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February 21, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Religionswissenschaft, Weltreligion
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AK 5

READER "Streit ums Kopftuch"

Reader "Streit ums Kopftuch"

Liebe Genossinnen und Genossen,

Das Kopftuch. Tausende Musliminnen in Deutschland tragen es. Es ist ein kulturelles oder religiöses Symbol. Ein Zeichen für die Zugehörigkeit zum Islam. Wer es trägt, tut dies meist aus religiöser Überzeugung - oder vielleicht auch aus missionarischer Absicht? Der Streit um Kopftücher begann nicht erst vor sieben Jahren. Mitte der 80er Jahre war das Tragen von Kopftüchern unter den Musliminnen in Deutschland noch kein Thema. Inzwischen hat sich das geändert. Liegt das daran, dass das Kopftuch von vielen nicht mehr als religiöses, sondern als politisches Symbol gesehen wird? Was bedeutet das Tragen des Kopftuchs in unserem Rechtsstaat? Ich hoffe, dass Euch dieser Reader bei der Beantwortung dieser Fragen etwas weiterhilft und Euch bei der Arbeit im Wahlkreis unterstützt.

Eurer

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Reader "Streit ums Kopftuch"

Inhaltsverzeichnis I.

EINFÜHRUNG

5

NICHT NUR EIN STÜCK STOFF

5

Eine Betrachtung von Heiner Bielefeldt

DER SCHUTZ VON MINDERHEITEN - EINE LEHRE DER GESCHICHTE

8

Ein Essay von Jutta Limbach

TOLERANZ DEN TOLERANTEN

14

Eine Antwort von Seyran Ates

GLAUBEN, MINDERHEITEN, EIERTANZ

18

Leserbriefe verschiedener Zeitungen zum Kopftuchurteil

EINE FAHRLÄSSIGE DEBATTE

21

Ein Kommentar von Barbara John

II.

DAS KOPFTUCH IN EUROPA

24

DIE DEBATTE IN EUROPA

24

Ein Überblick über die Regelungen und Debatten unserer Nachbarn

DAS KOPFTUCH ALS ZEICHEN MANGELNDEN INTEGRATIONSWILLENS?

27

Ein Kommentar von Heike Oestrich

DIE HALTLOSEN GOTTLOSEN - ZUR DEBATTE IN FRANKREICH

30

Eine Polemik von Charles Phillipe Dijon

DAS LIBERALE ÖSTERREICH

33

Positionspapier des Landesschulratspräsidenten und der Islamgemeinschaft Österreich

III. STAAT UND RELIGION

46

RELIGIONSFREIHEIT ODER NEUTRALITÄTSGEBOT?

46

Eine Einführung von Hans Michael Heinig

DIE LAIZISMUS-FALLE

52

Ein Kommentar von Mark Siemons

WAS BEDEUTET RELIGIONSFREIHEIT HEUTE NOCH? Auszüge einer Rede von Bundespräsident Johannes Rau

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56

Reader "Streit ums Kopftuch"

IV. WAS BEDEUTET DAS KOPFTUCH?

67

FRAUEN MIT KOPFTUCH IN DEUTSCHLAND

67

Eine Analyse von Yasemin Karakasoglu

ZWEI GESICHTER UNTERM TUCH

72

Ein Kommentar von Heide Oestrich

DIE MÖGLICHKEITEN ANTIRASSISTISCHER ERZIEHUNG

78

Ein Kommentar von Sabine Schiffer

VERBIETET DAS KOPFTUCH!

81

Eine Stellungnahme von Rahima Valema

V. DIE DEBATTE ZUM KOPFTUCH

86

EIN STÜCK IDENTITÄT?

86

Notizen eines Kulturkampfes von Mohhsen Massarat

WOLLEN WIR EINE PARALLELGESELLSCHAFT?

89

Eine Gegenrede von Niels-Arne Münch

DEUTSCHLAND 2014: MUSLIMISCHE NO-FUTURE-KIDS?

93

Ein Bericht von Astrid Maier über die Arbeit von Basam Tibi

DIE SCHULISCHE INTEGRATION DURCH KOPFTUCHVERBOT FÖRDERN

96

Ein Interview mit Anette Schavan

STELLUNGNAHME DER ISLAMISCHEN ORGANISATIONEN

98

Ein Bündnis von 64 Organisationen

VI. AUSWIRKUNGEN AUF NRW

100

DER KOPFTUCHSTREIT UND SEINE FOLGEN

100

Ein Überblick über die einzelnen Bundesländer

CDU UND FDP SIND AUF VERSCHIEDENEN HOLZWEGEN

104

Eine Analyse der Situation in NRW von Wolfram Kuschke

KEINE RECHTLICHE REGELUNG NOTWENDIG

107

Eine rechtliche Bewertung des Gesetzentwurfs für NRW von Thomas Stotko

WIE EIN DACH AUF DEM HAUS

112

Ein Kommentar von Elena Ern

STREIT UMS KOPFTUCH IN NRW

114

Sendemanuskript von Beate Becker für Westpol

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Reader "Streit ums Kopftuch"

I. Einführung Nicht nur ein Stück Stoff Eine Betrachtung von Heiner Bielefeldt Seit Jahren wird in Deutschland über das Kopftuch diskutiert und gestritten. Die Auseinandersetzungen finden nicht nur in Zeitungen und Leserbriefen statt, sondern geschehen auch in Parteiversammlungen und Kirchengemeinden, im Bundestag sowie in verschiedenen Länderparlamenten und schließlich vor Gericht. Anders als zum Beispiel in Frankreich, wo auch Schülerinnen (und theoretisch auch Schüler) an staatlichen Schulen von einem Verbot "auffallender religiöser Symbole" betroffen sind, geht es in der deutschen Debatte hauptsächlich um die Frage, ob eine Lehrerin im öffentlichen Schuldienst während des Unterrichts das Kopftuch tragen darf. Zwar gibt es auch Auseinandersetzungen um das Kopftuch in sonstigen Bereichen des öffentlichen Dienstes oder in der privaten Wirtschaft; sie haben bislang aber sehr viel weniger Aufmerksamkeit gefunden.

Das öffentliche Interesse am Thema ist anhaltend groß. Ganz offensichtlich geht es beim Kopftuchstreit keineswegs bloß "um ein Stück Stoff", wie gelegentlich behauptet wird. Nur der hohe Symbolwert, der dem Kopftuch zukommt bzw. zugeschrieben wird, erklärt die Intensität und teils auch Emotionalität der politischen Debatte. Dieser Symbolwert ist komplex und uneindeutig. Die Grenzen zwischen einer von der jeweiligen Trägerin des Kopftuchs bewusst intendierten symbolischen Wirkung einerseits und einem von außen zugeschriebenen oder unterstellten Symbolwert andererseits bleiben unscharf. Nicht zuletzt deshalb wird das Kopftuch zum Katalysator oder auch zur Projektionsfläche für ganz unterschiedliche gesellschaftliche Konflikte.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Kopftuchdebatte Züge einer nationalen Selbstverständigungsdebatte hat. Dabei geht es um Grundfragen wie die Anerkennung und politische Gestaltung der Einwanderung, den Umgang der Geschlechter miteinander, gesellschaftliche Toleranz und ihre Grenzen, das Für und Wider einer (wie immer im Einzelnen definierten) "Leitkultur", das Verhältnis von säkularem Staat und Religionsgemeinschaften, die Anerkennung kultureller und religiöser Vielfalt, die gleichberechtigte Integration von Muslimen (und anderen Minderheiten) in der Gesellschaft, die Angst vor religiösem Fundamenta-

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lismus. Diese und weitere Grundfragen schwingen bei der Diskussion um das Kopftuch mit. Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, dass die Kopftuchdebatte deshalb die Funktion einer stellvertretenden Debatte über politische Grundsatzfragen hat, die sich sonst nur schwer artikulieren lassen.

Ungewohnte Allianzen

Die in der Kopftuchdebatte mitschwingenden politischen Grundsatzfragen sind zugleich vielfältig ineinander verwoben. Die Fronten in der Auseinandersetzung verlaufen daher keineswegs durchgehend entlang der traditionellen politischen Lagergrenzen. Vielmehr stößt man immer wieder auf sonst ungewohnte Allianzen: Man kann etwa erleben, dass linksalternative Anhänger der multikulturellen Gesellschaft gemeinsam mit religiös motivierten Wertkonservativen für das Recht muslimischer Frauen auf das Tragen des Kopftuchs eintreten. Umgekehrt finden sich im Lager der strikten Kopftuchgegner zum Beispiel sozialdemokratische türkische Kemalisten genauso wie manche Anhänger einer deutschen Leitkultur und schließlich auch Teile der feministischen Bewegung. Weder die Kirchen noch die Gewerkschaften haben zum Kopftuchthema eine einheitliche Linie entwickelt, und auch Menschenrechtsorganisationen bzw. Frauenrechtsorganisationen sind in dieser Frage oft gespalten.

Politische und rechtliche Streitfragen

Kompliziert ist die Debatte um das Kopftuch auch deshalb, weil nicht nur unterschiedliche Wertungen, sondern oft auch unterschiedliche Einschätzungen von Sachverhalten gegeneinander stehen. Unter den umstrittenen Sachfragen sind folgende im Zentrum der Debatte: Inwieweit kann man davon ausgehen, dass Frauen und Mädchen das Kopftuch aus freier Entscheidung tragen, und inwieweit ist zu vermuten, dass sie unter Druck durch ihre Familien bzw. ihre Umgebung stehen? Welche psychologische Wirkung entfaltet eine Kopftuch tragende Lehrerin auf die Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Altersstufen? Wieweit wird das Kopftuch von Organisationen des politischen Islams instrumentalisiert? Welche Rolle spielt das Kopftuch für die individuelle Lebensplanung muslimischer Frauen?

Umstritten ist auch die Frage, welche Auswirkungen ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen längerfristig haben wird. Während die Befürworter eines Verbots darin eine Schutzfunktion für muslimische Mädchen und Frauen entfalten, die sich sonst womöglich einem starken Milieu-

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druck ausgesetzt sehen, befürchten Skeptiker, dass eine solches Verbot – eventuell weit über den Schulbereich hinaus – die schon bestehende gesellschaftliche Ausgrenzung muslimischer Frauen verschärfen und die Frauen damit womöglich zum Rückzug in eine Nischenökonomie am Rande der Gesellschaft treiben könnte.

Bei den kontroversen Wertentscheidungen (die sich von den genannten Sachfragen natürlich nicht immer sauber trennen lassen) geht es vor allem um das Verhältnis der Religionsfreiheit und der Gleichberechtigung der Geschlechter zueinander. Beide Ansprüche haben einen grundrechtlichen Status. Zusätzlich kompliziert wird die Lage dadurch, dass im Streit um das Kopftuch der Lehrerin außerdem noch zwei Komponenten innerhalb der Religionsfreiheit in Konflikt zueinander geraten können, nämlich einerseits die Freiheit der Lehrerin, ihre Religion zu bekennen und nach Grundsätzen ihrer Religion zu leben ("positive Religionsfreiheit"), und andererseits die Freiheit der Schülerinnen und Schüler, sich einem etwaigen missionarischen Druck entziehen zu können ("negative Religionsfreiheit"). Außerdem ist der Gesichtspunkt der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zu berücksichtigen - ob die Lehrerin in der staatlichen Schule diese Neutralität unmittelbar verkörpert, ist allerdings wiederum umstritten.

Sehr kontrovers wird schließlich die Frage diskutiert, inwieweit islamische und christliche Symbole rechtlich strikt gleich zu behandeln sind. Ob die in einigen Bundesländern vorgesehene Privilegierung christlicher Symbole mit der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom September 2003 geforderten Gleichberechtigung der Angehörigen unterschiedlicher Religionen vereinbar ist, bleibt jedenfalls umstritten.

Flexible Regelungen

Die Konfliktlage ist also wahrlich kompliziert. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Debatte um das Kopftuch die Gesellschaft noch lange Zeit beschäftigen wird. Wahrscheinlich wird man sich für differenzierte Lösungen aussprechen und das Kopftuch einer im Gericht tätigen Laienrichterin anders bewerten als das Kopftuch in der privaten Wirtschaft oder in der öffentlichen Schule – und hier noch einmal mit unterschiedlichen Regelungen für Lehrerinnen und für Schülerinnen.

Angesichts der zahlreichen widerstreitenden sachlichen und normativen Gesichtspunkte spricht Vieles dafür, von pauschalen Regelungen der Kopftuchfrage Abstand zu nehmen und flexible Umgangsweisen zu entwickeln, die den unterschiedlichen Fallkonstellationen Raum

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geben und vor allem auch den Kopftuch tragenden Frauen die Chance lassen, über ihr Selbstverständnis Auskunft zu geben. Den "vieldeutigen" Symbolwert des Kopftuchs lediglich von außen zu bewerten, ohne die betreffenden Frauen zu hören, wäre sicherlich kein sinnvoller Weg.

Der Schutz von Minderheiten - Eine Lehre der Geschichte Ein Essay von Jutta Limbach Mit den sechziger Jahren beginnt das Zeitalter weltweiter Migration. Menschen finden sich in einer anderen lokalen Umwelt wieder, in der sie sich von den Einheimischen nicht nur in Kleidung, Speise und Trank, sondern auch in ihrer Sprache, in ihrem Denken und Glauben voneinander unterscheiden. Die auch in Europa - wie schon zuvor in den USA und Kanada wachsende Vielfalt von Kulturen und Religionen führt zu Spannungen und Konflikten.

Häufig ist die Schule Ort der Auseinandersetzung. Gegenstand des Konflikts sind vielfach die Kleidung, religiöse Zeichen oder Symbole. Man denke an das "islamische Kopftuch" oder das Kruzifix. Darf eine Schülerin oder eine Lehrerin in einer öffentlichen Schule das Kopftuch tragen? Hat eine islamische Schülerin ein Anrecht darauf, vom koedukativen Sportunterricht befreit zu werden, weil sie sich dem anderen Geschlecht nicht in der Sportkleidung zeigen darf? Jedenfalls nach ihrer Lesart des Koran.

Aber auch jenseits der Schule stellen sich Fragen: Ob etwa in deutschen Städten der mit Lautsprecher übertragene Ruf des Muezzin ebenso zugelassen werden darf wie das Glockengeläut der christlichen Kirchen? Oder ob den Fremden das religiös gebotene Schächten erlaubt werden muss, obwohl es den einheimischen Tierschutzregeln widerspricht? In jüngster Zeit sind es vor allem Vorschriften des Koran, mit denen Muslime und Musliminnen Verhaltensweisen begründen, die nicht denen der einheimischen Bevölkerung entsprechen oder gar diesen widersprechen.

Im Groben sind auf diese Fragen zwei entgegen gesetzte Antworten möglich: Die eine besteht in der Empfehlung, die Zugewanderten/Migranten mögen sich bitte den Gebräuchen und der Kultur ihres Gastlandes anpassen. Die diesem Assimilationszwang entgegen ge-

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setzte Alternative zielt auf die Kulturfreiheit. Gemeint ist damit das Recht des Fremden, in seinen eingewurzelten Lebensformen und Wertprinzipien leben zu dürfen, die ihm aus dem Herkunftsland (der Mütter und Väter) vertraut, vielleicht sogar heilig sind.

Idee und Wirklichkeit der multikulturellen Gesellschaft

Beide Strategien kennen - nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland - ihre Anhänger. Zwar werden sie in der Reinheit/Einfalt kaum vertreten. Doch bevorzugen die jeweiligen Gegner die grobschlächtige Lesart des jeweils anderen, von ihnen bekämpften Konzepts. Das zeigt die öffentliche Debatte seit dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam und den Selbstmordattentaten in London. Angesichts dieser Akte fanatisierten Terrors aus der Mitte der Gesellschaft ist in Deutschland über die Parteigrenzen hinweg ein Abgesang auf die Idee einer multikulturellen Gesellschaft angestimmt worden. Ja, mehr noch. Dieses Konzept ist als Wurzel des Übels ausgemacht worden.

Richtig ist die Beobachtung, dass allerorten in Europa Parallelgesellschaften entstehen. Vor allem in den Großstädten und Vorstädten, in denen viele Migranten und deren Abkömmlinge leben, vollzieht sich eine Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer, rassischer und religiöser Bruchlinien.

Dieser besorgniserregende empirische Befund sollte uns zwar aus unseren idealistischen Welten herabholen, aber nicht eine richtige gesellschaftspolitische Idee zu Grabe tragen lassen. Die wachsende Fragmentierung in unseren Groß- und Vorstädten ist nicht das Resultat der Idee von der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen. Sie ist vielmehr die Folge ihrer misslungenen Umsetzung in die Wirklichkeit.

Erst allmählich begreifen wir, dass die mit uns lebenden und arbeitenden Migranten und deren Kinder sich in unserer (vermeintlich) offenen Gesellschaft geistig unbehaust und von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen fühlen. Eine Mentalität der Unterlegenheit, ja der Minderwertigkeit gedeiht. Sie lässt die von der Mehrheitsgesellschaft ignorierten Menschen nach anderen Identität und Gemeinschaft stiftenden spirituellen Welten Ausschau halten. Die Zuflucht zu vorgeblich Heimat bietenden fundamentalistischen Predigern bietet sich da als Ausweg an. Zeichnen sich diese abartigen Spielarten von Religion doch dadurch aus, dass sie über Feindbilder verfügen, die das eigene Ego aufpolieren.

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Wurzeln des Terrorismus

Die Ursachen, Motive und Voraussetzungen der terroristischen Anschläge sind gewiss vielschichtig. Die Tatsache, dass diese Taten aus der Mitte der Gesellschaft kommen, lässt uns die Aufmerksamkeit dorthin lenken. Analysen, die den Wurzeln des Terrors nachgehen, haben gezeigt, dass weder Armut noch Analphabetismus eine Disposition zum Terroristen schaffen. Ein weitaus wichtigerer Faktor sei die Erfahrung von Demütigung. Diese erkläre, warum die Anführer des Terrorismus so erfolgreich in der Rekrutierung junger Männer seien.

Unser Ansatzpunkt sollte daher nach wie vor das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und die daraus begründbaren Rechte der Minderheiten sein. Auch wenn es auf den ersten Blick absurd erscheinen mag, angesichts der Gefahr des Terrorismus über den Schutz der Minderheit statt über den Schutz der Mehrheit nachdenken zu wollen.

Das Grundgesetz als Kontrastprogramm

In Deutschland hat der furchtbare Anschauungsunterricht in Unmenschlichkeit während der Nazizeit die Gestalt des Grundgesetzes vielfach beeinflusst. Insbesondere die Aufnahme der Menschen- und Bürgerrechte geschah in der Absicht, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und zur Gleichheit vor dem Gesetz ist eine Antwort auf die Entartung des Rechts im Nationalsozialismus und der im Schatten dieses Willkürsystems arbeitenden Vernichtungsmaschinerie.

Die Leidensgeschichte ethnischer, rassischer und religiöser Minderheiten in der Zeit des Nationalsozialismus hat sich im Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes niedergeschlagen. Laut diesem darf niemand wegen seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

Die Schöpfer des Grundgesetzes haben sich mit diesem Individualschutz von Angehörigen häufig benachteiligter Gruppen begnügt. Einen Minderheitenschutz im Sinne eines Gruppenrechts kennt das Grundgesetz im Gegensatz zu einigen Länderverfassungen nicht. Gemeint sind Normen, laut denen der Staat, die Länder und Gemeinden die kulturelle Identität und Eigenständigkeit einer ethnischen oder religiösen Minderheit zu schützen und zu fördern haben.

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Versuch der Reform des Grundgesetzes

Der Versuch der damaligen Opposition Anfang der neunziger Jahre das Grundgesetz um einen ausdrücklichen Schutz von Minderheiten zu ergänzen, schlug fehl. Selbst die Aufnahme des schlichten Satzes:

"Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten" scheiterte an den politischen Mehrheitsverhältnissen in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Der von der SPD darüber hinaus vorgeschlagene Zusatz, dass der Staat Volksgruppen und nationale Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit schützt und fördert, stieß bei der konservativen Mehrheit auf eine noch heftigere Abwehr. Die Gegner befürchteten, dass sich hinter diesem Minderheitsschutz eine neue gesellschaftspolitische Konzeption, nämlich die von der multikulturellen Gesellschaft verberge.

Für sie bedeutet der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" offensichtlich mehr als ein bloßes Kürzel für die beobachtbare Tatsache einer kulturell gemischten Gesellschaft. Sie assoziieren mit dem Konzept das Nebeneinander weitestgehend eigenständiger Kulturen. Es könne aber nicht Sache des Staates sein, so argumentieren sie, auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich das Nebeneinander möglichst vieler eigenständiger Kulturen zu organisieren. Vielmehr müsse von den Zuwanderern erwartet werden, dass sie sich in Staat und Gesellschaft unseres Landes integrieren. Neben den USA, Kanada und Großbritannien ist Deutschland das wichtigste Einwanderungsland. In ihm leben über sieben Millionen Ausländer. Rund 3,2 Millionen sind Muslime, davon zwischen 300 000 und 400 000 deutsche Staatsbürger. Diese große Zahl von Migranten und eingebürgerten Abkömmlingen von Migranten genießt keinen gruppenrechtlichen Minderheitsschutz. Insbesondere die Türken und ihre Abkömmlinge genießen keinen Schutz ihrer Herkunftssprache, Kultur und Religion.

Die Sprache, Kultur und Religion der Zuwanderer werden toleriert, aber nicht gefördert. In Deutschland vollzieht sich der Schutz der ethnischen und religiösen Minderheiten daher im Wesentlichen durch das Nadelöhr des Individualschutzes, insbesondere durch die allgemeinen Freiheitsrechte. Die Religionsfreiheit spielt dabei eine tragende Rolle. So ist der Bau einer Moschee, der islamische Religionsunterricht durch die Islamische Föderation, das Schächten und die Befreiung einer muslimischen Schülerin von dem koedukativen Turnunterricht Gegenstand von Gerichtsentscheidungen gewesen.

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Die prinzipielle Offenheit des Grundgesetzes

Aus der Religionsfreiheit aber folgt, dass es einen Assimilationszwang nicht gibt. Als säkularisiertes Freiheitsrecht ist die Bekenntnisfreiheit "offen für die Entfaltung verschiedener Religionen und Bekenntnisse". Die unterschiedlichen religiösen Überzeugungen sind gleichberechtigt und in ihrer Besonderheit anzuerkennen. Die Andersartigkeit "eingewanderter Religionen muss folglich ertragen werden. Die Empfehlung an die Migranten, sie mögen sich doch bitte den Gebräuchen ihres Gastlandes anpassen, verdient kein Gehör. Strategien, die die Angleichung der Minderheits- an die Mehrheitskultur fordern, vertragen sich nicht mit unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Unter der Herrschaft einer Verfassung, die die Freiheit des Glaubens und des weltanschaulichen Bekenntnisses schützt, ist ein Streben nach geistiger Vorherrschaft im Sinne einer Leitkultur fehl am Platz. Der Standard des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber der Pluralität weltanschaulich-religiöser Auffassungen.

Alle öffentlichen Gewalten der Bundesrepublik Deutschland haben die Glaubens-, Gewissens- und weltanschauliche Bekenntnisfreiheit und damit das Gebot der Toleranz zu respektieren. Kommt es zu Spannungen zwischen der Kultur der Mehrheit und der der Minderheit, so müssen die im Konfliktfalle von der Minderheit angerufenen Gerichte der Mehrheit trotzen, wenn verfassungsrechtliche Garantien auf dem Spiel stehen.

Da sich der moderne Staat nicht religiös definiert, sondern sich als Verfassungsstaat begreift, muss er die kulturelle und insbesondere die religiöse Verschiedenheit zulassen und verteidigen. Die Beantwortung letzter Sinnfragen ist nicht Sache des Staates. In einem pluralistischen Staat der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit kann es eine Verpflichtung auf das Christentum oder auf einen personalen Gott nicht geben. Denn nur der Staat kann die friedliche Koexistenz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen garantieren, der selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahrt.

Der Begriff "Toleranz" gehört zwar nicht zum unmittelbaren Wortschatz der Verfassung. Doch ergibt sich dieses Prinzip aus dem Gesamtsinn des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt das Gebot der Toleranz vor allem dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde. Aber auch in dem Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, dem Diskriminierungsverbot anderer Bekenntnisse und in der Religionsfreiheit äußert sich die "Wertentscheidung der Verfassung für Toleranz als einem tragenden Prinzip der freiheitlichen Demokratie".

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Grenzen der Toleranz

Auch die Toleranz kennt Grenzen. So dürfen sich die Verhaltensweisen einer religiösen Minderheit - seien sie auch in deren religiösem Recht verankert - nicht in Widerspruch zu den Grundwerten unserer Verfassung setzen. Das könnte etwa dann der Fall sein, wenn die religiösen Zeichen ein Symbol der Unterdrückung darstellten und der Würde und Freiheit der Trägerin zuwiderliefen. Das Grundgesetz garantiert auch die Gleichheit von Mann und Frau. Doch kann man das religiös motivierte Kopftuch nicht ohne weiteres als Symbol der Unterdrückung oder Ausdruck einer fundamentalistischen Grundeinstellung deuten. Das ist bei einer Burka, einem Schleier, der nur die Augen sehen lässt und alle anderen Partien des Kopfes und Körpers bedeckt, anders zu beurteilen. Denn der total verschleierten Frau wird die Möglichkeit genommen, von ihrem Gegenüber als ein Individuum wahrgenommen zu werden.

Religiöse Praktiken, die Kinder oder Frauen zum Objekt fremder kultischer Handlung herabwürdigen und deren Recht auf körperliche Unversehrtheit - durch Genitalverstümmelung zum Beispiel - irreversibel schädigen, sind nicht von der Garantie der Religionsfreiheit gedeckt. Hier ist der Staat zum Schutz verpflichtet, auch und vor allem gegen die Übergriffe Privater, seien es auch die eigenen Eltern. Das ergibt sich für das Recht auf körperliche Unversehrtheit ausdrücklich aus dem Internationalen Privatrecht des Bürgerlichen Rechts und der Kinderkonvention.

Toleranz als Bürgertugend

Wer die Welt im Geiste der Menschenrechte verändern will, muss tiefer träumen und wacher handeln. Das unser Grundgesetz eröffnende Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde ist dabei die herausfordernde normative Idee. Um die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überbrücken, bedarf es nicht nur der Sympathie, sondern auch und vor allem der Tatkraft. Und zwar sowohl im Alltag, im sozialen Umfeld, als auch in der großen Politik.

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Toleranz den Toleranten Eine Antwort von Seyran Ates "Der Schutz von Minderheiten - eine Lehre aus der Geschichte": Die Überschrift ließ mich schon erahnen, was mich erwartete, als ich den Text von Jutta Limbach las. Ich dachte nur "Bitte nicht, nicht Sie auch. Frau Limbach, tun Sie uns das nicht an. Wir brauchen Frauen wie Sie, damit sich was bewegt. Sie haben doch schon so viel bewegt". Warum sind einige ganz besonders schätzenswerte, hochintelligente Frauen und Männer in exponierten Positionen gerade bei der Frage des Schutzes von Minderheiten blind auf dem Auge, mit dem sie sonst die Gleichberechtigung der Geschlechter eingefordert haben und nach wie vor einfordern? Der so genannte Minderheitenschutz geht in Bezug auf Islam und Religionsfreiheit nur auf Kosten von Gleichheitsrechten für Frauen und letztlich dient er nur dazu, veraltete archaisch patriarchale Strukturen aufrechtzuerhalten und zu verfestigen.

Die Situation muslimischer Mädchen und Frauen in Deutschland wird extrem relativiert und verharmlost. Ein nachvollziehbarer Grund hat sich mir - vor allem wenn es sich um Persönlichkeiten wie Frau Limbach handelt - noch nicht erschlossen. Deshalb vorab mein eindringlicher Wunsch: lassen Sie uns endlich Tacheles reden. Ich will verstehen und Abertausende muslimischer Mädchen und Frauen haben ein Anrecht darauf zu erfahren, wieso Verständnis und unendliche Toleranz ausgeübt wird gegenüber klar und deutlich Frauen unterdrückende Traditionen einzelner Kulturen. Menschenrechte sind universell und nicht abdingbar. Schon gar nicht für religiöse Zwecke.

Allahs Wohlgefallen?

Unter das Kopftuch werden ausschließlich Mädchen und Frauen gezwungen. Von Zwangsheirat sind ebenfalls mehrheitlich Mädchen und Frauen betroffen. Die Debatte über die freiwillig Kopftuch tragenden Frauen und Schülerinnen will ich hier gar nicht eröffnen. Die Debatte über die Unterschiede zwischen arrangierter Ehe und Zwangsehe auch nicht. Nur ein Hinweis: Schweigen kann nicht als Zustimmung gewertet werden. Aber sehr viele Mädchen werden so erzogen, dass sie zu solchen Themen zu schweigen haben. Ganz im Sinne einer bestimmten Auslegung des Korans, wo es heißt :

5137, Aisa, Allahs Wohlgefallen auf ihr, berichtete: Ich sagte: "O Gesandter Allahs, eine Jungfrau ist doch schamhaft!" Und er erwiderte: Ihre Einwilligung ist ihr Schweigen."

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Vom Schwimmunterricht, von Klassenfahrten, vom Sexualkundeunterricht werden Mädchen befreit. Der koedukative Ansatz, die Idee des gemischten Unterrichts, um ein gleichberechtigtes Rollenverständnis zu vermitteln, wird im Namen der Religion unterwandert. Betroffen sind muslimische Schülerinnen.

Natürlich dürfen wir die Jungs, die Männer nicht vergessen. Auch sie sind betroffen von diesen veralteten Traditionen. Sie werden gezwungen, den Mann zu spielen, die Hüter der Moral, der Ehre der Familie. Sie leben unter dem Joch, die Sexualität der weiblichen Mitglieder unter Kontrolle zu halten. Ein freies selbstbestimmtes Leben, die Wertschätzung der Individualität eines Menschen gilt als Gefahr für das weitaus bedeutendere Gemeinschaftsgefühl, die Gruppenidentität. Im Extremfall werden sie zu Mördern gemacht, weil das Sozialsystem es von ihnen fordert. Weil sie bei einer Verletzung ihrer Ehre nicht anders weiterleben können. Was soll geschehen mit den Muslimen, die es wegen dieser veralteten Tradition nicht aus eigener Kraft schaffen, sich der Gemeinde und dem Familienclan gegenüber zur Wehr zu setzen? Was soll geschehen mit den kleinen Machos, die schon im Kindergarten und in der Grundschule den Pascha spielen?

Frauenrechte für Musliminnen - auch in Deutschland

Es kann doch nicht im Sinne einer modernen Demokratie sein, wenn der Schutz von Minderheiten bedeutet, diesen Umständen gegenüber die Augen zu verschließen. Die Minderheit hat ein Recht auf Beteiligung an allen Grundrechten, die auch der Mehrheit zuteil werden. Wir verhindern Attentate durch Jugendliche der dritten Generation nicht, indem wir "deren" Kultur uneingeschränkt schützen, sondern nur, indem wir lernen, auf Grundlage einer gemeinsamen Verfassung und unter Beachtung gemeinsamer Grundwerte zusammen leben.

Es muss endlich Schluss sein damit, dass unter Berufung auf die deutsche Geschichte Menschenrechtsverletzungen in muslimischen Parallelgesellschaften in Deutschland hingenommen werden, während die Türkei bei den Beitrittsverhandlungen zur EU ständig auf die Menschenrechte hingewiesen und Frauenrechte eingefordert werden.

Ich schätze Frau Limbach sehr. Und sie hat mit Sicherheit für mich als Juristin hie und da eine Vorbildfunktion übernommen. Am 17. März diesen Jahres hat Frau Limbach für ihre Arbeit und Verdienste, insbesondere für die Gleichberechtigung von Frauen, im Berliner Abgeordnetenhaus die Louise-Schröder-Medaille überreicht bekommen. Ich hatte die Ehre, als Gast dabei sein zu dürfen, und ich habe die Ehre, die ihr zuteil wurde, aus innigstem Herzen

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mit Beifall uneingeschränkt unterstützt. Anne Will hat eine hervorragende, beeindruckende Laudatio gehalten. Frau Limbach, wie immer sehr sachlich, klar, wortgewandt und mit dem richtigen Maß an Humor, hat uns mitgerissen mit ihren Gedanken über die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sie hat aufgezeigt, was erreicht wurde und wie schwer es war und ist, als Frau gesehen zu werden.

Verdeutlicht hat sie das am Bespiel der Namensgeberin des Preises, Louise Schröder. Sehr eindringlich hat Frau Limbach betont, dass es kaum schriftliche Aufzeichnungen über Louise Schröder gibt, geschweige denn Literatur. Wenn Louise Schröder ein Mann gewesen wäre, sagte Frau Limbach sinngemäß, gäbe es meterweise Bücher über sie, denn Louise Schröder hat bedeutende Dinge erreicht. Dieser Satz hat sich bei mir eingebrannt. Wir wissen, dass dieser Satz auf sehr viele Frauen zutrifft und wir wissen, dass wir weltweit von einer Gleichberechtigung der Geschlechter noch sehr weit entfernt sind. Es gibt aber Kulturen, die schon sehr weit sind und es ist nicht zu leugnen, dass es Kulturen gibt, die noch am Anfang stehen, und natürlich gibt es sehr viel dazwischen.

Schade, dass Sie der (islamischen) Frauenfrage nur zwei kleine Abschnitte gewidmet haben, obwohl sich gerade dort die Frage der Unantastbarkeit der Menschenwürde stellt.

Zweierlei Maß

Viele Urteile wurden in Deutschland gefällt, um islamische Schülerinnen vom Unterricht auszuschließen. Die Argumente zielen immer wieder in die gleiche Richtung. Die "anderen" müssen nicht so leben wie wir. Das Oberverwaltungsgericht Bremen hat in seinem Urteil vom 24. März 1992 (InfAuslR 8/92, S. 269), in dem es um die Befreiung einer islamischen Schülerin vom Sportunterricht ging, zum Beispiel gesagt:

"...2. Unerheblich ist insoweit, dass heranwachsende moslemische Frauen durch die Forderungen ihres Glaubens behindert werden, in der westlichen Gesellschaft eine gleichberechtigte Stellung als Frau zu erlangen..."

Es gibt also zweierlei Maß, was die Menschenwürde von Frauen anbelangt. Auch wenn das Grundgesetz gleichzeitig vorsieht, keine Religion zu bevorzugen. Bei der Frauenfrage erfährt der Islam in Deutschland in vielerlei Hinsicht eine uneingeschränkte Bevorzugung, die damit einhergeht, dass individuelle Menschenrechte verletzt werden.

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Wir sind umgeben von islamischen Vereinigungen, die immer mehr einer Gesellschaftsordnung zustreben, die eine klare Trennung der Geschlechter vorsieht. Es stimmt mich daher nachdenklich, dass Frau Limbach, unter dem Abschnitt "Grenzen der Toleranz" nur kurz und knapp auf die Frauenfrage eingeht, obwohl gerade die Frauenfrage die ist, die über Integration entscheiden wird.

Die Idee der Multikulturalität ist gut, genauso wie die Idee des Sozialismus gut war und ist. Nur die Umsetzung war falsch. Dumm gelaufen. Stimmt sogar, Theorie und Wirklichkeit klaffen stets auseinander, wie so oft im Leben. Es stellt sich nur die Frage, wie die "richtige" Umsetzung aussehen sollte.

