Religionsgemeinschaft - Hanns-Seidel

January 12, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Religionswissenschaft, Islam
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aktuelle analysen 28

Peter L. Münch-Heubner

Zwischen Konflikt und Koexistenz: Christentum und Islam im Libanon

Hanns Seidel Stiftung

Akademie für Politik und Zeitgeschehen

aktuelle analysen 28 Peter L. Münch-Heubner

Zwischen Konflikt und Koexistenz: Christentum und Islam im Libanon

ISBN 3 - 88795 - 243 - X © 2002 Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Akademie für Politik und Zeitgeschehen Verantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur) Redaktion: Wolfgang D. Eltrich M.A. (Redaktionsleiter) Barbara Fürbeth M.A. (stv. Redaktionsleiterin) Paula Bodensteiner (Redakteurin) Christa Frankenhauser (Redaktionsassistentin) Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhaltsverzeichnis Vorwort................................................................................................................................5 Zusammenfassung .............................................................................................................8 Einleitung.............................................................................................................................9 1.

Maronitische Positionsbestimmungen in der Zweiten Libanesischen

Republik..................................................................................................................... 11 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3. 3.1 3.2 3.2.1

Die Maroniten und der Staat von Ta'if .....................................................................12 Die Maroniten und ihr "Vaterland"..........................................................................17 Identität und Geschichte ...........................................................................................18 Geschichtsbewusstsein und Identität der Maroniten im Libanon der Zweiten Republik ...................................................................................................................23 Die Maroniten und der Konfessionalismus ..............................................................26 Maronismus und Arabismus .....................................................................................26 Geschichtsbewusstsein und tagespolitischer Pragmatismus: Die religiöse communauté oder der Clan als zentraler Bezugsrahmen der maronitischen Identitätsfindung.......................................................................................................27 Die "arabische Identität" der Griechisch-Orthodoxen......................................32 Die Griechisch-Orthodoxen im "großsyrischen" und im arabischen Raum.............33 Die historische Rolle der Griechisch-Orthodoxen im Orient...................................36 Die "arabisch"-orthodoxe Kirche von Antiochien....................................................39 Die multiple Identität der Orthodoxen im arabischen Raum: Standortbestimmungen zwischen Vergangenheit und gesellschaftlichem Umfeld ..40 Positionsbestimmungen im Spannungsfeld von Arabismus und Libanonismus......42 Ethnizität und Identität.............................................................................................44 Positionsbestimmungen innerhalb der orthodoxen Ökumene ..................................46 Die zu'ama der Orthodoxen......................................................................................47

3.4 3.5 3.6 3.7

Die multiple Identität der Drusen ........................................................................48 Die Loyalität der Drusen..........................................................................................49 Die Drusen und ihr "Vaterland"...............................................................................52 Die Drusen, ihre Religion und der Libanon: Glaube und Geografie als identitätsstiftende Faktoren......................................................................................53 Die Drusen und das Wechselspiel der Koalitionen..................................................55 Maroniten und Drusen: zwischen Koexistenz und Konflikt ....................................56 Ideologische Ausrichtungen und drusische Allianzpolitik im Zeichen familienpolitischer Interessen...................................................................................61 Drusische Allianzpolitik im Kontext der syrischen Hegemonialpolitik...................64 Die Haltung des Drusentums zum Konfessionalismus ............................................66 Das innerdrusische und interfamiliäre Gleichgewicht in der Zweiten Republik .....68 Die Drusen und die libanesische Identität ................................................................69

4. 4.1 4.1.1 4.1.2

Die "Libanonisierung" der Muslime ...................................................................71 Die Sunniten, die unfreiwilligen Libanesen.............................................................73 Die Sunniten und der arabische Nationalismus ........................................................75 Die Sunniten und die "Häresie" der Shi'a.................................................................76

3.2.2 3.2.3 3.3

4 4.2 4.3 4.4 4.5

Die Libanonisierung der Sunniten............................................................................77 Die Clans der Sunniten.............................................................................................78 Sunnitische Clansinteressen und die "Loyalität" zum Staat Libanon......................79 Die Gesellschaftsstrukturen bei den Sunniten: Persistenz und Fluktuation.............82

5. 5.1 5.2

Die Identität der Schiiten zwischen Arabertum, Islam und Libanonismus .....83 Die Schiiten im politischen System des Libanon.....................................................85 Arabismus, Islamismus und Libanonismus als widerstreitende Elemente im schiitischen Selbstverständnis ..................................................................................88 Die arabische Identität der libanesischen Schiiten...................................................88 Die islamische Identität der libanesischen Schiiten.................................................90 Die libanesische Identität der Schiiten.....................................................................93 Das libanesisch/schiitisch-syrisch-iranische Beziehungsdreieck.............................94 Die Identität der Schiiten nach Ta'if.........................................................................96

5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.4 6. 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.5 6.6 6.6.1 6.6.2 6.6.3 6.7 6.8

7.

Der "Islamische Staat" und die "Toleranz des Islam": interreligiöse Koexistenzvorstellungen im Islam ........................................................................98 Das Bürgerrecht der Nicht-Muslime im Dar 'ul-Islam.............................................98 Die Schurut 'adh-Dhimma: die rechtlichen Grundlagen des Daseinsrechts von Nicht-Muslimen in der islamischen Welt ...............................................................102 Der Islam vo n Najran als Gegenmodell zur Schurut 'adh-Dhimma? .....................104 Najran und das 'Prinzip der Gleichheit' ..................................................................104 Die Entwicklung eines Besatzungsstatutes zum Minderheitenrecht......................106 Rechtstheorie und Rechtspraxis .............................................................................107 Minderheitenrecht versus Minderheitenpolitik ......................................................108 Die Dhimma: Bürgerrecht, Minderwertigkeitsstatus oder Privileg? ......................110 Die koranischen Grundlagen der islamischen Minderheitengesetzgebung und die "Machtlosigkeit" der Dhimmis ..................................................................110 Die Schurut-rechtlichen Grundlagen des modernen "Islamischen Systems" und die "Autonomie" der nicht-muslimischen Gemeinschaften im Dar 'ul-Islam.111 Das islamische Minderheitenrecht in der Geschichte: Toleranz, Intoleranz, Pragmatismus und Sachzwänge .............................................................................114 Die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des Dhimmi...............................................116 Die Rechtspraxis islamischer Minderheitenpolitik zwischen pragmatischer Flexibilität und Prinzipientreue ..............................................................................117

Grenzen und Möglichkeiten interreligiöser Koexistenz: der Libanon, ein Lehrbeispiel?..................................................................................................120 7.1 Das Modell der westlichen Demokratie zwischen Orient und Okzident: Demokratie und ethnische Fragmentierung............................................................120 7.2 Die Persistenz des "orientalischen Mosaiks"..........................................................127 7.2.1 Das "orientalische Mosaik" und der Gruppenpluralismus: Koexistenz nur auf Distanz....................................................................................................................128 7.2.2 Koexistenz im Orient: Nebeneinander statt Miteinander .......................................131 7.3 Der Gegensatz zwischen Orient und Okzident und nicht zwischen Islam und Christentum ...........................................................................................................133

5

Vorwort Schon lange vor den Ereignissen des 11. September 2001 waren nicht nur die grundlegenden Fragestellungen zu dieser Arbeit, sondern auch das Vorwort selbst bereits ausgearbeitet. Die Geschehnisse von New York und Washington haben einigen jener grundsätzlichen Fragen, mit denen sich Wissenschaftler auseinander setzen, die sich mit Orient und Okzident gleichzeitig beschäftigen, ein Maß an tagespolitischer Aktualität verschafft, das dem Themenbereich der Begegnung dieser beiden Kulturkreise in seiner Gesamtheit auch ohne die Herausforderung durch radikale Islamisten schon seit langem hätte zukommen müssen. Man muss als Historiker kein Anhänger der umstrittenen Huntington'schen Thesen sein und man muss sich als Wissenschaftler vor Verallgemeinerungen jedweder Art hüten. Doch schon die Beschäftigung mit der "Entstehung des frühneuzeitlichen Europa", mit jener Epoche, in der, mit dem Historiker Richard van Dülmen zu sprechen, dieser Kontinent jene "Kräfte hervorbrachte", die den "Durchsetzungsprozess der modernen Gesellschaft" in Gang setzte, führt unweigerlich zu jenen Umwälzungen, die die geschichtlichen Entwicklungen in Abendland und Morgenland in unterschiedliche Bahnen lenkten. Denn aus "universalhistorischer Perspektive" gesehen stand Europa, stand dessen "spätmittelalterliche Gesellschaft bis ins frühe 16. Jahrhundert hinein noch auf der Stufe anderer bekannter außereuropäischer Hochkulturen", und damit auf einer Stufe mit den "orientalischen und asiatischen Reichen". 1 Es ist durchaus kein Zeichen für eine so genannte "Arroganz des Westens", diese seit der frühen Neuzeit faktischen Entwicklungen und Divergenzen anzuerkennen, führten sie seither doch zu all jenen sozioökonomischen und soziokulturellen Asymmetrien zwischen Orient und Okzident, die die abendländisch-morgenländischen Disparitäten seither zu begründen sche inen. Nicht zuletzt auch in der Epoche des Kolonialismus und der europäischen Mandatsherrschaft und mit dem stärker werdenden Gefühl, dem Abendland gegenüber hoffnungslos ins Hintertreffen zu geraten, wurde im Orient schon im 19. Jahrhundert die "Wiederentdeckung" des "verloren gegangenen Kapitels der Vergangenheit" zum Leitmotiv eines Vorhabens, das es sich zum Ziel setzte, "(...) eine neue Form des Selbstbewusstseins", der "Identität und Aspiration zu definieren". 2 Den "Rückgriff auf die Geschichte" als Grundlage für ein erwachendes Nationalempfinden und auch den "(psychologisch verständlichen) Drang nach Selbstverherrlichung", der "oft echte historisch-kritische Forschung verhindere"3 , aber kannte nicht nur der arabische Nationalismus. Auch Europa hat mit der Instrumentalisierung der Historie und Historik zur Rechtfertigung nationalistisch-chauvinistischer Ansprüche Erfahrung genug machen müssen. Doch während Theodor Schieder schon vor drei Jahrzehnten in den Industriegesellschaften des Westens ein abnehmendes Geschichtsbewusstsein, ja ein "ahistorisches und antihistorisches Denken", einen "antihistorischen Affekt" in der Bevölkerung konstatierte 4 , schrieb Werner Ende für den Orient, dass dort z.B. in "(...) Ländern, in denen Sunniten und Schiiten zusammenleben, (...) ein Buch über die Umayyaden" (die erste islamische Herrscherdynastie 1

Dülmen, Richard van: Entstehung des frühzeitlichen (sic) Europa 1550-1648; Weltbild Weltgeschichte, Band 24, Augsburg 1998, S.9f.

2

Lewis, Bernard: History. Remembered, Recovered, Invented; Princeton/New Jersey 1975, S.10.

3

Ende, Werner: Arabische Nation und islamische Geschichte. Die Umayyaden im Urteil arabischer Autoren des 20. Jahrhunderts. Beiruter Texte und Studien, Band 20, Beirut 1977, S.3.

4

Schieder, Theodor: Ohne Geschichte sein? Geschichtsinteresse, Geschichtsbewusstsein heute. WalterRaymond-Stiftung, Kleine Reihe, Heft 3, Köln 1973, S.8 u. 12.

6 im 7. und 8. Jahrhundert, Anm. d. Verf.) "auch heute noch ein Politikum darstellen" und innenpolitische Krisen herbeiführen kann. 5 Auch was Geschichte nicht als Wissenschaft, sondern als "Form der Erinnerung, des Gedächtnisses einer menschlichen Gruppe" anbetrifft, beklagte Schieder schon früh den "Verlust geschichtlicher Elemente im täglichen Leben"6 in den europäischen Gesellschaften. Lewis hingegen verwies auf eine durch die enge Verbindung von Religion und Historie, von Glaube und Politik gegebene Kontinuität im islamischen Geschichtsbewusstsein lange vor der politischen Geschichtsschreibung des arabischen Nationalismus. Für einen Muslim, so schreibt er, ist die "Geschichte, die ihn angeht", diejenige "des Propheten, der Kalifen und ihrer Nachfolger." Seine "Helden" waren und sind "die Kämpfer in den Heiligen Kriegen des Islam (...)"7 . In Europa hingegen würde man mit der Frage, wer denn Locke, Hobbes oder Montesquieu gewesen seien und was sie geschrieben haben und damit mit der Frage nach den geistigen Fundamenten unserer heutigen Gesellschaftsordnungen, außerhalb von Akademikerzirkeln und der Kreise jener, die mit Politik zu tun haben, 'auf der Straße' nur auf diffuses Rudimentärwissen stoßen. Die von Schieder schon vor dreißig Jahren erwähnten "Hinweise auf die historischen Bedingtheiten unserer Gegenwart", die schon damals gerne "überhört" wurden, weil dem an "eine technisch immer perfektere Welt" glaubenden "Menschen eine neue, (...) Zukunft" vor Augen schwebte, "die von jeder Wurzel in der Vergangenheit abgeschnitten ist"8 , stoßen heute umso mehr bei den 'Kids' einer Spaßgesellschaft auf taube Ohren, die allgemein davon ausgeht, dass der Strom nur aus der Steckdose kommt. Konfrontiert heute mit dem religiös-politisch motivierten Geschichtsbewusstsein in der islamischen Welt, sollte so auch ein erstarkendes Interesse an dieser anderen "Welt" verbunden sein mit einer Rückbesinnung auf das eigene geschichtliche Herkommen. Denn nur wer seine eigene Kultur kennt, kann einen interkulturellen Dialog wirklich führen, ohne dabei seine eigene Identität restlos aufzugeben. Dies scheint in der Begegnung von Okzident und Orient umso notwendiger, da jenes "Geschichtsbewusstsein", das schon Schieder als Grundlage eines natürlichen Selbstverständnisses in Europa "gefährdet" sah, im Orient sehr wohl noch das darstellt, was der Historiker generell als "einen bis ins alltägliche Leben hineinreichenden Zusammenhang gegenwärtigen Lebens mit der Vergangenheit" bezeichnet. 9 Und während ein Appell für ein stärker ausgeprägtes "Interesse an der Geschichte" in Europa zwangsläufig mit der Warnung verbunden bleiben muss, die Fehler der politischen Geschichtsschreibung der Vergangenheit nicht zu wiederholen, zeigt die Beschäftigung mit den im Orient anzutreffenden Geschichtsbildern, dass hier in der erinnerten Geschichte – und oft auch noch in der wissenschaftlichen Disziplin – eine "'Entzauberung' der Überlieferung" wie im Okzident 10 noch nicht stattgefunden hat. Sicher ist es, wie schon Hugh Trevor-Roper eingeworfen hat, für die Geschichtswissenschaft generell beinahe unmöglich, die "Vergangenheit" "mit mathematischer Präzision und totaler Objektivität" zu 'rekonstruieren', da auch der "'objektivste' aller

5

Ende, S.5.

6

Schieder, S.7 u. 28.

7

Lewis, S.32.

8

Schieder, S.7 u. 33f.

9

Ebd., S.5.

10

Ebd., S.30.

7 Historiker" von "subjektiver Erfahrung" "eingefangen" bleibt. 11 Und auch in Europa ist das 'normale' "zeitgenössische geschichtliche Bewusstsein" immer auch dem zeitgenössischen "politischen Denken" unterworfen. 12 Überall auf der Welt findet im Bereich des "Daseinsoder Weltverständnisses" der Menschen eine von subjektiven Perzeptionen beeinflusste "rückblickende Deutung geschichtlicher Entwicklungen" statt. 13 Das "historische Selbstverständnis der muslimischen Völker", bzw. deren "historische Selbstsicht"14 wurde und wird neuzeitlich aber in überdeutlichem Maße von der 'Auseinandersetzung' mit dem 'Westen' und dem damit verbundenen und zum kollektiven Trauma hochstilisierten "Rückzug" des Islam vor den europäischen Mächten in den letzten Jahrhunderten geprägt. Weiter eingefräst in das Denken der Menschen hat sich so auch die vom traditionellen islamischen Weltbild von alters her vorgegebene "signifikante Division" der gesamten Erde in das "Herrschaftsgebiet", das "Haus des Islam (Dar 'ul-Islam) und das "Herrschaftsgebiet", das "Haus des Unglaubens" bzw. "Krieges" als dem "Rest."15 Die "Herrschaft fremder Völker" in diesem Dar 'ul-Islam akzeptierte die neue islamische Historiografie nie und so sah sie es als ihre Aufgabe an, eine "Antwort auf die" in ihren Augen "verwüstende Einwirkung des Westens und das Empfinden der Inferiorität" zu geben. 16 Nicht objektive Auseinandersetzung und forscherischer Erkenntnisdrang, sondern "emotional satisfaction"17 wurde so zum Ziel der arabisch-nationalen wie der neueren islamischen Geschichtsschreibung, deren funktionale Bedeutung in der Politik des Nahen Ostens damit zuerst ins Auge fällt. Diese politisch funktionale Bedeutung von Geschichtsbild und Historik tritt auch und ganz besonders deutlich im Libanon zu Tage, wo unterschiedliche Religions- bzw. Volksgruppen ihre jeweiligen tagespolitischen Ansprüche und Forderungen aus der Geschichte ableiten und wo eine christliche Gemeinschaft ihr eigenes 'orientalisches' Geschichtsbild dem ihrer Nachbarn entgegenhält und wo diese einander gegenüberstehenden Formen von Geschichtsbewusstsein das Zusammenleben von Christen und Muslimen anscheinend unmittelbar beeinflusst haben.

11

Trevor-Roper, Hugh: History and Imagination, in: Hugh Lloyd-Jones Valerie Pearl/Blair Worden (eds.): History & Imagination, New York 1982, S.356.

12

Bergstraesser, Arnold: Weltpolitik als Wissenschaft. Geschichtliches Bewusstsein und politische Entscheidung; Neue Freiburger Beiträge zur Politikwissenschaft, Bd.1, Köln/Opladen 1965, S.206f.

13

Kindermann, Gottfried-Karl: Weltverständnis und Ideologie als Faktoren Auswärtiger Politik, in: Kindermann, Gottfried-Karl (Hrsg.): Grundelemente der Weltpolitik, München 1986³, S.145.

14

Ende, S.2.

15

Lewis, S.100.

16

Ebd., S.75.

17

Zitiert bei Ende, S.3.

8

Zusammenfassung Geschichte prägt Identität. In vielen Weltregionen hat dieser Satz auch im Zeitalter der Globalisierung nicht seine Gültigkeit verloren. Besonders im Orient und ganz speziell im Libanon ist die Bindung von Volks- bzw. Religionsgruppen an ihre eigene Geschichte, über die diese Gemeinschaften ihre kollektive Identität definieren, noch von sehr ausgeprägter Natur. Leben, wie im Libanon, sehr viele solcher "Wir-Gruppen" auf einem sehr kleinen Raum mit- bzw. nebeneinander, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Rückwirkungen solch unterschiedlicher und einander ausschließender und damit miteinander konfligierender Formen von Geschichts- und Selbstbewusstsein auf die Koexistenzmöglichkeiten in diesem Raum und auch auf die Koexistenzvorstellungen in den Gruppen selbst. Wo, wie im Libanon, die einzelnen "in-groups" ihre kollektive Identität nicht unwesentlich durch eine bewusste Abgrenzung von allen anderen "out-groups" gewonnen haben, wo jede "in-group" ihre eigene, distinkte und exklusive – erinnerte oder auch niedergeschriebene – Geschichte hat, kann das europäische Konzept eines Nationalstaates mit einem einheitlichen Staatsvolk, das eben eine Geschichte hat, den Verhältnissen des sog. "orientalischen Mosaiks" kaum Rechnung tragen. Umso fragwürdiger erscheint es daher auch, wenn gerade in einer ethnisch bzw. religiös fragmentierten Gesellschaft wie der libanesischen ein Nationsbildungsprozess nach europäischem Vorbild in Gang gebracht werden sollte. So entstand denn auch aus den vielen Volksgruppen-Historien keine libanesische Nationalgeschichte, so erwuchs aus den vielen Einzelgruppen-Identitäten keine nationale, gesamt-libanesische Identität. Das Ergebnis dieses Unterfangens war dann auch state-building ohne nation-building. Da das Identitätsbewusstsein bei einigen Volksgruppen wie den Drusen und den GriechischOrthodoxen im letzten Jahrzehnt bereits Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und von Einzelfallstudien war, richtet diese Studie ihren Blick auf die aus diesen religiösen bzw. ethnischen Formen des Selbstempfindens bei allen wichtigen communautés des Libanon herrührenden Vorstellungen über das Zusammenleben mit den jeweils anderen Volksgruppen. Da dieses Koexistenzmuster im Land der Zedern aber keinen Sonderfall im Orient darstellt, sondern vielmehr im Kontext des viel zitierten sog. "orientalischen Mosaiks" zu sehen ist, erschien auch ein Blick auf die Grundlagen der jahrhundertealten Koexistenzmodelle der hierarchischen Gruppenpluralismen in den ethnisch fragmentierten Gesellschaften der Region notwendig, deren Erfahrungen in das libanesische Verfassungsmodell eingeflossen sind. Da dieser Punkt auch unmittelbar mit dem Thema des "Islamischen Staates" zusammenhängt, erfolgte auch eine eingehendere Auseinandersetzung mit den im Islam anzutreffenden generellen Vorstellungen bezüglich einer Koexistenz mit anderen Religionen wie dem Christentum. Die hieraus gewonnenen Resultate und Erkenntnisse sowie auch die grundsätzliche Fragestellung, inwieweit die Ausgangsbedingungen im Rahmen des "orientalischen Mosaiks" mit seinen gruppenbezogenen Identitäten und seinen eben auf diese Gruppen – und nicht auf das Individuum – bezogenen Bürgerrechten mit dem westlichen Modell einer liberalen Demokratie konfligieren, sind so nicht nur für den 'libanesischen Einzelfall', sondern überall dort von Bedeutung, wo es künftig um das Zusammenleben von Muslimen und Christen bzw. von Orientalen und Okzidentalen und dessen – anders als im Libanon – konstruktive Gestaltung geht.

9

Einleitung Am 5. November 1989 billigte das libanesische Parlament das Abkommen von Ta'if, am 21. August 1990 wurden von der Kammer die dieser Übereinkunft entsprechenden Verfassungsänderungen verabschiedet. Aus eigener Kraft heraus war der libanesische Staat zu einer solchen Verfassungsreform nach fünfzehn Jahren Bürgerkrieg allerdings nicht mehr in der Lage gewesen. Die Arabische Liga selbst hatte ihre Mitgliedsstaaten Saudi-Arabien, Marokko und Algerien damit beauftragt, eine Lösung für den Libanon-Konflikt und damit auch eine Formel für die zukünftige Gestaltung der interethnischen bzw. interreligiösen Koexistenz in diesem Land zu finden. Und so tagten die 62 Abgeordneten des libanesischen Parlaments, die über das von einem Komitee der Arabischen Liga ausgearbeitete "Dokument für die nationale Verständigung" berieten, auch nicht in Beirut, sondern im saudi-arabischen Ta'if. Trotz all dieser widrigen Umstände wurde das Abkommen von Ta'if zum Verfassungsdokument für die auf der arabischen Halbinsel aus der Taufe gehobenen Zweiten Libanesischen Republik. In Ta'if wurde die Aufhebung der "Vormachtstellung" der christlichen Glaubensgemeinschaften im Libanon beschlossen. Die Grundlagen des ungeschriebenen Nationalpaktes von 1943 aber blieben bestehen: So soll der Staatspräsident auch weiterhin ein Maronit sein, der Premierminister ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Abgeändert wurde allerdings das Schema der Kompetenzverteilung zwischen den Exekutivorganen. Eingeschränkt wurde die Allmacht das maronitischen Staatsoberhauptes, bei dem vor Ta'if noch die Exekutivgewalt angesiedelt war. Heute kann der Präsident nun u.a. nicht mehr nach eigenem Willen den Regierungschef und seine Mannschaft, auf die nun die exekutive Macht übergega ngen ist, ernennen und entlassen. Auch können ein Präsident und ein ihm genehmer Premier heute nicht mehr wie ehedem im Falle einer – im Libanon eben nicht seltenen – Krise am Parlament vorbei Gesetze beschließen. Einen präsidialen Alleingang gibt es auch beim Abschluss internationaler Verträge nicht mehr. Was den "politischen Konfessionalismus", d.h. "das Prinzip des konfessionellen Proporzes also oder der Verteilung von Positionen und anderen Ressourcen auf der Grundlage konfessioneller Zugehörigkeit"18 anbetrifft, so sollte hier eine Abkehr von diesem seit 1943 die christlichmuslimische Koexistenz regelnden und bestimmenden System in die Wege geleitet werden. Für eine Übergangsphase allerdings sollte dieses konfessionalistische Proporzsystem im Parlament etwa noch fortbestehen bzw. den veränderten Mehrheitsverhältnissen in der Bevölkerung angeglichen werden. Denn der alte Proporz, der noch bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahre 1975 auf einem Zensus aus dem Jahre 1932 beruhte und der den christlichen "communautés" z.B. im Parlament 53 der insgesamt 99 Sitze garantierte, entsprach den demografischen Realitäten schon lange nicht mehr. Im neuen und erweiterten Parlament der Zweiten Republik sitzt nun eine gleiche Anzahl von christlichen und muslimischen Abgeordneten. Doch von dem allseits erhofften, aber schon von Volker Perthes mit einem Fragezeichen versehenen "gesellschaftlichen Konsens" scheint man im Libanon auch im Jahre 2001 noch weit entfernt. "Denn", so schreiben Mireille Duteil und Issa Goraïeb in einem Bericht über die jüngsten innenpolitischen Spannungen, "zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, fühlt sich eine Anzahl von Christen noch immer benachteiligt."19 18

Perthes, Volker: Der Libanon nach dem Bürgerkrieg. Von Ta'if zum gesellschaftlichen Konsens? Baden-Baden 1994, S.20.

19

Liban: Les chrétiens à l'épreuve, in: Le Point, n.1510, 24 août 2001.

10 Über ihr eigenes "politisches Schicksal" könnten sie heute nicht mehr mitbestimmen, so lauten die Klagen, und dies vor allen Dingen auf Grund der starken syrischen Einflussnahme auf ihr und in ihrem Land. Tatsächlich haben das Abkommen von Ta'if und in dessen Folge der "Vertrag über Bruderschaft, Zusammenarbeit und Koordination" und der "Vertrag über Verteidigung und Sicherheit", abgeschlossen am 22. Mai und am 1. September 1991 mit Syrien, dem Land der Zedern einen, wie Perthes es formuliert, "sicherheitspolitischen Vasallenstatus" seinem großen Nachbarn gegenüber beschert. 20 Die Kontrolle, die Damaskus heute über die Außen- und Sicherheitspolitik des Libanon ausübt, die heute z.B. vertragsrechtlich der syrischen Führung eingeräumte Möglichkeit, im Libanon jederzeit eingreifen zu können, wenn sie durch Vorgänge dort die Sicherheit im eigenen Land gefährdet sieht, zeigen, dass einer der beiden Vertragspartner hier nicht mehr über Souveränität in vollem Umfange verfügt. Doch neben all diesen Problemfeldern scheint es vor allen Dingen ein Punkt des Abkommens von Ta'if zu sein, an dem sich im Libanon auch heute noch die christlichen und die muslimischen Geister scheiden: an dem der "Identität" ihres Landes.

20

Perthes, S.33.

11

1.

Maronitische Positionsbestimmungen in der Zweiten Libanesischen Republik

Im Februar und im März 2001 bereisten die beiden 'ranghöchsten' Maroniten des Libanon die westliche Welt. Staatspräsident Emile Lahoud 21 machte sich Anfang März auf den Weg nach Europa, nachdem der Patriarch der Maronitischen Kirche, Nasrallah Boutros Sfeir, schon Mitte Februar zu einer Nordamerika-Reise aufgebrochen war. In Rom fanden die Worte von Papst Johannes Paul II, dass der Libanon ein "Modell (...) für Koexistenz zwischen allen Parteien und Gemeinschaften" sei und es ein solches auch bleiben soll, die ungeteilte Zustimmung des libanesischen Präsidenten. 22 Auch Kardinal Sfeir bezog sich auf seiner Reise durch die USA und bei seinen Reden vor den dortigen maronitischen Gemeinden auf das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche und zitierte Johannes Pauls Ausspruch vom "Libanon" als einer "Botschaft" für die Welt und einem "Beispiel für Dialog und Zusammenleben." Doch gleichzeitig wollte er diese "sentimentale" durch eine "realistische" Sichtweise der Dinge in seinem Heimatland ergänzt wissen. So forderte er die "libanesische Gemeinschaft" der USA und deren Mitglieder dazu auf, sich bei der "Amerikanischen Administration" für das "Land Eurer Vorfahren" einzusetzen, damit dieses seine "volle Unabhängigkeit, Souveränität und Entscheidungsfreiheit" wiedererlangen könne. 23 Wenige Tage später traf Sfeir in Washington mit Kongressabgeordneten "libanesischer Abstammung" zusammen. Bei einem Lunch im Repräsentantenhaus rief er die Vereinigten Staaten, die beim Zustandekommen des Abkommens von Ta'if "Pate standen", dazu auf, auch dessen Durchführung zu Gewähr leisten und die Syrer zum Abzug ihrer Truppen aus dem Libanon zu bewegen. 24 Wenn Staatspräsident Lahoud hingegen von "Rückzug" spricht, so meint er – wie auch in Rom – den der Israelis "aus allen besetzten arabischen Gebieten."25 Die "syrische Präsenz" in seinem Land jedoch bezeichnet er als "legitim und temporär"26 , zumindest solange die Gola nhöhen und die Shebaa Farms auf libanesischem Territorium israelisch besetzt sind. Auf eine weniger "temporäre" syrische Truppenpräsenz indes deuten seine Äußerungen hin, die davon sprechen, dass ein "Syrian pullout" zum gegenwärtigen Zeitpunkt die innere Sicherheit des Landes gefährde. 27 21

Bei der Transkription arabischer Eigennamen wurde im Text auf jene Schreibweisen zurückgegriffen, die in den englisch- und französischsprachigen Veröffentlichungen im Libanon verwendet werden. Da in Zitaten die Transliterationssysteme der jeweils angeführten Autoren übernommen wurden, ergeben sich bei einigen Familiennamen oft unterschiedliche Schreibweisen, z.B. Jumblatt, Joumblatt, Junblat, Junbalat etc.

