradstraße 12, später wohnte er in der Konradstraße 14 in München. Ein Jahr später erwarb Loeb das Anwesen an der Maria-Josepha-Straße 8, wo ihm Carl Sattler sein Münchner Domizil errichtete. Inspiriert vom französischen Gelehrten Salomon Reinach entschloss sich Loeb zur Herausgabe einer „umfassenden Bibliothek“ griechischer und lateinischer Texte und deren Übersetzung, der Loeb Classical Library. In dieser umfangreichen Publikationsreihe sollten alle literarischen Texte der griechischen und römischen Antike als wissenschaftliche Ausgaben aufgelegt werden: in Originalsprache und englischer Übersetzung. Loeb gründete dafür eine Stiftung, die bis heute mit Sitzen in Harvard und London besteht und insgesamt über 490 Bände herausgegeben hat.372 In Hochried bei Murnau erbaute der Mäzen und Wissenschaftler mit seinem Architekten Carl Sattler ein Landhaus (1911-1913), das er im Jahre 1912 bezog. Loeb heiratete 1921 Marie Antonie Hambuechen, die seine Verwalterin und persönliche Vertraute seit seiner Übersiedlung nach München war. Im selben Jahr erwarb er das Grundstück am Bavariaring 46, um sich von Carl Sattler ein Mietshaus errichten zu lassen; hier war das mit seiner Hilfe gegründete „Deutsche Forschungsinstitut für Psychiatrie“ untergebracht.373 Dieses Haus beherbergt heute die Maria-Theresia-Klinik. Durch die Initiative seiner Frau Marie Antonie entstand in der Kaulbachstraße 49 ein Studentinnen-Wohnheim, genannt „Marie-Antonie-Haus“. Es wurde 1929 von seinem Architekten Carl Sattler errichtet und besteht noch heute. Seine Ernennung zum Ehrenbürger der Universität München erfolgte 1925. „In Würdigung seiner außerordentlichen Förderung der wissenschaftlichen Forschung in München und der steten Hilfsbereitschaft, die er der Stadt München gegenüber bekundet hat“, erhielt er die goldene Ehrenmünze verliehen. Dieses vom Bildhauer Theodor Georgii gestaltete Kunstwerk befindet sich heute in der Staatlichen Münzsammlung München. 371 372 373

Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M. (1997): „... daß er sich nirgends wohler als in Murnau fühle ...“. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Murnau (Hrsg.): 78 Stewart, Zeph (2000): Gründung und Geschichte der Loeb Classical Library. In: Schlossmuseum des Marktes Murnau (Hrsg.): 104 Scherer, Benedikt M. (2000): James Loeb und sein Architekt Carl Sattler. In: Schlossmuseum des Marktes Murnau (Hrsg.): James Loeb 1967-1933. Kunstsammler und Mäzen: 127-142

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Ein schwerer Schicksalsschlag war für Loeb der Tod seiner Frau Marie Antonie am 28. Januar 1933. Die politischen Ereignisse – die Machtergreifung und deren Auswirkungen – veranlassten Loeb, Verbindung mit seinem Rechtsberater Professor Dr. Heinrich Rheinstrom (siehe Band 2: Jüdische Rechtsanwälte) aufzunehmen, der bereits in die Schweiz emigriert war. Im April 1933 reiste er mit seinem Stiefsohn Joseph Wilhelm Hambuechen in die Schweiz. Dort erlitt er kurz vor der Rückfahrt einen „cerebralen Insult mit Halbseitenlähmung.“374 Am 27. Mai 1933 starb James Loeb in Murnau-Hochried. Seine Urne ist im Park des Landsitzes beigesetzt. In seinem Testament überließ er seine Sammlungen antiker Kunstwerke, die er durch wissenschaftliche Publikationen und Kataloge bekannt gemacht hatte, der Staatlichen Antikensammlung München. Die umfangreiche „Sammlung James Loeb“ hat die Kriegsjahre unversehrt überstanden und ist seit 1967 in der neu eingerichteten Staatlichen Antikensammlung am Königsplatz zu sehen, wo sie in die kunstgeschichtliche Abteilung des Museums eingegliedert wurde.375 Einen Teil der umfangreichen Bibliothek von Loeb bekam das archäologische Institut in München. James Loeb kann nicht als direktes Opfer des nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gelten, er stellt jedoch einen Grenzfall dar. Seine Einschätzung der politischen Lage wird an seinem Testament deutlich. Ausstellungen 1983: James Loeb Mäzen von Beruf. Die „Sammlung James Loeb“. Gezeigt in der Staatlichen Antikensammlung am Königsplatz, München, anlässlich seines 50. Todestages im Jahre 1983 7. April – 9. Juli 2000: James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen. Sonderausstellung im Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau am Staffelsee; Oberbayern Stiftungen von James Loeb 1902 1905 1910 1917 374 375

„Charles-Eliot-Norton-Stipendium“, Harvard. „Institute of Musical Art“, New York. „Loeb Classical Library“ mit Sitz in Harvard und London. Gründung der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in München.

Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M. (1997): „... daß er sich nirgends wohler als in Murnau fühle ...“. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Murnau (Hrsg.): 112 Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): James Loeb Mäzen von Beruf: o. S.

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1924 Neubau für die „Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie“ am Bavariaring 46 in München. 1928 Neubau für die „Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in der Kraepelinstraße 2-10 in München; heute „Max-Planck-Institut für psychologische Forschung“. 1929 „Marie-Antonie-Haus“: Studentinnen-Wohnheim in der Kaulbachstraße 19 in München. 1932 Krankenhaus der Marktgemeinde Murnau. Ehrungen und Namenspatronagen 1922 Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität München. 1925 Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge (England). 1925 Ehrenbürger der Münchener Universität. 1927 Ehrenmedaille zum 60. Geburtstag (Geschenk seiner Freunde) von Theodor Georgii, Goldene Schale von der Landeshauptstadt München.376 1929 Ehrenmitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. 1930 Goldene Ehrenmünze der Stadt München. 1932 Ehrenbürger der Marktgemeinde Murnau, James-Loeb-Straße in Murnau. 2001 James-Loeb-Schule (Grundschule) in Murnau Literatur Birmingham, Stephen (1969): In unseren Kreisen. Berlin 1969 Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M.: „... daß er sich nirgends wohler als in Murnau fühle ...“ James Loeb als Förderer der Wissenschaft und philantropischer Mäzen. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Murnau (Hrsg.) (1997) M. + A. Fischer, Weilheim: 76-128 Burgmair, Wolfgang / Weber, Mathias M. (2000): „... Ein Lichtstrahl in das trübe Dunkel ...“. James Loeb als Wissenschaftsmäzen der psychiatrischen Forschung. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 107-126 Festschrift für James Loeb zum sechzigsten Geburtstag, gewidmet von seinen archäologischen Freunden in Deutschland und Amerika (1930) u. a. mit Beiträgen zu Ausstellungsobjekten der Sammlung Loeb Hall, Max (1993): Renewal of a Classic. „The James Loeb Classical Library“ with 477 volumen in print, prepares for the 21st century. In: Harvard Magazine Sept/Okt. 1993: 48-52 Hamdorf, Friedrich Wilhelm (1983): Sammlung James Loeb. Staatliche Antikensammlung u. Glyptothek, München Hamdorf, Friedrich W. (2000): James Loebs archäologische Studien. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 147-190 Hamdorf, Friedrich W. (Hrsg.) (1996): Hauch des Prometheus – Meisterwerke in Ton. Staatl. Antikensammlungen München. Verlag Staatssammlungen, München Loeb, James (1929): Our Father. München 1929. Selbstverlag 376

StadtA Mü ZA Personen. In: Salmen, Brigitte (2000): James Loeb. Leben und Wirken. In: Schlossmuseum des Marktes Murnau (Hrsg.): 63

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Salmen, Brigitte (2000): James Loeb – Leben und Wirken. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 17-72 Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933 Kunstsammler und Mäzen. Bearbeitet von Brigitte Salmen. Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum Murnau vom 7.4.9.7.2000. Rieß-Druck, Benediktbeuern Mc Ewan, Dorothea (2000): Facetten einer Freundschaft. Aby Warburg und James Loeb. Verwandte, Freunde, Wissenschaftler, Mäzene. In: Schlossmuseum Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb Kunstsammler und Mäzen: 75-98 Sieveking, Johannes (1930): Aus der Antikensammlung von Dr. James Loeb, Murnau. In: Pantheon Band 6: 323-325 Sieveking, Johannes (1935): Das Vermächtnis James Loeb an die Münchner Antikensammlungen. In: Pantheon Band 8: 53-58 Stuart, Zeph (2000): Gründung und Geschichte der Loeb Classical Library. In: Schlossmuseum der Marktgemeinde Murnau (Hrsg.) (2000): James Loeb 1867-1933. Kunstsammler und Mäzen: 99-106 Warburg, Aby (2001): Tagebuch der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Akademie-Verlag, Berlin Weber, Mathias M. (1991): „Ein Forschungsinstitut für Psychiatrie ...“ In: Sudhoffs Archiv, Band 75. München Wünsche Raimund (1983): Mäzene. In memoriam James Loeb. In: Pantheon Band 39: 282-283 Wünsche, Raimund (1984): James Loeb und sein Vermächtnis in den Antikensammlungen. In: Museumskunde, Band 49. Staatliche Antikensammlung, München: 55-61 Zahn, Robert (1931): Hellenistischer Goldschmuck I. Diadem in der Sammlung des Herrn Dr. phil. h. c. James Loeb zu Murnau am Staffelsee. In: Antike Denkmäler, Band IV (1931): 69ff

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Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg „Ein Bombenteppich nach dem andern rauscht aus hellem Himmel todesnah heran – Wie todesnah berechnet ihre Bahn, wer eingegittert ihrem Brausen lauscht.“ Albrecht Haushofer377

Gedenkstätte auf dem Neuhofener Schuttberg Foto: H. Engelbrecht

Neuhofener Schuttberg, 5.7.1950, Blick auf die Stadt gegen Nordosten Foto: Stadtarchiv München

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Gedenkstätte Neuhofener Schuttberg, Sendling Mittersendling S7/S27 M (1957) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Gedenkstätte wurde auf Initiative der Landeshauptstadt München 1957 errichtet. KURZBESCHREIBUNG Der Künstler Josef Wiedemann konzipierte die einem Rundtempel ähnelnde Gedenkstätte. Sie besteht in ihrem Zentrum aus einer von Professor Hans Wimmer gestalteten, flachen Nagelfluh-Brunnenschale (Durchmesser 2 m) mit kleinem Springbrunnen, die von acht, äquidistant und symmetrisch auf einen Kreisumfang postierten, 4,5 m hohen weißen Travertin-Rundsäulen eingefasst ist. Sie tragen ein mittelsteiles Dachgewölbe, das sich aus acht, mit Holzschindeln abgedeckten Sektoren aufbaut. Die Spitze des Dachgewölbes krönt eine vergoldete Kupferkugel. Die circa 10 Meter nördlich dieser Gedenkstätte in den Boden eingelassene und von Pflastersteinen gerahmte Gedenktafel (1,3 m × 0,9 m), geschaffen vom Bildhauer Blasius Gerg, trägt folgende Inschrift: „Die Anlage steht auf Schuttmassen des Bombenkrieges. Sie ist der Erinnerung an die 6000 Münchner gewidmet, die im 2. Weltkrieg den Bomben zum Opfer gefallen sind.“ INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLER Die Gedenkstätte ist ein Gesamtkunstwerk von Josef Wiedemann, Professor Hans Wimmer und Blasius Gerg. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Die Eskalation des Bombenkrieges gegen Deutschland begann mit der deutschen Westoffensive. Zuvor waren die weite Anflugsroute nach Süddeutschland und die deutsche Flak ein hohes Risiko für englische Bombenangriffe. Die Situation änderte sich, nachdem der deutsche Russlandfeldzug gescheitert war und die alliierten Bomber technisch verbessert worden waren. Ab 1943 kam es zu systematischen Angriffen auf alle Großstädte des Deutschen Reichs. Unterstützt von Verbänden der „United States Army Air Forces“ (USAAF) fielen die Bomben auf Hauptverkehrswege, Industrieanlagen, Bahnhöfe, Kasernen und

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A. Haushofer: Moabiter Sonetten, Gedicht Bombenregen: 17

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Wohngebiete. Golo Mann schilderte die Schrecken dieser Angriffe gegen Ende des Zweiten Weltkrieges: „Dort lebte das Volk jetzt zwischen zwei Schrecken, den feindlichen Bomben aus der Luft und den Volksgerichtshöfen, mit deren Todesurteilen der Führer seine ,deutschen Menschen´ heimsuchte ...“378 Die Luftschutzmaßnahmen reichten in München für die Zivilbevölkerung bei weitem nicht aus. Deshalb erfolgten seit dem 20. März 1943 Evakuierungen und „Landverschickungen“ im Raum Oberbayern. München mied die von Berlin bestimmten Ausweichgebiete in den Reichsgauen Salzburg bzw. Steiermark und brachte die Stadtbewohner in abseits gelegenen Dörfern und Kleinstädten Oberbayerns unter.379 Bis zum Kriegsende mussten – bei einer Gesamtbevölkerung von 820000 vor Kriegsausbruch – circa 400000 Personen aus München evakuiert werden.380 Nach der alliierten Landung (D-Day) am 6. Juni 1944 an der Normandieküste verkürzten sich die Anflugzeiten der Bomberstaffeln; damit erhöhte sich die Häufigkeit der Angriffe der „fliegenden Festungen“. Zum schwersten Bombardement kam es Ende April 1944, bei dem Phosphor- und Stabbrandbomben München in eine Feuerhölle verwandelten. Die Alliierten zerstörten weite Teile Münchens. In der Altstadt waren 90 Prozent der Gebäude betroffen. Baudenkmäler und Kunstschätze – ein großer Teil des Münchner Kulturwertes – lagen in Schutt und Asche. Nach Kriegsende lagen zehn Millionen Kubikmeter Bauschutt im Stadtgebiet. Über seine Entsorgung berichtet die Chronik von München am 31. August 1945: „Das Stadtgebiet ist von einem Kleinbahnnetz von fast 50 Kilometer Länge durchzogen. Täglich fahren 14 Dampfzüge mit Kipploren aus, die von 12 Greifbaggern mit Bombenschutt beladen werden. Die Militärregierung hat außerdem 140 Lastwagen zur Verfügung gestellt. 150000 cbm Schutt sind bereits abgefahren, täglich werden 2000 weitere cbm beseitigt. Als nächstes sollen Häuserruinen beseitigt werden, bei denen Einsturzgefahr besteht. Nach Neuhofen kommt der Schutt aus dem Marienplatz-, Rindermarkt- und Färbergrabengebiet. Er wird über eine Zwischenkippe, die im Bereich der Hotter- und Damenstiftstraße ist, nach Neuhofen verladen.“381 Die Kleinbahn („Bockerlbahn“) verkehrte zwischen dem Sendlinger-Tor-Platz und Neuhofen. Hier befand sich eine der vier großen Deponien, auf denen der Bauschutt gelagert 378 379 380 381

Mann, Golo (1968): Deutsche Geschichte 1919–1945: 226 Bauer, Richard (1987): Fliegeralarm: 20 Bauer, Richard (1987): Fliegeralarm: 25 Chronik der Stadt München 1945–1949 v. 6.8.1946: 187

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wurde. Weitere Ablageplätze gab es am Pullacher Platz (hier entstand später ein Sportstadion), am Luitpoldpark und auf dem Oberwiesenfeld, dem späteren Olympiagelände. Ausstellung 1984: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945–1949. Gezeigt von der Landeshauptstadt München im Münchner Stadtmuseum.

Literatur Bauer, Richard / Stölzl, Christoph / Broszat, Martin / Prinz, Friedrich (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer Großstadt 1900–1950. Verlag Langen Müller, München, Wien Bauer, Richard (1987): Fliegeralarm. Luftangriffe auf München 1940–1945. Hugendubel Verlag, München Bauer, Richard (1988): Ruinen-Jahre. Bilder aus dem zerstörten München 1945–1949. Hugendubel Verlag, München Berthold, Eva / Matern, Norbert (1990): München im Bombenkrieg. Droste Verlag, Düsseldorf Chronik der Stadt München 1945–1948 (1980). Bearbeitet von Wolfram Selig, Ludwig Morenz, Helmut Stahleder. Stadtarchiv München, hrsg. v. Michael Schattenhofer. Manz AG Verlag, Dillingen Friedrich, Jörg (2002): Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945. Propyläen Verlag, München Hausenstein, Wilhelm (1958): Liebe zu München. Prestel Verlag, München Hausenstein, Wilhelm (1967): Licht unterm Horizont. Tagebücher von 1942 bis 1946. Prestel Verlag, München Mann, Golo (1968): Deutsche Geschichte 1919–1945. Frankfurt a. M. Richardi, Hans-Günter (1992): Bomber über München. Der Luftkrieg 1939 bis 1945, dargestellt am Beispiel der „Hauptstadt der Bewegung“. W. Ludwig Verlag, München Trümmerzeit in München (1984): Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945– 1949. Hrsg. von Friedrich Prinz. Katalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum. C. H. Beck Verlag, München Schreibmayr, Erich (1989): Wer? Wann? Wo? Persönlichkeiten auf Münchner Friedhöfen. Verlag Erich Schreibmayr, München

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Luftkriegsopfer – Schwabinger Schuttberg „Die Europa zu terrorisieren schienen, lebten selber unter gleichem Terror.“ Golo Mann382

Kruzifix auf dem Schuttberg im Luitpoldpark Foto: H. Pfoertner

Kruzifix mit Inschrift Schwabinger Schuttberg Luitpoldpark, Schwabing Scheidplatz U2/U3/U8 und Tram 12 M (1958) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Veranlassung der Landeshauptstadt München wurde nach Abschluss der Landschaftsund Freizeitparkgestaltung im Jahre 1958 auf dem Schwabinger Schuttberg im Luitpoldpark ein Bronzekreuz mit Inschrift errichtet. Die Namengebung seit Juni 1959 – „Schwabinger Schuttberg“ – geht auf den Wunsch der Münchner Bürger zurück. Sie konnten sich mit Vorschlägen wie „Kreuzberg“, „Ruinenberg“ oder „Luitpoldhügel“ nicht anfreunden. 382

Mann, Golo (1968): Deutsche Geschichte 1919–1945: 226

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KURZBESCHREIBUNG Auf dem Gipfel des Schuttberges befindet sich ein in Bronze gegossenes Kruzifix mit folgender Inschrift: „Betet und gedenket all’ der unter den Bergen von Trümmern Verstorbenen. O Herr gib ihnen die ewige Ruhe. Das Kreuz ist geweiht. 3.5.1958.“ Eine Tafel am Weg kurz vor dem Gipfel des Berges trägt die Inschrift: „Dieser Berg entstand aus dem Trümmern der im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstörten Münchner Häuser. Die bei den Luftangriffen umgekommenen Bewohner sind auf den städtischen Friedhöfen bestattet.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Das Kreuz schuf Herbert Altmann. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Luitpoldpark ist im Jahre 1911 vom Prinzregenten Luitpold (1821–1912) errichtetet worden. An der Südseite steht ein 17 Meter hoher Obelisk, von dem axial ein Hain mit 90 Linden ausgeht. An der westlichen Parkseite steht das „Bamberger Haus“: Ein Bürgerhaus im genuesischen Barockstil, das in den Jahren 1707–1713 in Bamberg von Welsch und Dienzenhofer geschaffen wurde.383 Der Luitpoldpark erstreckt sich über eine Fläche von 33 Hektar. Am nördlichen Ende des Parks entstand der etwa 40 Meter hohe Schuttberg, eine der vier großen Deponien für den Bombenschutt aus der Innenstadt. Noch heute sind Spuren der ehemaligen Lorenbahn auf der Nordseite des Berges zu erkennen. Der botanisch gut gepflegte „Schwabinger Schuttberg“ bietet einen weiten Blick über die Stadt und ihr Land und ist nun ein Symbol für Versöhnung. Ausstellung 1984: Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945–1949. Von der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Münchner Stadtmuseum. Literatur (siehe Band 2, Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg)

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Im Jahre 1900 kamen die Fassadenteile dieses Hauses nach München; 1911 wurde es im Luitpoldpark wieder errichtet.

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Luftkriegsopfer – Ehrenhain

Denkmal auf dem Nordfriedhof Foto: H. Engelbrecht

Ehrenhain mit Denkmal Nordfriedhof, Ungererstraße 130, Gräberfeld 144 mit 149 Nordfriedhof U6 M (1950) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Antrag der Landeshauptstadt München entstand auf dem Neuen Teil des Nordfriedhofs ein Ehrenhain für die Münchner Opfer des Bombenkrieges. Die Einweihung fand am 31. Oktober 1950 statt.

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KURZBESCHREIBUNG Diese Grabanlage (8855 m²) wurde für die Opfer der Luftangriffe vom 7. Dezember 1944 bis 7. Januar 1945384 geschaffen, die am 28. Januar 1945 an diesen Ort umgebettet wurden. Sie umfasst 1940 Einzelgräber und ein Sammelgrab. Ein Weg führt zu einer Bronzestele (1,2 Meter breit, circa 5 Meter hoch) mit christlicher Symbolik. Der Ehrenhain ist von einer Hecke umgeben. Im Boden eingelassene Keramiktafeln (0,10 m × 0,10 m) tragen die Namen und Lebensdaten der Toten. Das Gräberfeld ist mit Formsteinen verziert. Die Inschrift auf der pfeilförmig endenden Stele lautet: „Tiefe des Reichtums der Weisheit und Erkenntnis Gottes. Wie unbeschreiblich sind seine Gerichte, wie unerforschlich seine Werke.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Denkmal und Ehrenhain schuf der Münchner Professor Hans Wimmer. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der Nordfriedhof ging aus einem Gemeindefriedhof hervor, der seit 1884 zu Schwabing gehörte; seine Fläche betrug 1897 etwa 26 Hektar. Der Architekt Hans von Grässel schuf die Anlage in Anlehnung an italienische und byzantinische Vorlagen. Seit 1920 ist dieser Friedhof um circa zwölf Hektar nach Osten und Norden erweitert worden. Die Anlage für die Luftkriegsopfer besteht seit 1945. Hier ruhen 2099 Tote, davon 159 Unbekannte. „Bei 74 Fliegerangriffen zwischen 4.6.1940 und 26.4.1945 wurden 6632 Personen getötet, 15 800 verwundet. Auf das Stadtgebiet fielen 450 Luftminen, 61 000 Sprengbomben, 142 000 Flüssigkeitsbrandbomben und 3 316 000 Stabbrandbomben. Rund 300 000 Einwohner wurden obdachlos, 81 500 Wohnungen zerstört. Die historische Altstadt wurde zu 90% zerbombt, 50% der gesamten Bausubstanz der Stadt wurden vernichtet.“385 Innerhalb des Münchner Stadtgebietes fanden während des Zweiten Weltkriegs „6242 Bürger und Bürgerinnen bei 66 Luftangriffen den Tod.“386 Literatur (siehe Band 2, Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg) 384 385 386

Chronik der Stadt München 1945–1949: 27 Chronik der Stadt München 1945–1948: 27. Auch in: Schreibmayr, Erich (1989): 453 Bauer, Richard (1988): Ruinenjahre: 45

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Luftkriegsopfer – Olympiapark

Kruzifix im Olympiapark Foto H. Pfoertner

I. Kruzifix M (1960) II. Gedenktafel M (1999)

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Zu I. Kruzifix ANLASS UND ENTSTEHUNG Im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Olympiaparks wurde die Gedenkstätte am 5. August 1960 hier errichtet. KURZBESCHREIBUNG Ein Kruzifix am südöstlichen Ausläufer des Olympiaberges erinnert an die Luftkriegsopfer. Zu II. Gedenktafel KURZBESCHREIBUNG Am Weg kurz vor dem Gipfel des Berges befindet sich eine Tafel mit folgender Inschrift: „Dieser Berg entstand aus den Trümmern der im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstörten Münchner Häuser.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Auf dem heutigen Olympiagelände erstreckte sich ursprünglich das „Obere Wiesenfeld“ vom Maßmannbergl (Ecke Dachauer-/Maßmannstraße) nach Nordosten. Vom Jahre 1794 bis zum späten 19. Jahrhundert diente das Gelände zwischen Dachauer- und Milbertshofener Straße als „Artillerie- und Exerzierplatz“. Im Jahre 1909 landete hier der erste Zeppelin. In den Jahren 1925 bis 1939 befanden sich auf dem Oberwiesenfeld Hallen und Rollfeld des Münchner Verkehrsflughafens. Der 290 Meter hohe Olympiaturm ist in den Jahren 1965 bis 1968 errichtet worden. Von 1968–1972 wurde durch Stauung des Nymphenburger Kanals ein künstlicher See geschaffen. Am Fuße des aus Bombenschutt bestehenden Olympiabergs entstand eine abwechslungsreich gegliederte Sport- und Erholungslandschaft, die mit dem Olympiastadion, der Sport- und Schwimmhalle und dem verbindenden Zeltdach ein architektonisches Denkmal bildet. Literatur (siehe Band 2, Luftkriegsopfer – Neuhofener Schuttberg)

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Mann, Heinrich *27.3.1871 Lübeck †12.3.1950 Santa Monica, Kalifornien „Das Dritte Reich wird scheitern an seiner Unfähigkeit und an seiner Abhängigkeit. Dann aber käme ein ungemein blutiger Abschnitt der deutschen Geschichte. Das Reich der falschen Deutschen und falschen Sozialisten wird gewiß unter Blutvergießen errichtet werden, aber das ist noch nichts, gegen das Blut, das fließen wird bei seinem Sturz.“387

Heinrich Mann Foto: Süddeutscher Verlag

Gedenktafel für Heinrich Mann, Leopoldstraße 59 Foto: A. Olsen

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Heinrich Mann. „Die deutsche Entscheidung“ v. 13.12.1931. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 113

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I. Heinrich-Mann-Allee, Herzogpark M (1956) II. Gedenktafel, Leopoldstraße 59, Schwabing M (1985) ANLASS UND ENTSTEHUNG Von 1914 bis 1928 lebte Heinrich Mann, der seit 1896 in München ansässig war, mit seiner Familie im dritten Stock des Hauses Leopoldstraße 59. Mit dieser Gedenktafel ehrte die Landeshauptstadt München den im Schatten seines berühmten Bruders Thomas stehenden – aber deshalb nicht weniger bedeutenden – Heinrich Mann. KURZBESCHREIBUNG An der südlichen Hausseite befindet sich eine Steintafel mit der Inschrift: „Der Schriftsteller Heinrich Mann lebte in diesem Haus 1914–1928.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf Horst Auer GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Als erstes Kind von Thomas Johann Heinrich Mann und seiner Frau Julia (geb. da SilvaBruhns) wurde Heinrich Mann am 27. März 1871 in Lübeck geboren. In der wohlhabenden Patrizierfamilie kamen die Kinder durch die vielseitig gebildete Großmutter und Mutter sehr früh mit Literatur und Musik in Kontakt. Heinrich und seine Geschwister Thomas (*1875), Julia (*1877), Carla (*1881) und Viktor (*1890) erhielten ihren Neigungen entsprechende Förderungen. Ein frühes autobiographisches Dokument ist das Tagebuch des 13-jährigen Heinrich, wo er über eine Reise nach Petersburg im Jahre 1884 berichtet. Das Gymnasium schloss er 18-jährig in der Unterprima ab. Dem Vater, der den Ältesten gerne als seinen Nachfolger im Handelshaus gesehen hätte, blieb die Neigung seines Sohnes nicht verborgen. Um den väterlichen Vorstellungen noch gerecht zu werden, entschloss sich Heinrich kompromissbereit für eine Buchhandelslehre in Dresden, die er nach einem knappen Jahr abbrach. Anschließend war er Volontär im S. Fischer Verlag Berlin. Diese Tätigkeit musste er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Der Vater, der am 13. Oktober 1891 gestorben war, verfügte in seinem Testament die Liquidierung der Firma und bestimmte, dass die Erbteile des bedeutenden Erlöses auf seine Frau und Kinder übergehen sollten. Damit war Heinrich Mann finanziell unabhängig und konnte als freier Schriftsteller leben.