Selbstverständlich haben wir es, ganz bestimmt nicht ausschließlich aber zu einem großen Teil, der "falschen" Umsetzung der multikulturellen Gesellschaft zu verdanken, dass wir abgeschottete und schwer zugängliche Parallelgesellschaften haben. Welchem Umstand denn sonst? Es hieß doch immer, lasst die Minderheiten in Ruhe, die integrieren sich schon mit der Zeit von allein. Das war im Grunde aber keine "falsche" Umsetzung. Das war eine vorsätzliche Nichtintegrationspolitik. Denn eine Idee vom tatsächlichen Zusammenleben der Kulturen hatte kaum einer der Fans der Multikulti Gesellschaft. Das wird spätestens dann deutlich, wenn sie nachfragen, wie viele dieser Anhänger nichtdeutsche Freunde haben. Ganz nach dem Motto, ich bin für Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber nicht in meinem Haus, da bin ich der Herr.

Sollen unter dem Deckmantel falsch verstandener Toleranz die Minderheiten von den Errungenschaften der modernen Demokratie ferngehalten werden, weil es der Mehrheitsgesellschaft zu unbequem und gefährlich ist, einen Reformprozess zum Beispiel bei der islamischen Minderheit zu unterstützen? Soll so die "Leitkultur" aussehen?

Ich fordere die Förderung und den Schutz aller Kulturen in Deutschland, aber nur im Rahmen unseres Grundgesetzes. Der deutsche Staat wahrt seine Neutralität nicht, wenn er durch seine Rechtsprechung zum Beschützer einer extrem fundamentalistischen Auslegung des Korans wird.

Toleranz den Toleranten (Wer hat das noch mal gesagt???)

Wer Anspruch und Wirklichkeit tatsächlich miteinander in Einklang bringen will, sollte sich bei diesem Thema die Wirklichkeit der Minderheit genauer anschauen. Denn nur dann kann eine realistischer Minderheitenschutz angegangen werden. Und seien Sie nicht schockiert, wie

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die Engländer, über das, was Sie vorfinden werden. Die Realität ist grausamer, als die Vorstellung davon.

Glauben, Minderheiten, Eiertanz Leserbriefe verschiedener Zeitungen zum Kopftuchurteil Schwacher Glaube

Glauben, Religiosität sowie auch politische Einstellungen drücken innere Werte eines Menschen aus. Wenn man diese inneren Werte jedoch symbolisch für alle Mitmenschen sichtbar macht, ist entweder der Glaube schwach, und man braucht Hilfsmittel, um sich selbst zu bestätigen, oder man bezweckt eine Missionierung. Ein starker Glaube braucht kein Kopftuch.

Volker Petersen, Ammersbek

Minderheiten-Urteil

Das Kopftuch wird erlaubt, das Kruzifix wird abgehängt. Minderheiten-Urteile sind an der Tagesordnung in unserem Land. Wenn eine Lehrerin fanatisch vor Gericht ihr Kopftuch erstreitet, das im Koran nicht zwingend vorgeschrieben ist, ist vermutlich keine Neutralität im Unterricht zu erwarten. Die Muslime haben vor einigen Tagen in Deutschland bei ihrem Treffen (5000 Menschen waren angereist) immer wieder dazu aufgerufen, die westlichen dekadenten Menschen zu islamisieren. Im christlichen Abendland, zu dem Deutschland auch gehört, wird die Eidesformel "So wahr mir Gott helfe" kaum noch ausgesprochen. Wenn die Christen dann in der Minderheit sind, wird sich unser oberstes Gericht vielleicht auch einmal um ihre Wünsche kümmern. So kann die Ausländerfeindlichkeit geschürt werden. Traurig!

Inke Seggelke, per Fax

Vordergründig

"Die staatliche Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität ist ein unverzichtbares Gut,

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das nicht relativiert werden darf", sagte der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann. Das Erscheinungsbild einer Lehrkraft dürfe nicht durch einseitige weltanschauliche, religiöse oder politische Bezüge geprägt sein. Genau: Und deshalb sollte jeder Mensch die Kleidung tragen dürfen, die er möchte, solange sie sauber ist und den allgemeinen guten Sitten entspricht. Die Kleidung sagt doch nichts über die fachliche Befähigung aus. Ein Kopftuchverbot-Gesetz sehe ich als rassistische Handlung an.

Bettina Feldt, per E-Mail

Eiertanz

Der Eiertanz des Bundesverfassungsgerichts um das Kopftuch der Lehramtsbewerberin ging fünf zu drei aus. Dabei haben meines Erachtens drei Richter ihre Choreographie überzeugender dargestellt als die als Krückentanz vorgetragene Begründung der Mehrheit des Senats.

Dr. Franz Groh, Hamburg

Zu früh

Erst wenn in allen islamischen Staaten das Todesurteil durch Steinigen abgeschafft ist und christliche Frauen ohne Kopftuch, aber mit Kreuzchenkette um den Hals an Koranschulen unterrichten dürfen, dann ist es Zeit, über das Kopftuch an deutschen Schulen nachzudenken.

Franz Fick, München

Wer versteht das?

Wieder einmal wurde in Karlsruhe ein Urteil gesprochen, das nicht einmal drei der acht beteiligten Richter, geschweige der Normalbürger, verstehen bzw. nachvollziehen kann.

Steffen Weberruß, Bochum

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Haar bedeckt

Warum wird allgemein anerkannt, dass christliche Nonnen ihr Haar bedeckt halten, während es einer Muslima verwehrt sein soll? Mir erscheint dies unlogisch und intolerant gegenüber einer religiösen Minderheit.

Thomas Ziehm, per E-Mail

Rotes Tuch

Der Streit um das Kopftuch steht stellvertretend für unseren Umgang mit dem Fremdsein in einer globalisierten Welt. Nur vordergründig geht es um die Religionsfreiheit - das Bekenntnis der Klägerin zum Islam durch das Tragen des Kopftuchs sowie die Neutralitätspflicht des Staates in den Schulen.

Im Mittelpunkt aller Erwägungen zu dem - nicht ganz zu Unrecht - als "feige" empfundenen Urteil sollte die Frage stehen, wie weit unsere Toleranz gegenüber Symbolen des muslimischen Glaubens reicht. Weil das Kopftuch oft ein Zeichen für eine nicht offene Denkungsart fundamentalistischer Ausprägung darstellt, dürfte es sich gerade im sensiblen Bereich der Bildung als "rotes Tuch" erweisen.

Andreas Meyer-Suter, per E-Mail

Neutralität

Ich gebe Ihnen ja Recht, wenn Sie schreiben: "Religiöse genauso wie parteipolitische Einstellungen haben . . . an staatlichen Schulen nichts zu suchen." Das muss dann aber auch für das berühmte Kruzifix gelten. Entweder wir erlauben jedem Schüler und jedem Pädagogen die öffentliche Zurschaustellung des jeweiligen Glaubens, oder aber wir entscheiden uns für eine, wie Sie formulieren, "zur Neutralität verpflichtete Schule", die dann aber auch darauf verzichten muss, das Kreuz zu zeigen.

Florian Fabian, per E-Mail

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Eine fahrlässige Debatte Ein Kommentar von Barbara John Außerparlamentarisch wird das Kopftuchverbot bereits umgesetzt. Die Vertreibung kopftuchtragender Musliminnen aus der Berufswelt ist längst in vollem Gange.

Vor einigen Wochen, die Kopftuchdebatte machte bereits Schlagzeilen, bewarb sich eine junge, kopftuchtragende Berlinerin als Küchenhilfe bei McDonalds. Sie wurde abgelehnt - mit der Begründung, kopftuchtragende Mitarbeiterinnen seien für viele Kunden eine Provokation. Ähnliches hören Frauen, die sich um prestigeträchtigere Arbeitsplätze als Ärztinnen oder Rechtsanwaltsgehilfinnen bewerben, täglich.

Ortswechsel: Eine kopftuchtragende Studentin steigt in einen Berliner Bus und muss anhören, wie ein Fahrgast bei ihrem Anblick laut von "Scheißterroristen" spricht. Als sie ihn zur Rede stellt, gibt es keine Unterstützung für sie von anderen Mitfahrenden. Noch nie, so ist von Frauen mit Tüchern zu hören, war Ablehnung so deutlich zu spüren wie derzeit; nicht einmal nach dem 11. September. Damals gab es neben der offenen Distanzierung auch viele Versuche zur Kontaktaufnahme, um zu erfahren, wie Muslime auf das entsetzliche Ereignis reagieren.

Ressentiments und Ausgrenzungen in der Berufswelt

Das ist heute ganz anders: Frauen mit Kopftüchern erleben fast überall Ausgrenzung und Missbilligung, und zwar unverhohlen und direkt, so als gäbe es dazu eine öffentliche Aufforderung. Viele sehen sich behandelt, als sei ein Kopftuchverbot, das sich derzeit in BadenWürttemberg, im Saarland, in Niedersachsen und in Hessen noch in der parlamentarischen Beratung befindet, außerparlamentarisch bereits umgesetzt. Betroffen sind auch Frauen mit Berufswünschen außerhalb pädagogischer Tätigkeiten. Das sind schon jetzt weitaus mehr Musliminnen, als es Bewerberinnen mit Kopftuch für ein Lehramt gibt.

Die Vertreibung kopftuchtragender Musliminnen aus der Berufswelt ist in vollem Gange. Spreche ich die Befürworter eines staatlichen Kopftuchverbots auf diese Folgen an, dann höre ich: "Das war nicht beabsichtigt. Es geht nur um ein Verbot für den öffentlichen Dienst." Dass es nun alle Kopftuchträgerinnen trifft, liegt aber in der Logik der vorgetragenen Gründe. Im Mittelpunkt der Angriffe stand die Kopftuchträgerin. Sie wurde in geradezu klassischer

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Manier zum Feindbild aufgebaut. Kopftücher sind eine "militante Kampfansage an die Gesellschaft", lautet die verbreitete politische Botschaft.

Im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes aus Baden-Württemberg heißt es: "Insbesondere ist ein äußeres Verhalten" - gemeint ist das Kopftuch - "unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die

Freiheitsgrundrechte

oder

die

freiheitlich-demokratische

Grundordnung

auftritt."

Feindbild Kopftuch

Mit diesen Charakterisierungen werden alle Merkmale einer Feindbildstilisierung erfüllt: die Brandmarkung, die moralische Disqualifizierung und die Diffamierung: Musliminnen, die Kopftücher tragen, sind dieser Gruppe zuzuordnen. Musliminnen ohne Kopftücher gehören nicht dazu. So hat das Eintreten für das Kopftuchverbot "die Bedrohung erzeugt, die es wehren will", wie M. Siemons am 11. 11. 2003 in der FAZ schrieb. Das mag nicht von allen beabsichtigt gewesen sein. Gehört nicht aber die Abschätzung von Risiken und Nebenwirkungen zum politischen Handwerkszeug?

Warum sollte das Kopftuch, das von der Sprechstundenhilfe oder der Krankenhausärztin oder der Verkäuferin getragen wird, einen anderen Inhalt transportieren als das einer Lehrerin? Die dem Kopftuch zugeschriebene politische Symbolik bleibt im Auge vieler Betrachter gleich, egal wo sie den Frauen begegnen. Die Verbotsdiskussion befindet sich in einer Falle. Selbst dort, wo das Tuch nicht verboten werden kann oder darf, behält es seinen anstößigen Charakter. Genau das bekommen mehr und mehr Frauen zu spüren.

Schon suchen sie nach Auswegen und diskutieren, welches Studium oder welche Ausbildung überhaupt noch begonnen werden sollte, wenn Anstellungschancen im begehrten pädagogischen Arbeitsfeld nicht mehr realistisch sind. Sie witzeln, dass noch gute Einstellungsaussichten bei Call-Centers bestehen; schließlich gibt es noch keine Bildübertragung vom Telefonarbeitsplatz.

Wer sich ebenfalls auf gut qualifizierten Nachwuchs freuen kann, sind muslimische Organisationen: Schulen, Vereine und Eltern-Kindergärten. Bravo, kopftuchverbietende Knitzelsbacher: So tragt ihr dazu bei, dass die so genannte Parallelgesellschaft, vor der ihr permanent

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warnt, sich noch weiter abschotten kann. Musliminnen mit beruflichen Ambitionen außerhalb ihrer religiösen Milieus werden zurück zu Kindern, Küche und Moscheeverein verwiesen.

Lässt sich die allumfassende Diffamierung wieder beseitigen? Wohl kaum, denn wer sollte die Kehrtwende einläuten? Die politischen Verlautbarer verlören ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie erklärten, dass die Mohrrüben schabende Kopftuchträgerin beim Küchenjob keinesfalls die Unterdrückung ihres Geschlechts im Sinn habe und die Demokratie auch nicht beseitigen wolle, wie es ihre arrivierteren "Schwestern" vorhaben, die unbedingt in den Schuldienst wollen.

Das Schweigen der Musliminnen

Und die Musliminnen selbst? Könnten sie das leisten? Sie haben sich in der Debatte bisher kaum zu Wort gemeldet. Das hat viele Gründe: Sie sind nicht organisiert, haben eben keine Netzwerke geknüpft - obwohl dies oft vermutet wird. Die wenigen, die über eine gute Ausbildung verfügen, halten sich im Hintergrund. Zu oft haben sie die Erfahrung gemacht, dass ihre sparsamen öffentlichen Einlassungen verzerrt dargestellt oder gar ins Gegenteil verkehrt werden. Verteidigen sie ihr Kopftuch als religiöses Kleidungsstück, wird ihnen vorgeworfen, dass sie sich im Koran gar nicht auskennen; schließlich sei dort eine Kopfbedeckung gar nicht erwähnt, sie gehöre also gar nicht zur Religionsausübung. Erklären Frauen, dass sie sich selbstbestimmt für das Kopftuch entschieden haben, werden sie wieder belehrt: Das sei Einbildung, sie seien nur ferngesteuerte Marionetten der Islamisten.

So bleibt nur die Hoffnung auf weitere Entscheidungen höherer Gerichte, die feststellen, dass Artikel 4 der Grundrechte unserer Verfassung, die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, auch für Frauen mit Kopftüchern gilt. Sie werden dieses Rechts nicht dadurch würdig, dass sie das Kopftuch ablegen. Sie besitzen das Grundrecht bereits; es ist keine Belohnung für gelungene Assimilation. Mit der Kopftuchdiskussion ist mir klar geworden, wie sich viele in Deutschland die Integration wünschen: Integriert ist eine muslimische Frau erst dann, wenn sie nicht mehr so aussieht wie eine Muslimin und auch nicht dafür gehalten werden kann.

Wer sich diese bornierte Wunschvorstellung auf "unterhaltsame" Art vor Augen führen will, der sollte Lessings Einakter "Die Juden" lesen, geschrieben 1754. Übrigens. Der Autor hat dieses Trauerspiel ein Lustspiel genannt. I was not amused reading it.

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II. Das Kopftuch in Europa

Die Debatte in Europa Ein Überblick über die Regelungen und Debatten unserer Nachbarn In Europa ist die Frage, ob das Tragen des islamischen Kopftuches verboten werden soll, nicht einheitlich geregelt:

ÖSTERREICH: Ob Kopftuch, Kutte oder Kippa, in Österreich war bisher alles erlaubt, sowohl für Schüler als auch für Lehrer, Beamte oder Ärzte. Nur bei Polizistinnen und Richterinnen wäre ein Kopftuch nach Meinung von Juristen möglicherweise ein Problem. Rund um die Diskussionen in Frankreich und Deutschland hatten sich heimische Politiker aller Couleurs gegen eine Änderung der Rechtslage ausgesprochen. Nur die FP-Justizsprecherin Helene Partik-Pable dachte im Herbst 2003 laut über ein Schleierverbot nach. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hatte damals gemeint: "Wir müssen nicht jede Diskussion aus Deutschland importieren".

FRANKREICH: In der laizistischen Republik Frankreich ist die Frage seit einem Jahrhundert entschieden: Das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche von 1905 untersagt allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in Ausübung ihrer Funktion Zeichen ihrer religiösen Zugehörigkeit zu tragen. Muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch gibt es deshalb in Frankreich nicht. Seit dem Schuljahr 2004/05 müssen aber auch Schülerinnen den "foulard" an öffentlichen Schulen ablegen. Die Entscheidung des französischen Parlaments im März 2003 hatte die Wogen im Land mit der größten muslimischen Gemeinde Europas hochgehen lassen. Zuvor hatte der Staatsrat 1989 lediglich ostentative Zeichen der Religionszugehörigkeit an den Schulen verboten, erlaubt aber, "unter Respektierung des Pluralismus' und der Freiheit der anderen" seinem Glauben Ausdruck zu verleihen, was jährlich zu dutzenden Streitfällen geführt hatte. Das Gesetz muss nach einem Jahr überprüft werden. Das Kopftuchverbot gilt übrigens auch für das "Lycee francais de Vienne". Vergangene Woche hat der Gesundheitsminister eine Verfügung erlassen, die es auch den Angestellten in den Krankenhäusern das Tragen des islamischen Kopftuches verbietet.

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SCHWEIZ: Bei den Eidgenossen gab es einen ähnlichen Streitfall wie in Deutschland: Eine Genfer Grundschullehrerin, die seit 1990 im staatlichen Schuldienst unterrichtete, trat 1991 vom Katholizismus zum Islam über und trug später drei Jahre lang während des Unterrichts das islamische Kopftuch, was ihr die Behörden 1996 untersagten. Das Bundesgericht bestätigte diese Entscheidung 1997. Die Lehrerin zog daraufhin vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser entschied im Februar 2001, dass das Verbot weder gegen die Religionsfreiheit noch gegen das Diskriminierungsverbot verstößt, da in der Schweiz alle religiösen Symbole an Schulen untersagt sind und somit alle Religionen gleich behandelt werden.

ITALIEN: Für italienische Staatsbedienstete gilt eine generelle Kleiderordnung, die aber nichts über religiöse Kleidung besagt. Öffentliche Schulen dürfen allerdings über ihre Angelegenheiten - so auch Kleidungsregeln - selbstständig entscheiden. Debatten über moslemische Kopftücher an Schulen gibt es nur vereinzelt. Ein Abgeordneter der Regierungspartei Forza Italia hat im September 2004 einen ersten Vorstoß für ein generelles Verbot von Kopftüchern in Schulen und öffentlichen Büros gemacht, der an Berlusconi scheiterte. Seitdem sind alle Debatten dazu erst einmal verstummt.

TÜRKEI: In der überwiegend islamisch geprägten Türkei gilt ähnlich wie in Frankreich eine strikte Trennung von Staat und Religion. Kopftücher werden als politisches Statement gewertet. Deshalb sind sie an staatlichen Schulen generell verboten, weder Lehrerinnen noch Schülerinnen dürfen sie tragen. Kopftücher sind auch in der Politik und in allen öffentlichen Gebäuden verboten. Die Hoffnungen der Anhänger der gemäßigten islamischen Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayip Erdogan, er werde das strenge Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen lockern, wurden bisher enttäuscht. Der Staatspräsident, die Armee und andere laizistische Kräfte haben Vorstöße bisher verhindert. Erdogan und seine Minister verzichten bei offiziellen Anlässen auf die Begleitung ihrer Ehefrauen, damit diese nicht ohne Kopftuch auftreten müssen, die Töchter des Premiers studieren deswegen im Ausland. Zuletzt entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall einer türkischen Medizinstudentin, dass das Verbot von Kopftüchern an staatlichen Schulen nicht gegen die Religionsfreiheit verstoße, da alle religiösen Symbole untersagt sind und somit alle Religionen gleich behandelt werden.

DÄNEMARK: In Dänemark, wo vier Prozent der 5,3 Millionen Einwohner muslimischen Glaubens sind, gilt kein Kopftuch-Verbot an Schulen. Im vergangenen Sommer startete die rechtsgerichtete Dänische Volkspartei den Versuch, ein Gesetz zu initiieren, das Kopftücher, aber auch alle anderen Arten von Kopfbedeckungen - etwa Baseball-Kappen - in Schulen

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verbietet. Die Regierung wies das Vorhaben sofort zurück, woraufhin die Debatte wieder versiegte. Daneben gibt es einige Gerichtsurteile, wonach Unternehmen - etwa ein Supermarkt und ein Kaufhaus - Angestellte, die Kopftücher tragen, nicht entlassen dürfen. Die Unternehmen müssten Strafen bis zu 10.000 Kronen (1.346 Euro) bezahlen.

SCHWEDEN: In Schweden waren Kopftücher an Schulen bisher kein großes Thema und es gibt kein entsprechendes Gesetz. Allerdings gab es eine Debatte über muslimische Kopftücher in Fernsehsendungen. Im vergangenen Jahr wurde der öffentliche Sender SVT dafür kritisiert, dass er einer Muslimin die Moderation einer Sendung für Einwanderer untersagen wollte, weil sie ein Kopftuch trug. Der Sender verwies auf seine Vorschrift, wonach Moderatoren keine Kleidung tragen dürfen, die vom Inhalt der Sendung ablenken könnte. Später änderte SVT allerdings diese Vorschrift. Nun dürfen Frauen in allen Sendungen außer den Nachrichten Kopftücher tragen. Nachrichten-Moderatoren müssen nach wie vor "neutrale Kleidung" tragen, das heißt keine Kleidung, die irgendwie mit ihrer Religion in Verbindung steht.

GROSSBRITANNIEN: In Großbritannien ist die Diskriminierung auf Grund der Religionszugehörigkeit im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft seit den frühen 80er Jahren verboten. Kopftuch und Turban sind offizielle Varianten der Polizeiuniform, auch am Höchstgericht darf Turban statt Perücke getragen werden.

RUSSLAND: In Russland gab es eine Debatte darüber, ob muslimische Frauen auf Fotos für offizielle Dokumente Kopftücher tragen dürfen. Der Streit begann im vergangenen Jahr, als die Behörden neue Pässe ausgaben, die die alten sowjetischen ersetzten, die noch in Gebrauch waren. Die russische Polizei hat Kopfbedeckungen auf Fotos für Pässe verboten. Daraufhin klagten zehn Frauen aus der überwiegend muslimischen Republik Tatarstan vor dem Obersten Gerichtshof. Dieser wies die Klage im März 2003 zunächst zurück, entschied dann aber im Mai zu Gunsten der Frauen. Das russische Innenministerium kritisierte die Entscheidung und kündigte an, dagegen vorzugehen.

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Das Kopftuch als Zeichen mangelnden Integrationswillens? Ein Kommentar von Heike Oestrich Vorbehalte gegen muslimische Kopftücher gibt es überall in Europa, wo das Kopftuch ein fremdes Kleidungsstück ist oder der politische Islamismus als Gefahr angesehen wird. Zwar demonstrierten viele Frauen mit Kopftüchern gegen islamistische Gewalttaten wie den Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh. Dennoch gilt das Kopftuch vielen Diskutantinnen und Diskutanten als Zeichen mangelnden Integrationswillens. Allerdings hütet man sich in den meisten Ländern, die der Religion grundsätzlich im öffentlichen Leben Raum geben, vor einem gesetzlichen Verbot des Kleidungsstücks – zu offensichtlich wäre die Ungleichbehandlung der Religionen und damit der mangelnde Integrationswille der Mehrheitsgesellschaft.

Einen Konflikt um ein staatliches Verbot des Tuches dagegen kennen bisher eher Länder, die die Religion explizit in das Privatleben ihrer BürgerInnen verweisen und öffentliche Räume von religiösen Symbolen frei halten wollen, Länder mit einer laizistischen Tradition. Dass man Symbole einer Religion erlauben, die einer anderen aber verbieten möchte, wie es in einzelnen deutschen Bundesländern vorgesehen ist, ist dagegen bisher europaweit einzigartig.

Das Prinzip Laizismus: Frankreich, frankophone Regionen und die Türkei

Der staatliche Laizismus ist ein Erbe der französischen Revolution, in der die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger dem Zugriff der Geistlichkeit entzogen werden sollten: Vernunft und die Werte der Revolution sollten die Menschen leiten, nicht der Glaube. Dass beides etwa in der Schule koexistieren könne, war zu dieser Zeit undenkbar. Mit dem "Trennungsgesetz" von 1905 stellte der Staat klar, dass die Kirche keinerlei Ansprüche auf öffentliche Unterstützung habe.

Die Emphase, mit der allein die Vernunft zu einer Art neuer Zivilreligion erhoben wurde, findet ihren Nachhall im französischen Kopftuchstreit. Ein erster Schulverweis dreier kopftuchtragender Schülerinnen im Pariser Vorort Creil hatte ihn 1989 entfacht. In diesem 15 Jahre dauernden Konflikt gewann die Ansicht Oberhand, dass die religiöse Abstinenz in Zukunft nicht nur für Lehrkräfte, sondern auch für Schülerinnen und Schüler gelten solle. Dies insbesondere, um ein Zeichen gegen Islamisten zu setzen. Am 3. Februar 2004 wurde ein ent-

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sprechendes Gesetz verabschiedet, das "das Tragen von Zeichen und Bekleidung, die ostentativ eine religiöse Zugehörigkeit manifestieren", untersagt. Dass Muslime trotz Protests gegen das Gesetz auf den Rechtsstaat und nicht auf Radikalisierung setzen, zeigte sich eindeutig, als eine militante Gruppe im Irak zwei französische Journalisten entführten, um das französische Gesetz zu kippen, wie sie behauptete. Die muslimische Community in Frankreich protestierte entsetzt und einhellig. Das französische Laizitätsprinzip haben auch einige Schweizer Kantone und der französischsprachige Teil von Belgien zum Vorbild. In Belgien wird über ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen diskutiert. In der Schweiz endete die Klage einer Genfer Lehrerin mit Kopftuch, die vom Schuldienst suspendiert wurde, 2001 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Der Gerichtshof hatte mit dem Verweis auf den in der Kantonalverfassung festgelegten Laizismus keine Einwände gegen ein Verbot.

Das Mutterland aller europäischen Kopftuchkonflikte, die Türkei, hat sich mit der Republikgründung durch Mustafa Kemal Atatürk den Laizismus nach französischem Vorbild verordnet, weil sie in der religiösen Erstarrung der Eliten einen der Gründe für den Untergang des Osmanischen Reiches sah. Mit entsprechender Verve wurden Fez und Kopftücher in öffentlichen Gebäuden verboten. Und ebenso heftig war die Gegenreaktion der zahlreichen religiös Konservativen, die sich der Zwangsmodernisierung auf verschiedene Weise widersetzten. Wie in Frankreich prallten mit dem Auftauchen des Islamismus zwei ideell stark aufgeladene Systeme aufeinander und ringen bis heute auch anhand des Kopftuchstreits um die Deutungsmacht. Nicht einmal die gemäßigt islamistische Regierung von Recep Erdogan hat es deshalb bisher gewagt, das Kopftuchverbot an staatlichen Universitäten und Schulen aufzuheben. Studentinnen, die dagegen klagten, wurden vom Straßburger Gerichtshof mit Verweis auf die türkische Verfassung ebenso abgewiesen wie die Schweizer Lehrerin.

Alle anderen europäischen Länder haben die Religion weniger stark aus dem öffentlichen Raum verbannt. Schulgebete oder staatlicher Religionsunterricht finden in Ländern wie Großbritannien selbstverständlich statt, ebenso wie in staatlichen Schulen in Bayern oder Italien Kreuze an den Wänden hängen. In diesen Ländern kann es dementsprechend leichter fallen, religiösen Minderheiten auch in der Schule eigenen Raum zu lassen. Damit verbunden ist oft auch ein anderer Ansatz in der Integrationspolitik. Während die Türkei und Frankreich lange die Existenz ethnischer oder sonstiger Minderheiten negierten und von einer Assimilation des Einzelnen an die Werte der Republik ausgingen, streben Länder wie Großbritannien oder die Niederlande eher einen kulturellen und religiösen Pluralismus an.

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Das Prinzip Pluralismus – Großbritannien, Skandinavien, die Niederlande, Österreich

In Skandinavien ist der Protestantismus ebenso wie in England nach wie vor Staatsreligion und findet deshalb auch in Schulen statt. Anderen Religionen gegenüber lässt man, durch Jahrhunderte von Religionskriegen klüger geworden, ein gewisses Maß an Toleranz walten. Die Niederlande haben lange die "Versäulung" propagiert: Jede Religionsgemeinschaft und jeder Minderheit sollte eigene Schulen und eigene soziale Einrichtungen haben. Aber auch an den staatlichen Schulen ist man bisher den Religionen gegenüber tolerant und lässt Lehrerinnen mit Kopftüchern unterrichten – oder überlässt den Schulen selbst, wie sie mit dem Thema umgehen. Dieses Prinzip ist nicht erst seit dem Mord an van Gogh umstritten. Schon lange waren die Nachteile – Abschottung und Verarmung der eingewanderten Gruppen – diskutiert worden und mündeten in strengere Integrationsregelungen und einer restriktiveren Einwanderungspolitik. Nach dem Mord hat die liberal-konservative Integrationsministerin Rita Verdonk angekündigt, das Thema Kopftuch auf die Tagesordnung zu setzen. Allerdings geht es bisher nicht um ein staatliches Verbot, sondern um eine Diskussion mit Musliminnen darüber, ob sie das Tuch wirklich aus freiem Willen tragen.

Großbritannien hat bisher in Religionsfragen ebenfalls vor allem pragmatisch agiert: Die Schulgebete etwa können um andere Religionen erweitert werden. Religiöse Kopfbedeckungen aller Art sind im Staatsdienst erlaubt. In Bradford, dem pakistanisch geprägten "Islamabad Englands", gibt es inzwischen gemischten Religionsunterricht, in dem alle Gemeinschaften behandelt werden. Nicht von ungefähr gelten Gemeinden wie Bradford, in denen es eine sehr große muslimische Bevölkerungsgruppe gibt, mittlerweile als Vorreiter in Sachen reflektierter Multikultur. Hier war es Ende der achtziger Jahre zu Sezessionsbewegungen unter den radikalisierten Muslimen und zu zahlreichen Unruhen gekommen. Mittlerweile entwickelt man Kooperationen und Kommunikationsprojekte wie die gemeinsamen Schulgebete, um die Abschottung einzelner Gemeinschaften zu durchbrechen. Die verschärfte Gangart in der Innenpolitik gegenüber islamistischen Bestrebungen wirkt sich im Moment auf die Kopftuchpolitik wenig aus: Das Kopftuch wird trotz seines politischen Missbrauchs vorrangig als religiöses Symbol gesehen.

Auch Österreich profitiert von seiner multikulturellen Vergangenheit: Die Annexion BosnienHerzegowinas im Jahr 1908 bescherte dem Reich muslimische Untertanen, deren freie Religionsausübung durch ein Islamgesetz geregelt wurde. Dieses Gesetz wurde in den sechziger Jahren wieder ausgegraben, als Arbeitskräfte aus der Türkei nach einer religiösen Organisationsform suchten. Seit 1979 ist die "Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich" Körperschaft des öffentlichen Rechts. Auch islamischer Religionsunterricht wird in Schulen

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angeboten. Muslimischen Frauen die Kopftücher zu verbieten, würde hier ebenfalls als Diskriminierung gelten. So konnte Österreich zum Exilland für türkische Kopftuch-Studentinnen und eine deutsche Kopftuch-Lehrerin werden.

Diese staatliche Toleranz hindert aber in all diesen Ländern islamkritische Gruppen nicht daran, den Kopftuchstreit zu nutzen, um den Status der muslimischen Frauen in ihrer Gemeinschaft zu hinterfragen. Oft wird dies von tendenziell ausländerfeindlichen Gruppen genutzt, um gegen Muslime Stimmung zu machen. Die Dänische Volkspartei, die Liste Pim Fortuyn in den Niederlanden, und auch Jörg Haiders Freiheitliche Partei in Österreich – sie alle haben schon mal ein Kopftuchverbot in staatlichen Schulen gefordert – eingeführt wurde noch keines. Ob Verbrechen wie der Mord an Theo van Gogh das ändern, ist noch nicht abzusehen. Er führte etwa in Deutschland zu neuer Kopftuch-Kritik, andererseits aber auch zur ersten gemeinsamen Demonstration der Anti-Kopftuch-Aktivistin Alice Schwarzer mit kopftuchtragenden Frauen gegen islamistische Gewalt. "So lass auch ich mir das Kopftuch gefallen", soll Schwarzer geäußert haben.

Die haltlosen Gottlosen - Zur Debatte in Frankreich Eine Polemik von Charles Phillipe Dijon

Man sollte meinen, die Zeiten, in denen kurzsichtige Kleingeister und Eiferer die französische Republik regierten, seien längst im tiefen Moloch der Geschichtsbücher verschwunden. Doch ganz augenscheinlich holen die Geister der Vergangenheit ein Land schneller und gründlicher, als man gemeinhin anzunehmen pflegt.

Gerade die kleinkariert Verbohrten, die zu gewissem Einfluss und Ansehen und teilweise sogar in die obersten Etagen der Staatsführung gelangt sind, schwingen sich nunmehr unter Zuhilfenahme des Laizismus zu den „Rettern der Republik“ auf. Sie sind verblendet und besessen von der absurden Idee, dass die Trennung von Religion und Staat das einzig probate Mittel ist, um Frankreich vor einer Überislamisierung, Überjudung oder gar Überchristianisierung zu bewahren. Das bedeutet im Klartext nicht anderes, als dass der Staat vor seinen eigenen Bürgern geschützt werden muss. Denn wie können Religion und Staat je voneinander getrennt werden, wenn der Staat die Bürger sind? Oder sind etwa die Politiker der Staat?

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Vielleicht ja diejenigen, die sich gerne in herrischer – großspuriger Cäsarenpose ihren Auftritt bereiten, wobei sie eigentlich so gar nichts von veritabler Cäsarengröße ihr Eigen nennen dürften und unter normalen Menschen lediglich als bemitleidenswerte Karikatur eine belächelte Beachtung finden. Wenn man sich nämlich als die Wiedergeburt Cäsar ansieht, so sollte man tunlichst beachten, dass es gerade die berühmte „clementia Caesaris“ war, die Milde des Herrschers, die ihm den entscheidenden Erfolg einbrachte. Nicht von Proskriptionen, von blinden Rachegelüsten ließ er sich leiten, sondern von dem richtigen Gedanken, dass der Begnadete zumeist darum bemüht ist, sich der erwiesenen Huld als würdig und loyal zu erweisen. Was kann demzufolge eine bessere und nachhaltigere Integrationskraft darstellen, als Dankbarkeit gegenüber einem großmütigen und weisen Volke? Warum also, spaltet die Politik unsere Nation in Christen, Juden und Muslime?

Es grenzt schon fast an bitteren Zynismus, in Zeiten, wo eines der verderblichsten Grundübel der Weltgeschichte wieder Hochkonjunktur in unserem Lande feiert, der Hass auf Juden, überhaupt laizistische Überlegungen an den Tag zu legen. Vielmehr sollte der Staat darum bemüht sein, seine Bürger und allem voran seine Repräsentanten aus der Finsternis der Ignoranz zu führen. Besitzt doch kaum jemand von ihnen auch nur ein gesundes Halbwissen über das Judentum. Gibt es doch viel zu wenige Institutionen, die es den christlichen, muslimischen oder auch atheistischen Bürgern gestatten würden, Einblicke in die Jahrtausende alte, jüdische Traditions- und Geisteswelt, die Europa maßgeblich geprägt hat, zu gewähren.

Stattdessen verringert sich die Zahl der Juden, sie werden bedroht und müssen ihre Kinder schützen. Quo vadis, Frankreich, kann man da nur fragen? Das Verbot die Kippa zu tragen, ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden Franzosen jüdischen Glaubens! Müsste wir nicht gerade hocherfreut über jeden der 500.000 sein, der den Mut besitzt und sich stolz – auch äußerlich - zu seinem Judentum bekennt?

Fragen kann man sich an dieser Stelle ebenso wohl, weswegen ein Stück Stoff, welches am Kopf und nicht irgendwo am Leib getragen wird, das Land mit tiefen Gräben durchzieht. Normalerweise findet man derartige Debatten in einschlägigen Modezeitschriften und nicht auf der politischen Agenda. Ein wenig mehr Dialog ohne störende Kommissionen und ungebetene „Experten“ ist zur Überwindung gegenseitiger Vorbehalte sicherlich von Vorteil. Wobei es nebenbei bemerkt, ungemein hilfreich wäre, wenn sich die Repräsentationsorgane der 5.000.000 Muslime nicht in Hasstiraden gegen ihre jüdischen Mitbürger ergingen. Dies vergiftet die Stimmung und bekundet eher Unerzogenheit als guten Ton.