22

Pope praises Lebanon's co-existence. Pontiff expresses support during Lahoud meeting, in: The Daily Star (Beyrouth), 3.3.2001, http://www.dailystar.com.lb/03_03_01/art2.htm (Abgerufen am 6.3.2001).

23

Eparchy of Saint Maron of Brooklyn: Patriarch's Visit to the United States Press Releases Detroit Banquet, February 21, 2001. http://www.stmaron.org/patriarch_press_releases-html (Abgerufen am 15.3.2001) S.7.

24

Sfeir host of honor at Congress business lunch; Lebanon.com Newswire - Local News March 9 2001; http://www.lebanon.com/news/local/2001/3/9.htm (Abgerufen am 15.3.2001), S.2f.

25

Pope praises Lebanon's co-existence.

26

Lebanese President defends Syrian presence in Independence address; Lebanon.com Newswire – Local News November 23 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/11/23.htm (Abgerufen am 27.11.2000).

27

Lahhoud (sic): no Syrian pullout from Lebanon as long as Golan and Shebaa remain occupied; Lebanon.com Newswire – Local News November 10 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/11/10.htm (Abgerufen

12 Ein solches Linkage, das den Abzug der Syrer von einem Friedensvertrag zwischen Jerusalem und Damaskus abhängig macht 28 , wird jedoch von Sfeir, dem "geistlichen Führer der größten christlichen Gemeinschaft des Libanon" strikt abgelehnt. 29 Denn solange Damaskus die "Hegemonie" über den Libanon ausübe, habe dieses Land "keine Wahl, keine Souveränität und keine Unabhängigkeit". 30

1.1

Die Maroniten und der Staat von Ta'if

Das Verhältnis des indes nicht nur 'spirituellen' Führers der maronitischen Gemeinschaft zur weltlichen Staatsmacht der "Post-Ta'if-Ordnung" war und ist selten frei von Spannungen. Die Äußerungen Sfeirs, dass ein libanesischer Staatspräsident "frei gewählt" werden "und unabhängig von fremden Mächten" sein sollte und er nicht eine "Geisel irgendeiner fremden Macht" sein darf31 , haben schon Lahouds Vorgänger Hrawi verärgert, der sich durch solche Statements zu einem syrischen Statthalter degradiert sah. Und obwohl Hrawis Amtszeit, so wie dies Sfeir gewünscht hatte, 1998 nicht um eine weitere Amtsperiode verlängert wurde, konnte sich auch dessen Nachfolger nicht der Gunst des Patriarchen sicher sein, da er auch dessen Kandidatur schon von Anfang an nicht "gebilligt" hatte. 32 Mit seiner kompromisslosen Haltung dem in seinen Augen von syrischen Gnaden abhängigen Präsidentenamt gegenüber geriet Sfeir jedoch auch in Konflikt mit dem Vatikan, der nicht nur an den politischen Aktivitäten des maronitischen Kirchenoberhauptes Anstoß nimmt. So stellte schon Hrawi für Rom ohne Wenn und Aber das libanesische Staatsoberhaupt dar. Und dies, auch wenn dieser, wie die "Mehrheit der Christen" des Landes glaubte, nach den Wirren der Jahre 1988 und 1989, als keine Einigung über die Nachfolge von Präsident 'Amin 'alJumayyil (Gemayel) mehr erzielt werden konnte, "in einer Militärbaracke unter syrischer Kontrolle im Biqaa-Tal" von Damaskus zum Präsidenten "ernannt" worden war. 33 Für Rom stand angesichts des damals drohenden "Zerfalls des libanesischen Staates"34 aber "die notwendige Kontinuität staatlicher Institutionen" im Vordergrund und damit das "Prinzip der Legalität". 35

am 17.11.2000). 28

Siehe: Jumblatt supporters rally against Syrian entry ban; in: Arab News, 13.11.2000.

29

Cardinal Sfeir Calls on Syrians to Get Out; Lebanon.com Newswire – Local News August 23 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/8/23.htm (Abgerufen am 5.9.2000).

30

Sfeir reiterates calls for Syrian withdrawal from Lebanon; Lebanon.com Newswire – Local News November 13 2000, http://www.lebanon.com/news/local/2000/11/13.htm (Abgerufen am 17.11.2000).

31

Sfeir calls for free election; Lebanese News – 10-8-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/August98/10_8_98/N9.HTM (Abgerufen am 27.1. 2000).

32

All eyes on Hariri as Sfeir's comments puzzle observers; Lebanese news- 29-9-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/September98/29_9_98/N13.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

33

Dagher, Carole H.: Bring Down the Walls Lebanon's Postwar Challenge, New York 2000, S.92.

34

Perthes Volker: Der Libanon nach dem Bürgerkrieg. Von Ta'if zum gesellschaftlichen Konsens? Baden-Baden 1994, S.16.

35

Dagher, S.92.

13 Die zu diesem Zeitpunkt vom damaligen päpstlichen Nuntius Pablo Puente ausgesprochene Hoffnung, dass sich die christlichen Milizen bald dazu bereitfinden würden, "rationale Beziehungen zum Ta'if-Regime" herzustellen, erfüllte sich im Jahre 1992 nicht, als die wichtigsten christlichen Gruppierungen und Parteien wie die Kata'ib und deren Miliz, die FL (Forces Libanaises), als auch die Liberale Partei der Familie Chamoun die ersten Parlamentswahlen seit Ausbruch des Bürgerkrieges boykottierten. Gefolgt waren sie damit einem Aufruf ihres Patriarchen. Begründet wurde dies mit dem Hinweis auf die syrische Truppenpräsenz im Lande, die eine Abhaltung wirklich freier Wahlen nicht zulasse. Denn den Abmachungen von Ta'if zufolge – so diese Interpretation – hätte Damaskus seine Streitkräfte bis zum Sommer 1992 in die Biqaa (Bekaa)-Ebene zurückziehen und einer wirklich souveränen Regierung die selbstständige Ausübung ihrer Amtsgeschäfte erlauben müssen. 36 So ist für die Partei der Chamoun jede Regierung seit Ta'if nur ein "Vichy style puppet government"37 . Kardinal Sfeir andererseits erklärt, dass es ihm nicht darum gehe, "die Zweite Republik in Frage zu stellen"38 , sondern darum, eine Ordnung "in Übereinstimmung mit dem Abkommen von Taef" zu schaffen, denn: "(...) Taef ist nur teilweise implementiert worden und auf eine diskriminierende Weise". 39 Doch auch Carole Dagher glaubt, erkennen zu müssen, dass die libanesischen Christen in ihrer Mehrheit die Post-Ta'if-Ordnung per se ablehnen. 40 So hätten sie heute das Gefühl, "he runtergestuft" und von allen "Entscheidungen, die die Zukunft des Libanon" betreffen, ausgeschlossen worden zu sein. 41 Oder ist es der Verzicht auf jene, das Kräfteverhältnis in der Ersten Republik so kennzeichnende "politische und ökonomische Vormacht" und auf jene nun aufgehobenen "christlichen 'Privilegien'"42 , der bewirkt hat, dass "viele Christen mit dem Staat von Ta'if heute so umgehen wie Muslims früher mit dem 'Grand Liban', nämlich, als ob der Staat, den sie nicht beherrschen, auch nicht ihr Staat (...), ihr Libanon sei". 43 Diese Entfremdung der Maroniten "ihrem" Libanon gegenüber zeigt sich auch auf eine andere, statistisch erfassbare Art und Weise, denn nicht nur Teile der politischen Elite wie der frühere Staatspräsident 'Amin Gemayel oder Emile Eddé zogen es nach Ta'if vor, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. So hat das Ende des Bürgerkriegs den Strom der christlichen Abwanderung aus dem Land der Zedern nicht abebben, sondern ganz im Gegenteil noch weiter anschwellen lassen: Haben in den Bürgerkriegsjahren von 1975 bis 1990 nach offiziellen Einschätzungen 850.000 Christen das Land verlassen – von denen nach Ta'if nur 60.000 zurückgekehrt sind 44 – so haben nach Darstellung der Maronitischen Kirche von 1990 bis 1997 weitere 700.000 Angehörige dieser Glaubensgruppe den Weg in das Exil angetreten. 45 36

Vgl. dazu Perthes, Anm.139 u. S.60f.

37

National Liberal Party: A Short Historic of the National Liberal Party; http://www.ahrar.org.lb/ahrar/nlphis.htm (Abgerufen am 17.11.2000).

38

Perthes, S.69.

39

Eparchy of Saint Maron of Brooklyn: Patriarch's Visit to the United States, Press Releases; Congressional Luncheon, Washington, D.C., March 7, 2001, http://www.stmaron.org/patriarch_press_releases_2.html (Abgerufen am 20.3.2001).

40

Dagher, S.102f.

41

Ebd., S.59.

42

Perthes, S.19 u. 21.

43

Juzif Abu Khalil, zitiert ebd., S.24.

44

Dagher, S.71.

45

Sfeir calls for the withdrawal of foreign armies. But adviser Khazen says he is not referring to Syrian troops. Lebanese News-29-8-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/August98/29_8_98/N12.HTM (Abgerufen am

14 Und auch wenn sich mittlerweile auch muslimische Libanesen, wie Carole Dagher bemerkt, "den Bataillonen der Emigranten" angeschlossen haben46 und sich heute die muslimische Auswanderung als Folge der ökonomischen Probleme "gleichauf" mit der christlichen bewegen dürfte 47 , so wiegen die Konsequenzen dieser Entwicklung für letztere doch schwerer. Dies vor allen Dingen deswegen, weil die "christliche Emigration" "oft irreversibler" ist und muslimische Auswanderer in die Golfregion z.B. eher Arbeitsmigranten sind, die nach einem gewissen Zeitraum wieder in ihre Heimat zurückkehren. Im Falle der Maroniten stellt sich zudem die Frage, ob es sich hier um eine Art Widerstand gegen eine "autoritäre Integration" der nicht-muslimischen Bevölkerung in die Post-Ta'ifOrdnung handelt, oder darum, dass – wie viele Kritiker meinen – deren Eliten von ihrem alten Vorherrschaftsanspruch nicht lassen und sich nicht als 'gleiche' Staatsbürger in den Staatsverband und die Gesellschaft integrieren lassen wollen. Solche Kritiken finden immer wieder Nahrung in Äußerungen Kardinal Sfeirs, mit denen er fordert, dass der Staatspräsident die maronitische Gemeinde und deren Interessen zu vertreten habe. Für den Parlamentsabgeordneten 'Abdel-Hamid Baydun aus Sur, der schon 1998 dem Patriarchen entgegenhielt, dass "der Präsident (...) nicht das Eigentum einer" (Religions)"Gemeinschaft" allein sein darf, ist dies der Beweis dafür, dass der politische Maronismus bzw. Maronitismus der Ersten Republik noch immer am Leben ist. Das soll heißen, dass maronitische Politiker und Kleriker noch nicht gesamt-libanesisch denken, sondern die Partik ularinteressen ihrer Gemeinschaft noch immer zu nationalen Gesamtinteressen erklären. 48 Doch von einer 'totalen' Verweigerungshaltung der Christen der politischen Neuordnung ihres Landes gegenüber kann seit geraumer Zeit schon nicht mehr gesprochen werden. Reichte im Jahre 1992 die Wahlbeteiligung bei den Nicht-Muslimen von 0,7% in Jubeil bis ca. 20% "in den restlichen christlichen Kerngebieten", – bei einer "Gesamtwahlbeteiligung" von 28,7%49 – so gingen nun bei den Parlamentswahlen im Jahre 2000 – nach einem Abbröckeln der Ablehnungsfront schon 1996 – 56% der Wähler im Kerngebiet der Maroniten und Wahlbezirk des Dschubal 'al- Lubnan zu den Urnen. 50 Die Wahlbeteiligung lag hier sogar noch höher als im Norden mit seinen mehrheitlich muslimischen Parlamentssitzen. 51 Auch 'Amin Gemayels Sohn Pierre war nun angetreten, ebenso wie der Präsident der Phala nge Partei, der Kata'ib, Mounir Hajj. Das Abkommen von Ta'if hatte die Kata'ib in drei unterschiedliche Lager aufgespalten, von denen das erste unter der Führung von Hajj schon von Anfang an versucht hatte, mit den neuen Verhältnissen nach 1989 auszukommen. Im Jahre 2000 nun zeichnet sich eine Wiedervereinigung dieses Lagers mit den anderen beiden, dem des ins Exil gegangenen Ex-Präsidenten 'Amin Gemayel und dem der Anhänger der FL ab. 27.11.2000). 46

Dagher, S.72.

47

seit 1975 35 bis 40 Prozent ihrer Angehörigen durch Emigration verloren.Ebd., S.71 u. 72. Angaben politischer Führungskreise der Drusen zufolge hat allein diese Bevölkerungsgruppe seit 1975 35 bis 40 Prozent ihrer Angehörigen durch Emigration verloren.

48

All eyes on Hariri as Sfeir's comments puzzle observers.

49

Perthes, S.66.

50

Voter turnout higher than 1996 elections; Lebanon.com Newswire – Local News August 29 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/8/29.htm (Abgerufen am 5.9.2000).

51

In den Norddistrikten erreichte sie nur 46%. Vgl. ebd.

15 Für 'Amin Gemayel, der 1992 noch zum Wahlboykott aufgerufen hatte, eröffnete vor allen Dingen der Tod Hafiz 'al-Assads und die Übernahme des Amtes des syrischen Präsidenten durch dessen Sohn Bashar neue Perspektiven für sein Land. Anlässlich seiner Rückkehr in den Libanon erklärte "shaikh 'Amin" am 30. Juli 2000 in Beirut: "(...) es wäre ein Verbrechen gegen den Libanon und das libanesische Volk, diese Möglichkeiten wahren Friedens und Neubeginns mit Syrien zu ignorieren."52 Zu den anderen Mitgliedern des Politbüros der Kata'ib hatte der frühere Staatspräsident schon zuvor Kontakt aufgenommen und "nach 14 Jahren internen Konflikts" trafen die drei Fraktionen dann im November 2000 in Beirut zu einem "Versöhnungs"-treffen zusammen. Der "Entwurf" für eine neue, gemeinsame Parteiarbeit spiegelte in wenigen Sätzen die bittere Erkenntnis wider, dass man sich 1992 durch den Wahlboykott selbst aus der politischen Landschaft verabschiedet und der Möglichkeit beraubt hatte, auf politische Entscheidungsfindungsprozesse einwirken zu können. Bezüglich der Haltung seiner Partei zur Republik von Ta'if stellte ihr Vizepräsident fest: "Ich bin sicher, dass niemand mehr zu den Kriegsjahren zurückkehren möchte. Selbst jene, die Ta'if abgelehnt haben, wissen, dass diese Übereinkunft ein Faktum ist (...)." Auch einer der erklärtesten Gegner der Post-Ta'if-Ordnung, der frühere Parteipräsident Elie Karameh, erklärte anlässlich dieser Zusammenkunft, dass man die "Existenz" dieses Abkommens nicht mehr "verleugnen" könne, da es zur "Verfassung des Landes" geworden sei. 53 Mit den neuen Verhältnissen arrangiert hatten sich zuvor schon die Clansparteien der Eddé und der Hélou. Michel Eddé war schon zu Zeiten Staatspräsident Hrawis Staatsminister. 54 Wie Perthes allerdings schon für das Jahr 1992 konstatierte, ließ sich damals die "Mehrzahl" der maronitischen zu'ama, der traditionellen Clansführer und Notabeln, "nur ungern" zu einer Befolgung des Boykotts und damit zu einem Verzicht "auf ihre angestammten Mandate"55 – und damit auf ihre Pfründe bewegen. Nur das Machtwort des Patriarchen hatte letztlich gezählt. Arrangiert haben sich die Führer dieser Clansparteien damit schon seit geraumer Zeit auch mit jenen Unregelmäßigkeiten, die Parlaments- und Kommunalwahlen im Libanon – allerdings nicht erst seit 1992 – auszeichnen. Wie Volker Perthes es formuliert, ist das "konfessionelle Wahlsystem des Libanon (...) recht kompliziert und bietet weiten Raum für Manipulationen". 56 Was die in diesem Falle von Kardinal Sfeir beklagten Manipulationsversuche von syrischer Seite anbetrifft, so fanden diese zwar nicht direkt sichtbar und "während des Urnengangs" statt. "Im Vorfeld der Wahlen" jedoch, "bei der Zusammensetzung von Listen oder der Verhinderung von Kandidaturen gab es stellenweise durchaus syrische Eingriffe." Und generell würde unter den gegebenen Verhältnissen der syrischen Militärpräsenz ohnehin "keine Liste offen anti-syrisch auftreten, solange die Sicherheit der Wahlen und der Kandidaten eben auch von der syrischen Armee abhing". 57 52

Kataeb abroad: "Back in his natural place, in his homeland among his people", Phone call with Sheik Amine in Paris, Saturday, July 29, 2000. http://www.kataeb.com/return.html (Abgerufen am 17.11.2000).

53

Phalange factions to have a peace parley. After several failed attempts at reconciliation, the rival groups decide to talk again. Party draft, 2.11.2000. The Daily Star; http://www.kataeb.com/draft2_eng.htm (Abgerufen am 22.11.2000).

54

Siehe hierzu u.a.: Baabda-Bkirki feud deepens. Patriarch leaves for the Vatican without traditional send-off; Lebanese news-16-4-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/April98/16_4_98/N16.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

55

Perthes, S.70.

56

Ebd., S.61. Zum Wahlgesetz und zu den Wahlen im Jahre 2000 siehe auch in folgenden Kapiteln.

57

Ebd., S.68.

16 Auch anlässlich der Parlamentswahlen im Jahre 2000 beklagte die Synode der maronitischen Bischöfe wieder die Eingriffe "syrischer Beamter" in den Ablauf der Wahlen. So hätten diese Druck auf viele Dorfgemeinschaften und deren Vorsteher ausgeübt, um die Wahl von Damaskus gelegenen Listenkandidaten zu Gewähr leisten. Auch bei der Wahlkreiseinteilung seien christliche Bevölkerungsgruppen, die zuvor "ihre eigenen Repräsentanten" ins Parlament hatten entsenden können, bewusst in größeren Wahlkreisen zu Minderheiten herabgestuft worden. 58 Auch waren wieder Klagen nicht weniger christlicher Abgeordneter und Kandidaten über die "Fälschung von Wahlkarten", über "Regierungs- und Armeeeingriffe in die Wahllisten" sowie das regelrechte "Herbeikarren" von schnell vor dem Wahlgang noch eingebürgerten Syrern auch diesmal zu hören. 59 Doch auch wenn sich heute einzig noch die NLP der Chamoun als die noch übrig gebliebene Kraft "im Herzen der Opposition" gegen die syrische Besatzungsmacht betrachtet60 , so hat doch auch 'Amin Gemayel trotz seiner Abkehr von seiner früheren Verweigerungshaltung sein eigentliches Fernziel nicht aus den Augen verloren. Und das ist: Ein "freier Libanon" und dessen wirkliche "Unabhängigkeit". 61 Somit stellt sich auch die Frage, inwieweit das Problem der 'nationalen Identität' des Libanon wirklich geklärt ist, bzw. inwieweit die Maroniten die in Ta'if festgelegte Formel vom Libanon als einem Land, das "'arabisch seinem Wesen und seiner Zugehörigkeit nach'"62 ist, wirklich akzeptiert haben. Zwar wurde niemand Geringerer als Kardinal Sfeir schon einmal von einem seiner Berater zitiert, als dieser die "arabische Identität" des Landes betonte. 63 Doch auch wenn Sfeir zu öffentlichen Anlässen davon spricht, dass sein Heimatland ein "arabisches Land" ist, dessen "Sprache Arabisch" ist, so unterstreicht er dennoch auch immer, dass dessen Geschichte weit in die Zeit vor der arabischen Eroberung zurückreicht, dass noch einige Angehörige seiner Gemeinschaft noch Syrisch sprechen würden und es kommen wie so oft bei maronitischen Politikern und Geschichtsschreibern die Phönizier in solchen Ausführungen vor. 64

58

Eparchy of Saint Maron of Brooklyn: News. An Appeal of the Synod of Maronite Bishops. Bkerké, September 20, 2000: http://www.stmaron.org/news.html (Abgerufen am 17.11.2000).

59

MP Khazen Wants Parliamentary Elections Annulled; Lebanon.com Newswire – Local News August 25 2000, http://www.lebanon.com/news/local/2000/8/25.htm (Abgerufen am 5.9.2000).

60

A Short Historic of the National Liberal Party.

61

"Back in his natural place, in his homeland among his people."

62

Zitiert bei Perthes, S.21.

63

Sfeir's relations with Syria grow warmer, Lebanes e News-27-8-98, http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/August98/27_8_98/N4.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

64

Conférence de Sa Béatitude le Patriarche Sfeir à l'Assemblée des Evêques de l'Afrique du Sud, in: La Revue Patriarchale, No. 11 Janvier 1995, S.23ff.

17 1.2

Die Maroniten und ihr "Vaterland"

Solche, die in der Öffentlichkeit weniger Rücksicht auf etwaige internationale Verwicklungen und – arabische – Empfindlichkeiten nehmen müssen, sprechen die von Sfeir angedeuteten 'Sachverhalte' deutlicher aus. Unter ihnen sind es an erster Stelle Wissenschaftler, Historiker und Politologen, die das traditionelle maronitische Identitäts- und Selbstempfinden artikulieren. Sie machen sich auch heute erst gar nicht daran, eine "Libanesische Geschichte" zu erforschen und zu schreiben, sondern nur eine "Geschichte der Maroniten". Denn die seien eben nicht nur eine Glaubensgemeinschaft, sondern ein "Volk, transformiert zur Nation". 65 Die Schaffung des "Staates des Großlibanon" wird so in manchen Darstellungen schon als grundlegender Fehler und als Ursache für den Bürgerkrieg angesehen, denn er sei nie ein Nationalstaat gewesen, sondern ein fragiles multiethnisches Gebilde, das mehrere 'Nationen' zusammenpferchte. Durchaus konzidierend, dass der "Grand Liban" eine Konstruktion gewesen ist, die dazu diente bzw. dienen sollte, die maronitische Vormachtstellung in diesem Staatsgebilde zu sichern, ziehen viele Autoren aus dessen Geschichte jedoch den Schluss, dass sich der "Libanonismus" in seiner Wirkung in sich umgekehrt habe und letztlich zu nichts anderem wurde als zu einem "Mittel, um den Libanon zu 'arabisieren' (...)". 66 Auf der Suche nach einem eigenen "nationalen" Selbstverständnis und einer eigenen Identität scheint sich so für den langjährigen Kata'ib-Funktionär Joseph Abou Khalil die kaum zu beantwortende Frage nach dem "Vaterland" der Maroniten ("welchem?") und damit nach der eigenen "l'appartenance nationale" zu stellen. Früher habe er sich diese Frage nie gestellt und es habe nur geheißen: "Der Libanon ist mein Vaterland. (...) Warum diese Frage? Hat man jemals die Frage gestellt: «Welches Frankreich?» oder «Welches Großbritannien?» (...) Dreißig Jahre später wird diese Frage möglich: Ich stelle sie mir selbst und stelle sie anderen und ich versuche, eine Antwort darauf zu finden."67 Dreißig oder auch nur zwanzig Jahre zuvor hatten die Phalangisten diese 'nationale Identitätsfrage' noch sehr einfach und auch sehr vereinfachend beantwortet. In einem aus den beginnenden 80er-Jahren stammenden Dokument zu den "generellen Prinzipien" von Kata'ib und FL hieß es da: "Die Forces libanaises sind der bewaffnete christliche Widerstand" und: "Die Kataëb- Partei ist die wichtigste christliche libanesische Partei und die erste und fundamentale Basis des libanesischen Widerstands, (...)."68 "Christlich" und "libanesisch" werden hier gleichgesetzt und die Art und Weise, wie auch in Darstellungen wie denen Abou Khalils eine übergangslose Verbindung zwischen "Christentum" – "Libanon" – "Nation" hergestellt wird, weist schon auf den Charakter des maronitischlibanesischen Selbstverständnisses hin. Und somit stellt auch die von Harald Suermann in seiner Habilitationsschrift untersuchte "Gründungsgeschichte der Maronitischen Kirche", die

65

Roncaglia, Martiniano Pellegrino: Les Maronites: Communauté, Peuple, Nation; Beyrouth 1999, S.9.

66

Khalil, Joseph Abou: Les Maronites dans la guerre au Liban, Paris/Beyrouth 1992, S.465.

67

Ebd., S.464.

68

Décision N° 5877, zitiert in: Sneïfer-Perri, Régina: Guerres Maronites (1975-1990), Paris 1995, S.194.

18 "(...) sich selbst als eine 'Nation', als ein Volk begreift" 69 , ein zeitgeschichtlich und tagespolitisch "hoch aktuelles, ja zum Teil brisantes Thema"70 dar. Denn mit historischen Ereignissen, die sich oft vor anderthalb Jahrtausenden zugetragen haben, werden heute in den politischen Auseinandersetzungen um den Libanon, um seinen Status und Charakter, politische Ansprüche und Handlungsweisen gerechtfertigt. So wird Geschichte, so, wie sie von den jeweiligen Akteuren gesehen und interpretiert wird, in der Tagespolitik als Anwalt für die Rechtmäßigkeit der eigenen Forderungen herbeizitiert: Im Falle der Maroniten so als "raison d'être" der maronitischen Gemeinschaft als einer von der arabischen Umwelt klar zu unterscheidenden ethnischen "communauté". Und es wird auch deutlich, dass es dem Libanon als angestrebtem Nationalstaat der wesentlichsten Grundlage für das Gelingen eines Nationsbildungsprozesses ermangelt, nämlich "e iner" Geschichte. Es gibt derer vielmehr mehrere und es scheint sich auch auf dem Gebiet des Geschichtsbewusstseins der Libanesen so zu verhalten, wie es Kamal Salibi bereits mit dem Titel seines Buches andeuten wollte: "A House of Many Mansions."71

1.3

Identität und Geschichte

Die Maroniten sehen sich selbst gerne "als die Nachkommen der alten Phönizier, die die Gebiete des heutigen Libanon und bestimmte Teile von Syrien bewohnten". 72 Eine andere, von Suermann dargestellte und in der maronitischen Geschichtsschreibung vorzufindende Variante geht davon aus, "dass die Maroniten von den Mardaiten abstammen". 73 Über diesen Volksstamm herrscht auch ohne die Frage, ob diese Theorie stimmt, bis heute ein großes Maß an geschichtswissenschaftlicher Konfusion vor. Dies betrifft auch "westliche" Autoren, die diese These, bzw. Teile von ihr, übernommen oder sich kritisch mit ihr auseinander gesetzt und sie letztlich verworfen haben. Anschütz bezeichnet so die Mardaiten als "Marder" und gibt an, dass sie "aus dem Gebiet des Kaspischen Meeres"74 stammen und Suermann führt aus, dass sie "wahrscheinlich "(!)" ein armenischer Stamm" waren75 . Für den exil-libanesischen Wissenschaftler Walid Phares sind sie "christliche Aramäer aus dem nördlichen Syrien" gewesen. 76 Jedoch ist offensichtlich, dass die Entstehung der Maronitischen Kirche auf einen Zeitraum vor der Zuwanderung dieses Stammes in das Libanongebirge zu datieren ist und die Gründung des Klosters Mar Marun, das als ihre Keimzelle gilt, in die Zeit nach dem Konzil von Chalkedon fällt. So lässt auch 69

Suermann, Harald: Die Gründungsgeschichte der Maronitischen Kirche, Orientalia Biblica et Christiana, Bd.10, Wiesbaden 1998, S.3.

70

Ebd., S.IX.

71

Salibi, Kamal: A House of Many Mansions: The History of Lebanon Reconsidered, Berkeley and Los Angeles/London 1988.

72

Khalifah, Bassem: The Rise and Fall of Christian Lebanon; Toronto 1997, S.2.

73

Suermann, S.9.

74

Anschütz, Helga/Harb, Paul: Christen im Vorderen Orient. Kirchen, Ursprünge, Verbreitung. Eine Dokumentation. Deutsches Orient-Institut Hamburg: Aktueller Informationsdienst Moderner Orient, Sondernummer 10, Hamburg 1985, S.61.

75

Suermann, S.9.

76

Phares, Walid: Lebanese Christian Nationalism. The Rise and Fall of an Ethnic Resistance, Boulder, Colorado/London UK, 1995, S.33.