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Sein erster Roman In einer Familie erschien 1894. Die Verbindung mit dem jüngeren Bruder Thomas vertiefte sich bei gemeinsamen Reisen und Aufenthalten in Italien zwischen den Jahren 1895 bis 1905. Heinrich Mann war vom April 1895 bis März 1896 der Herausgeber der konservativen Zeitschrift „Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“. Durch seine Mitarbeit bei der konservativen Zeitschrift lernte er „die gefährlichen Meinungen einer imperialistischen Bourgeoise kennen und bald durchschauen.“388 Während der gemeinsamen Zeit mit seinem jüngeren Bruder Thomas in Italien löste er sich von seinen frühen autobiographisch-psychologischen Studien. Er begann, die Umwelt mit ihren sozialen Schichten und gesellschaftlichen Erscheinungen analytisch zu erfassen und darzustellen. Über diese persönliche Entwicklung äußerte er sich später: „1897 in Rom, Via Argentina 34, überfiel mich das Talent, ich wußte nicht, was ich tat. Ich glaubte einen Bleistiftentwurf zu machen, schrieb aber den beinahe fertigen Roman. Mein Talent ist in Rom geboren, nach dreijähriger Wirkung der Stadt.“389 Wechselnde Aufenthalte in München, Berlin und diversen Städten Italiens folgten. Im Roman Zwischen den Rassen griff Heinrich Mann auf die Kindheitserinnerungen seiner Mutter zurück. In Berlin lernte er die Schauspielerin Maria Kanová kennen, die er zwei Jahre später heiratete. Im Jahre 1914 siedelten beide nach München über. Das Zerwürfnis mit dem Bruder Thomas hatte seine Ursache in dessen deutschnationaler Kriegsbegeisterung. Als dessen Gedanken im Kriege erschienen, nahm der Bruder Heinrich „... die Trennung vor von denen, die er trotz allem für seinesgleichen gehalten hatte.“390 Sein zwischen 1907–1914 entstandener Roman Der Untertan, sein erfolgreichstes Werk, erschien als Fortsetzungsroman in der illustrierten Wochenschrift „Zeit im Bild“. Der Roman ist eine brillant angelegte Analyse der Zusammenhänge zwischen Autoritätshörigkeit und gesellschaftlichen Strukturen im Kaiserreich. Nach Kriegsbeginn musste die Veröffentlichung in der Wochenschrift abgebrochen werden; der Roman erschien erst 1918, aber da mit großem Erfolg. 1916 kam die Tochter Leonie zur Welt. In den Kriegsjahren verkehrte Heinrich Mann mit Gleichgesinnten im Münchner Café Luitpold. Er traf dort die Schriftsteller Frank Wedekind, Kurt Martens, Gustav Meyrink, Erich Mühsam, Joachim Friedenthal und Lion Feuchtwanger. Nach der Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisners hielt er auf seinen Freund am 16. März 1919 eine Gedenkrede: „... Wer so unwandelbar in der Leidenschaft der Wahrheit und eben darum so mild im Menschlichen ist, verdient den ehrenvollen Namen eines Zivilisationsliteraten. Dies war Kurt Eisner.“391 Eisner (siehe Band 1: S. 79–81) war für Heinrich Mann der Idealfall 388 389 390 391

Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 38 Brief an Karl Lemke, 29.1.1947. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 43 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 81 Huch, Ricarda (1990): Der Mord an Kurt Eisner. In: Schwab, Hans-Rüdiger (Hrsg.) (1990): München. Dichter sehen eine Stadt: 207

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eines Menschen, bei dem Geist und Tat vollständig harmonierten.392 Ein 1917 unternommener Versöhnungsversuch mit seinem jüngeren Bruder Thomas scheiterte. Weitere fünf Jahre sollte es dauern, bis Thomas Mann durch die Ereignisse der Revolution, der Ausrufung der Republik und des rechtsextremen Terrors im Deutschen Reich eine Wendung zu politischer Liberalität vollzog und sich damit den bürgerlich-demokratischen Prinzipien des älteren Bruders näherte. In den Jahren der Weimarer Republik wurde Heinrich Mann, bisher Vertreter der literarischen Avantgarde, Repräsentant einer politischen Bewegung.393 Wie er zu seinem Beruf als Schriftsteller stand, beschrieb Heinrich Mann mit folgenden Worten: „Literatur ist niemals nur Kunst, eine bei ihrem Entstehen schon überzeitliche Dichtung gibt es nicht. Sie kann so kindlich nicht geliebt werden wie Musik. Denn sie ist Gewissen – das aus der Welt hervorgehobene und vor sie hingestellte Gewissen. Es wirkt und handelt immer.“394 Im Jahre 1926 erfolgte Heinrich Manns Aufnahme und Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst. Nach der Trennung von seiner Frau Maria zog Heinrich Mann nach Berlin, dem kulturellen Zentrum Deutschlands. In seinem politischen Denken waren auch die internationalen Beziehungen wichtig; verstärkt setzte er sich für die Aussöhnung mit Frankreich ein. Sein Ziel galt der Völkerverständigung und einem vereinten Europa. Im Berliner Lessing-Theater lernte er bei Proben zu einer Komödie von Ernst Toller (siehe Band 3: Toller) und Walter Hasenclever die Schauspielerin Trude Hesterberg kennen. Sie bat ihn, Professor Unrat zur Verfilmung freizugeben. Regisseur Josef von Sternberg besetzte die Hauptrolle mit Marlene Dietrich. Der Film mit dem Titel Der blaue Engel wurde ein bedeutender Erfolg (Premiere war im Frühjahr 1930): „Mein Kopf, und die Beine von Marlene Dietrich (Der blaue Engel),“395 so fasste Heinrich Mann das Geheimnis des Gelingens zusammen. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt war sein 60. Geburtstag, den er zusammen mit Max Liebermann (Präsident der Akademie), Gottfried Benn, Lion Feuchtwanger (siehe Band 1: Feuchtwanger) und seinem Bruder Thomas (siehe Band 2: Mann, Thomas) feierte. Vor der Ernennung des neuen Reichskanzlers hatte er gemeinsam mit der Graphikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz (siehe Band 2: Kollwitz) und dem Physiker Albert Einstein (siehe Band 1: Einstein) einen Aufruf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes zur Einigung von SPD und KPD gegen die drohende Diktatur unterzeichnet. Die 392 393 394 395

Wißkirchen, Hans (1999): Heinrich Mann: 58 Wendepunkt: 71. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 56 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 106 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 112

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Behörden schlossen daraufhin die Unterzeichnenden aus der Akademie aus. Heinrich Mann zog die Emigration vor, weil er die Weltanschauung der Nazis für „imbécile“ hielt. Im Dezember 1932 bekannte er sich zum Übernationalen: „Ich habe den alten Macht- und Nationalstaat verlassen, weil sein sittlicher Inhalt ihm ausgetrieben ist ... Der nationalistischen Lüge werden Menschen geopfert. Der nationalistischen Lüge wird das Menschtum geopfert. Ich bin es gründlich satt, die freche Lüge zu hören, daß nicht der Kampf um das Menschtum der höhere Beruf ist, sondern der Kampf dagegen.“396 Am 21. Februar 1933 reiste er allein und ohne Gepäck mit der Bahn von Frankfurt über Straßburg nach Nizza. Seinen Besitz hatte die Gestapo sofort beschlagnahmt; allein einige wertvolle Manuskripte und Bücher wurden auf Veranlassung des tschechischen Außenministeriums nach Prag ausgeliefert. Im Exil nahm er den politischen Kampf gegen die Nationalsozialisten mit Schrift und Wort auf. Er stellte sich dem in Paris gegründeten Schutzverband deutscher Schriftsteller zur Verfügung, leitete Kundgebungen und schrieb in einer französischen Zeitung aufklärende Artikel über die politischen Verhältnisse in Deutschland. Im Deutschen Reich verbrannte man seine Bücher auf dem Scheiterhaufen. Mit Hilfe des tschechischen Präsidenten bekam er 1936 die tschechische Staatsbürgerschaft. Während seiner Zeit in Nizza hielt er Kontakt zu den Autoren Joseph Roth, Hermann Kesten, René Schickle, Lion Feuchtwanger und zu seinem Bruder Thomas. 1939 heiratete er die 27 Jahre jüngere Nelly Kroeger. Weiterhin arbeitete er am Sturz Hitlers. Der drohende Krieg sollte vermieden werden. Am 25. Mai 1939 richtete er einen Brief an seinen Bruder Thomas: „... Das Beschämende ist, daß mit einem deutschen Aufstand noch immer nirgends gerechnet wird ... Zum Jahreswechsel muß Hitler am Boden liegen; oder, was folgt, wäre unabsehbar, wenigstens für mich.“397 Heinrich Mann blieb bis September 1940 in Nizza. Die Gefahr der Internierung veranlasste ihn, Europa zu verlassen. So wanderte er zusammen mit seiner Frau Nelly, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und dessen Frau Alma sowie Golo Mann über die Pyrenäen nach Lissabon. Die Flucht hatte ihnen Varian Fry ermöglicht.398 Von dort brachte sie ein Schiff in die USA. Über seinen Abschied reflektierte der 70-Jährige: „Eine verlorene Geliebte ist nicht schöner. Alles was mir gegeben war, hatte ich an Europa erlebt, Lust und Schmerz eines seiner Zeitalter, das meines war; aber mehreren anderen, die vor meinem Dasein liegen, bin ich auch verbunden. Überaus leidvoll war dieser Abschied.“399 396 397 398

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Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 118 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 137 Ein Agent des amerikanischen Emergency Rescue Committee. Eine Organisation, die insbesondere gefährdete Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle vor der Gestapo und dem Vichy-Regime rettete. Mehr als dreihundert Menschen gelangten mit Varian Frys Hilfe über die Pyrenäen nach Spanien. In: Feuchtwanger, Lion (1982): Der Teufel von Frankreich: 375 Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 141

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Zuerst fand er für ein Jahr als Scriptwriter bei den Filmgesellschaften in Hollywood eine Anstellung. Danach war das Ehepaar gezwungen in Los Angeles mit Hilfe von Thomas Mann und dem geringen Lohn von Nelly auszukommen. Sie verdiente als Schneiderin und Krankenschwester den Lebensunterhalt, kam aber mit der veränderten Situation seelisch nicht zurecht. Am 16. Dezember 1944 nahm sich Nelly mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. In einem Brief nahm Heinrich dazu Stellung: „Personen, die nicht wissen, versuchen mir anzudeuten, es sei ,besser so´. Nein ... Wir waren fünfzehn Jahre vereint. Erinnerungen, tragische und wunderbare, lebten in ihr, sind aber jetzt schattenhaft wie der mir gebliebene Rest vom Dasein.“400 Im Krieg hatte er seine Gedanken und Erinnerungen in dem Werk Ein Zeitalter wird besichtigt zu Papier gebracht: Das Zeitgeschehen mit seinen politischen und militärischen Ereignissen wird hier beleuchtet und die Frage nach den Ursachen der Katastrophe gestellt. „Finsternis sinkt und verbietet den Ausweg, wenn der Mensch selbst in Frage gestellt wird. Wesen ohne geistig-sittliche Verantwortung sind keine Menschen mehr.“401 Nach Kriegsende bekam Heinrich Mann das Angebot, in die Sowjetzone zurückzukehren. Die philosophische Fakultät der Humboldt-Universität Berlin verlieh ihm 1947 die Ehrendoktorwürde. Zwei Jahre später bekam er den Nationalpreis I. Klasse für Kunst und Literatur der DDR zugesprochen. Seine Rückkehr nach Berlin war bereits beschlossen. Mit der Berufung zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste standen ihm Wohnund Amtssitz zur Verfügung. Doch seine Rückkehr verhinderte sein schlechter gesundheitlicher Zustand. Heinrich Mann starb am 12. März 1950 in Santa Monica, Kalifornien. Die Beisetzung seiner Urne fand am 25. März 1961 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin statt. Dort steht eine von Gustav Seitz geschaffene Porträtbüste. Ehrungen 1926 Wahl zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst. 1928 Vorsitzender des Volksverbandes für Film und Kunst. 1931 Präsident der Dichtkunst der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1947 Ehrenvorsitz im Schutzverband Deutscher Autoren; Ehrendoktor der HumboldtUniversität, Berlin (Ost) und Ehrendoktor der Frankfurter Universität. 1949 Nationalpreis der DDR Erster Klasse. 1950 Wahl zum Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin; Berufung zum Ersten Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost).

400 401

Brief an Eva Lips v. 7.1.1945. In: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 149 Zitiert in: Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann: 153

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Filme Der blaue Engel verfilmt 1930; geschrieben als „Professor Unrat“, erschienen 1905 Der Untertan mehrfach verfilmter Roman, beendet 1914, erschienen 1916 Archive, Forschungs- und Gedenkstätten Heinrich-Mann-Archiv der Akademie der Künste zu Berlin, Robert-Koch-Platz 10, 10115 Berlin. Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum Buddenbrookhaus, Mengstraße 4, 23552 Lübeck. Heinrich-Mann-Gesellschaft, Marbach am Neckar. Ausstellungen 1998: Die Deutsch-Brasilianerin Julia Mann – Mutter berühmter Männer. Gezeigt von der Landeshauptstadt München im Kulturzentrum Gasteig. 26. August – 28. Oktober 2001: Liebschaften und Greuelmärchen. Die unbekannten Zeichnungen von Heinrich Mann. Gezeigt im Buddenbrook-Haus in Lübeck.

Literatur Banuls, Andree (1968): Thomas Mann und sein Bruder Heinrich. Kohlhammer Verlag, Stuttgart Becker, Thorsten (2001): Der Untertan steigt auf den Zauberberg. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg Breloer, Heinrich (2001): Die Manns – Ein Jahrhundertroman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Breloer, Heinrich (2001): Unterwegs zur Familie Mann. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Ebersbach, Volker (1978): Heinrich Mann. Leben, Werk, Wirken. Röderberg-Tb 71, Frankfurt a. M. Frühwald, Wolfgang (1994): „Er war mein Vater“. Menschenrecht und Menschenwürde in der Literatur des Exils. In: Odersky, Walter: Die Menschenrechte: 149–162 Jasper, Willi (2002): Der Bruder. Biografie von Heinrich Mann, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Jens, Inge (1994): Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste. Gustav Kiepenhauer Verlag, Leipzig (Neuauflage) Johnson, Uwe / Unseld, Siegfried (2000): Der Briefwechsel. Suhrkamp / SWR, 2 CDs, 148 Min. Kantorowicz, Alfred (1956): Heinrich und Thomas Mann. Aufbau Verlag, Berlin Kesting, Hanji (2000): Heinrich und Thomas Mann. Ein deutscher Bruderzwist. Dokumentation. NDR / Literatron Hamburg, 2 CDs, 106 Min. Romane von Heinrich Mann: (1894) In einer Familie; (1900) Im Schlaraffenland; (1903) Die Göttinnen. Die Jagd nach Liebe; (1905) Professor Unrat; (1906) Zwischen den Rassen; (1909) Die kleine Stadt; (1916) Der Untertan; (1917) Die Armen; (1925) Der Kopf; (1927) Mutter Maria; (1928) Die Bürgerzeit; (1930) Die große Sache; (1932) Ein erstes Leben; (1938) Die Jugend des Henri Quatre; (1943) Lidice; (1949) Der Atem; (1960) Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen

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Mann, Heinrich (1931): Fünf Reden und eine Entgegnung zum sechzigsten Geburtstag. Gesprochen von Max Liebermann, Gottfried Benn, Lion Feuchtwanger, Berlin. Zsolnay Verlag, Berlin Mann, Heinrich und Thomas (1994): Heinrich und Thomas Mann. Ihr Leben und Werk in Text und Bild. Katalog zur ständigen Ausstellung im Buddenbrook-Haus der Hansestadt Lübeck. Dräger Druck, Lübeck Mann, Julia (1991): Ich spreche so gern mit meinen Kindern. Aufbauverlag, Berlin und Weimar Mueller-Stahl, Armin (2001): Rollenspiel. Ein Tagebuch zu den Dreharbeiten für den Film „Die Manns“. J. Strauss Verlag, Berlin Paintner, Peter (1986): Erläuterungen zu Heinrich Manns „Der Untertan“, C. Bange Verlag, Hollfeld Schoeller, Wilfried (1978): Künstler und Gesellschaft. Studien zum Romanwerk Heinrich Manns zwischen 1900 und 1914. C. H. Beck, München Schröter, Klaus (1998): Heinrich Mann. Rororo Bildmonographien Nr. 50125, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg Schwab, Hans-Rüdiger (Hrsg.) (1990): München. Dichter sehen eine Stadt. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart Sierka, Volker (Hrsg.) (2001): „Liebschaften und Greuelmärchen“. Die unbekannten Zeichnungen von Heinrich Mann. Steidl Verlag, Göttingen Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg Zühlsdorff, Volkmar (1999): Deutsche Akademie im Exil. Der vergessene Widerstand. Ernst Martin Verlag, Berlin

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Mann, Thomas *6.6.1875 Lübeck †12.8.1955 Zürich „Antisemitismus ist eine Schande jedes Gebildeten und kulturell Eingestellten.“402

Thomas Mann Foto: Süddeutscher Verlag

Gedenktafel für Thomas Mann und seine Familie, Franz-Joseph-Straße 2 Foto: H. Engelbrecht

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Thomas Mann und das Judentum. In: Selbstwehr. Jüdisches Volksblatt. Prag 25.1.1935; vgl. auch Interview S. 206. Auch in: Kurzke, Hermann (2000): Thomas Mann: 288

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I. Thomas-Mann-Allee, Herzogpark M (1956) II. Gedenktafel Giselastraße 15 Giselastraße U3/U6 M (1969) III. Thomas-Mann-Gymnasium, Drygalski-Allee 2, München, Forstenried M (1969) IV: Gedenktafelkunstwerk Franz-Joseph-Straße 2 Giselastraße U3/U6 Privat (2001) Zu II. Gedenktafel ANLASS UND ENTSTEHUNG Die von der Landeshauptstadt München initiierte Gedenktafel wurde am 30. April 1969 der Öffentlichkeit übergeben. Im Jahr 2001 ist diese entfernt worden, da sie den historischen Gegebenheiten nicht entsprach.403 KURZBESCHREIBUNG An der Fassade neben dem Hauseingang, befand sich eine Bronzetafel (0,80 m × 0,40 m) mit der Aufschrift: „Thomas Mann vollendete in diesem Haus die Buddenbrooks 1898– 1901.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf der Künstler Hans Zilken.

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Thomas Mann wohnte hier in der „Pension Gisela“ für einen Monat im September 1902. Heiserer, Dirk (1993): Wo die Geister wandern: 113

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Zu IV: Gedenktafelkunstwerk Franz Joseph-Strasse 2 ANLASS UND ENTSTEHUNG Am ersten Wohnsitz von Katia und Thomas Mann initiierten der Historiker Dirk Heißerer und der Künstler Joachim Jung dieses Gedenktafelkunstwerk. Im Juli 2001 fand die Einweihung statt. KURZBESCHREIBUNG An der Fassade sind zwei Glastafeln (à 0,8 m x 2,0 m) angebracht. Eine ist mit dem Foto des ehemaligen Gebäudes versehen, die zweite zeigt die Porträts von Thomas und Katia Mann mit den Kindern Erika, Klaus, Golo und Monika. Eingefügt sind Informationen und ein Brieftext. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Das Gedenktafelkunstwerk schuf der Künstler Joachim Jung. Er versuchte, mit der Collage „von Informationstext und Brieftext (Julia Mann), die Textform der Gedenktafel für den Leser assoziationsreich und frei von einer bestimmten Lesereihenfolge zu gestalten. Glas als Material für die permanenten Tafeln wählte ich, um Farbe und Licht in die Gestaltung einzubeziehen.“404 GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Thomas, das zweite Kind von Thomas Johann Heinrich Mann und Julia (geb. da SilvaBruhns) wurde in Lübeck geboren. Der Vater leitete das Handelshaus seiner Vorfahren; er war Konsul und später Senator. Thomas hatte eine behütete und glückliche Kindheit. Die Familie besaß seit 1893 ein eigenes Haus in der Beckergrube 52, doch besonders gern hielten sich die Mann-Kinder im Stammhaus der Familie in der Mengstraße 4 auf. Heute ist hier im „Buddenbrookhaus“ das Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum untergebracht. Die Mutter mit ihren Neigungen zu Kunst und Kultur bedeutete ihm besonders viel. „Unsere Mutter war außerordentlich schön, von unverkennbar spanischer Turnüre – gewisse Merkmale der Rasse, des Habitus habe ich später bei berühmten Tänzerinnen wiedergefunden – mit Elfenbeinteint des Südens, einer edelgeschnittenen Nase und dem reizendsten Mund, der mir vorgekommen ist.“405 Julia da Silva-Bruhns war die Tochter eines Deutschen und einer portugiesisch-kreolischen Brasilianerin, die sieben Jahre auf dem Landsitz ihrer Eltern in Brasilien verbrachte. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter zog der Vater mit zwei Töchtern in seine Heimatstadt Lübeck, überließ seine beiden Töchter der Obhut 404 405

Schreiben von Joachim Jung vom 7.6.2002 an Helga Pfoertner Gesammelte Werke XI: 421. Auch in: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 15

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seiner Verwandten und zog es vor, nach Brasilien zurückzukehren. Julia heiratete im Jahre 1869 Thomas Johann Heinrich Mann. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor: Heinrich (*1871), Thomas (*1875), Julia (*1877), Carla (*1881) und Viktor (*1890). Die Schulzeit war für Thomas Mann ein Qual; er schilderte sie folgendermaßen: „Erstens bin ich ein verkommener Gymnasiast. Nicht daß ich durchs Abiturexamen gefallen wäre, – es wäre Aufschneiderei, wollte ich das behaupten, sondern ich bin überhaupt nicht in die Prima gelangt; ich war schon in der Sekunda so alt wie der Westerwald. Faul, verstockt und voll liederlichen Hohns über das Ganze, verhaßt bei den Lehrern der altehrwürdigen Anstalt, ausgezeichneten Männern, (...) so saß ich die Jahre ab, bis man mir den Berechtigungsschein zum einjährigen Militärdienst ausstellte.“406 Eine Ausnahme am Lübecker Katharinengymnasium war sein Deutschlehrer Bähte, den er besonders schätzte. Er vermittelte dem 15-Jährigen die Bekanntschaft mit Schillers Balladen. Die Begeisterung für Richard Wagner kam durch die Theaterbesuche, an denen er als Schüler im Stadttheater teilnahm. Erinnerte er sich später an diese Eindrücke, sagte er: „Ich werde wieder jung, wenn es mit Wagner anfängt.“407 Der Tod des Vaters, am 13. Oktober 1891, markierte für die Familie ein einschneidendes Ereignis. Im Testament hatte er die Liquidierung der über 100 Jahre bestehenden Firma bestimmt; über seinen Sohn Thomas Mann hieß es: „Mein zweiter Sohn ist ruhigen Vorstellungen zugänglich, er hat ein gutes Gemüth und wird sich in einen praktischen Beruf hineinfinden. Von ihm darf ich erwarten, daß er seiner Mutter eine Stütze sein wird.“408 Der damals 16-jährige Thomas Mann blieb noch bis zum Abschluss der Mittleren Reife in Lübeck, um 1894 die ungeliebte Schulzeit zu beenden. Er zog zu seiner Mutter, die mit den jüngeren Geschwistern Julia, Carla und Viktor in München, Rambergstraße 2, wohnte. Hier trat er als Voltontär bei einer Feuerversicherungsgesellschaft ein. In dieser Zeit entstand seine erste Novelle Gefallen (1894): Ausgestattet mit einer monatlichen Rente aus dem Vermögen des Vaters, konnte er ein finanziell sorgenfreies Leben führen. Mit dem älteren Bruder Heinrich begann nun eine intensive gemeinsame Zeit. Sie verbrachten in den Jahren 1895 bis 1898 oft mehrere Monate gemeinsam in Italien. 1898 und 1899 wirkte er als Lektor beim „Simplicissimus“, einer politisch-satirischen Münchner Wochenschrift. Den Militärdienst quittierte Thomas Mann mit einem Attest eines Arztes, der ihn wegen einer Sehnenscheidenentzündung als dienstuntauglich erklärt hatte. Mit dem Erscheinen

406 407 408

Gesammelte Werke XI: 329f. Auch in: Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann: 16 Gesammelte Werke XI: 927. Auch in: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 19 Heinrich und Thomas Mann. Ihr Leben und Werk in Text und Bild. In: Wißkirchen, H. (1999): Die Familie Mann: 20

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seines ersten Romans – im Oktober 1901 – Die Buddenbrooks trat der 26-Jährige als Schriftsteller und Künstler vor die Öffentlichkeit. In seinem Notizbuch, das er sich für die Arbeit an den Buddenbrooks angelegt hatte, stand folgender Eintrag: „Eines ist wahr: Psychologie allein würde unfehlbar trübsinnig machen; die Koketterien der literarischen Ausdrucksform sind es, die uns klar und munter erhalten.“409 Als Erzähler bringt er verborgene Vorgänge ans Licht; der Leser will stets bei der Lektüre die interessanten, geheimnisvollen und noch unbekannten Figuren des Romans kennen lernen. Der damals gleichaltrige Prager Lyriker Rainer Maria Rilke schrieb: „Man wird sich diesen Namen notieren müssen ... gerade weil nichts in dem Buche für den Leser da zu sein scheint, weil nirgends über die Ereignisse hinweg ein überlegener Schriftsteller zu einem unterlegenen Leser neigt, um ihn zu überreden und mitzureißen, gerade deshalb ist man so ganz bei der Sache und fast persönlich beteiligt, ganz als ob man in irgendeinem Geheimfach alte Familienpapiere gefunden hätte, in denen man sich langsam nach vorn liest, bis an den Rand der eigenen Erinnerungen.“410 Thomas Mann beschrieb die 42-jährige Familiengeschichte der Buddenbrooks. Seinen Gegnern, die ihm unterstellten „zersetzende Bücher“ zu schreiben, antwortete er, dass „der Verfall einer Familie ein brauchbares episches Thema gewesen sei; aber wir Buddenbrooks haben nach unserer bürgerlichen Auflösung in der Welt weiter ausgegriffen, dem Leben mehr geschenkt, als unseren beiden Vorväter in ihren Mauern je gegönnt war.“411 1905 heiratete Thomas Mann Katja Pringsheim, – die zu dieser Zeit Mathematik studierte – Tochter von Alfred Pringsheim, Ordinarius für Mathematik an der Münchner Universität. In ihrem Hause, Arcisstraße 12, verkehrten Künstler und Literaten. So war Thomas Mann von der Atmosphäre des großen Familienkreises, „die mir die Umstände meiner Kindheit vergegenwärtigte“, bezaubert.412 Während der Sohn Golo das Verhältnis seines Vaters zu seiner Mutter als „die größte Liebe seines Lebens und jene, die bei weitem am längsten dauerte“413 interpretierte, äußerte sich Klaus Mann über seine Eltern: „Ihre Ehe war nicht die Begegnung zwei polarer Elemente: eher handelte es sich wohl um die Vereinigung von zwei Wesen, die sich miteinander verwandt wußten – um ein Bündnis zwischen zwei Einsamen und Empfindlichen, die gemeinsam einen Kampf zu bestehen hofften, dem jeder für sich vielleicht nicht gewachsen wäre.“414 1914 bezog die Familie in München eine in historistischem Stil erbaute Villa in der Poschingerstraße 1. 409 410 411 412 413 414

Isenschmid, Andreas (2001): Die Geburt des Erzählers. In: Die Zeit Nr. 44 v. 25.10.2001: 51 Zitiert in: Isenschmid, Andreas (2001): Die Geburt des Erzählers: 51 Gesammelte Werke XI: 556. In: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 60 Hage, Volker (2001): Die Windsors der Deutschen. In: Der Spiegel Nr. 51 v. 17.12.2001: 177 Hage, Volker (2001): Die Windsors der Deutschen. In: Der Spiegel Nr. 51 v. 17.12.2001: 177 Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 78

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Der Erste Weltkrieg führte zu Spannungen zwischen Thomas und Heinrich Mann (siehe Band 2, Mann, Heinrich) und zum Bruch zwischen den beiden Brüdern. Ursache waren die unvereinbaren politischen Auffassungen über den Krieg. Thomas Mann übernahm auf der Seite der Deutschnationalen die Kriegsverherrlichung und -begeisterung, die der liberale und demokratisch gesinnte Heinrich Mann ablehnte. In dieser Zeit brach der Kontakt zwischen den Brüdern ab. In den Nachkriegsjahren nahm Thomas Mann intensiv am Zeitgeschehen teil; davon zeugen die erhaltenen Tagebücher vom September 1918 bis Dezember 1921. Er gab seine konservative Haltung zugunsten einer liberalen Humanität auf. Daraufhin kam es 1922 zu einer Versöhnung der Brüder Heinrich und Thomas Mann, die nach dem Wunsch von Heinrich, „sich nie wieder zu verlieren“, dauerhaft blieb. Zunehmend trat Thomas Mann in den zwanziger und dreißiger Jahren auch in der Öffentlichkeit des europäischen Auslands auf. Nach dem Erscheinen des Romans Der Zauberberg (1924) und der Verleihung des Literatur-Nobelpreises (1929) für Die Buddenbrooks war sein Weltruhm erreicht. Seinen 50. Geburtstag feierte die Landeshauptstadt München ihm zu Ehren im Münchner Rathaussaal (1925). Hier ehrte ihn Professor F. Mucker mit einer Festrede. Die Tischrede des Jubilars war voll Lob und Hoffnung auf die neue Republik. „Auf jeden Fall ist es eine wundervolle, tief dankenswerte Sache, einem großen Kulturvolk, wie dem deutschen, anzugehören, von seiner Sprache getragen zu sein, sein höchstes Erbgut wahren und fortentwickeln zu dürfen.“415 Als Vertreter des demokratischen Zeitgeistes reiste Thomas Mann als Kulturbotschafter nach Paris. Anlässlich der 700-Jahr-Feier der Hansestadt Lübeck hielt er einen Festvortrag. Als politischer Redner hielt der Schriftsteller am 17. Oktober 1930 eine Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, in dem er ein Zusammenwirken von Bürgertum und Sozialismus forderte, das hieß: Abwehr des faschistischen Fanatismus – „damit nicht heute München und morgen Berlin italienisch gemacht werden könnten.“416 Gegen den Nationalsozialismus richtete sich auch seine Rede vor Arbeitern in Wien (1932). Exil 1933 Am 10. Februar 1933 – zum 50. Todestag des Komponisten Richard Wagners – hielt Thomas Mann im Auditorium Maximum der Münchner Universität einen Vortrag über Leiden und Größe Richard Wagners. Dieser Vortrag charakterisierte Wagners große Gaben, aber auch seine menschlichen Schwächen und Eigentümlichkeiten. Thomas Mann betonte aber dabei die große Verbundenheit mit ihm. Am folgenden Tag verließ er München, ohne zu wissen, dass er erst nach 16 Jahren wieder zurückkehren sollte. Ganz unvorbereitet auf die folgende Zeit, „denn wir hatten nichts mitgenommen, außer dem, was man für eine drei415 416

Tischrede zur Feier des 50. Geburtstages. In: Thomas Mann Brevier: 142 Gesammelte Werke XI: 879–883. Auch in: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 106

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wöchige Reise braucht.“417 Er trat eine Wagner-Vortragsreise an, die ihn nach Amsterdam, Brüssel und Paris führte; mit anschließendem Erholungsurlaub in Arosa. Inzwischen brannte in Berlin der Reichstag, es kam zu Verhaftungen und Übergriffen in München durch das neue Regime. Am 16. April 1933 erschien ein u. a. vom Dirigenten Knappertsbusch, den Komponisten Hans Erich Pfitzner und Richard Strauß sowie vom Künstler Olaf Gulbransson unterschriebener offizieller Protest der „Richard-Wagner-Stadt München“ in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ gegen einen von Thomas Mann im Ausland gehaltenen WagnerVortrag. Die Unterzeichner kritisierten: „Wir lassen uns unseren wertbeständigen Geistesriesen nicht durch Thomas Mann im Ausland verunglimpfen.“418 Manns Antwort dazu: „...das ,Münchner-Haberfeldtreiben‘ sei ihm anstößig. Die Methode ist es, die zum Himmel schreit, die die Besseren hätte abstoßen müssen ... Das war kein kräftiger Protest, es war eine lebensgefährliche Denunziation, die gesellschaftliche Ächtung, die nationale Exkommunikation.“419 Thomas Manns’ Haus wurde durchsucht, die Autos und der Familienbesitz beschlagnahmt. Ende Mai erfolgte ein Konfiszierung des Anwesens und der Vermögenswerte (August 1933), dann erging ein Schutzhaftbefehl gegen Thomas Mann. Nach Aufenthalten in Arosa, Lugano und Badol mietete die Familie ein Haus in Südfrankreich im Ort Sanary-sur-Mer. Bereits im März 1933 setzte er seine Tagebuchaufzeichnungen wieder fort. Er erkannte, dass „Hitler der eigentliche Beauftragte des Kapitals ist“ (Juli 1933).420 Im November 1936 erhielt Thomas Mann die tschechische Staatsbürgerschaft, einen Monat später kam es zur Aberkennung der deutschen und zum gleichzeitigen Verlust seines gesamten Besitzes. Die Trennung vom „menschenverachtenden Regime“ war vollzogen. Thomas Mann bekannte sich zum Exil-Dasein, ein Angriff des Feuilletonchefs der „Neuen Züricher Zeitung“ Eduard Korrodi, der die Exilliteratur mit Ausnahme der von Thomas Mann als jüdisch bezeichnete, bestärkte seinen Entschluss. Thomas Mann antwortete in einem offenen Brief in der gleichen Zeitung an Korrodi und er betonte, „daß aus der gegenwärtigen deutschen Herrschaft nichts Gutes kommen kann, für Deutschland nicht und für die Welt nicht, – diese Überzeugung hat mich das Land meiden lassen, in dessen geistiger Überlieferung ich tiefer wurzele als diejenigen, die seit drei Jahren schwanken, ob sie es wagen sollen, mir vor aller Welt mein Deutschtum abzusprechen. Und bis zum Grunde meines Gewissens bin ich dessen sicher, daß ich vor Mitwelt und Nachwelt recht getan ...“421 417 418 419 420 421

Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 101 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 102–103 Kolbe, Jürgen (1987): Heller Zauber – Thomas Mann in München 1894–1933: 277 Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 110 Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann: 94

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Vom Schweizer Exil aus versuchte Thomas Mann, seine in München verbliebenen Manuskripte zu retten. Katia Mann berichtete davon: „Erika hatte es noch fertiggebracht, nach dem Umsturz nach München zu fahren und das „Joseph“-Manuskript und ein paar weitere Handschriften aus unserem schon beschlagnahmten Haus zu holen. Aber das übrige – alle Manuskripte von den „Buddenbrooks“ ab und den frühen Novellen, alle seine Briefschaften, die Briefe meines Mannes, Briefe, die ich von Hoffmannsthal und anderen aufgehoben hatte – ist durch die Emigration verlorengegangen.“422 Dem befreundeten Münchner Anwalt Dr. Heins bat Thomas Mann, die Manuskripte zu retten und vertraute ihm dazu die Schlüssel für den Schrank an, in dem sich die Papiere befanden. Nach dem Krieg kamen sein Sohn Klaus (er diente in der US-Armee) und seine Tochter Erika (sie war amerikanische Korrespondentin) nach München, um die „von ihm (Dr. Heins) aufbewahrten Sachen abzuholen. Da erklärte er ihnen, sein office, das zentral in der Stadt gelegen sei, sei zerbombt, seine guten Akten hätte er gerade noch gerettet, aber die Papiere und Handschriften von Thomas Mann seien Opfer der Flammen geworden; er hätte sie nicht mehr evakuieren können.“423 Die Flucht in die USA Wegen des deutschen Einmarsches in Österreich beschloss Thomas Mann, in die USA auszuwandern. In Princeton übernahm er eine Gastprofessur. Seit Herbst 1940 richtete er Radioansprachen – fast jeden Monat einmal – über den britischen Sender BBC-London an die Deutschen. In einer Radioansprache am 23. Juni 1943 würdigte Thomas Mann die Tat der „Weißen Rose“ mit den Worten: „Brave, herrliche junge Leute! Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein! Die Nazis haben schmutzigen Rowdies, gemeinen Killern in Deutschland Denkmäler gesetzt – die deutsche Revolution, die wirkliche, wird sie niederreißen und an ihrer Stelle eure Namen verewigen, die ihr, als noch Nacht über Deutschland und Europa lag, wußtet und verkündetet: ,Es dämmert ein neuer Glaube an Freiheit und Ehre.´“424 Katia und Thomas Mann nahmen 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Kurz vor Kriegsende schrieb der Schriftsteller auf Wunsch von „Free World“ einen Aufsatz mit dem Titel The end. In einen Brief an Agnes E. Meyer heißt es: „Ich habe dazu Tagebuchaufzeichnungen aus dem Beginn der Emigration benutzt, die zeigen, wie die persönliche Verstörung und Beängstigung überherrscht war vom Gefühl des Mitleids mit dem unglückseligen deutschen Volk und von der Frage: Was soll eines Tages, früher oder später, aus diesen Menschen werden?... Nicht schrecklich genug habe ich mir den Ausgang 422 423 424

Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 111–112 Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren: 113–114 Scholl, Inge (2000): Die Weiße Rose: 198

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vorgestellt ... Grausamere Herren hat wohl ein Volk nie gehabt, Herren, die eisern darauf bestanden, dass es mit ihnen zu Grunde geht.“425 Nach Kriegsende bat der Schriftsteller Walter von Molo Thomas Mann, nach Deutschland zurückzukehren; dies lehnte er jedoch ab. Seine Meinung dazu brachte er so zum Ausdruck: „Niemals habe ich einem deutschen Künstler sein Verbleiben daheim verübelt, wenn ihm nicht ein Bekanntsein in der Welt auch draußen die Existenz gesichert hätte. War er aber weltbekannt, so mußte er wissen, daß er mit seinem Bleiben und Schaffen in Deutschland der geistigen Propaganda des Bösen diente. Darüber kommt man mit dem Argument der Heimatliebe nicht hinweg. Die Großen hätten aus Heimatliebe auswandern müssen. Den anderen verdenke ich es nicht einmal, wenn sie in die Zwangsverbände oder sogar in die Partei gegangen sind, um sich zu halten.“426 Es folgten mehrere Europareisen. Zu einem Wiedersehen mit München kam es Ende Juli 1949, 16 Jahre waren inzwischen vergangen. Das Ehepaar Mann entschloss sich 1952 zur Übersiedlung in die Schweiz. In seinem letzten Lebensjahr erfuhr Thomas Mann zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. „Im Mai kommen die rednerischen Schillerfeiern in Stuttgart, München, Weimar, auch in der Schweiz, und gleich danach geht es los mit meinem Achtzigsten, zu welchem, wie es schon aussieht, alles geschehen wird, damit ich nicht viel älter werde,“427 so Mann. Ein begonnener Erholungsurlaub in Noordwijk musste wegen einer schweren Erkrankung unterbrochen werden. Eine Behandlung im Züricher Kantonspital war nötig geworden. Thomas Mann starb dort am 12. August 1955. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Kilchberg am Zürichsee. Archive, Forschungs- und Gedenkstätten, Namenspatronagen Thomas-Mann-Archiv der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Schönberggasse 15, 8001 Zürich. Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum Buddenbrookhaus, Mengstraße 4, 23552 Lübeck. 1996 Thomas-Mann-Kulturzentrum im litauischen Nida, Haus Hiddensee. ThomasMann-Sammlung des Deutschen Literaturarchivs Marbach. 1994 „Villino“. Literarisches Museum für Thomas Mann in Feldafing am Starnberger See. 1996 Thomas-Mann-Preis an Günter Grass. 1999 Thomas-Mann-Förderkreis München e.V. 425 426 427

Brief an A. E. Meyer, 15.2.1945. In: Thomas Mann Brevier: 151 Mann, Viktor (1949): Wir waren fünf: 586f Brief an H. Ewers, 19.1.1955. In: Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann: 155

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Ehrungen 1919 Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität Bonn. 1926 Professorentitel der Universität Lübeck, verliehen vom Senat der Stadt; Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst. 1929 Literatur-Nobelpreis. 1935 Ehrendoktorwürde der Harvard University, USA. 1938 Ehrendoktorwürde der Columbia Universität, New York; Akademischer Lehrer an der University of Princeton (1938–1940). 1939 Ehrendoktorwürden der Rutgers University, der Princeton University und des Hobart College. 1941 Ernennung zum „Consultant in Germanic Literature“ an der Library of Congress in Washington. Ehrendoktorwürde der University of California, Berkeley. 1945 Ehrendoktorwürde des Hebrew Union College. 1947 Aufnahme in die Accademia Nazionale dei Lincei, Rom. 1948 Ehrendoktorwürde der Universität Oxford, Großbritannien. 1949 Ehrendoktorwürde der Universität Lund, Schweden. Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt am Main und der Stadt Weimar. 1952 Rosette der Französichen Ehrenlegion. 1953 Ehrendoktorwürde der Universität Cambridge, Großbritannien. 1955 Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Ehrendoktorwürde der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich; Verleihung des Ordenskreuzes von Oranje-Nassau; Ehrenbürger der Stadt Lübeck; Wahl in die Friedensklasse des Ordens „Pour le Mérite“. Filme 1923 und 1959 Die Buddenbrooks. Regie Alfred Weidenmann. 1953 Königliche Hoheit. 1957 Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Regie Kurt Hoffmann. 1973 Der Tod in Venedig. 1978 Die Buddenbrooks. Regie Peter Wirth. 1981 Der Zauberberg. Regie Hans Geissendörfer. 1982 Doktor Faustus. Regie Franz Seitz. Juli 2000 Die Manns. Fernsehfilm in drei Teilen. Regie Heinrich Breloer. Dezember 2001 Die Manns – ein Jahrhundertroman. Fernsehfilm in drei Teilen, Regie führt Heinrich Breloer. Armin Mueller-Stahl spielt Thomas Mann, Monica Bleibtreu Katia Mann.

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Ausstellungen 1987 Villa Stuck München: Heller Zauber – Thomas Mann in München 1894–1933. 20. November 2000 – 21. Februar 2001: Thomas Mann. Die Buddenbrooks. Im Münchner Literaturhaus in Zusammenarbeit mit dem Heinrich- und Thomas-Mann-Archiv Lübeck. Hörspiele 26. Dezember 2000 – 6. Januar 2001 Der Zauberberg. Zehnstündiges Hörspiel, aufgeteilt in mehrere Folgen. Produziert vom Bayerischen Rundfunk München. Der Zauberberg. CD-Version im Hör-Verlag, zehn- und achtteilige MC-Version. Besonderheit November 2001: Der ausgestopfte sibirische Braunbär aus dem Elternhaus von Thomas Mann in Lübeck – übergegangen in den Haushalt von Thomas Mann in der Poschingerstraße – befindet sich nun als Dauerleihgabe im Münchner Literaturhaus.428 Literatur Berendsohn, Walter Artur (1956): Thomas Mann und das Dritte Reich. O. Verlag, o. Ort Hage, Volker (2001): Die Windsors der Deutschen. In: Der Spiegel Nr. 51 v. 17.12.2001: 174–196 Harpprecht, Klaus (1995): Thomas Mann. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg Heiserer, Dirk (1993): Wo die Geister wandern. Boheme um 1900. Eugen Diederichs Verlag, München Heiserer, Dirk / Jung, Joachim (1998): Ortsbeschreibung. Tafeln und Texte in Schwabing. Anderland Verlag, München Hübinger, Paul Egon (1974): Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel deutscher Vergangenheit aus dem Leben des Dichters 1905–1955. Langen Müller Verlag, München, Wien Kolbe, Jürgen (1987): Heller Zauber – Thomas Mann in München 1894–1933. Hrsg. v. d. Bayer. Rückversicherungs AG München. Ausstellungsreihe „Erkundungen“, Nr. 6 Kurzke, Thomas (1999): Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, Verlag C. H. Beck, München Mann, Golo (1986): Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt a. M. Mann, Katia (1994): Meine ungeschriebenen Memoiren. Hrsg. v. Elisabeth Plessen u. Michael Mann, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Romane von Thomas Mann: (1901) Die Buddenbrooks; (1909) Königliche Hohheit; (1922) Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull; (1924) Der Zauberberg; (1933) Joseph und seine Brüder; (1934) Der junge Joseph; (1937) Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull; (1939) Lotte in Weimar; (1943) Joseph der Ernährer; (1947) Doktor Faustus; (1951) Der Erwählte Mann, Thomas (1977): Tagebücher 1933–1934. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.

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Görl, Wolfgang (2001): Der Bär kehrt zurück. In Süddeutsche Zeitung Nr. 46 v. 14.11.2001

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Mann, Thomas (1980): Tagebücher 1937–1939. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Mann, Thomas (1994): Thomas Mann Brevier. Hrsg. v. Günther Debon, Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart Mann, Thomas (1999): Selbstkommentare: „Joseph und seine Brüder“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Mann, Viktor (1949): Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann. Südverlag, Konstanz Reich-Ranicki, Marcel (1998): Thomas Mann und die Seinen. Deutscher Taschenbuch Verlag, Stuttgart Schröter, Klaus (1964): Thomas Mann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg Schröter, Klaus (2000): Thomas Mann. Rowohlts Monographien Nr. 50093, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg Schwarberg, Günter (1996): Es war einmal ein Zauberberg. Eine Reportage aus der Welt des deutschen Zauberers Thomas Mann. Rasch und Röhrig Verlag, Hamburg Vaget, Hans Rudolf (1984): Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. Winkler Verlag, München Wißkirchen, Hans (1999): Die Familie Mann. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg

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Mayer, Rupert Seliger Pater SJ *23.1.1876 Stuttgart †1.11.1945 München „Mit dem Strom schwimmen ist nichts Großes. Aber gegen den Strom zu schwimmen ist etwas Ungeheueres.“ Pater Rupert Mayer SJ429 Pater Rupert Mayer im Gefängnis Landsberg am Lech,1938 Foto: Dr. Otto Gritschneder, Archiv

Gedenktafel Maxburgstraße 1 Foto: Andreas Olsen

Rupert-Mayer-Museum im Bürgersaal Foto: Andreas Olsen

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I. Rupert-Mayer-Straße, Obersendling M (1947) II. Gruft in der Krypta des Bürgersaals Neuhauser Straße, Altstadt Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27 Katholische Kirche (1948) III. Pater-Rupert-Mayer-Altar, Kreuzkapelle von St. Michael Kaufingerstraße, Altstadt Marienplatz S1–S8 und U3/U6 Katholische Kirche (1987) IV. Bronze-Büste, Bürgersaal Neuhauser Straße, Altstadt Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27 Katholische Männerkongregation (1948) V. Rupert Mayer-Museum, Bürgersaal Neuhauser Straße, Altstadt Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27 VI. Gedenktafel, Justizpalast, Prielmayerstraße 3 Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27 M (1988) VII. Gedenktafel Maxburgstraße 1, Altstadt Karlsplatz /Stachus S1–S8 und Tram 17/18/20/27 Katholische Kirche (1989)

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Grassl, Irene (1984): Pater Rupert Mayer in Selbstzeugnissen: 67

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VIII. Kirchenglocke für Pfarrei St. Maximilian Kolbe, Neuperlach Quiddestraße U2/U8 Ursula Brendel (1996) IX. Gedenktafel, Berchmanskolleg, Maxvorstadt-Schwabing Katholische Kirche (1996) X. Pater-Rupert-Mayer-Gymnasium Pullach Pullach S7 Katholische Kirche (1978) XI. Pater-Rupert-Mayer-Haus Hirtenstraße 4, Maxvorstadt Hauptbahnhof S1–S8 und Tram 20/21 Caritas Verband der Erzdiözese München und Freising e.V. (1985) XII. Pater-Rupert-Mayer-Stiftung Hirtenstraße 4, Maxvorstadt Caritas Verband der Erzdiözese München und Freising e.V. (1987) XIII. Pater-Rupert-Mayer-Volksschule Pullach Pullach S7 KM u. Katholische Kirche (1994) XIV. Pater-Rupert-Mayer-Realschule Pullach Pullach S 7 KM u. Katholische Kirche (1994) XV. Pater-Rupert-Mayer-Studentenwohnheim, Kaiserplatz 13, Schwabing Münchner Freiheit U3/U6

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Zu II. Gruft in der Krypta des Bürgersaals Katholische Kirche (1948) ANLASS UND ENTSTEHUNG Pater Rupert Mayer war auf dem Ordensfriedhof der Jesuiten in Pullach beigesetzt worden. Am 23. Mai 1948 erfolgte die Überführung im Beisein von etwa 120000 Gläubigen in den Münchner Bürgersaal in München. Seither ist das Grab ein Wallfahrtsort. Zu III. Pater-Rupert-Mayer-Altar, Kreuzkapelle von St. Michael Katholische Kirche (1987) ANLASS UND ENTSTEHUNG Zwei Tage nach der Seligsprechung des Paters im Münchner Olympiastadion erhielt der Altar in der Kreuzkapelle von St. Michael seinen Namen. Hier hatte Pater Rupert Mayer am 1. November 1945 seine letzte Predigt gehalten. Zu IV. Bronze-Büste im Bürgersaal Katholische Männerkongregation (1948) KURZBESCHREIBUNG Im Altarraum der Unterkirche im Bürgersaal ruht auf einem Steinsockel die von der katholischen Männerkongregation gestiftete Bronzebüste von Pater Rupert Mayer. Zu V. Pater-Rupert-Mayer-Museum Katholische Kirche (1987) KURZBESCHREIBUNG Im Eingangsbereich des Bürgersaals sind in Vitrinen Dokumente und Utensilien aus dem Leben von Pater Rupert Mayer ausgestellt. Davor steht sein ehemaliges Taufbecken aus St. Eberhardt in Stuttgart.

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Zu VI. Gedenktafel im Justizpalast, Prielmayerstraße 7 M (1988) KURZBESCHREIBUNG In der Eingangshalle des Justizpalastes ist eine Gedenktafel mit folgender Inschrift angebracht: „Pater Rupert Mayer, SJ. Ich werde künftig wie bisher die katholische Kirche, ihre Glaubens- und Sittenlehre gegen alle Angriffe, Anfeindungen und Verleumdungen verteidigen. Das halte ich für mein Recht und meine Pflicht als katholischer Priester. Erklärung von P. R. Mayer am 22. Juli 1937 vor dem Münchner Sondergericht.“ Hier fand am 22. und 23. Juli 1937 die Sondergerichtsverhandlung gegen den Jesuitenpater Rupert Mayer statt. Zu VII. Gedenktafel, Kreuzkapelle von St. Michael Katholische Kirche (1987) ANLASS UND ENTSTEHUNG Im Zusammenhang mit der Seligsprechnung von Pater Rupert Mayer am 3. Mai 1987 weihte Kardinal Friedrich Wetter diese Gedenktafel ein. Zu VIII. Kirchenglocke für St. Maximilian Kolbe in Neuperlach Ursula Brendel (1996) ANLASS UND ENTSTEHUNG Für das neue Pfarrzentrum stiftete Ursula Brendel eine Glocke (Gewicht circa eine Tonne) mit der Aufschrift: „Ich schweige nicht. Pater Rupert Mayer SJ, 23.1.1876 – 1.11.1945.“ Domkapitular Josef Obermeier weihte die Glocke am 27. Juli 1996 ein. Zu IX. Gedenktafel, Berchmanskolleg, Kaulbachstraße 31a, München Katholische Kirche (1996) Giselastraße U3

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KURZBESCHREIBUNG Am Eingang zum Berchmanskolleg befindet sich eine Gedenktafel mit der Inschrift: „Dieses Haus war unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ein Zentrum des katholischen Widerstands. Hier trafen sich mit dem Jesuitenprovinzial Augustinus Rösch die Patres Rupert Mayer, Lothar König, Alfred Delp. Hier fanden 1942–1943 mit Helmut J. Graf Moltke geheime Treffen des Kreisauer Kreises statt. Alle riskierten ihr Leben, viele verloren es.“ Zu X. Pater-Rupert-Mayer-Gymnasium Wolfratshauser Straße 30, 82049 Pullach Katholische Kirche (1978) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative des katholischen Familienwerkes e.V., dem damaligen Träger der Schule, wurde die Namengebung beantragt, die am 21. November 1978 erfolgte. DENKMAL Im Eingangsbereich der Schule ruht auf einem Steinsockel eine Bronzebüste Pater Rupert Mayers, eine Kopie des im Münchner Bürgersaal befindlichen Originals. Im Rahmen eines Festaktes am 22. März 1979 weihte der Erzbischof Kardinal Ratzinger diese Büste ein. GEDENKORTE Ein Gedenkstein an der ehemaligen Grabstätte auf dem Ordensfriedhof von Pullach erinnert an Pater Rupert Mayer, ebenso eine Stele auf demselben Friedhof, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule befindet. GEDENKTAGE Ein jährlicher Gedenktag im November, der so genannte „Pater-Rupert-Mayer-Tag“, wird mit Veranstaltungen, mit Filmen, Ausstellungen und Gottesdiensten begangen. VERÖFFENTLICHUNGEN Anlässlich des 20. Jahrestages der Namengebung erschien eine Chronik des Gymnasiums. Das Schulsiegel zeigt eine Porträtzeichnung des Namensvetters.

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Zu XI. Pater-Rupert-Mayer-Haus Hirtenstraße 4, 80335 München Katholische Kirche (1985) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Benennung des Hauses, der Zentrale des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising e.V., wurde unter dem Vorsitz von Prälat Franz Sales Müller im Jahre 1984 beschlossen. Die offizielle Einweihung fand durch den Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter am 17. Juli 1985 statt. Denkmal Im Foyer des Hauses befindet sich eine Bronzebüste von Pater Rupert Mayer. Ein Ölgemälde in der Kapelle im fünften Stock des Hauses zeigt sein Porträt. Dieser im Jahr 1995 geschaffene Ort der Besinnlichkeit ist geistiger Mittelpunkt des Hauses. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND Pater Rupert Mayer war in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts im Vorstand des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising. Zu XII. Pater-Rupert-Mayer-Stiftung Hirtenstraße 4, 80335 München Katholische Kirche (1987) ANLASS UND ENTSTEHUNG Anlässlich seiner Seligsprechung gründete der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V. für Kranke und Behinderte die „Pater-Ruper-Mayer-Stiftung“. Erinnerung 1997 Eine Telefonkarte mit dem Motiv: „Pater Rupert Mayer sammelt für die Caritas.“ Zu XIII. Pater-Rupert-Mayer-Volksschule Wolfratshauser Straße 30, 82049 Pullach KM u. Katholische Kirche (1994)

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ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Antrag des Erzbischöflichen Ordinariats beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus trägt die Volksschule seit dem 1. Januar 1994 diesen Namen. Zu XIV. Pater-Rupert-Mayer-Realschule Wolfratshauser Straße 30, 820449 Pullach KM u. Katholische Kirche (1994) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Antrag des Erzbischöflichen Ordinariats beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus trägt die Realschule seit dem 1. Januar 1994 diesen Namen. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Die Eltern von Pater Rupert Mayer waren Kaufleute, die sich 1873 in Stuttgart niedergelassen hatten, um ein Haushaltswarengeschäft zu führen. Zusammen mit einem älteren Bruder und vier jüngeren Schwestern wuchs Rupert Mayer in einer religiösen Familie auf. Nach dem Abitur begann er mit dem Studium der Theologie an der katholischen Universität in Freiburg (1894/95), wechselte an die Universität München (1895/96) und später an die Universität Tübingen. Zum Abschluss seiner Ausbildung im Priesterseminar Rottenburg erhielt er am 2. Mai 1899 in St. Martin zu Rottenburg von Bischof Keppler die Priesterweihe. Danach folgte der Eintritt in den Jesuitenorden in Tisis bei Feldkirch (Vorarlberg), der wegen des noch geltenden Jesuitengesetzes seit 1872 aus dem Deutschen Reich verbannt war. In Valkenburg und Wijnandsrade in den Niederlanden schloss er seine Studien ab und wurde als Volksmissionar in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingesetzt. 1912 versetzte man ihn nach München, wo er als Seelsorger für die „Zuwanderer“ wirkte. Bei Kriegsbeginn meldete sich Pater Rupert Mayer freiwillig als Feldgeistlicher. Er diente als Divisionspfarrer im Elsass, in Galizien und Rumänien. „Am 30. Dezember 1916 erlitt er im rumänischen Sultatal eine schwere Verwundung, in deren Folge das linke Bein amputiert werden mußte. Eine zweite Operation, lange Lazarett-Aufenthalte in Rumänien, Ungarn und in der Heimat folgten.“430 Als er am 30. März 1917 nach München zurückkehrte, nahm er alle Kraft zusammen, „da ich nur noch einen kleinen Stumpf (am linken Bein) habe, schon über vierzig Jahre alt bin und mein Gesundheitszustand durch das, was

430

Sandfuchs, Wilhelm (1987): Pater Rupert Mayer: 32

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ich seit dem 30. Dezember 1916 auszustehen hatte, nicht wenig geschwächt bin, so ist für mich das Gehenlernen eine überaus schwierige und mühsame Sache.“431 Im selben Jahr nahm er wieder das Amt als Seelsorger für die Zuwanderer in der ständig wachsenden Großstadt München auf. In einem Kreis von kirchlichen Mitarbeitern gelang es ihm, durch praktische Hilfe wie Stellenvermittlung und Unterstützung den „Zugereisten“ in Notlagen zu helfen und so ihr Vertrauen zu gewinnen. Über seine Kontakte berichtete er später: „Bei den Hausbesuchen ging es sehr lebhaft zu. So wurde ich bekannt mit dem Sozialismus und dem Kommunismus. Ich war gezwungen die soziale und die kommunistische Presse zu verfolgen und die diesbezüglichen Schriften zu lesen ... So konnte ich in den Vorträgen aus dem vollen Leben schöpfen. Diese Tätigkeit brachte es mit sich, daß ich immer mehr in die katholische Arbeiterbewegung hineingezogen wurde und auch die christliche Gewerkschaftsbewegung kennenlernte.“432 In den Nachkriegsjahren setzte er sich für Frieden und Versöhnung ein, übernahm die Leitung der „Marianischen Bürger-Kongregation“ und das Amt des Spirituals der „Schwestern von der Heiligen Familie“. Als Seelsorger, Beichtvater, Prediger und Caritas-Apostel betreute er die Jesuitenkirche St. Michael und den Bürgersaal. Die Tätigkeit als Mitarbeiter des Diözesan-Caritasverbandes bot Möglichkeiten, Notleidenden neben seelischem Beistand auch praktische Hilfe zu geben. Um den sonntäglichen Ausflüglern den Gottesdienst zu ermöglichen, hielt er seit 1925 Gottesdienste im Münchner Hauptbahnhof. Nach der Machtergreifung Als Prediger in der St. Michaelskirche setzte er sich gegen die Angriffe der neuen Regierung auf die Kirche zur Wehr. „Wenn eine kirchenfeindliche Zeitung Falschmeldungen über religiöse Ereignisse abdruckte, nahm er das Blatt auf die Kanzel mit und forderte überzeugend zum kritischen Lesen auf“,433 obwohl er wusste, dass die Gestapo seine Predigten mitschrieb. Am 7. April 1937 verhängte die Gestapo-Zentrale Berlin gegen Pater Rupert Mayer ein „Redeverbot für das gesamte Reichsgebiet“. Pater Rupert Mayer nahm dies nicht zur Kenntnis, weil er es für einen unrechtmäßigen Eingriff in die Verkündungsfreiheit der Kirche hielt. Deshalb erfolgte zwei Monate später seine Inhaftierung; er wurde in das Münchner Corneliusgefängnis gebracht und später nach München-Stadelheim verlegt. Den Prozessverlauf vor dem Sondergericht gegen Pater Rupert Mayer am 22. und 23. Juli 1937 hatte der damalige Rechtsreferendar Otto Gritschneder schriftlich festgehalten und das Verhandlungsprotokoll im Jahre 1965 veröffentlicht. „Bei der staatsanwaltlichen Vernehmung, mehr noch im Prozeß selbst, wurde offenbar, daß Pater Mayer sich ganz und gar nicht einschüchtern oder auch nur zu einer Verharmlosung oder Zurücknahme 431 432 433

Mayer, Rupert: Briefe 1: 67. In: Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 36 Mayer, Rupert: Briefe 1: 41. In: Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 22 Sandfuchs, Wilhelm (1987): Pater Rupert Mayer: 48

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seiner Äußerungen drängen ließ, ... er hatte klar und überlegt gepredigt und war im vollen Bewußtsein der Folgen für seine Person, die sich aus seinem mutigen Eintreten für die Religion ergeben konnten.“434 Provinzial Pater Augustinus Rösch ersparte seinem Zögling die sechsmonatige Haft, zu der er verurteilt worden war, indem er ihm – zur Beruhigung der Behörden – Predigt- und Redeverbot auferlegte (siehe Band 3: Rösch). Doch Pater Rupert Mayer wollte nicht schweigen und setzte seine Predigten fort. Eine erneute Festnahme erfolgte nach der dritten Predigt am 5. Januar 1938 und führte zu seiner Inhaftierung im Gefängnis MünchenStadelheim und später in Landsberg am Lech. Wegen einer Amnestie, die im Zusammenhang mit dem „Anschluss“ Österreichs erging, wurde er am 3. Mai 1938 vorzeitig entlassen. Danach war seine seelsorgerische Tätigkeit auf Einzelgespräche im Beichtstuhl und im Audienzzimmer beschränkt. Doch auch hier griff die Gestapo ein; er sollte ihnen die Namen mutmaßlicher konspirativer Gesprächspartner nennen. Bei seiner wiederholten Festnahme am 3. November 1939 verweigerte er die Offenlegung der Namen, „...auch nicht, wenn sie mich an die Wand stellen“435. Daraufhin kam er in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1939 in Schutzhaft im KZ Sachsenhausen (Einzelhaft im „Bunker“). „Gleich bei meinem Eintritt ins KZ wurde mir gesagt, daß ich zu keiner körperlichen Arbeit herangezogen würde, daß ich also frei über meine Zeit verfügen könnte. Und daran hat man festgehalten. Die Kost war begreiflicherweise schmal.“436 Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes erfolgte am 7. August 1940 seine Entlassung. Von der Außenwelt vier Jahre und vier Monate abgeschlossen, verbrachte er die Zeit bis zur Befreiung im Kloster Ettal. Ein Pfarrer, der ihn im Auftrag der Gestapo besuchte, beschrieb ihn „wie einen im Käfig eingesperrten Löwen, der bereit wäre, das Kloster heimlich zu verlassen, um in München den Kampf gegen die Nazis öffentlich aufzunehmen.“437 Nach München zurückgekehrt, übte er sofort wieder sein Amt aus. „Doch die viele Arbeit, die er tun wollte und mußte, beanspruchte seine Gesundheit sehr. Ende Juli 1945 hatte er einen ersten, leichten Schlaganfall, Mitte Oktober erlitt er einen zweiten Gehirnschlag, der zur Folge hatte, daß er nicht mehr sprechen konnte.“438 Nach seiner Genesung setzte er seine Predigten wieder fort. Pater Rupert Mayer starb am Allerheiligentag während einer Predigt. Seine Beisetzung fand am 4. November 1945 auf dem Ordensfriedhof in Pullach statt. Bei der Überführung 434 435 436 437 438

Gritschneder, Otto (1965): Pater Rupert Mayer vor dem Sondergericht: 24 Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 66 Koerbling, Anton (1960): Pater Rupert Mayer: 179 Koerbling, Anton (1960): Pater Rupert Mayer: 187 Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer: 74

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und Beisetzung in die Gruft der Krypta im Münchner Bürgersaal am 23. Mai 1948 nahmen Tausende von Gläubigen teil. Die Feier der Seligsprechung durch Papst Johannes Paul II. fand am 3. Mai 1987 im Münchner Olympiastadion statt. Ehrungen 1976 Feier zum 100. Geburtstag in der Kirche St. Michael in München, geleitet durch Kardinal Döpfner. 1980 Würdigung durch den Papst Johannes Paul II. in seiner Predigt auf der Münchner Theresienwiese. 1987 Seligsprechung durch Papst Johannes Paul II. 1988 Bronzerelief für Pater Rupert Mayer und Edith Stein (siehe Band 3: Stein, Edith) im Pfarrzentrum Maria Himmelfahrt in Landsberg am Lech. 1990 Gedenktafel in der Ignatiuskapelle in Landsberg am Lech. 1995 Pater-Rupert-Mayer-Platz und Brunnen in Landsberg am Lech. 1995 Gedenktafel im Kloster Ettal: Gedenken an Pater Rupert Mayer SJ und Pastor Dietrich Bonhoeffer (1900–1940). 2001 Pater-Rupert-Mayer-Medaille des Diözesanrats der Münchner Katholiken, die an fünf bayerische Hospizvereine vergeben wurden. Schauspiel 1995 Zeit zu reden, Zeit zu schweigen. Von Herbert Rosendorfer. Aufgeführt an der Schulbühne des Ettaler Gymnasiums. Film 1988 Ich schweige nicht! Von Pater Walter Rupp SJ. Pater Rupert Mayer im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, München. Literatur Bleistein, Roman (1993): Rupert Mayer der verstummte Prophet. Knecht Verlag, Frankfurt a. M. Boesmiller, Franziska (1947): Pater Rupert Mayer. Verlag Schnell & Steiner, München Dirks, Walter (1997): Katholiken zwischen Anpassung und Widerstand. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 140–142 Grassl, Irene (1984): Pater Rupert Mayer in Selbstzeugnissen. Manz Verlag, Dillingen Gritschneder, Otto (1965): Pater Rupert Mayer vor dem Sondergericht. Verlag Anton Pustet, München und Salzburg Gritschneder, Otto (1987): Pater Rupert Mayer und das Dritte Reich. Rosenheim

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Gritschneder, Otto (Hrsg.) (1987): Ich predige weiter. Pater Rupert Mayer und das Dritte Reich. Rosenheim Koerbling, Anton (1950): Pater Rupert Mayer. Verlag Schnell & Steiner, München Koerbling, Anton (1960): Pater Rupert Mayer. Verlag Schnell & Steiner, München Läpple, Alfred (Hrsg.) (1987): P. Rupert Mayer. Ein Erinnerungsbuch zur Seligsprechung. Don Bosco Verlag, München Loerzer, Sven (1984): Pater Rupert Mayer. Paul Pattloch Verlag, Aschaffenburg Mayer, Rupert (1951): Dokumente, Selbstzeugnisse und Erinnerungen. Verlag Schnell & Steiner, München Mayer, Rupert (1987): Mein Kreuz will ich tragen. Texte des Predigers von St. Michael. Ostfildern Morgenschweis, Karl (1968): Strafgefangener Nr. 9469 P. Rupert Mayer. Erinnerungen an seine Haft im Strafgefängnis Landsberg/Lech. München Rupp, Walter / Vieregg, Hildegard (1987): Pater Rupert Mayer SJ. Eine Dokumentation in Texten und Bildern. München Sandfuchs, Wilhelm (1982): Pater Rupert Mayer, Verteidiger der Wahrheit, Apostel der Nächstenliebe. Würzburg Sandfuchs, Wilhelm (1987): Pater Rupert Mayer. Sein Leben in Dokumenten und Bildern, seine Seligsprechung. Echter Verlag, Würzburg Schwaiger, Georg (Hrsg.) (1984): Das Erzbistum München und Freising in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. 2 Bände. München Volk, Ludwig (1976): Pater Rupert Mayer vor der NS-Justiz. In: Stimmen der Zeit, Band 194 (Januar 1976) Heft 1 Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber? München Hochburg des Nationalsozialismus und Zentrum des Widerstands. Dr. C. Wolf & Sohn Verlag, München: 184–190

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Meitner, Lise, Prof. Dr. *17.11.1878 Wien †27.10.1968 Cambridge (Großbritannien) „... Und ich, die ich so sehr am schlechten Gewissen leide, bin Physikerin ohne jedes böse Gewissen.“ Lise Meitner in einem Brief an eine Freundin, Elisabeth Schiemann, Dezember 1915.