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Ganz grundsätzlich sollte jedoch einmal festgehalten werden, wie herrlich es ist, dass Frankreich so über gar keine anderen Schwierigkeiten verfügt, als sich über das Tragen von religiösen Symbolen zu erhitzen. Wie berückend, dass wir nunmehr alle von der Last befreit sind, uns Gedanken über unsere Garderobe zu machen, könnte doch bereits ein wenig zu groß geratener oder etwas exotischer Hosenknopf als Rune oder ähnliches Glaubensbekenntnis aufgefasst werden. Wie beruhigend, dass die Grenzen so kristallklar gezogen sind, was Symbol und was Schmuck, was Kopftuch und was Mütze, was Kippa und was Regenschutz ist. Wäre es doch verwerflich, einen unserer erlauchten Staatslenker dazu zu bemühen, gar mit Zollstock und Schablone unparteiischen Richter zu spielen. Daher ist es das Beste, wir kleiden uns alle gleich, wie weiland die Rotchinesen unter Mao Tse Tung. Es leben der Individualismus und die Eleganz!

Das Amüsante an dieser brillanten und weltoffenen classe politique stellt ohne Zweifel die Tatsache dar, dass sie sich mit preußischem Kadavergehorsam an ihre republikanischen Dogmen klammern, fast, als hätte sie Monsieur de Gaulle auf dem Sinai der Aufklärung vom Herrgott selbst empfangen. Daher lautet deren erstes Gebot auch nicht: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ Sondern: „Du sollst überhaupt keine Götter haben!“ Umso glücklicher ist unsere politische Elite, dass die Heilslehre der Republik so unmissverständlich ist. Daher rührt auch die fanatische Beseelung von der fixen Idee, ein Allheilmittel, eine Generalrezeptur, die durch ihre simple Primitivität besticht, die alle Probleme gleich, sofort und auf einmal löst, gefunden zu haben; sofern man sie nur schonungslos, ohne Rücksicht auf Verluste und unbeirrt von klugen Einwänden anwendet.

Die sich in Selbstbeweihräucherung und Pharisäertum ergehende Republik des französischen Mittelmaßes wäre gut beraten, sich ein kleines Beispiel an dem Könige zu nehmen, der mit Fug und Recht, als der „Gute“ Einzug in die Annalen hielt: Henri IV. Er war es, der am 13. April 1598 das Toleranzedikt von Nantes erließ und dem blutgetränkten Bruderkrieg ein Ende setzte. Er war es, der damit den Grundstein für den Glanz und die Schaffenskraft einer großartigen Nation legte, und er war es schließlich, der erkannte, dass das Verbieten die Drachensaat ist, aus der immerfort neues Unrecht und Unheil ersprießt und das einzig die Kraft des Erlaubens dem Einhalt zu gebieten vermag.

Dem guten König aus der Gascogne, der in seiner Kindheit barfuss mit den Gassenjungen spielte und noch das besaß, was man „Volksnähe“ nennt, war seinerzeit der Frieden und die Einheit der Nation eine Messe wert. Und wir ach so fortschrittlich aufgeklärten Neuzeitmenschen sind nicht einmal bereit, für dieses hehre Gut über ein Stück Tuch oder ein bisschen

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Metall hinwegzusehen? Wie bedauerlich, dass selbst die glorreichen Abgänger unserer Grandes Ecoles nicht in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen. Aber ein hervorragendes Gedächtnis geht eben nicht zwingend mit einem bestechenden Geist einher…

Amen.

Das liberale Österreich Positionspapier des Landesschulratspräsidenten und der Islamgemeinschaft Österreich

Kopftuchtragen ist an österreichischen Schulen selbstverständlich erlaubt. Landesschulratspräsident Fritz Enzenhofer stellte wegen einer Linzer Hauptschülerin, die man zwingen wollte ihr Kopftuch abzulegen klar, dass eine Kleiderordnung nicht die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit einschränken dürfe. Die IGGiÖ regte daraufhin ein Rundschreiben seitens des Ministeriums an, um diese Sachlage ins allgemeine Bewusstsein zu bringen und muslimischen Mädchen in Zukunft jegliche Diskriminierung zu ersparen. Bei einem konstruktiven und partnerschaftlichen Gespräch zwischen Bundesministerin Gehrer und Präsident Schakfeh wurde eine solche rechtliche Klarstellung vereinbart. Mit Datum 23. Juni erging ein Erlass an österreichische Schulen, dessen Inhalt hier wiedergegeben ist. Weiters unser Positionspapier zum Kopftuch.

ABSCHRIFT des Erlasses vom 23.06.2004 Tragen von Kopftüchern von Schülerinnen mit islamischem Glaubensbekenntnis

Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur teilt aus aktuellem Anlass mit:

Das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Mädchen (bzw. Frauen) fällt als religiös begründete Bekleidungsvorschrift unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 des Staatsgrundgesetzes 1867 bzw. Art. 9 der MRK. Das Schulunterrichtsgesetz hingegen kennt keine, diese im Verfassungsrang stehende Norm einschränkende Bekleidungsvorschrift.

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Eine Einschränkung religiöser Gebote steht außerkirchlichen Stellen nicht zu. Daher wäre auch ein allfälliger Beschluss des Schulgemeinschaftsausschusses bzw. des Schulforums, welcher das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Mädchen im Unterricht per Hausordnung bzw. durch eine Verhaltensvereinbarung verbietet, rechtswidrig. Auf §63a Abs. 17 bzw. §64 Abs. 16 SchUG wird hingewiesen.

Wien, 23. Juni 2004 Für die Bundesministerin: Mag. GÖTZ

Das muslimische Kopftuch – Teil der Glaubenspraxis, nicht Symbol

Geht es um den Islam, steht das Kopftuch der Musliminnen oft im Brennpunkt des Interesses. Ausgelöst durch das Kopftuchurteil in Deutschland ist auch hierzulande dieses Kleidungsstück einmal mehr Gegenstand der Diskussion geworden. Erfreulich, dass durch den Anerkennungsstatus für den Islam in Österreich längst Voraussetzungen zum Umgang miteinander geschaffen wurden, die vieles wesentlich entspannter erscheinen lassen. Da sowohl Lehrerinnen, als auch Schülerinnen mit Kopftuch bei uns zum Alltag gehören und dies rechtlich sichergestellt ist, wären die Ereignisse in Deutschland auch nicht für hier übertragbar. Trotzdem besteht hier wie dort ein großer Bedarf an mehr Gedankenaustausch zum Thema. Beispielsweise ist die Einordnung des Kopftuches als "Symbol" bereits grundfalsch und Ursache fataler Fehlurteile. Das Kopftuch als Kleidungsstück der muslimischen Frau bildet einen Teil der religiösen Glaubenspraxis - nicht mehr und nicht weniger. Jedes Ideologisieren liefe dem Recht der Frauen auf Selbstbestimmung als mündige Menschen zuwider. Sich fundamentalistisch gebärdende Prediger/innen eines Laizismus, der Religion überhaupt strikt ins Private verbannen will, hielten besser davon Abstand, das Aussehen der Frau als Werbeträgerin der eigenen Weltanschauung zu instrumentalisieren. Zudem scheint die Diskussion zu vergessen, dass nicht Laizismus, sondern Säkularismus als Modell bei uns vorherrschend ist. Also: Ja zur Trennung zwischen Staat und Religion, aber auch ja zum gesellschaftspolitischen Stellenwert von Religion.

Im Folgenden gehen wir auf den religiösen Hintergrund des Kopftuchs ebenso ein, wie auf die Situation muslimischer Mädchen und Frauen.

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Keine Diskriminierung muslimischer Mädchen und Frauen

In Vertretung der Muslime in Österreich ist es unsere Aufgabe dafür Sorge zu tragen, dass Menschen muslimischen Glaubens in Österreich ihre Religion ungehindert leben können, so wie ihnen dies die Verfassung zusichert. Wenn also Mädchen oder Frauen aufgrund ihrer muslimischen Bekleidung Diskriminierungen ausgesetzt sind und wie zuletzt in Traun beispielsweise am Schulbesuch gehindert werden, sind wir dazu aufgerufen, Stellung zu beziehen und so mitzuwirken, das Recht auf freie Religionsausübung zu bewahren. Dabei ist es uns wichtig, nicht einseitig lediglich auf Rechte zu pochen, sondern durch den Kontakt mit der breiten Öffentlichkeit gegenseitiges Verständnis aufzubauen.

Geht es um die Religionsausübung, so wird im Fall eines häufig sogar sehr emotional diskutierten Punktes, wie hier des Kopftuchs, häufig die Frage gestellt, ob dieses denn tatsächlich ein Teil des beanspruchten religiösen Lebens sei.

Das Kopftuch in den islamischen Quellen

Hier können wir eine klare Feststellung treffen. Die vier großen sunnitischen Rechtsschulen und auch die schiitische Richtung stimmen überein, dass das Tragen von Kopftüchern für weibliche Muslime ab der Pubertät ein religiöses Gebot und damit Teil der Glaubenspraxis ist.

Diese Aussage stützt sich auf zwei Koranverse (24/31 und 33/59). Konkret ist die Rede davon, dass die gläubigen Frauen „die Tücher über ihre Schultern schlagen sollen“, bzw. „die Übergewänder über sich ziehen mögen“. Führt man sich die Bekleidung der Frauen während der Sendung des Korans vor Augen, so verdeutlicht sich diese Aussage. Denn die damalige Kleidung kannte einen Schleier, der von der Kopfmitte ausgehend über den Rücken fiel, dabei aber einen großen Ausschnitt freiließ. Für die Frauen war also einleuchtend, dass diese Tücher nun über die Schultern zusammengenommen werden sollten, woraus sich das ergibt, was hier gerne mit „Kopftuch“ bezeichnet wird.

Daneben führen die Gelehrten auch eine Überlieferung aus dem Leben des Propheten Muhammad an. Auf die Frage, was von Frauen öffentlich sichtbar sein darf, gab er durch Gesten eindeutig zu verstehen, dass Hände und Gesicht von Frauen durch die Bekleidung unbedeckt bleiben könnten.

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Sowohl im Koran, als auch in der Sunna (Überlieferungen aus dem Leben des Propheten) und damit der zweiten anerkannten wichtigen Quelle der Muslime, ist also das Kopftuch thematisiert. Zusätzlich wird eine Begründung für diese Bekleidung geliefert, da es im Koran heißt: „So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie erkannt (als muslimische Frauen) und nicht belästigt werden.“

Der erste Aspekt kann begreiflich machen, warum das Kopftuch für viele Musliminnen ein Stück gelebte Identität bedeutet. Unter das zweite Stichwort fällt, dass die muslimische Frau durch die Art ihrer Kleidung in der Öffentlichkeit ein klares Zeichen setzen kann. Es geht um eine Betonung des Charakters und der Persönlichkeit. Sei es in der Ausbildung, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum – im Vordergrund sollen ihre menschlichen und intellektuellen Fähigkeiten stehen. Unter den Gelehrten der islamischen Welt besteht seit jeher Übereinstimmung darin, dass das Bedecken des Kopfes für Frauen zur muslimischen Religion gehört. Nur einige wenige Stimmen bringen in die Diskussion ein, bis zu welchem Grade hier eine Verpflichtung bestehe, ohne allerdings die Existenz des Kopftuchs als islamisches Kleidungsstück der Frau in Frage zu stellen. Dieser allgemeine Konsens ist neben Koran und Sunna im islamischen Rechtsverständnis eine weitere wichtige Quelle und sollte in diesem Sinne wahrgenommen werden. Die gläubige Muslime wird sich aufgrund der Basis von Koran, Sunna und Gelehrtenkonsens mit der Frage des Kopftuchtragens auseinandersetzen.

Der Stellenwert des Kopftuchs aus Sicht des Islam und der Muslime

Das Kopftuch ist hierzulande zu dem Symbol für den Islam geworden. Würden Muslime diese Anschauung teilen? - Gewiss nicht, stellt diese Assoziation doch eine abzulehnende Verengung auf einen einzigen Aspekt dar. Im Mittelpunkt der Religion stehen für Mann und Frau gleichermaßen die in den so genannten „fünf Säulen“ wiedergegebenen Elemente der praktischen Glaubensausübung: Bekenntnis zum absoluten Monotheismus, Gebet, sozialreligiöse Pflichtabgabe von 2,5 % des stehenden Vermögens jährlich an Bedürftige, Fasten im Monat Ramadan und einmal im Leben zu vollziehende Pilgerfahrt nach Mekka, so gesundheitlich und finanziell möglich. Grundsätze der muslimischen Ethik sind in dieser Blickbeschränkung ebenfalls außer acht gelassen wie die verbindliche Aufforderung zu sozialem Engagement und persönlichem Einsatz im Sinne des Allgemeinwohls.

Für Muslime ist das Kopftuch also ein Bestandteil in der Ausübung ihrer Religion, nicht aber

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stellvertretendes Symbol, das daher einen überaus abgehobenen Stellenwert beanspruchen könnte. Es wäre eine gefährliche Entwicklung, würde die innermuslimische Diskussion über das Kopftuch sich durch die vielfach aufgeheizte Stimmung dazu verführen lassen, das Kopftuch zu einer Barriere zwischen muslimischen Frauen mit, bzw. ohne dieses Kleidungsstück werden zu lassen. Auch unter Muslimen soll sich in falscher Nachahmung hier aktueller Debatten der Symbolcharakter des Kopftuchs nicht durchsetzen.

Ob mit oder ohne Kopftuch ist eine Muslime ja eine Muslime, wobei diese Feststellung Gültigkeit haben muss, ohne manipulativ eingesetzt zu werden, um muslimischen Frauen zu verstehen zu geben, sie könnten ja auch ohne Kopftuch auskommen.

Die Entscheidung für das Kopftuch ist für eine Frau, die sich um ein Leben im Islam bemüht, in Österreich oft im Bewusstsein gefallen, dabei im gesellschaftlichen Zusammenleben auf Unverständnis und Ablehnung Andersgläubiger zu stoßen. Dies ist ein Faktor, der gerade für junge muslimische Frauen der zweiten und dritten Generation aus Familien, die ursprünglich als Migranten nach Österreich gekommen waren, besonders zutrifft. Ist der Übergang ins Erwachsenenalter auch der Beginn sich islamisch zu kleiden, so wird sich dieser Wechsel in einer vorwiegend nicht-muslimischen Gesellschaft anders gestalten als in einer islamischen, die dies als normale Entwicklung aufnimmt.

Diese Tatsache wird auch von den Familien immer stärker wahrgenommen. Unter den Muslimen ist eine lebhafte Diskussion entstanden, wann der beste Zeitpunkt sei, mit dem Kopftuchtragen zu beginnen. Vor allem aber macht man sich Gedanken über die Begleitumstände. In welcher Form kann die Kleidung auch modischen Ansprüchen genügen? Hier haben die jungen Frauen viele neue Formen nicht nur im Binden des Kopftuchs gefunden, sondern sie finden zu ihrem eigenen Stil auch in der Wahl der übrigen Kleidung, die ihrem aktiven Alltag entsprechen soll. Schrittweise ist so ein Wandel in der Kleidung der muslimischen Frau zu bemerken, der auch im Straßenbild langsam auffällt und dazu beitragen kann, ein neues Image der muslimischen Frau zu manifestieren. Der Erfahrungsaustausch behandelt aber auch, wie das veränderte Outfit auf die Umwelt wirkt und in wie weit die Mädchen und Familien einer Diskussion darüber gewachsen sind, bzw. wie diese zu führen ist. Das Bild des strengen Patriarchen, der seinen Töchtern das Kopftuch aufzwingt, so wie es beim Thema junge Mädchen und Kopftuch in vielen Köpfen herumgeistert, ist nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Muslime.

Es wäre eine eigene Untersuchung wert, die hier angesprochene innermuslimische Diskus-

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sion, die nicht zuletzt auch von den jungen Mädchen selbst entscheidend mitgetragen wird, genauer zu analysieren.

Die Behandlung des Themas „Kopftuch“ im Islamischen Religionsunterricht

Der Lehrplan für den Islamunterricht sieht keinen Schwerpunkt „Kopftuch“ vor. So wie bereits erläutert stehen die Glaubensinhalte und Behandlung der „fünf Säulen“ im Vordergrund, ergänzt durch einen geschichtlichen Überblick in den höheren Klassen und Vermittlung der Fähigkeit zur Koranlektüre. Ziel ist den Islam in einer Weise zu vermitteln, dass sich die SchülerInnen mit ihrer Religion positiv identifizieren und ethische Werte und Grundhaltungen verinnerlichen, die sie für ein harmonisches gesellschaftliches Zusammenleben befähigen.

Das Kopftuchtragen ist eine sehr persönliche Entscheidung. Wir sehen unsere unmittelbare Aufgabe darin, sachlich von den islamischen Quellen ausgehend das Thema zu erläutern. Schülerinnen sind mit und ohne Kopftuch im Unterricht gleichermaßen willkommen. Jugendliche Mädchen tragen bei religiösen Übungen wie dem Koranlesen im arabischen Original oder beim Gebet ein Kopftuch. Dies ist eine Selbstverständlichkeit, wie sie ihnen auch aus der häuslichen Praxis vertraut ist. Einseitige Indoktrination darf keinen Platz haben.

Der Islam betont immer wieder die Rolle der Bildung für den Gläubigen. Intellektuelle Fähigkeiten sollen als besondere Gabe des Menschen genutzt werden. Dahinter steht die Überzeugung, dass Forschung und gedankliche Auseinandersetzung sich auf die menschliche Entwicklung auch im religiösen Bereich nur positiv auswirken können. Religion kann ein viel größerer Gewinn sein, wenn die religiöse Praxis nicht unreflektiert nachgeahmt wird, sondern Inhalte aus eigenem Antrieb heraus verstandesmäßig erfasst und dadurch erst zu eigen gemacht werden.

Dies trifft auch für die Kopftuchfrage zu. Darum soll die Entscheidung für dieses Kleidungsstück nach eingehender Beschäftigung und aus freien Stücken getroffen werden. Jegliche Art von Zwang birgt abgesehen von dem psychischen Druck die Gefahr, dass sich das Mädchen oder die junge Frau von der Religion entfremdet. Hier liegt auch eine Frage der Prioritäten. Es wäre doch kontraproduktiv und zutiefst widersprüchlich, würde islamische Kleidung nur aus gesellschaftlichen Zwängen heraus getragen, um manche Gruppen zufrieden zu stellen, essentielle Bestandteile des Islam wie das Gebet oder das Bemühen um soziales Engagement dagegen vernachlässigt.

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Guter Religionsunterricht ist so immer eine Chance mit den Heranwachsenden in Dialog zu treten und von ihnen herangetragene Überlegungen aufzugreifen. Ähnlich wie in der Diskussion unter Nichtmuslimen ist das Kopftuch oft ein Auslöser, über generelle Fragen wie die Stellung der Frau zu diskutieren. Dies ist eine gute Gelegenheit, ausführlich und im Detail in der Klasse Frauenrechte zu besprechen. Ausgehend von der Schule kann so eine innermuslimische Bewusstseinsarbeit vorangetrieben werden. Auch unter Muslimen ist eine Debatte, welche Praxis bloße Tradition ist, die womöglich dem Islam zuwiderläuft und wo islamische Inhalte liegen, sehr begrüßenswert. Im schulischen Rahmen erweist sich als befruchtend, dass die Herkunftsländer der SchülerInnen oft ganz unterschiedlich sind. Im direkten Vergleich eines vielleicht in Details verschieden gelebten Islam lässt sich immer wieder die gemeinsame Basis erfahren.

Die Ansprüche an die Religionslehrerinnen und –lehrer sind also sehr hoch. Denn pädagogische und psychologische Fähigkeiten und vor allem die Möglichkeit, sich in die jeweilige Lebenssituation der SchülerInnen genau einzufühlen, können den Religionsunterricht erst zu mehr als trockener Wissensvermittlung gestalten und durch Reflexion in der Klassengemeinschaft Orientierungshilfen und Anregung zu selbständiger Auseinandersetzung anbieten.

Die Islamische Pädagogische Akademie übernimmt hier eine wichtige Funktion in der Qualitätssicherung. Die ersten AbsolventInnen kommen jetzt nach umfangreichen islamwissenschaftlichen Studien, ergänzt durch einen pädagogischen Teil in der Ettenreichgasse in die Klassen. Der Frauenanteil liegt hier mit ca. 80 % besonders hoch. Für die Zukunft des Islamunterrichts erwarten wir uns also eine deutliche Verbesserung auch im Wahrnehmen neuer Aufgabenbereiche wie der Fähigkeit zur Mediation.

Kann sich ein Vertrauensverhältnis zwischen den Lehrkräften und SchülerInnen entwickeln, hilft dieses mitunter bei Konflikten. Die Religionslehrerin oder der Lehrer nehmen eine Vermittlerposition ein und können durch ihre Autorität in religiösen Fragen im Interesse der SchülerInnen aktiv werden. Die Argumentation, warum Zwang in der Kopftuchfrage auch aus religiösen Gründen kein Mittel sein soll, wie eben schon angeklungen ist, lässt sich theologisch noch in vielen weiteren Details fortführen. So kann es gelingen, dass alle Seiten zu einer annehmbaren Lösung finden und sich verstanden wissen.

Aber nicht nur der Kontakt zum Elternhaus ist wichtig. Wir wünschen uns auch ein kollegiales Verhältnis zum übrigen Lehrkörper. Auch hier können die Religionslehrer dazu beitragen, auftretende Fragen lösen zu helfen. Dabei kann es dann umgekehrt auch einmal nötig sein,

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für Verständnis gegenüber einem Mädchen zu werben, das neu das Kopftuch trägt und sich besonders kritisch beäugt fühlt. Auch die Möglichkeiten des interreligiösen Dialogs könnten viel weiter ausgeschöpft werden. Schon jetzt gibt es erfreuliche Initiativen, bei der Gestaltung von Festen auch die muslimische Seite einzubeziehen oder im Rahmen des Religionsunterrichts gegenseitige Besuche zwischen christlichen und muslimischen Gruppen zu veranstalten.

Wir fördern die Aussprache in der Klasse ganz besonders, weil wir aus Erfahrung wissen, dass hier eine Möglichkeit der Verarbeitung eigener nicht immer positiver Erlebnisse für alle gegeben ist. Das Bedürfnis nach einem offenen Gesprächsrahmen ist so groß, dass sich hier auch Eigeninitiativen von Jugendlichen bilden.

Hier kommen Mädchen mit und ohne Kopftuch zusammen. Denn in den tiefergehenden Gesprächen tritt das Kopftuch schnell in den Hintergrund, will man doch vor allem über die eigene Situation als Muslimin oder Muslim in einer nichtmuslimischen Umgebung Gedanken austauschen. Das Spannungsfeld zwischen dem Gefühl, häufig auf Unverständnis bei Gleichaltrigen zu stoßen, wenn etwa das Freizeitverhalten sich nicht zur Gänze mit allgemeinen Trends deckt und dem gleichzeitigen Anspruch, ganz „dazugehören“ zu können und zu wollen, bietet unendlichen Gesprächsstoff. Dabei kreisen die Gedanken immer wieder darum, wie eine volle Partizipation bei Bewahrung des individuellen Andersseins möglich ist. Auch die eigene Situation als gewissermaßen zwischen den Kulturen stehend wird überdacht. So wie man in den meisten Punkten die persönliche Bereicherung durch mehr kulturelle Kompetenzen und Erfahrungen schätzt, möchte man diesen Vorteil auch der oft kritischen Umwelt vermitteln. Hier spielt dann auch das Verhältnis zum Elternhaus eine große Rolle. Ist die Pubertät immer eine Zeit der Veränderung in der Beziehung zu den Eltern, trifft dies besonders für die so genannte zweite und dritte Generation zu. Die Vorstellungen, wie der Islam ins Leben in der nichtislamischen Umwelt zu integrieren sei, können zu unterschiedlichen Meinungen und Konflikten führen. Davon bleibt dann das Kopftuch nicht ausgenommen. Es gibt sowohl Eltern, die das Tragen des Kopftuches für das Wohl des Kindes als sehr entscheidend bewerten, als auch Eltern, die ihren Kindern aus Angst vor gesellschaftlichen Repressionen das Tragen verbieten wollen. Jugendliche sind besonders interessiert daran, die Hintergründe für Ressentiments gegen das Kopftuch seitens der Gesellschaft aufzuspüren. Hier sehen sie nicht nur eine wichtige Voraussetzung, das Thema wirklich von allen Seiten bedacht zu haben, sondern auch die Möglichkeit, selbst gegen so manches Vorurteil im Dialog aufzutreten.

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Ressentiments gegen das Kopftuch

Es lohnt sich also genauer darauf einzugehen, welche Bilder und Vorstellungen sich mit dem Kopftuch verbinden, wenn es wie hier in Europa zum Symbol für den Islam stilisiert wird. In unserer sich immer weiter säkularisierenden Gesellschaft stößt es auf prinzipielles Unverständnis, warum ein solch sichtbares Zeichen eines gelebten Glaubens gewählt wird. Religion gilt zunehmend als Privatsache, die sich im Alltag nicht sichtbar manifestieren sollte.

Zusätzlich wird das Tragen eines Kopftuchs immer wieder als Hinweis missverstanden, dies sei die einzig akzeptable Art sich zu kleiden, gleich ob man muslimischen Glaubens sei oder nicht. Der Islam geht prinzipiell von der Toleranz gegenüber der Glaubenspraxis und den Gebräuchen anderer aus. Ein Kopftuch darf daher nicht als Signal an die nicht-muslimische Frau aufgefasst werden, sie habe sich eigentlich genauso zu kleiden. Dies gilt auch von Seiten der muslimischen Männer, denen es gegenüber allen Frauen ein Gebot ist sie durch nichts, auch nicht durch anzügliche Blicke, zu belästigen. Das generelle Problem, dass Muslime in Österreich aufgrund mangelnder Information über ihre Situation vor dem Hintergrund der oft einseitigen und sich auf die Schilderung von Krisenplätzen beschränkende Medienberichterstattung bewertet werden, beeinflusst in hohem Maße die Sichtweise auf das Kopftuch. Nicht beschönigt werden soll andererseits die Tatsache, dass mitunter auch Alltagserfahrungen mit Muslimen hier Klischees zu bestätigen scheinen. Einzelne negative Erscheinungen lenken dann vom tatsächlichen Bild ab.

So wird die islamische Kleidung als Symbol der untergeordneten Stellung der Frau missdeutet. Sie werde durch den Mann unterdrückt, der sie durch den Zwang zum Kopftuch in ihrer persönlichen Entwicklung begrenze und ihre Freiheit untergrabe. Damit sei das Kopftuch auch ein Zeichen von Unbildung und von mangelhaftem Selbstbewusstsein.

Frauen begegnen der sich islamisch kleidenden Frau in vielen Fällen mit Abneigung, weil sie dies als Ablehnung auf die von der Frauenbewegung erreichten Verbesserungen für die Situation der Frauen missverstehen.

Gerade im zuletzt angesprochenen Punkt wird deutlich, wie sehr das Kopftuch auch darum zur Reibefläche wird, weil Erfahrungen aus der eigenen Geschichte auf die Muslime projiziert werden. Dabei tritt erschwerend hinzu, dass über die muslimische Frau und ihre tatsächliche gesellschaftliche Rolle und vor allem ihre Rechte so gut wie nichts allgemein bekannt ist. Dieses mangelnde Wissen wird dann in vielen Einzelfragen zur Ursache für Missverständ-

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nisse, indem falsche Schlussfolgerungen vor dem Hintergrund eigener kultureller Erfahrungen gezogen werden.

Denn auch in Europa war das Kopftuch ein Kleidungsstück, das im religiösen christlichen, wie auch allgemein kulturellen Kontext eine Rolle spielte. Im kollektiven Bewusstsein mögen sich viele auch unbewusste Assoziationen damit verbinden, die begründen, warum das Kopftuch als im Wortsinn “rückschrittlich“ verstanden wird.

Steht Verschleierung aus der europäischen Erfahrung heraus auch für Körperfeindlichkeit und eine Abwertung der Sexualität, darf dies so zum Beispiel nicht auf die muslimische Frau übertragen werden. Innerhalb der Ehe ist eine erfüllte Sexualität ein Anspruch, der zu den Rechten der Frau an ihrem Mann gehört. Ein befriedigendes Sexualleben zählt zu den „guten Taten“ und findet somit nicht einzig zur Zeugung der Nachkommenschaft statt.

Ohne hier ins Detail gehen zu wollen, wären für verschiedenste Aspekte Überlegungen anzustellen, um eine neue realistischere Perspektive auf die muslimische Frau zu gewinnen. Immer wieder trifft man aber auf den Gedanken, so wie es in Europa einer sich über Jahrhunderte hin ziehenden Anstrengung bedurfte, um der Frau zu mehr Gleichberechtigung zu verhelfen, die noch immer nicht voll verwirklicht ist, sei die muslimische Frau zuerst von ihrem Kopftuch zu „befreien“, um danach eine ähnliche Entwicklung erleben zu dürfen. Dabei übersieht man, dass die Musliminnen in rechtlicher Hinsicht durch den Islam in den Genuss einer ganzen Reihe von vorteilhaften Regelungen kommen. Wichtige Stichwörter sind hier vermögensrechtliche Absicherungen – das Prinzip der Gütertrennung in der Ehe, einer im Ehevertrag aufzunehmenden Summe als Absicherung der Frau für den Scheidungsfall oder beim Tod des Gatten, unabhängig von ihrem Erbteil, das Recht auf Scheidung, die Möglichkeit der Empfängnisverhütung, usw. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass nicht jede muslimische Gesellschaft nach dem berühmten Prophetenwort mit den Frauen umgeht: „Der beste von euch ist der, der am besten zu den Frauen ist.“ Andererseits verleiht das nie bestrittene Prinzip der Gleichwertigkeit der Geschlechter der Frau in vielen Fällen ein gesundes Selbstbewusstsein. Viele allgemein sehr präsente Koranstellen verdeutlichen dies, etwa in 3/195: „Da erhörte sie ihr Herr und sprach: „Seht, Ich lasse kein Werk der Wirkenden unter euch verloren gehen, sei es von Mann oder Frau, die einen von euch sind von den anderen.“ Adam und Eva sind im muslimischen Verständnis zu gleichen Teilen für die Übertretung von Gottes Gebot im Paradies verantwortlich. Daher gibt es schon theologisch keine Anhaltspunkte, die die Frau an sich zur potentiellen „Verführerin des Mannes“ abstempelt. Im Islam soll sich die Beziehung zwischen Mann und Frau, die als „Zwillingshälften“ voneinander beschrieben werden, partnerschaftlich gestalten.

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Auch wenn sich die moderne christliche Theologie um einen neuen Blick auf die Geschichte des Sündenfalls verdient gemacht hat, lassen sich Sichtweisen, die über dermaßen lange Abschnitte tradiert wurden, nicht so leicht überwinden.

Eine Muslimin kann vor allem als nicht hier geborene Migrantin aufgrund ihrer anderen Geschichte viele Gedanken über das Kopftuch von nicht-muslimischer Seite wenig nachvollziehen, weil ihre Kleidung sich bei ihr mit anderen Vorstellungen verbindet. So ist das Unverständnis oft ein gegenseitiges und das gemeinsame Gespräch erscheint umso wichtiger.

In dieser Situation ist es alles andere als erleichternd, dass in der öffentlichen Diskussion etwa in unseren zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Nachbarländern so gut wie ausschließlich Argumente zur Sprache kommen, die der Muslimin nahe legen wollen, sie könne ja ohnehin genauso gut auf ihre islamische Kleidung verzichten.

Zusätzliche Verwirrung – Ideologischer Missbrauch des Kopftuchs

Diese Tendenz der gezielten Beeinflussung macht sich in Europa auf verschiedenen Ebenen im Umgang mit dem Islam bemerkbar. Im Zuge der öffentlichen Meinungsbildung werden seitens der Politik oder der Medien gerne lediglich jene Quellen zitiert, die dem eigenen Anliegen nach Assimilation im Erscheinungsbild scheinbar ganz „political correct“ entgegenkommen. Wiederholt wurde im europäischen Ausland Arbeitgebern etwa ein Freibrief dafür ausgestellt, wenn sie von muslimischen Bewerberinnen das Ablegen des Kopftuchs fordern.

Komplizierend tritt hier hinzu, dass das Kopftuch, bzw. der öffentliche Verzicht darauf auch ideologisch befrachtet worden ist, von der einen wie von der anderen Seite. Leidtragende sind in jedem Fall die Frauen. So manche Regierung aus Ländern mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung benutzt die kopftuchlose Muslimin gerne als Werbeträgerin für ihre Staatsideologie und verbannt das Kopftuch und damit jede islamisch gekleidete Frau aus der Öffentlichkeit. Die restriktive Politik solcher Staaten gegenüber ihren eigenen Bürgern steht dann kaum zur Diskussion, wenn das strategische Interesse an guten bilateralen Beziehung überwiegt. Ist es nicht problematisch, wenn gerade die Darstellungen der „Religionsbehörden“ solcher Staaten mit Vorliebe als letztgültige Gutachten „muslimischerseits“ in die politische Entscheidung eingebracht werden? Wie soll sich ein „Islam in Europa“ ausbilden, ein Islam mündiger gleichberechtigter demokratischer Bürger, die ihre Identität mit Europa verwachsen sehen, wenn man die Art ihrer Glaubensausübung über „Gutachten“ aus dem Aus-

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land zu steuern sucht? Wie kann man ein Gefühl der Integration erwarten, wenn selbst längst eingebürgerten Staatsbürgern in ihrem religiösen Leben das politisch gefärbte Urteil des Ursprungslandes als Maßstab aufoktroyiert wird, während man ihnen gleichzeitig die eigene Mitsprache verweigert? Nicht wenige Migranten haben ihre Länder unter anderem wegen der Einschränkung ihres Menschenrechtes auf freie Meinungsäußerung und unkontrollierte Gestaltung ihres Privatlebens verlassen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass aus Angst und mangelnder Bereitschaft sich mit dem scheinbar „Fremden“ auseinander zu setzen, mit zweierlei Maß gemessen wird.

Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, die theologische Bewertung und Gewissensentscheidung über komplexe Fragen wie das Kopftuch den hier lebenden Muslimen und vor allem den muslimischen Frauen zu überlassen, die so oder so gleichberechtigt behandelt und respektiert werden sollten. Dies schließt natürlich eine Diskussion keineswegs aus, sondern schafft gerade die Voraussetzungen für das Zugehen aufeinander. Darum kann diese Diskussion nur dann den Anspruch von Seriosität aufrecht halten und uns weiterbringen, wenn die Stimme der Betroffenen nicht übergangen wird. Wir sind auch aus Erfahrung davon überzeugt, dass sich viele Ängste erübrigen würden. Praktizierenden Muslimen ist gerade in Europa daran gelegen, nicht ständig vor dem Hintergrund von teilweise besorgniserregenden Zuständen in der islamischen Welt betrachtet zu werden oder dem Islam widersprechende Ereignisse sogar rechtfertigen zu sollen. Dieser leider verbreitete Hintergrund erklärt, warum sich in Europa nur schwer der Gedanke durchsetzt, dass der Islam durch die mögliche Dynamik und Flexibilität in der Betrachtung der Quellentexte auf die Moderne reagieren kann und aus dem Geist der Religion heraus auch eine heutige islamische Lebensform möglich ist, die in Europa innerhalb des demokratischen und pluralistischen Systems Platz hat.