19 Anschütz maronitische Missionare die Marder bekehren, während Phares Maroniten und Mardaiten – beides für ihn "Aramäer" – während einer Revolte gegen das Khalifat der Uma yyaden in den Jahren 676 und 677 zu einem Volk verschmelzen. Für Anschütz waren die Maroniten daher auch schon vorher, d.h. schon im 6. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung einer "zu einer Volksgruppe zusammengewachsenen"77 Gemeinschaft gleichzusetzen. Doch wer waren nun diese Maroniten? Bei Anschütz findet man wieder den Verweis auf "die heidnischen Phönizier", die von einem der Schüler des Hl. Maron, dem Asketen Abraham aus Kyros, bekehrt worden sind. 78 Phares hingegen spricht von einer "Mischung aus der vorherrschend aramäischen Ethnizität"79 in der Region, die gleichsam als jener 'Pool' zu betrachten ist, aus dem heraus sich das maronitische Volk entwickelt hat. Aus dem Bild vom schwer zugänglichen Libanongebirge als einem Zufluchtsort für die vor der islamischen Eroberung zurückweichenden Christen – für Syrer (d.h. hier: syriaques) 80 , Assyrer, aramäische Syrer und andere Minderheiten des "orientalischen Mosaiks"81 –, als einem Ort, wo in einer "natürlichen Festung" eine religiöse "Communauté" zu einem "peuple maronite" wurde, das hier auf der Basis einer "Communauté-Peuple-Nation"-Verschmelzung eine eigenständige "Identität", eindeutig "distinkt von anderen Gruppen"82 , entwickelte, lässt sich auch heute kein ethnischer, sondern ein eher voluntaristischer Nationsbildungsprozess ableiten. Doch dem wichtigsten Anliegen der maronitischen Eliten und der Maronitischen Kirche dienten und dienen beide Theorieansätze bei der Zurückweisung panarabischer Vereinnahmungsversuche ihrem Land gegenüber. Und wie sehr Geschichte, bzw. das Bild, das man sich von ihr macht, im Libanon der Gege nwart präsent ist, zeigen die Marada-Milizen der Familie des früheren Staatspräsidenten Franjieh, die ihren Namen eben von den Mardaiten ableiten. In diesem Zusammenhang zeigt Suermann auch die Grundproblematik der maronitischen Historiografie auf, die fast immer politischen Zielen dienen sollte. So sollte schon im 19. Jahrhundert die "ethnische(-)konfessionelle Geschichtsschreibung der Maroniten" die "politische Position" des Patriarchats unterstützen. 83 Im Konzept des Maronismus und im Bürgerkrieg seit 1975 sollte sie den Angehörigen der communauté den wissenschaftlichen Beweis erbringen "(...) dass sie als Phönizier die 'Ureinwohner des Libanon' seien und so ein größeres Recht auf die Gestaltung des Staates als die anderen Bevölkerungsgruppen hätten (...). Der Anspruch auf ein historisches Vorrecht sollte durch historische Untersuchungen nachgewiesen werden und gleichzeitig ihre kulturelle Überlegenheit gegenüber den Arabern aufgezeigt werden."84 77

Anschütz, S.62.

78

Ebd., S.62.

79

Phares, S.31.

80

Der Begriff "Syrer" bezieht sich hier auf jene semitischen Volksgruppen, die schon vor der arabischen Eroberung die Region des sog. "Fruchtbaren Halbmondes" bewohnt haben. Das es im Deutschen anders als im Französischen oder Englischen hier keinen Unterschied zwischen diesem "syrisch" (engl.: "syriac", franz.: "syriaque") und seiner heute gängigen Verwendung in Bezug auf den 'arabischen' Staat Syrien (engl.: syrian, franz.: syrien bzw. syrienne) gibt, muss an dieser Stelle in einer deutschsprachigen Publikation explizit auf die in maronitischem Kontext erfolgende Verwendung des Begriffes im Hinblick auf die hier hervorgehobene und eben nicht-arabische "syrische Identität" hingewiesen werden.

81

Sneïfer-Perri, S.18.

82

Roncaglia, S.182f.

83

Suermann, S.13.

84

Ebd., S.26.

20 Das alles scheint dafür zu sprechen, dass das vom politischen Maronismus vermittelte Geschichtsbild bzw. das maronistische Geschichtsbewusstsein "eine sich realistisch gebende Ideologie zur Verkennung der geschichtlich-politischen Wirklichkeiten" ist. 85 Doch dieses maronistische 'Geschichtsbild' fußt auf der maronitischen 'Geschichtsschreibung', die bis zu Jibra'il 'Ibn 'al-Qula'is Werk "Mƒ ƒ r½ ½ n ‘a³³ ³½ bƒ ƒ n¾¾ " in das 15. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann und damit auf Werke, die wie das aus dem 17. Jahrhundert stammende "maronitische Geschichtsbuch", das "Ta‘ri˜ ˜ ‘a³-tƒ‘ifa 'al-mƒ ƒ r½ ½ n¾¾ ya" des Stephan ad-Duwaihi, bislang auch von abendländischen Autoren als seriöse und altehrwürdige Quellen angesehen wurden. Auf Duwaihi und Murhij 'ibn Nimrun (1625-1712) ist die "Ansicht" zurückzuführen, "dass die Maroniten von den Mardaiten abstammen". 86 Und 'al-Qula'i formulierte als erster die "Theorie von der ewigen Orthodoxie der Maroniten"87 , d.h. die Annahme, dass ihre Kirche von ihren historischen Anfängen an eine eng an Rom angelehnte Kirche gewesen ist – und keine orientalische, keine Ostkirche. Diese beiden Thesen von ihrer nicht-arabischen Abstammung und ihrer "ewigen Orthodoxie" – eben "im Sinne Roms"88 – haben die Maroniten als Grundlagen ihres Selbstverständnisses verinnerlicht, das sich, wie Bassem Khalifah bemerkt, im politischen Koordinatensystem des Libanon im Gegensatz zum "ostwärts" – in die arabische Welt – ausgerichteten "Ausblick" der Muslime, nach Westen hin orientierte. 89 Alle Quellen, aus denen sich ein anderes, mit dieser Weltsicht nicht übereinstimmendes Geschichtsbild hätte zeichnen lassen können, wurden von ihnen selbst, wahrscheinlich ab dem 15. Jahrhundert, aber mit Sicherheit nach Besiegelung der Union mit Rom, vernichtet. 90 Die unbestreitbare Tatsache, dass die Maroniten seit dem Ende des – europäischen – Mittelalters eine herausragende Rolle als Mittler zwischen den Kulturen des Abend- und des Morgenlandes eingenommen haben, wird hier zurückprojeziert in ein früheres Zeitalter, in dem sie – nach Kenntnisstand der Wissenschaft – jedoch noch im Mont Liban "von der Außenwelt abgeschnitten"91 lebten. Die Union mit Rom und die engen Beziehungen zu Frankreich, der "Schutzmacht" der katholischen und mit Rom uniierten Christen im Orient, die auf die Zeit der Kreuzzüge zurückgehen, sind als konstituierende Elemente des historisch-politischen Selbstverständnisses in dieser communauté anzusehen. Doch nur die Schutzallianz mit Paris ist in ihrer geschichtlichen Gesamtheit und von Anfang an dokumentarisch mit den Eckdaten 1249 – als sich diese Beziehungen "etablierten", weil die Maroniten dem französischen König auf Zypern geholfen hatten – und 1649, als Louis XIV diese Gemeinschaft unter seinen "Schutz" stellte, eindeutig belegbar. 92 85

Bergstraesser, S.216.

86

Suermann, S.9.

87

Georg Graf, angeführt von Suermann, S.5.

88

Suermann, S.14.

89

Khalifah, S.7.

90

Suermann, S.3.

91

Anschütz, S.63.

92

Archives de l'ambassade – Mélanges politiques de 1639 à 1685- 4e volume, und: Du 28 Avril 1649, in: Documents Diplomatiques et Consulaires relatifs à l'Histoire du Liban et des pays du Proche-Orient du XVII° siècle à nos jours; Tome 34: Ambassade de France à Constantinople. Beyrouth 1994, S.21ff.

21 Was das Datum der Union mit Rom und damit den Beginn der "Latinisierung" der Maronitischen Kirche anbetrifft, so herrscht selbst in den Reihen westlicher Wissenschaftler herzliche Uneinigkeit. Wie die Untersuchung von Suermann gezeigt hat, reicht die Bandbreite der hier mittlerweile angebotenen Zeitpunkte vom 12. bis in das 16. Jahrhundert. Den Kirchenhistorikern des Patriarchats allerdings sind all diese Daten zu spät angesetzt. 93 Auch weisen sie Darstellungen zurück, die ihre Kirche in ihrer Entstehungsgeschichte des Monotheletismus bezichtigen. Dieser Monotheletismus, der besagte "Christus habe zwar 2 Naturen, aber nur einen Willen"94 , war im Jahre 622 vom byzantinischen Kaiser Herakleios als Kompromissformel in den die Reichseinheit bedrohenden Streit zwischen den von der byzantinischen Reichskirche abgefallenen Monophysiten, die nur eine, die göttliche Natur in Christus erkennen wollten, und den Chalkedonensern eingebracht worden. Dieser, für kurze Zeit auch von Rom gutgeheißene Einigungsversuch scheiterte jedoch und der Monotheletismus wurde auch in der Ostkirche schon bald als "Reichstheologie" aufgegeben. Was die maronitische Historiografie anbetrifft, so geht diese davon aus, dass ihre Kirche damals "dyotheletisch und somit orthodox im Sinne Roms gewesen war". 95 Doch das ist eine Geschichtsfälschung. Suermann bringt diese "Tendenz, unter allen Umständen die ewige Orthodoxie verteidigen zu müssen" als einen eher 'defensiven' Reflex in Zusammenhang mit den Verfolgungen, denen die Maroniten von Seiten der anderen orientalischen Kirchen dann später als mit Rom uniierte Christen ausgesetzt waren. In der ersten Phase ihrer Geschichte war diese Gemeinschaft aber den Anfeindungen der monophysitischen Jakobiten ausgesetzt 96 und dies eben weil sie sich – entgegen den Darstellungen ihrer Chronisten – als Monotheletisten, als ausgesprochen "kaisertreu", als "melkitisch" und damit als Parteigängerin der byzantinischen Reichskirche erwiesen hatte. Ihren Weg zur autokephalen Institution beschritt sie auch – wie Suermann aufgezeigt hat –, weil das byzantinische (Reichskirchen-)Patriarchat von Antiochien nach der arabischen Eroberung unbesetzt geblieben war und im 8. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung "mit Erlaubnis und Unterstützung der islamischen Obrigkeit" mit einem Chalkedonenser besetzt wurde. Die Mönchsgemeinschaft, die sich selbst auf den Hl. Marun zurückführt97 , ging dann mit der Wahl eines eigenen, monotheletischen Patriarchen aus einem Schisma mit der (nun nicht mehr monotheletischen) melkitischen, heute als griechisch-orthodox bezeichneten Kirche als eigenständige Kirchenorganisation hervor 98 . Und sie hing dieser in Rom bald als "häretisch" angesehenen Lehre noch an, als diese im Vatikan und in Konstantinopel schon lange vergessen war. Den Verdacht der Häresie jedoch wollten die dann fast ein Jahrtausend später an einer Union mit Rom interessierten Oberhäupter der Kirchengemeinde im Mont Liban von Grund auf widerlegt wissen. Bis auf den heutigen Tag verstehen sich so die Maroniten als 93

Siehe hierzu: Suermann, S.4, 10, 18.

94

Anschütz, S.62.

95

Suermann, S.4.

96

Vgl. u.a. Anschütz, S.63.

97

Selbst der Hl. Maron, nach dem Herakleios seine Klostergründung benannte, bleibt für die heutige Geschichtswissenschaft eine Persönlichkeit mit undeutlichen Konturen, "lorsqu'on pense que saint Maron n'a rien fondé, n 'a donc laissé aucun écrit ni règle de vie (...)" (Roncaglia, S.27.) Manche Historiker stellen sich auf der Suche nach dem – allerdings auch von Johannes Chrysostomos und Theodoretos von Khyrros – erwähnten Begründer dieser Asketengemeinschaft sogar die Frage. "Maron ja, aber welcher Maron?" (Ebd., S.29.)

98

Vgl. Suermann, S.288.

22 diejenigen, die seit dem Konzil von Chalkedon als die Verteidiger des Glaubens 'im Sinne Roms' im Orient anzusehen sind. 99 Auch im Jahre 2001 findet sich in den offiziellen kirche ngeschichtlichen Darstellungen der Eparchien der Exil-Maroniten in den USA die Legende wieder, dass sich die Urgemeinde mit der Wahl ihres ersten Patriarchen als eine "Einzelkirche unter den anderen Kirchen der universalen katholischen Kirche" konstituiert habe. 100 Aus einer 'defensiven' und nach Legitimierung strebenden 'maronitischen' Uminterpretierung der Geschichte wurde bei den Maronisten dann eine offensive Ideologisierung. Ihnen ging es in erster Linie darum, aus den Geschichtswerken wie denen eines Duwaihi herauszulesen, dass ihr 'Volk' vor allen Dingen deswegen eine "Westwärtsorientierung" entwickelt hat, weil es eine ethnisch eigenständige und von den Arabern zu unterscheidende Gruppe bildet. Die "Vorstellung, (...) dass die Maroniten ein Volk oder ein Stamm waren, bevor sie sich als Kirche konstituierten" wird heute allerdings von der – westlichen – Wissenschaft in das Reich der Fantasie verwiesen, 101 auch wenn 'seriöse' libanesische Akademiker wie Breydy diese These bis heute vertreten. Doch trotz der 'Tendenz' maronitischer Historiografen "zur Leugnung von historischen Tatsachen" können deren Werke, wie auch Harald Suermann feststellt, bei keiner tagespolitisch-aktuellen Betrachtung außer Acht gelassen werden, denn: "Trotz des Vorbehaltes der ideologischen Prägung ist die maronitische Literatur zu berücksichtigen, da sie ein Verständnis der maronitischen Geschichte wieder gibt, das bis heute selbst in der Wissenschaft vom christlichen Orient prägend ist."102 Diese 'politische Geschichtsschreibung' stellt so auch das 'geistige' Grundgerüst des Maronismus und damit die Grundlage des Selbstverständnisses der politischen Akteure in den Reihen der Kata'ib, der FL und der NLP dar. Um die aus dieser Geschichte abgeleiteten Ansprüche auf einen "christlichen Staat" ging es im Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 und es geht um sie auch, wenn Wissenschaftler wie Walid Phares nun nach Ta'if und dem Scheitern der Idee eines christlich dominierten "Grand Liban" jetzt ein historisch begründetes Recht ihres 'Volkes' auf einen eigenen und unabhängigen "Petit Liban" ableiten. 103 Doch mehren sich nach Ta'if auch jene Stimmen in der communauté, die die Mitglieder ihrer Gemeinschaft dazu auffordern, "ihre arabische Identität" anzuerkennen und dem Westen zu erklären, dass man "Christ und Araber" sein kann. 104

99

Eparchy of Saint Maron of Brooklyn: Aspects of Maronite History (Part Two). By Chorbishop Seely Beggiani; http://www.stmaron.org/marhist2.html (Abgerufen am 13.2.2001), S.2.

100

Eparchy of Saint Maron of Brooklyn: Aspects of Maronite History (Part One); http://www.stmaron.org/history.html (Abgerufen am 13.2.2001), S.1.

101

Suermann, S.37.

102

Ebd., S.4.

103

Phares, S.222.

104

Dagher, S.20.

23 1.4

Geschichtsbewusstsein und Identität der Maroniten im Libanon der Zweiten Republik

Für 'Amin Ma'alouf haben die Maroniten des Libanon nicht nur eine Identität, sondern mehrere, denn am Schnittpunkt der Kulturen in der Levante gelegen, seien sie in der Geschichte einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt gewesen. 105 Ma'alouf bezieht damit Stellung sowohl gegen die "Phönizische" Theorie als auch gegen eine zwangsweise Arabisierung der libanesischen Christen, wie sie nach Ta'if etwa durch beispielsweise die Einführung des Arabischen als der einzigen Unterrichtssprache vorangetrieben werden soll. 106 Selbst Maroniten, die sich von den Dogmen der Vergangenheit lösen, haben noch immer Schwierigkeiten damit, sich als "Araber" zu sehen. Und wenn Kardinal Sfeir heute zwar konzidiert, dass der Libanon ein "arabisches Land" ist, so unterstreicht seine Kirche doch auch immer noch die "eigene", die "Syriac identity" ihrer Gemeinde. 107 Diese These von der "identité syriaque" bzw. "antiochienne et arabophone"108 hat heute in der Mehrzahl der Publikationen die alte Doktrin von der phönizischen Abstammung ersetzt, bzw. weiter gefasst und den historischen Tatsachen angenähert. Und so deuten Stimmen wie die Carole Daghers noch nicht auf eine neue kollektive PostTa'if-Identität dieser Volks- oder Religionsgruppe hin. Denn obwohl die Autorin selbst weniger Schwierigkeiten mit dem in der Verfassung jetzt festgeschriebenen Grundsatz "Lebanon is Arabic in its identity and its affiliation" hat, weist auch sie auf jene auch jetzt noch bei ihren Landsleuten zu erkennende Tendenz hin, sich eine "distinctive identity" bewahren zu wo llen. 109 Denn das Diktum von "Vater" Michel Hayek, dass das Arabertum vom Islam nicht zu trennen sei, ja der Islam das konstituierende Element der Arabischen Nation sei, wird auch heute noch von seinen Schülern wie von "Vater" Abou herangezogen, um das Ta'ifAbkommen als ein "Arabo-Islamic concept of cultural assimilation" anzuprangern. 110 Die vom Vatikan auf der Synode von 1997 von den libanesischen Christen eingeforderte "Selbstkritik" und Neuorientierung im Hinblick auf geschichtliches Herkommen und "raison d'être"111 ihrer Gemeinschaft und deren religiöse "Mission" im Orient ist so in weiten Teilen bereits von nicht wenigen maronitischen Klerikern in einem ganz anderen als dem von Rom gewünschten Sinne uminterpretiert worden. Beharrlich weigern diese sich auch nach Ta'if, die "Geschichte des Libanon umzuschreiben", die nicht mit der "Arabischen Eroberung" begonnen hat. 112 Doch im Gegensatz zur früheren Historiografie verlässt man sich heute auf wissenschaftlich diskussionsfähigere Ansätze. Politisch ist diese Geschichtsschreibung aber ebenso wie die "Phönizische These", die als "eine geistige Stärkung der Maroniten im Bürgerkrieg"113 gedacht war. 'Gestärkt' werden soll heute aber in defensiver Art und Weise die Abwehrhaltung

105

Maalouf, Amin: Les Identités Meurtrières, Grasset 1998.

106

Dagher, S.22.

107

Aspects of Maronite History (Part One), S.1.

108

Roncaglia, S.8.

109

Dagher, S.20. u.22.

110

Siehe dazu ebd., S.9ff.

111

Ebd., S.101.

112

Selim Abou, zitiert bei Dagher, S.23.

113

Suermann, S.26.

24 gegenüber einer "cultural homogenization"114 in einem "arabischen" Libanon und die Gegenposition zu einer "neubetrachteten" Geschichte des Libanon, in der schon dessen frühe Bewohner zu Angehörigen eines arabischen Stammes geworden sind, der im 6. Jahrhundert nach Syrien eingewandert sei. 115 Häufiger trifft man heute daher nun auf Darstellungen, die, wie bei Roncaglia gesehen, den maronitischen Nationsbildungsprozess als Folge der Entwicklung des Mönchstums von Bayt Marun (Haus Maron) und der Entstehung der Maronitischen Kirche als autokephaler Institution begreifen. Diese Lesart wird heute auch vom Klerus selbst bevorzugt 116 . Die Auffassung von einer maronitischen Nation, die durch eine Verschmelzung verschiedener westsyrischaramäischer, sich zum Christentum bekennender Ethnien im Zeitraum zwischen dem 6. und dem 14. Jahrhundert entstanden ist, stellt auch für Suermann eine vertretbare Theorie dar. 117 Volk und Religion waren damit nicht von Anfang an miteinander identisch. Eine Nationalkirche wie etwa im Falle der Armenier ergibt sich hieraus historisch gesehen also nicht. Vie lmehr scheint es sich um eine Schicksalsgemeinschaft, um eine Willensnation zu handeln, entstanden aus einem auf religiöser Basis sich entwickelnden Zusammengehörigkeitsgefühl westsyrischer Volksgruppen. Dieses Geschichtsbild findet sich so heute z.B. auch in den Darstellungen exil-maronitischer Institutionen wie denen des in den USA angesiedelten Maronite Research Council wieder. Mit einem gewagten Vergleich mit der Rolle, die der Heilige Patrick in der Geschichte der irischen Nation spielt, wird reklamiert, dass sich aus monastischen Ansiedelungen nicht nur einmal "Nationen" entwickelt haben. 118 Erklären ließe sich mit einer solchen Theorie sogar auch, warum die Maroniten im Gegensatz zu anderen christlichen Minderheiten und Nationalkirchen im Orient keine eigene Sprache bzw. einen aramäischen Dialekt, das Syrische, nur als "liturgische Sprache"119 erhalten haben. Dass eine von ihren Ursprüngen her ethnisch heterogene Gemeinschaft in der arabischen Welt auch im innerkommunitären Bereich langsam die Lingua Franca ihrer Umwelt als Verkehrssprache annimmt, ohne dabei die eigene Identität aufzugeben, erscheint erklärlich. Die Einwürfe von Autoren wie Phares und die Hinweise darauf, dass die "aramäischen libanesischen Christen" noch zum Zeitpunkt des Beginns der Herrschaft der Osmanen über das Land Syrisch (Syriac) sprachen, 120 sind zu alledem heute nun nicht mehr als ideologische Geschicht sverfälschungen abzutun. Tatsächlich lassen sich nach dem Stand der heutigen Forschung und aus osmanischen Quellen noch für das 16. Jahrhundert im vilayet von Damaskus, das weite Teile des Dschubal 'al-Lubnan mitumfasste, aramäische Sprachinseln nachweisen. 121 114

Dagher, S.20.

115

Salibi, S.90ff. Der Autor selbst ist bezeichnenderweise Protestant. Es läge hier aber sehr viel näher, Verbindungen zu den vorislamischen, christlichen arabischen Fürstentümern im westlichen Teil des sog. "Fruchtbaren Halbmondes ", wie etwa dem Reich der Ghassaniden im südsyrischen Raum zu suchen. Die Beweislage liegt allerdings auch hier im Argen.

116

Siehe: Aspects of Maronite History, Part One, Two, Three.

117

Suermann, S.38.

118

The Maronite Research Council: Introduction, Sunday, February 04, 2001, http://plaza.v-wave.com/maronites/english_intro.html (Abgerufen am 28.2.2001).

119

Conférence de Sa Béatitude le patriarche Sfeir à l'Assemlbée des Evêques de l' Afrique du Sud.

120

Phares , S.45.

121

Bakhit, Muhammad Adnan: The Christian Population of the Province of Damascus in the Sixteenth Century, in: Benjamin Braude/Bernard Lewis (Hrsg.), Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society. Vol. II: The Arabic-Speaking Lands; New York/London 1982, S.23.

25 Die Tatsache, dass die maronitische Kirchengemeinde ihre Wurzeln bis in die Zeit vor der arabischen Eroberung zurückverfolgen kann und sich, wie in der wissenschaftlichen Literatur nachzulesen ist, alle orientalisch-christlichen Kirchenvölker nach außen hin und sogar untereinander durch strikte Endogamie voneinander abzugrenzen versuchten, lässt heute die These von der nicht-arabischen Abstammung der Maroniten in einem etwas helleren Licht ersche inen. Auf einen in der Gründungsphase noch eher universalistischen Anspruch der Kirche deutet auch der Sachverhalt hin, dass deren Oberhaupt nach dem Schisma des 7. Jahrhunderts den byzantinischen Reichskirchentitel eines "Patriarchen von Antiochien" annahm und damit auf einen der vier Patriarchenstühle des Ostens, der heutigen griechisch-orthodoxen Kirche, Anspruch erhob. Diesen Titel führt er bis heute und dies in einer merkwürdigen Konkurrenz zum griechisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien in Damaskus. Auch Boutros Sfeir tituliert sich als "Maronitischer Patriarch von Antiochien", doch dies ist heute in erster Linie im Kontext der Diskussion um die "antiochenische Identität" zu sehen. Die im 5. und 6. Jahrhundert erfolgte Verbreitung des maronitischen Glaubens über das Tal des Orontes hinaus bis nach Hama und Homs, bis nach Aleppo, Damaskus, Edessa, ja bis nach Baghdad und Takrit wird nun in der Kirchengeschichtsschreibung sogar hervorgehoben. Die spätere "Immigration in den Libanon" wird so auch nun mit den erlittenen "Verfolgungen" durch – monophysitisch-christliche – "Häretiker" und dann später durch muslimische "Araber" erklärt und die endgültige "Einrichtung" bzw. Übersiedelung des Patriarchats im bzw. in den Mont Liban mittlerweile auf das Jahr 939 festgesetzt und mit dem Patriarchen Johannes Maron II in Verbindung gebracht. 122 Dieses Geschichtsbild ähnelt damit dem der Drusen und passt sich damit in das gängige Bild vom Libanongebirge als "Zufluchtsort" für alle "Dissidenten" der Region123 ein, in das sich die Maroniten früher nur teilweise einfügen wollten, weil sie vorgeblich schon vor allen anderen Volksgruppen dort angesiedelt waren. Diese seit Ta'if feststellbare Entmythologisierung der Historiografie der Maroniten und die Annäherung ihres Geschichtsbewusstseins an ein wissenschaftlich fundiertes Geschichtsbild hat aber nichts daran geändert, dass die hieraus abgeleitete "Identität" "eigen und exklusiv" bleibt. 124 Zwar wurde der Anspruch darauf, im Orient eine eigenständige "Rasse" darzustellen, aufgegeben, jedoch definiert man sich als "arabophones Volk" und noch immer nicht offen als 'arabisches'.125 Und so bleibt auch der Libanon wie im Falle der Phönizischen These ein maronitisches "Land", das diese Identität 'geformt' 126 und damit einen "spirit of nationality" hervorgebracht hat127 . Diente aber früher die alte Ideologie zur Rechtfertigung von Vorherrschaftsansprüchen, so dient die Betonung der "syrischen Identität" heute wieder dem – defensiven – Wunsch, im

122

Aspects of Maronite History, Part Two, S.2ff.

123

Hanf, Theodor: Koexistenz im Krieg. Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon, Baden-Baden 1990, S.66.

124

Roncaglia, S.175.

125

Ebd., S.256.

126

Roncaglia, S.181ff.

127

Aspects of Maronite History, Part Two, S.3.

26 Staat von Ta'if eine eigenständige 'Nationalität' darzustellen, die sich nicht arabisieren lassen will.

1.5

Die Maroniten und der Konfessionalismus

Doch fällt es selbst Maroniten, die sich heute darüber beklagen, dass ihre "Volksgruppe" in der Zweiten Libanesischen Republik über keine nationale Selbstbestimmung mehr verfüge, schwer, die Lösung für dieses Problem in einer Abschaffung des Systems des Konfessionalismus und in einer Umwandlung des Libanon in einen modernen Säkularstaat zu erblicken. Der Gedanke daran, sich in einem solchen Säkularstaat nicht mehr über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten "communauté", d.h. sich nicht mehr über das in der Wahrnehmung der politischen Akteure 'über' dem Staat stehende Subsystem zu definieren, sondern sich als Staatsbürger in rechtlicher Gleichstellung zu allen anderen Libanesen befinden zu 'müssen', ringt den Maroniten selbst in der heutigen politischen Lage noch wenig Begeisterung ab. 128 Die Überzeugung, dass sich westliche Demokratie-Modelle mit ihren nicht auf ein Subsystem, auf eine Gruppe, sondern auf das Individuum bezogenen, "unveräußerlichen" Rechten, nicht in den Orient implantieren lassen, ist im Libanon eine Überzeugung, die nicht nur von fundamentalistischen Denkern im islamischen Lager geteilt wird. Schon ein "Konvivialist" wie Pierre Gemayel war der Meinung, dass das System des Konfessionalismus den einzigen Weg weise, auf dem die verschiedenen Religionsgruppen in seiner Heimat zu einem Zusammenleben unter einem staatlichen Dach gebracht werden könnten. So richten sich auch heute die politischen Aktivitäten des Patriarchen Boutros Sfeir auch nicht gegen den im Lande selbst höchstens von einigen Intellektuellen ernsthaft kritisierten "sectarianism" und damit etwa nicht per se gegen die Tatsache, dass in Ta'if der Schlüssel zur Aufteilung der Macht, der Regierungsämter, der Parlamentssitze etc. zwischen den einzelnen "communautés" neu gestaltet wurde. Sfeir wendet sich vielmehr dagegen, dass hier ein "Segment" der libanesischen Gesellschaft, d.h. das christliche, "marginalisiert" wurde 129 . Und so geht es ihm in erster Linie darum, das ethnisch-religiöse Gleichgewicht innerhalb des bestehenden Rahmens des ethnisch-religiösen Proporzes in seinem Sinne neu auszubalancieren. Maroniten, die angesichts der syrischen Präsenz nicht an einen solchen Ausgleich der von ihnen perzipierten "sectarian imbalance" auf diesem Wege glauben, bleibt nur die Zuflucht in den vagen und kaum mehr realisierbaren Traum von einem christlichen Kleinstaat im Lib anongebirge, an eine Restauration des "Petit Liban". 130

1.6

Maronismus und Arabismus

Nach Jahrzehnten, in denen die 'libanesische Identität' mit maronitischen Werten besetzt werden konnte und damit von den staatstragenden Christen libanesisches und maronitisches Nationalempfinden gleichgesetzt wurden, wendet sich letzteres von ersterem nach Ta'if immer mehr ab. 128

Roncaglia, S.254.

129

Hariri's marathon Bkirki talks praised; Lebanese News-9-3-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/March98/9_3_98/N15.HTM (Abgerufen am 27.11.2001).

130

Vgl. Phares, an mehreren Orten.