Lise Meitner im Labor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie, Berlin um 1915 Foto: Deutsches Museum

Lise Meitner, Porträtbüste von Chrysile Schmitthenner im Ehrensaal des Deutschen Museums Foto: Deutsches Museum

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I. Lise-Meitner-Weg, Neuperlach-Süd M (1991) II. Porträtbüste aus Marmor, Ehrensaal des Deutschen Museums Isartorplatz S1–S8 M (1991) III. Grabstätte auf dem Friedhof Bramley in Hampshire, Südengland 1968 Zu II. Porträtbüste aus Marmor, Ehrensaal des Deutschen Museums KM (1991) ANLASS UND ENTSTEHUNG Im Ehrensaal des Deutschen Museums werden mit 20 Büsten, 13 Reliefs und Gemälden große deutsche Naturforscher und Erfinder gewürdigt. Man schuf „in dankbarem Gedenken an die hervorragenden Forscher, Ingenieure und Industrielle eine Ruhmeshalle, würdig der für die Menschheit so unendlichen Großtaten dieser Geistesheroen.“439 Die Büste der Atomphysikerin Lise Meitner wurde im Jahre 1991 im Ehrensaal aufgestellt. KURZBESCHREIBUNG Auf einem an der Wand befestigtem Sockel befindet sich eine Marmorbüste mit folgender Inschrift: „Lise Meitner, geb. in Wien am 7. November 1878, gest. in Cambridge am 27. Oktober 1968. Das Ausmaß ihrer Verdienste um die Grundlagen der Radioaktivität und um die Radiochemie wurde erst spät bekannt und gewürdigt. Die Gruppe um Otto Hahn verdankt ihr wesentliche Anregungen bei der Entdeckung der Kernspaltung und ihrer Bedeutung.“ INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLERIN Die Marmorbüste hat die Bildhauerin Chrysille Schmitthenner geschaffen.

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Deutsches Museum (Hrsg.) (1997): Ausstellungsführer: 60

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GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Lise wurde als drittes von acht Kindern der Eltern Philipp und Hedwig Meitner am 17. November 1878 in Wien geboren. Sie ist im amtlichen Geburtenregister der israelitischen Kultusgemeinde Wiens genannt. Der Vater Philipp war Freidenker und erzog seine Kinder nicht im jüdischen Glauben; so besuchten sie in ihrer Schulzeit den evangelischen Religionsunterricht. Lise wuchs in einer glücklichen Familie auf und lebte mit ihren sieben Geschwistern in enger Verbundenheit. Nach der Volksschule lernte sie drei weitere Jahre auf der Bürgerschule; die gymnasiale Laufbahn war damals nur den Knaben erlaubt. Vorerst befolgte sie den Rat der Eltern, ihre akademischen Ambitionen zurückzunehmen und einen Beruf zu erlernen, der ohne Studium möglich war. Sie entschied sich, zunächst Französischlehrerin zu werden. Gleichzeitig unterstützte sie ihre ältere Schwester, die Komposition studierte. Lise strebte einen externen Matura-Abschluss an, um ein Studium aufnehmen zu können. Hierbei wurde sie von ihren Eltern unterstützt; diese Toleranz kam auch ihren Schwestern zugute, sie wurden Ärztin, Chemikerin und Komponistin. In einem Privatkurs bereitete Lise sich innerhalb von zwei Jahren auf das Abitur vor, das sie am 11. Juli 1901 bestand. Mit dem Studium der Physik begann sie im Sommer 1901. Im Kolloquium des Physikers Ludwig Boltzmann (Universität Wien) lernte sie die experimentelle und theoretische Physik kennen. Professor Ludwig Boltzmann kämpfte um die Jahrhundertwende für die wissenschaftliche Anerkennung der neuen Atomlehre, die nach der Entdeckung der Radioaktivität das bestehende Wissen über die Atome erweiterte. Lise Meitner schloss ihr Studium mit der Promotion im Fach Physik ab (1906). Sie bewarb sich anschließend um eine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Physik an der Sorbonne in Paris bei Madame Curie, von der sie aber eine Absage bekam. „Ich wollte ja ursprünglich zu ihr gehen; zum Glück hat sie mir abgesagt. Ich habe ja so bestimmt viel mehr gelernt. Ihr Buch ist in physikalischen Sachen mehr vom chemischen Standpunkt geschrieben.“440 Da erinnerte sie sich an Professor Max Planck (1858–1947), der nach dem Tod von Boltzmann den Ruf nach Wien nicht angenommen hatte und an der Universität in Berlin geblieben war. Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums (1900) hatte das wissenschaftliche Verständnis der Natur der atomaren Welt revolutioniert und bildete den Grundstock der Quantenmechanik. Lise erhielt die Erlaubnis eines Aufbaustudiums der Physik bei Max Planck, obwohl er zu dieser Zeit Studentinnen bzw. Doktorandinnen nicht gerne bei sich aufnahm. Sie schrieb rückblickend darüber: „... Wieviel menschliches Verständnis und wieviel Förderung habe ich von ihm bekommen.“441 Mit finanzieller Unterstützung ihres Vaters übersiedelte Lise Meitner nach Berlin. Da sie experimentell arbeiten wollte, wandte sich die Physikerin an Professor Heinrich Rubens, 440 441

Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 23 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 27

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dem Leiter des Berliner Instituts für Experimentalphysik. Dieser vermittelte ihr die Zusammenarbeit mit dem Chemiker Otto Hahn, der sich ein kleines Labor im Keller des chemischen Institutes eingerichtete hatte. Der Leiter dieses Institutes, Emil Fischer, stimmte der wissenschaftlichen Zusammenarbeit von Meitner und Hahn unter der Bedingung zu, „wenn sie im Keller bleibt und niemals das Institut betritt, soll es mir recht sein.“442 Ihre Wirkungsstätte wurde somit in den Institutskeller, der ursprünglich als Holzwerkstatt diente, verlegt. Sie tolerierte diese Bedingungen nur wegen ihres großen wissenschaftlichen Ehrgeizes. Vorlesungen in den oberen Etagen hörte sie heimlich mit. Als im Dezember 1908 der englische Physiker Ernest Rutherford zum wissenschaftlichen Diskurs in das Kellerlabor kam, sagte er überrascht zu Lise Meitner: „I thought, you were a man!“443 In Zusammenarbeit mit Otto Hahn entstanden in circa fünf Jahren über zwanzig wissenschaftliche Publikationen. Während dieser Zeit wurde sie finanziell von den Eltern unterstützt. Erst ab 1912 arbeitete sie offiziell als Assistentin bei Professor Max Planck; sie betreute Studenten und korrigierte Übungsaufgaben. Endlich kam das Angebot einer Dozenten- und Professorenstelle von der Universität Prag. Das hatte zur Folge, dass auch in Berlin ihre Arbeit öffentliche Anerkennung erfuhr und das Kaiser-Wilhelm-Institut ihr eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin im neu gegründeten „Institut zur Förderung der Wissenschaften“ zur Verfügung stellte. Die wissenschaftliche Grundlagenforschung wurde vom deutschen Staat und von der Industrie gefördert; das bedeutete für Meitner eine wesentliche Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Unterbrochen wurde diese Zeit wissenschaftlicher Forschung durch den Ersten Weltkrieg. Otto Hahn erhielt die Einberufung zum Militärdienst. Er diente an der Westfront in der von Fritz Haber geleiteten Einheit für Gaseinsätze. Meitner meldete sich freiwillig im Jahre 1915 zum Einsatz als Röntgenschwester eines Feldlazaretts an die Ostfront. Als österreichische Staatsbürgerin kam sie in ein Lazarett nach Lemberg und später in ein Hospital nach Prag-Karolinenthal. Auf Anraten von Otto Hahn kehrte sie im Sommer 1917 wieder nach Berlin zurück, um ihre Forschungsarbeit fortzuführen. Die gemeinsame Arbeit ging weiter, als Hahn während des Fronturlaubs weiterforschen konnte. Sie entdeckten 1917 gemeinsam in einer Pechblende-Probe das chemische Element mit der Ordnungszahl 91, das sie Protaktinium (Pa) nannten. Als Anerkennung dafür erhielt sie im gleichen Jahr die Leitung einer physikalisch-radiologischen Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin. Als Privatdozentin (1921) bekam sie nach erfolgter Habilitation den Titel einer außerplanmäßigen Professorin; ihre männlichen Kollegen hatten inzwischen fast alle den Titel eines ordentlichen Professors und einen eigenen Lehrstuhl inne. Wegen ihrer Arbeiten über radioaktive Strahlen wurde sie erstmals mit der „Leibniz-Medaille der Berliner Akademie 442 443

Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 29 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 31

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der Wissenschaften“ und dem „Ignaz-L.-Lieben-Preis der Wiener Akademie der Wissenschaften“ ausgezeichnet. Für den Nobelpreis für Physik stand sie zusammen mit Otto Hahn in den Jahren 1924, 1925 und 1928 auf dem Vorschlagspapier. Als Teilnehmerin auf internationalen Kongressen hoffte sie, dass die Wissenschaft die internationale Zusammenarbeit am besten fördere.444 Sie pflegte Freundschaft mit ihren Wissenschaftskollegen James Franck (1882-1964) und Max von Laue (1879–1960). Ihr Neffe Otto Robert Frisch (1904–1979), der Sohn ihrer älteren Schwester, kam als Physiker ebenfalls nach Berlin. Die Jahre 1933–1938 Zu Beginn des Jahres 1933 nahm Lise Meitner noch am internationalen Solvay-Kongress445 in Brüssel teil. Dieses seit 1911 stattfindende Treffen diente der Zusammenführung der bedeutenden Physiker und Chemiker Europas. Das im April 1933 in Deutschland erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ sah die Entlassung aller Beamten „nichtarischer Abstammung“ vor. Die Physikerin erhielt deshalb die Entlassungsurkunde. Auch die Petitionen ihrer Kollegen Otto Hahn, Max Planck und Max von Laue für den Erhalt des Professorenpostens von Lise Meitner an der Universität Berlin konnten nicht verhindern, dass ihr am 11. September 1933 die Lehrbefugnis entzogen wurde. Sie blieb trotzdem in Berlin, wo sie zusammen mit Otto Hahn und Fritz Straßmann weiter nach den Transuranen forschte. Dabei experimentierten sie mit der von Enrico Fermi (1901–1954) entwickelten Neutronen-Bestrahlung, um künstliche chemische Elemente zu erzeugen. Ihr langes Verweilen in Deutschland nach der Machtergreifung beurteilte sie im Rückblick wie folgt: „Heute weiß ich, daß es nicht nur dumm, sondern ein großes Unrecht war, daß ich nicht sofort weggegangen bin ... denn letzten Endes habe ich durch meine Bleiben doch den Hitlerismus unterstützt.“446 Bisher war Lise Meitner als österreichische Staatsbürgerin nicht von den „Rassegesetzen“ berührt. Das änderte sich jedoch nach dem im März 1938 erfolgten „Anschluss von Österreich“. Als sie erfuhr, dass sich in der zum Judenhass anstachelnden Ausstellung „Der ewige Jude“ auch ihr Konterfei befand, wusste sie, dass sie fliehen musste. Ohne Vorbereitung und in großer Eile emigrierte sie, wie viele andere bedeutende deutsche Wissenschaftler nach der Machtergreifung. „Ich habe genau eineinhalb Stunden Zeit gehabt um zu packen, um nach 31 Jahren von Deutschland wegzugehen.“447 Ihr gelang am 13. Juli 1938 die Flucht über Holland nach Dänemark und 444 445

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Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 65 Genannt nach Ernest Solvay, einem Chemiker und reichen Industriellen, der einen Teil seines Kapitals für eine Tagung stiftete, auf der international anerkannte Physiker über aktuelle wissenschaftliche Probleme diskutierten. Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 76 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 82

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weiter nach Schweden, wo ihr Freunde am Nobel-Institut in Stockholm einen Arbeitsplatz bereithielten. Ihre Aufzeichnungen und die wissenschaftlichen Geräte konnte sie in der Eile nicht mitnehmen. Per Briefwechsel konnte sie als „geistig Führende“, so ein Kollege, mit den im Deutschen Reich verbliebenen Forschern Hahn und Straßmann an der Fortführung der Experimente, die zur Entdeckung der Kernspaltung führten, mitwirken. Zusammen mit Otto Robert Frisch veröffentlichte sie am 11. Februar 1939 die theoretische Deutung der Ergebnisse. Damit waren die Erkenntnisse der gemeinsamen Versuche von Meitner, Hahn und Straßmann gesichert. In Deutschland setzten Hahn und Straßmann inzwischen die Forschungen an der Uran-Kernspaltung fort und publizierten ihre Ergebnisse. Otto Hahn bekam für diese Arbeiten 1945 den Nobelpreis für Chemie. Lise Meitners Name blieb unerwähnt, obwohl sie an entscheidenden Vorversuchen bedeutenden Anteil hatte. Auch bei seiner Dankesrede in Stockholm erwähnte Otto Hahn Meitners Namen nicht. Die politischen Verhältnisse und die traditionelle Rolle der Frau haben sie um die verdiente Ehrung gebracht. Fritz Straßmann beurteilte Lise Meitners Anteil an der Entdeckung der Kernspaltung so: „Ihrem Impuls ist der Beginn des gemeinsamen Weges mit Hahn, ab 1934, zuzuschreiben – 4 Jahre danach gehörte sie zu unserem Team – , anschließend war sie von Schweden aus gedanklich mit uns verbunden ... Aber es ist meine Überzeugung: Lise Meitner war die geistig Führende in unserem Team gewesen, und darum gehörte sie zu uns – auch wenn sie bei der ,Entdeckung der Kernspaltung´ nicht gegenwärtig war.“448 Im Exil Über das erzwungene Exil und die wissenschaftliche wie die menschliche Isolation in Stockholm berichtete die Physikerin: „Ich habe hier eben einen Arbeitsplatz und keinerlei Stellung, die mir irgendein Recht auf etwas geben würde ... ich hätte mich viel besser und viel früher auf mein Fortgehen vorbereiten müssen, hätte von den wichtigsten Apparaten wenigstens Zeichnungen machen müssen ...“ Lise Meitner fühlte sich heimatlos und einsam, „... als ob ich in der Wüste lebte.“449 Erst ab 1941 hielt sie wieder Vorlesungen über Kernphysik am physikalischen Institut der Universität Stockholm. Obwohl sie mit ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit in Schweden nicht zufrieden war, lehnte sie den Ruf von James Franck, in die USA zu kommen, ab. Nach Beendigung des Krieges beherrschte sie die Sorge, wie wohl Deutschland mit seiner historischen Schuld fertig werden würde.450

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Bührke, Thomas (1997): „Ich habe die Atombombe nicht entworfen.“ In: Bührke, Thomas (1997): Newtons Apfel: 252 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 95, 98, 99 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin: 100

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Ablehnung einer Rückkehr nach Deutschland Lise Meitner hatte kein Nachsehen für das, was ihr die Nazis an Leid zugefügt hatten. 1947 bekam sie von ihrem früheren Mitarbeiter Fritz Straßmann, der als Professor am neu gegründeten Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie arbeitete, ein Angebot zur Übernahme der Leitung der dortigen Physikalischen Abteilung. Sie schlug dieses Angebot aus, weil sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollte. Dabei spielte vor allem das Verhalten vieler deutscher Wissenschaftler während des Nationalsozialismus für sie eine entscheidende Rolle. In einem Brief an ihren ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter Otto Hahn im Juni 1945 kommt dies zum Ausdruck: „Ihr habt auch alle für Nazideutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht. Gewiß, um euer Gewissen los zu kaufen, habt ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionen unschuldiger Menschen hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut.“451 Die aus Deutschland kommenden Ehrungen nahm Lise Meitner jedoch trotzdem mit Freude an. 1949 bekam sie die „Max-Planck-Medaille“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft überreicht und wurde korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Bundespräsident Theodor Heuss überreichte ihr den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland „Pour le mérite“ für Wissenschaften. 1959 wurde in Berlin das „Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung“ gegründet. Lise Meitner verbrachte ihre letzten Lebensjahre in der Nähe ihres Neffen Otto Robert Frisch in Cambridge (Großbritannien). Dort starb sie im Alter von 89 Jahren am 27. Oktober 1968. Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof von Bramley in Hampshire, Südengland. Meitner vertrat den Wissenschaftlertypus, der aus Freude und Interesse an fundamentalen Naturgesetzen eine nicht zweckgebundene Grundlagenforschung betrieb. „Wenn trotzdem die technischen Fortschritte die Menschen in fast unlösbare Schwierigkeiten verwickelt haben, so liegt das nicht an dem ,bösen Geist´ der Wissenschaft, sondern daran, daß wir Menschen weit davon entfernt sind, das schon von den Griechen angestrebte ,höhere Menschentum´ erreicht zu haben.“ Aus einem Vortrag von Lise Meitner.452 Ehrungen 1912 Erste Universitätsassistentin Preußens. 1918 Hahn-Meitner-Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin. 451 452

Bührke, Thomas (1997): „Ich habe die Atombombe nicht entworfen“. In: Bührke, Thomas (1997): Newtons Apfel: 254 Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin 122

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1922 Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin. 1924 „Leibniz-Medaille“ der Akademie der Wissenschaften, Berlin „Ignaz-L.-LiebenPreis“ der Akademie der Wissenschaften, Wien. 1945 Frau des Jahres. Eine Auszeichnung durch die amerikanische Presse. 1949 „Max-Planck-Medaille“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. 1959 Verdienstorden „Pour le mérite“ für Wissenschaften der Bundesrepublik Deutschland. 1959 „Hahn-Meitner-Institut“ für Kernforschung, Berlin. 29. August 1982 „Meitnerium“ (vorläufiger Name: Unnilennium): von der Darmstädter Gesellschaft für Schwerionenforschung künstlich erzeugtes chemisches Element der Platingruppe mit der Kernladungszahl 109, benannt nach Lise Meitner. Gedenktafel in Berlin Neben dem Eingang der Humboldt-Universität in Berlin befindet sich eine Gedenktafel mit folgender Inschrift: „In der ehemaligen Holzwerkstatt im Erdgeschoß dieses Gebäudes haben die Radiumforscher Otto Hahn und Lise Meitner von 1906–1912 durch bedeutende Entdeckungen der Naturwissenschaft gedient.“ Literatur Bürke, Thomas (1997): Newtons Apfel. Sternstunden der Physik von Galilei bis Lise Meitner. Beck`sche Reihe 1202, München, darin: „Ich habe die Atombombe nicht entworfen.“: 231–255 Ernst, S. (1992): Lise Meitner an Otto Hahn. Briefe aus den Jahren 1912 bis 1924. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart Fölsing, Ulla (1991): Nobel-Frauen – Naturwissenschaftlerinnen im Porträt. C. H. Beck Verlag, Beck`sche Reihe 426, München Hahn, Otto (1989): Vom Radiothor zur Kernspaltung. Eine wissenschaftliche Selbstbiographie. Vieweg-Verlag, Braunschweig Kaufmann, Doris (Hrsg.) (2000): Die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme u. Perspektiven der Forschung, 2 Bände. Wallstein Verlag, Göttingen Kerner, Charlotte (1987): Lise, Atomphysikerin. Die Lebensgeschichte der Lise Meitner. Belz Verlag, Weinheim, Basel Krafft, F. (1981): Im Schatten der Sensation. Leben und Wirken von Fritz Straßmann. VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim Loerzer, Sven (1989): Lise Meitner. In: Die Großen unserer Zeit. Loewe Verlag, Bindlach: 249–266 Schad, Martha (1998): Lise Meitner. In: Schad, Martha (1998): Frauen, die die Welt bewegten. Pattloch Verlag, Augsburg: 160–161 Rife, P. (1990): Lise Meitner. Ein Leben für Wissenschaft. Claassen-Verlag, Düsseldorf Sime, Ruth Lewine (1996): Lise Meitner. A Life in Physics. University of California Press, Berkeley Sime, Ruth Lewine (2001): Lise Meitner. Ein Leben für die Physik. Biographie. Insel Verlag, Frankfurt a. M. Stolz, Werner (1983): Otto Hahn, Lise Meitner. Leipzig

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Mertz von Quirnheim, Albrecht Ritter *25.3.1905 München †21.7.1944 Berlin „Das Attentat muß erfolgen, coute que coute. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“ General Henning von Tresckow453

Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim Foto: Süddeutscher Verlag

Gedenktafel an der Kirche St. Georg, Bogenhausen Foto: Andreas Olsen

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Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee: 200

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Gedenktafel, St. Georg, Bogenhausen St. Georg, Bogenhausen Max-Weber-Platz U4/U5 und Tram18 M (1988) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Witwe von Oberst Albrecht Mertz von Quirnheim, Hilde Mertz von Quirnheim, rief die Landeshauptstadt München in einem Antrag vom 28. April 1982 dazu auf, für ihren am 21. Juli 1944 ermordeten Mann ein sichtbares Zeichen zu setzen. Dieser war zusammen mit General Friedrich Olbricht, Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg (siehe Band 3: Stauffenberg) und Oberleutnant Werner von Haeften im Hof des Berliner Bendler Blocks getötet worden. Im Juni 1988 wurde die Gedenktafel an der nordöstlichen Außenwand der Münchner Kirche von St. Georg angebracht. KURZBESCHREIBUNG An der Nordostseite des Chores der Kirche befindet sich eine Gedenktafel aus grauem Stein (0,69 m × 0,52 m) mit eingemeißelter Inschrift. Der Text lautet: „Zum Gedenken an Oberst i. G. Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim. Er wurde am 25. März 1905 in München geboren und gab sein Leben für Freiheit und Recht in Berlin am 20. Juli 1944.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Albrecht Mertz von Quirnheim stammte aus einer bayerischen Offiziersfamilie und wählte selber den Beruf zum Soldaten. Seine Ausbildung zum Berufsoffizier absolvierte er 1923 an der Kriegsakademie in Berlin; dort befreundete er sich mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg (siehe Band 3: Stauffenberg). Nach Fronteinsätzen in Polen und Frankreich traf er im Winter 1941 an der Ostfront in Winniza wieder auf seinen Freund Stauffenberg. Mertz von Quirnheim erlebte an der Front die Niederlage von Stalingrad im Winter 1942/ 43. In München heiratete er 1943 Hilde Baier. Als Nachfolger Stauffenbergs trat er im Juni 1944 als Chef des Stabes bei General Olbricht ein. Er war in alle Vorbereitungen und Pläne des als Operation „Walküre“ getarnten Umsturzversuchs eingeweiht und hat in vielen Phasen entscheidend mitgewirkt. Zur Vorgeschichte des 20. Juli 1944 Eine der ersten militärischen Oppositionsgruppen entstand unter dem Generalstabschef des Heeres Ludwig Beck. Er versuchte seit Juli 1935 mit Aktennotizen, Denkschriften und

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Vorträgen die Außenpolitik Hitlers zu beeinflussen, weil er das in den Krieg mündende Großmachtstreben der Nationalsozialisten kompromisslos ablehnte. Beck stellte Kontakt mit dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler her, um eine Ausweitung der Opposition zu erreichen, die nun fast alle politischen Lager, Geheimdienste und die Abteilung Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht umfasste. Um den drohenden Krieg in Europa zu verhindern, forderte Beck die Generalität vergeblich zum geschlossenen Rücktritt auf. Konkrete Vorbereitungen zum Militärputsch liefen zusammen mit dem Generalstabschef Franz Halder und General von Witzleben (siehe Band 3: Witzleben). Dieser Plan sah vor, mit Hilfe militärischer Unterstützung unblutige Aktionen auszuführen und anschließend die Bevölkerung durch Proklamation über den „verbrecherischen Charakter und den Katastrophenkurs des Hitler-Regimes“454 aufzuklären. Diese Pläne wurden vorerst wegen des Münchner Abkommens von 30. September 1938 verhindert, da Hitler Forderungen bezüglich des Abtretungsmodus durchsetzen konnte. In den folgenden drei Jahren geriet die militärische Widerstandsbewegung wegen der Siege der Wehrmacht in eine Krise; die Hoffnung auf Kriegsvermeidung war zerstört; ebenso die Aussicht, in der Bevölkerung Rückhalt zu gewinnen. Die nach Kriegsbeginn immer öfter verübten Untaten und Gräuel des NS-Regimes erforderten grundlegendes Umdenken in den Zielsetzungen dieser Widerstandsbewegung. Die Ziele der Gruppen um Stauffenberg und Oster waren demnach: die Beseitigung des Hitler-Regimes, Beendigung des Krieges, Wiederherstellung von Recht und Freiheit.455 In den folgenden Jahren kam es innerhalb der Opposition zu Differenzen, da man unterschiedlicher Auffassung war, ob Gewalt einschließlich Tyrannenmord zulässig seien. Stauffenberg, dessen Einheit beim Überfall auf Polen zum Einsatz kam und der die Folgen der deutschen Politik im Osten realistisch einschätzen konnte, entschloss sich zur aktiven Gegnerschaft und rückte bald in den Mittelpunkt der militärischen Konspiration. Er pflegte die Verbindungen zu zivilen und politischen Widerstandsgruppen und koordinierte die Attentatspläne im militärischen Bereich. Mit der Überzeugung, dass durch die Beseitigung Hitlers der Krieg beendet und weiteres millionenfaches Sterben verhindert werden könnte, hatte sich Stauffenberg zum Handeln bereit erklärt. Dabei waren die Motive der am Umsturz Beteiligten vielfältig; neben moralisch-ethischen Gründen spielte der christliche Glaube eine wichtige Rolle. Bei den direkten Vorbereitungen zum Staatsstreich „stützte er sich auf Freunde aus dem zivilen Widerstand und Reste der Generalsopposition, vor allem aber auch auf eine Anzahl ihm persönlich verbundener jüngerer Offiziere (u.a. Mertz von Quirnheim), die nicht durch die Bedenken altgedienter Militärs oder Beamter behindert wurden.“456 Als Stauf454 455 456

Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944: 148 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944: 152 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944: 154