In Österreich ist durch die Anerkennung der islamischen Religion und die Schaffung einer Instanz, die eventuelle theologische Fragen beantworten kann, Einseitigkeit durch politisch gefärbte theologische Stellungnahmen aus dem Ausland wirksam vorgebeugt. Gleichzeitig ist auch viel eher die Chance für die Muslime selbst gegeben, Klischeebildern wirksam entgegenzutreten. So liegt es etwa auch in der eigenen Hand, Themen wie „Islam in Europa“ nicht den sich anbiedernden Assimilationsfreunden angeblich muslimischen Hintergrunds zu überlassen.

Schlussbetrachtung

Die hier präsentierten Überlegungen können nicht mehr als ein bescheidener Versuch sein,

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möglichst viele Facetten eines vielschichtigen Themas aufzuzeigen. Muslimische Frauen in Europa haben es eigentlich in vielen Fällen satt, dass ihre Kleidung ständig so im Mittelpunkt steht. So bunt wie unsere Gesellschaft geworden ist, sollte doch auch ihre aus freien Stücken gewählte Art der Kleidung nicht dermaßen erklärungsbedürftig sein? – Doch wie auch der vorausgegangene Absatz anzureißen sucht, geht es beim Kopftuch um viel mehr. Für die Muslime in Europa ist das Kopftuch zu einer Gretchenfrage geworden. Es heißt nicht nur: „Wie aber hältst Du’s mit der Religion?“, sondern vor allem: „Wie aber hältst Du’s mit dem Kopftuch?“.

In dieser Hinsicht birgt das Thema „Kopftuch“ gerade in der Diskussion unter Frauen verschiedenen Glaubens auch eine Chance, sich gegenseitig besser kennen zu lernen und dabei gleichzeitig den eigenen Hintergrund tiefer aufzuarbeiten und zu begreifen.

So könnten auch Widersprüchlichkeiten in der Behandlung des Kopftuchthemas überwunden werden. Man kann der Muslimin nicht vorwerfen, sie dürfe nicht arbeiten gehen und ihr gleichzeitig den Zugang zum Arbeitsmarkt wegen ihrer Kleidung verweigern oder nur begrenzt ermöglichen. Es wäre ja absurd, würden muslimische Frauen diskriminiert, weil man ihre Kleidung als sie diskriminierend wertet.

In diesem Sinne hoffen wir, einen kleinen Anstoß zu einer tieferen Sichtweise in Bezug auf das Kopftuch gegeben zu haben.

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III. Staat und Religion

Religionsfreiheit oder Neutralitätsgebot? Eine Einführung von Hans Michael Heinig

Selten hat ein Rechtsstreit so große Aufmerksamkeit erfahren wie die gerichtliche Auseinandersetzung um das Kopftuch einer Lehrerin in der Schule. Seinen Ausgang nahm das Verfahren in Baden-Württemberg. Die muslimische Grund- und Hauptschullehrerin Ferestha Ludin weigerte sich, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten. Ihr Referendariat durfte sie mit dem Kleidungsstück absolvieren, den Antrag auf endgültige Übernahme in den Schuldienst lehnte die Schulbehörde dagegen ab.

Hiergegen stritt die Bewerberin erfolglos vor den Verwaltungsgerichten, errang aber anschließend vor dem Bundesverfassungsgericht einen Teilsieg: Einer muslimischen Lehrerin könne das Tragen des Kopftuchs nur untersagt werden, wenn hierfür eine besondere gesetzliche Grundlage bestünde. Die Sache wurde an das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen. Dieses beschied die Klage erneut abschlägig, nachdem Baden-Württemberg zwischenzeitlich eine Sonderregelung für religiöse Kleidung im Schulgesetz getroffen hatte.

Weniger im Fokus der Öffentlichkeit stand dagegen der Rechtsstreit einer Lehrerin aus Niedersachsen. Die zunächst vor dem VG Lüneburg (VG Lüneburg, NJW 2001, 2899 ff.) erfolgreiche, vor dem Oberwaltungsgericht (OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2002, 658 ff.) aber unterlegene Klägerin verzichtete schließlich auf das Tragen des Kopftuchs während des Unterrichts.

Auch die Arbeitsgerichte hatten sich der Kopftuchfrage zwischenzeitlich zu stellen. Die Kündigung einer Verkäuferin aufgrund ihres Kopftuchs wurde vom Bundesarbeitsgericht aufgehoben, das Bundesverfassungsgericht billigte diese Entscheidung.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beanstandete derweil weder ein Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen im Kanton Genf , noch das (weitergehende) Kopftuchverbot für Studentinnen an staatlichen Universitäten in der Türkei.

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Das Kopftuch der Lehrerin in der öffentlichen Schule – verfassungsrechtliche Argumente pro und contra

1.

Religionsfreiheit der Lehrerin und diskriminierungsfreier Zugang

In der Frage der Zulassung des Kopftuchs steht das Grundrecht der Lehrerin auf Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG) gegenüber der Trennung von Staat und Religion. Die Trägerin sieht im Kopftuch einen Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung. Es stellt damit ein Bekenntnis zur freien Religionsausübung dar. Allerdings tritt die Lehrerin als Beamtin, also als Staatsdienerin, in Erscheinung. Grundrechte wie die Religionsfreiheit sind klassischerweise Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Die Lehrerin dagegen ist mit dem Staat funktional verwoben. Die ihre persönliche Lebensführung schützende Religionsfreiheit kann im Kontext der Amtsführung nur in beschränktem Maße berücksichtigt werden, wobei das Maß der Reduktion umstritten ist.

Umfassenden Schutz genießt die muslimische Lehrerin, die an einer öffentlichen Schule unterrichten will, dagegen durch Art. 33 Abs. 3 GG. Die Norm verbietet religiöse Diskriminierungen beim Zugang zu öffentlichen Ämtern; dieser hat unabhängig vom religiösen Bekenntnis zu erfolgen. Die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religion darf niemandem zum Nachteil gereichen.

2.

Rechte der Eltern sowie Schülerinnen und Schüler

Diese Rechte der Lehrerin sind nicht grenzenlos gewährt, sondern kollidieren mit den Grundrechten der Eltern sowie Schülerinnen und Schüler.

Die Religionsfreiheit garantiert im Negativ, keine Religion ausüben zu müssen und von der zwangsweisen Konfrontation mit einem Glauben verschont zu bleiben. Schülerinnen und Schüler unterliegen der Schulpflicht, könnten dem Kopftuch der Lehrerin als religiösem Symbol also nicht ausweichen.

Eltern kommt nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG das Erziehungsrecht zu, das auch beinhaltet, über die religiöse Prägung der Erziehung des Kindes zu entscheiden und sie von für schädlich gehaltenen religiösen Einflüssen fernzuhalten.

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3.

Staatliche Neutralität

Auch die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates steht auf den ersten Blick im Gegensatz zum Kopftuch der Lehrerin. Der Staat ist Heimstatt aller Bürgerinnen und Bürger und darf sich wegen der Verfassung nicht mit einer bestimmten Religion identifizieren. Ein solcher Eindruck könnte entstehen, wenn eine Beamtin mit einem religiösen Symbol ausgestattet ihren Dienst versieht.

Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat darf sich aber auch nicht einseitig gegen eine bestimmte Religion wenden. Ausschließlich das Kopftuch zu verbieten, erscheint somit auch problematisch.

Dabei sind sehr verschiedene Ausgestaltungen der Neutralität denkbar: von der strikten Trennung zwischen Staat und Religion bis hin zur offenen Neutralität, die auch innerhalb der Sphäre des Staates Raum für die unterschiedlichen Religionen der Bürgerinnen und Bürger lässt.

Das Grundgesetz wurde bisher im Sinne eines „religionsfreundlichen“ Verständnisses der Neutralität und als Absage an den Laizismus, wie er in Frankreich praktiziert wird, interpretiert. Staat und Religionsgemeinschaften sind sich demnach wechselseitig zugewandt, wovon etwa der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 GG) oder der öffentlich-rechtliche Status von Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 und 6 WRV) zeugen.

Freilich war das mit einer Offenheit des Staates für den Glauben der Bürgerinnen und Bürger verbundene Konfliktpotential auch geringer, solange noch über 90 % der Bevölkerung in Deutschland einer der christlichen Glaubensgemeinschaften angehörten. Die forcierte religiöse Pluralität in Deutschland könnte dagegen auch zu einem veränderten Neutralitätsverständnis führen.

4.

Symbolische Mehrdeutigkeit des Kopftuchs

Besondere verfassungsrechtliche Probleme wirft die symbolische Mehrdeutigkeit des Kopftuchs auf. Das Kopftuch steht auch für einen politischen Islamismus, dem freie, demokratische Wahlen, Grundrechte, die Trennung von Staat und Kirche und die Gleichberechtigung aller Religionen fremd ist und der mit dem Grundgesetz nicht konform geht. Das Kopftuch

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gerät so in den Dunstkreis verfassungsfeindlicher Symbole. Eine "wehrhafte Demokratie" darf möglicherweise von seinen Staatsdienern erwarten, auf ein "missverständliches" Kleidungsstück zu verzichten. Andererseits könnte sich eine solche Kollektivhaftung aller Kopftuchträgerinnen als unverhältnismäßig darstellen und nur die individuelle Motivation zum Tragen des Kopftuches entscheidend sein.

Ähnliche Fragen wirft die vielseitige Deutungsmöglichkeit des Kopftuchs im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf. Ein fundamentalistischer Islam billigt den Geschlechtern nicht die gleichen Teilhabechancen zu und beharrt auf einer klassischen Rollenverteilung. Das Kopftuch soll diese Überzeugungen dann sichtbar zum Ausdruck bringen. Art. 3 Abs. 2 GG dagegen verpflichtet den Staat auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

5.

Lösungsvorschläge

Eingedenk der Fülle an verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten für und gegen das Kopftuch einer Lehrerin verwundert es nicht, wenn im rechtwissenschaftlichen Schrifttum alle denkbaren Ergebnisse vertreten werden: von der Verfassungswidrigkeit eines Kopftuchverbots über das Gebot der Einzelfallprüfung und das Verbot des Kopftuchs bei Widerspruch durch Eltern und Schüler bis hin zur Verfassungspflicht, das Kopftuch zu verbieten. Auch wollen manche zwischen christlichen und nichtchristlichen Symbolen unterschieden wissen.

Diese Vielstimmigkeit zeigt möglicherweise an, dass es nicht die eine richtige Lösung geben kann, sondern der durch das Grundgesetz gezogene Rahmen verfassungsgemäßen Handelns einen erheblichen politischen Gestaltungsspielraum eröffnet. Nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der unmittelbar demokratisch legitimierte parlamentarische Gesetzgeber wäre dann zur endgültigen Entscheidung über das Kopftuch der Lehrerin berufen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch der Lehrerin

Diese Position machte sich die Mehrheit des Zweiten Senats zu Eigen. Grundsätzlich habe der Gesetzgeber Eignungskriterien für ein öffentliches Amt näher festzulegen. Bei einer muslimischen Lehrerin mit Kopftuch müsse er aber die verfassungsrechtlichen Grenzen - die Religionsfreiheit und die Garantie des bekenntnisunabhängigen Zugangs zu öffentlichen Ämtern - beachten. Diesen Rechten der Lehrerin stünde wiederum die negative Religions-

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freiheit der Schülerinnen und Schüler, das elterliche Erziehungsrecht sowie der Ausgestaltungsauftrag des Staates für die Schule (Art. 7 Abs. 1 GG) entgegen. Das Spannungsverhältnis zwischen den Rechtspositionen aufzulösen, obliege dem demokratischen Gesetzgeber, in diesem Fall den Ländern. Ohne besondere gesetzliche Grundlage sei die Nichteinstellung wegen des Kopftuchs verfassungswidrig.

Soweit der Gesetzgeber das Tragen des Kopftuchs durch die Lehrerin dulde, sei hierin nicht per se eine Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion zu sehen. Eine konkrete, stets sich realisierende Gefährdung des Schulfriedens sei durch das Kopftuch nicht zu besorgen. Doch sei eine solche Gefährdung auch nicht zukünftig für alle Fälle auszuschließen – es bestehe somit eine abstrakte Gefahr. Um den Grad der Gefahr zu ermessen, müsse der Gesetzgeber eine Gefahrenprognose vornehmen. Hierfür dürfe er auch auf das objektive Erscheinungsbild des Kopftuchs und seine Wirkungen auf Dritte abstellen und von der konkreten Motivation der Trägerin abstrahieren.

Die Minderheit des Senats hält dagegen die vorhandenen beamtenrechtlichen Regelungen für ausreichend, um die Beschwerdeführerin bei der Einstellung nicht zu berücksichtigen. Ein besonderes Kopftuchgesetz sei nicht erforderlich. Beamte könnten sich nur auf Grundrechte berufen, soweit es die Sachgesetzlichkeiten des Amtes erlauben. Das Kopftuch der Lehrerin verstoße im konkreten Fall gegen die unmittelbar der Verfassung zu entnehmenden Mäßigungspflicht für Beamte, da es objektiv geeignet sei, "Hindernisse im Schulbetrieb oder gar grundrechtlich bedeutsame Konflikte im Schulverhältnis hervorzurufen".

Verfassungsgerichtliche Vorgaben für ein Landesgesetz

Das Bundesverfassungsgericht eröffnet den Ländern ausdrücklich die Möglichkeit, "zu verschiedenen Regelungen kommen zu können, weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen". Zugleich hat das Gericht zu erkennen gegeben, dass Dienstpflichten, die in die Religionsfreiheit eingreifen, "das Gebot strikter Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen […] zu beachten" haben.

Gesetze und Gesetzentwürfe der Länder

Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und das Saarland haben aufgrund des

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Urteils des BVerfG inzwischen neue gesetzliche Regelungen geschaffen oder planen entsprechendes. Verboten werden religiöse Symbole, die objektiv geeignet sind, den Schulfrieden oder die Neutralität des Landes zu gefährden, oder den Eindruck erwecken können, mit der Verfassung und den Erziehungszielen in Widerspruch zu stehen. Baden-Württemberg, Bayern und Hessen sehen zudem unterschiedlich gefasste Sonderklauseln zur Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen vor, die das Tragen eines Kreuzes durch eine Lehrkraft ermöglichen sollten. Ob solche Regelungen für christliche Symbole – ungeachtet der jeweiligen Schultraditionen – mit dem von Karlsruhe betonten strikten Gleichbehandlungsgebot vereinbar sind, erscheint fraglich. Das Bundesverwaltungsgericht will in seiner 2. Kopftuchentscheidung die baden-württembergische Klausel verfassungskonform dahingehend verstanden wissen, dass sie keine bestimmte Religion bevorzuge, sondern nur ermögliche, die aus der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt im Unterricht zur Darstellung zu bringen. Sie erlaubt demnach einen didaktischen Einsatz christlicher Symbole, nicht aber die Bekundung einer christlichen Glaubensüberzeugung seitens einer Lehrkraft. Konsequenterweise hätten dann z.B. Nonnen, die an öffentlichen Schulen unterrichten, außerhalb des Religionsunterrichts auf ihren Habit zu verzichten.

Eigene Wege gehen Berlin und Nordrhein-Westfalen. Die Hauptstadt hat ihren Bediensteten in den Schulen, der Polizei und der Justiz das Tragen jedweder religiösen Symbole verboten. Nordrhein-Westfalen plant ein präventives Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen, will aber Ausnahmen nach einer Einzelprüfung durch die Schulbehörde ermöglichen.

Die Regierungen und Mehrheitsfraktionen in Brandenburg, Hamburg, MecklenburgVorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen sehen bisher keine neuen Bestimmungen vor. Die große Koalition in Bremen ist uneins.

Ausblick

Weitgehend unbeachtet blieb in der Kopftuchdebatte in Deutschland bisher das Europarecht. Dieses kennt zahlreiche Bestimmungen zum gleichberechtigten Zugang von Mann und Frau zum Arbeitsmarkt sowie ein Verbot religiöser Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf. Je nach Ausgestaltung könnte ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen in Konflikt mit diesen Vorgaben stehen. Auch ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich das Bundesverfassungsgericht mit den neuen Länderregelungen zu befassen hat, um über deren Angemessenheit und

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diskriminierenden Charakter zu entscheiden. Das letzte Wort scheint im Kopftuchstreit deshalb noch lange nicht gesprochen zu sein.

Die Laizismus-Falle Ein Kommentar von Mark Siemons

Im Kopftuchstreit wird die Forderung nach einem laizistischen Staat laut, der alle religiösen Symbole gleich weit aus der Öffentlichkeit verbannt. Als Vorbild nennt man vermehrt - eine hübsche Pointe zur parallel geführten EU-Debatte - auch die Türkei. Deren Laizismus solle zur "globalen Politik" werden, empfahl der Filmregisseur und Berlinale-Gewinner Fatih Akin kürzlich in einem Interview: "Religion hat in der Politik nichts zu suchen." Auch der Schriftsteller Thorsten Becker, der zuletzt mit der türkischen Geschichts- und Gastarbeiter-Saga "Sieger nach Punkten" hervorgetreten ist, plädierte in einem Zeitungsbeitrag emphatisch dafür, die "rückständige Verfassung" der Bundesrepublik "den fortgeschrittenen" Konstitutionen Frankreichs und der Türkei in diesem Punkt anzugleichen: "Was ich in religiösen Dingen denke, das ist Privatsache, und als Bürger verlange ich von meinem Staat Garantien dafür, sonst brauche ich ihn nicht."

Solche Auffassungen stoßen in Deutschland auf instinktive Vorbehalte - nicht bloß bei den Verteidigern kirchlicher Interessen, sondern auch bei vielen anderen, die in einer Phase des Umbruchs weniger aus religiösen als aus kulturellen Gründen wenigstens noch einige vertraute Rahmenbedingungen bewahren wollen. Doch das Zusammenleben verschiedener Traditionen verlangt dem Status quo heute weiter gehende Begründungspflichten ab, als sie bisher üblich waren. Das ist eine irritierende Situation: So lange auch schon von Globalisierung und multikultureller Gesellschaft gesprochen wird, so wenig ist die Konsequenz aus der Tatsache, dass man sich auf ein unausgesprochenes Einverständnis aufgrund gemeinsamer Sprache, Geschichte und Gebräuche nicht mehr ohne weiteres verlassen kann, bisher gezogen. Häufig behilft man sich mit Abwehrreflexen, etwa indem man unter "Globalisierung" nur eine westlich dominierte Massenkultur oder abstrakte Finanzströme verstehen will, die die europäischen Identitäten nicht besonders zu berühren brauchen. Oder indem man "Multikulturalismus" bloß als eine etwas naive ästhetisch-politische Wahlmöglichkeit auffasst, so als

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könne man sich auch dafür entscheiden, mit Angehörigen anderer Kulturen nicht zusammenzuleben.

Ist Religion Privatsache?

Selbst die kluge, wohl abgewogene Rede von Bundespräsident Rau zum LessingGeburtstag hatte ihre Leitidee - "Unsere Gesellschaft ist kein religionsfreier Raum, und Religion ist nicht bloß Privatsache" - ja aus dem bisherigen Status quo in Deutschland abgeleitet und weitgehend darauf verzichtet, sie grundsätzlich zu begründen. Die Frage aber ist, ob die Duldung der Religion im öffentlichen, auch staatlichen Raum tatsächlich nicht bloß für einzelne Religionsgemeinschaften gut ist, sondern für das gesamte Gemeinwesen, also auch für Angehörige von Minderheiten-Religionen und nicht religiös Gebundene. Bliebe eine Antwort aus, so müsste man annehmen, die bisherige deutsche Praxis könne einer rationalen und demokratischen Überprüfung auf Dauer nicht standhalten.

Auf den ersten Blick scheint die These, Religion sei Privatsache, alle Plausibilität für sich zu haben: Kann es etwas Persönlicheres, Intimeres geben als Intuitionen und Überzeugungen in diesem Bereich, und sind nicht tatsächlich alle Versuche, diese Intimität auf einen außerreligiösen kollektiven Nenner zu bringen, sei er kultureller oder politischer Art, als ideologische Anmaßungen entlarvt worden? Doch bekanntlich ist die Religion nicht das einzige Rückzugsgebiet der Intimität: Auch Liebe und Kunst, um nur einmal diese zu nennen, vertragen äußerliche Vereinnahmung schlecht - und doch würde man das Verbot, den einschlägigen Erfahrungen einen öffentlichen Ausdruck zu geben, zu Recht als barbarisch empfinden. Es gibt offenbar einen Unterschied zwischen "persönlich" und "privat". Wer persönliche Einsichten und Erfahrungen grundsätzlich im Privaten einschließen wollte, würde im öffentlichen Reden und Handeln nur konventionelle Worthülsen dulden, die sich vor allem durch ihre Übereinstimmung mit dem herrschenden Code auszeichnen. Die öffentliche Sprache würde sich in funktionaler Rollenprosa erschöpfen und zu einer die Kulturen und Definitionen überschreitenden Verständigung über persönliche Erfahrungen gar nicht erst vordringen.

Staatlich verordnete Lüge

Gewiss betrifft die laizistische Forderung nach einer Ächtung religiöser Symbole zunächst nur die staatliche Repräsentation und nicht die gesamte Öffentlichkeit. Doch eine Grenze lässt sich nicht sauber ziehen, da die staatliche Sphäre nun einmal keine Quarantänestation

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keimfreier Abstraktionen darstellt, sondern über die Politik mit der öffentlichen Selbstverständigung aufs engste verknüpft ist. So hat der Kopftuchstreit, noch bevor das erste Verbot für staatliche Ämter ausgesprochen ist, schon dazu geführt, dass viele Unternehmen keine kopftuchtragenden Musliminnen mehr einstellen wollen, wie die ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John kürzlich beklagte. Wenn die prinzipielle Anrüchigkeit eines Symbols erst einmal staatlich sanktioniert ist, dann ist es zumindest in Ländern mit staatshöriger Tradition auf Dauer auch für die Gesellschaft verloren.

Der grundsätzliche Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit aber hätte etwas genauso Willkürliches und Totalitäres, wie es der Ausschluss aller anderen persönlichen Einsichten, Erfahrungen und Motive hätte - so, als sollten außerhalb der eigenen vier Wände nur Äußerungen tolerabel sein, die nicht so ernst gemeint oder oberflächlich sind. Mit welchem Recht könnte sich ein weltanschaulich neutraler Staat, der sich doch keine eigenen Antworten auf existenzielle Fragen anmaßen darf, eine solche Präjudizierung erlauben? Die historische Rechtfertigung des Laizismus war die angenommene Unvereinbarkeit von staatlicher und religiöser Loyalität: Wer an ein göttliches Gesetz glaube, sei nicht fähig, eine weltliche Gerichtsbarkeit anzuerkennen, die die Wahrheitsfrage einklammert und alle Bekenntnisse gleich behandelt. An dieser Voraussetzung heute noch festzuhalten hieße, nicht wahrzunehmen, daß eine Religion nicht bloß gezwungenermaßen, sondern von innen her zur Identifikation mit dem demokratischen Rechtsstaat und zur Toleranz fähig sein kann.

Nähme man diese Voraussetzung ernst, bedeutete der Satz "Religion ist Privatsache" nicht weniger als eine staatlich verordnete Schizophrenie: In seinem Inneren, "privat", soll man von der Illegitimität und Verfaultheit des Staats überzeugt sein dürfen, aber nach außen hin wird erwartet, dass man dies unter Verwendung der allgemein anerkannten Formeln verleugnet. Die Öffentlichkeit insgesamt müsste als eine Zone der Lüge und Verstellung gelten.

Doch diese Voraussetzung ist offensichtlich obsolet geworden, weil es mit der Geschichte des Christentums mindestens ein Gegenbeispiel gibt. Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich auch im Katholizismus die Einsicht durchgesetzt, dass mangelnder Respekt vor anderen Überzeugungen die Substanz des eigenen Glaubens beschädigt, der nicht zuletzt ein Glauben an die menschliche Würde ist. Bezeichnenderweise begann sich das Christentum just zu dem Zeitpunkt in diesem Sinn über sich selbst aufzuklären, als es sich von der es bis dahin tragenden Kollektivkultur löste: als klar wurde, dass nicht alle das gleiche glauben, als Glaube und Kultur nicht mehr ohne weiteres zusammenfielen. Weiten Teilen des Islams steht diese Entwicklung noch bevor. Doch anstelle diese zu fördern, würde die laizistische Verbannung des Kopftuchs wieder in einen überwunden geglaubten Status

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quo zurückfallen, indem sie den Islam von Staats wegen dauerhaft auf eine bestimmte Kultur festlegte.

Die Kultur ist das Problem

Die Unterscheidung von Religion und Kultur war entscheidend für die Selbstaufklärung des Christentums, und ausgerechnet in der säkularen Debatte scheint diese Differenzierung jetzt wieder vergessen zu werden. Die Probleme beim Zusammenleben und die Konflikte mit dem Rechtsstaat entstehen ja weniger durch den religiösen Kern der verschiedenen Bekenntnisse als durch deren Einbettung in bestimmte, von politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren beeinflusste Kulturen. Diese Einbettung ist unvermeidlich - keine Religion existiert in einem luftleeren Raum -, aber sie ist nicht unveränderlich: Wie alle Kulturen wandeln sich auch die religiös geprägten ständig und geben insofern auch Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Koexistenz. Dagegen würde dieser Prozess gefährdet, wenn sich staatliche Gewalten anmaßten, "Kulturen" und "Identitäten", seien es christliche, muslimische oder agnostische, ein für allemal fixieren zu wollen. Eine solche sich selbst erfüllende Prophezeiung schürte die Konflikte erst, die sie zu lösen beanspruchte.

Gerade die reklamierte Enthaltung des Staats in letzten Fragen gebietet es daher, die Religionen nicht künstlich fernzuhalten: Sie gehören ebenso wie die Künste, die Presse und die übrigen Gedanken zur gesellschaftlichen Selbstbestimmung, die man nicht ungestraft unterdrückt. Im öffentlichen Diskurs wird Religion oft fast schamhaft durch "Kultur" ersetzt - wohl in der Annahme, das sei dem Pluralismus angemessener, da harmloser. Das Gegenteil jedoch ist heute der Fall. Die Öffentlichkeit der Religionen könnte gerade zur Verständigung und Integration der Gesellschaft beitragen, wenn es Gläubigen und Ungläubigen gelänge, über ihre Ansichten so zu reden, als seien sie nicht bloß die ideologische Hülle kultureller Interessen. Dagegen erhebt die staatliche Fixierung von "Kulturen" - sei es als eigene oder als fremde - einen totalen, Ressentiments provozierenden Anspruch, der durch kein Gespräch mehr zu erreichen ist. So scheint die Lessingsche Toleranzfrage heute eher die Kultur als die Religion zu betreffen. Gelöst werden kann sie nur durch Selbstbeschränkung auf die für alle gleich geltenden rechtsstaatlichen Regeln. Diese allerdings - das ist die notwendige andere Seite des religionstoleranten Staats - müssen auch konsequent angewendet werden. Die demokratische Öffentlichkeit muss fortwährend auf die Unterscheidung der Ebenen dringen, damit politische Argumente politisch begründet werden und religiöse religiös. Eine wie auch immer verschleierte machtpolitische Ideologisierung der Religion darf kein säkularer Staat dulden.

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Das laizistische Modell vermag mit seinen längst historisch gewordenen unausgesprochenen Voraussetzungen diese Differenzierung nicht zu leisten. Der Jakobinismus der kemalistischen Türkei ist dafür ein gutes Beispiel. Diese militärisch erzwungene Religionsneutralisierung brachte zwar im Namen eines westlichen Republikanismus jahrzehntelang den Islam zum Verschwinden und damit auch dessen extremistische Auswüchse - doch nur um den Preis einer fast totalitären Gesellschaftskontrolle, bei der sich der Staat selbst die Definitionsmacht über alle Fragen metaphysischer Art anmaßte. Das tut er bis heute, auch wenn der Rigorismus der Anfänge nachgelassen hat; viele der unter Verschluss gehaltenen Bewegungen brachen wieder auf. Es ist kein Zufall, dass heute ausgerechnet eine islamisch inspirierte Regierung dieses System von innen her liberalisiert, der gesellschaftlichen Wirklichkeit anpasst - und damit erst allmählich dazu fähig macht, der EU beizutreten. Es wäre eine traurige Ironie, wenn Europa unterdessen den Weg zurück ins achtzehnte Jahrhundert ginge, den die moderne Türkei gerade hinter sich gelassen hat.

Was bedeutet Religionsfreiheit heute noch? Auszüge einer Rede von Bundespräsident Johannes Rau Bundespräsident Johannes Rau hat anlässlich des 275. Geburtstags von Gotthold Ephraim Lessing am 22. Januar 2004 eine Rede gehalten, in der er noch einmal auf den "KopftuchStreit" eingeht und er seine eigene Position eingehender begründet. Dem großen Aufklärer Lessing war die Gleichbehandlung aller Religionen ein Anliegen (siehe sein Drama "Nathan der Weise"), Johannes Rau fand also direkte Anknüpfungspunkte an der toleranten Philosophie Lessings.

Diese Dokumentation der Rede Raus verzichtet auf Passagen, die sich mit der Person Lessings und seinem Umfeld befassen. Zwischenüberschriften sind selbst eingefügt. Die ganze Rede

kann

auf

der

Homepage

des

Bundespräsidialamts

eingesehen

werden

(www.bundespraesident.de).

Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zum 275. Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel, 22. Januar 2003

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(...) Lessing verband ... Theorie und Praxis. Als Aufklärer war er ein "Selbstdenker" par excellence: ein Mann, der alle Dogmen kritisch befragte, alte und neue. Über die Ergebnisse seiner kritischen Betrachtungen schrieb er gelehrte Abhandlungen oder scharfsinnige, oft scharfzüngige Rezensionen, die gefürchtet waren. Die kann man bis heute mit großem Vergnügen und mit großem Gewinn lesen.

Er schaffte es aber auch, seine Einsichten und seine Erkenntnisse im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich zu machen: Er brachte sie auf die Bühne. Gotthold Ephraim Lessing war der Erste, der mit den Mittel des Theaters den Zuschauern vorgeführt hat, wie Menschen unterschiedlichen Glaubens in gegenseitiger Achtung miteinander umgehen. Sein "Nathan der Weise" hat eine klare Botschaft: Menschen unterschiedlichen Glaubens - Christen, Juden, Muslime - können gleichberechtigt miteinander leben, und das ist gut für alle. (...)

Heute möchte ich aber über das Thema seines "Nathan" sprechen: über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen - bei uns in Deutschland und in der Welt.

Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen

Das so genannte Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003, die in der Folge von einigen Landesregierungen geplanten oder schon beschlossenen Kopftuchverbote für Lehrerinnen und die öffentlichen Diskussionen darüber: All das ist eine neue Runde in einer alten Debatte und in einer Auseinandersetzung, die immer geführt wird, wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Religionszugehörigkeit und unterschiedlicher Überzeugungen aufeinander treffen.

Es geht um die Frage: Wie können Menschen miteinander leben, die ganz unterschiedliche Dinge für wahr und für richtig halten und auch manches tun, was die jeweils anderen unbegreiflich finden?

Wie das im besten Fall geschehen kann, das hat Lessing uns im "Nathan" gezeigt: Der christliche Tempelherr rettet Nathans Ziehtochter vor einem Brand - ohne Ansehen ihrer vermeintlichen Herkunft, weil das seiner Auffassung nach "nun einmal die Aufgabe von

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Tempelherrn ist"; der moslemische Sultan begnadigt ihn gegen alle Gewohnheit und der jüdische Kaufmann steht diesem Sultan in finanziellen Schwierigkeiten bei.

Aufklärung ohne und mit Religion

Erinnern wir uns: Als Lessing geboren wurde, lag der Westfälische Friede von 1648 gerade einmal achtzig Jahre zurück. Er hatte die schrecklichen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts beendet und das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten auf eine klare Grundlage gestellt. Das war ein großer Fortschritt, auch wenn die Konflikte zwischen ihnen damit beileibe nicht aus der Welt waren.

Für Juden dagegen gab es keinen "Religionsfrieden": Sie wurden weiter diskriminiert und verfolgt, wie manch andere auch. Die letzte so genannte Hexe wurde in Europa kurz nach Lessings Tod verbrannt, im Jahre 1782.

All diese Erfahrungen mit religiös begründeter Intoleranz haben dazu beigetragen, dass viele Menschen im Zeichen der Aufklärung jegliche Religion ablehnten. Noch in der Ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wurden Stimmen laut, die Kirchen und Religion als "Hemmschuh der Zivilisation" bezeichneten und deshalb verboten wissen wollten.

Unter den Aufklärern gab es aber auch ganz andere Stimmen. Der Unfriede in der Welt und der Hass zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens konnten und sollten ihrer Meinung nach anders überwunden werden: Die Menschen müssten sich darauf besinnen, was bei allen Unterschieden im Einzelnen allen Religionen gemeinsam sei: der Glaube an Gott als Schöpfer und an seinen Schöpfungsplan. Sie leiteten das Prinzip aufgeklärten Denkens und Handelns aus der Existenz eines Gottes ab, der in unterschiedlicher Weise von allen Religionen verehrt wird.

Lessing hat im "Nathan" zu zeigen versucht, um wie viel menschenfreundlicher die Welt werden kann, wenn die Menschen nach diesen Prinzipien leben.

Der "säkulare Staat"

Die Stimmen, die zu Lessings Zeit die Abschaffung von Religion gefordert haben, haben sich nicht durchgesetzt. Durchgesetzt hat sich aber die Vorstellung von einer Ordnung, die ge-

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genüber allen Konfessionen und Religionen so viel Distanz wahrt, dass sie ihr friedliches Miteinander regeln und garantieren kann: nämlich der säkulare Staat.

Diese Vorstellung war auch deshalb erfolgreich, weil wir in Europa die Erfahrung gemacht haben, wie grausam und schrecklich kriegerische Auseinandersetzungen werden können, die im Namen eines absoluten Wahrheitsanspruches geführt werden.

Deswegen haben wir - im Gefolge der Aufklärung und der Entwicklung der Menschenrechtsidee - die Konsequenz gezogen, dass Religion und staatliche Ordnung unterschieden werden müssen, dass Glaubensüberzeugungen und Organisation des Gemeinwesens voneinander zu trennen sind.

So können zwei fundamentale Menschenrechte gewährleistet werden: die Freiheit des Gewissens und die Freiheit der religiösen Überzeugung und der religiösen Praxis. So kann das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Überzeugungen und Religionen geregelt werden.

Dazu mussten der Staat und die Kirchen einen für sie wesentlichen Verzicht leisten: Der Staat musste auf eine religiöse Rechtfertigung verzichten. Die Staatsgewalt ist nicht mehr "von Gott" verliehen, sondern geht "vom Volke aus". Das hört sich heute selbstverständlich an, das war es aber lange Zeit nicht. Die Religionen mussten ihrerseits darauf verzichten, ihren absoluten Geltungsanspruch, ihren "Wahrheitsanspruch", mit Hilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen.

Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in Europa auf ganz unterschiedliche Weise geregelt, von den Staatskirchen in Skandinavien bis zum französischen Laizismus.

"Aufgeklärte Säkularität"

Wir in Deutschland haben uns für einen anderen Weg entschieden, einen Weg, für den Bischof Wolfgang Huber den Begriff "aufgeklärte Säkularität" geprägt hat. Staat und Kirche sind in Deutschland klar voneinander getrennt, aber sie wirken auf vielen Feldern im Interesse der ganzen Gesellschaft zusammen. Ich halte das, alles in allem, für den richtigen Weg, und ich sehe keinen Anlass dafür, dass wir uns dem Laizismus unserer französischen Nachbarn und Freunde anschließen sollten.

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In Artikel 4 unseres Grundgesetzes heißt es: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."

