mit einer Art von Leidenschaft geliebt

January 15, 2018 | Author: Anonymous | Category: Geschichte, Weltgeschichte, Mittelalter
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„… mit einer Art von Leidenschaft geliebt“ Theater in Altbayern, Franken und Schwaben in der Frühen Neuzeit

Manfred Knedlik

Haus der Bayerischen Geschichte

Bildnachweis Staatliche Bibliothek Ansbach S. 46 l. u.; Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg, Foto G. Voithenberg S. 24, 32 u.; Studio Buchroth, Augsburg S. 27; Universitätsbibliothek Augsburg S. 30, S. 58 r.; Historisches Museum Bayreuth S. 44; Universitätsbibliothek Bayreuth S. 43, Titelei; Landesbibliothek Coburg S. 39 u.; Stadtarchiv Coburg S. 41 o.; Studienbibliothek Dillingen S. 29; Stadtarchiv Erlangen S. 46; Stadtarchiv Kaufbeuren S. 12; Staatliches Hochbauamt Kempten (Allgäu) S. 31 o.; Universität zu Köln, Theaterwissenschaftliche Sammlung S. 51 r.; Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen U 1, S. 16 l., 45; Bayerisches Nationalmuseum, München S. 28, 50 u.; Deutsches Theatermuseum, München S. 10, 35–36, 38., 46 u. r., 55; Marcus Schlaf, München S. 6; Münchner Stadtmuseum, Sammlung Graphik und Gemälde, MI/638/3 S. 37; Sammlung Bäuml, Marstallmuseum, Schloss Nymphenburg, Foto: Marianne Franke, München S. 17, 18 l.; Staatliche Bibliothek Amberg S. 11; Stadtarchiv München S. 31; Staatliche Bibliothek Neuburg an der Donau S. 33; Museen der Stadt Nürnberg, Grafische Sammlung S. 9, 18 o. (Foto: Richard Krauss), 22 o., 56; Stadtbibliothek Nürnberg S. 5, 21, 50 o., U 4; Stadtarchiv Passau, Foto: Rudolf Schneider, Passau S. 48 r. o., 48 u.; Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek und Zentralarchiv, Regensburg S. 40, 51 u., 52–54, 58 o.; Museen der Stadt Regensburg – Historisches Museum S. 39, 57; Staatliche Bibliothek Regensburg S. 23, 29 r.; Universitätsbibliothek Regensburg S. 32 o.; Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Schweinfurt, St. Johannis S. 15; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 105 Eth. (1) S. 19; Stadtarchiv Würzburg S. 22, 59; Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, Bd. 2, S. 357 und 431 S. 16 r., 47; Sammlung Eckhard Bernstein S. 7–8

Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 33 Herausgegeben vom Haus der Bayerischen Geschichte © 2005 Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg www.hdbg.de Redaktion: Evamaria Brockhoff, Michael Herdick Bildredaktion: Michael Herdick, Manfred Knedlik Gestaltung und Produktion: Wolfgang Felber, Ottobrunn Umschlaggestaltung: Wolfgang Felber, Abb.: Markgräfliches Opernhaus Bayreuth Druck und Bindung: Aumüller Druck KG, Regensburg Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 3-937974-06-7 Gedruckt auf umweltschonend hergestelltem Papier „Symbol Freelife Satin“ von Fedrigoni Deutschland GmbH, Unterhaching

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Inhalt Vorwort

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Einführung

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Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten Fastnachtspiele in Nürnberg Das Theater der Meistersinger Lateinisches und deutsches Schultheater

7 7 9 13

Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert Commedia dell’arte Die englische Komödianten Deutsche Wandertruppen

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Sinnliche Glaubensinszenierung – die Oster- und Passionsspiele

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Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater Das Jesuitentheater Das Theater der Prälatenorden

26 26 30

Zwischen Präsentation und Repräsentation – das höfische Theater München Regensburg Coburg Bayreuth – Erlangen Ansbach Die geistlichen Residenzen: Würzburg – Bamberg – Passau

34 35 39 41 42 45 47

Von der Wanderbühne zum stehenden Theater Zwischen Kunst und Kommerz – Bühnenpraxis im 18. Jahrhundert Die Gründung von Hof- und Nationaltheatern Bürgertheater

49 49 53 56

Glossar

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Ausgewählte Literatur

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Vorwort

Vorwort Betrachtet man – gerade in der sommerlichen Festival-Zeit – die Theaterszene in Bayern,so begegnet man einer Vielfalt,die so gut wie alle Spielgattungen umfasst. Klassisches Schauspiel, Oper und Operette, Musical, Volkstheater, Szenisches und Konzertantes. An verschiedensten Orten werden die Bretter aufgeschlagen, die die Welt bedeuten: draußen und drinnen, im Steinbruch und im Hofgarten, auf der Seebühne und im Stadttheater, in der „Comödihüttn“ und im Nationaltheater, im Weihefestpielhaus und im Wirtshaus. Es spielen professionelle Schauspieler und Laien, es treten Stars und Hobbyschauspieler auf, feste Ensembles und zusammengewürfelte Truppen. Es werden alte Traditionen wiederbelebt, es wird Neues geboten, man ist international und man ist bayerisch – oder beides zugleich: von Ludwig 2 bis Parzival, vom Schmied von Kochel bis König David, von Agnes Bernauer bis Aida, von Winnetou bis Falco. Dass dieses lebendige Theaterleben eine lange Tradition hat und sich aus vielfältigen Quellen speist, zeigt Manfred Knedlik mit seinem ebenso detailreichen wie umfassenden Blick in das Theaterwesen der Frühen Neuzeit. Ausgehend von den geistlichen Spielen der Mittelalters, die mit den zahlreich aufgeführten Passionsdramen bis in unsere Zeit reichen, wird in diesem Heft das Faszinosum der Bühne in ihren verschiedensten Ausprägungen ausgebreitet: vom Meisterspiel mit dem Zentrum Nürnberg über das bildungspolitisch akzentuierte Schul- und Jesuitentheater, von den Wanderschauspielern bis zum stehenden Theater, vom Hoftheater, das an den Fürstenhöfen seinen Glanz entwickeln konnte, bis zum bürgerlichen Theater in den Städten und schließlich zu den „National-Bühnen“ der Aufklärung, die schließlich in die Kultur des Theaters unserer Gegenwart führen als gesellschaftlich relevante Institution, als Stätte des „prodesse et delectare“. Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern, dass sie in dieser „Kleinen Theatergeschichte Bayerns von 1500 bis 1800“, in dieser Buntheit des Spielens und Darstellens Bekanntes und Unbekanntes entdecken und sich bei der Lektüre von der Faszination der Bühne berühren lassen. Evamaria Brockhoff

Einführung

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Einführung Der „Schauspielhunger der Baiern“, den der katholische Aufklärer Johann Pezzl in seiner Reise durch den Baierischen Kreis (1784) – durchaus mit kritischem Unterton – beschrieb, bildet ein kulturelles Phänomen, das in einer kaum überschaubaren Fülle an schriftlichen und ikonografischen Zeugnissen dokumentiert ist. Ein geistig-künstlerischer Brennpunkt waren die Haupt- und Residenzstädte, wo dramatische, musikalische und tänzerische Aufführungen entscheidende Akzente setzten. Im Spannungsfeld höfischer Repräsentations- und Vergnügungsinteressen mochte sich – wie in München oder Bayreuth – gar eine Theaterkultur von europäischer Geltung entwickeln. Auch im soziokulturellen Gefüge mittlerer und kleiner Städte besaß das Theater große Relevanz, sei es als Ort politischer Selbstinszenierung, als Forum oppositioneller Meinungsäußerung oder als gesellige Institution. Und schließlich fanden theatrale Darbietungsformen auch in Klöstern und Kollegien einen fruchtbaren Boden, wobei die geistlichen Theatermacher die Möglichkeiten des kommunikativen Mediums insbesondere für ihre gesellschafts- und bildungspolitischen Zielsetzungen zu nutzen wussten. Über gattungsspezifische und ästhetische Entwicklungen hinaus hat eine Geschichte des Theaters mithin die spezifischen Wirkungsinteressen und Gebrauchsfunktionen der Bühnenkunst in den Blick zu nehmen, die vielfältigen Beziehungen zwischen Kunst, Bühne und Leben zu beleuchten, um dem kulturellen Gegenstand Kontur und Profil zu verleihen. Die facettenreiche Theaterkultur, die sich in der Frühen Neuzeit, also etwa zwischen 1500 und 1800, im Gebiet des heutigen Freistaats Bayern ausbildete, hat bislang keine übergreifende Darstellung gefunden – wenig verwunderlich, wenn man sich die Menge der Archiv- und Bibliotheksbestände vergegenwärtigt, die erschlossen, gesichtet und systematisch ausgewertet werden müssen. Natürlich

Die Ursprünge des berühmten Nürnberger Schembartlaufs, eines fastnächtlichen Umzugs der Fleischer und Messerschmiede von schlechthin theatralem Charakter, reichen in die Mitte des 15. Jahrhunderts zurück. Ab 1475 zogen die Schembartläufer die so genannte „Hölle“ durch die Gassen der Reichsstadt, ein Gefährt auf Schlittenkufen, mit dessen Symbolik sie ihre Kritik an den gesellschaftlichen und religiösen Zuständen zum Ausdruck brachten. Als 1539 der lutherische Prediger Andreas Osiander zum Opfer ihres Spotts wurde, verboten die städtischen Behörden das närrische Treiben.

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Einführung

Die „Münchner Morisken“, eine an der Münchner Technischen Universität entstandene Tanztruppe, begeistert mit ihren historisch exakten „Nachbildungen“ der berühmten Figuren von Erasmus Grasser. So sprunggewaltig und ausdrucksstark wie hier beim Trachten- und Schützenzug anlässlich des Münchner Oktoberfestes im Jahr 2003 beeindrucken Gaukler und Tänzer ihr Publikum seit Jahrhunderten.

sind Vorarbeiten auf einzelnen Gebieten geleistet. So liegen etwa zum Jesuitentheater profunde Untersuchungen vor; Detailstudien haben einzelne Genres wie die Oper oder einzelne, besonders prominente Institutionen wie das Münchner Hof- und Nationaltheater ins Blickfeld gerückt; Dokumentationen in orts- und regionalgeschichtlichen Darstellungen erschließen kulturelle Entwicklungen, wie sie sich im lokalen Raum präsentieren – jedoch fehlt eine Zusammenschau, die Vernetzungen, Traditionen und Brüche sichtbar macht. Eine durchgängige Geschichte des Theaters in Altbayern, Franken und Schwaben ist auch in diesem Rahmen nicht zu leisten. In einer Folge synchroner Skizzen – die weitgehend von der Chronologie bestimmt ist – können Vielfalt und Vielschichtigkeit der historischen Spiellandschaften nur exemplarisch, mit gezielter Schwerpunktbildung dargeboten werden. Eine Theatergeschichte für Bayern – dies kann und soll keinesfalls zu einer „lokalpatriotischen“ Blickverengung führen. Die lokale Bühnenkunst steht in Beziehung zu größeren Kulturräumen. Stets ist sie, so singulär ihr Erscheinungsbild auch wirken mag, in einen deutschen, in einen europäischen Kontext eingebunden; am deutlichsten manifestiert sich das an den italienischen, englischen, holländischen und französischen Wandertruppen, die als Importeure der großen Bühnenwelt in die süddeutschen Reichsstädte kamen. Als Ort öffentlicher Kommunikation, gleichsam als geistiger Schau-Raum, tritt das Theater im Gemeinwesen in Erscheinung. In ihm spiegeln sich – in brisanter Aktualität – politische, gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse, Entwicklungen und Strukturen wider, die umgekehrt die spezifischen Ausdrucksformen der theatralen Kunst bestimmen. Eine Geschichte des Theaters hat mithin auch die kultur-, sozial- und ideengeschichtlichen Horizonte zu erschließen, um den Blick für das unverwechselbare Profil einer institutionalisierten Kunstübung zu schärfen, die – um mit Goethe zu sprechen – „in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung“ ausschreitet.

Fastnachtspiele in Nürnberg

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Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten Fastnachtspiele in Nürnberg Eingebunden in den Festkalender des ganzen Jahres, entwickelte sich das Fastnachtspiel aus den „Mummereien“, jenen karnevalesken Spielformen, die der städtischen Gemeinschaft die Inszenierung der verkehrten Welt ermöglichten. In lärmenden Aufzügen und Prozessionen führten die unterschiedlichsten Schausteller, Tänzer und Musikanten Szenarien des ungezügelten Begehrens und Genusses, der sittlichen Entgrenzung und der manifesten Gewalt vor. Die demonstrative Unordnung, die das karnevaleske Fest prägte, machte die Brüche und Spannungen der Gesellschaft sichtbar. Im spielerischen Vollzug von Situationen, die als bedrohlich für die städtische Kommunität anzusehen waren, ließen sich diese Gefahren zugleich aber auch ausgleichen und überwinden. Die öffentliche Inszenierung, das praktische Ausleben des Niedrigen, Hässlichen und Bösen bot, somit die Möglichkeit, die Bedrohungen lachend zu bewältigen. Die Triebwelt des Menschen, das Wechselspiel von Sexualität und Gewalt, ist das zentrale Thema der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts, die in reicher Zahl überliefert sind. Charakteristisch ist das unmittelbare Vergnügen an Spott und derber Komik, die Fäkalisches und Obszönes nicht scheut. Zum Inbegriff der Rohheit, Triebhaftigkeit und Lasterhaftigkeit avancierte die Figur des Bauern, sodass Fastnachtspiel und Bauernspiel beinahe synonym gesetzt werden können. Dem städtischen Publikum wurde mit dem ländlichen Tölpel eine Kontrastgestalt präsentiert, die der Selbstverständigung über bürgerliche Wertmaßstäbe diente. Unter den mehr als 100 Fastnachtspielen gab es freilich auch etliche Stücke, die (zeit-)politische, kirchenkritische und soziale Fragen behandelten: Des Turken vasnachtspil, Vom babst, cardinal und von bischoffen. Die Texte sind fast ausnahmslos anonym überliefert, lediglich zwei Namen von Handwerkerdichtern verbinden sich mit der frühen Spieltradition: Hans Rosenplüt (um 1400 bis 1460), der als Rotschmied und Büchsenmeister seit 1426 das Bürgerrecht der Reichsstadt hatte und dem mehr als 50 Fastnachtspiele zugeschrieben werden; sodann Hans Folz (1435/40 –1513), Wundarzt und Drucker, der seit den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts mindestens zwölf Spieltexte schuf. Die Einbindung in die Festkultur der Fastnachtzeit bestimmte auch die Aufführungspraxis. Eine Truppe von Laienschauspielern, zumeist Handwerksgesellen,zog am Abend von Haus zu Haus und trat vor allem in Gasthöfen auf. Ein Herold, der „praecursor“, kündigte die Rotte an und eröffnete das kurze Spiel (100–300 Verse) – auf einer durch Beiseiterücken von Stühlen und Bänken rasch improvisierten Bühne – mit einem Prolog. Oft endete die Darbietung im allgemeinen Zutrinken von Schauspielern und Publikum, die so gemeinsam die karnevaleske Festfreude teilten. In der Frühzeit dominierten die Reihenspiele, die nacheinander verschiedene Figuren – Repräsentanten eines Lasters, einer Narrheit und so fort – auftreten

Holzschnitt zum Fastnachtspiel Das Narren schneyden (1536/37) von Hans Sachs. Bei den Aufführungen wurden die Narrheiten, die der großsprecherische Arzt unter dem Gelächter des Publikums aus dem Bauch seines Patienten herauszog, mit Puppen dargestellt.