27

Schon Camille Chamoun war als Präsident der Ersten Republik gewillt, seine Politik der Westorientierung auch zu Zeiten Nassers durchzusetzen und er verkündete, es sei ihm egal, was die anderen, was "die Araber" dazu sagen. 131 Doch war andererseits Chamouns Nachfolger Fu'ad Chehab an einem guten Auskommen mit den Nachbarländern interessiert und er bekundete somit die "Solidarität" seines Landes "mit der arabischen Welt (...)". 132 Und schon im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hatten maronitische Intellektuelle an der 'nahda', an der "Arabischen kulturellen Renaissance", regen Anteil genommen und auch die junge arabische Nationalbewegung zählte in ihren Reihen namhafte Maroniten wie etwa Boutros Boustani oder Georges Samné. 133 Doch blieb die arabisch-nationalistische Phase im politischen mainstream-Denken in der communauté nur ein sehr kurzer Zeitabschnitt. So übte zwar der Arabische Nationalismus, der, wie auch Hanf betont, "in seinen Anfangszeiten liberal und laizistisch geprägt" war, vor allen Dingen auf westlich orientierte Intellektuelle zunächst eine gewisse Anziehungskraft aus. Doch die mit Beginn der Mandatsherrschaft der Europäer nach dem Ersten Weltkrieg in der politischen Auseinandersetzung mit dem "christlich perzipierten Westen" erfolgte Gleichsetzung von "Arabismus und Islam" 134 drängte gerade diese Gruppen an den Rand des politischen Spektrums dieser Bewegung(en). Und während Angehörige anderer nicht-muslimischer Minderheiten wie z.B. die Griechisch-Orthodoxen, die, demografisch verstreut über die gesamte Region lebend, keinen zentralen geografischen Identifikationspunkt hatten und nun oft Anschluss an die immer noch säkular ausgerichteten Gruppierungen des "Arabischen Sozialismus" suchten, verfügten die Maroniten über ihre 'Heimat', das Libano ngebirge. Doch schon auf Grund der geografischen Lage des Libanon stellte der Arabismus seit der Unabhängigkeit eine ständige Herausforderung für die maronitische Politik dar, der sich auch die Präsidenten der Ersten und heute der Zweiten Republik stellen mussten und müssen. Und schließlich erforderte auch die dem Nationalpakt von 1943 zu Grunde liegende Kompromissformel, die den Libanon zwar als ein "unabhängiges Land" definierte, das aber "eng mit allen arabischen Staaten zusammenarbeiten" solle 135 , immer schon eine gewisse Konzessionsbereitschaft deren Anliegen gegenüber.

1.7

Geschichtsbewusstsein und tagespolitischer Pragmatismus:

die religiöse communauté oder der Clan als zentraler Bezugsrahmen der maronitischen Identitätsfindung Im Februar 2001 griff Suleiman Tony Franjieh, Minister im Kabinett Hariri, die maronit ischen Bischöfe und insbesondere Kardinal Sfeir mit ungewöhnlich scharfen Worten an. Im

131

Hanf, S.154.

132

Ebd., S.160.

133

Siehe hierzu das Standardwerk von Antonius, George: The Arab Awakening. The Story of the Arab National Movement, Philadelphia 1939.

134

Hanf, S.175.

135

Ebd., S.99.

28 Streit um die syrische Militärpräsenz in seinem Lande ergriff er für Damaskus Partei und bezeichnete die Bischöfe als "Verräter an der arabischen Sache". 136 Franjieh aber ist Maronit. Er entstammt einer der ältesten Clansfamilien der communauté und damit der Führungsschicht der zu'ama. Seine Familie gestaltet libanesische Politik seit der Gründung des Grand Liban mit: Seit 1922 gab es kein Parlament, in dem nicht zumindest ein Franjieh gesessen hätte. Auch auf Ministerposten sind Mitglieder dieser Familie ständig zu finden. Und Franjiehs Großvater Suleiman war schon Präsident in der Ersten Republik. Schon im Vorfeld der Parlamentswahlen des Jahres 2000 hatte der syrische Verteidigungsminister General Mustafa Tlass Franjieh auf dessen Familiensitz in Zghorta im Nordlibanon besucht und dabei zu verstehen gegeben, dass "jedwede im Norden siegreiche Allianz notwendigerweise durch den christlichen zaim, Franjieh" geformt werden müsse. Die Tatsache, dass Suleiman Tony Franjieh nicht nur für Tlass heute als "einer der Verbündeten Syriens" gilt 137 , könnte augenscheinlich darauf zurückgeführt werden, dass auch dieser Clan, wie etwa die Hélou, schon früh seinen 'Frieden' mit der Post-Ta'if-Ordnung gemacht hat. Nicht ohne Grund aber betonte Tlass in Zghorta, als er seinem Gesprächspartner ein "syr isches" Gastgeschenk überreichte: "Dies ist eine arabische Tradition. Wir haben Familienbindungen zur Franjieh-Familie und waren dem Vater und dem Großvater des Ministers in Freundschaft verbunden."138 Franjiehs gespanntes Verhältnis zur maronitischen Kirche erklärt sich tagespolitisch aus deren Haltung zur Kata'ib und zu einer etwaigen Amnestierung des ehemaligen, nun inhaftierten Kommandeurs der Parteimiliz, der FL, Samir Ja'ja' (Geagea). Sfeir setzt sich heute für eine Entlassung Geageas ein, 139 obwohl dieser u.a. für das "Massaker von Ehden" im Jahre 1978 verantwortlich zeichnet bzw. zeichnen soll. Damals hatten in diesem kleinen Ort nahe Zghorta in der Residenz des früheren Altpräsidenten Suleiman Franjieh FL-Einheiten dessen Sohn, Schwiegertochter und erst wenige Monate alte Enkelin sowie 33 weitere, unbeteiligte Personen in einem selbst die an Gewalt gewohnte libanesische Gesellschaft noch schockierenden Blutrausch niedergemetzelt. Die Tatsache, dass die syrische Armee nach diesem Vorfall in das nördliche Libanongebirge einrückte und damit die von den Marada-Milizen der Franjieh kontrollierten Gebiete vor einer Übernahme durch die Phalangisten bewahrte, stellt einen der Gründe für die 'Dankbarkeit' der Familie Damaskus gegenüber dar. Die Hintergründe der von Tlass erwähnten "Familienbindungen" reichen indes weiter in die Geschichte zurück und sie haben ebenfalls mit einer Identitätsfrage zu tun.

136

Lahoud wishes Sfeir well on trip to North America. Patriarch will meet several foreign dignitaries during tour; in: The Daily Star, February 13, 2001; http://www.dailystar.com.lb/13_02_01/art3.htm (Abgerufen am 13.2.2001).

137

Tlass says peace talks to restart in weeks, Lebanese News-18-3-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/March00/18_03_00/N12.HTM (Abgerufen am 20.3.2001).

138

Ebd.

139

Sfeir calls for release of Geagea and SLA members. Cardinal addresses Lebanese Forces supporters at rally; Lebanese news-8-1-2001; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2001/January01/08_01_01/N12.HTM (Abgerufen am 20.3.2001).

29 Anders als die Hélou, die Gemayel oder die Eddé verstanden sich die zu'ama von Zghorta seit jeher als "Araber" und Suleiman Franjieh definierte als Präsident "den Libanon als integralen Teil der arabischen Welt (...)"140 . Und so war auch das Massaker von Ehden mehr als nur ein Machtkampf zwischen "rivalisierenden christlichen Faktionen". 141 Zwar ging es der Kata 'ib, wie Phares konstatiert, tatsächlich damals auch um die militärische Ausschaltung rivalisierender christlicher Gruppen. Denn nur drei Jahre nach Ehden wurden so die "Chamounisten" ebenfalls in einem einzigen "Blutvergießen" von den FL ihrer Kontrolle über ihr Stammland und Kerngebiet bei 'Al-Sharqia beraubt. 142 Im Falle der Franjieh jedoch ging es den Phalangisten auch darum, gegen den "Hauptverräter" an der maronitischen Sache vorzugehen. 143 Wirtschaftsgeografische Faktoren haben das Selbstverständnis des Clans der Franjieh seit jeher beeinflusst und dies in anderer Weise als im Zentralgebiet der Maroniten. Mit ihrem Stammland an der Peripherie bzw. am äußersten nordwestlichen Rand des 'christlichen' Lib anongebirges gelegen und wirtschaftlich auf das 'muslimische' Tripoli ausgerichtet, waren die Franjieh schon früh mit muslimischen Familien "durch Geschäftsinteressen verbunden". 144 Andererseits hinderte dies die Familie nicht, Teile der maronistischen Ideologie und des mit ihr zusammenhängenden Geschichtsbildes in das eigene Selbstverständnis zu übernehmen, worauf schon der Name ihrer Miliz – "Marada" – hindeutet. 145 Und über Jahre hinweg, bis zum Massaker von Ehden, hatten die Marada-Milizen auf der Seite der Kata'ib, der Chamoun und der Eddé in der Libanesischen Front (LF) gekämpft. Pragmatische Erwägungen haben im Libanon auch immer schon zu beachtlichen Relativierungen der ideologischen Weltsichten und auch zu bemerkenswerten 'Mischideologien' geführt. Im Kampf um die Unabhängigkeit des Landes hatten sich so in den 30er-Jahren schon die libanesischen Nationalisten mit großsyrischen und panarabischen Nationalisten verbündet. 146 Und im Jahre 1970 war der "Araber" Suleiman Franjieh mit der Unterstützung der "Front der Drei", bestehend aus der Kata'ib, der PNL der Chamoun und dem Bloc National der Eddé zum Präsidenten gewählt worden. 147 Folgt daraus aber, dass, wie Hanf konstatieren zu können glaubt, sich in allen Gemeinschaften seit 1943 nicht wenige politische Akteure zu den Grundsätzen des Nationalpaktes bekannten und nicht mehr auf einer Durchsetzung ihrer jeweils "reinen Lehre" beharrten148 und damit auch der libanesische Nationalismus für die Maroniten nur eine "funktionale Ideologie" zur Sicherung ihrer Vormachtstellung war? 149

140

Hanf, S.304.

141

Bkirki and Franjieh clash over Geagea.; Lebanese news-13-1-2001; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2001/January01/13_01_01/N13.HTM (Abgerufen am 20.3.2001).

142

Phares, S.113.

143

Hanf, S.306.

144

Ebd., S.303.

145

Siehe zuvor. Auch Roncaglia (S.167) hebt hervor, dass sich die Franjieh von der Mythologisierung des 'Kriegervolkes' der Mardaiten haben "inspirieren" lassen.

146

Hanf, S.97.

147

Ebd., S.163.

148

Ebd., S.177.

149

Ebd., S.183.

30 Ob der Maronismus aber rein nur ein dem jeweiligen – tagespolitischen – situativen Kontext anpassbares und sich bisweilen sogar säkularistisch gebendes Vehikel zur Durchsetzung von Partikularinteressen gewesen ist und ist, muss angezweifelt werden. Zwar hatte sich Pierre Gemayel als Gründer der Kata'ib offiziell der Idee des Säkularismus verschrieben. 150 Doch mit dem Nationalpakt von 1943 betrachtete er diese Idee als verwirklicht. 151 Als "Newcomer", als die sie sich gerne sahen, als den zu'ama nicht angehörende Familie hatten die Gemayel in den 30er-Jahren die politische Bühne des Landes betreten und mit der Kata'ib eine Partei gegründet, die allen Libanesen offen stehen sollte. Faktisch jedoch blieb die Phalange, wie auch Hanf konzidiert, "eine populistische Partei libanesischer Nationalisten mit vorwiegend maronitischer Anhängerschaft (...)"152 . Auch stellten die Gemayel niemals eine mit den alten Traditionen brechende und auf eine offene Gesellschaft hinwirkende politische Kraft dar, auch wenn Bashir Gemayel in der Auseinandersetzung mit den Franjieh betonte, dass es ihm um die Niederringung der Feudalmacht im Nordlibanon gehe. Der in vielen Darstellungen konstruierte Gegensatz zwischen den Franjieh als "einer der letzten maronitischen zuama, die eine starke Position auf Grund von Familientraditionen und Großgrundbesitz" innehatten und der Kata'ib als einer "Volksgruppenpartei, entstanden nicht" auf der Basis traditionaler Clansloyalitäten, "sondern auf Grund einer Programmatik und einer Politik der Interessenvertretung von Kleinbürgern und Arbeitern"153 , gibt nur die Art und Weise der Selbstdarstellung der Phalangisten wieder. Bei Kamal Salibi hingegen lassen sich die Spuren der Familie bis in das Jahr 1545 zurückverfolgen, als sie damals schon, begünstigt von der neuen osmanischen Herrschaft, in die Reihen der Notabelnfamilien des Dschubal 'al-Lubnan aufrückte. 154 Und was die "Bemühungen" von Clanschef Pierre Gemayel anbetrifft, aus der Kata'ib eine Partei westlichen Zuschnitts zu machen, stellt auch Salibi fest, dass diese nicht von "Erfolg" gekrönt wurden. 155 In Wirklichkeit blieb die Partei eine Organisation in 'Familienbesitz', deren Vorsitz im Erbrecht vergeben wurde und wird. So folgten auf Pierre Gemayel dessen Söhne, zunächst Bashir und dann 'Amin. Auch heute noch werden zwei Flügel der Partei von den Nachkommen von "Shaikh Pierre" angeführt: Die exilierten Phalangisten folgten seinem Sohn 'Amin und im Libanon selbst wurde für die Status quo-Fraktion, die sich an den Wahlen in der Zweiten Republik beteiligt, sein Enkel, mit Namen ebenfalls Pierre, ins Parlament gewählt. 156 So ging es in Ehden auch um das, was man als eine Blutfehde, als eine Vendetta bezeichnen kann. Schon die selbst von Hanf erwähnte Tatsache, dass Suleiman Franjieh der Familie der Gemayel nach diesem Massaker "Blutrache" schwor, weist in diese Richtung. Es handelte sich hier, wenngleich auch in extremer Weise, um einen Fall der von D. Th. Schiller in anderem Zusammenhang dargestellten "Verwendung von mafia-ähnlichen Methoden, von Atten150

Vgl. Zitat ebd., S.182f.

151

Salibi, S.197.

152

Hanf, S.107.

153

Ebd., S.304.

154

Salibi, S.14.

155

Ebd., S.188.

156

Siehe: LebVote: Lists of Winning Candidates: Mount-Lebanon, Second District; wysiwyg://295/http://www.lebvote....vote/English/results/Results5.asp (Abgerufen am 20.2.2001).

31 taten, Erpressungen (...)", die im Libanon "besonders in diesen feudalen Kreisen an der Tagesordnung" sind und die "im politischen täglichen Leben rückhaltlos eingesetzt" werden. 157 So erscheint es an dieser Stelle auch zu weit gegriffen, das von der Kata'ib am Ende der 70erJahre vorgegebene Ziel einer "unification of the Christian gun" und den damit verbundenen Versuch einer Liquidierung aller anderen christlichen Gruppierungen mit dem Ziel der Durchsetzung einer "one-party control" über den christlichen Sektor als Anzeichen für einen "faschistischen Trend" in der Phalange zu werten. 158 Vielmehr hatte hier einer der Clans das alte Muster der interfamiliären Konfliktregulierung und das "stratified social mosaic", das mit einem fragilen System von "checks and balances"159 das innerlibanesische Machtgleichgewicht zwischen den verschiedenen zu'ama aufrechterhielt, zu zerstören und für den eigenen Familienverband eine absolute Vormachtstellung zu erringen versucht. Dies alles zeigt, dass die Religionsgemeinschaft nicht der einzige – und oft auch nicht der primäre – die Identität der Libanesen bestimmende Faktor ist. "Loyalitäten verlaufen in diesem Mosaik" somit nicht nur, so wie etwa Schiller konstatierte, "auf vertikaler Ebene, inne rhalb der eigenen Familien- und ethnisch-konfessionellen Schicht"160 – was die Entwicklung eines gesamtlibanesischen Nationalempfindens seit jeher erschwert hat – sondern sie verlaufen über die Familie hin zur communauté. "Confessionalism" und "familism" sind somit nicht als zwei auf gleicher Ebene, quasi nebeneinander Loyalitäten schaffende und bedingende Faktoren anzusehen. 161 "Familism" bildet vielmehr die Grundlage eines jeden hier anzutreffenden "Communalism", eines jeden auf die jeweilige Religionsgemeinschaft hin ausgerichteten Zugehörigkeitsgefühls und der Clan ist das Subsystem, über das sich im Libanon das Individuum definiert. Die Clanszugehörigkeit ist der primordiale und primäre Faktor, der die Identität eines Libanesen bestimmt und von der aus sich die Bindung zu einer religiösen communauté hin entwickelt. Und diese Strukturen haben sich in der Geschichte als ausgesprochen überlebensfähig erwiesen. Sie überlebten nicht nur die vielen innerchristlichen Auseinandersetzungen, sondern auch die politische Neuordnung von Ta'if. Geht es in der Zweiten Republik um christliche Politik, geht es selbst um die maronitischen Exil-Organisationen, so findet man noch immer die alten Namen der Clansfürsten, wenngleich heute die Generation der Söhne und Enkel die Geschicke der Familien lenkt. Wenn diese Enkel und Söhne nun unter dem Eindruck der 'Entmachtung' ihrer communauté wieder etwas näher zusammenrücken wollen und nach einer "inter-Maronite reconciliation" suchen, 162 so tun sie das, weil Suleiman Tony Franjieh, 'Amin Gemayel und Carlos Eddé er-

157

Schiller, D. Th.: Der Bürgerkrieg im Libanon. Entstehung, Verlauf, Hintergründe, Gütersloh 1979, S.50.

158

Phares, S.113ff.

159

Halim Barakat, zitiert bei Schiller, S.45.

160

Schiller, S.45.

161

So etwa bei Barakat, zitiert ebd.

162

Franjieh moves to unite Maronites, then all Christians. Minister wants common stand to show Damascus and pope; Lebanese news-8-2-2001; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2001/February01/08_02_01/N12.HTM (Abgerufen am 20.3.2001).

32 kannt haben, dass es angesichts der syrischen Hegemonie über ihr Land "nicht im Interesse der Gemeinschaft" ist, wenn "Spannungen in ihren Reihen überwiegen"163 . Und auf die "gemeinsamen Faktoren", die die Maroniten miteinander 'vereinigen', weist die in diesen Gesprächen erfolgte Gleichsetzung von innermaronitischem Dialog und "true national reconciliation" hin. 164 Auch in der Zweiten Republik sind sich die Clanschefs trotz aller Dissonanzen darin 'einig', dass sie in ihrer Gesamtheit eine "Nation" konstituieren. Wenn Hanf daher dieser Volks- bzw. Religionsgruppe vorwirft, in ihrer Geschichte jeweils unterschiedliche "Ideologien" opportun im Sinne ihrer jeweiligen tagespolitischen Aspirationen instrumentalisiert und transformiert zu haben, so scheint er die Persistenz des Maronismus in der Politik zu verkennen. Wenn er somit die von ihr mehrmals – und auch heute wieder von Phares – bevorzugte "Klein-Libanon-Lösung", d.h. die Strategie "eines Rückzugs auf einen Teil des Libanon durch dessen Teilung" als eine zweite der "strategischen Ideologien", als einen vom libanesischen Nationalismus zu unterscheidenden partikularistischen "christlichen Nationalismus" bezeichnet165 , so blendet er die erkennbare gemeinsame ideologische Grundlage aller dieser Politikstrategien aus. Es ist zwar offensichtlich, dass maronitische Politiker diese "Klein-Libanon-Lösung" nur dann ins Spiel gebracht haben, wenn sie von der Unhaltbarkeit ihrer Vorherrschaftsansprüche in einem Groß-Libanon überzeugt waren. Doch Separatisten, Konvivialisten, die Anhänger der Idee eines von Maroniten beherrschten La ndes, sowie jene Kata'ib-Führer, die allein aus dem Grund an den Verhandlungen in Ta'if teilnahmen, um die "konstitutionellen Prärogativen" ihrer Volksgruppe zu retten166 , hatten auch unter Anwendung unterschiedlicher politischer Strategien und Taktiken nur ein Ziel: Die Erhaltung der "originalité" einer maronitischen Nation und Identität, auch wenn diese familiärfragmentiert bleibt.

2.

Die "arabische Identität" der Griechisch-Orthodoxen

Anfang Oktober 2000 erklärte der griechisch-orthodoxe Patriarch von Antiochien, Ignatius IV Hazim, dass er in den Äußerungen Kardinal Sfeirs zur Präsenz syrischer Truppen im Libanon keine Provokation erkennen könne. Immerhin habe das geistliche Oberhaupt der Maroniten das Recht, über die Probleme seiner Gemeinde zu sprechen. Gleichzeitig aber betonte er einschränkend, dass es hier um die Probleme der Maroniten und nicht um die seiner eigenen Glaubensgemeinschaft gehe. 167 Reserviert gegenüber dem "Libanonismus" der Maroniten und deren "politische Dominanz im Lande" zeigte sich die griechisch-orthodoxe Gemeinde des Libanon aber schon immer. Dies zeigt, dass es sich bei der Auseinandersetzung um den nationalen Charakter des Landes nicht um eine rein christlich-muslimische Meinungsverschiedenheit handelt. 168 163

Gemayel, Franjieh agree on long-term plans for Christians. Key figures discuss 'general outlines' to solve country's ills; Lebanese news-25-1-2001; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2001/January01/25_01_01/N14.HTM (Abgerufen am 20.3.2001).

164

Franjieh seeks dialogue; Lebanese news-9-2-2001; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2001/February01/09_02_01/N18.HTM (Abgerufen am 20.3.2001).

165

Hanf, S.183.

166

Dagher, S.143.

167

Orthodox Church backs Maronite Seat's recent stances; Lebanon.com Newswire – Local News October 4, 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/10/4.htm (Abgerufen am 13.10.2000).

168

Salibi, S.54.

33 Wenn heute der griechisch-orthodoxe Bischof des Dschubal 'al-Lubnan die "arabische Identität" seines Heimatlandes anerkennt 169 und sich zu den Grundlagen des Übereinkommens von Ta'if bekennt, so ist das mehr als nur eine durch tagespolitische Sachzwänge bedingte Kompromissbereitschaft, wie etwa bei den maronitischen Präsidenten der Zweiten Republik. Im konfessionalistischen System des Libanon haben griechisch-orthodoxe Christen seit der Staatsgründung schon ihre eigene Identität anders definiert und ihre eigene Position zum Staat selbst anders bestimmt als die Maroniten. Ein der Geisteswelt des Maronismus diametral entgegengesetztes Geschichtsbewusstsein und Selbstempfinden begründet diese 'arabische Identität' der Griechisch-Orthodoxen. Es handelt sich hier indes nicht nur um ein anderes Geschichtsbild, sondern auch um eine andere Geschichte.

2.1

Die Griechisch-Orthodoxen im "großsyrischen" und im arabischen Raum

Im Jahre 1940 wurde in Syrien die "Sozialistische Partei der Arabischen Wiedergeburt", weltweit bekannt als Baath-Partei, gegründet, die sich als Bestandteil der panarabischen Bewegung versteht. Deren miteinander verfeindete Flügel üben heute in Damaskus und Baghdad die Macht aus. Gründungsväter und Autoren der Baath-Ideologie waren der Sunnit Salah Bitar und der Lehrer Michel Aflak, ein griechisch-orthodoxer Christ. Sechs Jahre zuvor hatten Säkularisten, denen die Idee des Panarabismus zu vage und zu weit greifend war, ihren eigenen, geografisch etwas eingegrenzteren Vorstellungen von einem vorderorientalischen Großstaat ein parteipolitisches Fundament zu geben versucht: Unter der Führung von Antun Sa'adeh propagierte die von ihm zunächst unter dem Namen "Parti Populaire Syrien" (PPS) gegründete Organisation170 die Idee eines "Großsyrien", das den gesamten Fruchtbaren Halbmond, bestehend aus dem "Irak, Syrien, Libanon, Palästina" – und auch Zypern – umfassen sollte. "Die großsyrische Nation", von der Sa'adeh sprach, war für ihn "eine objektive Gegebenheit geographischer, historischer, ethnischer und kultureller Natur (...)". 171 Wie Aflak stammte auch der 1949 im Libanon hingerichtete Gründer der PPS aus der griechisch-orthodoxen Gemeinde des Patriarchats von Antiochien. Was die in Syrien regierende Baath-Partei anbetrifft, so registriert auch Regina Panzer in ihrer Untersuchung das bis heute "weit verbreitete Engagement griechisch-orthodoxer Laien". 172 Bezüglich der Lage gerade dieser Minderheit in der arabischen Welt und speziell in Syrien konstatierte Anschütz so zu Mitte der 80er-Jahre: "Die Griechisch-Orthodoxen erfreuen sich in den arabischen Ländern allgemein günstiger Lebensbedingungen. In Syrien konnten sie während der Regierungszeit von General Hafiz AlAssad in bedeutende Staatsstellungen aufsteigen. Ihr Einfluss in der Wirtschaft ist auch unter dem sozialistischen Regime ungebrochen."173

169

Panzer, Regina: Identität und Geschichtsbewusstsein. Griechisch-orthodoxe Christen im Vorderen Orient zwischen Byzanz und Arabertum; Studien zur Zeitgeschichte des Nahen Ostens und Nordafrikas, Bd.3, Hamburg 1998, zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1997; S.100.

170

Vgl. Salibi, S.54.

171

Hanf, S.104.

172

Panzer, S.24.

173

Anschütz, S.114.

34 Auch im Libanon, wo beide Strömungen der Baath, die "irakische und syrische Version" anzutreffen sind, rekrutiert sich der christliche Teil der Anhängerschaft(en) der beiden Splitterparteien aus Mitgliedern, "die zum größten Teil der griechisch-orthodoxen Gemeinde" "entstammen". 174 Und in der Führung und bei den Mitgliedern der Partei Sa'adehs, die sich am Ende der 30er-Jahre von faschistischen Vorbildern fasziniert zeigte und sich nun in "Syrisch Sozial Nationalistische Partei" (SSNP) umbenannte, 175 finden sich auch am Beginn der 90erJahre noch "zahlreiche" Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft. Über Jahre parteiinterner Spannungen und sogar Spaltungen in unterschiedliche Fraktionen hinweg – als Teile dem alten "faschistoiden Stil der Anfangsjahre"176 noch immer anhingen, während andere sich der Linken annäherten – hielt die Partei jedoch an ihren grundsätzlichen pansyrischen Auffassungen fest. Und so kennt auch die 1998 – wieder einmal – wieder vereinigte 177 und in der Regierung vertretene SSNP immer noch nur ein Ziel: "Wir sind eine Partei, die die Einheit (der syrischen Nation) fordert."178 Für Kamal Salibi ist diese pansyrische Ausrichtung der Griechisch-Orthodoxen des Fruchtbaren Halbmondes eine natürliche Folge ihrer demografisch-geografischen Verteilung über den gesamten Raum hinweg, denn sie "(...) waren überdies nicht im Entferntesten auf den Libanon begrenzt: Es gab mehr von ihnen in Syrien allein, nicht mitgezählt jene in Palästina und Transjordanien, als alle die christlichen Gemeinden des Libanon zusammengenommen". 179 Letzteres dürfte übertrieben sein, da Einschätzungen heute von ca. 400.000 orthodoxen Christen in Syrien ausgehen. 180 Carole Dagher legt sich auf die Zahl von 1,2 Millionen fest 181 , obwohl gerade dies bei einer geschätzten Gesamtzahl von 600.000 bis 1,5 Millionen Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft im ganzen Nahen Osten doch ein wenig hochgegriffen erscheint. 182 Sicher ist jedoch, dass im Rahmen der demografischen Verteilung der Libanon mit seinen ca. 250.000 Angehörigen183 nur den nach Syrien zweitwichtigsten Bevölkerungsschwerpunkt für diese Gruppe darstellt, die sich des Weiteren auch noch über den Irak, Jordanien, Israel, (Palästina) und Ägypten verteilt.

174

Schiller, S.72.

175

Hanf bezeichnet die Partei als Syrisch Nationale Sozialistische Partei, kurz PSNS (Hanf, S.104). Sogar die von Schiller eingebrachte Darstellung, dass sich diese Organisation später sogar ganz unumwunden als "Nationalsozialistische Partei" bezeichnete (Schiller, S.69), lässt sich aus ein und derselben arabischen Namensgebung –'al hizb (Partei) 'al quawmi (Quawmiyya= Nation) 'al 'ijtimai (sozial oder auch sozialistisch) – herauslesen. Heute bevorzugt die Partei in den englischsprachigen Übersetzungen ihrer Verlautbarungen die Bezeichnung Syrian Social Nationalist Party, kurz SSNP.

176

Hanf, S.105.

177

SSNP's new unity platform long on philosophy but short on detail; Lebanese news-13-11-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/November98/13_11_98/N9.HTM (Abgerufen am 4.12.2000)

178

SSNP calls internal truce after 11 years of discord; Lebanese News-23-10-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/October98/23_10_98/N5.HTM (Abgerufen am 4.12.2000).

179

Salibi, S.54.

180

Panzer, S.15.

181

Dagher, S.18.

182

Was Carole Dagher, die beide Zahlen in ihrer Studie anführt, nicht aufzufallen scheint (Siehe ebd. S.68). Zu den Schätzungen allgemein siehe auch: Anschütz, S.109.

183

Aus den vom Fischer-Weltalmanach angegebenen Prozentzahlen ergäbe sich eine Gesamtzahl von ca. 300.000 griechisch-orthodoxen Einwohnern im Libanon (Siehe: Der Fischer Weltalmanach 2001, Frankfurt am Main 2000, Sp. 493).