Deutschland gehört also zu den europäischen Ländern, deren Geschichte und deren Traditionen besonders vom christlichen Glauben geprägt sind. Die Religionsfreiheit, die unser Grundgesetz garantiert, gilt aber nicht nur für die christlichen Kirchen. Sie gilt, auch wenn das manchen nicht immer ausreichend bewusst ist, auch für andere Religionsgemeinschaften und gewiss für den Islam.

Die Grenze findet jede Kirche und jede Religionsgemeinschaft ausschließlich in den vom Grundgesetz garantierten unveräußerlichen Menschenrechten. Auch sie gelten - wie die Religionsfreiheit - für alle, ob sie Christen, Muslime, Juden, Buddhisten oder Angehörige anderer religiöser Überzeugungen sind, natürlich auch für Menschen, die nicht gläubig sind.

Niemand hat in unserem Land das Recht, unter Berufung auf seinen Glauben die in unserem Grundgesetz garantierten Menschenrechte und Bürgerrechte zu verletzen.

Unser Staat ist kein religionsfeindlicher und auch kein religionsfreier Staat. Im Gegenteil: Unser Staat schützt die Religionsfreiheit aller.

Neutralität des Staates - aber nicht Neutralität der Gesellschaft

Die Neutralität des freiheitlichen Staates gegenüber Religionen und Weltanschauungen darf aber nicht verwechselt werden mit einer Neutralität der Gesellschaft in diesen Fragen.

Im Gegenteil: Der weltanschaulich neutrale Staat ist auf Überzeugungen angewiesen, die in verschiedenen und unterscheidbaren Gemeinschaften gelebt werden, die Werte haben und die Orientierung geben wollen. Dazu gehören in besonderer Weise Kirchen und Religionsgemeinschaften, die ihre Vorstellungen in die Gesellschaft einbringen.

Unsere Gesellschaft ist kein religionsfreier Raum, und Religion ist nicht bloße Privatsache. Der öffentliche Charakter von Religionen wird bei uns anerkannt. Kirchen und Glaubensgemeinschaften können und sollen öffentlich wirken, und ihre Einmischung in öffentliche Angelegenheiten ist ausdrücklich erwünscht.

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Manchen ist zu wenig bewusst, welch eine große zivilisatorische Errungenschaft es ist, dass in einer pluralen Gesellschaft Menschen friedlich miteinander leben, die ganz unterschiedliche Überzeugungen haben. Das muss jeden Tag neu geübt und neu gelebt werden.

Für einen Christen, wie für jeden gläubigen Menschen, ist ja nicht jede Vorstellung von Transzendenz und jedes Gottesbild gleich gültig oder gleich viel wert.

Es ist doch ganz selbstverständlich, dass gläubige Menschen ihren Glauben für den richtigen Glauben halten. Das gilt für Christen genauso wie für Juden und Muslime.

Ich selber schöpfe Zuversicht und Kraft aus dem christlichen Glauben, der mir Trost und Hoffnung ist im Leben und im Sterben. Gleichzeitig habe ich Respekt vor allen, die ihr Leben auf andere Fundamente gründen. (...)

Manchmal herrscht ja der Eindruck vor, Toleranz und Respekt anderen gegenüber bedeuteten auch, andere Glaubenswahrheiten und Überzeugungen nicht nur zu achten, sondern sie als genauso richtig anzusehen wie die eigenen. Das ist ein Irrtum. Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Toleranz und Respekt bedeuten ja gerade, dass man die Existenzberechtigung anderer Überzeugungen und Glaubenswahrheiten akzeptiert, die man nicht für richtig hält.

Der Staat schützt die Freiheit jedes Einzelnen, seinen Glauben zu leben, solange er nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Der Staat hat aber nicht die Aufgabe festzustellen, welche Religion die bessere ist oder gar eine Religion zu bevorzugen.

Der Islam

Über den Zusammenhang von Menschenrechten und Religionen kann man heute nicht sprechen ohne einen Blick auf den Islam. Ich rede nicht von Terroranschlägen in vielen Teilen der Welt. Hier wird der islamische Glaube zwar oft als Legitimation benutzt, aber die große Mehrzahl der Muslime und der muslimischen Gelehrten lehnen Attentate als unvereinbar mit dem Islam ab.

Wir müssen uns aber mit der bisher ungelösten Frage auseinandersetzen, wie sich der Islam zum demokratischen Staat, zu Toleranz, zu Glaubensfreiheit und zu Gewissensfreiheit - zu

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den Menschenrechten - verhält. Das ist eine Frage, die sich nicht nur in der islamisch geprägten Welt stellt. Das ist auch eine Frage bei vielen Muslimen, die in Europa und bei uns in Deutschland leben. Wir sollten sie dabei unterstützen, in dieser Frage voranzukommen.

Die klare Trennung von Staat und Religion, die in den meisten Staaten der westlichen Welt gilt, gibt es in dieser Form in den islamischen Staaten nur im Einzelfall und nur teilweise.

Die fehlende Trennung zwischen Staat und Religion macht aber so vieles so unendlich schwierig im internationalen aber auch im nationalen Dialog.

Die entscheidende Frage, die alle Staaten der Welt beantworten müssen, eine Frage, die weit über den Religionsdialog hinaus geht, sie heißt: Wie haltet ihr es mit den Menschenrechten, mit Toleranz, mit der Gleichstellung von Mann und Frau, mit der Freiheit in Gewissens- und Glaubensfragen?

Das stellt uns auch vor die Frage, wie Religionsfreiheit als Menschenrecht überall auf der Welt verwirklicht werden kann. Darüber spreche ich bei meinen Staatsbesuchen auch in atheistisch oder islamisch geprägten Gesellschaften und Staaten. Schon in meiner ersten Berliner Rede am 12. Mai 2000 habe ich gesagt, dass viele Menschen bei uns sich leichter an den Anblick von Moscheen gewöhnen könnten, "wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu bauen".

Religionsfreiheit gibt es aber auch in islamisch geprägten Gesellschaften. Die meisten von ihnen sind allerdings weit davon entfernt. Umso entschiedener müssen wir uns überall auf der Welt für Religionsfreiheit einsetzen, denn sie spielt heute eine Vorreiterrolle für die Durchsetzung weiterer kultureller Rechte. (...)

Zur Kopftuch-Debatte

Ob wir über die Situation in unserem eigenen Land oder in der gesamten Welt nachdenken: Uns sollte immer bewusst sein, dass es das Judentum so wenig gibt wie den Islam und so wenig wie das Christentum oder die westliche Welt.

Die Menschen muslimischen Glaubens, die heute bei uns leben, kommen aus ganz unter-

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schiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Traditionen und Wertvorstellungen. Das zeigt sich auch in der Debatte um das Kopftuch.

Ich rate uns allen dazu, dass wir auch in dieser Debatte nicht irgendwelchen Pauschalurteilen aufsitzen. Wir wissen doch alle, dass es muslimische Frauen gibt, die kein Kopftuch tragen, und zwar nicht, weil sie sich unseren Vorstellungen angepasst hätten - die gibt es auch -, sondern weil sie davon überzeugt sind, dass das nicht zu ihrem Glauben gehört.

Andere muslimische Frauen tragen ein Kopftuch, weil sie damit ihren Glauben öffentlich bezeugen wollen. Wieder andere muslimische Frauen werden durch mehr oder weniger Druck aus der Familie und ihrem Umfeld dazu gezwungen, ein Kopftuch zu tragen. Und gewiss gibt es auch muslimische Frauen, die ein Kopftuch als Ausdruck ihrer fundamentalistischen religiös-politischen Haltung tragen.

Die Debatte über das Kopftuch wäre also viel einfacher, wenn es ein eindeutiges Symbol wäre. Das ist es aber nicht. Deshalb muss in dieser Frage nach meiner festen Überzeugung der alte Grundsatz gelten: Der mögliche Missbrauch einer Sache darf ihren Gebrauch nicht hindern.

Darauf weist ja auch das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zum Kopftuchstreit hin. Ich zitiere:

"Der Aussagegehalt des von Musliminnen getragenen Kopftuchs wird höchst unterschiedlich wahrgenommen. Es kann ein Zeichen für als verpflichtend empfundene, religiös fundierte Bekleidungsregeln wie für Traditionen der Herkunftsgesellschaft sein. In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen. Die Deutung des Kopftuchs kann jedoch nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden. Dies zeigen neuere Forschungsergebnisse. Junge muslimische Frauen wählen das Kopftuch auch frei, um ohne Bruch mit der Herkunftsgesellschaft ein selbstbestimmtes Leben zu führen."

So sehr wir jede Form von Fundamentalismus bekämpfen müssen, so wenig dürfen wir die Religionen unterschiedlich behandeln. Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht auf Unterschiede, aber es gilt kein unterschiedliches Recht.

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Besonderer Raum "Schule"?

In der Diskussion über das pro und contra des Kopftuchverbots für Lehrerinnen wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Schule ein besonders sensibler öffentlicher Raum ist.

Es stimmt: Schülerinnen und Schüler müssen vor unzulässiger religiöser oder politischer Beeinflussung durch Lehrerinnen und Lehrer geschützt werden.

Jeder Gläubige hat als Lehrer eine besondere Pflicht zu beachten, eine Pflicht, die daraus erwächst, dass ihm der Staat und die Eltern Kinder zur Ausbildung und Erziehung anvertrauen. Deshalb muss er die Werte unseres Grundgesetzes vermitteln und die Erziehungsvorstellungen der Eltern achten und seine eigenen Überzeugungen in der Schule zurücknehmen. Das bedeutet aber nicht, dass er seinen Glauben in der Schule verbergen oder verstecken muss. Das gilt für alle Lehrerinnen und Lehrer.

Ein laizistischer Staat "ist nicht meine Vorstellung"

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht ein Symbol einer Religion - und das ist das Kopftuch jedenfalls auch - verbieten und dennoch glauben können, wir könnten alles andere beim Alten lassen. Das ist mit der Religionsfreiheit, die unser Grundgesetz allen Menschen garantiert, nicht vereinbar und würde deshalb das Tor zu einer Entwicklung öffnen, die doch die meisten Befürworter eines Kopftuchverbots gar nicht wollen.

Ich fürchte nämlich, dass ein Kopftuchverbot der erste Schritt auf dem Weg in einen laizistischen Staat ist, der religiöse Zeichen und Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt. Ich will das nicht. Das ist nicht meine Vorstellung von unserem seit vielen Jahrhunderten christlich geprägten Land.

Dabei ist uns allen doch klar, dass die Frage, ob wir dies Erbe fortführen, nicht von Bekleidungsvorschriften abhängt. Ob wir weiterhin ein christlich geprägtes Land sind, das hängt allein und zuerst davon ab, wie viele überzeugte und glaubwürdige Christen es bei uns gibt. Wir müssen die Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus führen, aber differenziert und an der richtigen Stelle. Pauschaler Verdacht stärkt den Fundamentalismus, statt ihn zu schwächen.

Natürlich ist es notwendig, Schüler und Schülerinnen vor jeder Beeinflussung in einem isla-

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misch-fundamentalistischen Sinne zu schützen - so wie wir sie vor jeder Indoktrinierung und vor jedem Extremismus schützen müssen, gleich welcher Art. Wo das nötig ist, muss mit disziplinarischen Mitteln eingegriffen werden, die auch dafür vorgesehen sind.

Alle, die in unserer Gesellschaft leben, müssen wissen, dass wir es nicht dulden, wenn Frauen aus traditionellen oder kulturellen Gründen nur mindere Rechte haben. Ich denke da beispielsweise daran, dass junge Frauen gegen ihren Willen verheiratet werden oder dass Mädchen in der Schule von bestimmten Schulfächern fern gehalten werden.

Integration statt Assimiliation

Wir können und wir müssen erwarten, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, unsere Sprache lernen. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass in vielen ersten Klassen fast kein einziger Schüler altersgemäß Deutsch spricht. Wir brauchen mehr und bessere Angebote für Eltern und Kinder. Da haben wir in der Vergangenheit viel versäumt, weil wir so getan haben, als wären wir kein Einwanderungsland.

Wir müssen auch dafür sorgen, dass islamischer Religionsunterricht nicht den Koranschulen allein überlassen bleibt. An unseren Schulen muss auch islamischer Religionsunterricht angeboten werden, der von ausgebildeten und staatlich geprüften Lehrern erteilt wird.

So können wir deutlich machen: Integration bedeutet gerade nicht kulturelle Entwurzelung oder gesichtslose Assimilation. Integration bedeutet die immer wieder zu erneuernde Bindung aller an die gemeinsamen Werte unserer Verfassung. Dass das gelingen kann, das zeigen viele Beispiele überall in Deutschland.

Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus

Zur Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus gehört auch, deutlich zu sagen, dass Fundamentalismus nicht nur die Sache einer Religion oder einer Überzeugung ist.

Allen Fundamentalisten ist eines gemeinsam: die Überzeugung, allein im Besitz der Wahrheit vom Sinn menschlicher Existenz und von dem Weg zu sein, der zur Erfüllung dieses Sinnes führt. Darum bekämpfen Fundamentalisten Vertreter anderer Wertordnungen, und manche halten sich sogar für berechtigt, das mit Gewalt zu tun.

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Zu Lessings Zeiten gab es das Wort Fundamentalismus noch nicht, aber genau darauf ist doch gemünzt, wenn er sagt:

"Ich hasse alle die Leute, welche Sekten stiften wollen, von Grund meines Herzens. Denn nicht der Irrtum, sondern der sektiererische Irrtum, ja sogar die sektiererische Wahrheit machen das Unglück der Menschen - oder würden es machen, wenn die Wahrheit eine Sekte stiften wollte."

Solcher Art von Fundamentalismus, den Lessing so hasste, müssen wir entschieden entgegentreten. Das wird uns aber nur dann gelingen, wenn wir glaubwürdig zeigen können, dass die so genannte westliche Werteordnung nicht nur ein anderes Wort dafür ist, das Glück der einen auf dem Unglück der anderen zu bauen.

Das kann uns gelingen, weil die abendländische Kultur in Menschen ja viel mehr sieht als Teilnehmer am Wettbewerb, als Konkurrenten um Arbeitsplätze und Marktchancen oder als bloße Konsumenten von Gütern, von Unterhaltungsangeboten und von beliebigen Weltbildern, denen jede Werteorientierung fehlt.

Jede und jeder von uns, die im persönlichen und im öffentlichen Leben deutlich machen, dass es für sie Werte jenseits von Angebot und Nachfrage gibt, tragen bei zu einem gesellschaftlichen Klima, das Respekt und Toleranz fördert und Beliebigkeit oder Fundamentalismus zurückdrängt.

Das ist heute nötiger denn je. Wir können uns dabei von einem Grundsatz leiten lassen, den Lessing einmal in dieses eindrucksvolle Bild gefasst hat:

"Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, sich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte ihm: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!" (…)

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IV. Was bedeutet das Kopftuch? Frauen mit Kopftuch in Deutschland Eine Analyse von Yasemin Karakasoglu Die Fall der Kopftuch tragenden muslimischen Lehramtskandidatin Fereshta Ludin hat in Deutschland nicht nur die Frage aufgeworfen, ob es einer muslimischen Lehrerin erlaubt sein sollte, ein Kopftuch im Unterricht zu tragen oder nicht, sondern auch äußerst kontroverse Diskussionen über den Sinn und die Hintergründe des Kopftuchtragens eines Teils der muslimischen Frauen ausgelöst. Hier ist zwischen sehr verschiedenen Diskussionssträngen zu unterscheiden, in denen sowohl religiöse und politische als auch individuelle und gesellschaftliche Aspekte der Thematik eine Rolle spielen. Vielfach mischen sich auch Intentionen und Argumentationen der Diskutanten, sodass mithin die Gefahr besteht, dass die nötige Trennschärfe zwischen den einzelnen Aspekten verloren geht, besonders dann, wenn z.B. ein politisches Interesse an der Durchsetzung der einen oder anderen Position besteht. Trotzdem soll hier der Versuch unternommen werden, in die einzelnen Aspekte – natürlich schematisch und vereinfacht – einzuführen.

Von einigen Meinungsträgern wird im humanistisch geprägten Bildungsauftrag der Schule Raum für den Ausdruck des individuellen religiösen Bekenntnisses auch nicht-christlicher Lehrer und Lehrerinnen gesehen, während andere christliche Ursprünge des Bildungsauftrages in den Mittelpunkt stellen und im Kopftuchtragen einen Widerspruch zur Vermittlung christlicher Werte an Schulen sehen. Ein Diskussionsstrang sieht die Lehrer an ein relatives Neutralitätsgebot gebunden. Sie selbst müssten nicht religionsneutral in Erscheinung treten, sondern nur in ihrem Verhalten gegenüber den Schülern bekenntnisneutral sein. Die Gegenposition betont dagegen die Notwendigkeit absoluter Neutralität der Lehrperson, die sich auch in ihrer Kleidung äußern müsse. Nur dadurch wäre Gleichbehandlung aller Schüler gewährleistet. Im Abwägen von negativer und positiver Bekenntnisfreiheit im Raum Schule sprechen sich die einen für den Vorrang der positiven Bekenntnisfreiheit der Lehrerin gegenüber dem Recht der negativen Bekenntnisfreiheit der Schüler aus. Andere sind hingegen der Meinung, dass das Recht auf Bekenntnis zur Zugehörigkeit zu einer Religionsgruppe mit der Tatsache kollidiere, dass Schüler und Schülerinnen aufgrund ihrer Schulpflicht keine Ausweichmöglichkeiten gegenüber einem von ihnen nicht gewünschten Ausdruck von Religiosität in Gestalt ihrer Lehrerin haben.

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Vor allem auf die Signalwirkung des Kopftuches im Hinblick auf die Einstellungen zum Geschlechterverhältnis und als Zeichen des islamischen Fundamentalismus stellt ein weiterer Diskussionsstrang ab. Die einen sehen in der Präsenz einer Kopftuch tragenden Lehrerin an der Schule, die durch ihre Berufswahl bereits ausgedrückt habe, dass sie sich für gesellschaftliche Partizipation und Gleichberechtigung der Frau einsetze, zum einen ein positives Signal an muslimische Schülerinnen, die dadurch mit einem modernen weiblichen Rollenmodell konfrontiert würden. Ferner könne die Präsenz einer Lehrerin mit Kopftuch an der Schule die Erziehung zur Toleranz und Anerkennung von Pluralismus bei allen Schülern und Schülerinnen unterstützen. Andere sehen in einer Kopftuch tragenden muslimischen Frau ein negatives Vorbild, da sich im Kopftuch eine Überzeugung von der Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes und schließlich auch die Zugehörigkeit zu einer fundamentalistischen Orientierung ausdrücke. Während die Befürworter eines Kopftuchverbotes damit möglichen Konflikten an Schulen vorbeugen wollen, halten die Gegner eines Kopftuchverbotes die dienstrechtlichen Möglichkeiten für ausreichend, um im konkreten Konfliktfall durch eine

Einzelfallbeurteilung

zu

einer

Lösung

des

Konfliktes

zu

kommen.

Das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Fall Ludin vom September 2003 spiegelt diese Diskussionen in seinem Mehrheits- und Minderheitenvotum wieder. Grundsätzlich fordert es von den Ländern die Schaffung einer dafür notwendigen gesetzlichen Grundlage auf Basis der Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften, wenn ein Kopftuchverbot eingeführt werden soll. Daraufhin haben sich alle 16 Bundesländer in einen Prozess der Meinungsbildung und Rechtsfindung zur Frage der kopftuchtragenden Lehrerinnen begeben. Die empirische Basis, auf Grund derer die Zahl der jungen Frauen ermittelt werden könnte, die von einer solchen rechtlichen Regelung überhaupt betroffen wären, ist unbefriedigend. Insgesamt wird derzeit von ca. 30 Lehrerinnen und Lehramtsreferendarinnen ausgegangen, die mit Kopftuch unterrichten - eine Hand voll von ihnen bereits seit langen Jahren. Die Zahl der mit Kopftuch studierenden Lehramtsstudentinnen, die auch im Schuldienst ihr Kopftuch tragen wollen, ist schwer auszumachen, sie dürfte jedoch bundesweit nicht mehr als 200 betragen.

Das Kopftuch als Bedeckungsgebot für Musliminnen hat seinen Ursprung in zwei Textstellen des Koran (Sure 24, Vers 30 u. 32; Sure 33 Vers 59), die je nach Auslegung fundamental oder historisch kontextualisierend, die die unbedingte Einhaltung oder die Möglichkeit der freien, individuellen Interpretation angesichts veränderter gesellschaftlicher Bedingungen nach sich ziehen können. Was den Umfang anbelangt, in dem der weibliche Körper bedeckt wird, hat die Interpretation der Verse durch verschiedene Rechtsgelehrte sowie die individu-

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elle Auslegung der Trägerinnen zur Entwicklung sehr unterschiedlicher Formen der Verschleierung unter Musliminnen weltweit geführt. Die afghanische Burka, d.h. die Ganzkörperverhüllung, bei der die Frau nur noch durch ein Stoffgitter über dem Gesicht die Umwelt wahrnimmt, und von dieser nicht identifizierbar ist, ist sicherlich die rigideste Form, während der iranische Tschador, der schwarze Ganzkörperschleier, noch das Gesicht frei lässt. In einigen arabischen Staaten dient eine Ledermaske – teilweise zu Dekorationszwecken mit Blattgold verziert – zusätzlich zu dem Ganzkörperschleier dazu, Nase, Wangen und Mund zu bedecken. In Pakistan und vielen südostasiatischen islamischen Ländern legen Frauen häufig lediglich einen leichten Schal an, der nicht alle Haare bedeckt. Neben dem Schleier als Bestandteil der traditionellen Gewänder von muslimischen Frauen haben sich 'moderne' Formen der Bedeckung im Zuge islamischer und islamistischer Erneuerungsbewegungen entwickelt, die heute weltweit von jungen Musliminnen adaptiert und abgewandelt werden. Mit dem Begriff des ´türban´ wurde im türkischen Kontext z.B. versucht, das sowohl Nacken, Ausschnitt, wie auch Schultern und Haaransatz vollständig bedeckende Tuch der 'NeoMuslimas' gegenüber dem traditionellen Kopftuch der türkischen Frau vom Lande, als Zeichen der bewussten Hinwendung zum Islam gegenüber einer Befolgung kultureller Traditionen abzugrenzen. Im arabischen Kontext wird unterschieden zwischen 'hijab', dem meist eng am Kopf gebundenen Kopftuch, dem 'khimar', das Kopftuch, dass auch die Schultern bedeckt, und einer zusätzlichen Verschleierung des Gesichts, dem 'niqab'.

Dabei markieren die verschiedenen Stufen der Bedeckung den Willen der Trägerin, sich unterschiedlich stark den Regeln der Geschlechtertrennung zu unterwerfen. Wenn das Kopftuch der Musliminnen in westlich feministischen Kreisen ausschließlich als Zeichen der Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes gedeutet und daher als vormodern und dem Gleichheitsgrundsatz zwischen Mann und Frau widersprechend abgelehnt wird, dann können hier auch Deutungsmuster hineinspielen, die ihre Herkunft in christlichen Traditionen haben. So fordert Paulus im Neuen Testament (11, 3-16) die Frau, deren Haupt der Mann sei, auf, ihren Kopf zu bedecken, und noch heute steht der Begriff "Unter die Haube kommen" für die mit der Verehelichung verbundene Unterordnung der Frau unter den Mann, den Herrn des Hauses. Der Schleier hatte historisch jedoch nicht immer die Funktion, die Minderwertigkeit der Frau zu kennzeichnen. Im altorientalischen Byzanz markierte er die Grenze zwischen der freien, verschleierten Bürgerin und der nicht-freien, nicht-verschleierten Sklavin.

Auch das Kopftuch in islamischen Ländern kann sehr unterschiedliche Bedeutungen haben: Es markiert für die einen die Befreiung von der Wahrnehmung als Sexualobjekt, für die anderen die symbolische Trennung von Öffentlichem und Privatem. Während es einerseits zum

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Symbol der Befreiung von einer oktroyierten Verwestlichung geworden ist (z.B. im Zuge der islamischen Revolution im Iran), dient es andererseits als Unterdrückungsinstrument der Herrschenden gegenüber den Frauen (z.B. unter den Taliban in Afghanistan sowie in Saudi Arabien). Wo es nicht von Staats wegen als Zwangsmaßnahme verordnet ist, kann es als Ausdruck für kulturelle Zugehörigkeit, Traditionsbewusstsein oder auch für den Wunsch nach Vereinbarkeit scheinbar widersprüchlicher Ideale der "Moderne" und "Religiosität" sein. Zu unterscheiden wären also die Funktionen des Kopftuches, je nach Ort, an dem es getragen wird und nach individuellen Gründen seiner Trägerin, als identitätsstiftendes, emanzipatorisches, schützendes und politisches Symbol.

Zahlreiche Untersuchungen zu kopftuchtragenden Musliminnen in islamischen Ländern und in der westlichen islamischen Diaspora konnten deutlich machen, dass die Frage, wie freiwillig sich Frauen für das Tragen eines Kopftuches entscheiden, vor allem eine Frage des Bildungsstandes seiner Trägerin und des Einflusses ihres sozio-kulturellen Umfeldes ist (z.B. Nilüfer Göle, Gritt Klinkhammer, Yasemin Karakasoglu, Helma Lutz, Sigrid Nökel). Während sich Studentinnen sogar häufig erst an der Universität entscheiden, ein Kopftuch zu tragen, als Zeichen ihres selbstbestimmten Zugangs zum Islam, kann bei Schülerinnen stärker noch der Einfluss von ethno-religiöser Community und / oder dem Elternhaus vorausgesetzt werden. Die Zustimmung zum Tragen eines Kopftuches kann hier bedeuten, durch das Zugeständnis in religiöser Hinsicht mehr Freiraum bei der Gestaltung der Freizeit zu erhalten oder aber einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Anforderungen an ihre weibliche Selbstrepräsentation in der Öffentlichkeit schaffen zu wollen, indem das Kopftuch und die damit verbundene bedeckende Kleidung modisch neu interpretiert werden. Dabei sollte jedoch auch berücksichtigt werden, dass für in muslimisch-religiösem Umfeld aufgewachsene Mädchen das Tragen eines Kopftuches nicht ausschliesslich negativ konnotiert ist, sondern auch den Übergang von einer Statuspassage des Kindes in diejenige der jungen Frau markieren kann. Dies muss nicht von allen weiblichen Familienmitgliedern in gleichem Maße geteilt werden, nicht selten haben kopftuchtragende Schülerinnen oder Studentinnen Schwestern, die kein Kopftuch tragen.

Das Kopftuch im intellektuellen Diskurs

Grundsätzlich ist es notwendig, die Bedeutung des Kopftuchtragens im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten: In der Diaspora kann es identitätsstiftende, kulturelle Bezüge betonende Funktionen übernehmen. In islamischen Ländern tritt stärker die politische Position in den Vordergrund, insbesondere dort, wo das Kopftuchtragen die Grenze zwischen gesell-

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schaftlicher Teilhabe und Nicht-Teilhabe markiert. In der laizistischen Türkei z.B., wo das Tragen des Kopftuches in amtlichen Funktionen nicht gestattet ist, stellte der Versuch der Parlamentarierin Merve Kavakci, das Parlament mit einem Kopftuch auf dem Kopf zu betreten, ein Affront gegenüber den Errungenschaften der türkischen Revolution dar und wurde mit Ausschluss aus dem Parlament geahndet.

Intellektuelle muslimische Frauen in westlichen Ländern nutzen das Tragen des Kopftuches auch als Möglichkeit, ihr Bekenntnis zur Religion öffentlich zu machen. Sie zwingen damit den Betrachter, sich mit ihrer Position als einer dezidiert religiös begründeten auseinander zu setzen. Ihr Ziel ist es, im öffentlichen Raum nicht in der Masse 'unterzugehen' und somit als muslimische Frau unsichtbar zu sein, sondern sie deuten das negativ konnotierte Symbol um. Ihr Ziel ist es, als muslimische Frau in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, Akzeptanz ihres 'Andersseins' einzufordern. Diskriminierungserfahrungen bestärken diesen Ansatz des Bekenntnisses zur eigenen Religion. Das Kopftuch wird hier zu einer Differenzierungs- und Identifizierungsstrategie zugleich.

Muslimische Feministinnen (z.B. Rabia Müller, Sabiha al-Zayat, Hamideh Mohagheghi) setzen sich für die Selbstbestimmung der Frau auch im Hinblick auf das Kopftuchtragen ein. Auch wenn für sie selbst das Bedeckungsgebot des Islam außer Zweifel steht, kritisieren sie den elterlich oder gesellschaftlich ausgeübten Zwang in religiösen Angelegenheiten mit Argumenten, die sie ebenfalls dem Koran entnehmen, wie etwa dem Ausspruch "Es gibt keinen Zwang in der Religion". Ihr Ansatz ist eine Neu-Interpretation der religiösen Textgrundlagen aus Koran und Sunna, die der Intention des Islam, Frau und Mann als gleichwertige Wesen vor Gott zu sehen, gerecht wird. Dabei wird häufig auf die hervorgehobene Rolle von Frauen in der Blütezeit des Islam zu Lebzeiten Mohammeds hingewiesen. Das Kopftuchgebot wird ausschließlich als Unterwerfung unter den Willen des geschlechtslosen Gottes (Allah) betrachtet und nicht als Unterwerfung unter den Willen des Mannes.

Für Kritikerinnen des Kopftuches, sowohl muslimische (Nawal as-Sadaawi, Fatima Mernissi, Seyran Ates, Arzu Toker) wie auch nicht- muslimische Feministinnen (Alice Schwarzer), ist mit dem Tragen des Kopftuches der Kampf um den Allgemeingültigkeitsanspruch des Religiösen im öffentlichen Leben verbunden, der Versuch, säkulare Strukturen aufzulösen und einer neuen, religiös-politischen Kollektivbildung symbolisch Vorschub zu leisten. Ziel dieser Bewegung sei die Abschaffung der Demokratie und die Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes, ihre Entfernung aus dem öffentlichen Leben. Kritisiert wird auch das mit dem Kopftuch verbundene negative Bild des Mannes, der triebgesteuert nicht fähig ist, dem Anblick einer unverschleierten Frau zu widerstehen.

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Auch Vertreterinnen eines liberalen Umgangs mit dem Kopftuch gibt es sowohl unter muslimischen wie auch nicht-muslimischen Frauen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen. Während die Unterzeichnerinnen des Aufrufes von Marieluise Beck "Wider eine Lex Kopftuch" dazu gehören, kann als prominenteste Vertreterin der Argumentation, dass die Frauen selbst entscheiden sollten, ob sie ein Kopftuch tragen wollen oder nicht, die iranische Menschenrechtlerin Shirin Ebadi angeführt werden. Diese Position setzt sich nicht 'für ein Kopftuchgebot' ein sondern gegen eine staatliche Intervention in die Kleidungspräferenzen der Individuen. Ihrer Meinung nach führt ein Verbot ebenso wie ein Zwangsgebot des Kopftuches zu dessen symbolischer und politischer Aufladung als Zeichen der Ausgrenzung.

Zwei Gesichter unterm Tuch Ein Kommentar von Heide Oestrich Kopftuchgegner sehen in dem verhüllenden Stoff vor allem ein Symbol der Unterdrückung von Frauen. Für junge Neomusliminnen kann ihr Kopftuch aber auch Freiheit, Würde und Identität bedeuten.

"Stecks dir doch inn Arsch!", gellt es über die Straße in Berlin-Kreuzberg. Man möchte gar nicht so genau wissen, was der arme Junge sich wohin stecken soll. Eher fragt man sich, wie dieses sittsam mit einem Kopftuch verhüllte Mädchen dazu kommt, derart explizite Aufforderungen von sich zu geben. Aber sie ist schon kichernd mit ihrer Freundin von dannen gezogen. Hm.

Nicht nur in Berlin-Kreuzberg kommt einem der Verdacht, dass mit den jungen Musliminnen nicht mehr alles so ist wie früher. Da klimpern fliegenbeindicke Wimpern, heben sich lasziv schwer blau getönte Augenlider, und das Kopftuch flattert über einem Strickjäckchen, das an entscheidenden Stellen bedenklich spannt. Am Hinterkopf frisiert sich die Muslimin noch einen Extrabürzel, das macht die Kopfform unterm Tuch edler.

Wer diese Mädchen vor Augen hat, der wundert sich ein bisschen, wenn die Politik steif und fest behauptet, das Kopftuch sei ein Instrument der Unterdrückung und widerspreche dem Grundgesetz.

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Von der Moschee geschickt?

Aber vielleicht lassen wir uns ja täuschen von dem pubertären Auftreten der jungen Damen. Vielleicht ist der Lidschatten nur noch das letzte Aufbäumen, bevor das Gesetz des Patriarchats zuschlägt und Strickjäckchen, Wimperntusche und Augenaufschlag unter der Haube der Zwangsheirat verschwinden. Diese Mädchen, die jetzt auf Demos "Mein Kopf gehört mir" skandieren, vielleicht sind die von ihrer Moschee geschickt worden, wie von einer Partei. Um den Islam zu verteidigen, gegen die Ungläubigen. Das scheint nicht ganz abwegig. Bei öffentlichen Diskussionen um das Kopftuch sind regelmäßig betuchte Abordnungen von Milli Görüs da. Die Organisation wird vom Verfassungsschutz unter "Islamismus" eingereiht. Sie ist Nachfolgepartei der AMGT, die es sich zum Ziel gemacht hatte, türkische Immigranten gegen alle kulturellen und politischen Einflüsse Deutschlands abzuschirmen. Doch für Politik interessieren sich ohnehin nicht viele Jugendliche, für politische Organisationen noch weniger, und in die Moschee gehen die jungen Muslime auch nicht gerade besonders häufig. Gerade mal drei Prozent, ergab eine Telefonumfrage des Zentrums für Türkeistudien, engagierten sich in den Moscheen von Milli Görüs. Das beantwortet aber noch nicht die Frage, ob das Kopftuch nicht doch der Ausdruck eines unterdrückten Mädchenlebens ist, das nur zaghafte Ansätze macht, das patriarchale Gesetz durch Lidschatten zu unterlaufen.

Neue Musliminnen

Schon seit einigen Jahren hat auch die Sozialforschung junge Frauen entdeckt, die "neue Formen muslimischer Lebensführung" ausprobieren, so der Titel einer Studie von Gritt Klinkhammer. "Neo-Musliminnen" nennt die Soziologin Sigrid Nökel sie. Und Yasemin Karakasoglu hat explizit Lehramtsstudentinnen mit Tuch zu ihrem Glaubensverständnis befragt. Aus den Ergebnissen ihrer Interviews lässt sich ein Mosaik der neuen Muslimin zusammensetzen.

Verschiedene Beweggründe

Wer oder was bewegt die Heranwachsenden, ein Tuch zu tragen? Manchen Mädchen wird das Tuch tatsächlich von der Familie nahe gelegt. Sie sträuben sich eine Weile, weil sie nicht anders aussehen wollen als die anderen. Aber viele eignen sich das Tuch dann regelrecht an, als Zeichen ihrer Religion. Nökel zitiert ein Mädchen, das in der sechsten Klasse zum ersten Mal mit dem Tuch in der Schule erscheint: "Natürlich waren alle erst mal erstaunt.

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Dann hieß es natürlich, du Arme, deine Eltern. Ja, dann wird man erst mal bemitleidet, als ob das ein Zwang wär, dann tu ich denen Leid. Dass meine Eltern mich gezwungen haben, denken die Leute. Das ist immer dieses Vorurteil, das die meisten haben."