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Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten

Unerschöpfliches Thema für Hans Sachs war die Ehe mit ihren täglichen Reibereien. Der Titelholzschnitt zu seinem Fastnachtspiel Der bös Rauch (1551), der wohl auch die Bühnenwirklichkeit beschwört, zeigt eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau.

und sprechen ließen, ohne ein differenziertes Spielgeschehen, wie im späteren Handlungsspiel, zu entwickeln: So mochten zwölf Bauern darüber berichten, wie es ihnen bei der Buhlschaft ergangen war, oder zehn Schöffen schlugen nacheinander drakonische Strafen für einen Mann vor, der seinen ehelichen Pflichten nicht nachkam. Mit dem Schuhmacher Hans Sachs (1494–1576) griff einer der vielseitigsten und produktivsten Autoren des 16. Jahrhunderts die literarische Tradition seiner Vaterstadt auf, doch gelangte er in Form und Inhalt weit über das Nürnberger Fastnachtspiel herkömmlicher Prägung hinaus. Nach frühen Reihen- und Gesprächsspielen (Das Hoffgesindt Veneris, 1517) entwickelte er dramaturgisch gelungene Handlungsspiele, die eine auf einen Konflikt konzentrierte, differenziert motivierte und zielstrebig auf den dramatischen Höhepunkt zustrebende Aktion entwerfen. Inhaltlich verzichtete er weitgehend auf die unmittelbare Demonstration vitaler Funktionen, auf Gewaltfantasien sowie auf obszöne und unflätige Beschimpfungen. Vorherrschend war nun der satirische Blick auf die Alltagswirklichkeit, auf menschliche Schwächen. Zwar markieren Motive und Figuren aus der Überlieferung des Fastnachtspiels die Szene: der Streit zwischen Mann und Frau, die Männerschelte, die zänkische oder ehebrecherische Frau, der Bauerntölpel, der schwangere Mann, der buhlerische Pfaffe – neu aber war bei Hans Sachs das lehrhafte und versöhnliche Element, das vor allem in den Schlusswendungen deutlich wird. Auf sein didaktisches Anliegen wies der Handwerkerpoet in der Vorrede zu seiner Gesamtausgabe von 1558 hin, wenn er dort erklärte, die Fastnachtspiele seien „nützlich zu lesen, weil fast yedes stück mit einer angehenckten lehr beschlossen“ sei. Natürlich sollten die Stücke auch unterhalten oder, mit den Worten von Hans Sachs, die „schwermütigen hertzen zu freuden ermundern“. Eine gelungene Synthese zwischen Belehrung und Kurzweil bildet das bühnenwirksame Spiel Das Narren schneyden (1536/37), das übrigens Goethe 1777 auf der Weimarer Hofbühne inszenieren ließ: In einem chirurgischen Eingriff zieht der Arzt aus dem Bauch eines Patienten personifizierte Narrheiten heraus, die für den Zuschauer des 16. Jahrhunderts leicht als die sieben Todsünden zu erkennen waren. Immer wieder ist in den Fastnachtspielen das Bemühen zu erkennen, dem Publikum kulturelle Wertorientierung zu vermitteln. Der Entwurf einer stadtbürgerlichen Ethik, die dem inneren Frieden und dem gemeinen Nutzen der urbanen Gesellschaft dienen sollte, bestimmte Stücke wie Der unersetlich geitzhunger (1551), Der gstolen pachen [Schinken] (1552) oder Der kremerskorb (1554). Konfliktlösungen in den Lebensbereichen Ehe und Familie bot der Dichter in seinen Spielen Das heiß eysen und Das Kelberbruten (1551) an, wenn er dort die Bereitschaft zu Nachsicht und Versöhnung beschwor. Als Dramatiker und als Spielleiter einer eigenen Truppe prägte Hans Sachs die reichsstädtische Theaterkultur. Hatte er seine Stücke anfangs noch – im Anschluss an die ältere Tradition – in Privat- und Wirtshäusern inszeniert, so fand er später in der säkularisierten Marthakirche, von 1556 an im ehemaligen Predigerkloster einen festen Spielort. Nicht selten stand er selbst mit dem kleinen Ensemble auf der Bühne.

Das Theater der Meistersinger

Dabei stellte er nach eigenem Zeugnis seine mimische Verwandlungsfähigkeit in 16 Fastnachtspielen unter anderem als Zigeuner, Bauer, Heuchler, Knecht, Henker und Teufel unter Beweis. Stadtbürgerliche Wertmaßstäbe prägten auch die Fastnachtspiele des Kornschreibers Peter Probst (gest. 1576). So behandelte er in dem Stück Von zwaierlai Elltern Fragen der rechten Erziehung, die soziale und moralische Regeln vermitteln müsse, um ein friedliches Miteinander in Familie und Gesellschaft zu gewährleisten. Formal knüpfte Probst, der auch als Verfasser von Meisterliedern und Spruchgedichten an die Öffentlichkeit trat, weitgehend an die Spieltradition des 15. Jahrhunderts an. Zukunftsweisende Veränderungen brachten hingegen die 36 (überlieferten) Fastnachtspiele des Prokurators und kaiserlichen Notars Jakob Ayrer (1544–1605), die im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts entstanden. Unter dem Einfluss von Gastspielen englischer Komödianten in der Reichsstadt führte Ayrer die Figur des witzigen Possenreißers, der bei den Wandertruppen als „Jan Bousset“ oder „Jan Bouchet“ auftrat, in seine Stücke ein. Deutlich sichtbar ist dieser Bezug in Werken wie dem Fassnachtspil der verlohrn engellendisch Jahn Posset, wo das althergebrachte Motiv vom listigen Ehebruch mit Formen der zeitgenössischen englischen Komödie verknüpft wird. Neu ist ferner der zunehmende Gebrauch musikalischer Einlagen im Spiel, der das herkömmliche Fastnachtspiel an die Gattung des Singspiels heranführte. Mit dem dramatischen Werk Ayrers, das posthum in dem Sammelband Opus theatricum (1618) erschien, vollzog sich der Anschluss des karnevalesken Spiels an die europäische Theaterentwicklung des 16. und 17. Jahrhunderts.

Das Theater der Meistersinger Die rhetorisch-ästhetischen Kunstübungen, die von Meistersingergesellschaften seit dem Spätmittelalter in zahlreichen süddeutschen Reichsstädten gepflegt wurden, stellten eine ganz wesentliche Bereicherung urbaner Kultur dar. Bei den Meistersingern handelte es sich vorwiegend um Handwerker, vereinzelt schlossen sich auch Mitglieder der gelehrten Bildungsschicht den Singbruderschaften an. Neben dem Dichten und – seltener – Komponieren von Meisterliedern, die nach strengen Kunstregeln („Tabulaturen“) verfasst und in öffentlichen Wettbewerben, den Singschulen, vorgetragen wurden, widmeten sich die Meistersinger auch der Aufführung von Theaterstücken. Frühe Gesellschaften sind in Augsburg sowie in Nürnberg bezeugt, wo der Wundarzt und Drucker Hans Folz (1435/40–1513) für einen kräftigen Aufschwung sorgte. Mit Hans Sachs erlebte die Meisterkunst dann im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt. In dichter Folge organisierten sich Meistersingergesellschaften, unter anderem in Nördlingen

Hans Sachs (1494–1576), Lithografie von Lovis Corinth.

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10 Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten Rekonstruktionsmodell der Meistersingerbühne durch Albert Köster (1862–1924). Gezeigt wird eine Szene im Palast von Konstantinopel aus der Komödie Julianus im Bade von Hans Sachs. Als Bühne diente ein einfaches Podium, hinten und seitlich durch Vorhänge abgeschlossen, illusionsschaffende Dekorationen fehlten.

(1506), München (1514), Donauwörth (nach 1517) und schließlich in Memmingen (1600); in Augsburg erfolgte 1534 eine Wiederbegründung, nachdem die Aktivitäten einer älteren Bruderschaft 1518 geendet hatten. Der rege Spielbetrieb, der sich in vielen Städten neben den Singschulen entwickelte, war wohl nicht zuletzt durch das Bemühen um finanzielle Zuwendungen und Einnahmen veranlasst, hatten die Meistersinger doch mancherorts über das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit an ihren Liedpräsentationen zu klagen. Bisweilen litt die altüberkommene Sing- und Dichtpraxis derartig unter der Theaterbegeisterung, dass konservative Mitglieder – wie etwa 1575 in Augsburg – warnend ihre Stimme erhoben. Gleichwohl scheinen die Gesellschaften, zumindest im 16. Jahrhundert, die theatralischen „Actionen“ als gemeinschaftliche Aufgabe betrachtet zu haben. So sind die Spielgesuche, die man in Augsburg oder Memmingen an den Rat der Stadt richtete, zum großen Teil von „ainer gantzen Gesellschaft der Meistersinger allhie“ unterschrieben. In Nürnberg dürften sich um 1600 mehrere Spielgemeinschaften auf die Initiative einzelner Meister hin ausgebildet haben, die im Wettbewerb um die Gunst der städtischen Obrigkeit standen. Dank der überragenden Gestalt des Hans Sachs gelangte die Meistersingerbühne in Nürnberg zu unerreichter Höhe. Zu den 85 Fastnachtspielen kam eine Vielzahl von Dramen, 70 „comedis“ und 58 „tragedis“, entstanden zumeist zwischen 1550 und 1560, als Sachs mit einer eigenen Truppe in der seit der Reformation säkularisierten Marthakirche und später im Predigerkloster einen festen Spielort gefunden hatte. Als unerschöpfliche Quelle für sein dramatisches Schaffen erwiesen sich biblische Geschichten, vornehmlich aus dem Alten Testament. Zugleich aber erweiterte er das traditionelle Stoffrepertoire, wenn er spätmittelalterliche Erzählungen aus den Volksbüchern (Fortunatus, 1553; Die schöne Magelone, 1555), Boccaccios Decamerone, die antike Tragödie ( Jocaste, 1550; Clitemnestra, 1554), die römische Historie nach den Gesta Romanorum oder die griechische Mythologie zur Vorlage seiner Theaterstücke nahm. Die Ausstrahlungskraft des Hans Sachs reichte weit über Nürnberg hinaus. So brachten die Meistersingergesellschaften in Augsburg, Memmingen und Nördlingen seine Dramen, unter anderem die Comedi vom jungsten Gericht, mit großem Erfolg auf die Bühne; in Augsburg suchten so „vile ansehnliche Persohnen“, wie es in einem Spielgesuch von 1567 heißt, um eine nochmalige Aufführung des heilsgeschichtlichen Spiels nach, dass man sich zu einer großräumigen Inszenierung im Freien entschloss. In der Reichsstadt am Lech wirkte mit dem Schneidermeister und Lehrer Leonhard Sebastian Wild (gest. 1583) zudem ein Meistersinger, der sich selbst als Dramatiker zu profilieren vermochte. Sein Weihnachtsspiel (gedruckt 1566) beherrschte mehr als ein Jahrzehnt lang die Bühne im Tanzhaus; sein Passionsspiel, die Tragoedi von dem Leyden unnd Sterben,