35 Zudem stellt historisch das Patriarchat von Antiochien mit seinem Sitz in Damaskus den zentralen Orientierungspunkt für die Griechisch-Orthodoxen im Libanon dar. Und der geografische Raum, den dieses Patriarchat umfasst, stellte in der Vergangenheit und stellt auch heute noch den territorialen Bezugsrahmen für deren Identitätsfindung und Positionsbestimmungsversuche im gesamten "Fruchtbaren Halbmond" dar. Nicht zufällig deckten sich die territorialen Vorstellungen der Großsyrien-Konzeptionen eines Antun Sa'adeh weitgehend mit dem Umfang jener Gebiete, in denen schon zu Zeiten des Osmanischen Reiches der Patriarch von Damaskus die Rechtshoheit über die Mitglieder seiner Kirchengemeinde ausüben konnte. Dazu kamen bei Sa'adeh nur die fünf Bistümer des Patriarchats von Jerusalem, das allerdings mit seinen (1985) 15.000 Mitgliedern "von den drei griechisch-orthodoxen" Kirchen "im Vorderen Orient die kleinste ist"184 und auf Grund der arabisch-ethnischen Ausrichtung seiner Gemeindemitglieder als 'Einzugsbereich' der antiochenischen Kirche gelten kann. In diesem Zusammenhang auffallend ist auch, dass sich die Verbreitung der Baath-Ideologie trotz ihres panarabischen Anspruches auf den großsyrischen Raum beschränkte und die Entwicklung nennenswerter Parteiorganisationen nur in Syrien, dem Irak und dem Libanon erfolgte. Außerhalb dieser Region und dort, wo nur marginale orthodoxe Minderheiten existieren, konnte der Baathismus nie mit seinem wichtigsten Widersacher in der panarabischen Bewegung, dem Nasserismus, konkurrieren. Wenn Hanf daher die Präsenz dieser Religionsgruppe in den pansyrisch und panarabisch ausgerichteten Parteien darauf zurückführt, dass diese jenen "Gemeinschaften" (communautés) zuzurechnen ist, "(...) denen der libanesische Proporz nicht sonderlich viel zu bieten hatte"185 , so trifft dies nur einen Teil der Wahrheit. Unklar bleibt bei dieser auch bei Panzer anzutreffenden These, warum die Griechisch-Orthodoxen anders als die Maroniten "kein Interesse daran" haben sollen, "politisch als Konfessionsgruppe zu handeln". Denn die dieser These zu Grunde liegende Einschätzung, dass "das konfessionalistische System Konfessionen" begünstige, "die sich auf ein bestimmtes Gebiet konzentrieren"186 , bleibt eine fragliche Theorie. Denn da in den einzelnen Wahldistrikten die Zuteilung der Parlamentssitze an die communautés gemäß deren Bevölkerungsanteilen erfolgt, muss auch die Zahl der diesen Gemeinschaften im Parlament in Beirut zustehenden Sitze ihrem proportionalen Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechen. 187 Eine Benachteiligung der griechisch-orthodoxen communauté war hier schon vor Ta'if nicht zu erkennen, 188 da diese bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung, der von 1932 bis 1973 um die zehn Prozent schwankte 189 , 11 von 99 Sitzen für sich in Anspruch ne hmen konnte. 190 Sogar überproportional repräsentiert ist sie nun im Parlament der Zweiten Republik, wo ihr trotz eines Bevölkerungsanteils von nur mehr 7% 14 von 128 Sitzen zuste184

Anschütz, S.117. Regina Panzer gibt in ihrer Dissertation eine Schätzung an, derzufolge sich die Zahl der heute in Israel und Palästina lebenden griechisch-orthodoxen Christen auf insgesamt 53.000 belaufen soll (Panzer S.15). Jedoch hat schon Anschütz 1985 darauf verwiesen, dass in diesem Gebiet auch Angehörige der antiochenisch griechisch-orthodoxen Kirche leben, was den Charakter dieses Kirchengebiets als quasi 'Anhängsel' des Patriarchats von Damaskus nur noch deutlicher unterstreicht.

185

Hanf, S.105.

186

Panzer S.20.

187

Vgl. Hanf, S.94 u. 98ff.

188

Wenn Panzer hier hervorhebt, dass auf Grund des Wahlsystems orthodoxe Parlamentarier in ihren Wahlbezirken "auch von der nicht-orthodoxen Bevölkerungsmehrheit dieser Bezirke " gewählt werden müssen – und ihnen dadurch ein Nachteil entstehe (Panzer, S.20) –, so trifft gerade dies in diesem System auch auf die Kandidaten anderer communautés zu. (Siehe dazu weiter unten).

189

Hanf, S.119.

190

Siehe: Schiller, S.256.

36 hen. 191 In einem Staat, über den der 'große Nachbar' Syrien heute die Hegemonie ausübt, verwundert dies allerdings kaum. Der Hinweis auf die demografisch-geografische Verteilung dieser Minderheit erklärt, warum deren politisches Weltbild über den Horizont des Libanongebirges hinaus ausgerichtet ist. Als generelles und vor allen Dingen alleiniges Erklärungsmuster für die Herausbildung eines Selbstbewusstseins, das für eine sich in einer solchen 'Diaspora-Situation' befindlichen Minorität typisch wäre, eignet sich diese These nicht, fragt sich doch, warum die ebenfalls über den syrisch-mesopotamischen Raum verstreut und überall in einer zahlenmäßigen Minderheitensituation lebenden assyrischen Christen ein eigenständiges nationales, und kein 'arabisches' Identitätsbewusstsein entwickelt haben. 192 Zusammen jedoch mit den "traditionellen Interessen der libanesischen GriechischOrthodoxen", von denen auch Panzer spricht, 193 weist diese Theorie schon eher in eine Ric htung, die diesen Identitätsfindungsprozess erklären hilft, weil sie dessen historische Dimens ion miteinschließt. Denn schon die Gründung des Grand Liban 'verdammte', so May Davie, die Angehörigen dieser Gemeinschaft "zu einem Schicksal des inneren Exils". So wurden sie nun zu einer "Minderheit reduziert, nachdem sie nach den sunnitischen Muslimen die zweite religiöse Gruppe in der Levante gewesen waren". Als Folge davon konnte der neue libanesische Staat von ihnen auch keine "bedingungslose Verbundenheit" erwarten, da er gerade ihnen so gut wie nichts "anzubieten"194 hatte, bzw. nur mehr Rang vier in der Volksgruppenhierarchie offerieren konnte. Den Griechisch-Orthodoxen blieb im Staat des Großlibanon nur die Erinnerung an eine große Vergangenheit, in der ihre politische und wirtschaftliche Bedeutung im Orient ihre zahlenmäßige Stärke dort übertraf. Mit der maronitischen bzw. maronistischen Geschichtsschreibung konnten und können sie sich nicht identifizieren, denn sie gibt nicht 'ihre Geschichte' wieder. Und so ist für den Bischof des Dschubal 'al-Lubnan die "offizielle libanesische Geschichtsdarstellung" nichts weiter als eine "selbstverherrlichende Nationalgeschichte" der Maroniten. 195 In ihrem eigenen Geschichtsbild hingegen überwiegt der Leitgedanke "der Loyalität der Ostchristen (...) dem Orient" gegenüber196 , den sie in bewusstem Gegensatz zur Westorientierung der mit Rom uniierten Christen betonen.

2.2

Die historische Rolle der Griechisch-Orthodoxen im Orient

Die Geschichtsschreibung der Griechisch-Orthodoxen im Patriarchat von Damaskus ist wesentlich jüngeren Datums als die der Maroniten im Libanon. Allererste Gesamtdarstellungen zur orthodoxen Kirchengeschichte sind erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschienen und Asad Rustums Standardwerk schloss erst im Jahre 1954 eine bis dahin in dieser Hinsicht bestehende "Lücke"197 . Im Einklang mit westlichen Wissenschaftlern und griechischen Que llen betonen zeitgenössische Historiker wie Tarik Mitri, dass ihre Gemeinde bis zum 19. Jahrhundert zu den "drei einflussreichen nichtislamischen millets" – d.h. autonomen Volksgrup191

Vgl. u.a. Fischer Weltalmanach 2001, Sp. 493.

192

Vgl. dazu Anschütz, S.51f. u. 81ff.

193

Panzer, S.20.

194

Davie, May: Atlas historique des Orthodoxes de Beyrouth et du Mont Liban, 1800-1940, Université de Balamand 1999, S.109.

195

Panzer, S.100.

196

Ebd., S.104.

197

Ebd., S.45. u. S.68.

37 pen – im Osmanischen Reich gehörte. 198 Nach der Einschätzung westlicher Orientalisten stellte sie über weite Zeiträume hinweg sogar die nach den muslimischen Türken zweitbedeutendste Gesellschaftsschicht dar, da dem "millet-i Rum" von der Hohen Pforte" ein "stillschweigender Vorrang vor den anderen millets" eingeräumt wurde. 199 In wirtschaftlicher Hinsicht war sie in vielen Phasen sogar das wichtigste Element im Staat der Ottomanen. Doch waren es nicht nur ökonomische Gründe, aus denen heraus die "Orientchristen" mit ihren muslimischen Nachbarn subjektiv das "Schicksal teilten". 200 Stärker noch als frühe griechische Kirchenchronisten, die Sultan Mehmet II, der 1453 Konstantinopel eroberte, eine spezielle Neigung zum Griechentum unterstellen, 201 sehen Historiografen wie Asad Rustum in diesem osmanischen Herrscher jenen Mann, der "das Überleben der Orthodoxie gesichert" habe 202 . Mehmet II sicherte aber nicht nur das Überleben der byzantinischen Reichskirche über den Fall des Byzantinischen Reiches hinaus, sondern auch das anderer christlicher Glaubensgemeinschaften wie auch das der jüdischen in seinem Reich. Der Sultan handelte hier indes weniger tolerant als vielmehr pragmatisch. Denn es ging ihm darum, als muslimischer Herrscher seine "Autorität" in seinem mehrheitlich von nicht-muslimischen Völkern bewohnten Reich auszubauen. So erklärte sich auch, warum "er den "(geistlichen)" Führern der millets weit ausgedehntere Macht über ihre Anhänger gab, als sie in christlichen Staaten je besitzen konnten" und sie damit an sich zu binden versuchte. 203 So fiel auch auf "den ökumenischen Patriarchen (...) von nun an (...) ein Abglanz der Macht der byzantinischen Kaiser"204 , wie Rustum richtig darstellt, denn seine zivile wie religiöse "Autorität" ging weiter als diejenige, derer sich die Ostkirche "im Byzantinischen Reich" je "erfreut" hatte. 205 Nicht Unrecht haben die Historiografen des Patriarchats von Antiochien aber durchaus, wenn sie von einer emotionalen und vor allen Dingen ideellen Bindung zwischen dem Sultan der Osmanen und dem Kirchenoberhaupt von Konstantinopel sprechen. Denn die ersten osmanischen Herrscher sahen sich nach der Eroberung der byzantinischen Hauptstadt als Sieger, die nicht etwa ein Reich zerstört, sondern die die "rechtmäßige Nachfolge der Byzantiner" angetreten hatten206 , so wie sich die Karolinger in Europa als Erben der Römischen Kaiser betrachtet hatten und wie im Abendland die Kaiserkrönung Karls des Großen als "translatio imperii", als eine "Übertragung des römischen Reiches von den Byzantinern auf die Franken und 198

Ebd., S.88. Zum Begriff "millet" siehe auch weiter unten.

199

Clogg, Richard: The Greek Millet in the Ottoman Empire; in: Benjamin Braude/Bernard Lewis (eds.), Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society; Volume I: The Central Lands, New York/London 1982, S.186. Die Bezeichnung "Römisches Millet" leitet sich von dem Anspruch Konstantinopels und der Ostkirche ab, das "zweite Rom" zu sein.

200

Panzer, S.110.

201

Braude, Benjamin: Foundation Myths of the Millet System; in: Braude/Lewis, Vol. I, S.75.

202

Panzer, S.77.

203

Shaw Stanford J.: Das Osmanische Reich und die moderne Türkei; in: Gustave Edmund von Grunebaum (Hrsg.), Der Islam II. Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel, Weltbild Weltgeschichte Band 15; Lizenzausgabe der Fischer Weltgeschichte, Augsburg 1998, S.58ff.

204

Panzer, S.77.

205

Clogg, S.186f.

206

Shaw, S.54.

38 Deutschen" angesehen wurde. 207 "Als gazi der Muslime, Khan (...) der Türken und Kaiser der Christen" 208 trat der Sultan in letzterer Rolle, als "neuer Herrscher über Byzanz" zunächst in ein Verhältnis zur Ostkirche, das der Rolle Karls des Großen als Protektor des Bischofs von Rom in vielen Aspekten ähnelte. Auch wenn diese imperiale Kaiseridee schon bald wieder dem 'Traum' von der "Wiedererschaffung eines" eben wieder "islamischen Reiches" weichen musste, 209 so kam die Instrumentalisierung seiner Kirche im Sinne der osmanischen Expansions- und Reichskonsolidierungspolitik auf dem Balkan auch später dem Patriarchen nur gelegen. Denn die Hohe Pforte hatte vor allen Dingen deswegen auch weiterhin Interesse an dessen unversehrter Oberhoheit über die Christen im östlichen Mittelmeer, weil sie "das Papsttum und Venedig als die hauptsächlichen Feinde" dort betrachtete und versuchte, "mit allen Mitteln (...)" deren "Einfluss unter den Christen auf dem Balkan zu neutralisieren". 210 Die Konvergenz orthodoxer und muslimischer Interessen angesichts römischer Aspirationen im östlichen Mittelmeer ist so nicht von ungefähr zu einem Leitmotiv der griechischorthodoxen Historiografie geworden, die leidenschaftlich von den "Barbaren des IV. Kreuzzugs" berichtet, die – bekannterweise – nicht den Islam, sondern Byzanz zum Feind erkoren, in Konstantinopel wie die Vandalen gehaust und die die "Agia Sophia" – damals noch eine Kirche – "geschändet hatten". Die immer erfolgreicheren Missionierungsversuche der katholischen Kirche im Vorderen Orient, zu denen ab dem 18. Jahrhundert auch noch die der Protestanten und Lutheraner kamen, taten ein weiteres zur Stärkung der Bindung des Patriarchen an den Sultan, auch wenn sie nur für ersteren ein ernstes Problem darstellten. Im Mont Liban selbst verschärfte diese Entwicklung die bereits vorhandenen Gegensätze zu den mit Rom uniierten Maroniten noch weiter. 211 Und so erklärt sich für den Bischof des Mont Liban auch, warum die Byzantiner den "türkischen Osten" der "fränkischen Herrschaft" vorzogen212 und Patriarchen sagten, dass sie in Konstantinopel lieber "den Turban der türkischen Herrschaft (...) als die lateinische Mitra" sähen213 . Doch das sich im 19. Jahrhundert verändernde muslimische Umfeld und die entstehenden türkischen und arabischen Nationalismen rangen den Orthodoxen neue Positions- und Identitätsbestimmungsversuche ab. Der Arabismus forderte auch das von dem bis dahin auch im "Fruchtbaren Halbmond" in ethnischer Hinsicht griechischen Klerus aufrechterhaltene Geschichtsbild heraus, das davon ausging, dass die "Griechisch-Orthodoxen Syriens ursprünglich von der griechischsprachigen Bevölkerung" (der Levante, Anm. d. Verf.) "abstammten". 214

207

Zitiert bei: Goez, Werner: Die Theorie der Translatio Imperii und die Spaltung der Christenheit, in: Reinhard C. Meier-Walser/Bernd Rill, (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. Sonderausgabe Politische Studien, Hanns-Seidel-Stiftung, München 2000, S.28.

208

Shaw, S.52.

209

Ebd.

210

Karpat, Kemal H.: Millets and Nationality: The Roots of the Incongruity of Nation and State in the PostOttoman Era, in: Braude/Lewis, Volume I, S.145.

211

Davie, S.22f.

212

Panzer, S.104.

213

Clogg, S.191.

214

Panzer, S.51.

39 Nun löste sich die orthodoxe Identität von ihrem griechischen Fundament, ohne sich dabei jedoch von ihren 'orientalischen' Wurzeln zu trennen. Im syrischen Raum boten sich aber nun, wie Regina Panzer konstatiert, unterschiedliche "Identitätsoptionen" an. Doch stellt sich die Frage, ob die Ablösung des letzten Griechen im Amte des Patriarchen von Antiochien und die Wahl eines 'Arabers' zu dessen Nachfolger im Jahre 1899 wirklich eine eindeutige Festlegung auf die arabische "Option" und eine klare Verabschiedung von einem "quasi byzantinischhellenistischen Selbstverständnis" bedeutet hat 215 . Die Darstellungen zumindest der Kirche nhistoriker und aktuellere zeitgeschichtliche Entwicklungen lassen zumindest Tendenzen hin zu einer eher multiplen Identitätsfindung erkennen.

2.3

Die "arabisch"- orthodoxe Kirche von Antiochien

Bei Kamal Salibi findet sich eines der gängigsten Erklärungsmuster für die führende Rolle von Christen in der arabischen Nationalbewegung. So schreibt er, es sei "leicht" zu verstehen, "warum christliche eher als muslimische Araber (...) ein Gefühl arabischer Nationalität" entwickelt haben und warum dies gerade im Raum um Beirut geschehen sei. Denn dort waren sie wie etwa die Studenten an der Amerikanischen Universität von Beirut "modernen westlichen Ideen" "ausgesetzt." Und als "andere wichtige Faktoren" führt Salibi an: "Die muslimischen Araber betrachteten sich selbst, weil sie Muslime waren, als die sozial und politisch mit den muslimischen Türken, die tatsächlich ihre Herrscher waren, Gleichberechtigten. (...) Die christlichen Araber konnten nicht die gleiche Haltung einnehmen, weil sie Araber waren, aber keine Muslime. Als Araber" (d.h. in einem arabischen, säkularen Nationalstaat, Anm. d. Verf.) "aber konnten sich dieselben Christen legitimerweise als mit den muslimischen Arabern, unter denen sie tatsächlich lebten, Gleichgestellte betrachten (...)."216 Doch heben gerade zeitgenössische Historiografen heute hervor, dass die Orthodoxen in "der arabischen 'nah²a' (...) eine weniger bedeutende Rolle als die anderen arabischen Christen" gespielt haben, weil sie sich prinzipiell westlichen Ideen weniger öffneten als diese. 217 Somit stellt das Jahr 1899 in Tarik Mitris Augen nicht den "Startpunkt für nationale Unabhängigkeit" dar. Es signalisierte vielmehr "das arabische Erwachen im Sinne von mehr Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches (...)"218 . Tatsächlich hatte sich sogar der "zweite arabische Patriarch von Antiochia, Gregor Haddad", gegen die "Unabhängigkeit" der arabischen Provinzen vom Osmanischen Reich ausgesprochen. 219 Parallelen zu der Entwicklung auf der griechischen Halbinsel selbst sowie zur Haltung des Patriarchats von Konstantinopel zur griechischen National- und Unabhängigkeitsbewegung sind unverkennbar. Denn auch hier konnten sich die um ihre Privilegien im osmanischen Staat fürchtenden Kirchenoberhäupter nur schwer mit dem Gedanken an einen unabhängigen säkularen Nationalstaat Griechenland anfreunden. Dies führte nach der Unabhängigkeit in Athen sogar zur Schaffung einer autokephalen Nationalkirche im Jahre 1833 220 . 215

Ebd., S.15f.

216

Salibi, S.45.

217

Panzer, S.94.

218

Ebd., S.93f.

219

Ebd., S.87.

220

Clogg, S.193.

40 In beiden Fällen ging die Herausforderung an die traditionellen "millet-Führer" von neuen gesellschaftlichen Schichten aus, die sich nicht mehr in die althergebrachten statischhierarchischen Gesellschaftsordnungen einfügen wollten. Im Falle Griechenlands erwähnt Clogg die Händler, Kaufleute und Repräsentanten eines neuen Bürgertums, die "mit ihrem sich ausdehnenden Netzwerk von kommerziellen Verbindungen" mit dem Okzident "(...) empfänglicher für von Westeuropa ausgehende nationalistische und rationalistische Strömungen" waren. 221 Im Falle Antiochiens führt Salibi am Beispiel Aleppos die "Melkiten-Familien" an, die, infolge der wachsenden "europäischen kommerziellen Aktivität" in der Region zu Wohlstand gelangt, immer mehr die Autorität der klerikalen Führungsschicht in Frage stellten. 222 Sieht die Wissenschaft aber heute die Entstehung der Nationalbewegungen auf dem Balkan – wie etwa der bulgarischen – sowohl als eine "Antwort (...) auf die ottomanische Hegemonie" als auch als eine Reaktion auf die "griechische ekklesiastische und kulturelle Unterdrückung"223 , so richtete sich in Antiochien der Widerstand nur gegen letztere.

2.4

Die multiple Identität der Orthodoxen im arabischen Raum: Standortbestimmungen zw ischen Vergangenheit und gesellschaftlichem Umfeld

"Im osmanischen Reich genossen die nicht-islamischen Religionen (...) eine gewisse Autonomie. Sie konnten ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln. Ihr religiöses Oberhaupt war der Hohen Pforte verantwortlich (...). So verstanden sich die Konfessionen immer mehr als eine 'nationale' Einheit (...)."224 Unter solchen Bedingungen hatte sich die Armenische Volks- bzw. Nationalkirche im islamischen Herrschaftsbereich beispielsweise "seit 428" schon "zur einzigen Vertreterin des Volkes und zur Bewahrerin der armenischen Kultur"225 entwickelt und so "ermöglichte" es auch das millet-System des Osmanischen Reiches "alten Nationen wie den Kopten und Armeniern ihre Identität zu bewahren". 226 Auch die Griechisch-Orthodoxen wurden von den Osmanen als ein Volk, definiert durch die Religionszugehörigkeit, verstanden. Unterstützte das millet-System das nationale Identitätsempfinden bei so vielen Volksgruppen, so beinhaltete die Einordnung der universalen byza ntinischen Reichskirche als einer "griechischen Volkskirche"227 in das System orientalischer Nationalkirchen von Anfang an Konfliktpotenziale, die spätestens im Zeitalter der aufkeimenden Nationalbewegungen dann freigesetzt wurden. Denn die ottomanische Volksdefinition schlug ja auch "Serben, Rumänen, Bulgaren, Valachen, orthodoxe Albaner und Araber" dem millet-i Rum zu, während, wie Clogg es formuliert, das "'griechische' Element" die "Kontrolle" über dieses millet ausübte. 228 221

Ebd., S.191f.

222

Salibi, S.43.

223

Clogg, S.188.

224

Suermann, S.2.

225

Anschütz, S.20.

226

Ebd., S.3.

227

Ebd., S.124.

228

Clogg, S.185.

41 Die hierarchische, pyramidale und zentralistische Struktur der einzelnen millets entsprach zwar den Aspirationen der Sultane und sollte in einem multiethnischen Staatsgebilde wie dem Reich der Ottomanen einen möglichst effektiven Staatsaufbau garantieren. Stellte indes die ethnische Heterogenität des millet-i Rum noch bis zum Aufkeimen der modernen Nationalbewegungen kein Problem dar, so widersprach die von diesem millet-System generell begünstigte Zentralisierung der Ostkirchenstruktur von Anfang an deren eigentlich dezentraler Natur. Zwar beanspruchte der ökumenische Patriarch von Konstantinopel – dem in der Reihe der Kirchenväter des Ostens eigentlich nur der 'Ehrenvorrang' vor seinen Amtskollegen gebührt – schon in vorosmanischer Zeit den 'Primat' über die Patriarchenstühle von Antiochien, Jerusalem und Alexandria und in den Wirren der arabischen Eroberungen des 7. Jahrhunderts, der byzantinischen Rückeroberung im 10. Jahrhundert und auch der Kreuzzüge konnte er diese zumindest partiell unter seinen "Einfluss" bringen. 229 Aber erst der staatliche Rahmen des alle ehemals byzantinischen Gebiete umfassenden Osmanischen Reiches schuf nun auch die staatsrechtlichen Grundlagen für das, was Clogg bezeichnet als den "Greek stranglehold", in den nun alle orthodoxen Kirchen des Ostens gerieten. 230 Aber erst im 19. Jahrhundert nahm der lokale Widerstand gegen die Vormachtstellung des griechischen Klerus überall im Reich den Charakter von ethnischen Auseinandersetzungen an. Noch im 17. Jahrhundert stellte der Widerstand z.B. der Antiochener gegen die "griechische Dominanz über ihre Kirche"231 einen Kampf für deren Erhaltung als autokephaler Institution im Sinne der byzantinischen Reichskirchenordnung dar. Und so hat sich die "kollektive Identität" der Orthodoxen auch im 20. Jahrhundert durchaus nicht nur, wie bei Mitri nachzulesen ist, "durch Abgrenzung von anderen", durch ein "SichAbsetzen von den anderen", von den Osmanen etwa und von der eigenen Geschichte, entwickelt 232 . Rustum, Mitri und Hurd kritisieren so auch nur jenen "griechischen Nationalismus", der "das universale Erbe des Byzantinischen Reiches zerstört" habe und sie artikulieren noch kein 'arabisches', sondern ein "neues orientalisches und ostchristliches Selbstbewusstsein". 233 Die auch von ihnen perzipierte "schlechte Lage der Christen" in der letzten Phase des "Darniederliegens des Osmanischen Reiches" schreiben sie daher auch "nicht der osmanischen Herrschaft an sich zu", sondern den Zerrüttungserscheinungen der Epoche der aufkommenden Nationalismen. 234 Dieses die Identität der Griechisch-Orthodoxen im Vorderen Orient bestimmende Geschichtsbild findet sich so auch bei den libanesischen Angehörigen dieser Konfession und in der Studie von May Davie wieder. Im geistigen Zentrum der libanesischen Orthodoxie, an der 229

Siehe: Anschütz, S.111ff., 116, 118.

230

Clogg, S.187.

231

Salibi, S.43.

232

Panzer, S.91f.

233

Ebd., S.81f., 93 u. 101f.

234

Ebd., S.118. Ausnahme bilden hier nur Autoren, die wie der von Panzer angeführten Joseph Zaitun in Syrien leben und veröffentlichen, wo, was die Autorin nicht erwähnt, die staatliche Zensur zu beachten ist und das Geschichtsbild von den antitürkischen Ressentiments des Arabischen Nationalismus und Sozialismus der BaathVarianten geprägt ist. Auch die der Osmanenherrschaft kritisch gegenüberstehenden Positionen eines Victor Sahhab entsprechen einem "Gedankengut", das "noch der arabischen 'nah²a' verpflichtet" ist und das "im Libanon" nur noch " bei der älteren Generation der griechisch-orthodoxen 'Linken'" anzutreffen ist (Ebd., S.114).

42 Universität von Balamand im Jahre 1999 erschienen, werden hier ebenfalls die für die Ostkirche im Allgemeinen und das Patriarchat von Antiochien im Speziellen positiven Aspekte der osmanischen Herrschaft unterstrichen. 235 Der Aufstieg von orthodoxen Notabeln in "hohe Funktionen der ottomanischen Bürokratie" wird hier ebenso hervorgehoben wie die "Vorherrschaft" von Gemeindemitgliedern "in der Wirtschaft" nicht nur in Beirut. 236 Als Beweis dafür, dass die orthodoxen Christen des Mont Liban auch am Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein erklärtes Interesse am Fortbestand des Osmanischen Reiches hatten, führt Davie die nach 1908 in Beirut unter deren Mitwirkung erfolgte Gründung der "Société de Beyrouth pour la Réforme Nationale" an. 237 In Solidarität mit der Jungtürkischen Revolution hatte sich diese Gesellschaft für eine "administrative Dezentralisierung" des Reiches ausgesprochen. 238 Für deren Mitglieder war es kein Widerspruch, Araber und Bürger des Ottomanischen Reiches zur gleichen Zeit zu sein. Wohl aber stellten sie sich gegen alle Versuche, ihre orthodoxe Identität geografisch auf ein ihnen nichts sagendes Territorium mit dem Namen Libanon einzugrenzen. Schon die Schaffung des Moutasarrifiyyat des Mont Liban, des "Kleinen Libanon" hatte bei ihnen im 19. Jahrhundert keine Begeisterung hervorgerufen. In den Augen von Davie nicht sehr viel mehr als ein "(...) kleiner Distrikt von der Größe eines Sanjaq, wurde er im Kontext der Orientalischen Frage geschaffen, dank der Intervention der okzidentalen Mächte, mit dem Ziel, ihren Einfluss in der Region zu konsolidieren und unter dem Vorwand, die 'Christen des Orient' zu schützen". 239 Und die nach religiösem Proporz erfolgte Ämterverteilung hatte die Orthodoxen schon damals zu einer Minderheit gemacht, deren "Einfluss" auf "öffentliche Angelegenheiten" "minimiert" wurde. 240 Ihre Identität und ihr "Arabertum" richten sich an ihrem byzantinischen, ja sogar osmanischen Erbe aus, nicht aber an einer mit den Maroniten vergleichbaren emotionalen Bindung an den Mont Liban.

2.5

Positionsbestimmungen im Spannungsfeld von Arabismus und Libanonismus

Dennoch waren griechisch-orthodoxe Politiker nach der Schaffung des "Staates Großlibanon" zunächst durchaus zu einer politischen Mitarbeit in diesem neuen staatlichen Gemeinwesen bereit – so lange sie nicht durch Proporzregelungen auf den 'vierten' Platz in der Rangordnung der Religionsgemeinschaften zurückverwiesen wurden und die politische Führungsrolle der Maroniten noch nicht festgeschrieben war. Zwar sagte noch im Jahre 1920 Alfred Moussa Sursock, der als orthodoxer Repräsentant für die libanesische Delegation, die zur Pariser Friedenskonferenz reiste, vorgesehen war, seine Teilnahme zusammen mit dem drusischen Vertreter ab 241 . Als es die französische Mandatsmacht zunächst dann aber nicht für opportun befand, einen Maroniten zum ersten Staatspräsidenten des Libanon zu machen, weil man die 235

Davie, S.19f., S.23.

236

Ebd., S.70 u. 84.

237

Ebd., S.106.

238

Davie, S.106.

239

Ebd., S.68.