"Wie ne Bombe"

Die Reaktionen? "Ja am Anfang, das war wie ne Bombe, weil man von allen Leuten so auf einmal gefragt wird und bemitleidet wird. Da bin ich auf einmal nur in Tränen ausgebrochen. Aber am zweiten, dritten Tag, da habe ich denen alles erklärt, warum ich das Kopftuch trage, aus religiösen Gründen, weil ich möchte, dass man auf meine inneren Werte achtet und nicht auf mein Äußeres. Und dann habe ich denen erklärt, dass ich das natürlich aus freien Stücken tue, weil ich davon überzeugt bin. Und dann war das für die Leute kein Problem. ´Ob du jetzt ein Tuch aufhast oder nicht, solang du die Alte bleibst, ist das kein Problem.' " Andere Mädchen setzen ihre neue Bedeckung gegen den Willen der Eltern durch, die wissen, wie stigmatisierend ein Kopftuch in der deutschen Gesellschaft wirkt. Eine marokkanischstämmige Studentin beschreibt, wie sie in der zwölften Klasse durch den Kontakt mit einer Moschee-Jugendgruppe zum Tuchtragen kam. Parallel habe sie lange Debatten mit dem Philosophielehrer geführt, einem Atheisten. Allah hat den Kampf in diesem Fall gewonnen: "Ich habe gemerkt, ich habe eine tolle Religion eigentlich", resümiert sie.

Die neu gefundene Religion

Angst vor den Reaktionen der Umwelt kann diese jungen Frauen nicht mehr davon abhalten, der neu gefundenen Religion zu folgen. Es ist eher andersherum: Karakasoglu hört einige Male von Lehramtsanwärterinnen, die gerade zeigen wollen, dass auch Musliminnen mit Tuch selbstständig und emanzipiert sein können. Mit dem Tuch signalisieren sie, dass sie die Geschlechtersegregation des Islam grundsätzlich anerkennen. Frauen sind anders als Männer. Eine Muslimin geht nach dieser Vorstellung mit ihrer sexuellen Anziehungskraft verantwortlich um, wenn sie sie verhüllt. "Das Kopftuch ist für mich ein Befehl Gottes, die Frau soll ihre Körperformen verhüllen. Ich sehe es auch als Mittel, wodurch Frauen, wenn sie mit Männern sprechen, nicht durch ihre Weiblichkeit wirken. Ihre Persönlichkeit kommt zum Vorschein, und ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum Gott das befohlen hat", zitiert Karakasoglu eine 23-jährige Lehramtsstudentin.

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Die Ausstrahlung unter dem Tuch verbergen

Das Bedecken ihrer "weiblichen Reize" wird als Moment der Askese gedeutet, der zeitweiligen Absage an körperliche Bedürfnisse. Der Aspekt der Geschlechterungleichheit, der dadurch entsteht, dass nur die Mädchen diesen asketischen Schritt gehen, wird zu ihren Gunsten ausgelegt: Sie haben - im Gegensatz zu den Männern - eine so starke Ausstrahlung, dass sie diese unter einem Tuch verbergen müssen. "Eine Frau, die Schleier trägt, muss respektvoll aussehen. Wie zum Beispiel in königlichen Familien", erklärt eine. "Das ist genauso wie in alten Gesellschaften, auch hier ein Europa; ein Gentleman zu sein oder eine richtige Lady."

Suche nach Identität

Hier schimmert die uralte Bedeutung des Schleiers als Privileg der Aristokratin auf: Unter diesem Tuch steckt eine Frau, die ist so sexy, dass sie sich verbirgt. So geht sie verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität um, soll das Tuch signalisieren. "Das Kopftuch gibt mir meine Identität wieder als muslimische Frau. Ich fühle mich darunter sehr wohl. Nicht, wie einige sagen, irgendwie eingeengt. Es steigert mein Gefühl, eine Frau zu sein, erinnert mich daran, dass ich eine Frau bin, und daran, dass ich eine Bindung an etwas habe, dass ich einen festen Bezug habe", erklärt eine Studentin Karakasoglu. Sie verstehen das Kopftuch demnach als sichtbares Zeichen, Grundsätze des Islam verinnerlicht zu haben. Das hat einen weiteren angenehmen Nebenaspekt. Einem traditionell eingestellten muslimischen Vater kann man leichter beibringen, dass man nun auf die Uni gehen will, wenn man ihm mittels Kopftuch zeigt, dass man die Sittlichkeit, um die er fürchtet, längst internalisiert hat. Ob eine solche Fixierung auf die Sexualität, dieses Hervorheben durch Bedecken, aus psychologischer Perspektive irgendwie geglückter oder weniger geglückt ist als die im Westen verbreitete Praxis, die Sexualität entweder zu verleugnen oder zwanghaft zu zeigen, ist eine spannende Frage.

Keine Nachteile durch Geschlechtertrennung

Einen "unbefangenen" Umgang mit dem Geschlechterunterschied üben jedenfalls noch ziemlich viele Gesellschaften. Die Neomusliminnen aber haben sich vorerst entschieden, der alten islamischen Methode der Segregation treu zu bleiben - mit einer entscheidenden Einschränkung: Sie darf ihnen keine Nachteile bereiten. Das Kopftuch wird extra streng getragen. Aber es soll nicht die Unterordnung unter den Mann symbolisieren, sondern die unter

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den Glauben. Und es ist nicht der traditionelle Islam, dem die Neumusliminnen folgen. Alle Befragten hatten Jugend- oder Frauengruppen in den Moscheen besucht. Und dort haben sie die Regeln genauestens unter die Lupe genommen. Es ist eine eigene Koranlektüre, die sie ihren traditionelleren Eltern entgegenhalten. Ein echter Muslim, schließen sie daraus, würde zwar die Unterschiedlichkeit der Geschlechter anerkennen, aber niemals eine Hierarchie zwischen ihnen. So erklärt eine von ihnen der Soziologin Nökel: "Tradition und Islam sind ganz verschiedene Sachen. Im Islam ist es so: Was die Frau nicht darf, das darf der Mann auch nicht."

Feministische Koranlektüre

Aus den Befragungen ergibt sich der Eindruck, dass eine feministische Koranlektüre unter den Musliminnen weiter verbreitet ist, als die orthodoxen männlichen Wortführer glauben machen. Letztere beherrschen allerdings die öffentlichen Diskurse und verteidigen dort wortreich die ungleichen Rechte von Männern und Frauen. Eine in dieser Richtung aktive Frauenorganisation ist das Netzwerk "Huda". In ihrer Zeitschrift wird nicht nur über die Rolle der Frau in der Moschee oder über Islam und Gewalt reflektiert, hier finden auch Fachleute deutliche Worte: Ein Psychotherapeut schreibt aus seiner Praxis über die Angst traditioneller Männer, die Kontrolle über ihre Frau zu verlieren, die sich in Gewalt, Eifersucht und im Einsperren äußert. Über den Masochismus muslimischer Frauen, die meinen, Allah würde ihnen ihre Duldsamkeit schon lohnen, und die vielleicht noch stolz darauf sind, dass ihr Mann so "stark" ist. Über das Problem der Konvertitinnen, die ihren Freundeskreis durch die Konversion verloren haben und nun jede Tyrannei des Ehemanns mitmachen, aus Angst, mit ihm ihren letzten Halt zu verlieren.

Das Recht auf Polygamie

Das ist anderer Stoff als der, den orthodoxe oder fundamentalistische Organisationen über "die Frau im Islam" gerne veröffentlichen. Die Islamische Gemeinschaft Deutschlands etwa, die im Zentralrat der Muslime organisiert ist, verteidigt auf ihrer Homepage alle Vorrechte des Mannes, inklusive Polygamie. Aber auch in solchen eher fundamentalistischen Organisationen gibt es Stress: Die Frauen von Milli Görüs sollen den früheren Chef Ali Yüksel zum Rücktritt gezwungen haben, als dieser seine dritte Frau ehelichte. Feminismus findet also auch dort statt, wo man ihn am wenigsten vermutet: bei den Islamisten von Milli Görüs.

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Neue Wege der Interpretation

Personell verflochten mit Milli Görüs ist das Zentrum für muslimische Frauenforschung und Frauenförderung (ZIF). Sein "Hermeneutischer Arbeitskreis" betreibt wohlgemut feministische Theologie. So würdigt er, dass Mohammed der Frau erstmals in der arabischen Geschichte den Status eines Rechtssubjekts einräumte. Doch gerade deshalb könne man die von ihm eingeführten Regeln wie das ungleiche Erbrecht oder die Polygamie nicht in die heutige Zeit übertragen. Im Lichte der im Koran grundsätzlich vertretenen gleichen Würde von Mann und Frau müssten solche Regeln selbstverständlich der Zeit angepasst werden: Es gehe doch, etwa beim Erben, nicht um Prozentzahlen, sondern um "eine sozialverträgliche gerechte Lösung aufgrund der vorliegenden Bedingungen", so schließen die Hermeneutikerinnen. Sie gehen so weit, dass sie den Gottesnamen Ar-rahman übersetzen als "die Gottheit ist der Mutterschoß, in dem der Mensch geborgen ist": Allah ist eine Frau.

Nicht alle Kopftuchträgerinnen unterdrückt

Nicht alle jungen Musliminnen, die nach der neuesten Mode ein Kopftuch tragen, werden sich derart weit reichende Gedanken machen. Doch für die These, diese Mädchen seien durchweg unglücklich und unterdrückt, gibt es keine Anhaltspunkte. Das Klischee nivelliert die Vielzahl der Lebensweisen muslimischer Mädchen in Deutschland, betonen alle, die sich das "unterdrückte" türkische Mädchen genauer angesehen haben. So sind nach einer Studie von Karakasoglu dreimal so viele junge Mädchen türkischer Herkunft wie deutsche sehr zufrieden mit sich. Aber auch sehr unzufrieden sind mehr türkischstämmige als deutsche Mädchen. "Heterogen" nennt die Soziologie diese unübersichtliche Lage: Es gibt Mädchen, die sind arm dran. Es gibt aber noch mehr, denen geht es sogar besser als den deutschen Mädchen.

Westliche Sicht auf die Dinge

Kaum zu glauben? Es wird einfacher vorstellbar, wenn man berücksichtigt, dass die traditionelle Geschlechterrollenverteilung des Islam nur aus westlicher Perspektive gänzlich negativ erscheint und abgelehnt wird. Daraus entsteht das Bild, dass die muslimische Frau todunglücklich sein muss und dementsprechend vor Freude jubelt, wenn sie endlich ihre Hüllen fallen lassen darf und das Haar im Wind flattert. Dem ist aber in vielen Fällen nicht so. Den Patriarchalismus möchten viele muslimische Frauen wohl hinter sich lassen, aber ihren

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Glauben und die koranischen Regeln nicht. Deshalb ist für sie weder die islamische Orientierung der Frau auf die Familie noch die Geschlechtersegregation, die durch das Tuch ausgedrückt wird, prinzipiell negativ konnotiert. Was sie dagegen entschieden ablehnen, sind die Dominanzansprüche, die altmodische muslimische Männer damit verbinden. Viele Gegnerinnen des Kopftuchs meinen, solche Ansätze seien "naiv". Diese Frauen seien zu schwach, um der Macht des islamischen Patriarchats zu trotzen. Man gibt eine Weile die islamische Feministin und landet dann doch in einer unglücklichen Ehe, suggerieren sie. Das könnte stimmen - wenn diese Frauen in einem homogenen Umfeld lebten, das sie mit Macht in eine traditionelle Rolle zurückdrängen will.

Kopftuchverbot versus frauenfreundlicher Islam

Aber in Deutschland leben sie in einer Gesellschaft, die sich mit wechselndem Erfolg darum bemüht, dass Frauen selbstbestimmt leben können. Ein Bekenntnis muslimischer Frauen zum Islam, der auch konservativ verstanden werden kann, ist ein geringes Risiko, wenn durch das Tragen des Kopftuchs der Frau "Exit-Optionen" offen stehen. Also Möglichkeiten, aus einer unglücklichen Ehe oder vor uneinsichtigen Eltern zu fliehen. Und die Gelegenheit, sich zu bilden, selbst Geld zu verdienen, von Männern unabhängig zu sein. Wer ihr Tuch diskreditiert, verbaut den Frauen diese Möglichkeiten. Wer soll private Arbeitgeber noch dazu bringen, Mädchen mit Kopftuch einzustellen, wenn schon der Staat sie für zu bedenklich hält? Es könnte gut sein, dass man damit aussperrt, was man auf der anderen Seite so vehement einfordert: Agentinnen eines moderneren, frauenfreundlichen Islam.

Die Möglichkeiten antirassistischer Erziehung Ein Kommentar von Sabine Schiffer Es ist schon paradox: Da wollen wir die Musliminnen befreien und die wollen gar nicht. Da geht doch eine hin und klagt darauf, ihr Kopftuch tragen zu dürfen. Ist es nicht das Symbol weiblicher Unterdrückung schlechthin? Inzwischen ist die Bedeutung dieses Stückchens Stoff dermaßen überfrachtet, dass auch richterliche Entscheidungen ihm kaum neutral gegenüberstehen können. Inzwischen hat das Tuch so viele Bedeutungen angenommen, dass die Karlsruher Richter vor einem klärenden Grundsatzurteil anlässlich der Klage Fereshta

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Ludins zurückgeschreckt sind, obwohl sie es irgendwann werden fällen müssen. Es ist aber auch nicht leicht, sich an seinen eigenen Maßstäben messen zu lassen. Viel leichter ist es da in die EU-anwartende Türkei zu blicken, die ein solches Kopftuch in keinem öffentlichen Amt oder gar Gebäude dulden würde. Dabei übersieht man leicht, dass es sich hierbei um einen laizistischen Staat handelt, was die Bundesrepublik nicht ist. Somit hinkt der Vergleich und sagt lediglich aus, dass man religiöse Symbole - wozu das Kopftuch degradiert wurde aus staatlichen Institutionen heraushalten kann. Eine solche Entscheidung setzt eine sachliche Diskussion voraus, die alle religiösen Symbole umfasst, aber genau diese ist hier nicht zu erwarten. Denn das Kopftuch hat schon eine lange Karriere hinter sich. Vor allem seit der Machtübernahme Khomeinis im Iran 1979 ist es nicht mehr nur auf dem Kopf, sondern in aller Munde. An seiner Beschaffenheit machen wir den Grad der Freiheit fest, den seine Trägerinnen angeblich genießen. Als Symbol für die Unterdrückung der muslimischen Frau durch den Islam, vertritt es gleichzeitig noch die Repression, die man dem Islam allgemein zutraut. Der Zunahme an Symbolen wie Kopftuch und Bart steht eine zunehmend stereotype Wahrnehmung gegenüber, die sich seit dem 11. September für wahr erklärt zu haben scheint: Äußere Zeichen des Islams als offensichtliche Zeichen der Ablehnung westlicher Kultur- und Demokratieverständnisse. Nun gibt es solche Ablehnung ja tatsächlich, aber nicht unbedingt äußerlich erkennbar - und wie kann man der Verallgemeinerungsfalle entgehen? Aus der Psychologie ist bekannt, dass Ablehnung die radikalen Kräfte stärkt. Die Anstrengungen derjenigen, die sich um eine realistische Einordnung des Islams in Europa bemühen, werden damit torpediert. Dabei ist die Symbolüberfrachtung des Kopftuchs durchaus hausgemacht. Frau Ludin selber betont immer wieder ihre religiöse Selbstfindung und die Symbolhaftigkeit ihres Kopftuchtragens. Dabei würde der Hinweis auf die kulturelle Eigenheit schon ausreichen, die persönliche Schamgrenze betreffend Oder würden wir etwa in Kulturen, die sich nackt präsentieren, ohne oder mit wenig Bekleidung leben und arbeiten - um uns der Umgebung anzupassen? Würde die persönliche Schamgrenze im Vordergrund der Diskussion stehen, wäre selbige eine ganz andere. Jetzt müssen wir uns mit religiöser Toleranz auseinander setzen und zwar auf beiden Seiten. Eine bundeseinheitliche Regelung ist dabei notwendig, weil dies die Frage der Trennung von Religion und Staat betrifft. Darum werden die Gesetzesversuche der Länder auch wieder beim Bundesverfassungsgericht landen, weil sie das Grundgesetz selbst betreffen. Schön, wenn die Verfassungsrichter diese Arbeit gleich erledigt hätten und nicht erst rassistischen Polemikern ein Forum öffentlichen Konflikt-Schürens geboten hätte. Wie real ist die Gefahr? Gibt es wirklich eine Überfremdung? Wird sich hier nicht unsere Geschichte dahingehend wiederholen, dass man sich irgendwann wundert, wie man vor 3% der Bevölkerung solche Angst haben konnte? Die Möglichkeit besteht, dass irrationale Ängste eine sachliche Auseinandersetzung erschweren. Ein Beispiel dafür liefert die Frage nach

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dem Frauenbild, das wir unseren Kindern doch nicht vermitteln wollen - dabei soll eine kopftuchtragende Frau diametral unseren emanzipatorischen Rollenvorstellungen gegenüber stehen. Welches Bild vermittelt aber eine Lehrerin mit Kopftuch, die doch durch ihren Beruf eindeutig demonstriert, dass sie eine studierte und damit - allgemein hin anerkannt - eine emanzipierte Frau ist? Spielt uns hier vielleicht eine andere Angst einen Streich - die vor dem Zusammenbruch unserer Klischeevorstellungen? Die Aufforderung, das Gefahrenpotenzial für Schüler abzuschätzen, zeugt von einer tief sitzenden Angst, die wir etwa bei der Diskussion um Mediengewalt vermissen. Wird doch bezüglich der Problematik von Gewaltdarstellungen immer noch darüber gestritten, ob sie destruktiv und gefährlich für unsere Kinder sind und will auch niemand das Wort "Verbot" in diesem Kontext auch nur in den Mund nehmen, so scheint diese Fragestellung bezüglich des Kopftuchs angebracht zu sein. Dabei würde ein Blick in die Rassismusforschung schnell zeigen, wo es lang gehen muss. Antirassistische Erziehung ist dann am erfolgreichsten, wenn in der Umgebung des Kindes alle Lebensformen unkommentiert - also unmarkiert - vorkommen, einfach vorhanden und damit normal sind. Dies gilt für Hautfarben ebenso wir für andere Merkmale, die wir Erwachsenen gelernt haben als "(sehr) anders" wahrzunehmen: Behinderungen, religiöse Merkmale, Kleidung, Augen- und Körperformen usw. Die Umwelt ist aber nicht so idealtypisch wie sich die Pädagogen das wünschen würden. Zur Kompensation kann man Medien heranziehen, in denen die genannten Personengruppen vorkommen - Bilderbücher, Fernsehsendungen usw. - hier können Medien eine sehr positive Rolle spielen. Wichtig ist dabei nur, dass alles einfach vorkommt und nicht besonders herausgestellt wird. Also ein Rollstuhlfahrer im Zoo ebenso wie der Dicke. Schwarze, Asiaten, Merkmalsträger verschiedenster Religionen, Jungen und Mädchen in allen Lebenssituationen und nicht in stereotypen Kontexten. Noch besser, wenn die Lebensumwelt des Kindes diese Realitäten bietet - und zwar schon so früh wie möglich, dann werden Unterschiede einfach angenommen, sie werden nicht thematisiert oder gar als kurios empfunden. "Mama, die Lisa hat mich gehauen!" "Wer ist Lisa?" "Die mit dem grünen T-Shirt", sagt der 4Jährige Jonas. Die Mutter sucht und findet Lisa nicht in der Kindergartengruppe. Dann kommt Jonas und zerrt ein schwarzes Mädchen mit sich. "Da ist sie." Und in der Tat, sie hat ein grünes T-Shirt an. Jetzt sieht die Mutter das auch. Diese reale Geschichte ist eine von vielen, die zeigt, wie der selbstverständliche Umgang mit verschiedenen Hautfarben dieses Merkmal des menschlichen Äußeren als "nicht relevant" einstufen lässt, ebenso wie Schuhgröße oder Nasenform. Umgekehrt ist es möglich, Kategorien zu etablieren. Teilt man die Kinder immer in Blonde und Dunkelhaarige ein, dann meinen die Kinder sehr bald, dass die Haarfarbe ein relevantes Unterscheidungskriterium menschlicher Eigenschaften ist.

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Nun stellen wir uns vor, es gäbe eine oder einige Lehrerinnen mit Kopftuch an der Schule. Oder besser noch im Kindergarten. Solange es nicht thematisiert wird, kommt es dann einfach vor, ist für die Kinder normal, fällt ihnen nicht weiter auf. Dies wäre der Idealfall antirassistischer Erziehung. Alles, was traditionsgemäß markiert ist, einfach vorkommen lassen. Natürlich reicht es auch aus, wenn kopftuchtragende Frauen einfach so in der Umgebung vorkommen - unkommentiert und ganz normal. Eine Gefahr für unsere Kinder ist aber der polemische Umgang um dieses Stück Stoff bzw. seiner Trägerinnen. Die derzeit stattfindende Markierung wird bei den Kindern schnell eine besondere Wahrnehmung für eine Kopftuchträgerin erwecken. Schade! Bezüglich der muslimischen Frauen, die Kopftuch tragen, würde ich mir wünschen, dass man ihnen genauso wenig Kleidungsvorschriften macht, wie anderen Mitbürgern. Dennoch sollte auch bestimmt werden, dass das Vermummungsverbot freilich weiterhin gilt und es Grenzen der Kleidungsfreiheit für alle gibt. Diesem ins Polemische abdriftende Bedrohungsszenario radikaler Feministinnen, die vor der Burqa in Deutschland warnen, ist damit von vornherein der Boden entzogen. Natürlich darf eine Kultur selbst bestimmen, wie tolerant sie sein mag bzw. was sie als Grenze ihrer Toleranz definiert - so auch die unsere. Orientieren wir und am Beispiel Frankreichs, das den Laizismus vorschreibt? Oder eher an England, das nicht nur kopftuchtragende Lehrerinnen, sondern auch Polizistinnen und Polizisten - turbantragende Six - hat? Der Maßstab für Bestimmungen muss der eigene sein und diesen gilt es nun festzulegen. Dabei hoffe ich auf besonnene Diskutanten, die hinter den Symbolen die Menschen zu sehen vermögen. Eine Kultur, die ihrer selbst sicher ist, braucht sich nicht zu fürchten. Die derzeitige Diskussion sagt also vor allem etwas über uns selbst aus.

Verbietet das Kopftuch! Eine Stellungnahme von Rahima Valema Meine Position, wie ich sie hier vertrete, ist aus intensiven Diskussionen mit anderen muslimischen Frauen entstanden.

Die geplante Änderung des Schulgesetzes untersagt den Lehrern und Lehrerinnen politische, religiöse, weltanschauliche und sonstige Bekundungen im Unterricht und in der Schule

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und schreibt damit ihre Neutralität in der Schule fest. Diese Änderung findet meine Unterstützung. Vor allem möchte ich als gebürtige und ausübende Muslima das „Kopftuchverbot“ für Lehrerinnen aus frauenpolitischer Sicht kommentieren.

Die Debatte über das Kopftuchtragen an staatlichen Schulen wird leider nur mit Ja- oder Nein-Antworten in der Öffentlichkeit geführt. Hierbei bleiben die Hintergründe und Konsequenzen, welche sich aus diesem demonstrativen Verhalten ergeben können, außer acht.

Zum Thema „Kopftuchtragen“ von Musliminnen kommen meistens nur Männer zu Wort. Die Gebote der Kleiderordnung für Frauen in allen drei monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) wurden und werden zum Teil heute noch von der männlichen Geistlichkeit festgelegt oder aus den religiösen Schriften interpretiert. Jede muslimische Frau, die sich „freiwillig“ der männlichen religiösen Anmaßung beugt und das Kopftuch in ihrem privaten Rahmen trägt, ist in Deutschland geschützt. Aber auf keinen Fall kann dies für Lehrerinnen gelten.

Das Kopftuch ist nicht einfach eine Mode, sondern es vermittelt eine Metabotschaft an Kinder aus islamischen Familien. Anhand von zahlreichen Diskussionen unter Beteiligung von IslamkennerInnen ist sehr deutlich geworden, dass das Kopftuch eine problematische Mehrdeutigkeit zum Ausdruck bringt. Anders als das christliche Kreuz stellt das Kopftuch für sich kein Symbol der Religion dar, sondern wird in der islamischen, patriarchalisch strukturierten Gesellschaft dazu genutzt, die Rechte und Bedürfnisse der Frauen zu beschneiden.

In vielen Ländern ist der Verhüllungszwang auch ein politisches Kampfmittel und ein Symbol der Unterdrückung. Weltweit werden Frauenrechte immer wieder massiv verletzt. Auch und gerade in vielen Staaten mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung werden Frauen misshandelt,

verfolgt

und

entrechtet.

Hierfür

gibt

es

sehr

viele

Beispiele:

In Afghanistan hatte der Missbrauch des Islam und der Scharia durch die Taliban zur Zwangsverschleierung der Frauen und damit zur Geschlechtertrennung und Geschlechterapartheid geführt, wie es von Frau Emma Bonino, der früheren EU-Kommissarin, genannt wurde.

Im Iran war der Kopftuchzwang das Mittel, um die Frauen im normalen öffentlichen Leben einzuschränken.

Selbst in Deutschland werden die Mädchen und jungen Frauen von ihren Vätern, Brüdern und von Geistlichen genötigt, ihr Haar zu bedecken. Setzen sie sich zur Wehr, werden sie

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schikaniert, eingesperrt und geschlagen. Diese Praxis verstößt gegen die Menschenwürde der erzwungenen Kopftuchträgerinnen.

Deshalb können wir das Kopftuch nicht schönreden, indem wir es bloß als kulturelles und Identitätszeichen ansehen. Es ist auch ein Symbol der Unterdrückung und Entrechtung der Frauen. Mit dem Kopftuch können Forderungen nach weitergehender Geschlechtertrennung verbunden werden. In allen Fällen sind die Leidtragenden Frauen.

Zum Beispiel vertritt die deutsche Grundschullehrerin Frau El-Shabassy an der Grundschule Aachen-Richterich die Meinung, dass bei Ehebruch und Homosexualität auch Steinigung gemäß des islamischen Rechtes Scharia als Strafe in Frage kommt. (aus „Kopftuchträgerinnen in NRW für Scharia und Steinigung“, zit. nach EMMA, Dezember 2003). Weiter wird darüber berichtet, dass islamische Mädchen plötzlich ihre bisherigen nichtislamischen Freundinnen als unrein betrachten und daher nicht mehr in der Klasse „Wehrt der Scharia in Ückendorf“ zit. nach EMMA neben ihnen sitzen wollen, aus Dezember 2003. Das zeigt, dass die Einstellung dieser kopftuchtragenden Lehrerinnen ein Vorbild sein kann und die intolerante Haltung von Eltern, Mullahs und anderen Erwachsenen bei den islamischen Mädchen auch verstärkt.

Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem oft angeführten Nonnenhabit zum Kopftuch einer Lehrerin, die in einer staatlichen Schule unterrichten möchte. Die Nonne geht einen selbst gewählten religiösen Weg, der nicht leicht übertragbar ist. Es wäre absurd, alle muslimischen Frauen als Nonnen zu betrachten.

Allah möge es nicht wahr werden lassen, dass wir Frauen, die wir aus diesen Ländern und Kulturkreisen kommen und in Deutschland Zuflucht und Ruhe gefunden haben, der gleichen Verfolgung und Geschlechterapartheid im Namen der Religionsfreiheit ausgesetzt werden.

Weil in dieser demokratischen Gesellschaft jede Kritik am politischen Islam von fundmentalistischer Seite als „eurozentrisch“ und „rassistisch“ angesehen wird, dürfen sich unsere politisch Verantwortlichen diesen Bestrebungen nicht beugen. Hier geht es um Menschenrechte. Wir leben mit dem Glauben, dass Frauenrechte auch Menschenrechte sind. Es dürfen in einem demokratischen Staat die Grundrechte nicht aufgegeben werden, vor allem nicht aus falsch verstandener Toleranz gegenüber fundamentalistischen Kräften.

Gerade wir Frauen haben lange für die Gleichberechtigung gekämpft und setzen diesen Kampf heute noch fort. Das Ziel ist keineswegs in Sicht. Es kann nicht sein, dass die bisher

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erreichte Gleichberechtigung in diesem Land einen Teil der Frauen einfach nur deshalb ausschließt, weil diese Frauen aus anderen Kulturkreisen kommen, in welchen ihnen die mitgebrachten patriarchalischen Familienstrukturen freie Entscheidungen und Bewegungsfreiheit nicht zugestehen.

Die männlichen Familienoberhäupter sehen die Gebote der islamischen Religion als Mittel der Unterwerfung weiblicher Familienmitglieder zum Erhalt ihrer Macht an. Es gibt dafür zahlreiche Hinweise, z. B. das Sportverbot für Mädchen (wie Schwimmen und Geräteturnen) in der Schule. Die Mädchen dürfen häufig nicht an Klassenfahrten teilnehmen, sie werden dadurch zu Außenseiterinnen. So wird Integration verhindert. „Ehren“-vergewaltigungen, „Ehren“-morde und Zwangsverheiratungen sind andere besonders schlimme Ungerechtigkeiten, denen die jungen Frauen und Mädchen aus diesen Kulturkreisen ausgesetzt sind. In der „Zeit“ vom 9.10.2003 ist ein Leserinnenbrief abgedruckt, welcher über zwei Vorfälle in Euskirchen schreibt, die dem Verein „Frauen helfen Frauen“ bekannt geworden sind. Bei beiden Vorfällen waren junge Türkinnen von Türken vergewaltigt worden, weil sie ohne Kopftuch waren und eine Disko besuchten. Mit beidem hatten sie gegen das „Ehrgebot“ verstoßen. Die betroffenen jungen Frauen wagten es nicht, die Polizei einzuschalten, da sie sonst von ihren Familien verstoßen oder sogar getötet werden könnten.

Es kursiert die Meinung, dass das Kopftuch kein Problem sei und mittlerweile zum selbstverständlichen Erscheinungsbild in der deutschen Öffentlichkeit gehöre. Dieser Meinung können wir uns nicht anschließen. Dagegen erwarten wir von PolitikerInnen, welche die Gleichberechtigung verfechten, dass sie sich für die Chancengleichheit und Gleichberechtigung aller in Deutschland lebenden Frauen und Mädchen einsetzen.

Es spricht nichts dagegen, dass Frauen, die das wünschen, im privaten Leben ein Kopftuch tragen. Es überschreitet den Rahmen der jetzigen Debatte, aber wir möchten ein generelles Verbot des Kopftuches im öffentlichen Dienst erreichen. Aufgrund der Erfahrungen, die in den letzten 50 Jahren in Deutschland gemacht worden sind, müssen wir befürchten, dass bei einer gesetzlichen Genehmigung des Kopftuches im öffentlichen Dienst neue Integrationshemmnisse entstehen. Dies wäre ein Freibrief für Unterdrückung.

Allerdings sollte im Schulgesetz auch der Integrationsauftrag für die Schulen verdeutlicht und von den Schulen wahrgenommen werden. Mädchen und Jungen aus Familien mit Migrationshintergrund sollen gezielt an den Schulen in allen Unterrichtsfächern gefördert werden, damit sie die gleichen Chancen wie die übrigen Kinder erhalten.

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Die islamischen Kinder und Jugendlichen sollen wie ihre evangelischen und katholischen Mitschüler und Mitschülerinnen islamischen Religionsunterricht von ausgebildeten und staatlich anerkannten ReligionspädagogInnen und TheologInnen erhalten. Alternativ soll es an den Schulen ein Angebot für „Werte und Normen“ geben.

Ich und viele andere muslimische Frauen hoffen auf ein Verbot des Kopftuches im öffentlichen Dienst, vor allem aber für Erzieherinnen in allen pädagogischen Bereichen.

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V. Die Debatte zum Kopftuch Ein Stück Identität? Notizen eines Kulturkampfes von Mohhsen Massarat Ist es angebracht, das "Kopftuch" moslemischer Frauen als "Flagge des islamischen Kreuzzuges" zu bezeichnen? Dieser Frage geht im folgenden Beitrag Mohssen Massarrat, Professor für Politik und Wirtschaft an der Universität Osnabrück, nach.

Ein gutes Angstthema

Das Thema eignet sich hervorragend, die Ängste der Menschen gegen fremde Kulturen zu mobilisieren und bei Bedarf auch zu Wahlkampfzwecken zu instrumentalisieren. Die Stichworte für den neuen Kulturkampf liefert die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, die im Namen von Frauenemanzipation, Freiheit und Gleichheit die Kampagne anführt. In zahlreichen Zeitungstexten und Talkshows bezeichnet sie das Kopftuch als "Flagge des islamistischen Kreuzzuges" und als Symbol der islamischen Fundamentalisten, die "die ganze Welt zum Gottesstaat deformieren" wollten.

Die Behauptung, das Kopftuch sei ein Symbol des islamischen Fundamentalismus, ist genauso ein Unfug wie die Behauptung, Freikörperkultur sei der Höhepunkt geistlicher Freiheit. Wer Hunderte von Millionen moslemischer Frauen weltweit und Hunderttausende von Mosleminnen in Deutschland im Handumdrehen als Fundamentalistinnen stigmatisiert, strotzt nicht nur vor Ahnungslosigkeit, der handelt auch fahrlässig. Besonders gilt dies gegenüber den moslemischen Frauen, die in einer fremden Kultur trotz großer Anpassungslasten keine Mühe scheuen, Anschluss an das öffentliche Leben in ihrer neuen Heimat zu finden. Nun aber - gewissermaßen mit dem fundamentalistischen Stigma auf der Stirn - werden sie es mit Kopftuch fortan erheblich schwerer haben, sich in die Arbeitswelt hinaus zu wagen. Sie müssen damit rechnen, als Fundamentalistinnen gebrandmarkt und diskriminiert zu werden. Welcher Behördenchef, welcher Filialleiter einer Bank, welcher Personalchef eines Industrieunternehmens wäre auch darauf erpicht, sich durch die Beschäftigung von "Fundamentalistinnen" Ärger einzuhandeln. Die Tragweite des Streits geht weit über die Frage der staatlichen Neutralität gegenüber Religion in der Schule hinaus. Das Anliegen von Fereshta Ludin,

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die das Bundesverfassungsgericht angerufen hatte, weil sie weder auf ihren Beruf als Lehrerin noch das Tragen des Kopftuchs im Unterricht verzichten wollte, ist das Anliegen vieler gläubiger moslemischer Frauen in Deutschland. Es geht darum, allen - nicht nur den Lehrerinnen - entweder die Chance zu eröffnen, trotz ihres für die Mehrheitskultur fremden Erscheinungsbildes im öffentlichen Leben akzeptiert zu werden oder auf ihren bisherigen Lebenskreis beschränkt zu bleiben. Ein Kopftuchverbot wäre daher auch ein Rückschlag für die Integration der Moslems in Deutschland. Seine Botschaft ist im Klartext: entweder ihr assimiliert euch oder ihr haut ab.