Das Theater der Meistersinger

auch Aufferstehung unsers Herren Jesu Christi (1565 erstmals aufgeführt), bildete eine der wichtigsten Textvorlagen für das Oberammergauer Passionsspiel von 1662. Im Jahr 1566 ließ Wild eine Sammlung von zwölf Comedien und Tragedien im Druck erscheinen, mit Stoffen aus der Heiligen Schrift und der Literatur des Spätmittelalters, wie sie die Volksbücher vermittelten (Die schöne Magelone, Die sieben weisen Meister, Kaiser Octavian). Die öffentlichen Aufführungen bedurften allerorten der Genehmigung durch den Rat der Stadt, der im Interesse an Ruhe und Ordnung reglementierend in die Spielpraxis eingriff. So fielen brisante Texte, die innerstädtische Konflikte produzieren und das „gemeine Wohl“ gefährden konnten, der Zensur zum Opfer; zu unterlassen waren auch blutrünstige Szenen wie die Enthauptung Johannes des Täufers auf offener Bühne, die bei „schwangeren Weibern und andern“ Anstoß erregen mochten. Weiterhin durfte die festgelegte Spielzeit – in Nürnberg zwischen dem 2. Februar (Mariä Lichtmess) und dem ersten Fastensonntag (Invokavit) bzw. dem Weißen Sonntag – bei Androhung der Inhaftierung nicht überschritten werden. Im Unterschied zum neuzeitlichen Illusionstheater arbeiteten die Meistersinger mit bescheidenen szenischen Mitteln. Dekorationen fehlten, „gesprochene Kulissen“ – in Verbindung mit einfachen, typisierenden Requisiten – sollten dem Zuschauer die Bühnenwirklichkeit erschließen. Im und vor dem Chor der Nürnberger Marthakirche hatte man, soweit sich die Bühne des Hans Sachs rekonstruieren lässt, ein breites Podest errichtet, das vermutlich Platz bot für eine Vorder- und eine Hinterbühne, wo die Innenraumszenen spielten. Ein ähnliches Gerüst mochten auch die Augsburger Meistersinger in St. Martin und St. Jakob aufgeschlagen haben, an Auftrittsorten wie dem Privathaus des Sebastian Wild bestanden naturgemäß beschränktere Möglichkeiten. Unterhaltungsbedürfnis und Schaulust des Publikums wurden nicht durch ein Bühnenbild befriedigt, sondern durch das drastische Gebärdenspiel der routinierten Laiendarsteller. Insbesondere Hans Sachs versah seine Werke mit sorgfältigen Bühnenanweisungen, die den Schauspielern, aber auch künftigen Spielleitern die Theaterarbeit erleichtern sollten. So finden sich konkrete Bestimmungen: Ödipus kratzt sich die Augen aus; Soldaten entreißen einer Mutter in dem belagerten Jerusalem ihr Kind und schlachten es; David zieht sein Schwert und schlägt Goliath den Kopf ab – wie diese Gräueltaten szenisch realisiert wurden, ist nicht überliefert; gelegentlich trug man wohl holzgeschnitzte Köpfe auf die Bühne, um die blutigen Folgen der Kämpfe in krasser Manier anschaulich vorführen zu können. Das Theaterspiel der Meistersinger diente der Unterhaltung und Belehrung gleichermaßen. Mit Begriffen wie „nutz“, „besserung“ und „vermanung“ unterstrich Hans Sachs den didaktischen Anspruch seiner Dramenproduktion. Die Spiele begannen und endeten mit einem Prolog und Epilog, die zumeist vom Theaterherold, dem „Ehrnholdt“, gesprochen wurden und allenthalben Hin-

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1560 erschien in Amberg der Druck eines Passionsdramas, das der Nürnberger Meistersinger Hans Sachs im Auftrag der kurpfälzischen Haupt- und Regierungsstadt verfasst hatte. Das sprachlich und dramaturgisch gelungene Stück übte, ungeachtet seiner reformatorischen Züge, in der Folgezeit eine beachtliche Wirkung auf katholische Spielgemeinschaften aus. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zählte Der gantz Passion zu den wichtigsten Textvorlagen geistlicher Volksschauspiele im alpenländischen Raum.

12 Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten

Auf der Tafel der Kaufbeurer Comoediantenund Agentengesellschaft (1691), die an einen Flügelschrein erinnert, sind Bilder vergangener Aufführungen und verdiente Schauspieler zu sehen. Die selbstbewusste Darstellung kündet vom Ansehen der Laientruppe innerhalb des bürgerlichen Gemeinwesens. Überdies vermitteln die Miniaturen einen Einblick in die Aufführungspraxis, die offenkundig von pathetischen Gesten, üppigen Kostümen und prachtvollen Bühnenbildern bestimmt war. Dass der lustigen Person große Bedeutung zugemessen wurde, zeigt das Mittelbild des Triptychons. Selbst in der Schlussszene eines biblischen Dramas – Esther – drängt sich Hanswurst ins Bild, als boshafter, Zoten reißender Tölpel, über dessen Späße man herzlich lachen konnte.

Lateinisches und deutsches Schultheater

weise zur moralischen Ausdeutung des Bühnengeschehens enthielten. Auf sinnfällige Weise wollten die Theaterstücke eine praktische Lebenslehre vermitteln: Exemplarische Tugenden wurden zur Nachahmung empfohlen, exemplarische Laster zur Abschreckung vor Augen geführt. Im Horizont von christlichen Glaubensformen und -inhalten war die stadtbürgerliche Kunstübung auf die Unterweisung in „guten sitten und löblichen tugenden“ gerichtet, wie die Memminger Gesellschaft in einem Spielgesuch betonte. Ein ähnlicher Handlungsanspruch lässt sich auch in Augsburg erkennen, wo die Inszenierung des Weltgerichtspiels von Sebastian Wild aus laienreligiösen Interessen heraus erfolgte. Erklärtes Ziel der dramatischen Vorführung war es, die Zuschauer auf den rechten Weg zu führen. In der Konsequenz verband sich die Spielfreude der Meistersingergesellschaften mit einem christlichen Dienstgedanken, dem wiederum ein hoher Wert für die städtische Kommunität beizumessen war. In diesem Sinne suchten die Meistersinger in Nördlingen 1569 um die Bewilligung nach, „gemainer statt“ und „Gott zu lob unnd ehrnn“ Komödien halten zu dürfen. In Nürnberg bedeutete der Tod von Hans Sachs im Jahr 1576 zunächst kein Ende der handwerklichen Theaterproduktion. Gerade in der Zeit um 1600 erwiesen sich die Mitglieder der Singschule als eifrige Schauspieler, die selbst vor vornehmen Gästen – vor „Ehrenvest, fürsichtig und weise[n] herren“, wie es in der 1596 aufgeführten Comedj von den Crocodil-stechen heißt – auftraten. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts aber mehrten sich kritische Stimmen gegen Inhalt und Darbietungsform der Spiele. Der patrizische Magistrat verfolgte die nicht selten obrigkeitskritischen Unternehmungen der selbstbewussten Gesellschaften mit großem Misstrauen und zunehmend erfuhren die theaterbegeisterten Laien, die sich zudem einer starken Konkurrenz durch die englischen Komödianten ausgesetzt sahen, abschlägige Antworten auf ihre Spielgesuche. Auf Geheiß des Nürnberger Rats waren seit 1614 schließlich die Theateraufführungen der Meistersinger innerhalb der Mauern der Reichsstadt untersagt; in einem kleinen Vorort wurde die Spieltradition noch wenige Jahre fortgeführt. Hingegen erlebte die Schauspielkunst der Augsburger Meistersinger nach den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs eine neue Blüte. Bereits 1630 hatte man eine eigene Spielstätte, den so genannten Komödienstadel in der Jakobervorstadt, erworben. Durch einen Ratsbeschluss von 1690 besaß die „Agentencompagnie“ ein Theatermonopol, das ihr die Präsentation eines Schauspiels an jedem Montag in der Zeit zwischen dem Bartholomäustag (24. August) und Pfingsten zugestand, während fremde Komödianten keine Spielbewilligung erhalten sollten. Nach 1733 durften Wandertruppen dann unter Zahlung einer Abgabe an die Meistersingergesellschaft in Augsburg auftreten. Angesichts der Konkurrenz durch die professionellen Schauspieler verloren die handwerklich-biederen Darbietungen nun zunehmend an Attraktivität, im Jahr 1776 kam der Spielbetrieb der Agenten schließlich zum Erliegen.

Lateinisches und deutsches Schultheater Im Zeichen humanistischer Bildungsbestrebungen erlebte das Schultheater im 16. Jahrhundert eine intensive Pflege. Eine Reform der städtischen Lateinschulen, die zur Erziehungs- und Ausbildungsstätte für eine geistige Elite werden sollten, stand am Beginn der Entwicklung. Im Rahmen des Unterrichts war nun die Lektüre von antiken Texten vorgesehen, die in den Augen der deutschen Humanisten einen hohen Bildungswert besaßen. Als Muster sprachlicher Eleganz und moralischer Vorbildhaftigkeit galt vor allem der römische Komödiendichter Terenz. Nachdrücklich wurde die Behandlung seiner Schauspiele im Unterricht an den Humanistenschulen vom „praeceptor Germaniae“ Philipp Melanchthon (1497–1560), der auch maßgeblichen Anteil an der Errichtung des Egidiengymnasiums (1526) in Nürnberg hatte, „zur Lenkung der Sitten und zur Schulung der Beredsamkeit“ empfohlen. Zu den praktischen Übungen für die Ausbildung der rhetorischen Fähigkeiten gehörte die Aufführung der klassischen Dramen

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14 Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten sowie der neulateinischen Komödien, die in direkter Nachahmung der Werke von Plautus und Terenz entstanden. Die Bildungsfunktion des Theaters erkannte auch der Wittenberger Reformator Martin Luther (1483–1546), der sich in seinen Briefen und Tischreden wohlwollend für dramatische Vorführungen im schulischen Rahmen aussprach. So sei die Aufführung von „Comödien“ für die Einübung der lateinischen Sprache wichtig, mehr noch: sie dienten der sozialen und moralischen Belehrung, da dort Personen „abgemahlet und fürgestellt werden … dadurch die Leute unterrichtet, und ein Jeglicher seines Ampts und Standes erinnert und vermanet werde“. Galten ihm die Stücke der antiken Dichter als Modelle praktischer Lebensphilosophie, so maß er doch der Dramatisierung biblischer Stoffe größere Bedeutung zu, um Gottvertrauen, Frömmigkeit und Heilszuversicht zu wecken. Dieser Empfehlung folgend, bildete sich nach 1530 ein neuer literarischer Typus heraus, das protestantische Bibeldrama, das die neue Glaubens- und Morallehre in sinnfälliger Weise vor Augen zu führen suchte. Als obligatorischer Teil des Unterrichtsprogramms wurden die szenischen Darbietungen in die Schulordnungen aufgenommen, unter anderem in Nürnberg (1510), Landshut (1562), Rothenburg ob der Tauber (1593). Neben kleinen Dialogen in lateinischer Sprache, wie sie Sebald Heyden (1499–1561), der Rektor der Lateinschule zu St. Sebald in Nürnberg, verfasste, brachte man meist zu Beginn oder Ende des Unterrichtsjahres große, fünfaktige Schauspiele mit Prologen und Epilogen auf die Bühne. Die humanistischen Schulmeister, oft auch die Verfasser der Komödien und Tragödien, verfolgten zunächst die praktische Absicht, ihren Zöglingen sprachliche Kompetenz und gewandte Umgangsformen zu vermitteln – Fertigkeiten, die gerade im Hinblick auf die spätere Berufsausübung in Kirche, Staat und Kommune erheblichen Wert besaßen. Schon nach kurzer Zeit spielte das Schuldrama eine wichtige Rolle im städtischen Theaterleben. Öffentliche Darbietungen im Rathaus, vor Honoratioren und auswärtigen Gästen, galten als festliche Ereignisse, die nicht nur die Leistungsfähigkeit der schulischen Institution unter Beweis stellten, sondern in ihrem repräsentativen Anspruch auch der Kommune zur Ehre gereichten. Da das Schauspiel unter den literarischen Medien der Frühen Neuzeit zweifellos die breitesten Publikumsschichten erreichte, konnten sich die schuldramatischen Aufführungen vielerorts der obrigkeitlichen Förderung erfreuen. Sie galten als nützliches Instrument zur Vermittlung stadtbürgerlicher Ideale und Wertvorstellungen; je nach konfessionellem Standpunkt des Stadtregiments ließen sich die Spiele zudem für die Verbreitung der alten oder neuen Glaubenslehre instrumentalisieren. In einer Vielzahl größerer und kleinerer Städte finden sich, spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, Zeugnisse einer ausgeprägten Spielkultur. In Passau begründete der bedeutende Komponist Leonhard Paminger (1495–1567), der seit 1517 als Lehrer an der Klosterschule zu St. Nikola wirkte, mit Aufführungen römischer Komödien und neulateinischer Dramen die Tradition des Schultheaters. Namhafte Dramatiker wirkten an der 1531 eröffneten Lateinschule bei St.Anna in Augsburg. Sixt Birck (1501–1554) war nach Studien in Erfurt, Tübingen und Basel 1536 als Rektor in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. In seinen Stücken, die charakteristische Stoffe des protestantischen Bibeldramas, z.B. Susanna und Judith, behandeln, verbindet sich humanistische Gelehrsamkeit mit Glaubensunterweisung im Sinne der Reformation, mit Tugend- und Sittenlehre. Soziale Fragen prägen den Dialog De vera nobilitate [Vom wahren Adel], in dem Geburts- und Tugendadel gegeneinander abgewogen werden. Alt- und neutestamentliche Stoffe, darunter eine Darstellung der Schöpfungsgeschichte (Protolastus, 1545), dramatisierte der aus Rothenburg gebürtige Humanist Hieronymus Ziegler (um 1514–1562), der bis 1548 am St.-Anna-Gymnasium wirkte. Aufgrund der betont katholischen Auffassung, die aus vielen seiner Stücke spricht, dürfte er 1548 als Rektor an die Poetenschule in München berufen worden sein. Als Aufführungsort diente in der Residenzstadt München nicht nur die Aula des Ratsgymnasiums, sondern auch die Trinkstube im Rathaus. Wiederholt bot Ziegler Aufführungen seiner Dramen (z.B. Infanticidium [Der Kindermord],1553) in lateinischer und deutscher Sprache, um eine größere Breitenwirkung zu erzielen.