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fenberg mit der Beförderung und Versetzung seit Juni 1944 bei Generaloberst Fromm Zugang zu Hitlers Lagebesprechungen auf dem Obersalzberg beziehungsweise zum Führerhauptquartier in Rastenburg erhielt, entschloss er sich, das Attentat selbst auszuführen. Die Zeit vom 6. bis 20. Juli 1944 Die erste Gelegenheit bot sich am 6. Juli während der Vorführung neuer militärischer Ausrüstungsgegenstände auf dem Obersalzberger „Berghof“. Stauffenberg hatte den Sprengstoff mitgeführt; den Anschlag sollte Generalmayor Stieff ausführen, der „dies aber nicht vermochte.“457 Die nächste Gelegenheit bot sich am 11. und 15. Juli auf Schloss Kleßheim, wo nach Ansicht der Mitverschwörer Himmler und Göring ebenfalls getötet werden sollten. Zu der Tat kam es nicht, da sich Himmler und Göring vertreten ließen. Dabei kam es am 15. Juli zu einer kritischen Situation, da bereits Oberst Ritter Mertz von Quirnheim im Berliner und Potsdamer Raum die Marschbereitschaft für die Heeresschulen angeordnet hatte. Diese unter dem Decknamen Operation „Walküre“ laufende Mobilisierung zum Putsch konnte noch als gewöhnliche „Übung“ kaschiert werden. „Danach waren Stauffenberg und Mertz von Quirnheim allerdings entschlossen, bei der nächsten Gelegenheit auf das Fehlen von Göring und Himmler keine Rücksicht mehr zu nehmen und ,auch ohne Zustimmung der Mitverschworenen zu handeln.“458 Die Gelegenheit dazu kam am 20. Juli, als Stauffenberg in Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze“ nahe Rastenburg den Stab über die Aufstellung von „Sperrdivisionen“ unterrichten sollte. Zusammen mit Oberleutnant Werner von Haeften traf er in einem Nebenraum die letzten Vorbereitungen für den Sprengstoffanschlag und setzte den Zeitzünder in Gang. Hier wurden sie jedoch gestört und konnten deshalb nur die Hälfte der Ladung verwenden: „Den Sprengstoff versteckte Stauffenberg in seiner Aktentasche und stellte sie beim Betreten der Besprechungsbaracke am Kartentisch in der Nähe Hitlers ab, der die Lagebesprechung seit 12.30 Uhr leitete. Danach verließ Stauffenberg wieder den Raum unter dem Vorwand, nochmals telefonieren zu müssen. Von General Fellgiebels Arbeitsraum beobachtete er die Zündung des Sprengstoffs ... Die Explosion war jedoch zu schwach, um Hitler zu töten. Der Diktator wurde nur leicht verletzt.“459 Stauffenberg und Haeften waren jedoch vom Erfolg ihrer Aktion überzeugt und traten die Rückreise nach Berlin an. Dort war nach ihrer Ankunft der gesamte „Walküre“-Mobilisierungsbefehl von General Olbricht und Oberst Mertz von Quirnheim ausgegeben worden und hatte auch die Kommandos in Paris, Prag, Stettin und Wien erreicht. Die Weisungen lauteten: „Über-

457 458 459

Ueberschär, Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“: 361 Hoffmann, Peter (1992): Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder: 419. Auch in: Ueberschär, Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“: 361 Ueberschär, Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“: 362

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nahme sämtlicher Nachrichtenanlagen sowie Festsetzung sämtlicher NS-Funktionäre bis zum Kreisleiter sowie Minister, Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten und Gestapoleiter. Ferner: sofortige Besetzung der Konzentrationslager, Verhaftung der Lagerleiter und Internierung der Wachmannschaften, Unterstellung der Waffen-SS (notfalls mit Gewalt), Besetzung des Gestapo- und SD-Dienststellen und Zusammenarbeit mit den vorgesehenen „politischen Beauftragten“ der künftigen Regierung.“460 Inzwischen übernahm Generalfeldmarschall von Witzleben als zukünftiger Oberbefehlshaber der Wehrmacht das Kommando in der Bendlerstraße. Die in Gang gesetzte Operation „Walküre“ scheiterte auch daran, weil sie in Berlin „schleppend ablief und nach 20 Uhr noch nicht einmal die Ersatzziele, besonders die Besetzung des Rundfunks und des Propagandaministeriums sowie die Verhaftung wichtiger SS-Führer erreicht waren.“461 Zum weiteren Verhängnis wurde die personelle Entscheidung der Putschisten, den nicht in die Attentatspläne eingeweihten Major Remer mit der Aufgabe zu betrauen, das Regierungsviertel und das Propagandaministerium zu besetzen. Remer war nach einem Ferngespräch mit dem Führerhauptquartier von Hitler persönlich beauftragt worden, den Putsch niederzuschlagen. Mit einer schwer bewaffneten Mannschaft ließ er das Zimmer General Olbrichts stürmen und die Verschwörer überwältigen. Der militärische Kopf der Verschwörung, Generaloberst Ludwig Beck starb nach einem Suizidversuch unter den Schüssen eines Feldwebels. Generaloberst Fromm verkündet das Todesurteil über General Olbricht, Oberst von Stauffenberg, Oberst Mertz von Quirnheim und Oberleutnant von Haeften. Im Hof des Bendlerblocks wurden sie von einem Erschießungskommando exekutiert. Stauffenberg starb mit dem Ruf: „Es lebe das heilige Deutschland!“462 „Noch in derselben Nacht sind die Leichen der fünf Erschossenen verscharrt worden; Himmlers Sonderkommission hat sie später ausgegraben und verbrannt, ihre Asche in alle Winde verstreut.“463 Beginn der Verfolgung Am 21. Juli begann die großangelegte Verfolgung der deutschen militärischen Widerstandsbewegung. Sie richtete sich gegen alle Verdächtigen, die in mittelbarem und unmittelbarem Zusammenhang mit der Aktion standen. Mit Hilfe des Kontrollnetzes der „Son460 461 462 463

Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 163 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 163 Walle, Heinrich (1994): Der 20. Juli 1944. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus: 376 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 165

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derkommission 20. Juli“464 begann die Jagd auf alle Verdächtigen. Unterstützung fand das NS-Regime auch in der Bevölkerung, die in einer Atmosphäre des Misstrauens und der Angst zahlreiche Mitverschwörer verriet. Die Mitglieder oppositioneller Kreise wurden mit menschenverachtenden Methoden wie pausenlose Verhöre, Erpressung und Folter dazu gebracht, ihre Mitverschworenen zu nennen. Gefangene begingen unter diesem Druck Selbstmord. Betroffen waren Personen aller sozialer Schichten und verschiedenster weltanschaulicher und politischer Richtungen. Angehörige der Gefangenen und Verfolgten kamen in Sippenhaft.465 Die Zahl der im Zusammenhang mit dem 20. Juli Verhafteten, Verurteilten und Verschleppten beziffert der Historiker Peter Hoffmann mit 600 bis 700 Personen. In Berlin-Plötzensee sind in der Folge dieses Putschversuchs bis Kriegsende 86 Menschen ermordet worden.466 Ein Erfolg des Umsturzplans hätte den Krieg vorzeitig beenden, weitere Zerstörungen und fortgesetztes Leid in Deutschland und Europa verhindern können. Das Leben vieler Menschen hätte gerettet werden können; vor allem wäre den Deutschen der erste Schritt gelungen, sich selbst vom Nationalsozialismus zu befreien. Die Schriftstellerin Ricarda Huch (siehe Band 1: Huch) plante kurz nach dem Scheitern des Putschversuchs, für die „Märtyrer der Freiheit“ ein Gedenkbuch zu verfassen.467 In ihrem unvollendeten Werk hat sie etlichen Persönlichkeiten des 20. Juli wie Elisabeth von Thadden, Ernst von Harnack, Hans Bernd Nikolaus von Haeften, Nikolaus Christoph von Halem, Klaus Bonhoeffer, Julius Leber, Theodor Haubach und Jean Paul Oster ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Hauptbeteiligten des Umsturzversuchs und die meisten der Mitwisser haben ihren Einsatz für Freiheit und Recht mit dem Leben bezahlt. „Die Toten des Widerstandes sind Märtyrer, Zeugen dieses Gedankens, auf dem abendländische Politik seit den Zeiten der griechischen Demokratie und des Aufstands gegen die Tyrannenmacht beruht. Sie führen Deutschland zurück in diese große internationale Tradition, aus der einst ein antiwestlicher deutscher Staatskult ausgebrochen ist.“468 Unter den Münchner Bürgern, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ermordet wurden, befanden sich:

464 465 466 467 468

Diese bestand aus 400 Mitarbeitern, dessen Chef der Reichskriminaldirektor und SS-Gruppenführer Heinrich Müller war. In: Hoffmann, Peter (1979): Widerstand, Staatsstreich, Attentat: 604ff In: Hett, Ulrike / Tuchel, Johannes (1994): Die Reaktion des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944: 384 Oleschinski, Brigitte (1994): Gedenkstätte Plötzensee: 34 Huch, Ricarda: Brief an Maria Baum vom 4.3.1946. Briefe an die Freunde: 315, auch in: Schwiedrzik, Wolfgang Matthias: In einem Gedenkbuch sammeln: 27 Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 172

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Friedrich Karl Klausing *24.5.1920 München †8.8.1944 Berlin-Plötzensee Friedrich Karl Klausing gehörte evangelischen Pfadfindern in München an, die 1933 der HJ einverleibt wurden. Nach dem Abitur absolvierte er den Reichsarbeitsdienst und ging danach als Berufssoldat zur Wehrmacht. Im Krieg diente er als Offizier im Polenfeldzug und an der Westfront. Nach seiner Beförderung zum Hauptmann kam Friedrich Karl Klausing im Oktober 1943 als Adjutant in den Generalstab zu Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Diesen unterstützte er bei den fehlgeschlagenen Attentatsversuchen auf Hitler am 11. und 13. Juli 1944. Beim Staatsstreich war er als Übermittler der „Walküre-Befehle“ im Berliner Bendler Block eingesetzt. Hier hielt sich Klausing am 20. Juli 1944 auf, konnte aber noch rechtzeitig fliehen. In einem Versteck rang der Hauptmann mit seinem Gewissen um die rechte Entscheidung. Seine Freunde konnten ihn nicht von der Sinnlosigkeit des Opfers überzeugen.469 Am nächsten Tag stellte sich Klausing freiwillig der Gestapo und wurde im ersten Prozess gegen die Verschwörer vom 20. Juli am 8. August 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am gleichen Tag in Berlin-Plötzensee hingerichtet. ERINNERUNGSORTE Klausingweg in München, Schwabing-West M (1960) Klausingring in Berlin. Albrecht Haushofer *7.1.1903 München †23.4.1945 Berlin Der Sohn des einflussreichen Geopolitikers Karl Haushofer hatte Verbindungen zu den konservativen Widerstandskreisen und beteiligte sich an den Plänen für eine Reichs- und Verwaltungsreform. Nach dem 20. Juli verbarg sich Albrecht Haushofer in Bayern, wo er im Dezember 1944 aufgespürt wurde. Er kam in das Gefängnis Berlin-Moabit und wurde am 23. April 1945 auf dem Gelände des Lehrter Bahnhofes erschossen. Ein Freund fand beim Toten die im Gefängnis verfassten Moabiter Sonette, die ein eindrucksvolles Zeugnis des Widerstands gegen den Nationalsozialismus darstellen. Pater Alfred Delp SJ *15.9.1907 Mannheim †2.2.1945 Berlin-Plötzensee (siehe Band 1: Delp) 469

Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee: 188

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Freiherr Ludwig von Leonrod *17.9.1906 München †25.8.1944 Berlin-Plötzensee (siehe Band 2: Leonrod) Pater Josef Wehrle *26.7.1899 †14.9.1944 Berlin-Plötzensee (siehe Band 3: Wehrle) Weitere Gedenkstätten 1979 Gedenkstein auf dem Alten Sankt Matthäus-Kirchhof an der Großgörschenstraße, Berlin.470 1989 Gedenktafel und Ehrenhof, Stauffenbergstraße 13–14, Berlin, am authentischen Ort. 1989 „Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin“, Stauffenbergstraße 13–14, Berlin. Ausstellung 24. Februar – 20. März 1993: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945. Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Potsdam. Gezeigt im Kulturzentrum der Landeshauptstadt München, am Gasteig. Literatur Aufstand des Gewissens (2000): Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945. Eine Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Potsdam. Potsdam Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand. Aus dem Kreis der Familie Bonhoeffer. Chr. Kaiser Verlag, München Bracher, Karl Dietrich (1997): Auf dem Wege zum 20. Juli 1944. In: Löwenthal, Richard / Mühlen, Patrik von zur (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland: 143–176 Cartarius, Ulrich (1984): Opposition gegen Hitler. Deutscher Widerstand 1933–1945. Siedler Verlag, Berlin Endlich, Stefanie / Goldhagen, Nora / Herlemann, Beatrix / Kahl, Monika / Scheer, Regina (2001): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band II. Hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Edition Hentrich, Berlin Gedenkstättenpädagogik (1997): Handbuch für Unterricht und Exkursion. Hrsg. v. Museums-Pädagogischen Zentrum München und der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen. Löwen Druck, München: 51–61 Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee. Erinnerungen – Ereignisse – Dokumente 1942–1945. Kyrios-Verlag, Meitingen-Freising

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Hier waren die Opfer zunächst bestattet. Am folgenden Tag wurden sie exhumiert, verbrannt und ihre Asche auf den Rieselfeldern bei Berlin verstreut. In: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Band II: 157

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Hett, Ulrike / Tuchel, Johannes (1994): Die Reaktionen des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus: 377– 389 Hoffmann, Peter (1979): Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler. Frankfurt a. M. Hoffmann, Peter (1984): Widerstand gegen Hitler und das Attentat vom 20. Juli 1944. Probleme des Umsturzes. Piper Verlag, München, Zürich Hoffmann, Peter (1992): Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart Hoffmann, Peter (1994): Widerstand gegen Hitler und das Attentat vom 20. Juli 1944. Universitätsverlag, Konstanz Holmstein, Georg (1983): 20. Juli 1944. Personen und Aktionen. Beiträge zum Widerstand. Heft 5. Hrsg. v. d. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch sammeln. Bilder deutscher Widerstandskämpfer. Hrsg. v. Wolfgang Matthias Schwiedrzik. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig Kirst, Hans Hellmut (1998): Aufstand der Soldaten. Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Kaiser Verlag, Klagenfurt Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.) (1994): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sonderauflage der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Bonn Oleschinski, Brigitte (1994): Gedenkstätte Plötzensee. Hrsg. v. d. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin Ueberschär, Gerd R. (1994): Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre“. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus: 353–363 Walle, Heinrich (1994): Der 20. Juli 1944. Eine Chronik der Ereignisse von Attentat und Umsturzversuch. In: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus: 364–389 Weger-Korfes, S. (1986): Realpolitische Haltungen bei Offizieren der Familien Mertz von Quirnheim, Korfes und Dieckmann. In: Zeitschrift für Militärgeschichte. Band 25 (1986): 226ff Zeller, Eberhard (1963): Geist der Freiheit. Der zwanzigste Juli. München Zeller, Eberhard (1994): Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Schöningh Verlag, Paderborn

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Moltke, Helmuth James Graf von *11.3.1907 Kreisau (heute Krzyzowa, Polen) †23.1.1945 Berlin-Plötzensee „Seitdem der Nationalsozialismus zur Macht gekommen ist, habe ich mich bemüht, seine Folgen für seine Opfer zu mildern und einer Wandlung den Weg zu bereiten. Dazu hat mich mein Gewissen getrieben – und schließlich ist das eine Aufgabe für einen Mann.“ Helmuth James Graf von Moltke in einem Abschiedsbrief an seine Söhne im Oktober 1944.471

Helmuth James Graf von Moltke vor dem Volksgerichtshof Foto: Süddeutscher Verlag

Gedenktafel am Berchmanskolleg Foto: H. Engelbrecht

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Zitiert in: Winterhager, Wilhelm Ernst (1988): Der Kreisauer Kreis: 16

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I. Moltkestraße, Schwabing M (1897) II. Gedenktafel Berchmanskolleg, Kaulbachstraße 31a Giselastraße U3/U6 Katholische Kirche (1997) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Gedenktafel am Berchmanskolleg erinnert neben den Jesuiten, die Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime geleistet haben, auch an Helmuth James Graf von Moltke. KURZBESCHREIBUNG Die mit integrierten Texten und Reliefmedaillons gestaltete Gedenktafel (0,5 m × 1,9 m) am Hauseingang trägt folgenden Text: „Dieses Haus war unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ein Zentrum des katholischen Widerstands. Hier trafen sich mit dem Jesuitenprovinzial Augustinus Rösch die Patres Rupert Mayer, Lothar König, Alfred Delp. Hier fanden 1942–1943 mit Helmut J. Graf Moltke geheime Treffen des Kreisauer Kreises statt. Alle riskierten ihr Leben, viele verloren es.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Helmuth James Graf von Moltke wurde auf dem Gut Kreisau als erstes Kind von Dorothy Rose (geb. Innes) und Helmuth von Moltke am 11. März 1907 geboren. Seine Geschwister waren: Wilhelm-Viggo (*1909), Joachim-Wolfgang (*1911), Carl-Bernhard (*1913) und Asta (*1915). Die Mutter Dorothy Rose war die Tochter eines aus Schottland stammenden obersten Richters der Südafrikanischen Union. Die Kinder verbrachten daher abwechselnd ihre Kindheit in Kreisau und Südafrika. James Erziehung war geprägt durch die starke Persönlichkeit und die liberalen, weltoffenen Anschauungen der Mutter sowie vom Lebensstil auf dem Kreisauer Landgut. Nach dem Schulabschluss in Potsdam entschied sich Moltke für das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften. Sein politisches Interesse entwickelte sich während der Studienjahre in Breslau, Berlin und Wien, wo er in einem der Sozialarbeit zugewandten Kreis mit Fragen der Sozialpolitik in Berührung kam. Im Jahre 1929 lernte er die Kölner Bankdirektorstochter und angehende Jurastudentin Freya Deichmann (*1911), kennen, die er am 31. Oktober 1931 heiratete. Ihre beiden Söhne Helmuth Caspar und Konrad kamen 1937 und 1941 zur Welt.

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Inzwischen geriet das väterliche Gut Kreisau in finanzielle Schwierigkeiten. Helmuth James wurde noch vor Abschluss seines Studiums zurückgerufen. Er brachte nach intensiver jahrelanger Bemühung die wirtschaftliche Konsolidierung des Gutes zustande. Als Moltke 1934 das Assessorexamen ablegte, hatte sich die politische Lage völlig verändert. Deshalb lehnte er ein staatliches Richteramt ab und beschloss, als Anwalt auf dem Gebiet Völkerrecht und Internationales Recht tätig zu werden. Zwischen 1935 und 1938 hielt er sich in London und Oxford auf, um die Ausbildung zum britischen Anwalt zu absolvieren, da er beabsichtigte, in einer Londoner Anwaltskanzlei mitzuwirken. Dies wurde jedoch durch den Kriegsbeginn verhindert. Moltke trat im September 1939 als Sachverständiger für Kriegs- und Völkerrecht in das Oberkommando der Wehrmacht (Amt Ausland/Abwehr in Berlin) ein. Als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus verfasste Moltke die ersten Denkschriften. Zuvor hatte er alte Freunde und Bekannte mit einbezogen, deren Ziel es war, das Dritte Reich durch eine neue Staatsform abzulösen, deren Struktur sie gerade entwarfen. Im Januar 1940 lernten sich Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenberg472 kennen. Diese Freundschaft bildete die Basis des Widerstandskreises, der von Vertretern des NS-Regimes als „Kreisauer Kreis“ bezeichnet wurde; benannt nach dem heimatlichen Landgut von Helmuth James Graf von Moltke. Der „Kreisauer Kreis“ Der „Kreisauer Kreis“ war eine weitverzweigte Widerstandsgruppe; zu ihren Anhängern zählte sie Vertreter verschiedener christlicher Konfessionen ebenso wie Sozialdemokraten. Seit 1940 erarbeitete die Gruppe oppositionell gesonnener Männer und Frauen an „Grundsätzen für die Neuordnung Deutschlands“, die nach dem Kriegsende wirksam werden sollen. Auf den im Berghaus in Kreisau abgehaltenen Tagungen wurden Gespräche geführt und Denkschriften verfasst. Moltke hatte bereits im Sommer 1942 von den Vernichtungslagern und von den Morden der Einsatzgruppen erfahren. Die nationalsozialistischen Gewalttaten veranlassten die Kreisauer Freunde, die Bestrafung der „Rechtsschänder“ in ihr Programm aufzunehmen. Die Wiederherstellung des Rechts war für die Vertreter dieses Kreises eine Voraussetzung für die Errichtung einer neuen menschenwürdigen Ordnung. Das Programm des „Kreisauer Kreises“ war von christlich-ethischen und sozialreformerischen Aspekten bestimmt, mit dem Ziel einer indirekten Demokratie und einer Einbindung in die europäische Ordnung. Seit 1943 waren die circa 40 Mitglieder entschlossen, sich an der aktiven Verschwörung zu beteiligen. 472

(1904–1944). Er war Referent für Grundsatzfragen beim Reichskommissar für die Preisbildung in Berlin. Weil er der NSDAP nicht beitrat, erhielt er keine Beförderung. 1940 übernahm er zusammen mit Helmuth James Graf von Moltke die Führung des „Kreisauer Kreises“. Nach erfolgreichem Staatsstreich sollte er das Amt eines Staatssekretärs übernehmen. Im ersten Prozess nach dem 20. Juli 1944 wurde er zum Tode verurteilt und am gleichen Tag in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

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Nach der Verhaftung von Helmuth James Graf von Moltke Die Führungsrolle des Widerstandskreises hatte inzwischen Peter Graf Yorck von Wartenberg übernommen. Am Tag der Verhaftung Moltkes trafen sich Graf Yorck und von Stauffenberg (Band 3, Stauffenberg) in der Berliner Hortensienstraße. Es ging darum, die „Kreisauer“-Gruppe von der Notwendigkeit eines Attentats zu überzeugen, da die Mehrzahl ihrer Mitglieder vor allem wegen ethisch-moralischer Bedenken dagegen war. Es gab aber auch Mitglieder wie Trott, Gerstenmaier, Leber, Delp (Band 1, Delp) und König, die schon frühzeitig das Attentat als notwendig ansahen. Auf der Ablehnung des Tyrannenmordes bestanden weiterhin Moltke, Gablentz, Steltzer und Rösch. Es gab aber auch eine Mehrheit, die sich vor allem angesichts der Gräueltat des NS-Regimes dazu durchrang, den Attentatsplan zu billigen. Aufschlussreich hierzu ist das Standardwerk des Historikers Ger van Roon Neuordnung im Widerstand, in dem der Aufbau des Widerstandskreises sowie das Wirken von Yorck und Moltke dargestellt werden. Grund des Prozesses gegen Moltke Moltke hatte erfahren, dass gegen seinen Kollegen in der Abwehr, Otto Carl Kiep, Ermittlungen wegen regimefeindlicher Äußerungen liefen. Dies war bekannt geworden, nachdem die Gestapo Spitzel in den so genannten „Solf-Kreis“473 eingeschleust hatte. Moltke kam nach seiner Verhaftung am 19. Januar 1944 ins KZ Ravensbrück. Im September wurde er in das Gefängnis Berlin-Tegel eingeliefert. Ihm konnte jedoch nichts von der Gestapo und vom Sicherheitsdienst nachgewiesen werden, was mit seiner Widerstandstätigkeit zusammenhing. Dies änderte sich jedoch nach dem fehlgeschlagenen Attentatsversuch vom 20. Juli 1944. Auch von Moltke wurde wiederholt verhört. Der Prozess vor dem Berliner Volksgerichtshof fand am 10. Januar 1945 statt, wo er zum Tode verurteilt wurde. Am 23. Januar 1945 wurde Helmuth James Graf von Moltke in Berlin-Plötzensee gehängt. Gleichzeitig mit ihm starben: Eugen Bolz, ehemaliger Staatspräsident von Württemberg; Nikolaus Gross, Industrieller; Theodor Haubach, sozialdemokratischer Leiter; Hermann Kaiser, Student; Erwin Planck, Staatssekretär, Sohn des Physikers Max Planck; Frank Reinhold, Richter, Ludwig Schwamb, ehemaliger Staatsrat von Hessen; Franz Sperr, Gesandter (siehe Band 3: Sperr); Busso Thoma, Major.474 In seinem letzten Brief an seine Frau schrieb Helmuth James Graf von Moltke: „Und dann bleibt übrig ein Gedanke: Womit kann im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein. 473

474

Im Rahmen einer Tee-Gesellschaft trafen sich Oppositionelle; zu ihnen gehörten u. a.: Elisabeth von Thadden, Dr. Otto Carl Kiep, Johanna Solf, Richard Kuenzner, Dr. Artur Zarden und Albrecht Graf von Bernsdorf. Malvezzi, Piero / Pirelli, Giovanni (Hrsg.) (1955): Letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand: 138

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Dieser einzige Gedanke fordert wahrscheinlich morgen fünf Köpfe, später noch den von Steltzer und Haubach ...“475 Von Moltke hatte in einem Brief an Lionel Curtis vom 15. Februar 1939 seine Einstellung klargelegt, es sei seine „Pflicht und Schuldigkeit, den Versuch zu unternehmen, auf der richtigen Seite zu sein, was immer es für Unannehmlichkeiten, Schwierigkeiten und Opfer mit sich bringen mag.“476 Ein Mitstreiter im „Kreisauer Kreis“ war Professor Albrecht Haushofer (siehe Band 2: S. 248), der aus dem Berliner Gefängnis in der Lehrterstraße am 24. April 1945 geholt und auf dem nahen Trümmergelände von einem SS-Mann ermordet wurde. Von Haushofer stammen folgende Zeilen: „Als ich in dumpfen Träumen heut versank, sah ich die ganze Schar vorüberziehn: Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin, die Hassel, Popitz, Helfferich und Planck – nicht einer, der des eignen Vorteils dachte, nicht einer, der gefühlter Pflichten bar, in Glanz und Macht, in tödlicher Gefahr, nicht um des Volkes Lebens sorgend wachte. Den Weggefährten gilt ein langer Blick: Sie hatten alle Geist und Rang und Namen, die gleichen Ziels in diese Zelle kamen – und ihrer aller wartete der Strick. Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt, Dann sind´s die besten Köpfe, die man henkt.“477 Gedenkorte in Berlin 1988 Gedenktafel in der Hortensienstraße 50 in Berlin-Steglitz Helmuth-James-von-Moltke-Grundschule Literatur Bleistein, Roman (1993/94): Topographie des Widerstands in München – Weiße Rose – Kreisauer Kreis. Hochschule für Philosophie München Dönhoff, Marion Gräfin von (1976): Menschen, die wissen worum es geht. Hamburg 475 476 477

IfZ-Archiv München, ZS/A, 26/1 Mommsen, Hans (1985): Die künftige Neuordnung Deutschlands und Europas aus der Sicht des Kreisauer Kreises: Anm. 4 Albrecht Haushofer Moabiter Sonette. In: Schwerin, Detlef Graf von (1994): 428

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Dönhoff, Marion Gräfin von (1996): „Um der Ehre willen“. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli. Siedler Verlag, Berlin Gollwitzer, Helmut / Kuhn, Käthe / Schneider, Reinhold (Hrsg.) (1959): Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstands 1933–1945. München Gostomski, Viktor von / Loch, Walter (1969): Der Tod von Plötzensee. Erinnerungen, Ereignisse, Dokumente 1942–1945. Kyrios Verlag, Meitingen, Freising Graml, Hermann (Hrsg.) (1995): Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten. Frankfurt a. M. Lautarchiv des Deutschen Rundfunks (Hrsg.) (1961): Volksgerichtshofprozesse zum 20. Juli 1944. Transkripte von Tonbandaufnahmen. Frankfurt a. M. Moltke, Freya von (1946): Brief an Ricarda Huch v. 7.6.1946. In: Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch sammeln. Bilder deutscher Widerstandskämpfer. Leipziger Universitäts Verlag, Leipzig: 202–206 Moltke, Freya von (1961): Die letzten Monate in Kreisau. H. Henssel Verlag, Berlin Moltke, Freya von (1997): Erinnerungen an Kreisau 1930–1945. C. H. Beck Verlag, München Moltke, Helmuth James Graf von (1955): Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel. H. Henssel Verlag, Berlin Moltke, Helmuth James Graf von (1999): Briefe an Freya: 1939–1945. Hrsg. v. Beate Ruhm von Oppen. C. H. Beck Verlag, München Moltke, Freya von / Balfour, Michael / Frisby, Julian (Hrsg.) (1975): Helmuth James von Moltke 1907–1945, Anwalt der Zukunft. Stuttgart Mommsen, Hans (1985): Der Widerstand gegen Hitler und die deutsche Gesellschaft. In: Jürgen Schmädecke und Peter Steinbach (Hrsg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. München Mommsen, Hans (2000): Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstands. München Oppen, Beate Ruhm von (1988): Helmuth James von Moltke. Briefe an Freya. München Roon, Ger van (1967): Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der Deutschen Widerstandsbewegung. C. H. Beck Verlag, München Roon, Ger van (1971): Resistance to Hitler. Count von Moltke and the Kreisau Circle. London Roon, Ger van (1979): Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick. C. H. Beck Verlag, München Roon, Ger van (Hrsg.) (1986): Helmuth James Graf von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Berlin Schmädecke, Jürgen / Steinbach, Peter (Hrsg.) (1985): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. Piper Verlag, München, Zürich: 639–651 Schwerin, Detlef Graf von (1994): „Dann sind´s die besten Köpfe, die man henkt“. Die junge Generation im Deutschen Widerstand. Piper Verlag, München, Zürich Steinbach, Peter (1994): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Akademie Verlag, Berlin Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (1995): Der Kreisauer Kreis. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, Blatt 15.1 Strebel, Bernhard (1998): Das Männerlager im KZ Ravensbrück 1941–1945. In: Dachauer Hefte 14/1998: Verfolgung als Gruppenschicksal: 141–174 Weisenborn, Günther (Hrsg.) (1953): Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des Deutschen Volkes 1933–1945. Hamburg. Weizsäcker, Ernst von (1950): Erinnerungen. München Winterhager, Wilhelm Ernst (1988): Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Hase & Köhler Verlag, Mainz Yorck von Wartenberg, Marion Gräfin von (1984): Die Stärke der Stille. Erzählung eines Lebens aus dem deutschen Widerstand. Köln

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Muhler, Emil Dr. oec. publ. *21.4.1892 München †19.2.1963 München „Ich befinde mich seit 2.4.40 wieder in Polizeihaft ... Über die Dauer meiner Haft wurde mir nichts gesagt.“ Dr. Emil Muhler am 16. September 1940478

Emil Muhler Foto: Dr. Otto Gritschneder, Archiv

Grabmal von Dr. Emil Muhler Foto: Dr. Otto Gritschneder, Archiv

478

Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 5860, S. 33

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I. Emil-Muhler-Torweg, Isarvorstadt M (1969) II. Emil-Muhler-Torbogen, Isarvorstadt Katholische Kirche (1963) III. Grabmal, Waldfriedhof (1963) GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der in München geborene Sohn eines Kaufmanns war 1919 nach dem Theologiestudium zum Priester geweiht worden. Anschließend schloss er ein Studium der Nationalökonomie mit der Promotion ab. 1924 übernahm er die Münchner Pfarrei St. Andreas in der Zenettistraße. Als Stadtrat gehörte er der Bayerischen Volkspartei von 1930–33 an, für seine Kirche leitete er die Katholische Aktion. Verhaftung des Stadtpfarrers Muhler Wie es zur Verhaftung von Stadtpfarrer Muhler kam, ist im Verhörprotokoll bei der Bayerischen Politischen Polizei festgehalten: Dr. Emil Muhler besuchte Einwohner seiner Pfarrei, die in den vergangenen Jahren aus der Kirche ausgetreten waren, um sie zum Wiedereintritt zu bewegen. Aus diesem Grund sprach er mit einem Kommunisten über die unmenschliche Behandlung der Schutzhäftlinge im KZ-Dachau. „Dieses Gesprächsthema gab dem betr. Kommunisten Anlass mir zu erzählen, dass ein aus dem Konzentrationslager Dachau entlassener Kommunistenführer ihm gesagt habe, dass ihm, (dem Kommunistenführer) in seine Zelle ein Strick und ein Rasiermesser hineingeworfen wurde. Ob er auch etwas von einer Leiche mit einem durchgeschnittenen Hals gesagt hat, weiß ich heute nicht mehr ..., dass irgend ein Häftling aus der Umfriedung des Lagers hinausgeschickt wird und dass er dann, wenn er ausserhalb des Lagers ist, plötzlich erschossen wird.“479 Über dieses Gespräch beriet Dr. Muhler sich mit seinen Kaplänen, gab aber den Namen des Kommunisten nicht preis; dieser wurde jedoch später herausgefunden. Durch Denunziation erfuhr die Gestapo davon; Verhöre folgten. In einem Sondergerichtsverfahren gegen Muhler und seine Kapläne wurde am 24. Januar 1934 wegen eines Vergehens nach der „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die

479

Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 7669

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Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933“ folgende Strafe verhängt: Dr. Emil Muhler erhielt vier Monate Gefängnis, Oskar Thaler drei Monate und Georg Solacher fünf Monate Gefängnis.480 Muhler blieb jedoch bis zum 24. Mai 1934 im Gefängnis Landsberg am Lech in Haft. Nach seiner Freilassung begann er seine Erlebnisse vor dem Sondergericht und die Verhör-Techniken der Gestapo unter dem Titel Erlebtes und Erlittenes aufzuzeichnen. Nachdem diese Schriftstücke in die Hände der Gestapo gelangten, erfolgte seine erneute Festnahme am 2. April 1940. In dem Verhörprotokoll vom 9. Mai 1940 legte er die Gründe dar, die zu dieser Niederschrift führten: „Weihnachten 1936 hat mir die mit Kardinal Faulhaber geführte Korrespondenz gezeigt, daß eine mündliche Aussprache mit dem Kardinal nicht mehr zu erwarten sei. Daraufhin habe ich den Entschluß gefaßt, meine Erinnerungen schriftlich niederzulegen und begann damit im Sommer 1937. An dem Entwurf der Denkschrift habe ich mit Unterbrechungen etwa 1 Jahr gearbeitet.“481 Im Gefängnis des Wittelsbacher Palais’, (siehe Band 3: Wittelsbacher Palais’) blieb er bis zum 31. Dezember 1940 inhaftiert. Zu der nächsten Verhaftung und Einweisung in das Konzentrationslager Dachau482 kam es auf Grund der am 18. September 1944 erlassenen „Himmler-Aktion“. Während der Evakuierung des KZ Dachau trat Dr. Emil Muhler am 26. April 1945 zusammen mit vielen anderen Gefangenen den Todesmarsch (siehe Band 3: Todesmarsch) in Richtung Süden an. Unterwegs gelang ihm die Flucht. Nach dem Krieg kehrte er in seine Pfarrei St. Andreas zurück. Seit 1947 war er Mitglied des Bayerischen Senats. Hier zählte Dr. Muhler zu den Mitbegründern der CSU und wurde 1947 in deren Vorstand gewählt. 1948 erhielt er einen Lehrauftrag für Sozialethik an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Ab 1959 war er dort als Honorarprofessor tätig. Ehrungen 1952 Verleihung des Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland. 1959 Bayerischer Verdienstorden, Ernennung zum päpstlichen Hausprälaten.