Kehrseite der Moderne

Warum legen Millionen moslemischer Frauen in der ganzen Welt so großen Wert auf ihren Schleier? (...) Die Antwort auf diese Frage ist ziemlich einfach: die überwältigende Mehrheit von ihnen tun es aus Gewohnheit, weil sie sich den traditionellen Konventionen ihrer Kulturen verpflichtet fühlen. Sie tragen das Kopftuch oder den Schleier, weil sie sich so subjektiv besser geschützt fühlen und dieses Stück Stoff - ob andere dies gut oder schlecht finden ein Stück ihrer persönlichen Identität geworden ist. Meine Schwester etwa, die mich oft in Deutschland besucht, sagt mir, ohne Kopftuch fühle sie sich einfach unangezogen. Frauen aus meiner Verwandtschaft in Iran lehnen - wie 80 Prozent der Iraner - das Mullah-Regime ab. Ihnen würde jedoch nie in den Sinn kommen, deshalb ihren Schleier abzulegen. Sie haben den Schleier auch schon vor diesem Regime getragen. Der Schleier hat eine unvergleichbar längere Geschichte als der islamische Fundamentalismus, den wir kennen. Dieser Fundamentalismus ist nicht zuletzt auch eine Reaktion auf unsägliche Versuche, die westliche Moderne in den traditionsorientierten islamischen Gesellschaften von oben verordnen oder gar gewaltsam einführen zu wollen. Reza Schah, der Gründer der Pahlawie-Dynastie in Iran, glaubte nach der Machtübernahme 1925, durch ein gewaltsames Schleierverbot und die erzwungene Einführung westlicher Kleidung für beide Geschlechter den Weg Irans in die Moderne ebenen zu können. Das Ergebnis ist bekannt: ein halbes Jahrhundert nach Reza Schahs gewaltsamer Modernisierung erlebte Iran 1979 eine islamische Revolution und die Gründung des ersten islamischen Gottesstaates. Dieser Fundamentalismus war die Kehrseite einer falsch verstandenen Moderne - er ist insofern ein Bestandteil von uns, mehr als uns lieb ist. In Iran führten die Mullahs den Schleierzwang wieder ein und verletzten dadurch die Würde und Identität derjenigen Frauen, die keinen Schleier tragen wollten, sie eröffneten jedoch zugleich der großen Mehrheit von traditionalistisch erzogenen Mädchen und Frauen den Zugang zu höheren Schulen und zum öffentlichen Leben, von dem sie bis dato gänzlich ausgeschlossen waren. Inzwischen liegt der Anteil der Frauen an iranischen Hochschulen

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bei 60 Prozent. In der Türkei beispielsweise, wo dagegen nach wie vor ein Schleierverbot in öffentlichen Einrichtungen besteht, bleibt der Zugang zu höherer Bildung und zum öffentlichen Leben der übergroßen Mehrheit jener türkischer Frauen versperrt, die dem traditionellen Segment der Gesellschaft angehören. Daraus folgt nicht, der Türkei die "iranische Lösung" zu empfehlen. Vielmehr ist es höchste Zeit, dass sowohl die Türkei das Kopftuchverbot und der Iran den Schleierzwang aufheben und dem Unrecht der Diskriminierung türkischer Frauen, die das Kopftuch tragen wollen, und iranischer Frauen, die den Schleier nur gegen ihren Willen tragen, ein Ende setzen. Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ist in beiden Ländern ein Gradmesser der Demokratisierung, die allein eine Grundlage für Meinungsvielfalt wie die friedliche Koexistenz verschiedener Lebensweisen ist. Mit einem Kopftuchverbot würde sich Deutschland ein Stück weit den Gepflogenheiten der Türkei und Irans annähern.

Es geht um Menschenwürde

Die Lebensweise der Menschen ist Bestandteil ihrer Identität und ihrer Würde, die in Deutschland durch das Grundgesetz geschützt ist. "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (Grundgesetz, Art. 1, Abs. 1). Ein Kopftuch-Verbot für Fereshta Ludin verletzt ihre Menschenwürde und konnte auch aus diesem Grunde durch das Bundesverfassungsgericht nicht verhängt werden. Dass die Karlsruher Richter diese Dimension des Falles übersahen, ist ihnen vorzuwerfen. Auch Ludin war offenkundig falsch beraten, sich allein auf den Artikel 4 GG zu berufen, der die Religionsfreiheit garantiert. Der Schutz der Menschenwürde wiegt in diesem Streit unvergleichlich schwerer als der Schutz der Religionsfreiheit. Und genau um die - wohlgemerkt subjektiv empfundene - Würde geht es bei mehreren hundert Millionen moslemischer Frauen, die es vorziehen, ihren Körper mehr oder weniger stark zu verhüllen. Was veranlasst Frau Schwarzer dazu, durch das Kopftuch von Frau Ludin so leichtfertig auf deren fundamentalistische Gesinnung zu schließen? Liegt diesem intellektuellen Kurzschluss nicht eine ebenso weitverbreitete wie oberflächliche Annahme zugrunde, dass der Schleier und das Kopftuch für die Frauendiskriminierung und -unterdrückung in der islamischen Gesellschaft stehen? Die auf den ersten Blick einleuchtende Behauptung - Schleier gleich Frauenunterdrückung - wie sie durch den Mainstream westlicher Frauenbewegungen unermüdlich aufgestellt wird, ist irreführend und lenkt davon ab, dass in den islamischen Gesellschaften wie in der westlichen Welt das Patriarchat die eigentliche Ursache der Frauendiskriminierung ist. Historisch gesehen hat es das Patriarchat in den islamischen Gesellschaften verstanden, den schon vor dem Islam existierenden männlichen Besitzanspruch auf das weibliche Ge-

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schlecht religiös zu untermauern und die wenigen vagen Hinweise im Koran zur Verhüllung des weiblichen Körpers vor männlichen Blicken für eine systematische Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben zu instrumentalisieren. Die afghanische Burka und die saudische Totalverhüllung sind in der Tat manifeste Beispiele für die religiös legitimierte Verewigung einer archaischen Vorherrschaft des männlichen Geschlechts. In anderen islamischen Gesellschaften haben moslemische Frauen es trotz des Schleiers geschafft, in allen Bereichen Positionen und Einfluss zu erlangen. In dieser Hinsicht stehen sie den Frauen in den westlichen Gesellschaften in nichts nach und sind dort genau so wie hier bestrebt, ihre vollständige Emanzipation gegen die männliche Vorherrschaft durchzusetzen. Statt des Islamrates hätten eigentlich Frauenorganisationen Fereshta Ludin gegen das drohende Kopftuch- und Berufsverbot unterstützen müssen. Aber deutsche Frauenrechtlerinnen sind offenbar noch weit davon entfernt, Frauenrechte als Kultur übergreifende universale Rechte zu begreifen.

Wollen wir eine Parallelgesellschaft? Eine Gegenrede von Niels-Arne Münch

Der Beitrag Mohssen Massarrat, Professor für Politik und Wirtschaft an der Universität Osnabrück, forderte seinen Kollegen Niels-Arne Münch, Sozialwissenschaftler aus Göttingen, heraus, der daraufhin eine geharnischte Kritik an Massarrats Ansichten veröffentlichte:

In Baden-Württemberg werden sowohl die regierende CDU/FDP-Koalition als auch die oppositionelle SPD Ende März einem Gesetzentwurf zustimmen, mit dem das muslimische Kopftuch in den Schulen des Bundeslandes verboten wird. Am 24. September 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem "Kopftuch-Urteil" die Länder aufgefordert, in dieser Sache eigene gesetzliche Regelungen zu schaffen. Die Richter in Karlsruhe waren zuvor von der Lehrerin Fereshta Ludin angerufen worden, die auf das Tragen des Kopftuchs im Unterricht nicht verzichten wollte.

Mit dem "Kopftuch-Streit" sei in Deutschland eine Art "Kulturkampf" entfacht worden, schrieb dazu im Freitag vom 16. Januar (Ausgabe 4/2004) unser Autor Mohssen Massarrat. Die Tendenz "das Kopftuch verbieten zu wollen", sei alles andere als "ein Gütesiegel für den Reife-

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grad der Demokratie". Es gehe für Musliminnen statt dessen darum, "trotz ihres für die Mehrheitskultur fremden Erscheinungsbildes im öffentlichen Leben akzeptiert zu werden". Ein Kopftuchverbot sei daher ein "Rückschlag für die Integration der Moslems in Deutschland". Neben zahlreichen Reaktionen von Leserinnen und Lesern (s. Freitag vom 30. 1. und 6.2.), die es nach diesem Artikel gab, erreichte uns auch eine Erwiderung des Göttinger Sozialwissenschaftlers Niels-Arne Münch, deren wesentliche Passagen wir angesichts des Fortgangs der Debatte auf dieser Seite abdrucken. Die Debatte um das Kopftuchverbot für Lehrerinnen wird mit einer Vielzahl von Affekten und Vereinfachungen geführt, leider macht da auch der Artikel von Herrn Massarrat keine Ausnahme. Sein Text strotzt nur so von den Spiegelbildern jener Vereinfachungen, die der Autor seinen Gegnern vorwirft. Dabei ist es gar nicht nötig, wie Alice Schwarzer "islamistische Kreuzzüge" zu wittern, um das Urteil des Verfassungsgerichts zu begrüßen.

Aus der Kommunikationsforschung wissen wir heute, wie wichtig Gesicht und Mimik für unsere Fähigkeit sind, mit anderen Menschen zu kommunizieren - für den "ersten Eindruck" ist das Gesicht sogar wichtiger als die Sprache, die wir häufig genug gar nicht verstehen. Frauen vorzuschreiben, ihr Gesicht ganz oder teilweise zu verhüllen, schränkt deren Möglichkeiten, sich anderen Menschen mitzuteilen, erheblich ein. Konsequenterweise begleitet strenge Verhüllungsgebote häufig auch ein Redeverbot mit Männern: Die Frau muss sich nicht nur in Stoff, sondern auch in Schweigen hüllen.

Das Problem des Schleiers ist nicht sein Symbolwert - es sind seine praktischen Folgen für Psyche und Handlungsmöglichkeiten der Verschleierten. Schleier und Kopftuch sind Instrumente eines patriarchalen Herrschaftsanspruchs und nicht bloßes Symbol. Wie die Beschneidungen in Afrika die sexuelle Empfindungsfähigkeit einschränken soll, so behindert die Verschleierung die Entwicklung selbstständiger weiblicher Persönlichkeit.

Einem körperlichen Eingriff ähnlich entzieht die Verhüllung der Frau die Verfügung über ihr Gesicht, was elementarer Bestandteil ihres Menschseins ist. Mit aller Deutlichkeit: Es handelt sich hier um eine sozial erzwungene Behinderung.

Unterschiedlich ist nur deren Ausmaß, je nach dem ob es "nur" um ein Kopftuch, eine Ganzkörperverhüllung oder sogar um ein "Hüllen in Schweigen" geht. In jedem Fall sollen Selbstdarstellung und Entfaltung der Persönlichkeit ver- beziehungsweise behindert werden. Es ist ja auch der erklärte Sinn der Verhüllung, Frauen zu einem "zurückhaltenden" Auftreten in der Öffentlichkeit anzuhalten oder sie von Öffentlichkeit auszusperren.

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Dagegen spricht auch nicht, dass islamische Frauen dies häufig anders erleben. Selbstverständlich können repressive Strukturen verinnerlicht werden, bis sie von eigenen Wünschen nicht mehr zu unterscheiden sind. Für Unterdrückte ohne Hoffnung auf Befreiung - und für viele Frauen in patriarchalen Gesellschaften besteht diese Hoffnung nicht - ist dies häufig sogar die einzige Möglichkeit, ihr Los zu ertragen: Das Unterbewusstsein wehrt sich und deutet die Unterdrückung um: Sie wird plötzlich als "gottgewollt" empfunden - oder als besonderer Schutz. Werden solche Selbstzuschreibungen nicht kritisch befragt, führt dies zu grotesken Ergebnissen: In Afrika fühlen sich unbeschnittene Frauen häufig "unrein". - Sollen wir deshalb Frauenbeschneidung als zu tolerierende kulturelle Eigenart betrachten? Viele Kulturrelativisten tun dies und halten sich für fortschrittlich. Ich halte solche Positionen für zynisch.

Moslemische Frauen tragen nach Auffassung von Herrn Massarrat das Kopftuch oder den Schleier "aus Gewohnheit, weil sie sich den traditionellen Konventionen ihrer Kulturen verpflichtet" und "sich so subjektiv besser geschützt fühlen". Das klingt harmlos genug, ist aber leeres Gerede: "Gewohnheiten" können fortschrittlich oder rückschrittlich sein, "traditionelle Konventionen" sind teilweise extrem repressiv und taugen deshalb als Argument für gar nichts.

Dies alles kann man schreiben, ohne ein einziges Mal Religion oder den Koran zu bemühen. Das Gesagte gilt nämlich für alle Gesellschaften, Kulturen und Religionen, die Verhüllungsvorschriften gegen Teile ihrer Mitglieder machen. - Muslima alewitischer Glaubensrichtung tragen übrigens traditionellerweise kein Kopftuch.

Sicher: Für viele Muslima in Deutschland und generell im "Westen" ist das Kopftuch der stoffgewordene Kompromiss zwischen familiärem Druck und dem Wunsch, sich in die Gesellschaft einzufügen. Für einige von ihnen handelt es sich dabei um einen "ernsthaften" Kompromissversuch, sie identifizieren sich tatsächlich mit beiden Welten, für andere geht es eher um Konfliktvermeidung. Wie auch immer: Ein Kopftuchverbot bedeutet für diese Frauen eine Zuspitzung dieses Konfliktes. Das ist zweifellos zu bedauern, aber ist es auch zu vermeiden? Sollte nicht ein demokratischer Staat trotzdem an seinen Schulen auf Säkularität und weltanschauliche Neutralität bestehen?

Die Zahl der verschleierten Frauen nimmt weltweit zu, auch in Deutschland. Die Gründe sind vielfältig, der wichtigste ist der wachsende Einfluss fundamentalistischer Gruppen auf die islamischen Gemeinden. Auch die Suche nach Identität in der Fremde oder Angst vor der Moderne mag eine Rolle spielen. Das islamische Kopftuch ist ein Sammelbegriff, zu dem

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neben Hijab auch der Tschador oder die afghanische Burka gehören. Nicht alle diese Verhüllungsvorschriften sind islamistischen Köpfen entsprungen, aber alle sind mit Vorstellungen über Moral und Geschlechterrollen verbunden, die seit dem 19. Jahrhundert hierzulande unüblich geworden sind und zu recht nicht mehr gelehrt werden. Der soziale Prozess, der hinter dem sich Ausbreiten der verschiedenen Formen des Kopftuchs steht, ist eine Rückkehr zum traditionellen Islam, und nicht die Öffnung für säkulare und individualistische Werte. Zu konstatieren ist daher auch in Deutschland keine fortscheitende Integration, sondern das Entstehen einer sich abgrenzenden konservativ-religiösen Parallelgesellschaft.

Unter diesen Vorzeichen wie Herr Massarrat zu sagen: "Ein Kopftuchverbot wäre ... auch ein Rückschlag für die Integration der Moslems in Deutschland", ist Unsinn. Wie so häufig wird Integration hier nur als Schlagwort gebraucht, als Leerformel, ohne die Frage nach einer integrierenden Praxis zu stellen. Das Öffnen unserer Schulen für das Kopftuch fördert nicht die Integration der Muslime, sondern das Ausbreiten eben jener Parallelgesellschaft, deren wesentliche Merkmale ein vormodernes, anti-emanzipatorisches Normensystem und Abgrenzung nach außen sind. Mit einem Wort: Desintegration.

Wenn wir eine solche Parallelgesellschaft nicht wollen, sollten wir Schluss machen mit falscher Toleranz, die in Wahrheit nur Abgrenzungswünsche passiv hinnimmt. Schon heute ist das Kopftuch für Schülerinnen meist mit weiteren Sanktionen wie "Befreiungen" vom Sportunterricht oder Klassenfahrten gekoppelt. Wie soll aber Integration in der Schule gelingen, wenn überall dort, wo Kinder bevorzugt einander kennen lernen, die muslimischen Mädchen fehlen? Integration bedeutet, sich auseinanderzusetzen, aneinander teilzuhaben, vom Gegenüber zu lernen, sich kritisieren zu lassen, aber auch, den anderen zu kritisieren. Toleranz sollte immer der Integration dienen, sollte den Blick auf das Gemeinsame lenken und Raum für aktive, respektvolle Auseinandersetzung öffnen.

Wo Toleranz aber lediglich das Fremd-Sein und Fremd-Bleiben fördert, ist sie fehl am Platz. Deshalb befürwortet ja Dalil Boubakeur, der Imam der Großen Pariser Moschee, das in Frankreich auf den Weg gebrachte Kopftuchverbot bei Lehrerinnen und Schülerinnen: Das Kopftuch betone das Anderssein und behindere die Integration.

Ein Kopftuchverbot wird für viele Muslima, die in diesem Stoff einen gangbaren Kompromiss sahen, eine große Enttäuschung sein. Aber so sehr Kompromisse immer nötig sein werden, so nötig sind zuweilen auch klare Entscheidungen: Wer in einem Kernbereich unserer Gesellschaft arbeiten will, wer eine Position haben will, in der er zwangsläufig zum Vorbild für die nächste Generation wird, sollte sich zu dieser Gesellschaft bekennen, sich für sie ent-

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scheiden und Normen wie Gleichberechtigung, Säkularismus und das Recht auf individuelle Selbstentfaltung vorleben. Hier ist kein "Kompromiss" mit einer ganz anderen Realität und Normenwelt hinzunehmen. Frau Ludin, die Lehrerin, die für ihr Recht auf das Kopftuch klagte, erklärte vor Gericht, ohne dieses Stück Stoff fühle sie sich "nackt". Werden dann nicht zwangsläufig auch Schülerinnen ohne Kopfbedeckung für sie "nackt" - also "schamlos" - erscheinen? Und selbst wenn Ludin diesen Spagat bewältigen sollte, ist dieser Konflikt nicht überall programmiert, wo wir verschleierte Frauen zum Unterricht zulassen? Unseren Kindern sollte etwas anderes vorgelebt werden. Auch sollte Mädchen aus traditionell gesinnten islamischen Familien, die bei uns zur Schule gehen, gezeigt werden, dass diese Gesellschaft ihnen eine Alternative bietet zum Leben hinter dem Schleier oder unter dem Kopftuch.

Deutschland 2014: Muslimische No-Future-Kids? Ein Bericht von Astrid Maier über die Arbeit von Basam Tibi Der Islamforscher Bassam Tibi erwartet über zehn Millionen Muslime, die nicht integriert sind - und gewalttätige Ausschreitungen in deutschen Großstädten.

Wütende, randalierende muslimische Jugendliche, die sich blutige Straßenschlachten mit der Polizei liefern - solche Szenen werden im Jahr 2014 auch Wirklichkeit in Berlin, Frankfurt oder Köln sein. Dies zumindest sagt Bassam Tibi voraus, Professor für internationale Politik an der Universität Göttingen. Noch könne dieses Horrorszenario verhindert werden: Dann aber müsse Deutschland deutlich mehr in Integration investieren als bislang.

"Muslime sind nicht integrationswillig, Deutsche nicht integrationsfähig", so Tibi. Die Lehren des orthodoxen Islam, die in der deutschen islamischen Diaspora angesichts mangelnder Integration florierten, verpflichteten Muslime zu einer Geisteshaltung der Integrationsunwilligkeit. Die Deutschen ihrerseits seien nicht fähig, zugewanderten Menschen aus anderen Kulturen ein Dazugehörigkeitsgefühl zu vermitteln.

Die nun beschlossenen Pflichtkurse in Deutsch für Ausländer werden laut Tibi ins Leere greifen. "Ich kenne Türken, die hier geboren sind und besser Deutsch als Türkisch sprechen. Sie fühlen sich trotzdem nicht als Deutsche." Wenig deute darauf hin, dass sich daran etwas ändern werde. Diese mangelnde Akzeptanz werde Migranten noch stärker in die "Ghetto-

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mentalität" treiben. "Diese ist bei Muslimen religiös geprägt", sagt Tibi. "Die Religiosität der Muslime in Deutschland wird in den nächsten zehn Jahren zunehmen."

In zehn Jahren werden Tibi zufolge auf Grund vor allem illegaler Migration mehr als doppelt so viele Muslime hier leben wie heute, nämlich zehn Millionen. Heute sind es rund 3,7 Millionen. "Dies wird zum Schaden der bereits hier lebenden Ausländer geschehen."

Arbeits- und Perspektivlosigkeit

Muslime werden seiner Prognose nach in Zukunft bis zu 80 Prozent der in Deutschland lebenden Migranten ausmachen; heute sind es 40 Prozent. Die meisten werden sozial marginalisiert sein. Auch auf hier geborene Muslime werde sich die gescheiterte Integration negativ auswirken: Arbeits- und Perspektivlosigkeit seien vorauszusehen. Bis 2014 würden in Deutschland die Sozialleistungen im Vergleich zu heute deutlich reduziert - ein Pulverfass par excellence: "Diese No Future-Kids können dann nicht mehr gehalten werden. Es wird zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen." Ähnlich wie dies heute bereits die Franzosen erleben, werden in zehn Jahren muslimische Jugendliche an der sie ausschließenden deutschen Gesellschaft Rache üben wollen.

Schon heute ziehe sich ein Großteil der in Deutschland lebenden Muslime in Parallelgesellschaften zurück. In zehn Jahren aber werden Muslime in Tibis Zukunftsszenario "ausschließlich" in abgeschotteten Gemeinschaften wie im Berliner Stadtteil Kreuzberg leben. "Aus diesen Parallelgesellschaften heraus werden sie die deutsche Gesellschaft als feindliche Umwelt betrachten." Heute machen türkischstämmige Muslime rund zwei Drittel aller der in Deutschland lebenden Muslime aus.

Wird bis 2014 die Türkei EU-Mitglied sein, "dann wird es eine massive Migration aus der Türkei nach Deutschland geben", prophezeit Tibi. Der Anteil der aus der Türkei stammenden Muslime in Deutschland würde im Vergleich zu heute in diesem Fall auf bis zu 90 Prozent der Muslime steigen. Ist 2014 die Türkei noch kein Mitglied der EU, so würden sich die muslimischen Parallelgesellschaften nach innen "zunehmend diversifizieren". Der Anteil der aus der Türkei stammenden Muslime würde unter diesen Umständen im Jahr 2014 deutlich unter den Anteil der Muslime aus anderen Ländern fallen. Die zunehmende Polarisierung zwischen Deutschen und Muslimen werde schließlich zu einem Erstarken des fundamentalistischen Islamismus in Deutschland führen. So werden "in den nächsten zehn Jahren private Islamschulen in Deutschland auswuchern", sagt Tibi. Diese würden von Saudi-Arabien aus

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finanziert sein und die Integration junger Muslime zusätzlich verhindern. "In diesen Schulen werden kleine Kinder wie weiße Blätter islamistisch beschrieben werden."

Schrittweise Zulassung der Scharia

Als Beweis für seine These zieht Tibi die aktuelle Diskussion um die König Fahd Akademie in Bonn heran. "Dort wird der Dschihad gepredigt", sagt Tibi. Deswegen aber sei sie in Deutschland noch lange nicht verboten worden. "Wenn die Kinder auf diese Schulen gehen, können wir nicht erwarten, dass sie die zivilisatorische Kultur Europas akzeptieren werden." Die Auseinandersetzung um die König Fahd Akademie sei jetzt schon zu einer Machtprobe zwischen Islamisten und dem deutschen Staat geworden. In Tibis Zukunftsszenario wird die Akademie zwar in den nächsten Jahren zunächst verboten werden. "Anschließend werden die Islam-Schüler aber beim Bundesverfassungsgericht klagen. Und dort werden sie sehr wahrscheinlich gewinnen." In Deutschland wird "in den nächsten zehn Jahren stufenweise die Scharia, das islamische Gottesrecht, zugelassen werden."

Auch der Kopftuchstreit werde sich in Zukunft verschärfen, sagt Tibi voraus. Letztlich werde daraus ein Kampf um die Trennlinie zwischen Staat und Religion für ganz Europa entwachsen. "Instrument dieses Kampfes wird das Kopftuch sein." Zwei Pole würden die europaweite Auseinandersetzung dabei bestimmen: Auf der einen Seite das französische Modell mit seiner strikt laizistischen Ausrichtung, in der das Kopftuchtragen im öffentlichen Dienst bereits verboten wurde. Auf der anderen Seite werde das deutsche Modell stehen, in dem das Kopftuchtragen in einigen Bundesländern erlaubt, in anderen verboten sein wird. "Dies ist die denkbar schlechteste Lösung." Früher oder später werde der Kopftuchstreit in Deutschland wieder beim Bundesverfassungsgericht landen. "Dann werden die Länder mit Kopftuchverbot ihr Gesetz wahrscheinlich wieder zurücknehmen müssen."

Der fundamentalistische Islamismus, den Tibi mit dem Totalitarismus der Nazi-Herrschaft gleichsetzt, werde auch in Zukunft eine der größten Herausforderungen für Europa bleiben. "Die Anschläge vom 11. März in Madrid waren nur eine Vorankündigung." Denjenigen, die glaubten, die Sicherheitskomponente im neuen Zuwanderungsgesetz könne in Zukunft aus dem Gesetz wieder gestrichen werden, erteilt Tibi eine Abfuhr. "Ich sage genau das Gegenteil voraus. Das Zuwanderungsgesetz wird in Zukunft hinsichtlich der darin enthaltenen Sicherheitskomponenten noch weiter spezifiziert werden."

Weitere Anschläge von Islamisten in Europa in naher Zukunft seien sehr wahrscheinlich. In

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Deutschland sieht Tibi aber auf Grund der falsch verstandenen Toleranz auf Seiten der Politiker und des Gesetzgebers "eine Ruhezone für die Islamisten". Um ihren Handlungsspielraum nicht zu gefährden, würden die Islamisten deswegen zunächst Deutschland als Ziel für Anschläge meiden.

All dieser negativen Zukunftsvisionen zum Trotz will Tibi nicht als Panikmacher verstanden werden. Schließlich hat er hat auch gute Nachrichten zu überbringen. Wenn sowohl Deutsche als aus Muslime in Zukunft ihren Teil zur Integration beitragen würden, könne das negative Szenario vermieden werden. "Dann werden 2014 vielleicht zehn Millionen Muslime in diesem Land leben, deren Mehrheit sich als Deutsche islamischen Glaubens fühlen."

Die schulische Integration durch Kopftuchverbot fördern Ein Interview mit Anette Schavan Frau Schavan, in Baden-Württemberg ist im April das erste gesetzliche Kopftuchverbot in Deutschland für Lehrpersonen im öffentlichen Schulunterricht erlassen worden. Können Sie kurz die Geschichte, wie es zu diesem Verbot gekommen ist, zusammenfassen?

Annette Schavan: Eine junge Lehrerin hat vor sieben Jahren den Antrag gestellt, mit Kopftuch im den Schuldienst zu kommen. Das wurde erlaubt, weil sonst eine Ausbildung nicht hätte zu Ende gebracht werden können, da der Staat das AusbiIdungsmonopol für Lehrer hat. Die formelle Aufnahme in den Schuldienst ist dann an die Bedingung geknüpft worden, das Kopftuch im Unterricht abzulegen. Das ist eine Güterabwägung, bei der ausschlaggebend war:

Erstens: Die Lehrerin nimmt ein öffentliches Amt wahr, und sie muss damit für die weltanschauliche Neutralität des Staates einstehen.

Zweitens: Das Kopftuch ist innerhalb des Islam immer stärker zum Symbol für politischen Islamismus, für kulturelle Abgrenzung, geworden. Es steht auch für eine Geschichte der Unterdrückung der Frau. Auch mit Rücksicht auf muslimische Schülerinnen vertreten wir den Standpunkt: Wer dieses öffentliche Amt in der Schule wahrnimmt, der muss bereit sein, je-

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den Anschein zu vermeiden, dass hier Fundamentalismus entsteht. Und nicht zuletzt ist es natürlich auch für die innerislamische Diskussion bedeutsam, dass der Staat in Deutschland Signale setzt, bei denen sich nicht diejenigen gestärkt fühlen, die diese große Weltreligion des Islam im Sinne des politischen Islamismus instrumentalisieren. Es gab viele gerichtliche Auseinandersetzungen um das Kopftuchverbot, bis zum Bundesverfassungsgericht. Dieses hat verlangt, ein Gesetz zu erlassen. In Baden-Württemberg gilt dieses Gesetz seit 1. April. Ich muss davon ausgehen, dass dieses Gesetz wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landet.

Gab es wegen des Kopftuchverbotes für Lehrpersonen in der Praxis größere Konfrontationen?

Von solchen Spannungen spüre ich nichts. Ich habe sogar das Gefühl, dass sich in BadenWürttemberg die Situation oder Diskussion sehr beruhigt hat. Ich habe gesagt, ein solches Gesetz ist nur der Beginn einer kulturpolitischen Debatte, die wir führen müssen - nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Eine Debatte, die mit Vergewisserung zu tun hat und Orientierung, auch mit dem Dialog der Religionen, mit der Auseinandersetzung mit Fundamentalismus. Ich möchte nicht, dass wir über das Kopftuch per Gesetz entscheiden und dann die ganze Geschichte zu den Akten legen. Die Frage, wie geben wir integrationspolitische Impulse in einer Gesellschaft, in der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen leben, muss umfassend diskutiert werden. Es braucht eine konstruktive Debatte, wir können nicht nur mit Verboten arbeiten.

Welche konkreten Schritte haben Sie in diesem Zusammenhang unternommen?

Ich bemühe mich um das Thema "Islamischer Religionsunterricht in Baden-Württemberg" noch nicht mit Erfolg. Die Schwierigkeiten ergeben sich auch im Hinblick auf einen notwendigen Konsens innerhalb islamischer Gruppen. Wir verhandeln seit vier Jahren über dieses Thema. Die Verhandlung hat bis heute nicht dazu geführt, dass es mehr Gemeinsamkeiten unter diesen verschiedenen Gruppen gibt, sondern dass viele interne Auseinandersetzungen stattfinden. Im Grunde ist der Staat eine Art Moderator in dieser innerislamischen Debatte.

Das Zweite ist: Wir müssen Sorge dafür tragen, dass jedes Kind am ersten Schultag die deutsche Sprache spricht, das sind besonders türkische Kinder. Die Frage der Sprache muss ernster genommen werden. Sobald Sie es für jedes Kind fordern, stoßen Sie auf eine

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Menge von Fakten, die vorher gar nicht präsent waren. Kinder, die eine Reihe von Jahren wieder in ihrer Heimat waren, die später geholt werden oder ein halbes Jahr weg sind, Kinder, die nicht den Kindergarten besuchen und so weiter. Es gibt eine Notwendigkeit, nicht einfach unter dem Etikett "Freiheit" alles laufen zu lassen, sondern wir müssen auch Grenzen setzen. Man muss Impulse geben für die schulische Integration. [...]

Stellungnahme der islamischen Organisationen Ein Bündnis von 64 Organisationen Die unterzeichnenden islamischen Organisationen in Deutschland nehmen mit diesem gemeinsamen Dokument Stellung zur "Kopftuchdebatte", ausgelöst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.09.2003 und die darauf folgenden Gesetzesvorhaben in verschiedenen Bundesländern, in der Absicht einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion zu leisten.

Der säkulare deutsche Rechtsstaat hat sich gemäß seinem in der Verfassung verankerten Selbstverständnis in religiösen, nicht dem Grundgesetz widersprechenden Fragen neutral zu verhalten. Diese Neutralität bedeutet, dass der Staat sich weder für noch gegen eine bestimmte Religion engagieren darf. Gemäß dem Grundgesetz liegt demnach die Deutungshoheit über Inhalte einer Religion und die Definition darüber, was ein zwingendes religiöses Gebot ist, nicht beim Staat und dessen Volksvertretern, sondern einzig bei den Religionsgemeinschaften.

Die unterzeichnenden Organisationen stimmen darin überein, dass das Tragen oder NichtTragen eines Kopftuches nicht über die Zugehörigkeit eines Menschen zum Islam entscheidet. Die Befolgung des islamischen Bekleidungsgebotes darf auch nicht als Maßstab fuer die ethisch-moralische Bewertung, die Integrationsbereitschaft oder gar die Verfassungstreue eines Muslims herangezogen werden.

Gleichwohl gebietet der Islam, nach allen islamischen Rechtsschulen, das Einhalten bestimmter Bekleidungsvorschriften, und zwar für Mann und Frau. Der Frau ist geboten, sich bis auf Hände, Füße und Gesicht zu bekleiden, dazu gehören einstimmig die Kopfhaare. Sinn dieses Gebotes ist es nicht, die Frau in irgendeiner Form zu unterdrücken. Für die un-

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terzeichnenden islamischen Organisationen in Deutschland ist das Kopftuch nur ein religiöses Gebot, und kein politisches oder religiöses Symbol. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu folgerichtig festgestellt, dass das Tragen eines Kopftuches unter den Schutz der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Glaubensfreiheit fällt und nicht gegen den grundgesetzlichen Gleichheitsgrundsatz zwischen den Geschlechtern verstößt und dass die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden darf. In jedem Fall sollten Frauen nach unserer Überzeugung ein Kopftuch nur aus freiem Willen tragen. Diskriminierungen wegen des Nicht-Tragens eines Kopftuches lehnen wir genauso ab, wie Diskriminierungen wegen des selbst gewählten und selbst bestimmten Tragens eines Kopftuches.

Gegenstand des Urteils des BVerfG war das aus Sicht des Gerichtes berechtigte Anliegen einer muslimischen Lehrerin mit dem Kopftuch unterrichten zu können. Inzwischen umfasst die aktuelle Debatte um das Kopftuch den gesamten Bereich des öffentlichen Dienstes und dient auch zur Legitimation für Diskriminierungen im privaten Sektor, obwohl das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverfassungsgericht für den privatwirtschaftlichen Bereich eine endgültige Entscheidung zugunsten der freien Religionsausübung bereits getroffen haben. Das BVerfG hat wiederholt betont, dass jede gesetzliche Regelung die verschiedenen Religionsgemeinschaften gleichbehandeln muss, d.h. dass eine einseitige Privilegierung von Religionsgemeinschaften zu unterbleiben hat. Ein grundsätzliches Verbot religiöser Bezüge in der Schule beträfe deshalb nicht nur den Islam, sondern auch das Christentum und das Judentum und wäre praktisch der Einstieg in die laizistische Gesellschaft, die nach wie vor mehrheitlich abgelehnt wird.

Die unterzeichnenden islamischen Organisationen in Deutschland appellieren hiermit an alle Landesregierungen und die Bundesregierung, die Empfehlung des Bundesverfassungsgerichts zur Aufnahme der religiösen Pluralität in die Schule "als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz" zu beherzigen und darüber hinaus in Zusammenarbeit mit den Vertretern der Muslime in Deutschland ein ganzheitliches Konzept zur Integration und "Einbürgerung" des Islams in unserem Land zu erarbeiten. Wir danken denjenigen Personen und Institutionen, die in der bisherigen Debatte einen versöhnenden und sachlichen Beitrag geleistet haben. Es gilt eine weise und zukunftsträchtige Politik zu gestalten, die der Vielfalt und Pluralität unserer Gesellschaft gerecht wird und in der auch die Muslime als Bereicherung angenommen werden.

Im April 2004 - Die unterzeichnenden Islamischen Organisationen in Deutschland

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VI. Auswirkungen auf NRW Der Kopftuchstreit und seine Folgen Ein Überblick über die einzelnen Bundesländer Vor zwei Jahren fällte das Bundesverfassungsgericht ein Urteil im Kopftuchstreit und entschied: Das Baden-württembergische Schulministerium durfte der Lehrerin, Fereshta Ludin, nicht verbieten, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Mit diesem Urteil wurde das Verbot des Kopftuches an sich nicht gerügt, sondern bloß die mangelnde gesetzliche Grundlage für die Entscheidung der Schulbehörde. Anders gesagt: wenn die Bundesländer Gesetze verabschieden würden, die das Tragen von Kopftüchern (oder anderer religiöser Symbole) durch Lehrerinnen verbieten würden, wäre das rechtens.