Lateinisches und deutsches Schultheater

Nachfolger von Ziegler wurde 1554 der als Dichter und Dramatiker bekannte Martin Balticus (um 1532 bis 1601), der in Wittenberg Schüler von Philipp Melanchthon gewesen war. Seine Bühnenstücke (z.B. Daniel und Tobias, beide 1558) blieben Rezitation. Grundsätzlich lag bei den Darbietungen im schulischen Rahmen der Akzent auf der Deklamation des Textes, in Mimik und Gebärdenspiel war – in erklärter Abgrenzung zu der drastischen Darstellungsweise der Meistersinger – Zurückhaltung zu üben. Die Schulaufführungen bedurften in München, wie auch andernorts, der Genehmigung des Rates; entsprechend verwies man in den Gesuchen auf den erzieherischen Charakter der Schauspiele: „… hab Ich ain [be]sonders Christliche, Catholische und auch andächtige Tragoediam zu Übung meiner Jugent, auch yeder menigklichen [jedermann] zu Geistlichem nutz angerichtet“. Eine Poetenschule in humanistischem Geist existierte auch in Landshut, wo zwischen 1561 und 1582 Bibeldramen zur Aufführung kamen; die Rektoren der beiden Pfarrschulen St.Jodok und St.Martin veranstalteten gleichfalls „Komödien und Tragödien aus den Evangelien“. In Nürnberg ist das Schultheater in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem mit dem Namen des Theologen Leonhard Culmann (um 1497/98–1561), Rektor an der Spitalschule, verbunden. Seine deutschsprachigen Dramen standen im Dienst der protestantischen Lehre. So entwarf er in der Hochzeyt Isaacs und Rebecce (1547) ein von reformatorischen Vorstellungen geprägtes Ehemodell. In dem Christenlich Teutsch Spil wie ein Sünder zur Buß bekert würt (1550) thematisierte er die lutherische Rechtfertigungslehre, wonach nur die göttliche Gnade (sola gratia) die Erlösung des Sünders bewirke. Auch Privatlehrer wie Lorenz Rappolt traten mit öffentlichen Aufführungen „schön christlicher Spiele“ hervor. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert erhielt das Schultheater durch die vom Nürnberger Rat gegründete Akademie (1622 Universität) in Altdorf wichtige Impulse. Spielzeugnisse aus Altbayern, Schwaben und Franken sind in großer Fülle überliefert – unverkennbar besaß das Schultheater neben seiner bildungspolitischen Funktion eine hohe Attraktivität für die städtische Gemeinschaft. Gerade in kleineren Orten war es nicht selten allein die Schulbühne, die das literarische Interesse des Publikums zu befriedigen vermochte. So ist die Regelmäßigkeit zu erklären, mit der die Lateinschüler in Amberg, Nabburg und Weiden, in Beilngries, Berching, Dietfurt und Greding, in Mühldorf, Schongau und Weilheim, in Rothenburg und Schweinfurt – um nur einige zu nennen – dramatische Vorführungen veranstalteten. Neben geistlichen Stoffen behandelten die Spiele im 17. Jahrhundert auch zeitgeschichtliche Ereignisse. Angeregt von der Hinrichtung des englischen Königs Karl I. im Jahr 1649, führte eine Gruppe von „fremden Studenten“ in Schweinfurt „eine tragoediam vom dekollirten [enthaupteten] König von England Carl Stuard“ auf. Noch im 18. Jahrhundert übte sich der bürgerliche Nachwuchs auf der urbanen Schulbühne, unter den Blicken von hochrangigen Gästen, im öffentlichen Auftreten, in Eloquenz und Weltläufigkeit. Und stereotyp begründeten die Veranstalter ihre Spielgesuche weiterhin mit dem sittlich-religiösen wie auch gesellschaftspolitischen Gewinn, den die öffentliche Darbietung verspräche: So sollte am Sulzbacher Gymnasium 1745 „zu der catholischen studirenden Jugend nuzlichem Exercitio und auch dem gemeinen Wesen zum besten“ eine Aufführung am Ende des Schuljahrs erfolgen. Angesichts des organisatorischen und zeitlichen Aufwands, den die Vorbereitung einer repräsentativen Inszenierung bedeutete, blieben aber obrigkeitliche Eingriffe und Verbote nicht aus, da die Stadtväter durch den erhöhten Unterrichtsausfall die erhofften positiven Wirkungen ins Gegenteil verkehrt sahen. Überhaupt verlor das Schultheater infolge der tiefgreifenden Strukturveränderungen, die das Theaterwesen durch die Professionalisierung des Schauspielergewerbes erfuhr, alsbald seine vormalige Bedeutung.

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Die lateinischen Bibeldramen Rebecca und Susanna des späthumanistischen Philologen und Dichters Nicodemus Frischlin (1547 bis 1590) gehörten zu den beliebtesten Stücken für die Schulbühne. In Schweinfurt veranlasste der Magistrat sogar den Druck der beiden Stücke „in usum scholae“, zum Gebrauch und Nutzen der städtischen Lateinschule.

16 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert

Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert Commedia dell’ arte Gastspiele italienischer Wandertruppen, die komische Improvisationen zeigten, bildeten im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die Anfänge berufsmäßiger Schauspielkunst im süddeutschen Raum. Mit der Commedia dell’arte rückte die vitale, sinnliche Aktion des Mimen in den Mittelpunkt. Der Handlungsverlauf, der im „canevas“, einem hinter den Kulissen angeschlagenen Szenarium, lediglich grob skizziert war, bot Raum für spontane Einfälle, für burleske Nummern („lazzi“) und akrobatische Einlagen. Gleichwohl folgte das Stegreifspiel gewissen Mustern, dramaturgischen Grundsituationen und -konstellationen. Erprobte Wirkungsmittel der Commedia dell’arte sind auch die Handlungsweisen und Eigenarten der Figurentypen („Masken“): Zum Personal gehören immer die beiden „Alten“, Pantalone, der habgierige, strenge, aber einfältige Kaufmann aus Venedig, und Dottore, ein geschwätziger, bornierter Pedant aus Bologna, denen zwei pfiffige bzw. einfältige Diener („Zanni“) gegenüberstehen; als fünfte Maske gesellt sich oft der Capitano, die klassische Figur des Aufschneiders, hinzu. Die erste Nachricht über die Praxis der Commedia dell’arte in München enthält eine Festbeschreibung, die der vielseitige Hofkünstler Massimo Troiano an-

Pantalone mit Dolch, gefolgt von Zanni mit Lanze und Laterne. Auf der so genannten Narrentreppe in der Burg Trausnitz wird der Betrachter über vier Geschosse hinweg von lebensgroßen Figuren aus der Commedia dell’arte begleitet, die die virtuose Komik der Spielszenen unmittelbar vergegenwärtigen.

Bande der Italienischen Comoedianten. Kupferstich von Christoph Weigel (1654–1725), um 1720/23.

Commedia dell’ arte

lässlich der Vermählung des bayerischen Erbprinzen Wilhelm mit Renata von Lothringen im Jahr 1568 verfasste. Schon die Turniere zu Beginn des Hochzeitsfestes wurden durch komische Interaktionen eines „vornehmen Herrn in Venetianischer Tracht mit zwei Arlequins“ aufgelockert. Einen Höhepunkt der höfischen Lustbarkeiten bildete ein von Massimo Troiano und Orlando di Lasso – die auch die Rollen des Capitano bzw. Pantalone übernahmen – entworfenes Stegreifspiel, dessen Handlungsgerüst in den Dialoghi überliefert ist. Die diversen Intrigen und Verwicklungen waren für die begabten Laiendarsteller Anlass, ein Feuerwerk verbaler, mimischer und gestischer Einfälle zu entfachen. Für die Erheiterung der Gäste sorgten Verwechslungs- und Prügelszenen oder die Verkehrung sozialer Verhältnisse: Nach einem artistischen Begrüßungsritual zwischen Pantalone (Herr) und Arlequin (Diener) kommt es zum Kleidertausch, der Ersteren in peinliche Situationen bringt; unfähig, seine Dienerrolle auszufüllen, trumpft er zornig mit seiner adligen Herkunft auf, was ihm – dem scheinbaren Lügner – eine Tracht Prügel einträgt. Beeindruckt von der komödiantischen Improvisationskunst, förderte Wilhelm auch nach seiner Übersiedlung auf die Burg Trausnitz bei Landshut die Commedia dell’arte. 1569 unterhielt eine Truppe italienischer Berufsschauspieler unter der Leitung des Prinzipals Jacopo di Venetia die höfische Gesellschaft; auch gehörten über Jahre hinweg „Zani Springer“ zum Hofstaat. Erst der finanzielle Zusammenbruch der Landshuter Hofhaltung 1575 setzte dem Komödienspiel ein Ende. Gleichsam als Erinnerung an den Zauber, den die spontane Erfindungskraft der Mimen entfaltet hatte, entstanden die illusionistischen Wandmalereien (1575/79) des Alessandro Scalzi gen. Padovano in der Burg Trausnitz.

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Der tanzende Scaramuz und die in die Lektüre eines Liebesbriefes versunkene Corine in der von F.A. Bustelli um 1760 geschaffenen Ausformung. Die Figur der Corine wird seit 2001, abwechselnd von großen Modedesignern farblich gestaltet, jährlich als Internationaler Buchpreis verliehen.

18 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert entwickelte sich der Heilsbronner Hof in Nürnberg zu einer beliebten Spielstätte für wandernde Komödianten und Artisten. Gespielt wurde unter freiem Himmel auf einem primitiven Podium vor der Nikolauskapelle oder – wie die auf 1623 datierte Darbietung der „Klopffechter“ zeigt – auf einer vertieften Fläche in der Mitte des Platzes. Der große Hofraum der Gastwirtschaft bot günstige Sichtmöglichkeiten für die Zuschauer, die das bunte Treiben vom Stehparterre oder von den umliegenden Galerien aus verfolgen konnten.

Der geizige venezianische Kaufmann Pantalone wie ihn F.A. Bustelli erlebte (um 1760).

Über 100 Jahre später erlag Kurfürst Max Emanuel dem Zauber italienischer Komödianten. Mit den Venezianern Giovanni Nanini (1684 –1686), der eine zwanzigköpfige Kompanie leitete, und Francesco Calderone (1687–1691) gastierten zwei Meister des virtuosen Stegreifspiels am Münchner Hof. Fanden die Truppen der Commedia dell’arte bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ihre wichtigsten Mäzene fast ausschließlich an den Fürstenhöfen, so erschlossen sich die Italiener in den folgenden Jahrzehnten auch das bürgerliche Publikum der Städte. Zahlreiche Ensembles hinterließen ihre Spuren auf den Jahrmärkten. Zugleich schöpfte das populäre Marionettentheater aus dem Fundus des virtuosen Stegreifspiels. Erstmals wird 1649 in Nürnberg von einem italienischen Komödianten berichtet, „so den Pollizinello mit kleinen Dockelein [Puppen] agiret hat“; mit dem unverschämt redenden und handelnden Bauern Pulcinella konnten die Zuschauer eine komische Maskenfigur in der Tradition des älteren Arlecchino erleben. Zeugnis für die auch im 18. Jahrhundert ungebrochene Beliebtheit der sich verändernden Commedia dell’arte geben mehrere Gastspiele italienischer Wandertruppen in Regensburg, wo die burleske Improvisationskunst der Schauspieler eine große Menge von Zuschauern in die Herberge zum Goldenen Kreuz lockte. Der Attraktivität dieser körperbetonten Schauspielform mit ihren Tanz-, Musik- und Zaubereinlagen, deren Einfluss auf die deutsche Bühnenkunst Theaterreformer wie Johann Christoph Gottsched (1700–1766) zurückzudrängen versuchten, konnte sich auch die bildende Kunst nicht entziehen: Ein Hauptwerk des süddeutschen Rokoko bilden die 16 graziösen Kleinplastiken, die Franz Anton Bustelli (1723–1763) für die Porzellanmanufaktur Nymphenburg fertigte – und aus deren Mitte der Pierrot heute beim jährlichen Bayerischen Filmpreis an darstellende Künstler verliehen wird.

Die englischen Komödianten Eine nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Theaters erlangten englische Berufstruppen, die infolge der wachsenden Konkurrenz im eigenen Land den Kontinent bereisten und erstmals 1586/87 auch nach Deutschland kamen. Als Verkehrs- und Nachrichtenzentren besaßen insbesondere die süddeutschen Reichs- und Residenzstädte eine immense Anziehungskraft. Von den