240

Ebd., S.68. Zudem wird von Davie noch 'erschwerend' angeführt, dass der Proporz zur Ämterverteilung nicht wirklich die Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegelte, nur die Maroniten begünstigte und die Orthodoxen, die 13% der Einwohner ausmachten, mit nur 6,7% der öffentlichen Funktionen 'abgespeist' wurden (Ebd., S.87).

241

Ammoun, Denise: Histoire du Liban Contemporain, 1860-1943, Paris 1997, S.250.

43 "Wut" derjenigen fürchtete, "die lauthals verkünden, dass 'die Franzosen mit dem essenziellen Ziel im Libanon sind, der maronitischen Gemeinschaft zu helfen"242 , bot sich ein griechischorthodoxer Kandidat als 'neutraler', zwischen den widerstreitenden christlichen und muslimischen 'Parteien' stehender Anwärter geradezu an. Nachdem Charles Debbas, dem diese Rolle 1926 dann zufiel, jedoch am Beginn der 30er-Jahre von einem Vertreter der Maroniten abgelöst wurde, deren Patriarch von Anfang an der Überzeugung gewesen war, dass die "erste Magistratur des Staates" seiner Gemeinde zustehe 243 , endete die kurze Phase des orthodoxen Libanonismus. Eine "Angst" vor "zunehmender Marginalisierung"244 macht auch Panzer bei den Orthodoxen im Libanon seither aus und diese Angst hat auch im Verlauf des Bürgerkrieges nach 1975 zu paradoxen Verhaltensformen geführt. Denn während viele dem traditionellen Verhaltensmuster folgten, gab es auch nicht wenige, die sich der Kata'ib anschlossen. Und da sie in den Auseinandersetzungen als "Christen" eben häufig zwischen die christlich-islamischen Fronten gerieten, fiel ihnen auch die eigene Positionsbestimmung im Spektrum der verschiedenen communautés von 1975 bis 1990 immer schwerer. 245 Wenn Panzer heute allerdings davon ausgeht, dass sie daraus die "Lehre" zogen, "ihre primäre Interessengemeinschaft mit den anderen Christen im Libanon (...) zu akzeptieren", 246 so sind Zweifel an der Richtigkeit einer solchen Feststellung doch angebracht. Glaubt doch die Autorin selbst, dass die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft auf Grund "ihrer traditionellen Offenheit den Muslimen gege nüber" für eine "Vermittlerrolle" zwischen den Konfessionsgruppen geradezu prädestiniert wären. 247 In der Tat scheinen sich heute kirchliche Würdenträger wie Erzbischof Elias Aoude dazu berufen zu fühlen, "die Barrieren", die seine Landsleute voneinander "trennen", zu "zerstören". 248 Und so steht auf der Agenda der Geistlichkeit heute der "Christian-Muslim dialogue" ganz oben249 . Doch die Aktivitäten des Patriarchen beschränken sich nicht nur auf innerlibanesische Fragen. Auch internationale Missionen gehören zu seinem Programm, wenn er zwischen Damaskus und Kairo pendelt, Gespräche führt mit den Staatschefs von Syrien und Ägypten und sich dazwischen auch in Beirut mit Regierungsvertretern trifft. 250 In den Hauptstädten der arabischen Welt ist das Oberhaupt der Kirche von Antiochien heute auch deswegen sehr gerne gesehen, weil er sich, zusammen mit den anderen Patriarchen des Ostens, für die "Deklaration eines palästinensischen Staates mit Jerusalem als seiner Haup tstadt" ausspricht. 251 242

Ebd., S.310.

243

Ebd., S.311f.

244

Panzer, S.21.

245

Ebd.

246

Ebd.

247

Ebd., S.23.

248

'Time for all to forgive', Lebanese News-18-4-98, http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/April98/18_4_98/N10.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

249

Heads of Middle Eastern Churches meet in Bkirki; Lebanon.com Newswire – Local News November 20 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/11/20.htm (Abgerufen am 27.11.2000).

250

Orthodox Patriarch heads to Egypt; Lebanon.com Newswire – Local News January 26 2001; http://www.lebanon.com/news/local/2001/1/26.htm (Abgerufen am 6.2.2001).

251

Council of Orient Patriarchs voice support for Palestinian cause; Lebanon.com Newswire – Local News October 18 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/10/18.htm (Abgerufen am 20.10.2000).

44

Die Identifizierung mit dem libanesischen Staat bereitet einem Mann wie Erzbischof Aoude heute auch kein Problem mehr, denn er geht, wie "alle Bürger" davon aus, dass sein Staat ein "Land" wird, "wo Gerechtigkeit und der Respekt vor dem Gesetz überwiegen". 252 Regina Panzer scheint damit heute Recht zu haben, wenn sie bezüglich des Identitätsempfindens der Orthodoxen feststellt: "Nach dem Bürgerkrieg genießt für sie ihre libanesische Identität Priorität."253 Doch dieser heutige Libanon ist nicht mehr der Libanon der Maroniten, sondern der der PostTa'if-Ordnung. Die "Identität" dieses Libanon der Zweiten Republik ist heute qua Verfassung eine "arabische". Nicht das Loyalitätsempfinden der Orthodoxen dem Staate Libanon gege nüber hat sich geändert. Vielmehr hat sich die libanesische Identität dem orthodoxen Selbstempfinden angenähert. Doch haben sich die Orthodoxen in ihrer Geschichte nie gerne auf eine einzige Option allein festgelegt. Selbst die Betonung ihres "Arabertums" bedeutet für sie nicht, andere Aspekte ihrer Geschichte auszublenden und sich etwa auf eine einzige, womöglich ethnisch definierte Identität festzulegen.

2.6

Ethnizität und Identität

Für Salibi bekannten sich die Griechisch-Orthodoxen des Libanon von Anfang an dazu, "arabisch in Ethnizität und Sprache" zu sein. 254 Sie seien damit anders als auch die Nestorianer, die Syrisch (Syriac) sprechen, als "arabische Christen" zu betrachten. Doch spricht Helga Anschütz davon, dass die "Landbevölkerung" der griechisch-orthodoxen Gemeinden Antiochiens vor, während und nach der arabischen Eroberung zum Großteil aus syrisch-aramäisch sprechenden Menschen bestand und auch zu Zeiten der arabischen Herrschaft deren Liturgie vom Griechischen ins Syrische "übersetzt" wurde 255 . Und was die Ereignisse des Jahres 1899 anbetrifft, so schreibt sie, dass es in diesem Jahr den "Orthodoxen syrischer Volkszugehörigkeit" gelungen war, die griechische Hegemonie über ihr Patriarchat abzustreifen. Gleichzeitig aber weist sie auf den damals "neu erwachten arabischen Nationalismus" "unter den Anhängern dieser Kirche" hin. 256 Im Gegensatz zu Geschichtsschreibung und Selbstverständnis der Maroniten, wo die syrische Identität die arabische ausschließt, glauben die orthodoxen Historiografen antiochenischer Herkunft keinen Widerspruch zwischen beiden Identitätsoptionen erkennen zu müssen. Auch der Begriff "Antiochien" wird damit inhaltlich anders belegt als bei den Maroniten. Anders aber auch als die Vertreter eines vom arabischen Nationalismus geprägten Geschichtsbildes, die aus allen semitischen Volksgruppen des Nahen Ostens – und damit auch aus den 'alten

252

Archbishop scolds government; Lebanese News-6-4-99; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1999/April99/6_4_99/N15.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

253

Panzer, S.23.

254

Salibi, S.41 u. 46.

255

Anschütz, S.110.

256

Ebd., S.112.

45 Syrern' – einfach nur Araber machen257 , setzen sie sich durchaus wissenschaftlich mit allen Aspekten ihrer Geschichte auseinander. So spricht Rustum auch nicht von einem rein aramäisch-syrischen, sondern von einem "ethnisch und religiös heterogenen Antiochia", das die Araber bei ihrer Eroberung vorgefunden hatten. 258 Auch bei Zaitun findet sich das Bild einer antiochenischen Kirche als ethnischem melting pot, in dem sich aramäische Volksgruppen, genannt "siríyƒn", zugewanderte Griechen und christliche Araber, sogar auch jemenitische Stämme, miteinander vermischten, auch wenn sich die siriyan später vor allen Dingen der monophysitischen Lehre zuwandten. 259 Auch an der Universität von Balamand präsentiert das quasi 'offizielle' Geschichtsbild der libanesischen Orthodoxie die eigene communauté als eine Gemeinschaft, die aus der Vermischung von "Griechen und arabisierten Aramäern oder arabischen Christen" hervorgegangen ist 260 . Auch wenn von geschichtswissenschaftlichem Standpunkt aus gesehen die Zuwanderung der letzteren kaum Einfluss auf die Entwicklung des Patriarchats genommen haben dürfte, da die Christen der arabischen Halbinsel der nestorianischen Lehre oder dem Monophysitismus anhingen261 , so ist dieses Geschichtsbild weit weniger Ausfluss einer politischen Geschichtsschreibung und Mythologisierung als das der Maroniten. Dieses Geschichtsbild wird zwar auch von den subjektiven Wahrnehmungen der Angehörigen der Ostkirche und den tradierten positiven Erfahrungen mit den islamischen Eroberern geprägt. Schon früh hat die Tatsache, dass byzantinische Staatsdiener nach der Eroberung von Damaskus von den neuen Herren, die den alten Staatsapparat übernahmen, in ihren Führungspositionen belassen wurden, diese Wahrnehmungen bezüglich Islam und Arabertum beeinflusst. Durch diese Privilegierung waren sie schon am Beginn der islamischen Geschichte anders als die anderen Christen und anders als die Maroniten, keiner Unterdrückung ausgesetzt. Anschütz glaubt in diesen frühen Erfahrungen den Ursprung für die Jahrhunderte überdauernde "Zusammenarbeit zwischen einem Teil der griechisch-orthodoxen Christen und der arabischen Staatsmacht in Syrien" erkannt zu haben, "die auch heute noch eine wichtige Grundlage der syrischen Gesellschaft ist". 262 Orthodoxe Christen im Vorderen Orient und im Libanon verstehen und definieren sich damit als Araber qua Akkulturation – und damit qua Willen – und nicht als Araber rein ethnischen Ursprungs. Historisch – darauf scheint auch die Entstehungsgeschichte des Maronitischen Patriarchats hinzudeuten – haben Maroniten und Griechisch-Orthodoxe dieselben westsyrisch-aramäischen Wurzeln. Aber die Geschichte und unterschiedliche Schicksale formten hier unterschiedliche Identitäten und unterschiedliche Koexistenzvorstellungen.

257

So bei Victor Sahhab. Siehe dazu Panzer, S.112ff.

258

Ebd., S.75 u. 83.

259

Ebd., S.96.

260

Davie, S.23.

261

Siehe dazu: Maier, Franz Georg: Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, Weltbild Weltgeschichte, Band 9 (Lizenzausgabe der Fischer Weltgeschichte); Augsburg 1998, S.259ff.

262

Anschütz, S.111.

46 2.7

Positionsbestimmungen innerhalb der orthodoxen Ökumene

Heute "versteht sich" die Spitze der orthodoxen Kirche von Antiochien als "das arabische orthodoxe Patriarchat" unter den Patriarchaten des Ostens und betrachtet ihre Kirchenorganisation als autokephale und von Konstantinopel/Istanbul unabhängige arabische "Lokalkirche", als "kan¾sa maŒall¾ya". 263 Zwar scheinen sich hundert Jahre nach den turbulenten Ereignissen um die Führung der ant iochenischen Kirche die Wogen in weiten Bereichen der Beziehungen der griechischen zur arabischen Orthodoxie zueinander geglättet zu haben. Im Jahre 1999 besuchte so Patriarch Christodoulos von Athen den Libanon und Syrien mit der Absicht, die "Bindungen zwischen den Patriarchaten von Griechenland und Antiochien zu stärken". 264 Doch sind im Orient auch heute noch die alten griechisch-arabischen Reibungsflächen zu erkennen und die diesbezüglichen Konfliktlinien durchziehen das Patriarchat von Jerusalem. Dort schlägt der vor hundert Jahren entbrannte "ethnische Konflikt zwischen arabischer Gemeinde und griechischem Klerus", der hier anders als in Damaskus zu Gunsten des letzteren entschieden wurde, auch heute noch "hohe Wellen". 265 Schon nach ihrem Sieg von 1899 hatten die Arabisten in Damaskus begonnen, sich auch "für die Wahl von Arabern auf den Stuhl von Jerusalem" einzusetzen. 266 Anders als bei Panzer nachzulesen ist, hält sich die Kirche von Antiochien heute nun durchaus nicht an "den Grundsatz (...) sich nicht direkt in die Angelegenheiten Jerusalems einzumischen"267 . So setzt sich der vom Patriarchen in Damaskus mit der Betreuung von aus Antiochia stammenden orthodoxen Christen in Nordamerika beauftragte Metropolit Philip Saliba gerade von seinem Wirkungskreis, den USA, aus, aktiv für die "Übernahme (...) von jetzt von Griechen gehaltenen Führungspositionen in der christlich-orthodoxen Hierarchie (...)" in Israel und den Autonomiegebieten durch Araber ein. 268 Wie die "Mehrheit der arabischen Laien"269 in der Jerusalemer Kirche wirft auch er dem griechischen Klerus vor, "Kirchenbesitz zu verkaufen" und in die "Hände der Israelis" zu überantworten. 270 Der von den so Angeschuldigten erhobene Gegenvorwurf an die "Arabisten", diese "identifizierten sich in erster Linie als Palästinenser und Araber und weniger als orthodoxe Christen"271 und missbrauchten daher die Religion für politische und radikale Ziele, beeindruckt ihn wenig.

263

Panzer, S.16 u.18.

264

Fatka hosts Church assembly; Lebanese news-28-4-99; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1999/April99/28_4_99/N14.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

265

Panzer, S.25.

266

Salibi, S.44.

267

Panzer, S.27.

268

A man of peace who looks beyond the 'dark night and sees a new dawn, new day and new history'; Lebanese News-Opinion-25-6-99, http://archive.dailystar.com.lb/leb/1999/June99/25_06_99/O3.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

269

Panzer, S.25.

270

A man of peace who looks beyond the 'dark night and sees a new dawn, new day and new history'.

271

Panzer, S.26.

47 Und dieser politische Arabismus hat in der Kirche von Antiochien eine lange Tradition. Als "Patriarch der Araber" genoss schon Elias IV das 'Privileg', als "einziger christlicher Repräsentant" an der Islamischen Konferenz von Lahore teilgenommen haben zu dürfen, wo sein Einsatz für "Palästina und die Araber" hervorgehoben wurde. 272 Auch Saliba versteht sich heute als Araber, als "arabischer Christ", der die "arabische Einheit" fordert. 273 Die Tatsache aber, dass er eine "Antiochenische Orthodoxe Christliche Kirche in Nordamerika" repräsentiert, die 500.000 Mitglieder zählt und damit, je nach Schätzung der Gesamtzahl der arabischen orthodoxen Christen, die Hälfte bis ein Drittel aller der "Jurisdiktion" des Patriarchen in Damaskus unterstehenden Gläubigen umfasst, lässt deutliche Rückschlüsse auf das "arabische" Selbstverständnis dieser Institution zu.

2.8

Die zu'ama der Orthodoxen

Auch die Einschätzung, dass Michel Murr – Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident in der Amtszeit von Salim 'al-Hoss – "zu einer Art politischem Patriarch"274 wird, besitzt hier einiges an Aussagekraft. Zwar ist eine prosyrische Haltung seit Ta'if Voraussetzung für die Übernahme eines Ministerpostens in Beirut. Doch wurde in der Zweiten Republik der Maronit in der ranghöchsten politischen Position noch lange nicht zum "politischen Patriarchen" seiner communauté, sondern eher zu einer von deren religiösem Oberhaupt angefeindeten Persönlichkeit. Im Gegensatz zur maronitischen Gemeinschaft, wo die politische Partizipation an der Republik von Ta'if noch umstritten ist, deutet schon die Führungsrolle Murrs in seiner communauté auf die Akzeptanz hin, derer sich die politische Neuordnung des Landes bei den GriechischOrthodoxen erfreuen kann. Und die von Panzer hervorgehobene Tatsache, dass Murr eine der bedeutendsten Clansfamilien repräsentiert, zeigt, dass auch hier die innergemeinschaftliche gesellschaftliche Organisationsstruktur dem gängigen libanesischen Schema entspricht. Anders als im Falle der früher territorial im Mont Liban konzentrierten Maroniten hat die "urbane Orientierung" der Orthodoxen, deren Eliten sich aus dem Umfeld des "städtischen Mittelstandes", der Kaufleute und Händler rekrutierten und die bis heute in "Bourgeoisie und Intelligenz" überrepräsentiert sind, deren "Selbstverständnis" mitgeprägt, "Träger einer arabisch-orientalischen Kultur" zu sein. 275 Als solch städtische zu'ama haben diese Clanschefs aber anders als bei den anderen Gruppen keine "feudalherrlichen" Standesattitüden entwickelt, da deren Position in der Gesellschaft des Vorderen Orients noch am ehesten mit der des aufstrebenden städtischen Bürgertums des frühneuzeitlichen Europa zu vergleichen wäre. Bestandteil des "orientalischen Mosaiks" aber blieben sie allemal.

272

Death of "the Patriarch of the Arabs", EPS 28.6.1979, zitiert in: Anschütz, S.131.

273

Siehe: A man of peace who looks beyond the 'dark night and sees a new dawn, new day and new history.'

274

Panzer, S.22.

275

Schiller, S.29.

48

3.

Die multiple Identität der Drusen

In der Diskussion um die Präsenz syrischer Truppen im Land der Zedern hat Kardinal Boutros Sfeir nach den Parlamentswahlen des Jahres 2000 einen unerwarteten Verbündeten erhalten. Ausgerechnet der bislang erklärteste "Verbündete Syriens" im Libanon, Drusenführer Walid Jumblatt, leistete sich in der ersten Sitzung des neuen Parlaments einen politischen "Affront" seinem "großen Bruder", dem Präsidenten in Damaskus gegenüber, als er das "redéploiement" der syrischen Truppen gemäß dem Übereinkommen von Ta'if forderte. Beobachter sprachen denn auch gleich von einer neuen "Allianz" des za'im der Drusen "mit den Maroniten des Mont Liban (...)". 276 Die Baath-Regierung in Damaskus reagierte auch unter Hafiz 'al-'Assads Sohn Bashar mit aller Härte auf diesen 'Treuebruch' und belegte Jumblatt sogleich mit einem politischen Bann bzw. mit einem Einreiseverbot nach Syrien. 277 An der Universität St. Joseph, einer "hard-line Christian faculty"278 , demonstrierten maronitische Studenten nun gerade für jenen Mann, der für sie früher ein absolutes Feindbild gewesen war. Spekuliert wird seither viel über die Hintergründe dieses anscheinend historischen Schrittes des Drusenführers, der ein – für libanesische Verhältnisse allerdings nicht ungewöhnliches – innenpolitisches renversement des alliances anzukündigen scheint. Doch dass Jumblatt – za'im und linksgerichtet, "Feudalherr" und Träger des Lenin-Ordens zugleich – nun neue "Brücken" zu seinen "früheren rechtsgerichteten christlichen Feinden" schlug279 , gab vielerorts Anlass zu skeptischen Reaktionen. Diese Öffnung dem christlichen Lager gege nüber zeichnete sich aber längere Zeit schon ab und so wurden schon im letzten Wahlkampf Vermutungen laut, es ginge ihm hier in erster Linie um christliche Stimmen für seine Partei und seine Allianz im Shufgebirge. 280 Nach Meinung von Kritikern hat Jumblatt jetzt denn auch nicht den "Rubikon überschritten", sondern als "pragmatisch" denkender Mensch mit dieser Versöhnungsstrategie nur ein durch den 'Zweck geheiligtes Mittel' zur langfristigen Sicherung der eigenen Interessen und politischen Zielsetzungen gefunden. Und der Zweck seiner Politik und damit aller taktischen Manöver sei über wechselnde Koalitionen und sich verändernde Konstellationen hinweg nur die Sicherung und Beibehaltung bzw. Rückgewinnung jener "Rolle, die historisch seiner communauté" zufällt. 281 Und diese Politik richtet sich gegen jeden, der diese Rolle bedrohen könnte. In diesem Kontext wird auch der Wandel und das stetige Schwanken drusischer Politik zwischen panarabischen und libanesisch-nationalen, zwischen pro- und antipalästinensischen Positionen erklä rbar. Hatte sich Walids Vater Kamal mit der Miliz seiner Progressistisch-Sozialistischen Partei (PSP) noch in den 70er-Jahren "den palästinensischen Organisationen als Alliierter und Protektor" angeboten282 , weil er die Autonomie des Drusentums von den phalangistischen Kon276

La revanche posthume de Kamal Joumblatt, in: Le Nouvel Afrique Asie, N° 135, Décembre 2000, S.46ff.

277

Syria bars Druze leader from entering country; in: Arab News, 8.11.2000.

278

Jumblatt supporters rally against Syrian entry ban; in: Arab News, 13.11.2000.

279

Syria bars Druze leader from entering country.

280

Jumblatt supporters rally against Syrian entry ban.

281

La revanche posthume de Kamal Joumblatt a.a.O.

282

Hanf, S.169.

49 zeptionen eines Libanon als "christlichem Staat"283 bedroht sah, so setzt sich sein Sohn heute für die Rückkehr maronitischer, von den PSP-Milizen vertriebener Displaced persons in das drusische Kernland ein. Er tut dies, weil er die in seinen Augen das 'Gleichgewicht' im Shufgebirge gefährdende Ansiedelung von palästinensischen Flüchtlingen auf 'seinem' Territorium verhindern will. 284 Auch das drusisch-syrische Verhältnis gestaltete sich schon immer im Rahmen der Ausbala ncierung der innerlibanesischen Kräfteverhältnisse. So missfiel die "Rolle der drusischen Communauté, traditionell herausragend im Mont Liban", der Führung in Damaskus immer dann, wenn es darum ging, die "interkommunitäre Aufteilung der Macht" zu Gunsten auch sunnitischer, schiitischer oder auch maronitischer 'Klienten' und deren Partikularinteressen auszubalancieren. 285 Und die zu'ama der Drusen setzten sich oft in der Geschichte gegen eine dem Land von Damaskus aufoktroyierte "pax syriana" zur Wehr, wenn diese ihre eigene Vormachtstellung im Shuf zu bedrohen begann. So wehrte sich schon Kamal Jumblatt im Jahre 1976 offen gegen die "syrische Besatzung" dort. 286 Pessimistische Stimmen glauben angesichts der aktuellen Entwicklung erste Anzeichen dafür erkennen zu können, dass "die Geschichte" im Libanon nun "dabei ist, sich zu wiederholen (...)". 287 Die drusisch-syrische Allianz war so schon immer eher 'unheilig' denn 'heilig'. Und ein "Joumblatt", so Theodor Hanf, war und ist, ob er nun im innenpolitischen Spiel der Kräfte wechselseitig als 'Araber', als "Sprecher der Muslime" oder als libanesischer Patriot, ob er als Bündnispartner abwechselnd der Gemayel oder in den 50er-Jahren sogar der Chamoun auftrat288 , egal ob er sich "(...) heute als Konservativer, morgen als Liberaler und übermorgen als Sozialist bezeichnen" mag289 , in erster Linie za'im, ein "Feudalherr" – wie er unter unric htiger Anwendung des Begriffes 'feudal' oft genannt wird. Und als solcher vertrat er seine Familien- bzw. Clansinteressen im Spiel des Interessenausgleichs zwischen den Großfamilien. Das Pendeln zwischen arabisch-nationalen und libanesisch-patriotischen Positionsbestimmungen aber hat nicht nur mit diesen Clansinteressen zu tun. Historisch taten sich die Drusen tatsächlich immer schwer, sich für die eine oder die andere Identitätsoption zu entscheiden. Letztendlich ging es für sie darum, eine nicht nur auf ihr Arabertum, sondern auch auf die Region des Mont Liban bezogene und damit autochtone, aber auch von den Maroniten zu untersche idende 'libanesische' Identität zu bewahren.

3.1

Die Loyalität der Drusen

In Israel galten die dort lebenden Drusen nach der Staatsgründung über lange Jahre hinweg als dem jüdischen Staat gegenüber "loyale Araber", die seit 1957 sogar Wehrdienst leisteten. 290 In Syrien und Jordanien werden sie ebenfalls als den jeweiligen Regierungen loyal er283

Harik, Judith: The Return of the Displaced and Christian-Muslim Integration in Postwar Lebanon, in: Islam and Christian-Muslim Relations, Volume 10, Number 2, July 1999, S.161.

284

Dagher, S.86.

285

La revanche posthume de Kamal Joumblatt, a.a.O.

286

Hanf, S.299.

287

La revanche posthume de Kamal Joumblatt.

288

Siehe. Hanf, S.152, 162 u. 171.

289

Ebd., S.111.

290

Wolffsohn, Michael: Politik in Israel. Entwicklung und Struktur des politischen Systems, Opladen 1983, S.199.

50 gebene und diese "unterstützende" Staatsbürger angesehen. 291 Und auch wenn, wie Michael Wolffsohn schon am Beginn der 80er-Jahre konstatierte, auch die drusischen Staatsbürger Israels sich zu diesem Zeitpunkt dem "arabischen Zeitgeist" angepasst hatten und auch "die arabische Solidarität der Drusen" dort "zugenommen" hatte, verteilten sich bei Wahlen deren Stimmen über alle Parteien und fielen damit auch an den von 1977 an regierenden LikudBlock. 292 Allzu sehr böte es sich hier an, diesen augenscheinlichen Opportunismus jedweder staatlichen Autorität gegenüber im Falle des Drusentums, das sich aus der isma'ilitischen Strömung des Schiitentums heraus entwickelt hat, mit dem für alle schiitischen Glaubensrichtungen typ ischen Gebot der "taq¾ya", d.h. "dem Rat, in einer feindlichen Umgebung kluge Zurückha ltung, ja Verstellung zu üben", in Verbindung zu bringen. Sieht sich der Schiit in einer Minderheitensituation außer Stande, seine Umwelt im Geiste seiner religiösen Vorstellungen zu verändern, bzw. "politische Macht" zu erringen, so wird ihm ein solch "passives Verhalten" als Glaubenspostulat und Verhaltensnorm auferlegt. Dies soll "eine Wiederholung der Katastrophen", die die Schia (Shi'a) schon in den frühen Jahren des Islam im Kampf um das Khalifat, d.h. um die Nachfolge Muhammads hatte erleben müssen, vermeiden. 293 Die 'Wiederherstellung' der "Gerechtigkeit" im Sinne der Shi'a wurde damit schon früh und in messianischer Verklärung – was den Sunniten besonders suspekt blieb – auf einen Zeitpunkt 'verschoben', da "der Mahdi () – eine messianische Gestalt – (...)" aus der Familie des Propheten "zurückkommt". 294 In der Abgeschiedenheit der Bergwelt des Libanon und des Dschubal 'al-Durus im heutigen Syrien wurde dieses "Prinzip der religiösen Verstellung" für den Drusen gleichsam zur Maxime, "das Geheimnis seines Glaubens zu wahren". Gleichzeitig legt ihm damit seine Religion auch auf, den "Glauben" und die Autorität jener zu "akzeptieren", die sich "im Besitz der Macht" befinden. 295 "Those in power", das waren im Libanon die Araber, die Türken, die Franzosen und die Maroniten. Im Libanon hatten die maronitischen Eliten schon in den 30er-Jahren um die Unterstützung der drusischen Familien für ihr Projekt eines unabhängigen Libanon geworben. Tatsächlich schloss der von den "christlichen Führern" im Jahre 1936 ins Leben gerufene "Constitutional Bloc" neben christlichen auch schiitische und drusische Notabeln ein. 296 Bei ihren Versuchen, die Entstehung einer drusischen Führungsschicht zu fördern, die sich durch "nationale Treue zum Staat" auszeichnen sollte, mussten die christlichen zu'ama jedoch schnell erkennen, dass sich diese "'moderaten' (...)" Kräfte "in der Mehrheit" herausstellten als unverlässliche, "schlechte Verbündete"297 .

291

Les amitiés lointaines, in: Le Nouvel Afrique Asie, N° 135, Décembre 2000, S.47.

292

Wolffsohn, S.199ff.

293

Cahen, Claude: Der Islam I. Vom Ursprung bis zu den Anfängen des Osmanenreiches. Weltbild Weltgeschichte (Lizenzausgabe der Fischer Weltgeschichte), Band 14, Augsburg 1998, S.210.

294

Ebd.

295

Stichwort: Dur½z, in: B. Lewis/Ch. Pellat/J. Schacht (eds.), The Encyclopaedia of Islam (EI). New Edition, Volume II, Fasciculus 32, Leiden/London 1965, S.634.

296

Salibi, S.184.

297

Ebd., S.189f.