Ein Überblick über den wie der Stand der gesetzlichen Regelungen in den Bundesländern ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes - Die nicht erwähnten Ostländer und Hamburg planen bisher kein Kopftuchverbot. In Schleswig-Holstein ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen:

Bremen

Die SPD von Henning Scherf war gespalten. Der Landesvorstand der Partei wollte ein Kopftuchverbot mit Einzelfallprüfung. Der Landesparteitag votierte dann allerdings strikt gegen Ausnahmen und wollte ein klares Kopftuchverbot. Die CDU-Bürgerschaftsfraktion sah sich nur bestätigt. Die SPD musste dann mit der CDU einen Kompromiss finden. Die CDU wollte ein Kopftuch-Verbot, christliche Symbole sollten aber erlaubt sein. Es kam zu schwierigen Verhandlungen, in denen die CDU sogar einen eigenen Entwurf in die Bürgerschaft einbrachte. Auch hier: Kopftuch nein, Kippa und Kreuz: Ja. Die Grünen wollten das Kopftuch generell erlauben und hatten als erste Landtagsfraktion in Deutschland überhaupt einen ProKopftuch-Entwurf in die Bürgerschaft eingebracht. Die FDP in Bremen war gegen den Entwurf der CDU und vertrat die Ansicht, dass wenn religiöse Symbole verbannt werden, dann eben alle, also auch Kippa und Kreuz und nicht nur das Kopftuch. Knapp zwei Jahre diskutierten Politiker und Experten in Arbeitsgruppen, öffentlichen Foren und auch in öffentlichen

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Landesvorstandssitzungen. Geplant hatte die SPD etwas ganz anderes: Schulen sollten in Einzelfällen das Kopftuch-Verbot umgehen können und das letzte Wort sollte dem Bildungssenator überlassen werden. Daraus wird aber jetzt nichts mehr.

Es kam im Bremen sofort zu einem Verfahren, da die Schulbehörde die Übernahme einer Referendarin versuchte zu verhindern. Die Bewerberin hatte Religionskunde und Deutsch an der Bremer Universität studiert. Nach dem 1. Staatsexamen bewarb sie sich beim Senator für Bildung und Wissenschaft um die Aufnahme in das Referendariat für die Fächer Deutsch und Biblische Geschichte. Die Behörde lehnte den Antrag ab, nachdem die Bewerberin eine von ihr verlangte Erklärung, im Unterricht in “Biblische Geschichte” das Tragen eines Kopftuches zu unterlassen, nicht unterschrieben hatte. Denn das Tragen eines Kopftuches lasse den Unterricht in diesem Fach unglaubwürdig erscheinen. Die Bewerberin sah ihre Grundrechte der freien Wahl des Ausbildungsplatzes (Art. 12 Abs. 1 GG) und der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) verletzt. Die Kammer hat dem Antrag stattgegeben. Sie geht im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon aus, dass es Sache des Landesgesetzgebers ist, das zulässige Maß an religiösen Bezügen in der Schule neu zu bestimmen, nachdem ein mit zunehmender religiöser Pluralität verbundener gesellschaftlicher Wandel eingetreten ist. Solange es an einer solchen Neubestimmung fehle, könne man es einer Bewerberin für das Lehramtsreferendariat, die ein Kopftuch trage, nicht verwehren, ihre Ausbildung abzuschließen. Die Bremische Landesverfassung führe auf dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu keinem anderen Ergebnis (Beschluss vom 19.05.2005, Az. 6 V 760/05).

Baden-Württemberg

Das Anette-Schawan-Land hat als erstes Bundesland ein Kopftuchverbot mit den Stimmen von CDU, FDP und SPD verabschiedet. Inhaltlich sieht es so aus, dass das muslimische Kopftuch generell verboten ist, Kreuz und Kippa allerdings sind nicht betroffen sind, weil die "Darstellung christlicher und abendländischer Bildungswerte und Traditionen" erlaubt sind. Untersagt sind alle politischen, religiösen und weltanschaulichen Bekundungen die die Neutralität der Schule und den Schulfrieden gefährden könnten. Als solche wird das Kopftuch angesehen. Fereshta Ludin ist übrigens nach Berlin ausgewandert.

In Baden-Württemberg treibt pikanterweise die SPD-Landtagsfraktion CDU / FDP. In der Auseinandersetzung

um

Kopftücher

in

kommunalen

Kindergärten

hat

die

SPD-

Landtagsfraktion als erste Fraktion einen Gesetzentwurf vorgelegt. Den Kommunen soll da-

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mit die gesetzliche Handhabe gegeben werden, Erzieherinnen das Tragen von Kopftüchern zu verbieten, wenn die Träger der Kindergärten dies wollen. Aus Respekt vor der verfassungsrechtlich verbrieften kommunalen Selbstverwaltung sollen die Kommunen aber nicht zu einem generellen Verbot gezwungen werden. Der Fraktionsvorsitzende wies ausdrücklich darauf hin, dass dieser Gesetzentwurf aus rechtlichen Gründen Regelungen nur für öffentliche Kindergärten vorsieht, nicht aber für kirchliche Kindergärten oder solche freier Träger. Zur Begründung für den Vorstoß der SPD wies SPD-Fraktionschef Drexler in der Plenardebatte darauf hin, dass Kopftuch tragende Erzieherinnen auf muslimische Mädchen in Kindergärten ebenso einen negativen Einfluss ausüben können, wie Lehrerinnen mit Kopftuch auf muslimische Schülerinnen. „Unser oberstes Anliegen ist es, dass auch muslimische Mädchen nach dem Menschenbild unserer Verfassung erzogen werden. Dazu gehört insbesondere die Achtung der Menschenwürde und die Gleichheit von Mann und Frau. Dieses Menschenbild darf nicht in Frage gestellt werden, weder in der Schule, noch im Kindergarten.“ Zudem könne sich eine muslimische Erzieherin gerade nicht auf den Koran berufen, wenn sie im Kindergarten ein Kopftuch tragen wolle. Nach dem Koran müsse eine Muslima das Kopftuch nicht vor Kindern tragen, auch unter Frauen nicht und auch nicht unter Jungen, soweit sie noch nicht geschlechtsreif sind. Gerade im Kindergarten sei deshalb das Kopftuch kein religiöses, sondern ein politisches Symbol.

Niedersachsen

Der Landtag in Hannover verabschiedete im April letzten Jahres mit dem Stimmen von CDU, FDP und SPD eine Änderung des Schulgesetzes, die allerdings so unscharf formuliert ist, dass es seitdem schon wieder Streit gibt. "Das äußere Erscheinungsbild der Lehrkraft darf keinen Zweifel an ihrer Eignung begründen den Bildungsauftrag der Schule auch in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht überzeugend vermitteln zu können" fordert die CDU und sieht den Bildungsauftrag für die Schüler unter anderem auf der Grundlage des Christentums, während die SPD auch hier Einzelfallprüfungen anstrebte.

Saarland

Letztes Jahr verabschiedete der Landtag eine Änderung des Schulgesetzes, die gemeinsam von der CDU-Regierungsfraktion und der SPD-Opposition getragen wurde. Das Verbot beschränkt sich hier zwar nicht auf das Kopftuch, sondern verweist darauf, dass jedes Einbringen religiöser Bezüge in die Schule die Glaubensfreiheit, das Erziehungsrecht der Eltern und die staatliche Neutralitätspflicht verletzen könne. Jüdische und christliche Symbole bleiben

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aber laut Begründung möglich. Die saarländische Verfassung legt wie die nordrheinwestfälische fest, dass Schüler auf der Grundlage christlicher Bildungswerte unterricht werden sollten.

Bayern

Die starke CSU in München wollte auf jeden Fall ein klares Kopftuchverbot und hat auch eine Gesetzesvorlage mit entsprechender Medienbegleitung auf den Weg gebracht. Das Gesetz scheint aber dann doch etwas liberaler zu sein, als man für Bayern erwartet: Danach dürfen Kleidungsstücke im Unterricht nicht getragen werden, wenn sie von Schülern oder Eltern als Ausdruck einer Haltung verstanden werden können, die "mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen einschließlich den christlich-abendländischen Bildungswerten nicht vereinbar ist" Also sind christliche und jüdische Symbole ausgenommen. Aber man ermöglicht so doch eine gewisse Flexibilität, so lange die Eltern und Schüler sich nicht beschweren. Was bis jetzt nicht geschah und die die Lehrerinnen tragen ihr Kopftuch weiterhin.

Berlin

Die rot-rote Koalition einigte sich nach sehr langem Streit im März letzten Jahres auf eine Regelung, die die bisher weites gehende überhaupt ist. Beamte im Bereicht des Gerichtsund Rechtswesen, des Justizvollzugs und der Polizei sowie Lehrer Kreuze, Kopftücher oder die jüdische Kippa im Dienst nicht mehr sichtbar tragen dürfen. Damit wären alle religiösen Symbole verboten. CDU kritisiert das gleichzeitige Verbot christlicher und jüdischer Symbole als "bewusste Verunglimpfung dieser Religionen". Grundsätzliche Zustimmung dagegen von der FDP und den Grünen. Nach der Einigung: Nun gibt es tatsächlich einen Erlass des Innensenators: "Kopftuchverbot für alle Beamtinnen". Berlin ist also der erste laizistische Staat auf deutschem Boden.

Hessen

Hessische CDU zielte auf ein Verbot des Kopftuches für alle Beamtinnen im öffentlichen Dienst. Daher brachte die Union ein entsprechendes Gesetz ein. SPD und Grüne kritisieren das

Gesetz

als

verfassungswidrig,

da

es

den

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Gleichheitsgrundsatz

verletze.

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Der FDP ging das alles viel zu schnell. Die Liberalen finden die Richtung aber gut. Es folgten harte monatelange Debatten bis der Entwurf verabschiedet wurde. In Hessen trägt übrigens weit und breit keine Beamtin oder Lehrerin ein Kopftuch.

Rheinland-Pfalz

Die letzte sozialliberale Koalition auf Regierungsebene hat in Mainz grünes Licht für das Kopftuch gegeben. Bereits Ende 2003 - gegen die Opposition der CDU, die ein klares Kopftuchverbot fordert, nach dem Muster der CDU-geführten Länder.

CDU und FDP sind auf verschiedenen Holzwegen Eine Analyse der Situation in NRW von Wolfram Kuschke CDU und FDP greifen mit ihrem Gesetzentwurf ein Gesetz des Landes Baden-Württemberg auf. Innerhalb der FDP ist dieses umstritten. Einen solchen Gesetzentwurf, der letztes Jahr von der CDU eingebracht worden war, hatte sie noch in diesem Jahr abgelehnt, weil sie ihn für verfassungswidrig hielt. Der Parlamentarische Geschäftsführer Ralf Witzel hat dieses gegenüber dpa am 06. September nochmals zum Ausdruck gebracht und in diesem Zusammenhang ein Verbot aller religiösen Symbole an Schulen gefordert.

Man muss sich bei diesem auch Thema folgende Frage stellen: Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land schlagen die Zeitung auf und lesen derzeit z.B. das mit AGFA wieder ein Traditionsunternehmen schließt und tausende an Arbeitsplätzen verloren gehen. Da stellen die Bürgerinnen und Bürger doch zu Recht die Frage: "Haben die nichts besseres zu tun?" Das gerade der Fraktionsvorsitzende der FDP, Herr Papke, von der doch angeblich so wirtschaftsorientierten FDP bei diesem Thema die CDU vor sich her treibt, ist in diesem Zusammenhang umso skurriler. Das fragen sich ja auch bereits die Kirchen, wie man der Presse entnehmen kann.

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Situation in NRW

Laut der statistischen Übersicht über "Das Schulwesen in NRW aus quantitativer Sicht für das Schuljahr 2004/2005" vom März 2005 unterrichten in NRW 115.809 Lehrerinnen (Seite 7, Tabelle 1.2.5). In mehreren Interviews hat Frau Schulministerin Sommer angegeben, dass in NRW 22 Lehrerinnen unterrichten, die ein Kopftuch tragen. Mit anderen Worten: Es sind nur 0,019 % betroffen.

Man muss folgendes feststellen: Spektakuläre Konfliktfälle gibt es in NRW zurzeit nicht, aber schon jetzt existieren dienstrechtliche Regelungen, nach denen eine Lehrkraft aus dem Beamtenverhältnis ausscheidet, wenn sie Bekundungen abgibt, die gegen Verfassungsgüter verstoßen.

Zur Historie des Kopftuchstreits

Seit 1998 ist ausgerechnet eine katholische Kultusministerin, Annette Schavan, als Vorreiterin eines Kopftuchverbotes an staatlichen Schulen aufgetreten. Während es ihr in BadenWürttemberg erstmals nur um ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen geht, verlangt z.B. der rechtspolitische Sprecher der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, Michael Braun, auch ein Kopftuchverbot für Schülerinnen und die CDU in Baden-Württemberg mittlerweile ein Kopftuchverbot für Erzieherinnen.

Im September 2003 wurde Annette Schavan vom Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass Religionen vor dem Gesetz gleich zu sein haben. Religiöse Symbole an staatlichen Schulen zu verbieten, sei nicht verboten, wenn es nur alle Religionen treffe. Das Gericht hielt es aber für geboten zu erwähnen, dass sich Gründe dafür anführen ließen, "die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten."

Dies hinderte Annette Schavan nicht daran, im April 2004 ein Kopftuchverbotsgesetz in die Wege zu leiten und das christliche Kopftuch, die Nonnenkutte, davon auszunehmen, mit der Begründung, es handle sich dabei um eine Berufskleidung. Im Gesetz wurden solche Details wohlweislich ausgelassen, in der Hoffnung diesmal vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen zu können. Es gehe doch nur um das Neutralitätsgebot der Staatsschulen. Nachdem aber jetzt am 12. Oktober 2004 die Lehrerin Fereshta Ludin aus persönlichen Gründen dar-

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auf verzichtet hat, weiter gegen das baden-württembergische Kopftuchverbot zu klagen, ist es bisher nicht zu einer solchen Prüfung kommen. Dieses wird aber in absehbarer Zeit geschehen und weit reichende Konsequenzen haben.

Zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen

Alle Gutachter der Anhörung im Landtag des Jahres 2004 waren der Auffassung, dass das "Privilegium Christianum" der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfs im Wege stehe, weil es eine Ungleichbehandlung der Religionen darstelle oder zumindest als solche missverstanden werden kann. Sowohl im Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wie auch in der Begründung des Bundesverwaltungsgerichts, ist die Gleichbehandlungspflicht der Religionen ausdrücklich erwähnt. Auch Professor Battis, der in unserem Auftrag in der letzten Legislaturperiode ein Gutachten erstellt hatte, mit dem er einen vermeintlich gangbaren Weg eines Kopftuchverbotes über Einzelfallprüfungen aufgezeigt hatte, hat sein eigenes Gutachten mittlerweile öffentlich in Frage gestellt.

Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht die Novellierung des baden-württembergischen Schulgesetzes zugelassen, allerdings brachte das Urteil die Neuregelung des § 38 des Schulgesetzes in BMW um ihre Pointe. Ganz im Sinne der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts-Urteil aus dem Jahre 1975 trennte das Bundesverwaltungsgericht christlichsäkulare und christlich-religiöse Inhalte. Es reduzierte das Privilegium Christianum des § 38 auf christlich-säkulare Inhalte und damit sagt das Privilegium Christianum nicht mehr aus, als dass die landesverfassungsrechtlich verankerten Erziehungsziele und das sich darauf beziehende Verhalten mit der schulgesetzlichen Konkretisierung der Neutralität und des Schulfriedens in Einklang stehen. Damit ist die Einfügung des Privilegium Christianum mit diesem reduzierten Inhalt überflüssig und trifft nicht die eigentliche Intention. Gleichzeitig forderte das Bundesverwaltungsgericht die Klägerin in der Urteilsbegründung auch auf, das Bundesverfassungsgericht nochmals anzurufen, um zu klären, ob die Novellierung verfassungskonform wäre.

Durch die inhaltliche Reduzierung durch das Bundesverwaltungsgericht droht das badenwürttembergische Schulgesetz eine laizistische Schule zu befördern. Bisher gibt es keine endgültige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die diese Frage endgültig bewertet. Daher ist davon abzuraten einen Gesetzesentwurf mit zu tragen, der entweder alle religiösen Symbole verbietet oder Gefahr läuft verfassungswidrig zu sein. Zwar sind sich nicht alle Staatsrechtler in der Beurteilung der Konsequenzen für ein Kopftuchverbot einig,

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aber es sollte den Gesetzgeber nicht zu unüberlegtem Handeln hinreißen. Er sollte nicht ohne Not verfassungsrechtliche Minenfelder betreten, gerade im Hinblick darauf, dass es in NRW keinen akuten Handlungsbedarf gibt.

Das Kopftuch als äußere Ablehnung der demokratischen Grundordnung abzuleiten ist nicht rechtens. Grundsätzlich steht nämlich auch die mit Kopftuch unterrichtende Lehrerin unter Art. 4 GG (Religionsfreiheit). Das Verbot des Tragens religiöser Symbole bedeutet einen Eingriff in die Religionsfreiheit der Lehrerin und bedarf schwerwiegender Gründe. Dazu gehören beispielsweise andere Verfassungsgüter wie die Gleichberechtigung der Geschlechter. Der positiven Religionsfreiheit der Lehrerin steht die negative Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler entgegen. Die negative Religionsfreiheit meint nicht, dass Schülerinnen und Schüler vom Anblick anderer Religionen verschont bleiben dürfen, sondern nur, dass sie zu religiösen Bekundungen nicht gezwungen werden dürfen. Von Staatsdienern, besonders von Lehrkräften, kann man erwarten, dass sie sich in ihrem dienstrechtlichen Verhalten neutral geben d. h. jedoch nicht, dass man ihnen nicht anmerken darf, welcher Religionszugehörigkeit sie angehören. Sowohl das Bundesverfassungsgericht, wie auch das Bundesverwaltungsgericht, haben in ihren Urteilen deutlich gemacht, dass in Bezug auf die religiöse Bekleidung der Gesichtpunkt der Neutralität die Gleichbehandlung der Religionen voraussetzt.

Ein Verbot, das auf der Annahme einer abstrakten Gefahr beruht und mit dieser Begründung die Religionsfreiheit der Lehrerin einschränkt, ist nur dann verfassungsgemäß, wenn es alle religiösen Symbole verbietet. Möchte man einzelne religiöse Symbole zulassen, so muss man ein repressives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt erlassen. Für eine Zulassung von religiösen oder politischen Bekundung muss durch eine Prüfung im Einzelfall zweifelsfrei feststehen, dass eine Gefährdung von Schulfrieden und Neutralität nicht bestehen. Aber auch hier gilt zum einen der Gleichheitsgrundsatz und zum anderen geht es um eine individuelle Beteiligung an der abstrakten Gefahr d. h. eine Lehrerin muss irgendetwas mit der Deutung ihres Verhaltens durch andere zu tun haben.

Keine rechtliche Regelung notwendig Eine rechtliche Bewertung des Gesetzentwurfs für NRW von Thomas Stotko Die moslemische Lehrerin Fereshta Ludin hat in Baden-Württemberg (BW) im Jahre 1998 den Versuch unternommen, in den Schuldienst eingestellt zu werden. Dieses ist vom Ober-

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schulamt Stuttgart abgelehnt und diese Entscheidung vom Verwaltungsgericht Stuttgart, vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim und vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Jahre 2002 als richtig bestätigt worden.

Gegen diese letztinstanzliche verwaltungsgerichtliche Entscheidung hat sie sich mit einer Verfassungsbeschwerde gewehrt, woraufhin das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 24.09.2003 entschieden hat, das die vorausgegangenen Entscheidungen gegen das Grundgesetz verstoßen. Die Sache wurde deshalb vom Bundesverfassungsgericht an das Bundesverwaltungsgericht zurück verwiesen, weil für ein "Kopftuchverbot" keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage existiere.

Der Landtag BW hat dann am 01.04.2004 die gesetzlichen Grundlagen durch Änderung des Schulgesetzes geschaffen. Am 24.06.2004 hat dann das Bundesverwaltungsgericht nach der Rückverweisung auf der Grundlage des "neuen" geltenden Rechts das Kopftuchverbot als Einstellungsverbot für den Lehrerdienst akzeptiert. Gegen diese Entscheidung hat Frau Ludin keine weiteren Rechtsmittel eingelegt.

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, 24.09.2003

Das Bundesverfassungsgericht hat sich sehr dezidiert mit dem Verfahren auseinander gesetzt und hat als einen weiteren Leitsatz festgehalten, das "der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein kann."

Es gibt dann verschiedene Stellen im Urteil, in denen das Bundesverfassungsgericht deutlich macht, sich von der Interpretation des Art. 4 GG, wie sie durch das Bundesverwaltungsgericht gemacht wurde, abzusetzen. Es heißt dort:

"Art. 33 III GG richtet sich in erster Linie gegen eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion anknüpft. […]; außerdem ist das Gebot strikter Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen sowohl in der Begründung als auch in der Praxis der Durchsetzung solcher Dienstpflichten zu beachten."

"Der Staat untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger […]. Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orien-

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tierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten."

"Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden …. Auch verwehrt es der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten."

In der juristischen Literatur werden diese Ausführungen so gewertet, das seitens des BVerfG klar gemacht werden sollte, das zwar religiöse Bezüge in der Schule ausgeschlossen werden können, dann aber nach dem Gleichheitsgebot alle religiösen Bezüge, mithin auch die christlichen.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.06.2004

Der Gesetzentwurf von CDU und FDP beruft sich auf das später ergangene Urteil des BVerwG, da sich dieses dazu entschieden hat, die Regelungen in BW als vereinbar mit höherrangigem Recht, insbesondere dem Grundgesetz zu erklären.

Dabei ist fest zu halten, dass damit das BVerwG nur die Haltung erneuert hat, die bereits Grundlage der Entscheidung des Jahres 2002 war.

Es ist jedoch bekannt, dass seitens des BVerfG eine wesentlich großzügigere Auslegung des Art 4 GG vorgenommen wird. Deshalb hat das BVerwG bereits in dem o.g. Urteil sich alle Mühe gegeben, die Entscheidung mit früheren Wertungen des BVerfG zu begründen.

Sonstige juristische Stellungnahmen

Prof. Hufen von der Uni Mainz hat das BVerfG-Urteil bereits vor der Entscheidung des BVerwG wie folgt kommentiert:

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"Die Hervorhebung christlicher Traditionen und Erziehungsinhalte stellt aber eine Ungleichbehandlung der Religionen dar, die zum Schutz von Verfassungsgütern weder geeignet noch erforderlich ist". (NVwZ 2004, 578)

Professorin Sacksofsky von der Uni Frankfurt kommt zum Ergebnis:

"Zusammenfassend ist festzuhalten, dass nach der hier vertretenen Auffassung die Ablehnung der Einstellung einer Kopftuch tragenden Lehrerin nicht gerechtfertigt werden kann. Hätte das Gericht seine Ansätze einer Prüfung zu den jeweiligen Punkten konsequent zu Ende geführt, hätte es wohl selbst zu dem Ergebnis kommen müssen, dass auch mit gesetzlicher Grundlage ein Kopftuchverbot nicht zu rechtfertigen ist."(NJW 2003, 3300)

und weiter:

"In der Betonung der strikten Gleichbehandlung der Religionen ist dem Gericht uneingeschränkt zuzustimmen. Hiergegen können auch nicht Bestimmungen in Landesverfassungen angeführt werden, die positive Bezüge auf die christliche Religion enthalten47. Da das Grundgesetz als Bundesrecht nach Art 31 GG dem Landesrecht vorgeht, treten landesverfassungsrechtliche Regelungen, soweit sie einen Vorrang für das Christentum anordnen, zurück und sind nicht anwendbar. Die Gestaltungsfreiheit, die das BVerfG dem Landesgesetzgeber lässt, bezieht sich daher allein darauf, das Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule generell neu zu bestimmen. In letzter Konsequenz bahnt es damit den Weg zu einer strikteren Trennung von Staat und - auch der christlichen - Religion." (NJW 2003, 330111)

Dr. Czermak, Verwaltungsrichter a.D.:

"Es scheint leider dennoch jetzt schon festzustehen, dass das eine oder andere Bundesland in krasser Missachtung des BVerfG ein spezielles Anti-Kopftuch-Gesetz erlassen wird, das insbesondere das Kreuz unbehelligt lässt. Bayern scheint es bewusst darauf anzulegen, erneut einen Kulturkampf zu provozieren und den Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ (Art. 31 GG) auch weiterhin zu ignorieren. Dass diese Gesetze auf den Prüfstand kommen, ist vorprogrammiert. "(NVwZ 20041, 946)

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Abschließende Stellungnahme

Das Kopftuch ist nicht von sich aus ein religiöses Symbol, im Gegensatz zum christlichen Kreuz; es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Trägerinnen eines Kopftuches die Werte des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates ablehnen.

Das Tragen des Kopftuches ist durch Art. 4 GG, die Religionsfreiheit, geschützt. Das heißt aber nicht, dass die Religionsfreiheit nicht eingeschränkt ist oder eingeschränkt werden könnte. Man kann also nicht unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit "machen, was man will".

Die Religionsfreiheit findet ihre Grenze dort, wo die Grundrechte Dritter berührt sind, wo also Rechtsgüter von Verfassungsrang entgegenstehen.

Als solche Verfassungsgüter kämen in Betracht: der staatliche Erziehungsauftrag (Art. 7 I GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 II GG) und die negative Glaubensfreiheit der Schulkinder (Art. 4 I GG).

Daneben regelt Art. 33 III GG, der eine Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von dem religiösen Bekenntnis garantiert, das die Zulassung zu öffentlichen Ämtern aus Gründen nicht verwehrt werden darf, die mit der Glaubensfreiheit des Art.4 I und II GG unvereinbar seien

Die Abwägung dieser widerstreitenden Grundrechtspositionen kann bereits durch den Dienstherrn und hilfsweise durch Gerichte erfolgen; einer gesetzlichen Regelung bedurfte es nicht.

Um es klar zu stellen: Bereits heute hat niemand in unserem Land das Recht, unter Berufung auf seinen Glauben die in unserem Grundgesetz garantierten Menschenrechte und Bürgerrechte zu verletzen, egal ob er eine Kippa, ein Nonnengewand oder ein Kopftuch trägt.

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Wie ein Dach auf dem Haus Ein Kommentar von Elena Ern In Nordrhein-Westfalen, wo die meisten Ausländer leben, war bislang noch keine Entscheidung in Punkto Kopftuchverbot gefallen. Ungefähr zwanzig Lehrerinnen in NRW wären von einem Kopftuchverbot betroffen. Elena Ern hat eine von ihnen besucht.

Hanife Yilmaz sitzt im Lehrerzimmer des Ricarda-Huch-Gymnasiums in Gelsenkirchen. Sie ist Referendarin - also im abschließenden berufsvorbereitenden Dienst - und bereitet sich auf den Unterricht vor. Ihre Fächer sind Englisch, Deutsch und Türkisch. Sie trägt einen roten Pullover und eine schwarze Hose - passend zu ihrem Kopftuch. Darauf, sagt Hanife Yilmaz, haben Schüler, Schulleiter und Kollegen bisher positiv reagiert: "Ich werde genauso behandelt wie alle anderen Referendare. Es herrscht auch eine freundschaftliche Atmosphäre. Manche haben das Gefühl, dass man durch das Kopftuch irgendwie eine Distanz zu den Schülern weckt, aber ich hatte nicht das Gefühl."

Auf den ersten Blick ist das Ricarda-Huch-Gymnasium eine ganz normale Gelsenkirchener Schule. Der Ausländeranteil ist, wie in der ganzen Stadt auch, hoch. Aber die Schule sieht darin Chancen. Weil sie durch verschiedene Projekte das multikulturelle Miteinander förderte, erhielt sie den Status einer UNESCO-Schule.

"Eine Schule, viele Nationen"

An den Fenstern am Eingang kleben Flaggen verschiedener Länder. In der Mitte ein großes Transparent: "Eine Schule, viele Nationen." Hier besuchen Schüler den TürkischLeistungskurs oder lernen Türkisch als Fremdsprache. Hanife Yilmaz ist froh, dass sie an diese Schule gekommen ist.

"Ich denke schon, dass ich Glück hatte, an eine solche Schule zu kommen, die schon als Grundlage diese multikulturelle Ausrichtung hat", sagt sie. "Ich hoffe, dass das auch so weitergeht. Die aktuelle Schulleitung legt wirklich sehr viel Wert auf multikulturelle Erziehung, beziehungsweise interkulturelle Erziehung. Und das finde ich auch sehr wichtig. Da sollten auch andere Schulen ruhig offen für diese Konzepte sein. Wobei dieses Kopftuch immer eine Streitfrage war und ist. Manche sehen das ja nicht als Teilaspekt der multikulturellen Gesellschaft sondern als etwas ganz anderes."

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Kopftuch ist Zeichen der Religion

Doch Hanife Yilmaz wehrt sich gegen den Vorwurf, sie könne Schüler mit ihrem Kopftuch missionieren oder indoktrinieren. Wie jede andere Lehrerin auch wolle sie einfach ihre Fächer gut vermitteln. Außerdem werde sie von niemandem dazu gezwungen, das Kopftuch zu tragen. Das Tuch sei lediglich ein Zeichen ihrer Religion. Die Entscheidung es aufzusetzen, habe sie selbst getroffen, nach dem Abitur. Doch vor allem seit dem so genannten "Kopftuchstreit" werde sie häufig gefragt, warum sie das Kopftuch trage. Grundsätzlich gebe sie da gerne eine Antwort. Doch alles habe seine Grenzen:

"Für mich wäre das kein Problem, das könnte man jederzeit thematisieren. Andererseits empfinde ich das als eine Belastung, wenn ich das jedes Mal noch mal problematisieren müsste. Und mich jedes Mal neu erklären, neu definieren, neu präsentieren müsste."

Teil des Persönlichkeitsrechts

Andreas Hüwe, Deutsch- und Geschichtslehrer am Ricarda-Huch-Gymnasium, hat dafür Verständnis:

"Ich bin der Meinung, dass das Kopftuch nur Ausdruck ist einer persönlichen und auch glaubensmäßig begründeten Lebenseinstellung und insofern zum Persönlichkeitsrecht gehört. Genauso wie jemand in Diskussionen ständig zum Ausdruck bringen kann, dass er ein ganz, ganz gläubiger Christ ist."

Den Unterricht von Andreas Hüwe besuchen auch Dillek und Türkan. Sie sind beste Freundinnen. Zusammen gehen sie in die achte Klasse. Dillek trägt ein Kopftuch, Türkan nicht. Ein Problem haben die beiden damit nicht. Auch die anderen Schüler sehen Kopftuch oder nicht als eine persönliche Entscheidung. Gleichwohl macht sich Dillek schon jetzt Gedanken darüber, welchen Beruf sie mit dem Kopftuch später ergreifen kann. Sie hofft, dass es dann in Nordrhein-Westfalen noch erlaubt sein wird, in der Schule ein Kopftuch zu tragen.

"Ich möchte später auch Lehrerin werden", erzählt sie, "und ich fände das schade, wenn das verboten würde. Wenn man keinen Einfluss auf die Kinder hat, dann könnte man ja ein Kopftuch tragen. Das Wichtige ist ja auch, den Kindern etwas beizubringen und nicht persönliche Dinge."

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"Es gehört zu mir"

Und was macht die Referendarin Hanife Yilmaz, wenn auch die Nordrhein-Westfälische Regierung Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht verbieten sollte. Darüber will sie noch gar nicht nachdenken. Nur eins weiß sie sicher: auf das Kopftuch verzichtet sie nicht:

"Es gehört zu mir. Es ist ein Teil von mir ist. Es ist nicht nur ein Tuch, das man auf seinen Kopf bindet, sondern es ist etwas Verinnerlichtes. Es ist wie ein Dach auf einem Haus. Ohne Dach würde ich mich nicht wohl fühlen. "

Streit ums Kopftuch in NRW Sendemanuskript von Beate Becker für Westpol Englischunterricht mit Kopftuch: Suad Al-Haj Mustafa ist Gymnasiallehrerin für Englisch und Deutsch. Seit einem Jahr unterrichtet sie am Georg-Büchner-Gymnasium in Düsseldorf. Ihre Eltern sind Palästinenser, sie ist in Deutschland geboren. Das Kopftuch trägt sie seit sie 18 Jahre alt ist.

O-Ton Suad Al-Haj Mustafa, Lehrerin:

"Ich bin stolz auf das, was ich bin. Ich lebe die Religion weiter, die mir meine Eltern vorgelebt haben. Die haben mich auch im Sinne des Islams erzogen. Und ich selber glaube auch und das ist der Grund, warum ich das trage."

Bald schon muß sich Suad al Haj vermutlich entscheiden, Beruf oder Kopftuch. Die Landesregierung und die Fraktionen von FDP und CDU wollen das Verbot jetzt schnell umsetzen. Besonders die FDP macht jetzt Dampf.

O-Ton Gerhard Papke, FDP, Fraktionsvorsitzender:

"Wir wollen als Freie Demokraten diesen Gesetzentwurf, den wir einbringen wollen nächste

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Woche, gerne nutzen, um damit eine breitere gesellschaftliche und politische Debatte anzustoßen, die den gesamten Bereich der so genannten Parallelgesellschaften beinhaltet. Dazu gehört auch eine Diskussion über schreckliche Fehlentwicklung wie etwa Zwangsverheiratungen oder so genannte Ehrenmorde. Das sind Symptome einer gescheiterten Integrationspolitik auch hier in NRW."

Probleme bei der Integration sind unbestritten. Doch wie kann man islamische Parallelgesellschaften verhindern? Ist das Kopftuchverbot für Lehrerinnen ein richtiger Schritt? Bewirkt er das Richtige? Tatsache ist: In NRW arbeiten weniger als 20 muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch, zumeist ohne Schwierigkeiten. Gibt es in Einzelfällen Probleme, können Behörden jetzt schon handeln. Auch in den Studienseminaren im Land gibt es so gut wie kaum Lehramtsanwärterinnen mit Kopftuch. Ein Beispiel von vielen: Essen. Hier werden zur Zeit 420 Lehrer ausgebildet.

O-Ton Sibylle Sarong, Studienseminar Essen:

"Insgesamt haben wir im Moment zwischen 15 und 20, die muslimischen Hintergrund haben, allerdings keine Frau mir Kopftuch."

Hinzu kommt: Renommierte Verfassungsrechtler bezweifeln, dass ein Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen kann, das nur islamische Symbole in der Schule verbietet. Und das macht vor allem der katholischen Kirche Sorgen.

O-Ton Prälat Karl-Heinz Vogt, Katholisches Büro NRW:

"Wir befürchten, dass bei einer Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht die Trennung von Kopftuch und Kippa, Nonnentracht, Kreuz am Revers keine Chance haben wird, sondern dass da am Ende eine Entscheidung herauskommen wird, die am Ende in Richtung französischer Laizität geht, das heißt religionsfreier Raum an den Schulen. Und das kann nicht im Sinne des Staates sein und auch nicht im Sinne der Kirche."

Zurück in die Georg-Büchner-Schule. Hier lernen über 600 Schülerinnen und Schüler, 120 von ihnen sind Muslime. Der Direktor fürchtet, dass ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen den Schulfrieden erheblich stören wird.

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O-Ton Gunter Stauf, Direktor:

"Weil dies zu Solidarisierungseffekten führt und ich brauch Harmonie und Zusammenkommen und miteinander reden und handeln und nicht trennen."

Suad al Haj ist beliebt. Die Schüler haben sie zur Vertrauenslehrerin gewählt. Sie selbst will Vorbild sein, gerade auch für solche Mädchen, die wie sie ein Kopftuch tragen.

O-Ton Suad Al-Haj Mustafa, Lehrerin:

"Oft haben solche Mädchen keinen richtigen Halt oder fühlen sich nicht akzeptiert oder denken, sie haben keine Chance. Und das führt wieder dazu, dass sie glauben, sie seien hier nicht integriert und bilden dann so eine Art Parallelgesellschaft. Und das ist eigentlich das Beste, was ich machen könnte, denen vorleben, das es geradezu falsch ist, eine Parallelgesellschaft zu leben sondern dass wir Teil dieser Gesellschaft sind."

Teil dieser Gesellschaft und das mit Kopftuch in der Schule. Ein Verbot würde Frauen wie Suad al Haj nicht gerecht. Das Problem von Integration ist vielschichtig, einfache Antworten gibt es nicht.

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