Die englischen Komödianten

verschiedensten Teilen des Alten Reichs aus langten die wandernden Schauspielergesellschaften in Nürnberg (ab 1593) und Augsburg (ab 1596), in Memmingen, Dinkelsbühl, Nördlingen, München, Regensburg, Passau und Rothenburg an, darunter die bekannten Ensembles eines Robert Browne, Thomas Sackville, John Green, John Spencer oder Robert Reynolds, die als „Stars“ gefeiert wurden. Eine Zäsur bildete der Dreißigjährige Krieg, der dem bunten Bühnentreiben an vielen Orten vorerst ein Ende setzte; so findet sich in Nürnberg zwischen 1628 und 1649 kein Hinweis auf die Anwesenheit von Wandertruppen. Erst nach dem Westfälischen Frieden setzte ein neuerlicher Strom der Theaterbanden ein. Der neuartige, professionelle Aufführungsstil der englischen Komödianten wurde – zumindest in der ersten Wanderzeit – von den deutschen Zuschauern geradezu als Sensation empfunden. Tief beeindruckt zeigte sich der Nürnberger Patrizier Balthasar Paumgartner in einem Brief an seine Frau: „Die habenn so ein herrliche, guette musica, unnd sinnd sie so perfect mitt springen, tantzen, deren gleichen ich noch nye gehoertt noch gesehen hab.“ Aufgrund der Sprachbarriere setzten die Berufsschauspieler bei ihren Auftritten auf Mimik und Gestik, auf akrobatische Kunststücke und komische Pantomimen. Unter großem Aufwand von Requisiten und Kostümen, mit Gesangs- und Tanzeinlagen entfaltete man beträchtlichen Bühnenzauber, um Aufmerksamkeit zu erregen – mit Erfolg, wie der Bericht eines zeitgenössischen Chronisten verdeutlicht; danach hatten die Engländer in Nürnberg „etliche schone Comedien“ gehalten und „darbey eine gute liebliche Musica gehalten. Auch allerley wölsche [italienische] tantze mit wunderlichem vertrehen, hupfen, hinter und fur [vor] sich springen, uberworffen und andern seltzamen geberten getrieben, welches lustig zu sehen; dahin ein groß Zulauffen von Alten und Jungen, von Man und weibs Personen, auch 1620 erschien eine Textsammlung der Engelischen Comedien und Tragedien, beliebten Repertoirestücken der reisenden Schauspielervon Herrn deß Raths und Doctorn geweßen“. Das körperbetonte Spiel und die oftmals grelle, drastische Darbie- gesellschaften, die auf dem Titelblatt mit dem Namen des Pickeltungsform zogen die Zuschauer in Bann. Man „murmelte“ herings warb. und „schrie“, „seufzte“, „weinte“, „zitterte und bebte“ – wie den Regieanweisungen zu entnehmen ist – und schreckte auch vor blutigen Effekten nicht zurück: „laufft mit dem Kopf an die Wand, daß das Blut unter dem Hut herfür tringet, welches mit einer Blase gar wohl gemacht werden kann“. Selbstverständlich arbeiteten die Schauspieler mit vielerlei Illusionstricks, mit Schminke, Ochsenblut und dergleichen, doch präsentierte man auf der Bühne durchaus ein „Theater des Schreckens“, vergleichbar mit der Praxis öffentlicher Exekutionen, die im 16. und 17. Jahrhundert auf Marktplätzen, vor dicht gedrängtem Publikum, theatralisch inszeniert wurden. Hauptattraktion für die Zuschauer aber wurde die Figur des Pickelhering. Unter diesem Namen trat der Clown, die lustige Person, auf den Schauplatz, ein Possenreißer, derb, triebhaft, unmoralisch, der die Pausen zwischen den Akten verkürzte und inmitten der zum Teil blutigen Szenen für „Entspannung“ sorgte. Das Repertoire der englischen Komödianten umfasste sämtliche Zugstücke der elisabethanischen Dramatik: Christopher Marlowes Doctor Faustus und The Rich Jew of Malta oder Thomas Kyds Spanish Tragedy ebenso wie Shakespeares King Lear, Julius Ceasar, Hamlet, Othello, Titus Andronicus, The Merchant of Venice und so fort. Dargeboten wurden die Stücke nicht selten in verkürzter, verballhornter, auf die äußere Handlung reduzierter Form. Spielten die englischen Truppen anfangs noch in ihrer Muttersprache, so brachte man bereits um 1605 deutsche Bearbeitungen auf die Bühne. Ein Aufführungsgesuch an den Rat der

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20 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert Stadt Rothenburg aus dieser Zeit nennt unter anderem Pyramus und Thysbe nach Shakespeares A Midsummer Night’s Dream. Moralischen Bedenken der städtischen Obrigkeiten begegnete man mit dem Angebot, religiöse Spiele aufzuführen, wobei sich die Comedia von dem verlorenen Sohn oder die Comedia von der keuschen Susanna besonderer Beliebtheit erfreuten. Demselben Zweck galt das Versprechen einer Schauspielergesellschaft, die 1604 in Nördlingen um eine Spielbewilligung nachsuchte, „den Zuhörenden, sonnderlich aber der Jugenndt zur Furcht unndt Ehr Gottes, Auch gehorsam Ihrer Eltern, Feine Exempla Fürstellen“ zu wollen. Kam es auch selten zu einer dauerhaften Bindung der fahrenden Truppen an die Höfe, so wurden die Berufsschauspieler doch gelegentlich in den Dienst höfischer Repräsentation genommen. So spielte eine englische Truppe, die unter dem Protektorat des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel stand, 1612 bei den großen Festlichkeiten anlässlich der Vermählung des Ansbacher Markgrafen Joachim Ernst mit Sophia von Solms-Laubach. Und in Regensburg brachte John Spencer in Anwesenheit des kaiserlichen Hofstaats das Historienspiel Die Einnahme von Konstantinopel als Prunkinszenierung mit beträchtlichem Ausstattungsaufwand auf die Bühne. Als letzter bedeutender Vertreter der englischen Prinzipale,die im 17.Jahrhundert mit ihren Truppen die Territorien des Alten Reichs durchzogen, kann George Jolly ( Joris Joliphus) gelten. Über Brügge, Köln und Frankfurt erreichte er spätestens 1652/53 Nürnberg, wo er in der Zeit bis 1660 fast im Jahresrhythmus gastierte. Zu seinen Stationen gehörten weiterhin Regensburg, Augsburg, Ansbach, Rothenburg, Schweinfurt und Windsheim. Die großen Erfolge dieser Kompanie, der auch „Hochteutsche Personen“ angehörten, beruhten offenbar auf den Neuerungen, die Jolly dem Publikum zu bieten hatte. So hatte er niederländische Stücke, Bearbeitungen französischer Dramen, Pastorellen und Singspiele aus Italien sowie zeitgenössische deutsche Dramen in sein Repertoire aufgenommen, darunter Johann Rists allegorisches Friedensspiel Das Friedewünschende Teutschland, das er 1653 während des Reichstags zu Regensburg vor Kaiser Ferdinand III. zur Aufführung brachte. Erhalten blieb ein Exemplar des Spieltextes mit handschriftlichen Eintragungen, die belegen, dass bei diesem Gastspiel – erstmals auf deutschen Bühnen – Frauen als Darstellerinnen auftraten. Auch verfügte der Prinzipal nach Auskunft eines Theaterzettels offenbar über eine mit Prospekten und Kulissen ausgestattete Illusionsbühne, über nach „Italienischer Manier gezierte Theatra“. Angesichts der omnipräsenten Konkurrenz erwiesen sich diese kostspieligen Einrichtungen als notwendig, um das Publikums halten zu können. Werbenden Charakter hatte natürlich auch die Ankündigung, bei seinem Gastspiel in Rothenburg den „rechten Englischen Pickelhering“ zu präsentieren und „nach Frantzösischer Manier mit rechten Frawenzimmern“ agieren zu wollen. Die Bedeutung des George Jolly für das Theaterleben in den süddeutschen Städten ist kaum zu überschätzen, konnte doch das Publikum in seinen professionellen Inszenierungen die große Bühnenwelt Europas erleben.

Deutsche Wandertruppen Hatten an den Produktionen der englischen Wanderbühne zunehmend auch deutsche Akteure, wohl überwiegend Studenten und Handwerksgesellen, mitgewirkt, so bildeten sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eigenständige Theaterbanden unter deutschen Prinzipalen aus. Dabei nutzte man anfangs durchaus das Prädikat „Englische Komödianten“, das noch etliche Jahre als Gütesiegel galt, um beim Publikum anzukommen. Glaubte man dann, die eigene Spielkunst hinreichend unter Beweis gestellt zu haben, reiste man unter dem Namen „Teutsche Comoedianten“. Zu den namhaften Truppen, die im süddeutschen Raum wirkten,zählen die Ensembles von Carl Andreas Paulsen (geb.1620), Michael Daniel Treu (um 1634–1708), Johannes Velten (1640–1692), Catharina Elisabeth Velten (gest. 1712), die nach dem Tod ihres Mannes die Prinzipalschaft

Deutsche Wandertruppen

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Werbewirksam kündigten die „Teutschen Comoedianten“ unter Michael Daniel Treu den Auftritt der lustigen Person, der in der Tradition der englischen Wanderbühne den Namen „Pickelhering“ trägt, als besondere Attraktion an. Wortreich verwies der Theaterzettel, die Neugier der Zuschauer reizend, überdies auf die darstellerischen, musikalischen („angenehme Music und liebliches Singen“) und szenischen Möglichkeiten des Unternehmens, auf Dekorationen und Kostüme.

übernommen hatte, und Andreas Elenson (gest. nach 1706). Von theatergeschichtlicher Bedeutung ist die deutsche Wanderbühne durch eine erhebliche Erweiterung des Repertoires um spanische, italienische, französische und niederländische Barockdramen. Carl Andreas Paulsen war zwischen 1652 und 1676 ein oft gesehener Gast in Nürnberg, wo er die Gunst des Publikums genoss. Höhepunkt war ein Gastspiel im Sommer 1667, als er über zehn Wochen lang im Fechthaus, dem ersten städtischen Theaterbau im Alten Reich, auftrat (Abb. S. 50). In 30 Aufführungen präsentierte er sein vielschichtiges Repertoire: Komödien von Calderón und Lope de Vega, italienische Schäferspiele wie Giacinto Andrea Cicogninis Don Gastone di Moncada, die „Klassiker“ der elisabethanischen Dramatik: Kyd, Marlowe und Shakespeare, die beliebten Schauertragödien Aran en Titus und Medea des Niederländers Jan Vos, dazu Stücke deutschsprachiger Autoren ( Johann Rist, Daniel Casper von Lohenstein) sowie Komödien von Molière (Der alte Geizhals, Der eingebildete Kranke). Freilich brachte man die dramatischen Werke der Weltliteratur meist in Fassungen zur Vorführung, die auf die Bedürfnisse der Wanderbühne zugeschnitten waren, das heißt: auf das Handlungsgerüst reduziert, mit spektakulären Szenen wie Geistererscheinungen und Teufelsauftritten, welche die Schau- und Schauerlust des Publikums zu befriedigen vermochten. Ein guter Ruf eilte den „Teutschen Comoedianten“ des Michael Daniel Treu voraus, die 1668 in Nürnberg eintrafen und sogleich eine Spielbewilligung erhielten. Ein Theaterzettel versprach „etliche schöne Actiones von Comoedien, Tragoedien und Schäffereyen, welche sie ausziehren werden mit rechten FrauenZimmer, angenehmer Music und lieblichen Singen“. Schauspiele wie Die Egyptische Olympia boten hinreichend Gelegenheit, auf der Bühne orientalischen Zauber zu entfalten. Nach einer erfolgreichen Spielzeit zog Treu im August 1669 nach München, wo es ihm gelang, als „Hofkomödiant“ in den kurfürstlichen Dienst aufgenommen zu werden – erstes Zeugnis für die Bindung einer deutschen Schauspielergesellschaft an einen bayerischen Hof. Im St.-Georgs-Saal der Münchner Residenz, auf einer Verwandlungsbühne aus Holz, sowie in den Schlössern Dachau und Schleißheim bot Treu – höfischen Geschmacksmustern

22 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert Der Kupferstich von Abraham Wolfgang Küffner (1760–1817) zeigt eine typische Spielstätte der reisenden Schauspielergesellschaften, eine provisorisch aufgeschlagene Holzbude.

Brauch der Wandertruppen war es, die Spielzeit in einer Stadt mit einer so genannten Ratskomödie zu beenden. Als Dank für die gewährte Spielbewilligung lud man die Ratsherren zu einer festlichen Abschiedsvorstellung, natürlich verbunden mit der Erwartung, eine „Verehrung“, also ein Geldgeschenk, für diese repräsentative Darbietung zu erhalten.

gehorchend – italienische Pastorellen und Ballette, aber auch eine Bearbeitung von Shakespeares King Lear, freilich im Stil der Wanderbühne verkürzt auf „eine materien worin die ungehorsamkeit der Kinder gegen Ihre Elder wirt gestraffet, die gehorsamkeit aber belohnet“. Das Privileg eines Hofkomödianten sicherte Treu wesentliche Pfründe. So durfte er neben seinen höfischen Verpflichtungen im Rathaussaal spielen, wo er von den Besuchern ein Eintrittsgeld verlangen konnte. Mit Johannes Velten, der sich 1665 der Truppe Carl Andreas Paulsens (ab 1678 dessen Nachfolger) angeschlossen hatte, trat ein Prinzipal mit akademischer Ausbildung auf die Bühne. Bemerkenswert ist sein Versuch, den literarischen Eigenwert dramatischer Werke bei der Stückauswahl zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt sollte ein geschlossenes Handlungsgebäude stehen, nicht länger eine bloße Revue bühnenwirksamer Szenen. Die „Chur-Sächsischen Hof-Comödianten“ fanden über Jahrzehnte ihr Publikum und ihr Auskommen; ausgedehnte Tourneen führten Johannes Velten, ab 1693 seine Witwe Catharina Elisabeth mehrfach nach Nürnberg, Augsburg, München und Regensburg.

Oster- und Passionsspiele

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Im beständigen Konkurrenzkampf der Truppen mochte die Verleihung eines Privilegs, das manche Sicherheiten auf den Reisen bot, einen Vorteil bedeuten. So zogen „Fürstlich Eggenbergische Hofkomödianten“, „Sachsen-Merseburgische Hofkomödianten“, „Kurfürstlich Bayerische Komödianten“ oder „Hochfürstlich Bayreuthische Hofkomödianten“ durch die süddeutschen Reichsstädte. Nicht selten wütete ein erbitterter Streit um die Gunst der Stadtväter, die man unter anderem mit kostenlosen Probevorstellungen zu gewinnen suchte. Für die Gewährung einer Konzession revanchierten sich die Wandertruppen dann mit einer so genannten Ratskomödie am Ende der Spielzeit. „Zu unterthänigen Ehren und schuldiger Danck-Bezeigung“ – so die Formulierung im Titel eines Nürnberger Programmheftes – lud man die Ratsherren zu einer festlichen Abschiedsvorstellung. Den Stücken war ein Vorspiel oder Prolog vorangestellt, die der Huldigung der geladenen Gäste dienten. Im Interesse der Sympathiewerbung gestalteten die Komödianten die gesamte Aufführung als repräsentative Feier für die Stadtväter, deren Gunst sie so zu erhalten suchten. In ähnlicher Weise wusste auch die städtische Obrigkeit die Ratskomödien für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Als bedeutender Teil urbaner Fest- und Theaterkultur halfen die Ehrenvorstellungen, das kulturelle Ansehen der Stadt zu vermehren. Einladungsheft zu einer Ratskomödie in Regensburg, 1711.