51 Nicht nur mit den maronitischen Clansführern, sondern auch mit der traditionellen Führungsschicht der "religiösen Würdenträger der sunnitischen wie der schiitischen Gemeinschaften" wiederum geriet schon Kamal Jumblatt's Säkularismus in Konflikt. 298 Theodor Hanf geht davon aus, dass die Forderung nach der Säkularisierung des libanesischen Staatswesens als Anzeichen für eine 'politische' Haltung zu werten ist, die als "purer, aufklärerischer, jakobinischer Nationalismus" zu bezeichnen ist. 299 Realistischer erscheint hingegen Salibis Einschätzung, dass Jumblatts diesbezügliche politische Vorstöße "nichts anderes" darstellten als Versuche, "die Flügel der Maroniten zu stutzen". 300 Doch hat die Kritik der Drusen am libanesischen Konfessionalismus historische Ursachen. So verwiesen sie in den letzten Jahrzehnten vermehrt auf ihre "geschichtlichen Leistungen" und darauf, dass der Staat die hieraus abgeleiteten und verfassungsrechtlich eigentlich "verbrieften Rechte und Anteile schmälern" würde. 301 Wie die Griechisch-Orthodoxen beklagen sich auch die Drusen über ihre 'Marginalisierung' im politischen System des Libanon, führen an, dass sie bei der Ämtervergabe "übergangen" würden und dass man ihnen im Rahmen des Konfessionalismus "nicht einmal die gesetzlichen acht v.H. zuerkennen will" 302 . Auf Grund ihrer wirtschaftlichen und historischen Leistungen für das Land jedoch stünden ihnen erheblich mehr als diese acht Prozent aller Ämter zu. Ihr "Anteil an der libanesischen Geschichte" aber würde in den meisten Darstellungen geschmälert. Kritisiert wird hier u.a. auch Kamal Salibi, der z.B. die "überragende Rolle" ihres "Nationalheros", des Fakhr'ud-Din II., in der libanesischen Geschichte "herabspiele". 303 Mit der 'offiziellen' Geschichtsschreibung der Maroniten haben sich die Drusen indes noch nie anfreunden können. Zwar gingen die Historiografen der Maroniten davon aus, dass beide Volks- bzw. Religionsgruppen ein gemeinsames Schicksal miteinander verbindet, sie eine gemeinsame Geschichte hätten und damit beide von "common national aims" angetrieben würden. 304 Selbst heute sehen maronitische Wissenschaftler auch nach den Jahren des Bürgerkriegs die Drusen als historisch zwangsläufige Verbündete der Christen an. Denn diese waren, da "selbst eine Minderheit", ebenso wie die Maroniten dazu "geneigt, die Schaffung einer autonomen Einheit im Libanon zu favorisieren". 305 Und so erscheint bei ihnen der Drusenfürst Fakhr'udDin, der 1624 "von den osmanischen Behörden als Emir des Libanon anerkannt" worden war

298

Hanf, S.181.

299

Ebd., S.180.

300

Salibi, S.194.

301

Schmucker, Werner: Krise und Erneuerung im libanesischen Drusentum; Studien zum Minderheitenproblem im Islam 3; Bonner Orientalische Studien, Neue Serie, Band 27/3, Bonn 1979, S.218.

302

Ebd., S.228.

303

Ebd., S.226f.

304

Salibi, S.204.

305

Phares, S.44.

52 und der als solcher "über das Gebiet von Aleppo bis Jerusalem" 306 herrschte – und unter dessen Regentschaft maronitische Familien zu Amt und Würden gelangt waren –, als Architekt einer frühen "Christian-Druse entente"307 , die die "Basis für eine libanesische Unabhängigkeitsbewegung" schuf, die das 16., 17. und 18. Jahrhundert über bestanden habe. Die Drusen indes leugnen nicht ab, dass der Libanon eine "spezielle Geschichte" hat. Von der maronitischen Geschichtsschreibung wollen sie sich aber nicht vereinnahmen lassen, weil sie bezüglich der "Motive hinter der christlichen Aufmerksamkeit" für ihre eigene Historie skeptisch bleiben. 308 Von den sie umringenden Nationalismen maronistischer und pan-arabischer Ausprägung zur neuen Standortbestimmung in der politischen Landschaft des Libanon gezwungen, schrieben nun auch sie ihre eigene Landesgeschichte. Geschichte bzw. Geschichtswahrnehmung übernimmt auch hier, wie die Studie von Werner Schmucker schon vor zwei Jahrzehnten gezeigt hat, die das 'nationale' Selbstverständnis der Drusen und deren politische Ansprüche legitimierende Funktion im Prozess der "Selbstdarstellung nach innen und nach außen". 309 Die programmatische Erklärung: "Wir fordern unser Recht entsprechend dem, was wir diesem Land (...) gaben"310 , gab so in wenigen Worten die Inhalte einer "Kampagne der Geschichtsbewältigung" wieder, die das drusische Erwachen in den 60er-Jahren zu einem seiner ersten Höhepunkte führte. 311 Doch, 'was' wollten die Drusen sein: ein eigenes Volk, Libanesen oder Araber?

3.2

Die Drusen und ihr "Vaterland"

Im Jahre 1976 bezog die Partei Kamal Jumblatts in einer Erklärung Stellung zur Frage der "Identität des Libanon". So hätten "christlicher maronitischer libanesischer Nationalismus und arabischer islamischer Nationalismus" die "Bildung einer vereinigten nationalen Identität im Libanon verhindert". In einem modernen Säkularstaat hingegen würde die "Bindung" "an die konfessionelle Gemeinschaft" hinter der "an die Nation" zurücktreten und den Weg weisen zur Herausbildung einer "vereinigten nationalen Identität (...) die von allen libanesischen Bürgern geteilt wird (...)". "Später", so die PSP, werde der Libanon "den Weg" finden, "Teil eines vereinigten arabischen Staates zu werden (...)". 312 Dieses Programm versucht die Quadratur des Kreises: Nicht für eine der Optionen, für die "arabische" oder die "libanesische", will man sich entscheiden, sondern beide miteinander in Einklang bringen. Das Dilemma jedweder drusischer Selbstdefinierung wird hier deutlich: Mit den Maroniten teilt man die Geschichte, mit den Arabern die Ethnizität. 306

'al-Sayyid Marsot/Afaf Lutfi: Die ostarabische Welt von Ägypten bis zum Irak einschließlich des Sudan; in: Gustave Edmund von Grunebaum, Der Islam II. Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel, Weltbild Weltgeschichte Band 15, Augsburg 1998, S.343.

307

Phares, S.45.

308

Salibi, S.204f.

309

Schmucker, S.214.

310

Ebd., S.228.

311

Ebd., S.226.

312

Zitiert und übersetzt bei Hanf, S.179f.

53 3.2.1 Die Drusen, ihre Religion und der Libanon: Glaube und Geografie als identität sstiftende Faktoren In beinahe jeder wissenschaftlichen Abhandlung über den Libanon findet sich der historische Rückgriff auf die Geografie des Landes, "(...) dessen tiefe Schluchten und unzugängliche Bergtäler seit Jahrtausenden als Refugium und 'Sammelbecken aller Nicht-Orthodoxen des christlichen und muhammedanischen Bekenntnisses' gedient haben." Und weiter: "In der Abgeschiedenheit dieser Bergwelt (...) konnten sich Minoritäten behaupten, die im übrigen arabischen Raum verfolgt und unterdrückt wurden."313 Dieses Bild vom Libanon, der "Minoritäten wie den Drusen, Schiiten, Maroniten und zahlreichen kleineren Konfessionen Schutz und Lebensgrundlage" bot und sie vor "grausamer Verfolgung"314 schützte, ist schon fast zu einem literarisch-wissenschaftlichen Topos geworden. Wie bei den Maroniten wird somit die Kausalkette "Verfolgung-Flucht-Zuflucht vor den Feinden im Dschubal 'al-Lubnan" auch hier zum konstituierenden Element eines Gruppenbewusstseins und zur Grundlage einer speziellen emotionellen Bindung an ein Land, das als Heimat zum Schutzraum wurde für "eine viele Jahrhunderte lang geächtete und verachtete (...) in geheimbundartiger, Andersgläubigen stets verdächtiger Zurückgezogenheit sich selbst genügende Splittergruppe (...)". 315 Dem arabischen Nationalismus stand die drusische communauté am Beginn des 20. Jahrhunderts ablehnend gegenüber, weil sie in ihm eine sunnitisch dominierte Strömung sah. Und sie erinnerte sich sehr wohl an die "sunnitischen Verfolgungen", denen sie in der Vergangenheit ausgesetzt war. 316 Als zur Gruppe der Isma'iliten, der so bezeichneten "Siebener-Schi'a" gehörend, stellen sie heute neben den Nizari des Agha Khan nur mehr eines der kleinen Überbleibsel einer "Bewegung" dar, die noch vor tausend Jahren die "bedeutendste (...) des ðî‘itischen Islams" gewesen war. "Die Sunniten" aber, "denen die Ismƒ‘îlîya schlechthin ein Gräuel war und die sie schließlich nahezu vernichteten, haben alles darangesetzt, ihre Spuren auszulöschen". 317 Als häretische muslimische Gruppe genossen die Drusen nicht einmal den Minderheitenstatus der "Völker des Buches" im Herrschaftsbereich des Islam und sie besaßen damit de jure keinerlei "Schutzrechte" wie Christen und Juden. Wurde diesen die Ausübung ihres Glaubens gestattet, so galt es in ihrem Falle aber als verwerflich, wenn muslimische 'Abweichler' wie sie "eine Reihe von christlichen und heidnischen Zügen" annahmen. 318 Mehr als durch die – allerdings sehr schwer erkennbaren – christlichen Züge, haben sich die Isma'iliten dem Islam – und in dieser Hinsicht auch dem Christentum und dem Judentum – aber durch ihre 'heidnische' Verehrung von Menschen, d.h. von Herrschern als Göttern entfremdet. 313

Schiller, S.27f.

314

Rosiny, Stephan: Islamismus bei den Schiiten im Libanon. Religion im Übergang von Tradition zur Moderne. Studien zum Modernen Islamischen Orient, Band 8, Berlin 1996, zugl.: Frankfurt (Main), 1996, S.43.

315

Schmucker, S.5.

316

Salibi, S.51 u. 53.

317

Cahen, S.211.

318

Stichwort: Drusen, in: Klaus Kreiser/Werner Diem/Hans Georg Majer (Hrsg.), Lexikon der Islamischen Welt, Band 1, Stuttgart 1974, S.146.

54

Erkennen die Schiiten nur den Schwiegersohn Muhammads, 'Ali und die auf ihn folgenden Imame aus der Familie der 'Aliden als rechtmäßige Nachfolger des Propheten an, so haben die Isma'iliten diese "(...) – den Arabern ursprünglich fremde – Idee" einer Erbfolge 319 noch weiter akzentuiert. Bedeutet manche Auslegung der schiitischen Lehre eine für einen Sunniten schon unerträgliche Höherstufung so manchen Imams gegenüber Muhammad, so betrachten jene, die "ihren Namen von Ismƒ‘¾l, einem der Söhne des sechsten Imƒms" ableiten320 , 'Ali und seine Nachfolger nicht nur wie die Schiiten als 'göttlich geleitet', sondern als Persönlichkeiten, die an der "Göttlichkeit" selbst teilhatten. 321 In der Isma'ilitischen Lehre wurden so die Fatimiden, die im 10. und 11. Jahrhundert über Nordafrika, Ägypten und Syrien herrschten und die ihre Herkunft auf Fatima, die Tochter des Propheten zurückführten, zu "göttlichen" Herrschern, welche die "metaphysische Seele des Universums" 'personifizierten'. 322 Einer der Fatimidenkhalifen, 'al-Hakim, gab vor, dass sich in ihm "die Einheit Gottes" "manifestiert" habe. 323 Westliche Wissenschaftler teilen heute weitgehend die sunnitische Auffassung, dass es für "¥ƒkims Verhalten (...) wenn man ihn nicht einen Wahnsinnigen nennen will, keine einleuchtende Erklärung" gibt. 324 Dessen Anhängerschaft jedoch scharte sich nach seinem Tod um zwei aus dem Iran stammende Männer namens ¥amza und vor allem um 'al-Daraz¾, der die nach ihm benannte "Bewegung" der 'al-Daraziyya, oder 'al-Durziyya ins Leben rief. 325 Die Anhänger des "HakimKults" konnten schließlich vor allen Dingen im syrischen Raum neue Parteigänger gewinnen, nachdem sie in Ägypten nach dem Tode ihres 'Gottkhalifen' Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren. Doch waren die Mitglieder des "Hakim-Kult-Zirkels" nicht immer nur jene Opfer, als die sie ihre eigene Historiografie darzustellen pflegt, sondern auch Täter, so weit ihnen politische Macht zufiel. So war schon die Niederringung des Hakim-Kultes nach dessen Tod bzw. Verschwinden in Ägypten auch eine Reaktion auf jene Gewaltherrschaft, die der Khalif selbst dort ausgeübt hatte. 326 Auch Christen und Juden gegenüber hatte er sich mehr als nur intolerant gezeigt und sie mit erniedrigenden Gesetzen zu Parias in der ägyptischen Gesellschaft zu machen versucht.

319

Cahen, S.209.

320

Ebd., S.212.

321

Salibi, S.119.

322

Ebd., S.118.

323

Ebd., S.119.

324

Cahen, S.265.

325

Siehe: Stichwort Durûz, in: EI, Vol. II, Fasciculus 32, S.631f.

326

Cahen, S.264f.

55 Und in jenen unzugänglichen Gebirgsgegenden des Libanon, in denen seine Anhänger dann in einem Machtvakuum während einer Bauernrevolte ihr eigenes "neues Gesetzessystem" etablieren konnten, brannten sie zuvor die Moscheen der Sunniten und der Schiiten nieder. 327 Nachdem aber der "ungeduldige Schwung der Propagandaphase" in der Zurückgezogenheit der Bergwelt des östlichen Mittelmeers "dumpfem, schicksalsergebenem Abwarten der 'Gelegenheit' im Untergrund" gewichen war328 , nahm das Drusentum einen Charakter an, der allgemein mit "politischem Quietismus" gleichgesetzt wird. 329 In der Literatur werden so die Drusen nicht selten als "Esoteriker" bezeichnet, da die Inhalte ihrer Religion, die erst 1965 zum ersten Male in ihrer Gesamtheit einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wurden, nicht nur für den westlichen Beobachter mystizistischer Natur zu sein scheinen. Denn neben die "Idee der Vergöttlichung (...) eines Menschen", neben den Glauben an "die Heilandsrolle des Imam (...)" und an dessen "Entrückung (...) und Wiederkehr (...)" traten u.a. "kosmogonische und kosmologische Spekulationen mit Emanationstheorien" sowie "gedankliche Anklänge an mystisch-gnostische Seelenspekulationen, Vernunftspekulationen, Lichttheorien (...)" und "Zeitspekulationen (Zyklenlehren, chiliastische Erwartungen); sternkundliche Anspielungen, Wiedergeburtsvorstellungen (...)"330 . Die von ihren Angehörigen eingeforderte "sittliche Stringenz" und das Einhalten einer "Arkandisziplin"331 zeichneten seit jeher die innere Struktur einer Gesellschaft aus, die sich in zwei Gruppen, in die "Weisen", die "Zugang zur Wirklichkeit der Lehre haben", und die "Unwissenden" aufteilt und die von "Scheichs" mit einem "Oberhaupt", dem "ra‘¾s", an der Spitze geführt wird. 332 Nachdem sich dann nach "Jahrhunderten frei gewählter Abschließung oder erzwungener Ausschließung" "in der groß-zügigeren (...) Atmosphäre" im Staate Libanon für das Drusentum die "Gelegenheit" bot, "in einer 'Vorwärtsverteidigung' seinen lauteren religiösen und politischen Standpunkt zu beweisen (...)" und "(...) klarzustellen, wie" es "sein wahres, unzweifelhaftes Selbstverständnis begründet (...)", stellt sich die Frage, welches "Gesicht"333 , bzw. welches seiner Gesichter es zeigen würde und zeigen wird. Würde und wird es das esoterische, defensive "Schwärmertum" sein, oder das von Schmucker erwähnte "Zelotentum" der "Formations-(...) und Missions"-Phase. 334

3.2.2 Die Drusen und das Wechselspiel der Koalitionen Nicht wenige Maroniten misstrauen heute den Annäherungsversuchen eines Walid Jumblatt. Noch vor nicht allzu langer Zeit habe er, so heißt es aus dem Lager des exilierten Generals

327

Durûz, S.632.

328

Schmucker, S.7.

329

Cahen, S.211.

330

Schmucker, S.17.

331

Ebd., S.7 u. 19.

332

Stichwort Drusen, in: Kreiser/Diem/Majer, Bd.1, S.146.

333

Schmucker, S.10f.

334

Ebd., S.19.

56 Aoun, jeden, der "den Rückzug der syrischen Streitkräfte aus dem Libanon" gefordert hatte, "mit Gewaltanwendung" bedroht. 335 Auch außerhalb des Libanon gilt der Drusenführer als "politischer Opportunist", der nur auf das "neue politische Klima im Libanon" reagiert habe und der vor allen Dingen deswegen eine "neue politische Allianz mit der christlichen Opposition" schmieden will, weil er für den Fall eines möglichen syrischen Disengagements im Libanon unter Bashar 'al-Assad schon jetzt "gut positioniert" in die Zukunft gehen und sich ein "bedeutendes Maß an politischem Einfluss sichern möchte". 336 Ein Wahlbündnis mit der Kata'ib und dem Nationalen Block verschaffte Jumblatt schon bei den letzten Parlamentswahlen einen "Erdrutschsieg" in den Distrikten des Shuf und Aley. Dies hat ihm und seiner Allianz neue Posten im Kabinett gesichert. 337 Auch mit seinem früheren Erzfeind 'Amin Gemayel hat er sich schon kurz nach dessen Rückkehr aus dem Exil getroffen und Mounir Hajj, der Präsident der Kata'ib, verkündete nun, dass seine Positionen und die des Drusenführers weitgehend miteinander "identisch" seien. 338 Den aus seinem brasilianischen Exil zurückkehrenden Carlos Eddé begrüßte der Drusenführer als erster libanesischer Politiker in Beirut und stellte somit gleich persönliche Kontakte zum ne uen Chef des Nationalen Blocks her. 339 Vergessen will die Maronitische Liga heute ansche inend, dass ihr neuer Allianzpartner es gewesen ist, der die Christen aus dem Shuf vertrieben und damit seinen Teil zu jener Vielzahl von ethnischen Säuberungen beigetragen hatte, die das konfessionelle Mosaik des Landes auch territorial verfestigt haben.

3.2.3 Maroniten und Drusen: zwischen Koexistenz und Konflikt Über die Gesamtheit der Geschichte des Libanon betrachtet, ist die mit dieser Geschichte ve rbundene Problematik der Koexistenz unterschiedlicher ethnischer bzw. konfessioneller Gruppen von ihren Ursprüngen her keine christlich-islamische Thematik, sondern eine maronitisch-drusische. Denn der Dschubal 'al-Lubnan, das war das Gebirge, der "Berg" der Maroniten und der Drusen. Muslime und Griechisch-Orthodoxe stellten auf diesem Territorium eine Minderheit dar. Deren Mehrheit lebte 'draußen' in der Bekaa-Ebene, in den Küstenstädten wie in Tripoli oder in der nördlichen Akkar-Ebene, in Gebieten also, die noch nicht zum "Kleinen Libanon" gehörten. Die dominierende Rolle der beiden Gemeinschaften manifestierte sich so z.B. in der Zusammensetzung der 1861 im Rahmen des "Règlement organique" geschaffenen und seit 1864 unter proportionalen Gesichtspunkten bestellten "Repräsentativversammlung" des Kleinen Libanon: "Vier Maroniten, drei Drusen, zwei Griechisch-Orthodoxe, je ein Griechisch335

The Lebanese Bulletin, Friday, February 20, 1998 (sic?), "The Weekly Position": The Jumblatt Initiative; http://www.lebanon-world.org/annashra/english/n30e.html (Abgerufen am 25.4.2001).

336

The Weakening of Syrian Political Patronage in Lebanon; in: Middle East Intelligence Bulletin, Vol.2 No.11, December 2000 ; http://www.meib.org/articles/0012_l1.htm (Abgerufen am 25.4.2001).

337

Ebd.

338

Jumblatt calls on Lahoud 'to take charge', in: The Daily Star, 25/04/01; http://www.dailystar.com.lb/25_04_01/art15.htm (Abgerufen am 25.4.2001).

339

Carlos Edde is out to prove he's for real; in: The Daily Star 31/03/01; http://www.dailystar.com.lb/opinion/31_03_01_b.htm (Abgerufen am 25.4.2001).

57 Katholischer, Sunnite und Schiite" bildeten dieses Gremium, diese "Versammlung"340 , die als Vorläufer des (groß-)libanesischen Parlaments gelten kann. Zu verdanken hatten beide Gruppen ihre jeweils privilegierten Stellungen nicht unwesentlich den Interventionen ihrer auswärtigen Verbündeten, die Maroniten also den Franzosen und die Drusen den Briten. Ihren Allianzen mit den europäischen Mächten hatten Drusen und Maroniten aber auch – nach gängiger Lesart – ihre ersten Konflikte miteinander zu verdanken, wenn britische und französische Interessen in der Levante miteinander kollidierten. Mochten beide Parteien auch in den Jahren zwischen 1831 und 1840 "zum ersten Mal" 341 in eine offene militärische Auseinandersetzung miteinander geraten sein, weil die Maroniten als Protegés der Franzosen auf Seiten Ägyptens – das sich, "von Frankreich ermuntert"342 , unter Muha mmad 'Ali weitgehend der Oberhoheit der Hohen Pforte entzogen und 1831 Syrien besetzt hatte – und die Drusen als Klienten Großbritanniens – das zu diesem Zeitpunkt die territoriale Unversehrtheit des Osmanischen Reiches gewahrt wissen wollte – auf Seiten der Türken in diesen Krieg eingriffen. Nicht nur westliche Autoren verabsäumen heute aber auch nicht, auf die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser damaligen interkommunitären Konflikte hinzuweisen. Veränderungen auf diesem Felde, die im 19. Jahrhundert auch die "politischen (...) Verhältnisse im Libanongebirge" 'erschütterten' 343 – und die im 20. Jahrhundert einen Mitauslöser für den Bürgerkrieg der Jahre nach 1975 darstellten –, konnten im Zusammenspiel mit externen Faktoren aber nur deswegen so schwer wiegende Folgen nach sich ziehen, weil sie das fragile System des interkommunitären Interessenausgleichs in diesem multireligiösen bzw. multiethnischen Gemeinschaftsverband eben sehr leicht aus dem Gleichgewicht bringen konnten. Denn das Zusammenleben der Gruppen im Mont Liban regelte sich selten auf der Basis einer wirklichen Gleichstellung aller communautés, noch waren diese an einer wirklichen Parität interessiert. Es ging immer um "Hegemonie", um Vormachtstellungen und Privilegien. So bleibt auch die drusische Historiografie in diesem Zusammenhang nicht von Widersprüchen frei, wenn sie einerseits erlittene Verfolgungen und politische Passivität zum Leitmotiv drusischer Geschichte macht, andererseits aber "das Thema des Geschichtsanteils der Drusen, etwa zur Zeit des großen Ma'niden Fa˜r ad-D¾n II (...)" aufgreift. 344 Fakhr'ud-Din und seine Nachfolger aus den Dynastien der Ma'aniden und der Shihabis stehen indes nicht für quietistische Zurückgezogen- und In-sich-Gekehrtheit – die sie sich in ihrer Position als Emire des Libanon auch kaum leisten konnten –, sondern für pragmatische Machtpolitik. Pragmatisch war ihr Verhältnis zu den Maroniten und deren Clansführern, die sie aus demselben Grund brauchten, aus dem die Osmanen wiederum sie selbst brauchten: Zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität in einem nur schwer zentral regierbaren Gebiet. So blieb die direkte Herrschaft der osmanischen Sultane im Libanon nur auf die Küstenstädte beschränkt. Die Einwohner des Gebirges blieben außer in Fragen der Steuereinziehung weitgehend "sich (...) selbst überlassen". 345

340

Hanf, S.85.

341

Ebd., S.81.

342

Ebd., S.80.

343

Ebd.

344

Schmucker, S.106.

345

Hanf, S.76.

58 Für die Entrichtung der Steuern an die Hohe Pforte zeichneten die Emire verantwortlich, für deren Einziehung die Notabelnfamilien. Doch drohte in diesem Spiel der Delegierung von einzelnen Machtbefugnissen und Aufgaben von der einen Ebene auf die nächstniedrigere der jeweils Untergeordnete dem Übergeordneten zu mächtig und zu selbstständig zu werden und über die Rolle seiner 'Nützlichkeit' hinauszuwachsen, folgten Sanktionen auf dem Fuße. So entmachtete Fakhr'ud-Din, der doch die Maroniten so sehr "bevorzugte"346 , 1605 trotzdem beispielsweise die Familie der Hubayshis, die ihm in der Region um Kisrawan zu einflussreich geworden war. 347 Und als Fakhr'ud-Dins Politik selbst wiederum der Hohen Pforte schließlich zu ambitiös wurde, ließ sie ihn 1634 hinrichten. 348 Die von Phares verklärend dargestellte "Christian-Druse entente"349 währte als Zweckbündnis eben so lange, so lange die Maroniten von ihrer Subordination in diesem System profitieren konnten und sie diese daher akzeptierten. Doch schon zur Mitte des 18. Jahrhunderts fühlte sich die "Maronitengemeinde", die "auch wirtschaftlich erstarkt war", in einer Position, aus der heraus sie der "Hegemonie der Drusen" dann "den Kampf ansagen konnte". 350 Ihre Bestrebungen nach rechtlicher Emanzipation erhielten dann zusätzlichen Aufwind, als Teile des Gedankenguts der Französischen Revolution über den Umweg über Ägypten auch in den Libanon gelangten. Denn Napoleon Bonapartes Expedition in das Land am Nil hatte dort, so sehr sie auch eine nur dreijährige Episode und ein Nebenschauplatz der Koalitionskriege in Europa bleiben sollte, den neuen Geist und das neue Ideal der "Égalité" als bedeutendste Hinterlassenschaft zurückgelassen. 351 So "wies Bonaparte den Weg zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen, die zwar weder er noch seine Nachfolger, die Generale Kléber und Menou, in der Lage waren durchzuführen, die aber teilweise von MuŒammad 'Al¾ in die Tat umgesetzt wurden". 352 MuŒammad 'Al¾, eigentlich nur Gouverneur von Ägypten, (18051848), jedoch dann "ein recht aufgeklärter Monarch"353 , der am Aufbau eines modernen Staatswesens und einer effektiven staatlichen Bürokratie, der Errichtung neuer Industrien und einer nach Westen sich öffnenden Wirtschaft interessiert war, gestand im Rahmen seiner Reformen auch seinen christlichen und jüdischen Untertanen die rechtliche Gleichstellung mit den Muslimen zu. 354 Als Muhammad 'Alis Sohn Ibrahim Pasha 1831 mit seinen Armeen nach Syrien und damit auch in den Dschubal 'al-Lubnan vordrang, setzte er diese Reformen seines Vaters auch dort durch und wurde dafür von den Christen der Region als ihr Wohltäter gefeiert. Die maroniti-

346

Salibi, S.15.

347

Ebd., S.105.

348

Stichwort Durûz, in: EI, Vol, II, S.635.

349

Phares, S.45.

350

'al-Sayyid Marsot, S.343.

351

Siehe: Motzki, Harald: ¯imma und Égalité. Die nichtmuslimischen Minderheiten Ägyptens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Expedition Bonapartes (1798-1801); Studien zum Minderheitenproblem im Islam 5; Bonner Orientalistische Studien, Neue Serie, Band 27/5, Bonn 1979.

352

'al-Sayyid-Marsot, S.332.

353

Ebd., S.333.

354

Motzki, a.a.O.

59 sche Geschichtsschreibung spricht nun von einem "kurzen goldenen Zeitalter", die der Drusen von einer Epoche der "ungleichen Verteilung von Wohlstand und Privileg". 355 Am Ende der 'Ägyptischen Okkupation' waren aus den früheren drusischen "feudalen Herren" nun "Hörige" geworden356 und sie betrachteten mit "Eifersucht", die immer mehr "konfessionelle Eifersucht"357 wurde, den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg ihrer früheren 'Schut zbefohlenen', die in ihren Augen nichts weiter blieben als "parvenu Christians"358 . Der Widerstreit von Drusennotabeln, die eine "Restauration" ihrer sog. "feudalen Privilegien" anstrebten und den zu'ama der Maroniten, die eben eine solche "Restauration" verhindern wollten, 359 ließ das Land von nun an nicht mehr zur Ruhe kommen. Der Reigen drusischer Gewalt gegen Christen nahm im Jahre 1841 von der maronitischen Ortschaft Dayr 'Al-Kamar ausgehend ihren Lauf, die zu einem Zentrum der Seidenindustrie und damit zum Sinnbild des Wohlstands dieser communauté geworden war360 . Er "kulminierte"361 schließlich in den "Christenmassakern" des Jahres 1860, die auch auf Damaskus übergriffen und das wohl bekannteste und grausamste Pogrom in der Neueren Geschichte des Vorderen Orient gewesen sind. Angetrieben von ihrem Unmut über die von der Pforte beschlossene rechtliche Gleichstellung der Nicht-Muslime im Osmanischen Reich "ergriffen" damals auch "Sunniten und Schiiten die Partei der Drusen". 362 Dies scheint die These zu erhärten, dass sich in jenem Zeitraum die für das Land bis dahin typische "frühere Gewalt", die die "Form eines internen Streits zwischen Faktionen und Feudalfamilien" gehabt hatten, zu jener "konfessionellen Feindschaft" weiterentwickelt hatte, die den Libanon bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht mehr zur Ruhe kommen lassen sollten. 363 Hinter der Fassade dieser 'Religionskriege' aber bleiben die Muster interfamiliärer Interessenkonflikte erkennbar. So erwähnt auch Khalaf bei seiner Darstellung der drusischen Opposition gegen die Reformpolitik Ibrahim Pashas, dass sich diese vollkommen in Gestalt des Ringens der Clans der Jumblatt, der Arslan und der Talquds um ihre verloren gegangenen "Rechte und Privilegien" zeigte. 364 Diese Opposition allerdings richtete sich gegen einen Maroniten, der von seiner Herkunft her eigentlich gar keiner war. Denn Bashir II, der vorgeblich mit seiner von Ibrahim Pasha inspirierten Reformpolitik dem bis dahin friedlichen Nebeneinander von Christen und Drusen ein Ende setzte, war als Spross des drusischen Shihabi-Clans in die Position des Emirs des Libanon gelangt und dann zum Maronitentum konvertiert.