480 481 482

Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 7669 Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften Nr. 5860, S. 25 Im KZ Dachau waren 387 katholische Priester inhaftiert. In: München. Schicksal einer Großstadt 1900– 1950: 136

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Literatur Bauer, Richard / Stölzl, Christoph / Broszat, Martin / Prinz, Friedrich (Hrsg.) (1986): München. Schicksal einer Großstadt 1900–1950. Langen Müller Verlag, München, Wien Buchheim, Hans (1953): Glaubenskrise im Dritten Reich. Religionspolitik. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart Dörner, Bernhard (1988): „Heimtücke“: Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschreckung und Verfolgung in Deutschland 1933–1945. Paderborn Gritschneder, Otto (1975): Die Akten des Sondergerichts über Stadtpfarrer Dr. Emil Muhler. In: Gessel, Wilhelm / Bornhard, Peter von (Hrsg.): Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte. Band 29. Verlag Verein für Diözesangeschichte von München u. Freising Kempner, B. M.: Priester vor Hitlers Tribunalen. Kirchengeschichte. Deutingers Beiträge, Band 29, München Muhler, Emil: Staatsanwaltschaften (Nr. 7669, 1934 und Nr. 5860, 1940) Polizeidirektion (Nr. 15569). Bayer. Staatsarchiv Muhler, Emil (1958): Die Idee des gerechten Lohnes. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München Muhler, Emil (1958): Die Soziallehre der Päpste. München Pfister, Peter (1987): Dr. Emil Muhler (1892–1963). Seelsorger und Politiker. In: Schweiger, Georg (Hrsg.): Lebensbilder aus der Geschichte des Erzbistums München und Freising. Band 2: 388–407 Vieregg, Hildegard (1992): Wächst Gras darüber? München: Hochburg des Nationalsozialismus und Zentrum des Widerstands. Universitätsdruckerei u. Verlag Dr. C. Wolf & Sohn, München: 180–183 Weiler, Eugen (1971): Die Geistlichen im KZ Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern und in Gefängnissen. Nachlass von Pfarrer Emil Thomas, erweitert und hrsg. v. E. Weiler. Missionsdruckerei Nördlingen

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Neumeyer, Karl Prof. Dr. jur. *19.9.1869 München †17.7.1941 München „Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich meine Arbeit geleistet, und hier werde ich sterben.“ Karl Neumeyer483

Gedenktafel für Karl und Anna Neumeyer, Königinstraße 35a. Foto: A. Olsen

Grabstätte auf dem Neuen Israelitischen Friedhof Foto: H. Engelbrecht

Professor Karl Neumeyer Foto: Stadtarchiv München

Gedenktafel im „Neumeyer-Saal“ Foto: H. Engelbrecht

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I. Gedenktafel, Königinstraße 35a, Schwabing Giselastraße U3/U6 II. Gedenktafel, Veterinärstraße 5, Schwabing Universität U3/U6 Institut für Rechtsvergleichung, I. Stock III. Neumeyer-Saal Veterinärstraße 5, Schwabing Institut für Internationales Recht der Universität München, Instituts- und Seminar-Raum, Zimmer 107 LMU München (1970) IV. Neumeyerstraße, Allach, Untermenzing M (1962) V. Grabstätte Neuer Israelitischer Friedhof, Garchinger Straße 37 Studentenstadt U6 Zu I. Gedenktafel, Königinstraße 35a, Schwabing KURZBESCHREIBUNG An der Nordfassade neben dem Haupteingang befindet sich eine Gedenktafel mit der Aufschrift: „Karl und Anna Neumeyer zum Gedächtnis.“ Zu II. Gedenktafel und III. Neumeyer-Saal Institut für Internationales Recht der Universität München, Veterinärstraße 5 Juristische Fakultät der Universität München 483

In: Cahnmann, Werner J. (1958): Juden in München 1918–1943. In: Lamm, Hans (1982). Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 64

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ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Antrag der juristischen Fakultät der Münchner Universität bekam ein Hörsaal den Namen des bedeutenden Wissenschaftlers. KURZBESCHREIBUNG Die in diesem Raum an der Fensterwand angebrachte bronzene Gedenktafel (0,59 m × 0,97 m) mit dem Porträt von Professor Dr. Karl Neumeyer ist mit folgender Inschrift (Gravur) versehen: „Geheimrat Prof. Dr. Karl Neumeyer hat dieses Institut im Jahre 1916 mitbegründet. Sein Wirken war bahnbrechend für die Gesamtheit des internationalen Rechts. Die Barbarei des Unrechtsstaats hat ihn und seine Frau im Jahre 1941 in den Tod getrieben. Der Saal trägt seinen Namen ihm zu Ehre und zu steter Mahnung an schmachvolles Unrecht. Juristische Fakultät der Universität München.“ Zu V. Grabstätte auf dem Neuen Israelitischen Friedhof, Sekt. 16 KURZBESCHREIBUNG Auf zwei, circa 2,20 Meter hohen Grabstelen befinden sich folgende Inschriften: „Karl Neumeyer ord. Professor der Universität München, geb. 19. Sept. 1869 in München, gest. 17. Juli 1941. Anna Neumeyer, geb. Hirschhorn, geb. 14. Nov. 1879 in Mannheim, gest. 17. Juli 1941.“ GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Karl Neumeyer wurde als zweiter Sohn des Kaufmanns Leopold Neumeyer in München geboren. Die Familie des Vaters stammte aus dem Nördlinger Ries, wo die Verwandten seit Jahrhunderten ansässig waren. Zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Alfred wächst er mit den Traditionen des jüdischen Glaubens auf. Nach dem erfolgreichen Besuch des humanistischen Maximiliansgymnasiums in München blieb ihm der Militärdienst aus gesundheitlichen Gründen erspart. Als sich die Frage nach dem Einstieg ins elterliche Geschäft stellte, entschied sich Karl Neumeyer für das Studium der Rechtswissenschaften, das er von 1887 bis 1891 in München, Berlin und Genf absolvierte. Eine von der Juristischen Fakultät gestellte Preisaufgabe zum Thema „Historische und dogmatische Darstellung des strafrechtlichen Bankerotts“, die er als Bester bearbeitete, wurde als schriftliche Doktorarbeit akzeptiert.484 Dem Entschluss, die Wissenschafts- und Universitätslaufbahn zu wählen, folgte die Arbeit an seiner Habilitationsschrift. Als Thema wählte

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er: Die frühe Entwicklung des Internationalen Privatrechts. Mit dieser Schrift konnte er sich habilitieren und wurde am 4. Mai 1901 von der Juristischen Fakultät der Universität München als Privatdozent für die Fächer „Internationales Privat-, Straf-, Prozess- und Verwaltungsrecht“ aufgenommen.485 Karl Neumeyer befasste sich bereits als Privatdozent mit Rechtsvergleichung. Als er den Begriff des Internationalen Verwaltungsrechts prägte, formulierte er dessen Aufgabe: „Die Grenzen der öffentlichen Gewalt in Verwaltungssachen gegenüber der öffentlichen Gewalt anderer Gemeinschaften zu ziehen, nicht anders, wie es Aufgabe der internationalen Zivilrechts ist, diese Grenzen für das Zivilrecht zu bestimmen.“486 Professor Karl Neumeyer war es gelungen, das Privatrecht an der Münchner Universität als neues Fach zu integrieren. Den Titel eines außerordentlichen Professors erhielt er am 1. Januar 1908. Über den Band 1 des Internationalen Verwaltungsrechtes im Jahre 1910 urteilte die Wissenschaft, dass Karl Neumeyer „mit ungewöhnlichem Scharfblick und mit seltener Produktionskraft in Gebiete des Rechtslebens hineinleuchtet, welche für die Wissenschaft geradezu entdeckt zu haben des Verfassers bleibender Verdienst ist“.487 Am 1. April 1900 heirateten Karl Neumeyer und Anna Hirschhorn, die aus einer Mannheimer Familie stammte.488 Ihr erster Sohn Alfred wurde 1901 geboren, ihr zweiter Sohn Fritz 1905. Karl Neumeyers Bruder Alfred (1867–1944) war Gründer des Verbandes der „Bayerischen Israelitischen Gemeinden“, deren Leiter er bis zu seiner Emigration 1941 blieb. 1913 erhielt er einen Ruf auf ein Ordinariat für Internationales Recht und Völkerrecht an der Universität Zürich. „Mit der Professur wäre jedoch die Verpflichtung zur Mitarbeit an verschiedenen in der Schweiz ansässigen internationalen Instituten verbunden gewesen. Das habe Karl Neumeyer weniger gelegen; er habe sich ausschließlich seiner wissenschaftlichen Arbeit und seinem Lehrberuf widmen und vor allem in Ruhe das große ’Internationale Verwaltungsrecht’ fortsetzen wollen; deshalb habe er den Ruf nach Zürich abgelehnt.“489 In den folgenden Jahren erhielt Neumeyer zahlreiche wissenschaftliche 484 485 486 487 488

Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 533 Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 533 Aus der Vorrede des I. Bandes 1910. In: Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 324 Niemeyer: Zeitschrift für Internationales Recht, Band XX, S. 606f. In: Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen: 324 Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen: 409ff. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869– 1941): 533

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Auszeichnungen. Als zwölf Jahre später der zweite Band zum Internationalen Verwaltungsrecht erschien, wurde das Werk wieder mit großem Lob aufgenommen und etablierte sich als Standardwerk.490 Als allgemein geachtete Kapazität entwickelte er einen Grundriss des Internationalen Privatrechts. An der Münchner Universität hatte er der juristischen Fakultät diese Disziplin Privatrecht als neues Fach erschlossen, dessen Ordinariat ihm 1929 zuerkannt wurde; zwei Jahre später wählte die Fakultät ihn zu ihrem Dekan. Seine Übersicht, die er 1929 verfasste, begrüßte die Fachwelt mit folgenden Worten: „Dieses äußerlich anspruchslose Stück enzyklopädischer Wissenschaftsdarstellung ist ein klassischer Katechismus aus der Feder eines oberpriesterlichen Pflegers und meisterlichen Lehrers der Wissenschaft.“491 Professor Dr. Klaus Vogel schrieb über Neumeyers Werk: „Zu seiner Zeit war das Internationale Recht hierfür indes noch nicht weit genug. Neumeyers Fragestellung ging in diesem Sinn, wie es bei großen Wissenschaftlern manchmal so gewesen ist, ihrer Zeit voraus.“492 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann für Karl und Anna Neumeyer ein Leidensweg. Die Vorlesungen von Karl Neumeyer wurden anfangs boykottiert und gestört. 1934 versetzte man Neumeyer vorzeitig in den Ruhestand und es wurde ihm zugleich das Betreten der Universität und der öffentlichen Bibliotheken verboten. Trotzdem gelang es ihm noch – in dieser Zeit der Bedrängnis – den vierten Band seines Internationalen Verwaltungsrechts 1936 zu vollenden und in einem Schweizer Verlag zu publizieren; ebenso veröffentlichte er zwei weitere Abhandlungen zur Entwicklung des Internationalen Privatrechts.493 Den Söhnen von Karl und Anna Neumeyer gelang die Ausreise. Sein Bruder Alfred Neumeyer konnte nach Argentinien auswandern. Doch Karl Neumeyer selbst wollte Deutschland nicht verlassen. „Er liebte Deutschland zu sehr, und wollte auch niemanden zur Last fallen.“494 Dr. Werner Cahnmann, der bis 1933 Syndikus des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war, berichtete über ein Treffen mit Professor Karl Neumeyer: „Er sagte, er sei froh, seine beiden Söhne im Ausland zu wissen. Auf meine Frage: 489 490 491 492 493

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Neumeyer, Alfred (1944): Erinnerungen: 88. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 535 Drews: Juristische Wochenschrift, 1923, S. 483. In: Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen in München: 324 Niemeyers: Zeitschrift für Internationales Recht, Band 47, S. 376/7. Auch in: Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen in München: 324 Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 539 Bartolus Sassoferrato (bei Sassoferrato, Prov. Ancona) vermutlich geb. 1314, †Perugia 10.7.1357; kommentierte das „Corpus Iuris Civilis“ (Brockhaus 2000: 355). Karl Neumeyer schickte das Manuskript an Max Gutzwiller; es wurde 1965 in den Niederlanden veröffentlicht. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 540 Neumeyer, Alfred (1944): 233. Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen: 441. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 540

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,Und was tun Sie, Herr Professor?‘ antwortete er: ,Hier bin ich geboren, hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich meine Arbeit geleistet, und hier werde ich sterben.‘“495 Als die Ankündigung kam, sein Haus an der Königinstraße müsse geräumt und seine Bibliothek versteigert werden, entschieden er und seine Frau Anna, aus dem Leben zu gehen. Dabei war alles geplant und wohl überlegt, wie die Worte, die Anna Neumeyer an eine Freundin schrieb, zeigen: „Der stärkste Freundschaftsdienst für uns wäre, wenn Du ohne Betrübnis aufatmetest: Gottseidank, sie haben es durchlitten.“496 In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1941 wählten sie den Freitod. Ehrungen497 1918 Vortrag auf der 2. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht über die Staatsangehörigkeit Juristischer Personen. 1923 Vorträge im Jahr der Eröffnung der Haager Académie de Droit International. 1923 Associé d’Institut de Droit International. 1926 Vollmitglied des Institut de Droit International. Persönlicher Ordinarius der Münchner Juristischen Fakultät. Vorläufige Vorstandschaft des Instituts für Rechtsvergleichung. 1928 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. Leiter der Kommission für Internationales Privatrecht; Geheimer Justizrat. 1929 Ordentlicher Professor der Juristischen Fakultät. 1931 Dekan der Juristischen Fakultät. Literatur Benz, Wolfgang (1993): Von der Entrechtung zur Verfolgung und Vernichtung. In: Heinrichs, H. C. / Franzkis, H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag, München: 813–854 Bonhorst, Heinrich von (1988): Karl Neumeyer (1869–1941) Jurist. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe, Band 18. Hrsg. v. Manfred Treml et al., Kastner & Callwey, München: 235–242 Cahnmann, Werner J. (1958): Juden in München 1918–1943. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 31–78 Gutzwiller, Max (1962/63): Karl Neumeyers Persönlichkeit und Werk. Rabels Z 27: 402ff Heinrichs, H. C. / Franzkis, H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg). (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag, München

495 496 497

Cahnmann, Werner J. (1958): Juden in München 1918–1943. In: Lamm, Hans (Hrsg.) (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München: 64 Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 443 Zitiert nach Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941): 535

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Neumeyer, Alfred (1944): Erinnerungen, niedergeschrieben in der Kolonie Avigdor 1941–1944. Manuskript im Leo Baeck Institut, New York (Kopie im Stadtarchiv und in der Bayer. Staatsbibliothek München) Neumeyer, Alfred (Sohn von Karl Neumeyer) (1967): Lichter und Schatten. Eine Jugend in Deutschland Neumeyer, Karl (1891): Historische und dogmatische Darstellung des strafbaren Bankerotts, München; (1910) Internationales Verwaltungsrecht, Band 1, München und Berlin; (1911) Grundlinien des Internationalen Verwaltungsrechts. Berlin; (1913) Vom Recht der auswärtigen Verwaltung und verwandten Rechtsgebieten; (1914) Internationales Finanzrecht; (1918) Staatsangehörigkeit der juristischen Personen; (1922); Der Fall Mumm; (1923) Internationales Privatrecht. Berlin; (1924) Internationales Privatrecht, völkerrechtliche Grundlage. In: Strupp (Hrsg.): Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Band 1; (1930) Internationales Privatrecht, 2. Aufl., München, Berlin, Leipzig; (1969) Die gemeinrechtliche Entwicklung des Internationalen Privat- und Strafrechts bis Bartolus. Berlin Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941) Ein Lebenswerk: Das Internationale Verwaltungsrecht. In: Heinrichs, H. C. / Franzkis, H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag, München: 531–541 Weber, Marianne (1948): Lebenserinnerungen. In: Vogel, Klaus (1993): Karl Neumeyer (1869–1941). Ein Lebenswerk: Das Internationale Verwaltungsrecht. In: Heinrichs, H. C. / Franzkis, H. / Schmalz, K. / Stolleis, M. (Hrsg.) (1993): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft. C. H. Beck Verlag, München: 531–541 Wehberg (1941): Karl Neumeyer zum Gedächtnis. Friedenswarte 41. Jahrgang. Zürich Werner, Alfred (1958): Jüdische Juristen in München. In: Lamm, Hans (1982): Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Langen Müller Verlag, München, Wien: 323–327

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Olschewski, Wilhelm / Olschewski, Willy jun. / Binder, Otto

Grabstätte von Wilhelm Olschewski, Willy Olschewski und Otto Binder auf dem Münchner Nordfriedhof Foto: A. Olsen

I. Olschewskibogen, Feldmoching M (1987) II. Grabmal von Wilhelm Olschewski, Willy Olschewski und Otto Binder, Sekt. 117/13/3 Nordfriedhof Ungererstraße 130, Alte Heide Nordfriedhof U 6

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Olschewski, Wilhelm sen. *18.8.1871 Lyk, Ostpreußen †30.4.1943 München-Stadelheim „Liebe Freunde, Ihr sollt nicht klagen, liebe Kinder weinet nicht, wenn von unserem Opfertode diese Tafel zu Euch spricht. Wir fanden hier als Freiheitskämpfer unsere letzte Ruhestatt. Wir mußten unser Leben lassen, daß Krieg und Mord ein Ende hat. Wilhelm Olschewski, Otto Binder, Willy Olschewski.“ Inschrift an der Grabstätte auf dem Nordfriedhof. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Wilhelm Olschewski hatte in Berlin den Handlungsgehilfenverband mitgegründet. Im Ersten Weltkrieg war er an der Westfront eingesetzt; seine Dienstzeit beendete er als Leutnant. Als Teilnehmer bei den Kämpfen der revolutionären Rätebewegung erhielt er 1919 eine siebenjährige Haftstrafe. Durch eine Amnestie kam er 1924 frei. Ein Jahr später übernahm er als Geschäftsführer und Funktionär der KPD in Südbayern zusammen mit Franziska Kaspeier die Redaktion der „Neuen Zeitung“.498 Olschewski baute eine reichsweite kommunistische Widerstandsorganisation auf und leitete den so genannten „Aufbruch-Kreis“. Bereits im März 1933 fand seine erste Verhaftung statt. Dabei versuchten die Nationalsozialisten ihn für Spitzeldienste zu gewinnen. Seit 1939 existierte eine Verbindung des Olschewski-Kreises zur Widerstandsgruppe um Beppo Römer. Am 4. Februar 1942 wurde Wilhelm Olschewski zusammen mit seinem Sohn Willi, seinem Schwiegersohn Otto Binder und weiteren Mitgliedern der Widerstandsgruppe verhaftet. In der Untersuchungshaft wurde Wilhelm Olschewski in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1943 im Gefängnis München-Stadelheim ermordet.499 Olschewski, Willy jun. *7.2.1902 Berlin †28.06.1944 München-Stadelheim „Der Verurteilte weiß lange Zeit im voraus, daß er getötet werden soll und daß nur eine Gnade ihn zu retten vermag, die in seinen Augen den Ratschlüssen des Himmels sehr ähnlich ist ... Er ist kein Mensch mehr, sondern ein Ding, das darauf wartet, von den Henkersknechten ergriffen zu werden ... Von dem Augenblick an, da das Urteil verlesen 498 499

Die 1919 in Berlin gegründete Zeitung war das „Organ der Kommunistischen Partei Deutschlands“. Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder gefundene Liste: 66

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wurde, gerät der Verurteilte in ein unbeirrbares Räderwerk. Etliche Wochen lang wird er durch das Getriebe gedreht, das alle seine Bewegungen bestimmt, bis es ihn schließlich den Händen ausliefert, die ihn unter die Hinrichtungsmaschine legen.“ Albert Camus500 GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Willy Olschewski, der Sohn von Wilhelm Olschewski, war Maschinenschlosser. Der 23Jährige trat 1925 in die KPD ein. Wegen seiner Beteiligung an Widerstandsaktionen war Willy Olschewski bereits vom Juni bis 11. September 1933 im KZ Dachau inhaftiert. Seit 1939 beteiligte er sich aktiv an den Widerstandsaktionen der KPD und an dem Aufbau der Gruppe um seinen Vater. Der Gestapo gelang es Anfang des Jahres 1942, den kommunistischen Widerstandskreis aufzudecken. Am 4. Februar 1942 wurden die meisten Mitglieder in München verhaftet. Der Prozess vor dem VGH am 20. April 1944 endete mit dem Todesurteil für folgende Personen: Otto Binder, Raimund Gstür, Hans Hartwimmer (siehe Band 2: S. 164), Michael Hammer, Karl Huber, Simon Hutzler, Engelbert Kimberger, Willy Olschewski jun., Hans Reisinger, Beppo Römer, Willy Sachse, Gustav Straub.501 Willy Olschewsky wurde am 28. Juni 1944 hingerichtet. Sein Leichnam kam in das Anatomische Institut der Universität Würzburg. Nach Kriegsende fand seine Einäscherung statt. Die feierliche Bestattung der Gedenkurne fand am 13. September 1947 auf dem Münchner Nordfriedhof im Beisein des bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard statt.502 Binder, Otto *27.10.1904 München †28.6.1944 München-Stadelheim „Nun lb. Rosa u. Erika ein letztes Lebewohl von eueren Papa und tausend Grüße u. Küsse. Ich und Willy sind beisammen u. sind auch sehr gefaßt. Lebewohl mein Kind u. Kindl, Euer Papa. Lebt wohl u. letzte Grüße v. Eueren Bruder u. Onkel Willy!“ Schlussworte Otto Binders in seinem Abschiedsbrief an seine Frau und Tochter.503

500 501 502 503

Zitiert in: Die Zeit: Betrachtungen zur Todesstrafe v. 23.5.2001: 13 Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder gefundene Liste: 62 Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder gefundene Liste: 66 Dokument in: Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden: 67

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GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Der gelernte Former und Eisengießer war der Schwager von Willy Olschewski junior. Wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD war er mehrmals in Haft. Im Zusammenhang mit der Entdeckung der Olschewski-Gruppe wurde Otto Binder ebenfalls am 4. Februar 1942 festgenommen. Das vor dem VGH am 20. April 1944 verhängte Todesurteil wurde am 28. Juni 1944 in München-Stadelheim vollstreckt. Erst 1947 entdeckte man seinen Leichnam im Anatomischen Institut der Universität Würzburg. Seine sterblichen Überreste kamen in einer Urne nach München zurück, wo auf dem Nordfriedhof eine feierliche Bestattung im Beisein des damaligen Ministerpräsidenten Hans Ehard stattfand.504 Ausstellung 9. Oktober – 9. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Münchner Rathaus. Literatur Altmann, Peter / Bräutigam, Heinz / Mausbach-Bromberger, Barbara / Oppenheimer, Max (Hrsg.) (1975): Der deutsche antifaschistische Widerstand 1933–1945 in Bildern und Dokumenten. Frankfurt a. M. Antonie, Ernst (1998): Subversion für den Frieden. In: Kommunistische Partei München (Hrsg.) (1998): Die wieder gefundene Liste. Porträts Münchner Kommunistinnen und Kommunisten, die im antifaschistischen Widerstandskampf ihr Leben ließen. Entdeckt von Resi Huber. Verlag Otto Barck, München: 62–67 Bindrich, Oswald / Römer, Susanne (1991): Beppo Römer. Ein Leben zwischen Revolution und Nation. Verfolgung und Widerstand, Band 49. Edition Hentrich, Berlin Bretschneider, Heike (1968): Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933–1945. Miscellanea Bavarica Monacensia, Band 4. München Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NSRegime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.) (1994): Mikrofiche-Edition, Widerstand als „Hochverrat“ 1933–1945. Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht. München Huber, Resi (Hrsg.) (1994): Eine Dokumentation zur Otto-Huber-Hütte in Breitbrunn am Ammersee. Vorgelegt zum 50. Todestag von vier Mitgliedern der antifaschistischen Widerstandsgruppe Olschewski. Breitbrunn Mehringer, Hartmut (1983): Die KPD in Bayern 1919–1945. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand. In: Bayern in der NS-Zeit, Band 5. München Mehringer, Hartmut (1997): Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner. Deutscher Taschenbuch Verlag, München Olschewski, Wilhelm, Akten im Staatsarchiv, Staatsanwaltschaften 12 888, OJs 28/29

504

Antoni, Ernst (1998): Subversion für den Frieden: In: Kommunistische Partei München (Hrsg.): Die wieder gefundene Liste: 66

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Pechmann, Wilhelm Freiherr von *10.6.1859 Memmingen †10.2.1948 München „Von Pechmann hat sich dadurch in den schwarzen Tagen der deutschen Geschichte als Zeuge des anderen, des besseren Deutschlands, des der Menschlichkeit und Gerechtigkeit bewährt. Zugleich ist er ein glaubwürdiger Zeuge gewesen für die Kirche, wie sie sich nach unserer heutigen Überzeugung verstehen und wie sie handeln muß. Das läßt uns in aller Betroffenheit dankbar sagen: Gut, daß es von Pechmann gegeben hat. Wir wollen ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.“ Bundesminister a. D. Dr. Jürgen Schmude, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.505 Wilhelm Freiherr von Pechmann Foto: epd-bild

Freiherr-von-PechmannWeg Foto: epd-bild Grabstätte des Freiherrn von Pechmann Foto: H. Engelbrecht

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I. Freiherr-von-Pechmann-Weg, Maxvorstadt M (2000) II. Gedenktafel im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Meiserstraße 11, Maxvorstadt Königsplatz U2/U8 Evangelisch-Lutherische Kirche (2001) III. Grabstätte auf dem Nordfriedhof, Gf 73 Nordfriedhof U6 Zu I. Freiherr-von-Pechmann-Weg, Maxvorstadt M (2000) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative des Bezirksausschusses Maxvorstadt kam es zu dieser Namengebung, um an den Freiherrn Wilhelm von Pechmann zu erinnern. Die Einweihung fand am 29. Januar 2000 im Beisein des bayerischen Finanzministers Kurt Faltlhauser statt. Zu II. Gedenktafel im Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Meiserstraße 11, Maxvorstadt ANLASS UND ENTSTEHUNG Die leitenden Organe der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern haben für Wilhelm von Pechmann einen Erinnerungsort ins Leben gerufen. Am 12. Januar 2001 fand die Einweihung im Beisein von Landesbischof Johannes Friedrich, Regionalbischof und Oberkirchenrat Dr. Martin Bogdahn und Mitgliedern der Familie von Pechmann statt. Beim Festakt waren Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Engelbert Siebler, Weihbischof der römisch-katholischen Kirche, anwesend. Der Präsident der Landessynode, Dieter Haack, nahm die Enthüllung vor.