Sinnliche Glaubensinszenierung – die Oster- und Passionsspiele Die theatralische Bearbeitung der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Christi hat im deutschen Sprachraum eine lange Tradition. Erwachsen sind die geistlichen Spiele des Mittelalters aus der Liturgie der römischen Kirche. Ihre Keimzelle war der Ostertropus „Quem quaeritis“, der in Form eines Wechselgesangs die Auferstehungsbotschaft verkündete. Im Besuch der drei Marien am leeren Grab war die Möglichkeit zur dramatischen Ausgestaltung der lateinischen Osterfeier angelegt, der sich weitere Episoden (Benachrichtigung der Jünger, Apostellauf, Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena) hinzufügen ließen. Die szenische Darstellung des Ostergeschehens ließ das pastorale Bestreben erkennen, dem Volk, das der lateinischen Kirchensprache nicht mächtig war, die christliche Heilslehre bildhaft vor Augen zu führen. Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, als der Gesang von Tropen durch das Konzil von Trient unterbunden wurde, waren die liturgischen Osterfeiern eine beliebte Form religiöser Unterweisung. Das so genannte Regensburger Osterspiel (vor 1542), eine Folge von 11 lateinischen Gesängen und 17 deutschen „Szenen“, gibt schon eingangs seine pädagogische Absicht zu erkennen, wenn ein Engel mit den Worten auftritt: „Merckhendt was dies spil bedeut, Christus unser schöpffer und gott, Nach dem Er gelitten hatt den todt, Durch welchen mir arme sünder sind worden gottes kinder“. Neben dieser einfachen Form einer dramatischen Osterfeier im Kirchenraum entwickelten sich bald umfangreichere Oster- und Passionsspiele. Mit der Erweiterung des Stoffes – der bisweilen die gesamte Heilsgeschichte umfasste – wurde der theatralische Moment stärker betont. Die Zahl der Mitwirkenden wuchs in die Hunderte, als Spielort für die volkssprachigen Aufführungen, die sich mitunter über mehrere Tage erstreckten, dienten nun die Marktplätze der Städte. So setzte man 1460 in Memmingen, auf dem heutigen Weinmarkt, ein zweitägiges

24 Sinnliche Glaubensinszenierung – die Oster- und Passionsspiele

In Oberammergau setzte man die Passion Christi im 18. Jahrhundert mit beträchtlichem Ausstattungsaufwand in Szene. Insbesondere die sorgfältig gearbeiteten Kostüme aus teuren Materialien, wie hier Gewand und Kopfbedeckung des Hohenpriesters Kaiphas, übten große Faszination auf das Publikum aus.

Passionsspiel in Szene. Aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammt eine bis zur Säkularisation im Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra aufbewahrte Spielhandschrift. Der Text setzt ein mit der Beratung der Juden, gefolgt vom rührenden Abschied Christi von Maria (Bethanienszene); das Abendmahl, die Ölbergszene und der ausführlich dargestellte Leidensweg schließen sich an; nach der Auferstehung begibt sich Christus in die Vorhölle, um die dort wartenden Gestalten aus dem Alten und Neuen Testament zu erlösen; mit dem Grabbesuch der Frauen endet das Spiel. Die „Augsburger Passion“, die in ihrer Testgestalt – insbesondere der stark betonten Rolle der Gottesmutter – den Einfluss franziskanischer Geistigkeit spiegelt, zählt zu den wenigen spätmittelalterlichen Spielen, die noch in späterer Zeit eine beträchtliche Ausstrahlungskraft entwickelten. Bedeutete das Einsetzen der Reformation auch vielerorts einen Bruch mit überkommenen Frömmigkeitsformen, so brachte man doch im süddeutschen Raum weiterhin das Leiden und Sterben Christi auf die Bühne. Eine Belebung des geistlichen Spiels bedeuteten insbesondere die dramatischen Kunstübungen der Meistersinger. 1565 wurde in Augsburg eine Passion des Lehrers Sebastian Wild aufgeführt, die 1566 in Druck erschien: Ein schöne Tragedj, auß der heyligen schrifft gezogen, Von dem Leyden und sterben, auch aufferstehung unsers Herren Jesu Christi. Ganz offensichtlich verfolgte das Stück eine moralische Wirkungsabsicht, wobei neben der Aufführung auch das gedruckte Wort seine Wirkung entfalten sollte: Mit „nutz“ und „besserung“ sei es zu lesen und zu hören, wie der Verfasser im Titel bekundete. Eine rege Tradition bildete sich auch in Kaufbeuren heraus. Neben der Vita Christi des Augsburger Meistersingers Daniel Holtzmann, die man 1581 im reichsstädtischen Kornhaus inszenierte, boten die Passions-, Oster- und Auferstehungsspiele des Prädikanten Michael Lucius (1562) und des Lateinschulmeisters Johannes Brummer (1586) dem Publikum auf wirkungsvolle Weise religiöse Unterweisung. Im Auftrag des Amberger Magistrats verfasste Hans Sachs 1558 „nach dem Text der vier Evangelien“ ein geistliches Schauspiel mit dem Titel Der gantz Passion. Überaus bemerkenswert ist die Tatsache, dass gerade das Stück des reformatorischen Autors, der in der strengen Konzentration auf den Ernst der biblischen Begebenheiten ganz dem Geist Luthers folgte, in hohem Maße auf das Passionsspiel im katholischen süddeutsch-österreichischen Raum einwirkte. Als sinnliche Frömmigkeitsübung wurde die dramatische Inszenierung der Passion Christi auch in den Dienst der Gegenreformation gestellt. Einen entscheidenden Anstoß gaben erneuerte Orden wie die Franziskaner und Kapuziner, die sich unter Rückgriff auf überkommene Bräuche und Kultformen um die Intensivierung der religiösen Praxis in der Papstkirche bemühten. Zu den eindrucksvollsten Visualisierungen des Leidens und Sterbens Christi zählten die Karfreitagsprozessionen. Die von den Gläubigen bei diesen Bußumzügen mitgeführten oder auf Tragebühnen und Wagen transportierten Gemälde, hölzernen Figuren, Marter- und Bußwerkzeuge, die von Laienspielern vorgestellten „lebenden Bilder“, die „Sprüche“ und dramatischen Spieleinlagen ergaben eine Figuralprozession von schlechthin schauspielartigem Charakter. Auf die leidenschaftliche Anteilnahme der Bevölkerung und auf ihren blutigen Bußernst deuten die zahlreichen Gruppen von Kreuzträgern, Geißlern und „Ausgespannten“, die sich an den Umzügen beteiligten. Die Übergänge zwischen den theatralisch ausgestalteten Prozessionen und eigenständigen Passionsdramen in künstlerischer Durchformung – mit allegorischen Prologen, Parallelhandlungen und musikalischen Zwischenspielen – waren fließend. Im oberpfälzischen Kemnath erfolgte offenbar ein Wechsel zwischen szenisch-dialogischen Ölbergandachten, eigenen „Oelbergs-Exhibitiones“, die die biblische Geschichte im Garten Gethsemane dramatisch nachvollzogen, Karfreitagsumzügen mit variablen Vorführungen und in sich geschlossenen Passionskomödien, die vom Beginn der eigentlichen Leidensgeschichte mit der Beratung der Schriftgelehrten, dem Verrat des Judas und der Gefangennahme auf dem Ölberg über die Verhandlungen vor dem Hohen Rat und Pilatus, über Kreuzweg, Kreuzigung und Tod bis zur Grablegung reichten. Gespielt wurde auf den Marktplätzen, an verschiedenen Handlungs-

Oster- und Passionsspiele

orten während der Prozession oder auf einem festen „Theatrum“, einer Podiumsbühne vor der Kirche oder dem Rathaus. Aus dem intensiven Kontakt zwischen Zuschauern und Spielern erwuchs eine – gleichsam liturgische – Gemeinschaft, die allen Beteiligten die Möglichkeit zum gläubigen Nachvollzug des Leidens Christi bot. Vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebten die geistlichen Spiele eine Blütezeit. In Städten und Märkten, doch auch in vielen Dörfern wurde der Leidensweg Christi mit allen Mitteln barocker Theaterkunst vorgeführt; über 175 Spielorte sind in den heutigen Regierungsbezirken Ober- und Niederbayern, Oberpfalz und Schwaben bezeugt. Bisweilen fanden die volkstümlichen Glaubensinszenierungen selbst das Interesse der bayerischen Landesfürsten. So berichtete der Weilheimer Stadtpfarrer Johann Aelbl, Verfasser der wirkungsmächtigen Tragoedia Passionis. Traurige Spill des bittern Leidens und Sterbens unseres lieben Herrn einigen Erlösers, Haylands und Seligmachers Jesu Christi, von einem Besuch Wilhelms V. im Jahr 1600; und auf Befehl seines Nachfolgers Maximilian I. wurden der Spielgemeinschaft später sogar Kostüme aus dem „Churfürstlichen Operahaus“ in München zur Verfügung gestellt. Unter den Passionsspielen des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich nur vereinzelt originäre Schöpfungen, meist lassen sich für die überlieferten Spielhandschriften mehr und weniger umfangreiche Übernahmen aus älteren Texten feststellen. Die älteste überlieferte Textfassung der Oberammergauer Passion von 1662 zeigt – um ein Beispiel herauszugreifen – im Wortlaut viele Übereinstimmungen mit dem spätmittelalterlichen Passionsspiel von St. Ulrich und Afra sowie der1566 gedruckten Passionstragödie des Augsburger Meistersingers Sebastian Wild; für die Aufführung von 1674 erweiterte man den Text um Verse aus einem Auferstehungsspiel (Comedia Resurrectionis Domini) des Johann Aelbl, das seinerseits unter anderem auf dem protestantischen Spiel Das lyden unsers Herren Jesu Christi (1545) des Zürichers Jacob Rueff basierte. Trotz der vielfältigen Verbindungslinien mochten in den Dramen auch landschaftliche Eigenarten zur Geltung kommen; nur selten überliefert sind Beispiele urwüchsiger Volkssprache, wie sie wohl allerorten von den Teilnehmern der geistlichen Veranstaltungen gepflegt wurden: „Furt, furt, an’s Kreuz, an’s Kreuz mit dir! Moanst wohl gar, wir gehn mit dir zum Bier? Moanst, wir gehn zum Zisibecken? A braune Maß Bier tät dir wohl schmecken, A Batzenlaible a dazua, Wenn ich no g’nuag gebn thua? Moanst, wir thuon dir Küchlen bachen – I will dir’s mit der Pritsch glei anderst machen!“ – so die drastischen Spottverse der Schergen, die Jesus auf seinem Schmerzensweg in Mittenwald begleiten. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts überragte Oberammergau, wo die fromme Darbietung auf ein Gelübde des Jahres 1634 zurückging, durch seine Anziehungskraft und Ausstrahlung alle Passionsspielorte. In einem Spielgesuch an Kurfürst Maximilian III. Joseph von 1770 führten die Gemeindevorsteher aus, dass in den vorausgegangenen Spielzeiten 1740, 1750 und 1760 bis zu 14000 Personen den Aufführungen zugesehen hätten: Aus „Bayern, Tyroll, Schwaben und dem Reich, item aus den Stätten München, Freysing, Landshut, Innspruckh und Augsburg“ seien die Besucher herbeigeströmt. Die ersten Aufführungsnachrichten stammen aus dem Jahr 1674; seit 1680 spielte man jeweils zum vollen Jahrzehnt, spätestens seit 1720 auf einer barocken, auf perspektivische Wirkung hin angelegten Kulissen- und Vorhangbühne. Mit Pater Ferdinand Rosner (1709 bis 1778) aus dem Benediktinerkloster Ettal schuf ein Dichter eine grundlegende Neufassung des Spiels, eine Passio Nova, die den Titel Bittereß Leyden, Obsiegender Todt, und Glorreiche Auferstehung des Eingefleischten Sohn Gottes trägt und nahezu 8500 Verse umfasst. Zur Betrachtung der sich in der Opfertat Christi offenbarenden Liebe Gottes, zu Buße und Umkehr möchte er die Zuschauer anregen. Weithin stand Oberammergau im Blickpunkt, vielerorts diente das fromme Spiel als Vorbild und Anregung. In Kiefersfelden und Oberaudorf, in Freising, Tölz, Dachau und Pfarrkirchen übernahm man den Oberammergauer Spieltext und auch für die berühmten Tiroler Passionsspiele von Erl und Thiersee wurde die Passio Nova zum Leitbild.

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26 Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater War das geistliche Schauspiel im Zuge der durch das Konzil von Trient (1545 bis 1563) ausgelösten Erneuerung der katholischen Kirche über Generationen hinweg gefördert worden, so rückte der hohe Klerus seit Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend von theatralischen Vorführungen der Leidensgeschichte Christi ab. Die Kritik entzündete sich an der Veräußerlichung der volkstümlichen Spielformen, an angeblichen oder tatsächlichen Entgleisungen und Missbräuchen, letztlich aber bot – beeinflusst vom aufklärerischen Zeitgeist – ein veränderter katechetischer Ansatz den Anlass für die massiven Angriffe, da man nun auf eine rein verbale Vermittlung des Heilsgeheimnisses setzte. Auf Drängen der geistlichen Oberbehörden verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die staatliche Reglementierung der Passionskomödien und Karfreitagsprozessionen. Am 31. März 1770 erging ein kurfürstliches Generalverbot für die geistlichen Spiele „in Anbetracht, daß das große Geheimnis unserer geheiligten Religion keineswegs auf die Bühne gehöre.“ In vielen Gemeinden kam es noch lange Zeit zu Auseinandersetzungen zwischen der spielfreudigen Bevölkerung auf der einen Seite und dem „aufgeklärten“ Stadtpfarrer sowie den geistlichen und weltlichen Behörden auf der anderen Seite, letztlich aber bereiteten die obrigkeitlichen Kontrollen dem sensitiven Frömmigkeitsstil am Ausgang des 18. Jahrhunderts ein weitgehendes Ende. Eine Ausnahme bildete Oberammergau, wo nach einer einmaligen Pause im Jahr 1770 bereits zur nächsten Spielzeit 1780 ein neues Privileg erteilt wurde.

Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater Das Jesuitentheater Als Bildungsinstrument im Sinne ihres gegenreformatorischen Auftrags nahm das Theater in den Schulen der 1540 gegründeten Gesellschaft Jesu einen hohen Stellenwert ein. In der Verbreitung, Förderung und Festigung des katholischen Glaubens lag ein wesentlicher Akzent der dramatischen Bemühungen des Ordens. Wichtige Impulse empfing die jesuitische Theaterarbeit vom Humanismus. Eine gediegene Ausbildung der Jugend, eine solide Kenntnis der antiken Klassiker und die vollständige Beherrschung der lateinischen Sprache in geschriebener und gesprochener Form galten der Gesellschaft Jesu als unerlässlich, um den notwendigen Reformen innerhalb der römischen Kirche zum Erfolg zu verhelfen. Mit anderen Worten: Das Wohl der katholischen Religion beruhte nach ihrer Überzeugung auf der unablässigen Bekämpfung von geistiger Trägheit und Verelendung. Insbesondere das Theater erschien – analog zur Praxis an den protestantischen Gelehrtenschulen – als ein vorzüglich geeignetes Medium, um auf spielerische Weise humanistische Inhalte zu vermitteln und lebenspraktischen Unterricht zu erteilen. Durch die Mitwirkung an den dramatischen Vorstellungen sollten die Schüler bzw. Studenten, wie der jesuitische Pädagoge, Philologe und Dramatiker Jacobus Pontanus (1542–1626) schrieb, ihre lateinische Sprachfähigkeit schulen, ihr Gedächtnis trainieren, ihr Urteilsvermögen ausbilden, an Weltgewandtheit und Lebenserfahrung gewinnen und letztlich zu „mündigen“ Christen erzogen werden. Im Sinne dieser pädagogischen Prinzipien waren die Lehrer daran interessiert, dass möglichst viele Schüler aller Altersstufen an den Aufführungen beteiligt waren. Zu diesen schulisch-humanistischen Anliegen traten in der Frühzeit der jesuitischen Theaterpflege religiös-propagandistische Interessen. Als Medium konfes-

Das Jesuitentheater

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Virtuos setzten die Jesuiten die traditionellen theatralischen Wirkungsmittel ein. Neben kostbaren Gewändern und Requisiten wurden auch illusionistische Bühnenbilder verwendet. Für die Aufführungen standen in den Kollegien mehrere Prospekte zur Verfügung, die ganz allgemein Waldlandschaften, Parkanlagen, Stadtplätze oder das Innere von Palästen vergegenwärtigten.

sioneller Selbstvergewisserung gewann das Theater praktischen Wert. Die Bühne avancierte zum Ort, wo man in der Auseinandersetzung mit der protestantischen Lehre eine klare Position beziehen konnte, ohne freilich in aggressive Polemik zu verfallen. Vielmehr versuchte man, unter Einsatz ästhetisch-illusionistischer Mittel, die katholischen Christen in ihrem Glauben zu bestärken, die unsicher und schwankend oder sogar abtrünnig Gewordenen zum alten Glauben zurückzuführen. Der äußere Rahmen der Aufführungen wurde immer anspruchsvoller. Der spätmittelalterlichen Simultanbühne, einem einfachen Podium in der Aula oder im Hof des Kollegs, folgte über einige Zwischenstufen die Kulissenbühne mit einer raffinierten Dekorations- und Maschinentechnik. Der Spielraum war gegliedert in Vorder-, Mittel- und Hinterbühne, vervollkommnet durch die Oberbühne mit Flug- und Schwebevorrichtungen und die Unterbühne mit Versenkungen – in ihrer Dreistufung wurde die jesuitische Bühne zum Modell eines christlichen „theatrum mundi“, zum Welttheater mit irdischem Handlungsraum, Himmel und Hölle. Die Kunst der Inszenierung, prächtige Kostüme und Dekorationen, Musik und fantastische Bühneneffekte verstärkten die Wirkung der dargebotenen Stücke, wichtiger noch: Sie boten gerade den nicht lateinkundigen Zuschauern optische und akustische Signale, weckten Affekte und Emotionen, die für die religiöse Botschaft empfänglich machten. Berühmt gewordenes Beispiel für die publikumswirksame Dramaturgie des Jesuitentheaters ist die Tragödie Cenodoxus des vielseitigen Dichters Jacob Bidermann (1578–1639). Das Stück über den großen Gelehrten von Paris, den Selbstgefälligkeit, übertriebene Eigenliebe und geistiger Hochmut, „superbia“, ins ewige Verderben führen, erlebte 1602 in Augsburg seine Premiere. 1609 folgte die Erstaufführung in München, im Kolleg St.Michael. Nach einem späteren Zeugnis sollen einige Hofleute über das Schicksal des Protagonisten so erschüttert gewesen sein, dass sie sich anschließend zu ignatianischen Exerzitien zurückzogen; die Bekehrung, „conversio“, des Hauptdarstellers und dessen Eintritt in den Jesuitenorden verdeutlichen die religiöse Dimension jesuitischen Bühnenschaffens auf prägnante Weise. Auch in Passau zeigte sich die Bürgerschaft 1614 nach einer Freilichtaufführung vor dem Dom offensichtlich so tief beeindruckt, dass der Rat den Cenodoxus auf seine Kosten wiederholen ließ. Im Herzogtum Bayern, maßgeblich gefördert von den Wittelsbacher Landesherren, in den Fürstbistümern Augsburg, Eichstätt und Passau, Bamberg und Würzburg wie auch in den Reichsstädten Augsburg und Regensburg entfalteten die Jesuiten ein reiches Theaterleben. Zahllose Periochen, gedruckte

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Die Aufführungen von Jacob Bidermanns Cenodoxus hinterließen bei den Zuschauern einen tiefen Eindruck. Bezeugt sind Bekehrungen und Klostereintritte. Ein Mitwirkender der Ingolstädter Inszenierung von 1617, Freiherr Johann Hector von Schad, stiftete 1659 ein Glasgemälde mit der Darstellung des „Cenodoxus judicatus“ für die Kartause Prüll bei Regensburg.

Programmhefte in deutscher Sprache (oder auf deutsch und lateinisch), die den nicht humanistisch gebildeten Zuschauern das Verständnis erleichtern sollten, geben davon Zeugnis. Die Dramentexte selbst sind dagegen selten gedruckt worden, sie sind meist nur in Sammelhandschriften überliefert. Das Verfassen der Stücke gehörte zu den Aufgaben des Professors der Humanitas oder der Rhetorik, der beiden obersten Klassen des Gymnasiums. Die Autoren, die auch für die Inszenierung verantwortlich waren, blieben zumeist anonym, galt es doch, die kollektive Leistung der Schule und des Ordens in den Vordergrund zu stellen. Die Dramenstoffe entstammten überwiegend der „Historie“, nach zeitgenössischem Verständnis also der Bibel, vor allem dem Alten Testament, der Kirchenund Ordensgeschichte, den Heiligen- und Märtyrerlegenden; hinzu kam das Bildungsreservoire der antiken Literatur. Oft handelt es sich um kompilierende Tagesprodukte von geringer dichterischer Qualität, bisweilen aber dürfen die Schöpfungen hohen literarischen Rang beanspruchen. An erster Stelle sei noch einmal an Jacob Bidermann erinnert, dessen Stücke im virtuosen Zusammenspiel ernster, komischer und allegorischer Szenen eine ungeheure Kraft entfalteten; allein schon die Tatsache, dass 1666 eine Sammelausgabe seiner geistlichen Spiele (Ludi theatrales) – eine Seltenheit in der Geschichte des Jesuitentheaters – erschien, bezeugt seine singuläre Stellung. Begabte Dramatiker waren ferner Jakob Gretser (1562–1625), dessen bedeutendstes Stück Udo, die Geschichte des Teufelsbündlers und späteren Magdeburger Erzbischofs, den die Fürbitte Mariens errettete, 1598 in München und Ingolstadt zur Aufführung kam; Matthäus Rader (1561–1634), zusammen mit Gretser wohl der Verfasser eines großen Freilichtspiels, das die Weihe der Münchner Michaelskirche feierte; Georg Stengel (1584–1651) mit Theaterspielen zu Ehren des Dillinger Universitätsgründers Kardinal Otto von Waldburg (1614) und anlässlich der Kanonisierung der beiden Ordensheiligen Ignatius und Franz Xaver (1622); Andreas Brunner (1589–1650), der den Weg zum volkssprachlichen Meditationsdrama markiert (Dramata sacra); Jacob Balde (1604–1668) mit einer gelungenen Dramatisierung des alttestamentlichen Jepthe-Stoffes; und schließlich Johannes Paullinus (1604–1671), der mit den Oratorien Philothea und Theophilus in Konkurrenz zur allmählich vordringenden italienischen Oper zu treten suchte. Blieb die katechetische Ausrichtung jesuitischer Theaterarbeit über zwei Jahrhunderte hinweg im Wesentlichen unverändert, so zeichnen sich doch in gewissen Phasen „weltliche“ Ausprägungen ab. Überliefert ist eine Reihe von Stücken, die zu zeitgeschichtlichen Ereignissen meinungsbildend Stellung bezogen. In Würzburg brachten die jesuitischen Zöglinge in Anwesenheit des Kaisers Ferdinand II. das biblische Stück Daniel auf die Bühne, das in vielfacher Allusion auf die Gefährdung des Reichs durch den böhmischen Aufstand von 1618 Bezug nahm. Die Bilderfeindschaft des byzantinischen Kaisers Leo Isauricus war Thema eines 1627 in Amberg gezeigten Spiels mit dem Titel Cultus Imaginum vindicatus. Nach drei Jahrzehnten kalvinistischer Herrschaft war dem Publikum die (verhasste) Praxis des Bildersturms, der Zertrümmerung von Altären und Heiligenfiguren in den Gotteshäusern, durchaus vertraut. Mit der exemplarischen Bestrafung der Bilderschänder auf der Bühne vermochte die dramatische Inszenierung an die Sympathien der Bevölkerung zu appellieren und so die intendierte konfessionspolitische Wirkung zu erzielen. Den katholischen Verbund zwischen den Häusern Habsburg und Wittelsbach feierte das anspielungsreiche Bibelstück Nabuchodonosor aus der Feder Andreas Brunners, das 1635 anlässlich der Hochzeit des Kurfürsten Maximilian mit Erzherzogin Maria Anna, der Tochter Ferdinands II., gegeben wurde. Der Sieg über die Türken bei Wien (1683) und Budapest (1686) stand im Mittelpunkt eines in Würzburg aufgeführten allegorischen Friedensspiels Viennae obsidio victoriarum felix partus; und eine Huldigung an das habsburgische Kaiserhaus bedeutete 1740 das Historiendrama Carolus V e gloriosissimo orbis monarcha Augustus Dei servus. In einzelnen katholischen Residenzstädten erfüllte die Ordensbühne zugleich die Funktion eines Hoftheaters. Mit großem Schaugepränge veranstalteten die Kollegien Theateraufführungen, die den höfischen Festen repräsentativen Glanz verliehen. Als 1568 der bayerische Erbprinz Wilhelm Prinzessin Renata von Loth-

Das Jesuitentheater

ringen heiratete, inszenierte man in München unter freiem Himmel den Samson des Niederländers Andreas Fabricius; die Musik der Chöre hatte der Hofkapellmeister Orlando di Lasso komponiert, dem Wunsch des fürstlichen Hauses nach angemessener Repräsentation dürften die Anspielungen auf die Tugend und den Glauben des regierenden Herzogs Albrecht V. entsprochen haben. Zu prunkvollen Spektakeln gerieten die szenischen Darbietungen des Josaphat (1573), des Constantinus Magnus (1574 und 1575) und der Hester (1577), aufgeführt auf öffentlichen Plätzen, mit einem Massenaufgebot an Schauspielern und Statisten: Im Konstantin-Drama traten mehr als 1 000 Darsteller auf, Mit der Komödie Otto Redivivus des profilierten darunter 400 Reiter in römi- Theaterautors Georg Stengel (1584–1651), die 1614 scher Rüstung; an der Inszenie- in Dillingen anlässlich der feierlichen Überführung rung des alttestamentlichen der Gebeine des Universitätsstifters Kardinal Otto Esther-Stoffes wirkten sogar Truchsess von Waldburg aufgeführt wurde, brachten 2000 Akteure mit. Für die üppi- die Jesuiten die Geschichte von der Gründung, der ge Ausstattung sorgte der Her- hoffnungsvollen Entwicklung und der gegenwärtigen zog, der Kostüme, Tapisserien, Blüte der Hochschule auf die Theaterbühne. Über das Geräte und Geschirr aus seinen ehrende Gedächtnis an den Universitätspatron hinaus Hofhaltungen herbeischaffen bot die prunkvolle Darbietung die Möglichkeit zu ließ. Als Höhepunkt der katholi- wirksamer Selbstdarstellung. schen Festkultur in der Residenzstadt München darf die Aufführung eines Dramas zur Einweihung der Jesuitenkirche St. Michael am 7. Juli 1597 gelten, das den Triumph des Erzengels Michael als Patron der vom Satan bedrängten Kirche darstellte. Im Sinne der gegenreformatorischen Zielsetzungen des frühen Jesuitentheaters verkündete die Tragikomödie, die einen großen Bogen zwischen apokalyptischen Visionen und realhistorischen Ereignissen spannte, den gegenwärtigen Sieg der römischen Kirche in Bayern – bühnenwirksam in Szene gesetzt, mit beträchtlichem Aufwand an Personal, darunter 900 Schüler des Jesuitengymnasiums, mit Chören und Instrumentalisten, mit kostbaren Dekorationen, mechanischen Verwandlungen und pyrotechnischen Kunststücken. Die multimediale Inszenierung entsprach nicht nur dem Selbstverständnis der triumphierenden Papstkirche; mit ihren festlichen Aufzügen und Huldigungen, die Elemente höfischer Entrées und Trionfi aufnahmen, mochte sie auch den repräsentativen Ansprüchen des bayerischen Herzogshauses genügen. Die Tradition jesuitischer Huldigungsspiele reicht bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Anlässlich der Inthronisation des Kardinals Philipp von Wittelsbach brachten die Schüler des Regensburger Jesuitengymnasiums 1597 das von dem italienischen Jesuiten Stefano Tucci verfasste Drama Christus Iudex auf die Bühne; 1619 wurde Kaiser Ferdinand II. bei seinem Besuch in Würzburg mit der Aufführung der Tragikomödie Daniel geehrt; und in Passau feierte man 1689 den Regierungsantritt des Fürstbischofs Johann Philipp von Lamberg mit zwei prunkvollen Aufführungen, denen Chöre und Ballette besonderen Glanz verliehen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzte der allmähliche Rückzug des Jesuitentheaters aus der höfisch-politischen Öffentlichkeit ein. In seiner ursprünglichen Form als rhetorische Schulübung aber wurde das Schauspiel bis zur

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Baldes Jephtias, 1637 in Ingolstadt uraufgeführt, kann als einer der Höhepunkte barocker Dramatik in Deutschland gelten. In einer monumentalen Tragödie, die der klassisch antiken Ästhetik verpflichtet war, brachte der jesuitische Autor die alttestamentarische Erzählung vom jüdischen Feldherrn Jephte, der aus Gehorsam gegen Gott die eigene Tochter opfern muss, auf die Bühne. Das Amberger Textbuch (1654) zählt zu den seltenen Einzeldrucken eines Jesuitendramas, als Anhang sind sogar die Noten aller Chorpartien enthalten.

30 Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater In einer Reihe theoretischer Werke setzten sich jesuitische Autoren mit der Spielpraxis des Ordens auseinander. 1727 erschien in München die Dissertatio de actione scenica des Franciscus Lang (1654–1725), dem auch als Verfasser von Kongregationsdramen, der so genannten Meditationes, Beachtung gebührt. In seinem Büchlein über die Schauspielkunst entwickelte er unter anderem Regeln für die „Darstellung der Affekte“, für Gestik, Mimik und Gang des Darstellers. In den Figurinen fanden seine Bestimmungen sinnlichen Ausdruck.

Aufhebung der Gesellschaft Jesu im Jahr 1773 weiterhin gepflegt. Theoretische Bemühungen um die Bühnenkunst, um Aufführungsstil und poetische Grundlegung, wie sie Franciscus Lang (1654–1725) mit seiner Dissertatio de actione scenica oder Ignaz Weitenauer (1709–1783) mit seiner Ars poetica vorlegten, zeugen von der ungebrochenen Wertschätzung des Theaters. Vorsichtig öffnete man sich den Strömungen der Zeit, der Aufklärung, der Empfindsamkeit und dem Patriotismus, auch die Pflege der Muttersprache gewann langsam an Bedeutung. Selbst nach der Aufhebung des Ordens überlebte das jesuitische Schultheater an einigen Orten. So war das Regensburger Kolleg in ein bischöfliches Gymnasium umgewandelt worden, wo die ehemaligen Ordensangehörigen, nicht zuletzt wegen Personalmangels, wiederum mit Bildungs- und Erziehungsaufgaben betraut waren. Bis zum Ende des Jahrhunderts führten sie mit ihren Zöglingen kontinuierlich Schau- und Singspiele zum Schuljahresschluss auf, die auch auf einen berühmten Besucher große Faszination ausübten. In seiner Italienischen Reise schrieb Goethe über das Theatererlebnis: „Ich verfügte mich gleich in das Jesuitenkollegium, wo das jährliche Schauspiel durch Schüler gegeben ward, sah das Ende der Oper und den Anfang des Trauerspiels. Sie machten es nicht schlimmer als eine angehende Liebhabertruppe und waren recht schön, fast zu prächtig gekleidet. Auch diese öffentliche Darstellung hat mich von der Klugheit der Jesuiten aufs neue überzeugt. Sie verschmähten nichts, was irgend wirken konnte, und wußten es mit Liebe und Aufmerksamkeit zu behandeln.“

Das Theater der Prälatenorden Eine reiche Theaterkultur brachten nicht allein die Jesuitenkollegien hervor. Mit zunehmender Intensität widmeten sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert auch die alten Orden, die Augustinerchorherren, Zisterzienser und Prämonstratenser, vor allem aber die Benediktiner, dem Theaterspiel. Im Bau eigener Theatersäle, in Ottobeuren, Weyarn, Ettal, Prüfening oder Fürstenfeld, fand die Liebe der Prälatenklöster für szenisch-musikalische Darbietungen ihren sinnfälligen Ausdruck. Mit unzähligen Aufführungen leisteten sie bei einem breiten Publikum kulturelle Aufbauarbeit, allein für Ottobeuren lassen sich im 18. Jahrhun-

Das Theater der Prälatenorden

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Der repräsentative Theatersaal in Ottobeuren, mit den von Franz Joseph Siegler geschaffenen Deckenfresken „Komödie“ und „Tragödie“ (1724/25), zeugt von der großen Bedeutung des klösterlichen Theaterbetriebs.

dert über 100, für Benediktbeuern und Weyarn über 70 Theaterproduktionen nachweisen. Die Vielzahl der erhaltenen Periochen, Textbücher und Spielhandschriften zeugt von der vielgestaltigen Blüte des klösterlichen Theaters, an der auch kleinere Konvente Anteil hatten. Viele Anregungen bot zunächst die Theaterkultur der Jesuiten, doch bald suchten die Dramatiker der Prälatenorden nach eigenen Ausdrucksformen. Natürlich hatte das Bühnenspiel – im Sinne der religiösen Botschaft – weiterhin seine didaktische und pädagogische Kraft zu entfalten. Man wollte christliche Moralvorstellungen veranschaulichen, aber im Licht der Gnade eines barmherzigen Gottes, den Milde und Verständnis für menschliche Schwächen charakterisieren, nicht Zorn und Unerbittlichkeit. Oft standen daher die tragischen, aber auch komischen Züge des menschlichen Lebens im Mittelpunkt der Dramen. So fügte Wolfgang Rinswerger (1658–1721) aus dem Kloster Tegernsee, später Abt in Michelfeld, in seine Historien und Heiligenspiele urwüchsige Szenen in heimatlicher Mundart ein; heitere Zwischenspiele und deutsche Liedeinlagen prägten die Dramen des Wessobrunner Klosterhistorikers Coelestin Leuthner (1695 bis 1759) – zwei Beispiele für die Volkstümlichkeit und Bodenständigkeit des Benediktinertheaters. Die Stücke schöpften ihre Stoffe aus der Bibel, der Kirchen- und Profangeschichte und der Mythologie, gleichermaßen beliebt waren Allegorien, Legenden und Moralitäten. Einfluss auf die altbayerischen und schwäbischen Benediktinerklöster gewann das überaus rege Theaterleben an der 1622 gegründeten Ordensuniversität in Salzburg. Nahezu 600 Aufführungen auf den akademischen Bühnen im 17. und 18. Jahrhundert sind bezeugt. Bei vielen Mönchen war während der Studienzeit die Begeisterung für das Theater erwacht. Mancher hatte an der Hohen Schule als „Pater comicus“, als Bühnendichter und Spielleiter, gewirkt und diese Tätigkeit später in seinem Professkloster fortgesetzt. Oddo Guzinger (um 1617–1679)

In den Klöstern der alten Orden boten oft Jubiläen der Prälaten den Anlass für musikalisch-szenische Darbietungen. Literarisch begabte „Hausdichter“ schufen festliche Arrangements, die gleichermaßen der Unterhaltung und Huldigung des Geehrten dienten. Aus Benediktbeuern ist die prachtvoll ausgestattete Handschrift eines allegorischen Festspiels mit dem Titel Felix connubium [Glückliche Vermählung] überliefert, das die Mitglieder des Konvents 1744 zum Jahrtag der Wahl von Abt Leonhard Hohenauer auf die Bühne brachten.

32 Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater

Als Bühnendichter brachte der spätere Abt Rupert Kornmann, während seiner Schul- und Studienzeit in Amberg und Salzburg mit der barocken Theaterkultur der Jesuiten und Benediktiner in Berührung gekommen, das Stiftstheater in Prüfening zu reicher Entfaltung. Literarisch ausnehmend produktiv, verfasste er eine Reihe von Gratulations- und Huldigungskantaten, Fastnachtspielen sowie Schulkomödien, die über den festlichen Rahmen hinaus zur Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit gerieten.

Ferdinand Rosner (1709–1778), Professor der Poesie und Rhetorik in der Benediktinerabtei Ettal, später als „Pater comicus“ am Freisinger Lyzeum für das Theaterwesen verantwortlich, schuf 1750 eine wirkungsmächtige Neufassung des Oberammergauer Passionsspiels.

und Marian Wimmer (1725–1793) aus Seeon, Placidus Seiz (1671–1732), der spätere Abt von Ettal, Wolfgang Rinswerger, der Andechser Placidus Scharl (1731–1814) oder Rupert Kornmann (1757–1817) aus Prüfening zählen zu den begabtesten Dramatikern. Eine fruchtbare Pflegestätte fand das szenisch-musikalische Spiel auch an dem 1697 eröffneten fürstbischöflichen Lyzeum in Freising, das von der Bayerischen Benediktinerkongregation unterhalten wurde. Der berühmteste Dichter war Ferdinand Rosner (1709–1778), der Schöpfer des Oberammergauer Passionsspieltextes von 1750, der hier mehr als ein Jahrzehnt wirkte; auch in seinem Heimatkloster Ettal verfasste er eine Reihe von Stücken, die von den Zöglingen der dortigen Ritterakademie aufgeführt wurden. Das Theater der Prälatenorden ist Schul- und Klostertheater. Das heißt, das Theaterspiel war zum einen – dem Vorbild der Jesuitengymnasien folgend – ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts, ein Bildungsfaktor, der gleichermaßen der moralischen Belehrung wie der Schulung zu freiem Sprechen und gewandtem Auftreten als Vorbereitung auf das spätere Berufsleben diente. Zum anderen sollten die kleinen Gratulations- und Huldigungsstücke, die als „Kammertheater“ innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft zur Aufführung gelangten, der Erbauung und Belustigung der Kommunität dienen. In manchen Stiften wirkten literarisch begabte Mönche als „Hausdichter“, wie der Augustinerchorherr Anselm Manhardt (1680–1752) in Rottenbuch, der eine Vielzahl geistlicher Schauund Trauerspiele – bedeutend seine Theatralische Vorstellung, Von dem Bitteren Leyden und Sterben Deß Ewigen Sohn Gottes Christi Jesu – hinterlassen hat. Als Fixpunkt der schulischen Theaterdarbietungen kristallisierten sich die so genannten Ends- oder Finalkomödien heraus, mit denen das Schuljahr seinen festlichen Abschluss fand; im Anschluss an die Vorstellungen, die meist in die ersten Septembertage fielen, wurden die besten Schüler jeder Klasse mit einer Buchprämie belohnt. Die Zöglinge der Klosterseminare traten dabei in Anwesenheit geladener Gäste, darunter hochstehenden und einflussreichen Persönlichkeiten, auf die Bühne – eine entsprechende Praxis pflegte man unter anderem in Ottobeuern, Ettal, Benediktbeuern und Prüfening. Mit diesen aufwändigen Inszenierungen am Ende des Schuljahrs pflegten die Prälatenklöster eine repräsentative Kultur nach außen, die ihr öffentliches Erscheinungsbild maßgeblich prägte. Die „Recreationes“, die ehrbare und maßvolle Unterhaltung versprachen, bildeten einen relativ festen Spieltermin in der Fastnachtszeit. Sie waren öffentlich und hatten meist großen Zulauf aus der Umgebung. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich die „Schlittaden“, wie sie am Freisinger Lyzeum – in der Tradition jesuitischer Schlittenfahrten (unter anderem in Augsburg, Dillingen, Eichstätt, Landshut, München und Straubing) – abgehalten wurden. Bei diesen Faschingsvergnügungen handelte es sich um choreografische Umzüge auf prunkvoll ausgestatteten, mit mythologischen oder allegorischen Figuren versehenen Pferdeschlitten, die in jedem Jahr einem anderen übergreifenden Programm folgten. Programmatische Flugschriften, abgefasst in deutscher Sprache, erläuterten einer breiteren Öffentlichkeit Sinn und Zweck der bildhaften Darbietungen. Anlässe und Gelegenheiten zum Theaterspiel boten für den Konvent bestimmte biografische Stationen oder Jubiläen des jeweiligen Abtes. Zu seinem Namenstag oder Geburtstag, zum Jahrestag seiner Wahl oder Weihe brachte man kleine Singspiele, einen „Applausus musicus“ oder eine Kantate auf die Bühne, die gute Wünsche enthielten und dem Lobpreis des Gefeierten dienten. Inspiration fand die klösterliche Fest- und Gelegenheitsliteratur in der zeitgenössischen Pastoraldichtung, wie das Kleine Schäferspiel zeigt, das 1790 zum Gedenken an die Wahl des Abtes Maurus Hermann von Weißenohe aufgeführt wurde: Die Arien, Duette und Chöre, die die „Hirtenfeier“ umrahmten, beschworen das Bild einer friedlichen, harmonischen Welt herauf, die mit der klösterlichen Gemeinschaft zu identifizieren war. Repräsentative Festanlässe boten auch die Gedenktage der Stiftsgeschichte. Zum Programm der Jubiläumsfeiern gehörte bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts – als Teil der klösterlichen Erinnerungskultur – die Aufführung von Theaterstücken. Selbstverständliche Anlässe für szenische Darbietungen waren die Tausendjahrfeiern der Reichsabtei Ottobeuern (1766) oder die „Tausend-

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