505

Das Unrecht bahnt sich nicht im Verborgenen an. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann 1859–1948: 40

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KURZBESCHREIBUNG In der Eingangshalle im Evangelischen Landeskirchenamt befindet sich neben der Pförtnerloge eine Aluminiumgusstafel (0,91 m × 1,40 m) mit folgendem Text: „Zum Gedenken an D. Wilhelm Freiherr von Pechmann 1859–1948, Präsident der Landessynode und Inhaber zahlreicher kirchlicher Ehrenämter. Mit seinem eindringlichen Protest gegen die Judenverfolgung ab 1933 war er Stimme des Gewissens in unserer Kirche.“ INFORMATION ÜBER DIE KÜNSTLER Die Gedenktafel hat der Münchner Architekt Tobias Köhler entworfen; der Metallkünstler Jürgen Trapp führte den Entwurf in Aluminiumguss aus. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Wilhelm von Pechmann wurde am 10. Juni 1859 als Sohn des Staatsanwaltes Adalbert Freiherr von Pechmann und seiner Ehefrau Ida (geb. Petersen) in Memmingen geboren. Der Vater entstammte einer katholischen, die Mutter einer evangelischen Familie. Pechmann schloss mit dem Abitur am Augsburger Realgymnasium im Jahre 1877 ab. An der Münchner Universität studierte er Philosophie und Rechtswissenschaften. Es folgten Militärdienst und Assessorexamen. Auf eine akademische Laufbahn verzichtete er, weil er es als seine Pflicht gegenüber seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern sah,506 sobald wie möglich Geld zu verdienen. 1886 begann Pechmann seine berufliche Laufbahn als Rechtskonsulent bei der Bayerischen Handelsbank. Ein Jahr später ging er die Ehe mit Emma Freiin von Feilitzsch ein. 1898 wurde er zum Ersten Direktor der Bayerischen Handelsbank ernannt. Neben zahlreichen Aufgaben, die er im Bankwesen übernahm, setzte sich Pechmann für soziale und kulturelle Einrichtungen ein. Sein politisches Wirken begann bereits vor dem Ersten Weltkrieg als Mitbegründer und Vorsitzender der Deutschen Reichspartei in Bayern. „Nach dem Krieg, den er von Anfang bis zum Ende als Freiwilliger im Schützengraben mitmachte, kam er 1918 zur Bayerischen Volkspartei, die ihn in den Landtag entsandte.“507 Pechmann trat bereits 1919 wieder aus dieser Partei aus, da er ihren Eintritt in die Nationalversammlung und ihre Haltung zum Versailler Vertrag ablehnte. In der Revolution hatte der national-monarchistisch eingestellte von Pechmann eine Zerstörung der alten Ordnung gesehen. Ebenso war „seine Einstellung gegenüber der 506 507

Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann: 13 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann: 14

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Demokratie von tiefem Mißtrauen, ja von Verachtung geprägt. Seine deutsch-nationale Gesinnung wußte jedoch zwischen Person und Sache genau zu unterscheiden.“508 Wirken in Kirche und Gesellschaft Als Gründungsmitglied des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) in München engagierte sich Pechmann schon früh in seiner Kirchengemeinde. Seit 1905 war er Mitglied des Kirchenvorstandes der Münchner Kirche St. Johannes. Vor dem Ersten Weltkrieg stand er als Präsident der so genannten „Steuersynode“ vor. Seit 1919 war von Pechmann als Leiter des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes tätig. In der Weimarer Republik entwickelte sich von Pechmanns kirchliches Wirken. So nahm er die Herausforderungen des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes an und half am Aufbau und Zusammenschluss der evangelischen Landeskirchen mit. Dabei galt seiner bayerischen Heimatkirche „stets seine besondere Arbeitskraft, Aufmerksamkeit und Liebe.“509 Die Evangelisch-Lutherische Bayerische Generalsynode wählte ihn 1919 zu ihrem Präsidenten. Es folgten weitere leitende kirchliche Ämter (siehe Ehrungen für Freiherr Wilhelm von Pechmann). Von 1929 bis 1933 war von Pechmann Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses. Vertreter der christlichen Lehre Nach der Machtergreifung wurde der totale Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten Realität. Hitler hatte in Bezug auf das Christentum verlauten lassen: „Eine deutsche Kirche, ein deutsches Christentum ist Krampf. Man ist entweder Christ oder Deutscher. Beides kann man nicht sein.“510 Freiherr Wilhelm von Pechmann nahm zur politischen Herrschaft des neuen Regimes Stellung. Er vertrat den Standpunkt, dass die Kirche ihre Unabhängigkeit vom Staat bewahren müsse, um nicht vom nationalsozialistischen Regime unterjocht zu werden. Er lehnte die Pläne strikt ab, die eine Verfassungsänderung der bayerischen Landeskirche im Sinne des nationalsozialistischen Führerprinzips vorsahen. „Trotzdem konnten sich die Kirchenleitungen nicht zu einer Distanzierung von der judenfeindlichen Politik durchringen.“511 In einer Sitzung des Kirchenausschusses forderte er Hilfe für die verfolgten jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern, denn: „Er sei davon durchdrungen, daß er diesen Gliedern unserer Gemeinde und unserer Kirche Schutz 508 509 510 511

Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann: 14 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 15 Zitiert nach: Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 26 Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam: In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 27

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schuldig sei. Wir dürfen sie nicht dem Gefühl überlassen, daß sie von der Kirche, der sie seit langem angehören, in der Zeit der fürchterlichsten Not wort- und lautlos in Stich gelassen werden ...“512 Reden alleine genügte ihm nicht; so wandte er sich in einem Brief vom 15. Juli 1933 an den damaligen Landesbischof Hans Meiser und forderte die Landeskirche zum baldigen Handeln auf. Auch die folgenden Worte zeugen von Pechmanns moralisch-ethisch unbeugsamer Haltung: „... Wenn Gott uns offenes Unrecht in den Weg treten läßt, so ist es sein heiliger Wille nicht, daß wir solchem Unrecht uns beugen, sondern daß wir ihm auf Leben und Sterben widerstehen. Widerspruch und Widerstand gegen das Unrecht, Bekenntnis zum Recht ... als Christen sollen und dürfen wir nicht daran mitwirken, auch nicht unterlassend und schweigend, daß das Unrecht zunehme und erstarke, das Recht aber vergessen werde und verkümmere. Wenn wir beten ,Dein Wille geschehe ...‘, dürfen wir nie vergessen: Gott will nicht das Unrecht, sondern das Recht.“513 Außerdem forderte er nach dem Judenboykott vom 1. April 1933, die Kirche möge gegen die Entrechtung der Juden protestieren. Wieder forderte er im Kirchenausschuss eine öffentliche Kundgebung, seine Kirche möge sich „zu ihren eigenen Angehörigen jüdischer Abstammung bekennen, aber auch für unsere jüdischen Glaubensgenossen Gerechtigkeit und christliche Liebe verlangen.“514 Von Pechmanns Appelle waren jedoch vergeblich: Die evangelischen Bischöfe bekannten sich im Januar 1934 zum Dritten Reich und seinem Führer. Seit 1932 gab es eine „Glaubensbewegung Deutscher Christen“ (DC), die einen völkischen Protestantismus in Anlehnung an die Weltanschauung der NSDAP propagierte. Die Entscheidung Freiherr Wilhelm von Pechmann erklärte im April 1934 offiziell seinen Austritt aus der Kirche. Vergeblich hatten Landesbischof Hans Meiser und Reichsbischof Ludwig Müller versucht, von Pechmann umzustimmen. Er klagte über die „unfassbare Engherzigkeit, Kurzsichtigkeit und Verblendung“ seiner „engeren Glaubensgenossen, der ,Lutheraner‘“.515 Er protestierte gegen die „Vergewaltigung der Kirche“, gegen ihren „Mangel an Widerstandskraft“, aber „auch gegen ihr Schweigen zu viel Unrecht und all’ dem Jammer und Herzeleid, das man in ungezählte nichtarische Herzen und Häuser – christliche und jüdische – hineingetragen hat.“516 Von Pechmann, sah wie die nationalsozialistische Ge512 513 514 515

Zitiert nach: Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 27 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 18 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 16 Reindl, Peter (1996): Der einsame Widerstand eines alten Edelmannes. In: Sonntagsblatt Nr. 22 v. 22.12.1996: 8

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waltherrschaft als antichristliche Macht die Kirchen ausschalten wollte. Deshalb sollten nach seiner Meinung die christlichen Kirchen gemeinsam Widerstand leisten. Von Pechmann wurde 1936 Mitglied der evangelischen „Bekennenden Kirche“. In der evangelisch-lutherischen Kirche war es durch gegensätzliche Auffassungen über das Verhalten zum NS-Staat zu einer Spaltung gekommen, aus der sich die „Bekennende Kirche“ formierte. 1935 wandte sich die „Bekennende Kirche“ gegen die „völkisch-rassische“ Weltanschauung der Nationalsozialisten. Sie protestierte besonders gegen die Ausgrenzung von Protestanten jüdischer Herkunft. In ihren Predigten erklärten die Vertreter der „Bekennenden Kirche“, dass Menschen als Menschen zu sehen sind, Gott aber Gott sei. Deshalb sei der Jude ebenso Mensch und als Mensch zu behandeln. Im März 1935 kam es zu Massenverhaftungen von 715 Geistlichen der „Bekennenden Kirche“. Nach dem Kriegsende entschied sich der 87-jährige von Pechmann zur Konversion. Im Mai 1946 wurde er in die römisch-katholische Kirche aufgenommen. Am 10. Februar 1948 starb von Pechmann in München. An seinem Begräbnis auf dem Nordfriedhof nahm kein einziger leitender evangelischer Theologe teil. Der Kirchenhistoriker Professor Dr. Wolfgang Sommer spekulierte über die Gründe: „Wollte man in der bayerischen Landeskirche nicht wahrhaben, daß man als grundkonservativer Lutheraner energischen Widerstand leisten konnte?“517 „Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen Schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.“ Dies schrieb im August 1944 im Gefängnis Berlin-Tegel der Theologe Dietrich Bonhoeffer518, ein Vertreter der evangelischen „Bekennenden Kirche“. Ehrungen 1913 Ehrendoktorwürde der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Erlangen. 1920–1922 Präsident der Bayerischen Generalsynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche. 1921 Präsident des Stuttgarter verfassunggebenden Kirchentages. 1924 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Bethel. 1925 Mitglied der Stockholmer Weltkirchenkonferenz. 516 517 518

Zitiert in: Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 19 Zitiert in: Reindl, Peter (1996): Der einsame Widerstand eines alten Edelmannes. In: Sonntagsblatt Nr. 22 v. 22.12.1996: 8 Zitiert in: Bethge, Eberhard (1984): Letzte Briefe im Widerstand: 126

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1927 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Königsberg. 1929–1933 Mitglied im Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss. 1930 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg. 1998 Gedenkveranstaltung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns in Memmingen. 29. Januar 2000 Festakt im Prinz-Carl-Palais in München. 12. Januar 2001 Festakt im Bayerischen Landeskirchenamt in München. Ausstellung 9. Oktober – 8. November 1998: Widerstand, Verweigerung und Protest gegen das NS-Regime in München. Konzipiert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Gezeigt im Neuen Münchner Rathaus. Literatur Bethge, Eberhard (1984): Dietrich Bonhoeffer. Theologie, Christ, Zeitgenosse. 5. Auflage, München Bogdahn, Martin (1998): Die Stimme des Gewissens. In: Aufstand des Gewissens: 42–47 Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens. Erinnerung an Wilhelm von Pechmann 1859–1948. Texte und Bilder der Gedenkveranstaltung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Memmingen. Hrsg. 1998 im Auftrag des Präsidenten der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Hans Venus Verlag, München Brock, Edna (1998): Die Frage nach der eigenen Identität. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 31–33 Detjen, Marion (1998): Die evangelische Kirche. In: Detjen Marion: „Zum Staatsfeind ernannt“: 272–273 Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt“. Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NSRegime in München. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München Diem, Hermann (1974): Ja oder nein. Theologie in Kirche und Staat. Stuttgart, Berlin Elias, O. L. (1961): Der evangelische Kirchenkampf und die Judenfrage. In: Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen. Hamburg Gailus, M. (Hrsg.) (1987): Kirchengemeinden im Nationalsozialismus. Sieben Beispiele aus Berlin. Verfolgung und Widerstand, Band 38. Edition Hentrich, Berlin Haack, Dieter (1998): Ein klares Signal gegen Vergessen und Verdrängen. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 7–10 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm (1968): Der Weg der evangelischen Kirche vom 19. zum 20. Jahrhundert. Gütersloh Kantzenbach, Friedrich Wilhelm (1971): Wilhelm Freiherr von Pechmann: Briefe 1931–1947. Degener Verlag, Neustadt/Aisch Katzenbach, Friedrich Wilhelm (1971): Widerstand und Solidarität der Christen in Deutschland 1933–1945. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf aus den Papieren des D. Wilhelm Freiherr von Pechmann. Degener Verlag, Neustadt/Aisch Kantzenbach, Friedrich Wilhelm (1980): Evangelischer Geist und Glaube im neuzeitlichen Bayern. München Klinger, Rudolf (1998): Abschied vom Untertanengehorsam. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 25–30 Meier, Kurt (1976): Der evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden. Göttingen

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Niemöller, Wilhelm (1956): Die Evangelische Kirche im Dritten Reich. Bielefeld Nowak, Kurt (1997): Kirchen und Religion. In: Benz, W. / Graml, H. / Weiß, H. (Hrsg.) (1997). Enzyklopädie des Holocaust. dtv, München: 187–202 Schmude, Jürgen (1998): Das Unrecht bahnt sich nicht im Verborgenen an. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 35–40 Scholder, Klaus (1970): Die Kapitulation der Kirche vor dem nationalsozialistischen Staat. In: ZKG, Band 81: 182–206 Scholder, Klaus (1985): Die Kirchen und das Dritte Reich. 2 Bände. Frankfurt a. M., Berlin, Wien Sommer, Wolfgang (1997): Wilhelm von Pechmann und die bayerische Landeskirche zur Zeit des Nationalsozialismus in München. Dokumentation des Evangelischen Pressedienstes Bayern, Ausgabe 1. München Sommer, Wolfgang (1998): Wilhelm von Pechmann. In: Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert. Gütersloh: 541–558 Sommer, Wolfgang (1998): Widerstand gegen offenkundiges Unrecht. In: Breit, Dieter (Hrsg.) (1998): Aufstand des Gewissens: 11–20 Winter, Helmut (1998): „Zur Judenverfolgung darf die Kirche nicht schweigen“. In: Sonntagsblatt – Evangelische Wochenzeitung für Bayern (1998) Nr. 6: 20

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Pfülf, Toni *14.12.1877 Metz †8.6.1933 München „Sie hat das Leben und ihre Freunde geliebt und war ihnen dankbar. Sie ging mit dem sicheren Wissen von dem Sieg der großen Sache des Proletariats, der sie dienen durfte. München, 17. Februar 1933 Toni Pfülf.“519

Toni Pfülf Foto: Süddeutscher Verlag

Denkmal für Toni Pfülf auf dem Nordfriedhof Foto: H. Engelbrecht

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Gedenktafel in der Leopoldstraße 77 Foto: H. Pfoertner

Selbst verfasste Todesanzeige von Toni Pfülf.

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I. Toni-Pfülf-Straße, Fasanerie-Nord M (1963) II. Gedenktafel, Grund- und Hauptschule an der Toni-Pfülf-Straße 30, Feldmoching Fasanerie S1 M (1985) III. Toni-Pfülf-Denkmal Nordfriedhof, Sekt. 73 Ungererstraße 130, Schwabing Nordfriedhof U6 M (1993) IV. Gedenktafel, Leopoldstraße 77, Schwabing Münchner Freiheit U3/U6 M (2001) Zu II. Gedenktafel, Toni-Pfülf-Straße 30, Hauptschule an der Toni-Pfülf-Straße ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Antrag der Stadtratsmitglieder Inge Deckert und Gertraud Schmidt, gestellt am 30. Juni 1983, sollte eine Gedenktafel für die ehemalige Reichstagsabgeordnete Toni Pfülf angebracht werden. Als Erinnerungsort wurde die Hauptschule an der Toni-Pfülf-Straße ausgewählt. Dort fand die Enthüllung der Gedenktafel im Rahmen einer Gedenkfeier am 11. Dezember 1984 durch Stadtschulrat Albert Loichinger statt. KURZBESCHREIBUNG In der Schuleingangshalle befindet sich eine Metalltafel aus Kupfer (0,92 m × 1,27 m) mit folgendem Text: „Toni Pfülf 1877–1933. Als sozialdemokratische Abgeordnete des Deutschen Reichstages hat sich die Münchner Lehrerin für Gleichberechtigung der Frauen, für die Bildungschancen von Arbeiterkindern und die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt. Politische Verfolgung trieb sie in den Freitod. Ihr Wirken ist unvergessen.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf der Graphiker Eugen Weiß.

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Zu III. Toni-Pfülf-Denkmal Nordfriedhof, Ungererstraße 130, Sekt. 73, Alte Heide Nordfriedhof U6 M (1993) ANLASS UND ENTSTEHUNG Das Grab von Toni Pfülf auf dem Nordfriedhof wurde 1970 aufgelassen. Am 15. Mai 1992 machte der Münchner Bürgermeister Christian Ude den Vorschlag, dort eine Gedenktafel oder einen Gedenkstein für Toni Pfülf zu errichten. Dieser konnte zum 60. Todestag von Antonie Pfülf eingeweiht werden. Die bayerische SPD-Vorsitzende Renate Schmidt, der damals 92-jährige Genosse Josef Felder und Christian Ude waren bei dieser Zeremonie anwesend. KURZBESCHREIBUNG Eine runde, zwei Meter hohe Muschelkalksäule mit pyramidenförmigem Abschluss trägt die bronzene Aufschrift: „Toni Pfülf“ Die Gedenkstätte auf Sektion 73 ist von Hecken und Bäumen gesäumt. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Den Gedenkstein schuf der Architekt Herbert Temesl. Zu IV. Gedenktafel Leopoldstraße 77, Schwabing M (2001) ANLASS UND ENTSTEHUNG Dr. Hans-Jochen Vogel, Altbürgermeister von München und Berlin und Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, schlug am 13. Juni 2000 die Schaffung einer Gedenktafel für Antonie Pfülf vor. Die Einweihung fand am 22. Mai 2001 im Beisein von Münchens Oberbürgermeister Christian Ude statt. KURZBESCHREIBUNG Am Haus in der Leopoldstraße 77 befindet sich eine Bronzetafel mit einem Porträt von Antonie Pfülf und folgendem Text: „Antonie Pfülf, 1877–1933 Reichstagsabgeordnete, besonders engagiert im Schulwesen, Vorkämpferin für die Rechte der Frauen, wohnte von

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1915–1927 in diesem Hause.“ INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Die Gedenktafel schuf der Münchner Bildhauer Toni Preis. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Als zweites Kind der Familie Pfülf wurde Antonie in Metz geboren. Der Vater Emil Pfülf war Offizier und stammte aus Speyer; die Mutter Justine kam aus einer Aschaffenburger Juristenfamilie. Antonie widersetzte sich dem Wunsch der Eltern nach einer standesgemäßen Heirat; stattdessen entschied sie, einen Beruf zu erlernen und selbstständig zu werden. In München besuchte sie die Lehrerinnen-Bildungsanstalt. Nach absolvierter Prüfung arbeitete sie als Hilfslehrerin in Oberammergau, Lechhausen und Peiting. Später wirkte sie als Aushilfslehrerin und an der Fortbildungsschule für Kaufleute. Schließlich bekam Antonie Pfülf 1910 in München eine Anstellung als Lehrerin; dieser Beruf galt damals noch als Männerdomäne. 1902 trat sie in die SPD ein. Während des Ersten Weltkrieges übernahm Toni Pfülf eine ehrenamtliche Tätigkeit als Armen- und Waisenrätin. Sie half damit zahlreichen im Elend lebenden Familien oftmals auch mit eigenen Mitteln. Im November 1918 trat sie – ohne auf der Liste zu stehen – auf einer Sitzung des Arbeiterund Soldatenrates520 im Münchner Mathäser-Festsaal vor das Rednerpult. Die Aufforderung des Sitzungsleiters Erich Mühsam, die Versammlung zu verlassen, kommentierte sie wie folgt: „Man kann mich nur mit Gewalt aus dem Sitzungssaal befördern, denn ich habe hier im Arbeiter- und Soldatenrat die Interessen der Frauen zu vertreten.“521 Mit Unterstützung des Kultusministers Johannes Hoffmann erhielt sie eine Kandidatur im Wahlkreis Oberbayern-Schwaben und wurde 1919 Abgeordnete in der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Besonders hervorzuheben ist ihr Einsatz für das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung: auf einer Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrates vertrat sie die Belange der Frauen (gerechter Lohnausgleich, Anpassung der Sozialhilfe) und mahnte die schlechte Versorgung von Kriegswaisen und Kriegsversehrten an. 1920 erhielt sie ein Reichstagsmandat; damit war Toni Pfülf die erste bayerische Reichstagsabgeordnete neben 36 Frauen, die von anderen Ländern in die Nationalversammlung gewählt wurden. In der Zeit der Weimarer Republik von 1920–1933 wirkte sie als Reichstagsabgeordnete, engagierte sich beim Entwurf eines neuen Parteiprogramms, arbeitete am neuen Reichsschulgesetz mit und setzte sich für die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten von Arbeiterkindern ein. Die Gleichberechtigung der Frau in Ehe, Beruf und Politik durchzuset520 521

Gegründet 1918, um die provisorische Regierung von Kurt Eisner zu stützen. Volland, Eva Maria / Bauer, Reinhard (Hrsg.) (1991): München Stadt der Frauen: 120

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zen, war eines ihrer weiteren Hauptziele. Schon Anfang der zwanziger Jahre erkannte sie die Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus. Toni Pfülfs politische Laufbahn Von 1919–1924 vertrat die Sozialdemokratin den Wahlkreis Oberbayern-Schwaben und ab der dritten Wahlperiode den Wahlkreis Niederbayern-Oberpfalz, den sie bis zur 8. Wahlperiode 1933 inne hatte. Weil sie die Arbeiterschaft zum Widerstand gegen das NSRegime aufforderte, wurde Toni Pfülf verhaftet.522 Als Antwort auf den überraschenden Zuwachs der NSDAP-Wähler, die 1930 die stärkste Fraktion nach der SPD wurde, erschien ihre Broschüre: Die politische Wirksamkeit der Frau. Sie setzte sich auch für den „Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen“ ein. Eines ihrer politischen Anliegen war eine gebildete und politisch aufgeklärte Bevölkerung. In der Berliner Kroll-Oper nahm Toni Pfülf bei der Abstimmung über das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933“ – des so genannten Ermächtigungsgesetzes – teil, dem die meisten SPD-Parlamentarier (94 von 120) im Gegensatz zu Vertretern der anderen Fraktionen nicht zustimmten. Der Vorsitzende der SPD Otto Wels hielt dort eine engagierte Rede; doch zur gleichen Zeit hatten bereits einige Parteigenossen in Gefängnissen und Konzentrationslagern ihre bürgerlichen Rechte verloren. Ende März 1933 brachte Toni Pfülf die polizeilich gesuchten Berliner Parteigenossen Rudolf Hilferding und Tony Breitscheid über die Grenze in die Schweiz. Sie selbst kehrte jedoch wieder nach Deutschland zurück.523 Während ihres letzten Berlin-Aufenthaltes sollte auch über die „Friedensresolution“ des Reichstags vom 17. März 1933 abgestimmt werden. Toni Pfülf wollte ihre Fraktion davon überzeugen, dass eine Teilnahme an der Reichstagssitzung verantwortungslos und unangemessen sei, weil Hitler dem Ausland deutsche Friedfertigkeit vortäusche. Sie konnte sich aber damit nicht durchsetzen und rief ihre Partei dazu auf, „... den Widerstand zu organisieren. Das ist es, was die Arbeiterklasse von uns erwartet!“524 Einem jungen Abgeordneten vertraute sie an: „Der mich aufwühlende Gedanke, daß die große Partei und das Millionenheer der Gewerkschaftler, daß ihr Männer nicht auf jedes Risiko hin Widerstand geleistet habt – der läßt mir keine Ruhe mehr.“525 Den Ratschlag des Parteivorsitzenden Paul Löbe (1875–1967) zu emigrieren, verwarf sie: „Ich bin nicht der Mensch, der sich versteckt. Ich habe immer offen gekämpft. Aber nun ist es sinnlos geworden. Und den Weg, den Ihr jetzt geht, mag ich nicht mitgehen.“526 Toni 522 523 524 525 526

Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 155 Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 90f Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 117 Bayerisches Seminar für Politik e.V. (1988): Toni Pfülf 1877–1933: 12. Auch in: Vieregg, Hildegard (1992): Wächst Gras darüber?: 110 Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod: 119

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Pfülf setzte ihrem Leben am 8. Juni 1933 selbst ein Ende. Am 12. Juni 1933 fand ihre Bestattung auf dem Nordfriedhof statt. Das Grab wurde 1970 aufgelassen. Ausstellung 18. Juni – 11. Oktober 1998: Geschichte der Frauen in Bayern. Von der Völkerwanderung bis heute. Landesausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte in den Ausstellungshallen im Klenzepark in Ingolstadt. Ehrungen 1986 Gedenktafel am Gewerkschaftshaus in Regensburg, Richard-Wagner-Straße. 1988 „Antonie-Pfülf-Haus“, Geschäftsstelle der SPD in Regensburg. Antonie-Pfülf-Preis wird von den Bayerischen Sozialdemokraten alle zwei Jahre für „Verdienste um die Förderung der politischen Mitwirkung von Frauen in der SPD“ verliehen. Literatur Bayerisches Seminar für Politik e.V. (1988): Toni Pfülf 1877–1933. München Bracher, Karl Dietrich (1955): Die Auflösung der Weimarer Republik. Ring Verlag, Stuttgart Bracher, Karl Dietrich (1987): Die Weimarer Republik 1918–1933. Droste Verlag, Düsseldorf Dertinger, Antje (1984): Dazwischen liegt nur der Tod. Leben und Sterben der Sozialistin Antonie Pfülf. Verlag J. H. W. Dietz, Berlin, Bonn Felder, Josef (1982): Mein Weg – Buchdrucker, Journalist, SPD-Politiker. In: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Band I. Boppard Felder, Josef (Hrsg.) (2000): Warum ich Nein sagte. Erinnerungen für ein langes Leben für die Politik. Pendo Verlag, München Hoegner, Wilhelm (1959): Der schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten. Isar Verlag, München Hoegner, Wilhelm (1979): Die verratene Republik. Deutsche Geschichte 1919–1933. Nymphenburger Verlag, München Mommsen, Hans (1989): Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918– 1933. Propyläen Verlag, Berlin Niggemann, Heinz (Hrsg.) (1981): Frauenemanzipation und Sozialdemokratie, Frankfurt a. M. Pfülf, Antonie (1922): Kultur- und Schulpolitik. Erläuterungen zum Görlitzer Programm. Berlin Pfülf, Toni. In: ED 106 Walter Hammer, Band 55. IfZ-Archiv München Sontheimer, Kurt (1999): Die kurze Demokratie. In: Der Spiegel 1999 Nr. 33 v. 16.8.99: 64–73 Specht, Annette von (1998): Geschichte der Frauen in Bayern: von der Völkerwanderung bis heute. Veröffentlichung zur bayerischen Geschichte und Kultur, Band 39. Friedrich Pustet Verlag, Regensburg Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber? MPZ-Themenhefte zur Zeitgeschichte. Universitätsdruckerei u. Verlag Dr. C. Wolf & Sohn, München

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Volland, Eva Maria (1988): Frauenleben und Frauenbewegung. Hrsg. v. DGB-Bildungswerk München Volland, Eva Maria (1992): Antonie Pfülf „... Die Interessen der Frauen vertreten.“ In: Mehringer, Hartmut (Hrsg.) (1992): Von der Klassenpartei zur Volkspartei. München: 187–191 Volland, Eva Maria / Bauer, Richard (Hrsg.) (1991): München. Stadt der Frauen. Kampf für Frieden und Gleichberechtigung. 1800–1945. München, Zürich Winkler, Heinrich August (1993): Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. C. H. Beck Verlag, München

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Platz der Freiheit

Denkmal am Platz der Freiheit Foto: Andreas Olsen

„Sie schrien vor dem Tod und ihre Leiber krallten sich an nassen, sturmgepeitschten Tauen und ihre Blicke schauten voller Grauen das Meer im Aufruhr, jäh entfesselter Gewalten. ,Ihr ewigen, ihr guten, ihr erzürnten Götter, helft oder gebt ein Zeichen, das uns künde den, der euch kränkte mit geheimer Sünde, den Mörder oder Eidvergessnen oder Spötter, der uns zum Unheil seine Missetat verbirgt um seines Stolzes ärmlichen Gewissens!’ So flehten sie. Und Jona sprach: ,Ich bin es! Ich sündigte vor Gott. Mein Leben ist verwirkt.

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Tut mich von euch! Mein ist die Schuld. Gott zürnt mir sehr. Der Fromme soll nicht mit dem Sünder enden!‘ Sie zitterten. Doch dann mit starken Händen verstießen sie den Schuldigen. Da stand das Meer.“ Gedicht Jona von Dietrich Bonhoeffer, das er in Haft in Berlin-Tegel geschrieben und am 8. Oktober 1944 an Eberhard Bethge übergeben hatte.527 I. Platz der Freiheit, Neuhausen Rotkreuzplatz U1 und Tram 12 M (1962) ANLASS UND ENTSTEHUNG Laut Stadtratsbeschluss vom 5. Februar 1946 erfolgte die Umbenennung des HindenburgPlatzes am 12. Februar 1946 in Platz der Freiheit. II. Denkmal am Platz der Freiheit Rotkreuzplatz U1 und Tram 12 M (1985) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative der Gruppe Neuhausen stellte die SPD-Fraktion im 28. Stadtbezirk am 13. Mai 1985 den Antrag, anlässlich des 40. Jahrestag des Kriegsendes auf dem Platz der Freiheit eine Gedenktafel aufzustellen. Der neu gestaltete Gedenkstein, – der sich bisher auf dem Platz der Opfer des Nationalsozialismus befand – wurde am 16. November 1985 vom Münchner Bürgermeister Dr. Klaus Hahnzog der Öffentlichkeit übergeben. KURZBESCHREIBUNG Ein behauener Steinblock aus Flossenbürger Granit (2,6 m Höhe × 1,10 m Breite) steht auf einen von Bäumen und Hecken gesäumten Platz und trägt die Inschrift: „Den Opfern im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“.

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Bethge, Eberhard u. Renate (Hrsg.) (1984): Letzte Briefe im Widerstand: 125–126

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INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Gedenkstein und Schrift schuf der akademische Bildhauer Karl Oppenrieder. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Im Jahre 1890 wurde die an der westlichen Peripherie Münchens gelegene Gemeinde Neuhausen eingemeindet. Heute bezieht der Stadtteil Neuhausen die Ortsteile Nymphenburg und Gern mit ein. An die Opfer des Widerstands erinnert das Denkmal auf dem im Jahre 1946 umbenannten Platz der Freiheit. Im Jahre 1992 informierte eine von der Landeshauptstadt angeregte Ausstellung mit dem Titel: „Hitler war kein Betriebsunfall! Die ,Hauptstadt der Bewegung´ im Stadtteil Neuhausen“ über diese Zeit. Die Mitglieder der „Geschichtswerkstatt Neuhausen e. V.“ publizierten dazu ein Begleitbuch. Literatur Geschichtswerkstatt Neuhausen e.V. (Hrsg.) (1993): Zum Beispiel Neuhausen 1918–1933. Die nationalsozialistische „Kampfzeit“ in einem ehemaligen Stadtteil der „Hauptstadt der Bewegung“. Buchendorfer Verlag, München Horn, Heinrich / Karl, Willibald (1989): Neuhausen, Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Richard Bauer, Hugendubel Verlag, München Mehringer, Helmut (1985): Bayern in der NS-Zeit, Band 5. München, Wien

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Platz der Opfer des Nationalsozialismus

Denkmal am Platz der Opfer des Nationalsozialismus Foto: A. Olsen

Platz der Opfer des Nationalsozialismus, Maxvorstadt Odeonsplatz U3/U6 und Bus 53 M (1965 und 1985)

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I. Denkmal M (1965) ANLASS UND ENTSTEHUNG Laut Stadtratsbeschluss erfolgte am 9. September 1946 die Benennung des Rondells am Schillerdenkmal an der Brienner Straße in „Platz der Opfer des Nationalsozialismus“. Am 3. November 1964 beantragte die SPD-Fraktion im Stadtrat der Landeshauptstadt München, dort ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus zu errichten. Es konnte am 8. November 1965 vom Münchner Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel enthüllt werden. KURZBESCHREIBUNG Der zweieinhalb Meter hohe Gedenkstein aus Flossenbürger Granit trug die Inschrift: „Den Opfern des Nationalsozialismus“. Dieser Gedenkstein wurde im Jahre 1985 an den Platz der Freiheit (siehe Band 2: Platz der Freiheit) verlagert. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Den Gedenkstein schuf der akademische Bildhauer Karl Oppenrieder. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Nach der Errichtung des Denkmals war eine Gedenkstätte auf dem Gelände des im Jahre 1949/50 abgerissenen Wittelsbacher Palais geplant. II. Denkmal M (1985) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Anträge der Fraktionen der FDP und CSU vom 8. Januar 1980 beziehungsweise vom 31. Januar 1983 im Münchner Stadtrat auf Errichtung eines Denkmals am Platz der Opfer des Nationalsozialismus wurden genehmigt. Oberbürgermeister Georg Kronawitter übergab am 8. November 1985 das Denkmal der Öffentlichkeit.

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KURZBESCHREIBUNG Auf einer Basaltsäule ruht ein aus Stahl geschmiedetes Kerkergitter, in dem eine Gasflamme brennt. Das sechs Meter hohe Denkmal trägt die Inschrift: „Den Opfern der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Der Entwurf des Bildhauers Andreas Sobeck wurde aus hundert eingereichten Arbeiten ausgewählt. „Eine einfache Säule trägt einen zeichenhaften Kerker, in dem ein Feuer brennt. Das Feuer als Zeichen des Lebendigen gegenüber der starren Struktur der Ideologie. Feuer als Fackel der Freiheit – als ewiges Licht des Gedenkens – als Funken der Hoffnung – als Lebenselement, das es zu bewahren gilt.“ Andreas Sobeck (1984) GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Das Denkmal hat einen unmittelbaren Ortsbezug zur ehemaligen Gestapo-Zentrale, die auf dem Gelände der heutigen Bayerischen Landesbank eingerichtet war. Dort stand damals das Wittelsbacher Palais (siehe Band 3: Wittelsbacher Palais), in dem von Herbst 1933 bis Kriegsende die Bayerische Politische Polizei (PolP) und die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ihren Sitz hatten.

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Politische Opfer

Gedenkstätte für politische Opfer auf dem Ostfriedhof Foto: A. Olsen

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Gedenkstätte Ostfriedhof, Gräberfeld 148a, Obergiesing St. Martinstraße S1/S2 M (1958) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die Gedenkstätte wurde laut Stadtratsbeschluss vom 22. April 1958 errichtet. KURZBESCHREIBUNG Die Urnenanlage ist mit einer zweieinhalb Meter hohen, aus dunklem Wölsauer Syenit bestehenden Gedenkstele gekennzeichnet; sie trägt die Inschrift: „Für ihre Überzeugung haben unter der politischen und geistigen Unterdrückung der Jahre 1933–1945 tapfere Frauen und Männer ihr Leben geopfert. Ehre ihrem Andenken.“ Die Stele wurde im Jahre 1997 von der Landeshauptstadt München restauriert. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Diesen Gedenkstein schuf der Bildhauer Konstantin Frick. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Hier befinden sich die Urnen der im Zusammenhang mit dem so genannten „RöhmPutsch“ von Ende Juni bis Anfang Juli 1934 von SS-Offizieren auf Befehl Hitlers ermordeten Konkurrenten und Gegner des Nationalsozialismus.528 Unter ihnen befand sich der im KZ Dachau erschossene Fritz Gerlich (siehe Band 1: Gerlich), Herausgeber der Zeitschrift Der gerade Weg. In Berlin zählten General Kurt Schleicher und dessen Ehefrau zu den Opfern. Die Gesamtzahl der Ermordeten betrug 87 Männer und drei Frauen.529 Diese Morde ließ Hitler per „Gesetz über Maßnahmen zur Staatsnotwehr vom 30. Juli 1934“ für rechtens erklären. Mit diesem Gesetz wurde Hitler zum „obersten Gerichtsherrn des deutschen Volkes“. Die Diktatur war gefestigt, als nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 die Offiziere und Soldaten den Führereid schwören mussten.

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Unter dem Vorwand eines geplanten Putsches ließ Hitler den SA-Chef Ernst Röhm und andere SA-Führer festnehmen und ermorden. Gritschneder, Otto (1993): Der Röhmputsch am 30. Juni 1934. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“: 228

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Literatur Aretin, Otmar von / Cartarius, Ulrich (1994): Opposition gegen Hitler. Bilder, Texte, Dokumente. Sammlung Siedler, Berlin Gritschneder, Otto (1993): „Der Führer hat Sie zum Tode verurteilt ...“. Hitlers „Röhm-Putsch“-Morde vor Gericht. C. H. Beck Verlag, München Gritschneder, Otto (1993): Der „Röhm-Putsch“ am 30. Juni 1934. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 228 Detjen, Marion (1998): „Zum Staatsfeind ernannt ...“ Widerstand, Resistenz und Verweigerung gegen das NSRegime in München. Landeshauptstadt München (Hrsg.). Buchendorfer Verlag, München Richardi, Hans-Günter / Schumann, Kurt (1993): Geheimakte Gerlich / Bell. Röhms Pläne für ein Reich ohne Hitler. Ludwig Verlag, München

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Polnische Kriegsopfer

Grabanlage für polnische Kriegsopfer Foto: A. Olsen

Grabanlage Friedhof Perlacher Forst, Gräberfeld 112, Giesing Stadelheimer Straße 240 Schwanseestraße Tram 27 M (1998) ANLASS UND ENTSTEHUNG Die in Metallsärgen bestatteten polnischen Kriegsgefangenen waren 1947 in der Krypta des Westfriedhofes beigesetzt worden. Nach 50-jähriger Ruhefrist wurde eine Rückfüh-

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rung nach Polen in Erwägung gezogen. Nach einem Stadtratsbeschluss von 1997, die Opfer hier zu bestatten, setzten sich der Volksbund für Kriegsgräberfürsorge, das polnische Konsulat und die Landeshauptstadt München dafür ein, sie auf dem Friedhof Perlacher Forst zu bestatten. Dieser Ort steht im räumlichen Bezug zur Displaced-Persons-Grabanlage (siehe Band 1: Displaced Persons), in der polnische Zwangsarbeiter ihre letzte Ruhestätte haben. Die Einweihung fand im Beisein des polnischen Generalkonsuls Dariusz Laska am 10. Mai 1998 statt. KURZBESCHREIBUNG Auf einer Fläche von 9 m × 4,2 m sind die neun Gräber mit pultförmigen Steinplatten (0,4 m × 0,42 m) gekennzeichnet, in die Namen und Lebensdaten eingraviert wurden. Ergänzt wird die Grabreihe durch eine quadratische Steinplatte mit den Maßen 1,5 m × 1,5 m × 0,35 m. In sie ist das Nationalsymbol Polens eingraviert. Unter dem Adler ist folgende Inschrift in polnischer und deutscher Sprache zu lesen: „Diese Soldaten konnten nicht heimkehren. Heimaterde aus Polen deckt ihr Grab.“ Stanislaw Pilch *30.4.1925 †22.4.1947 Dr. Marian Dembinski *? †1.1947 Marian Wisniewski *1908 †7.1946 Jan Mroczek *10.7.1927 †23.4.1947 Wladyslaw Niezgoda *5.4.1922 †22.4.1947 Zdzislaw Sowa *1921 †8.1946 Wiktor Kubata *1923 †11.1946 Prof. Dr. Wladyslaw Radwanowicz *1891 †7.1947 Tadeusz Szszap *1920 †6.1947 Weitere Recherchen waren zum Zeitpunkt der Bearbeitung (Februar 2003) noch nicht abgeschlossen. INFORMATION ÜBER DEN KÜNSTLER Das Mahnmal hat ein Warschauer Künstler geschaffen.

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Presse

Inschrift auf der Gedenktafel für den „Geraden Weg“, die „Münchner Post“ und die „Münchner Neueste Nachrichten“ Foto: H. Engelbrecht

Inschrift der Gedenktafel für die Süddeutsche Zeitung Foto: H. Engelbrecht

Gedenktafel für Fritz Gerlich Foto: H. Engelbrecht

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I. Gedenktafel Hofstatt Marienplatz U3/U6 und S1-S 8 KURZBESCHREIBUNG An der linken Gebäudewand vor dem Eingang zum Süddeutschen Verlag befindet sich eine Bronzegusstafel (0,75 m × 0,60 m) mit dem Text: „Am 9. und 13. März 1933 wurden Der gerade Weg, Münchner Post, Münchner Neueste Nachrichten zerstört, entmachtet, enteignet.“ II. Gedenktafel „Süddeutsche Zeitung“ KURZBESCHREIBUNG An der linken Gebäudewand vor dem Eingangstor zum Süddeutschen Verlag befindet sich eine weitere Gedenktafel (0,75 m × 0,66 m) mit folgendem Text: „Das freie Wort überlebte: Süddeutsche Zeitung. Durch keine Zensur gefesselt, durch keinen Gewissenszwang geknebelt Nr. 1 vom 6. Oktober 1945. Für Freiheit Wahrheit und Recht.“ Zu I. Gedenktafel „Der gerade Weg“ Fritz Gerlich (siehe Band 1: Gerlich), der gegen die Nationalsozialisten kämpfte, gründete mit finanzieller Unterstützung des Fürsten Erich von Waldsburg zu Zeil die Wochenzeitschrift „Illustrierter Sonntag“. Zum politischen Organ umgestaltet, trug sie den Titel „Der gerade Weg“. Als Redakteur der Zeitschrift nahm Gerlich den Kampf gegen die nationalsozialistischen Machthaber auf, die er als „verbrecherische Hetzer“ und die neue Bewegung als „Pest“ verurteilte. Am 9. März 1933 überfielen die SA-Trupps die Redaktionsräume und zerstörten Archive und Inventar. Fritz Gerlich, der es abgelehnt hatte, zu fliehen, kam in Haft und wurde schwer misshandelt. Er konnte es nicht fassen und rief seinen Peinigern zu: „Mich schlagen! Mich! Einen Gründer der Vaterlandsbewegung.“530 Seit Juni 1933 war er im Ge530

Large, David Clay (1998): Hitlers München: 308

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fängnis München-Stadelheim inhaftiert. Im Zusammenhang mit dem „Röhmputsch“ verschleppten ihn SA-Trupps in das KZ Dachau und ermordeten ihn dort. „Münchner Post“ Die „Münchner Post“ war die Parteizeitung der Münchner SPD, die das Gebäude am Altenheimer Eck 19 (heute 13) am 1. Januar 1890 erworben hatte. Es beherbergte Parteileitung, Druckerei und Verlag. Ab 1910 war Kurt Eisner, der erste bayerische Ministerpräsident in spe, Redakteur bei der „Münchner Post“. In der Weimarer Republik verhielt sich die „Münchner Post“ regierungskonform und vertrat die politischen Interessen der Arbeiterklasse. Die klare Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten führte bereits im November 1923 im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch zur Zerstörung der Druckerei- und Redaktionsräume durch Hitleranhänger. Trotz des erlittenen Unrechts ließen sich die Verantwortlichen dieser Zeitung nicht von ihrer antinationalsozialistischen Haltung abbringen. So konnte man am 6. März 1933 noch in der „Münchner Post“ lesen, sie stehe trotz eines vorausgegangenen Verbots „unerschüttert“ zu ihrer Haltung. Als am Abend des 9. März 1933 auf Befehl des neuen Reichskommissars von Epp SATrupps das Haus überfielen, die Räume demolierten, das Inventar auf die Straße warfen und verbrannten, war Wilhelm Hoegner (siehe Band 1: Hoegner) Augenzeuge dieses Verbrechens.531 Einige Tage später übernahmen die neuen Machthaber das Gebäude der „Münchner Post“ als SA-Heim. Als Entschädigung für das Gebäude der „Münchner Post“, das Eigentum der SPD war, erhielt im Herbst 1947 der Landesverband der SPD Bayern das Schloss Aspenstein am Kochelsee zugesprochen, in dem sich heute die „Georg-von-Vollmar-Akademie“ befindet. „Münchner Neueste Nachrichten“ (MNN) Die während der Revolution von 1848 gegründete Zeitung vertrat eine liberale und aufgeklärte Haltung. Politisch unterstützten die MNN die Käfte der Republik nach Ablösung der Monarchie. Ein programmatischer Wandel folgte aus der Übernahme der Zeitschrift durch Industrielle, Aristokraten und Politiker der Bayerischen Volkspartei. Mit dem 31. Mai 1920 schloss sich die Redaktion der „Dolchstoßlegende“ an, unterstützte politisch rechts gerichtete Kreise und trug damit zur Etablierung des Nationalsozialismus bei. Der politische Leiter der Zeitung Nikolaus Cossmann (1869–1942) war vom jüdischen zum katholischen Bekenntnis konvertiert und galt als fanatischer Nationalist. Fritz Gerlich war bei den MNN Chefredakteur und propagierte bis 1928 antidemokratische und nationalistische Ziele. Obwohl die MNN den Aufstieg der NSDAP zunächst

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Hoegner, Wilhelm (1979): Flucht vor Hitler: 105

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mit getragen hatte, distanzierte sie sich zunehmend Ende der dreißiger Jahre vom sich ausbreitenden Rechtsterror. Am 13. März 1933 verhaftete die Münchner Polizei alle Mitglieder der Redaktion der MNN. Der innenpolitische Redakteur Erwein von Aretin und der Chefredakteur Paul Nikolaus Cossmann blieben bis Mai 1934 im Gefängnis München-Stadelheim in Haft. Cossmann kam in das KZ Theresienstadt, wo er am 19. Oktober 1942 starb. Zu II. Gedenktafel „Süddeutsche Zeitung“ Die erste Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ ging am 6. Oktober 1945 in den Räumen der ehemaligen „Münchner Neuesten Nachrichten“ in Druck. Als Druckplatten wurden die neu eingeschmolzenen Bleiplatten verwendet, mit denen vordem Hitlers Mein Kampf gedruckt wurde. Nun konnte die „Süddeutsche Zeitung“ zunächst zweimal wöchentlich erscheinen.532 Die Auflage für München und Umgebung betrug 300000. Die Herausgeber waren Edmund Goldschagg, Franz Joseph Schöning und August Schwingenstein. Die Zensur oblag dem Kommandeur der amerikanischen Nachrichtenkontrolle, Oberst McMahon. Mit dem Aufbau einer demokratischen Presse im Nachkriegsdeutschland konnte wesentlich zur Demokratisierung beigetragen werden. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG In Bayern eroberten die Nationalsozialisten am 9. März 1933 die Macht. Voraus ging der vergebliche Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held, mit der NSDAP eine Regierungskoalition zu bilden. Vom Reichsinnenminister Wilhelm Frick war Franz Ritter von Epp zum Reichskommissar für Bayern ernannt worden; die Chefposten im Justiz- und Innenministerium wurden an Hans Frank und Adolf Wagner vergeben. Die bestehende Regierung musste am 16. März 1933 zurücktreten. Das Münchner Rathaus besetzte die SA und hisste dort die Hakenkreuzfahne. Der seit 1925 amtierende Oberbürgermeister Karl Scharnagl räumte vier Tage später seinen Platz. Für die deutsche Presse war der Pressechef der NSDAP Otto Dietrich zuständig. Eine zentrale Rolle nahm Max Amann ein, der in Personalunion Präsident der Reichskammer und zudem Leiter des Eher-Verlags war. Damit kontrollierte er auch den in dem Verlag erscheinenden „Völkischen Beobachter“. Diese Zeitung, die im Jahre 1887 unter dem Namen „Münchener Beobachter“ gegründet wurde – war nach NSDAP-Angaben das

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Bauer, Richard et al. (1986): München. Schicksal einer Großstadt: 146

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„Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung“. Dieses Massenblatt diente nach der Machtergreifung – neben Rundfunk und Film – als Zentralorgan der Partei der Medien und verbreitete die offiziellen Verlautbarungen der neuen Machthaber. Die letzte Ausgabe erschien am 30. April 1945. Literatur Aretin, Erwein Freiherr von (1983): Fritz Michael Gerlich. Lebensbild eines Publizisten und christlichen Widerstandskämpfers. München Eiber, Ludwig, (1993): Konzentrationslager Dachau – verfolgte Opposition. In: München – „Hauptstadt der Bewegung. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 245–246 Hess, Herbert (1995): 50 Jahre Süddeutsche Zeitung. Süddeutscher Verlag, München Hess, Herbert (1997): Eine Zeitung entsteht. In: Münchner Nachkriegsjahre. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags. Geschichtswettbewerb 1995/96. Hrsg. v. d. Landeshauptstadt München. Buchendorfer Verlag, München: 141–147 Hoegner, Wilhelm (1979): Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik 1933. Nymphenburger Verlag, München Hoegner, Wilhelm (1979): Die verratene Republik. Deutsche Geschichte 1919–1933. Nymphenburger Verlag, München Large, David Clay (1998): Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung. C. H. Beck Verlag, München Schönhoven, Klaus / Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.) (1998): Frühe Warnungen vor dem Nationalsozialismus. Ein historisches Lesebuch. Dietz Verlag, München Ulbricht, Justus, H. (1993): Völkische Publizistik in München. Verleger, Verlage und Zeitschriften im Vorfeld des Nationalsozialismus. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 131–136 Weidisch, Peter (1993): Der „Völkische Beobachter“. Zentralorgan der NSDAP. In: München – „Hauptstadt der Bewegung“. Ein Projekt des Münchner Stadtmuseums. Klinkhardt & Biermann, München: 139–140 Weyerer, Benedikt (1996): München 1919–1933. Stadtrundgänge zur politischen Geschichte. Buchendorfer Verlag, München

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Probst, Hermann Christoph Armando *6.11.1919 Murnau †22.2.1943 München-Stadelheim „Sollen dem Sendboten des Hasses und des Vernichtungswillens alle Deutschen geopfert werden! ... Hitler und seine Regime muß fallen, damit Deutschland weiter lebt.“ Aus dem Entwurf zum siebten Flugblatt der „Weißen Rose“, das Christoph Probst am 28./ 29. Januar 1943 entworfen hatte.533

Christoph Probst Foto: Süddeutscher Verlag

Gedenktafel im Justizpalast, Prielmayerstraße 3 („Weiße Rose“) Foto: A. Olsen 533

Vieregg, Hildegard (1993): Wächst Gras darüber?: 234

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I. Gedenktafel im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität, II. Stock („Weiße Rose“) Universität U3/U6 M (1946) II. Christoph-Probst-Straße, Freimann M (1947) III. Mahnmal im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität („Weiße Rose“) Universität U3/U6 M u. LMU (1958) IV. Bodendenkmal am Haupteingang der Ludwig-Maximilians-Universität („Weiße Rose“) Universität U3/U6 M (1988) V. Gedenktafel im Justizpalast, Prielmayerstraße 3 („Weiße Rose“) Karlsplatz (Stachus) S1–S8 und Tram 19/20/27 M (1993) VI. Christoph-Probst-Gymnasium Gilching Gilching-Argelsried S5 KM (1992) VII. DenkRaum in der Ludwig-Maximilians-Universität („Weiße Rose“) Universität U3/U6 M u. Weiße Rose Stiftung (1997)

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VIII. Grabmal auf dem Friedhof Perlacher Forst 73/1/18 Schwanseestraße Tram 27 M (1943, 1992) IX. Christoph-Probst-Straße in Murnau am Staffelsee, Oberbayern Murnau (1983) X. Gedenksäule im Staffelsee-Gymnasium Murnau, Oberbayern Murnau (1993)534 XI. Gedenktafel am Ehrenmal der Universität Innsbruck Innsbruck (1985) Zu VI. Christoph-Probst-Gymnasium Gilching Talhofstraße 7, 82205 Gilching ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative der Schulleitung erhielt das Christoph-Probst-Gymnasium am 1. August 1992 diesen Namen. Die Namengebungsfeier fand am 16. Februar 1993 im Beisein der Witwe Herta Siebler-Probst und der beiden Söhne Sebastian und Dr. Michael Probst statt. DENKMAL In der Schulaula steht seit dem 21. November 1994 eine von der Kunsterzieherin Brigitte Renner geschaffene Bronze-Porträtbüste von Christoph Probst. SCHULINTERNE SCHRIFTEN Christoph-Probst-Gymnasium (Hrsg.) (1993): Wir müssen es wagen. Christoph Probst 1919–1943.

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INITIATIVEN Die Gymnasiumsanfänger bekommen am ersten Schultag Informationen über den Namen ihrer Schule; ein Schülervater verteilt weiße Rosen. Außerdem findet jährlich am 27. Januar ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Referate, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen mit prominenten Persönlichkeiten werden organisiert, ebenso Zeitzeugen-Gespräche. Zu IX. Christoph-Probst-Straße in Murnau am Staffelsee Murnau (1983) ANLASS UND ENTSTEHUNG Auf Initiative des Murnauer Bürgers Jakob Thannhuber wurde in der Nähe des heute noch erhaltenen Geburtshauses von Christoph Probst, der „Leitner-Buck-Villa“ an der Kohlgruberstraße 20, eine Straße nach ihm benannt. Zu X. Gedenksäule im Staffelsee-Gymnasium Murnau , Oberbayern Murnau (1993)535 Anlass und Entstehung Die Bildhauerin Renate Deck schuf für Christoph Probst drei Gedenksäulen. Eine dieser Säulen befindet sich im Murnauer Staffelsee-Gymnasium. Ihre Enthüllung fand im Rahmen einer Feier im Beisein der Witwe Herta Siebler-Probst und seinem Sohn Dr. Michael Probst am 2. März 1993 statt. GESCHICHTLICHER HINTERGRUND UND DEUTUNG Christoph Probst wurde am 6. November 1919 als Sohn von Hermann Probst und seiner Frau Ruth (geb. von der Bank) in Murnau geboren. Sein Vater war Privatgelehrter, der sich mit Philosophie und Religionen des Orients beschäftigte. Zusammen mit seiner älteren Schwester Angelika (*7. April 1918 in München) erhielt er von seiner Mutter bis zum Eintritt ins Gymnasium Unterricht. Die Geschwister waren nicht getauft worden, da sie nach Ansicht ihres Vaters darüber selbst entscheiden sollten. Der Vater vermittelte den beiden Kindern Angelika und Christoph, genannt Christel, beim Wandern das Verständnis 535

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für die Natur und brachte ihnen Mystik und Philosophie nahe. Während seiner Gymnasialzeit in München lernte Christoph Alexander Schmorell kennen, mit dem ihm eine „unzerreißbare“ Freundschaft verband. Von seinen Lehrern wurde er, in einem Gutachten zum Reifezeugnis, das er 17-jährig erhielt, wie folgt charakterisiert: „... Die Erwachsenen schätzten vom ersten Tage an sein vornehmes Wesen, während manche Kameraden erst später die Vorzüge seiner geistig ausgeprägten, gelegentlich lehrhaften, doch stets bescheidenen Art erkannten und anerkannten ... Mit echter geistiger Lebendigkeit nahm er im Gespräch wie im Unterricht an allen Fragen der Wissenschaft und des Lebens verständigen Anteil und überraschte uns oft durch sein selbständiges und reifes Urteil. Seine besondere Neigung gehörte den Naturwissenschaften, vor allem der Astronomie; hier verstand er sich auf eigene Faust systematisch fortzubilden.“536 Nach der Scheidung der Eltern und der Wiederverheiratung des Vaters schloss sich Probst noch mehr seiner Schwester Angelika an, mit der er in einem Landschulheim in Schondorf am Ammersee aufwuchs. Vor dem Beginn des Medizinstudiums leistete er seinen Arbeitsund Wehrdienst. Sein besonderes Interesse galt neben den Naturwissenschaften der Literatur und Musik. Die Meinung über die „existentielle Bedeutung“ dieser Interessen beschrieb er in einem Brief an seinen Halbbruder so: „... daß gerade der geistige Mensch mehr ertragen kann, da er – wenn er physisch behindert ist und leidet – gerade ja das Reich des Geistes besitzt, in dem er noch voll leben kann.“537 Christoph Probst begann ab dem Sommersemester 1939 mit dem Studium der Medizin in München und lernte dabei Hans Scholl und später Sophie Scholl (siehe Band 3: Scholl) kennen. Er nahm im Atelier des Architekten Eickemeyer an den literarischen Abenden teil, schloss sich den Aktionen der „Weißen Rose“ an und half beim Vervielfältigen und Verteilen der Flugblätter. Im Alter von 21 Jahren heiratete er Herta Dohrn, die Tochter des regimekritischen Privatgelehrten Harald Dohrn (siehe Band 1: Dohrn), mit der er drei Kinder hatte. Wegen seiner familiären Verpflichtungen sollte er nicht in gefährliche Aktionen der „Weißen Rose“ verwickelt werden. Während seine übrigen Freunde zur Famulaturzeit nach Russland geschickt wurden, diente er in einem Luftwaffenlazarett am Eibsee bei Garmisch-Partenkirchen und in Innsbruck. Von dort aus konnte er seine Familie besuchen, die in Lermoos in Tirol wohnte. An den Aktionen der „Weißen Rose“ wirkte er weiter mit und bekam von Hans Scholl die Anregung, ein neues Flugblatt (das siebte) zu verfassen. Februar 1943 Nach der Verhaftung der Geschwister Scholl fand die Gestapo dieses von Christoph Probst verfasste siebte Flugblatt bei Hans Scholl. Die Gestapo konnte den Verfasser er536 537

Schmorell, Erich (1994): Ansprache zur Feier der Enthüllung der Büste von Christoph Probst: 15–16 Der deutsche Widerstand. Informationen zur politischen Bildung (1987) Nr. 160: 21

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mitteln. Seine Verhaftung erfolgte am 20. Februar, als er einen Urlaubsschein zum Besuch seiner Frau holen wollte, die gerade ihr drittes Kind geboren hatte. Zusammen mit Hans und Sophie Scholl wurde er am 22. Februar 1943 zum Tode verurteilt und am gleichen Tag in München-Stadelheim mit dem Fallbeil hingerichtet. Im Angesicht des Todes hatte er sich noch taufen lassen. Im Abschiedsbrief an seine Schwester hieß es: „Vergiß nicht, daß das Leben nichts anderes ist als das Wachsen in der Liebe und eine Vorbereitung auf die Ewigkeit.“538 Ehrungen Anfang November findet ein jährlicher Gedenktag für die Mitglieder der „Weißen Rose“ in der Ludwig-Maximilians-Universität München statt. Filme 1980 Rückkehr nach Murnau. Regie Pierre Guy. 1982 Die weiße Rose. Regie Michael Verhoeven. 1982 Die letzten fünf Tage. Regie Percy Adlon Literatur Breyvogel, Wilfried (1991): Die Gruppe „Weiße Rose“. Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte und kritische Rekonstruktion. In: Breyvogel, Wilfried (Hrsg.) (1991): Piraten, Swings und Junge Garde. Jugendwiderstand im Nationalsozialismus. Bonn: 159–200 Dohrn, Klaus (1983): Von Bürgern und Weltbürgern. Eine Familiengeschichte. Verlag Günther Nerke, Pfullingen: 256–259 Drobitsch, Klaus / Fischer, Gerhard (Hrsg.) (1980): Ihr Gewissen gebot es. Christen im Widerstand gegen den Hitlerfaschismus. Berlin Haberl, Gerhard (1993): Christoph Probst und die „Weiße Rose“. In: Jahresbericht 1992/93 des Staffelsee Gymnasiums Murnau: 6-10 Hamm-Brücher, Hildegard (1997): „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit“. Die „Weiße Rose“ und unsere Zeit. Aufbau Verlag, Berlin Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch sammeln. Bilder deutscher Widerstandskämpfer. Hrsg. v. Wolfgang Matthias Schwiedrzik. Leipziger Universitäts Verlag, Leipzig Der deutsche Widerstand 1933–1945. Information für politische Bildung (1987) Nr. 160. Hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, Franzis-Verlag, München: 18–21 Jens, Inge (Hrsg.) (1984): Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M.: 298 Knoop-Graf, Anneliese (1993): Literatur zur „Weißen Rose“. Beiträge zur Spurensicherung des Jugendwiderstands. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (1982/83) Nr. 14: 323–327

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Huch, Ricarda (1998): In einem Gedenkbuch sammeln ...: 113

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Maier, Hans (1988): Christlicher Widerstand im Dritten Reich. Gedächtnisvorlesung „Weiße Rose“. In: Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität 1986/88. München: 108–116 Probst, Michael (1984): Zuversicht und Klarheit. Der Widerstand der „Weißen Rose“. In: Deutscher Katholikentag München 4.–8. Juli 1984: Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt: 347–358 Schmorell, Erich (1994): Ansprache zur Feier der Enthüllung der Büste von Christoph Probst. In: ChristophProbst-Gymnasium, Jahresbericht 1994/95: 15–21 Scholl, Inge (1993): Die Weiße Rose. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Siefken, Hinrich (Hrsg.) (1991): Die „Weiße Rose“. Student Resistance to National Socialism 1942/43. Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte, University of Nottingham. Nottingham Siefken, Hinrich (1993): Die „Weiße Rose“ und ihre Flugblätter. Dokumente, Texte, Lebensbilder, Erläuterungen. Manchester University Press, Manchester, New York Steinbach, Peter (1993): Der Widerstand gegen die Diktatur. Hauptgruppen und Grundzüge der Systemopposition. In: Bracher, K. D. / Funke, M. / Jacobson, H. A. (Hrsg.) (1993): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Hrsg. v. d. Bundeszentrale f. politische Bildung, Bonn, Band 314. Graphischer Großbetrieb Pößneck (Thüringen): 452–473 Weiße Rose ZS/A 26/4. In: IfZ-Archiv München: 100–107

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