355

Khalaf, Samir: Communal Conflict in Nineteenth-Century Lebanon; in: Braude/Lewis, Vol. II: The ArabicSpeaking Lands, S.109 u. 113.

356

Betts, Robert Brenton: The Druze, New Haven and London 1988; S.78.

357

Khalaf, S.109.

358

Betts, S.78.

359

Hanf, S.82.

360

Khalaf, S.114 u. 119.

361

Harik, S.161.

362

Hanf, S.84.

363

Khalaf, S.107.

364

Ebd., S.118.

60 Religiöse Motive sind es allerdings kaum gewesen, die ihn zu diesem Schritt bewogen hatten. Zusammen mit den Arslan und vier weiteren Familien standen die Shihabis traditionell auf der höchsten Stufe der hierarchischen Rangordnung der drusischen Ständeordnung, der der Emire. Unter ihnen folgten die Familien der "shaikhs", zu denen u.a. die Talqud (Talhud), die Nakad und die Jumblatt gehörten. 365 Doch schon am Ende des 18. Jahrhunderts waren, wie Betts hervorhebt, viele der shaikhs, allen voran die der Jumblatt, "an Mann und Geld" "mächtiger" geworden als die ShihabiEmire. So "erklärten" die Jumblatt am Beginn des 19. Jahrhunderts ihre "Herausforderung" an die "politische Dominanz" der Emire. 366 In ihrem Kampf um den Erhalt ihrer traditionellen Machtposition hatten sich die Shihabis schon sehr früh um externe Unterstützung und um Allianzpartner in Istanbul bemüht. 367 Zum Zwecke der Sicherung der eigenen Autorität in ihrem konfessionell fragmentierten Emirat hatten sie schon früh auch Ansätze zur Entwicklung eines gewissen Synkretismus gezeigt. Emir Mansur (1754-1770) hatte so unter dem Eindruck drusischer Clansrivalitäten aus machtpolitisch-taktischen Gründen als erster seiner Familie seinen Übertritt zum maronitischen Glauben vollzogen368 . Das dann 'offizielle' Konversionsbekenntnis Bashirs II im Jahre 1834369 – und damit nur drei Jahre nach dem Eintreffen der ägyptischen Truppen im Libanon – zeugt in Anbetracht all dieser Faktoren daher auch nicht unbedingt von 'Zufälligkeit'. Der Zorn der von ihm enteigneten Jumblattis richtete sich nach der Rückkehr der Osmanen dann gegen alle Günstlinge Ibrahim Pashas und Bashirs und damit auch gegen alle Maroniten, die mit der Familie der Shihabis eigentlich nichts zu tun gehabt hatten. Dass die damals aufgebrochenen Konflikt- und Trennlinien, die den Libanon bis in die Gegenwart hinein durchziehen, nicht allein entlang unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten verlaufen, beweist schon das Beispiel der Arslan, die am traditionellen und althergebrachten Muster des Interessenausgleichs mit den "Maroniten im Norden" ihres Hoheitsgebietes und der dort tonangebenden Familie der Abillama fest hielten. 370 In den Emiren der Arslan blieben den shaikhs der Jumblatt Konkurrenten erhalten, die ihnen im Rahmen der von Schäbler aufgezeigten drusischen Ständehierarchie sogar übergeordnet waren. Und auch der "Wettkampf zwischen den Arslan und den Jumblatt um die Führung der drusischen Gemeinschaft" hat sich von jener Zeit an "bis in unsere Tage" fortgesetzt. 371

365

Zu dieser Ständeordnung siehe bei: Schäbler, Birgit: Aufstände im Drusenbergland. Ethnizität und Integration einer ländlichen Gesellschaft Syriens vom Osmanischen Reich bis zur staatlichen Unabhängigkeit 1850-1949; Nahost und Nordafrika, Studien zu Politik und Wirtschaft, Neuerer Geschichte, Geografie und Gesellschaft, Bd.3, Gotha 1996, S.92.

366

Betts, S.77.

367

So ließ die Pforte 1825 Bashirs II Konkurrenten, Bashir Jumblatt, hinrichten. Vgl. dazu Betts S.77, sowie: Perillier, Louis: Les Druzes, Paris 1986, S.23f.

368

Betts, S.76.

369

Perillier, S.26.

370

Ebd., S.29.

371

Ebd., S.27.

61 3.3

Ideologische Ausrichtungen und drusische Allianzpolitik im Zeichen familienpolitischer Interessen

Nach Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahre 1975 standen sich zunächst die Milizen der Lib anesischen Front, der LF, auf der einen, der christlichen Seite, und die der "Libanesischen Nationalbewegung"372 , des "Mouvement national libanais" (MNL) auf der anderen Seite gege nüber. Im MNL hatten sich die pro-palästinensischen Gruppierungen bzw. proarabischen Parteien des Libanon wie die PSP, die SSNP, die Kommunistische Partei, die Baath-Partei373 , die Organisation der kommunistischen libanesischen Aktion sowie andere Linksparteien und nasseristische Splittergruppen als auch später noch ein "Mouvement libanais d'appui au Fath" (Fatah) zusammengefunden. In den Jahren 1972 und 1973 war der Chef der PSP, Kamal Jumblatt, zu einem der Anführer des MNL geworden. 1949 hatte der Drusenführer die PSP gegründet und damit einen "Versuch" unternommen, eine "Partei von nationalem Ausmaß" aufzubauen. Doch blieb die PSP bis auf den heutigen Tag "ein Focus für Drusen, die sich um die traditionelle Führung der Jumblatt scharen". 374 Auch ihre "Wählerschaft rekrutiert sich (...) überwiegend aus einem Teil der Drusen des Chouf, dem traditionellen Anhang der Familie Joumblatt". 375 Kamal Jumblatts Name bleibt in der Literatur verbunden mit der Entstehung jener von vielen Autoren so bezeichneten "breiten links-nationalistischen Bewegung", die sich vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs zur MNL formiert hatte. Dieser vorgeblich "progressive Nationalismus" wird so dem "rechten Nationalismus des politischen Maronitismus" entgegengehalten376 und gleichzeitig vom panarabischen Nationalismus abgegrenzt, da sich die hier zusammengeschlossenen "neuen politischen Kräfte für eine grundsätzliche Umgestaltung des libanesischen Systems", und nicht für eine Eingliederung des Landes in einen arabischen Einheitsstaat einsetzten. 377 Dieser als Folge der in der muslimischen Bevölkerung nach dem Sechstagekrieg von 1967 wachsenden "Desillusionierung über den panarabischen Nationalismus" entstandene 'libanesische Linksnationalismus' aber blieb in seiner Anfangsphase eine überwiegend 'drusische Angelegenheit'. So führte Kamal Jumblatt nicht nur den MNL an, sondern in 'Personalunion' mit diesem als Generalsekretär auch die "Front de soutien à la Révolution palestinienne". 378 Viele Autoren weisen indes darauf hin, dass dieser nach außen hin zur Schau getragene "proPalestinian stance" eigentlich nicht den "long-term interests" der libanesischen Drusen entsprochen habe, die keine "tief gehegte Sympathie für palästinensische nationalistische Ziele" empfinden würden und zudem verwandtschaftlich mit den israelischen Drusen "verbunden" sind 379 . Bemerkenswerterweise wird von einigen drusischen Autoren heute der 'schwachen' 372

Vgl. dazu u.a.: Rosiny, S.54ff.

373

Anfänglich beide Richtungen, so Rosiny. Später, im Jahre 1984 gehörte nur mehr der proirakische Baath-Flügel der Bewegung an. Siehe: Perillier, S.74f.

374

Salibi, S.188.

375

Hanf, S.107.

376

Rosiny, S.54f.

377

Ebd.

378

Perillier, S.68.

379

Betts, S.99f.

62 maronitischen Präsidentschaft die Schuld am Zustrom palästinensischer Flüchtlinge gegeben. Diese Palästinenser hätten dann "ihre politischen Dispute mit inländischen libanesischen Problemen" "unentwirrbar" vermischt. 380 In den beiden Fällen des Jumblatt'schen "Sozialismus" wie auch der propalästinensischen "Solidarität" scheint es sich in erster Linie um eine pragmatische bzw. opportune Instrumentalisierung importierter Ideologiefragmente einerseits und um eine an den eigentlichen langfristigen Interessen der Drusen bzw. des Clans der Jumblatt orientierten Allianzpolitik zu handeln. Und im Wechselspiel der Koalitionen bzw. Familienbündnisse war diese Familie, wie die anderen zu'ama auch, noch nie sonderlich 'wählerisch' gewesen. So paktierte sie am Beginn der 50er-Jahre mit Chamoun, dem erklärtesten Gegner jeglicher Form eines arabischen Nationalismus, weil sie eine Verlängerung der Amtsperiode von Präsident Bishara 'al-Khouri – damals ein gemeinsamer "Rivale" – verhindern wollte. Sechs Jahre später war es dann Chamoun, gegen den sich Kamal Jumblatts Unmut richtete. Um nun diesen Präsidenten aus seinem Amt zu verjagen, schloss er sich jetzt dem nasseristischen Lager an, obwohl er, wie Betts betont, "keineswegs ein Nasserist" war. 381 Aber bei der Neueinteilung der Wahldistrikte, die die Vormachtstellung seines Clans im Shuf bedrohte, waren er und sein früherer Bündnispartner aneinander geraten. Als dann nach dem Eintreffen "bewaffneter palästinensischer Streitkräfte" im Gefolge des Schwarzen Oktober in Jordanien die Maroniten als Abwehrreaktion darauf ihre militärischen wie politischen 'Verteidigungslinien' auszubauen gedachten und das bis zu diesem Zeitpunkt oft von Drusen geleitete Verteidigungsministerium für sich selbst in Anspruch nahmen, mutmaßte Jumblatt, dass seiner communauté nun "der Zugang zu den Korridoren der Macht ve rwehrt" würde. 382 Doch dachte er beim Schmieden der drusisch-palästinensischen Allianz nicht 'zuerst' als Druse, sondern als 'clansman'. Als im Januar 1976 palästinensisch-drusische Einheiten das maronitische Damur überfielen und Hunderte von Zivilisten ermordeten, hatte er die Aufmerksamkeit seiner Bündnispartner nicht nur deswegen auf diesen Ort gelenkt, weil er am strategisch wichtigen nördlichen Zugang zum Shuf lag, sondern auch, weil er der Stammsitz der Chamoun war. 383 Propalästinensische und sozialistische Inhalte dienten im Programm der PSP letztendlich immer der Kaschierung von Clansinteressen. Schon Perillier hat sich gefragt, was die Hintergründe des Vorhabens gewesen sein konnten, in eine Gemeinschaft, die sich "seit Jahrhunderten hinter den großen Familien, die veritable soziale Privilegien" genießen, "gruppiert" hatte, die Idee der "Gleichheit" einbringen zu wollen. 384

380

Alamuddin, Najib: Turmoil. The Druzes, Lebanon and the Arab-Israeli Conflict; London 1993, S.169.

381

Betts, S.98.

382

Ebd., S.99.

383

Siehe: Ebd., S.111, sowie: Salibi, Kamal: Crossroads to Civil War: Lebanon 1958-1976, New York 1976, S.158.

384

Perillier, S.69f.

63 Doch ließ sich dieses 'sozialistische' Programm im Sinne der "personnalité féodale"385 Jumblatt hervorragend für die Ausschaltung innerdrusischer Konkurrenz instrumentalisieren. Das veranschaulichten die Landenteignungsmaßnahmen im Shuf, die viele alteingesessene Großgrundbesitzer schwächten und dabei die Hausmacht der eigenen Familie stärkten. 386 Auch der Streit um die Besetzung des Verteidigungsministeriums hatte nicht nur drusischmaronitische Dimensionen allein. Denn bis 1967 hatte diese Position Prinz Majid Arslan mehrmals inne, der Führer der Yazbaki-Drusen. 387 Die Yazbaki-Drusen, die 50% der Angehörigen der gesamten communauté repräsentieren, haben sich der PSP nicht angeschlossen und sich den Maroniten gegenüber "loyal" verha lten. 388 Im Jahre 1958 hatte Emir Majid Arslan die Partei Chamouns ergriffen und sich dabei in eine militärische Auseinandersetzung mit den "Jumblattis" verwickelt. 389 Als LF-Einheiten im Herbst 1982 im Schutz der israelischen Militäraktion Frieden für Galiläa in drusische Gebiete vordrangen, wurde ihnen vom Emir der Yazbakis die Einnahme strategischer Schlüsselpositionen in dessen Hoheitsgebiet sogar "erlaubt". 390 Von den Phalangisten sinnloserweise an den Yazbakis begangene Massaker bewirkten zwar, dass die Arslan sich der Regierung gegenüber nun in den 80er-Jahren etwas "weniger hilfreich" zeigten391 . Jedoch blieb dieser Clan dem Familienkartell der "Maronite-Sunni power brokers" vorerst "eng verbunden"392 . Seit den Tagen der Christenmassaker von 1860 bis hin zur Unabhängigkeit des Libanon, als Emir Arslan eine "heroische Rolle" beim Zustandekommen des Nationalpaktes zufiel, 393 hatten die Positionen, die die rivalisierenden Clans ihrer nicht-drusischen Umwelt gegenüber einnahmen, mehrere Wandlungen durchlaufen. Diese Positionsbestimmungen aber spielten sich nach einem durchgängigen und simplen Muster ab: Die Verbündeten der einen Seite waren automatisch die Feinde der anderen und umgekehrt. Verfolgte die eine Clanspartei eine arabisch-nationale oder libanesisch-nationale Politik, nahm die zweite Familie reflexartig eine dazu diametral entgegengesetzte Haltung ein. Auswärtige Mächte wie das benachbarte Syrien sowie die staatstragenden Kräfte im Libanon selbst, d.h. die Maroniten, die sich mit diesen Spielregeln der interfamiliären "balances of power" auskennen, haben eine solche politische Ortskundigkeit immer auch zu ihrem eigenen Vorteil nutzen können.

385

Ebd., S.70.

386

Siehe: Betts, S.98.

387

Ebd.

388

Alamuddin, S.192.

389

Ebd., S.157.

390

Ebd., S.192.

391

Betts, S.117.

392

Ebd., S.99.

393

Perillier, S.27 u. 31.

64 3.4

Drusische Allianzpolitik im Kontext der syrischen Hegemonialpolitik

Nur kurze Zeit, nachdem die syrische Regierung Walid Jumblatt mit einem Einreiseverbot belegt hatte, wurde in Damaskus "Jumblatts politischer Rivale, der Abgeordnete für Aley, Talal Arslan" empfangen. 394 Eine gemeinsame Erklärung von SSNP, Baath, Hizbollah, Amal und der Majid Arslan Foundation, in der sich die unterzeichnenden Parteien dafür ausgesprochen haben, "die Frage der syrischen Präsenz" von der politischen Tagesordnung zu streichen395 , scheint sowohl in der libanesischen Innenpolitik als auch auf dem Gebiet der 'auswärtigen' Beziehungen der innenpolitischen Akteure zu den anderen staatlichen Akteuren im Nahen Osten ein renversement des alliances anzukündigen. Von einem regelrechten 'Rollentausch' scheint es zu zeugen, wenn Jumblatt heute im Parlament in Beirut von der SSNP 'beschuldigt' wird, "eine Allianz" mit Israel anzustreben und die Phalangisten zu "verteidigen", 396 während die Arslan heute zu den "Parteigängern der syrischen Präsenz" gehören und dem Aufruf der Franjieh folgen, sich dem maronitischen Patriarchen zu widersetzen397 . Wurden die Yazbakis doch bislang als diejenigen angesehen, die den "Ruf" hatten, "mit der Kata'ib zu kooperieren" und außenpolitisch nach Israel zu tendieren. 398 Noch bei den Wahlen des Jahres 1992 stimmten die Christen im Shuf für Talal Arslan und damit für einen in ihren Augen ihnen gegenüber "moderateren" Politiker. 399 Aus eben diesem Grund war auch bis 1967 ein Yazbaki-Druse von der "maronitischen Führung" bei der Besetzung des Verteidigungsministeriums bevorzugt worden. 400 Vorsichtshalber und von Zeit zu Zeit – und je nach Konstellation – war aber auch noch ein zweiter Ministersessel im Kabinett für einen Drusen reserviert worden, "(...) um beide, die Junbalati und Yazbaki-Faktionen zufrieden zu stellen". 401 Immerhin war auch schon in der Vergangenheit ein nicht unbedeutender Repräsentant der Yazbakis wie Prinz Shaqib Arslan ein Verfechter "des pan-islamischen Ideals" gewesen402 und hat sich seine Familie immer dann, wenn es darum ging, ihre Rivalen zu schwächen, auch Lockrufen aus Damaskus gegenüber aufgeschlossen gezeigt. So haben sich die Arslan schon im Vorfeld der vorletzten Parlamentswahlen, als sich bereits abzeichnete, dass Syrien seine Gunst von den Jumblatt ab- und ihnen zuwenden könnte, schnell zur Bildung einer gemeinsamen und von Damaskus initiierten "Konsens- und Erneuerungs"-Liste mit der SSNP, Amal und Hizbollah bereitgefunden, die sich der Liste der Jumblatt "entgegenstellen" sollte. 403 In 394

Jumblatt and Syria 'politically divorced', in: The Daily Star, November 8, 2000; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds001108-1.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

395

Pro-Syrian parties denounce Sfeir; in: The Daily Star, March 28, 2001); http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds010328-2.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

396

Qanso lashes out at Jumblatt over Syria; in: The Daily Star, November 7, 2000; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds001107-1.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

397

Franjieh leads charge against Syria's critics; The Daily Star, April 9, 2001; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds010409-1.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

398

Betts, S.99, Anm. 32.

399

Special Report: How Syria Orchestrates Lebanon's Elections, Middle East Intelligence Bulletin, August 5, 2000, http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/meib000805.htm (Abgerufen am 7.5. 2001).

400

Betts, S.98.

401

Ebd., S.92.

402

Ebd., S.82.

403

Siehe: How Syria Orchestrates Lebanon's Elections.

65 dem an Familieninteressen gebundenen permanenten Wechselspiel der Koalitionen war indes schon so manches denkbare und auch undenkbare Bündnis zustandegekommen. So kand idierten jetzt im Jahre 2000 der Maronit Pierre Hélou und der Orthodoxe Marwan 'Abu Fadel zusammen mit Talal Arslan auf dessen "Versöhnungs- und Erneuerungs"-Liste im dritten Distrikt des Mont Liban. 404 Noch 1992 waren Hélou und 'Abu Fadel zusammen mit Walid Jumblatt in einem gemeinsamen Bündnis miteinander angetreten, 1996 dann in das 'Lager' der Arslan umgeschwenkt. Bemerkenswerterweise geschah dies, nachdem Talal Arslan in Damaskus seine Probleme mit Walid Jumblatt dargelegt hatte. 405 Syrien hatte schon immer ein reges Interesse daran, im 'drusischen Spiel' mit allen beiden 'Parteien' wie mit Spielbällen jonglieren und die eine Fraktion gegen die jeweils andere zum eigenen Vorteil ausspielen zu können. Und Damaskus hat wohlweislich keinen seiner drusischen Partner bislang wirklich und endgültig 'verprellt.' So hat die syrische Entscheidung, vor den Wahlen von 1992 keine größeren Wahlkreise im Dschubal 'al-Lubnan zu schaffen, den diesbezüglichen Wünschen Walid Jumblatts entsprochen und damit dazu beigetragen, dessen Führungsposition im 'kleineren' Bezirk des Shuf keinem unnötigen Wettbewerb auszusetzen. 406 Und 1996 hat Damaskus auch die unfreiwillige Kandidatur von Maroniten, die nicht mit "Mr. Junblat gut gestanden" haben, auf dessen Liste erzwungen, um seinem Bündnis auch christliche Wählerstimmen zu sichern. 407 Doch hat die Tatsache, dass die beiden alten 'qadhas' Aley und Shuf und damit die Hochburgen der Arslan und der Jumblatt nicht – wie nach Ta'if vorgesehen und wie in anderen Wahlbezirken geschehen – im Rahmen einer Wahlkreisreform zu einem größeren 'muhafaza' von der Größe eines "governate" zusammengefasst wurden, dem Land nicht nur viel Ärger – und vielleicht auch Blutvergießen – erspart, sondern auch den Arslan ihr eigenes Einflussgebiet gesichert. In Aley sicherten die Syrer 1996 zudem den Wahlerfolg der Arslan, indem sie die dortige PSP zur "Kooperation" mit der Konkurrenzliste zwang. 408 Für Damaskus hat sich diese 'Drusenpolitik' in mehrerlei Hinsicht als erfolgreich erwiesen: Mit den Arslan war auf der einen Seite das politische Überleben eines Clans gesichert wo rden, der – im Gegensatz zu den Jumblatt – auch mit 'freiwilligen' christlichen Stimmen rechnen konnte. Auf der anderen Seite aber war gerade vom Ausgang dieser Wahl das deutliche "Signal an die maronitische Hierarchie" ausgegangen, dass mit den Arslan als einem betont procristlichen Gegengewicht zu den Jumblatt nicht mehr zu rechnen ist. 409 "Divide et impera" indes scheint auch der einzige – im Sinne Syriens – Erfolg versprechende Grundsatz jeglicher Damaszener Libanon- und Drusenpolitik zu sein. Denn die Hoffnung auf eine innerdrusische Kooperation hat man längst aufgeben müssen. Schon die zaghaften An404

Siehe: LebVote; Mount Lebanon Lists, Third District. wysiwyg://283/http://www.lebvote...Candidates/Lists/MountLebanon.asp (Abgerufen am 20.2.2001).

405

Siehe dazu: Bassil, Edouard: Les evênements de la semaine, 1996, http://www.rdl.com.lb/1895/evenements.htm, sowie: El-Hachem, Nadim: D'une semaine à l'autre, 1996, http://www.rdl.com.lb/1904/alautre.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

406

El-Khazen, Farid: The First Post-War Parliamentary Elections in Lebanon: Bulwarks of the New Democracy; 1993 (?), http://www.lcps.org.lb/resc/democ/bk93ch1/ch1pt1b.html (Abgerufen am 7.5.2001).

407

Siehe: The Lebanese Center for Policy Studies: The Lebanon Report, Number 3, Fall 1996: The 1996 Elections by Region; http://www.lcps.org.lb/pub/tlr/96/fall96/1996_elections.hmtl (Abgerufen am 7.5.2001).

408

Siehe: The 1996 Elections by Region, S.5f. sowie: Azoury, Mary Yazbek: Saturnales (1996), http://www.rdl.com.lb/1901/saturnales.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

409

The 1996 Elections by Region, S.7, ebd.

66 sätze zu einer Zusammenarbeit zwischen beiden Fraktionen in Aley im Jahre 1996 hatten während eines relativ kurzen Zeitraums ein Todesopfer gefordert. 410 Auch die darauf erfolgte "Aussöhnung" zwischen den beiden Clans währte nicht lange. 411 Im August 1998 kündigte Talal Arslan die Gründung einer eigenen Clanspartei, der "National Party", an, um "das Gleichgewicht im Joumblati-Yazbaki-Dualismus in der Region des Libanongebirges mit einem 'modernen politischen Instrument' wiederherzustellen". 412 Auch im Wahlkampf des Jahres 2000 kam es wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern von Talal und Mitgliedern der PSP. 413 Damaskus aber kann seinen Vorteil aus dieser Rivalität ziehen. Denn die Strategie, durch die Begünstigung der jeweils einen Seite die andere gefügiger zu machen, hat bislang nicht dazu geführt, dass sich der jeweils Benachteiligte einer Syrienfronde angeschlossen hätte. Jeder syrische Liebesentzug wird sofort mit einem erneuten Liebeswerben des Gefügiggemachten beantwortet. Und dies liegt darin begründet, dass man in Damaskus besser als irgendwo anders die 'familiären' Interessenlagen beim Nachbarn einschätzen kann. So war Walid Jumblatt im Januar 2001 auch "glücklich" über die Entscheidung der syrischen Regierung, das gegen ihn erlassene Einreiseverbot wieder aufzuheben. Nun erklärte er: "Ich forderte keinen syrischen Rückzug, sondern erwähnte spezifische Dinge."414 Und der PSPVorsitzende ist nun wieder einer der "Freunde" des großen Nachbarn, ein "Freund", der jetzt neuerdings zudem über gute Kontakte zu all den maronitischen Politikern verfügt, die bislang mit Damaskus nicht sprechen wollten. Und, was für Jumblatt in diesem Zusammenhang am Ende dieser Affäre noch wichtiger ist: "Ich behalte meine Position bei."415

3.5

Die Haltung des Drusentums zum Konfessionalismus

Wie sein Vater Kamal spricht sich auch sein Sohn Walid heute für die Abschaffung des Konfessionalismus und für eine Trennung von Staat und Religion aus, ohne die der Libanon ein zerrissenes Land bleibe, eine bloße "Ansammlung von Stämmen". 416 Doch hat das drusische Unbehagen mit dem konfessionalistischen Proporzsystem auch andere, konkrete und sehr viel 410

Siehe: Helou, Nelly: Elections.Les élections au Mont-Liban, un Grand Leurre? 1996, http://www.rdl.com.lb/1907/elections.htm (Abgerufen am 7.5.2001), sowie: The Lebanese Center for Policy Studies: The Lebanon Report, Number 3, Fall 1996: Chronology; http://www.lcps.org.lb/pub/tlr/96/fall96/f96chronology.html (Abgerufen am 7.5.2001) S.6.

411

Reconciliation between Jumblatt and Arslan; ShuFiMaFi. A free weekly news report on Lebanon and the Lebanese, September 20, 1996, http://www.idrel.com.lb/idrel/shufimafi/archives/960920.htm (Abgerufen am 7.5.2001), S.3.

412

Talal Arslan to form "National Party" (August 14, 1998); ShuFiMaFi News, August 1998; http://www.idrel.com.lb/lgppa/shuf0898.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

413

CLAO Daily News.Newsline for Friday September 15, 2000; http://www.clao.com/dnews01.html (Abgerufen am 7.5.2001).

414

Syria 'opens up' to Jumblatt; The Daily Star, January 9, 2001; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds010109.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

415

Ebd.

416

Entrevue. Prenant une fois de plus position envers les problèmes de l'heure. Walid Joumblatt: "La relation historique entre les Chrétiens et les Druzes est un mensonge"; (ohne Datumsangabe) http://www.rdl.com.lb/1967/jounblat.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

67 'unpatriotischere' Hintergründe. So hoffte man in Rahmen der von der PSP geforderten "Modernisierung des Landes" und als "Verfechter" einer "Libanité de demain" 417 , die "traditionelle Rolle der Führerschaft, die den Drusen durch historisches Recht" zufalle, wiederzue rlangen. 418 Und Kamal Jumblatt selbst hat in seinem wichtigsten Buch hervorgehoben, dass die Drusen die 'einzigen', seien, die das Recht hätten, den Libanon zu regieren. 419 Betts unterstellt ihm daher auch, das Präsidentenamt angestrebt zu haben, 420 was einem Drusen in jedwedem Proporzsystem eben verwehrt bleibt. Um die Restauration der traditionellen Rolle geht es auch seinem Sohn Walid, dessen Ant ikonfessionalismus und Koalitionspolitik für so manchen Beobachter daher auch eine relativ einfache Erklärung findet: "Für Walid Joumblatt ist der beste Weg, dieses Ziel zu erreichen, eine Allianz mit den Maroniten des Mont Liban zu schmieden, auf soziologischer und demografischer Basis (...) oder auf einer politischen", da die Christen nunmehr in ihrer 'entmachteten' Situation selbst die "Instauration des Rechtsstaates" fordern. 421 Schon vor zwei Jahrzehnten glaubte Schmucker indes feststellen zu können, dass drusische Dialogbereitschaft in erster Linie dazu diene, "sich bei jeder Gelegenheit als gleichwertigen, ja, überlegenen religiösen und politischen Partner zu empfehlen". Man strebe eben danach, im Spiel der Kräfte eine "möglichst überlegene Position zu beziehen". 422 So schwankte die 'drusische' Haltung zum Konfessionalismus in der Geschichte unter dem Eindruck eines pragmatischen und an familienpolitischen Gesichtspunkten orientierten Nützlichkeitsdenkens immer wieder und es erklären sich hieraus somit auch einige der von Schmucker als "widersprüchlich" bezeichneten "Einstellungen zum Gegenstand". 423 Denn am Anfang bedeutete die Einführung des Proporzsystems zunächst einen wichtigen Fortschritt für eine Minderheit, die, nach den Massakern von 1860 von ihrem britischen Allianzpartner "verlassen" und in einem Libanon "in der Sphäre Frankreichs" lebend, zu einer "politisch und numerisch abnehmenden Kraft" geworden war. 424 Doch die hier gebotene Möglichkeit einer dem Bevölkerungsanteil entsprechenden politischen Partizipation wurde vor allen Dingen von den Jumblatt schon bald als Korsett empfunden. Die Arslan hingegen, die früh in den Kreis des maronitisch-sunnitischen Familienmachtkartells aufgenommen worden waren und die Jumblatt 'politisch' zu überrunden begannen, 425 betrachteten ihre Clansinteressen und ihre Ansprüche als durch das bestehende System saturiert.

417

Perillier, S.71.

418

Betts, S.99.

419

Siehe: Jumblatt, Kamal: Pour le Liban, Paris 1978; in engl. Sprache: Joumblatt (Junbalƒ³), Kamƒl: I Speak for Lebanon, London 1982. (Bei Betts, 150, Per. 90).

420

Betts, S.99.

421

La revanche posthume de Kamal Joumblatt.

422

Schmucker, S.11 u. 15.

423

Ebd., S.229.

424

Betts, S.78ff.

425

Siehe ebd., S.98f.

68 3.6

Das innerdrusische und interfamiliäre Gleichgewicht in der Zweiten Republik

Seit Ta'if herrscht nun eine prekäre Machtbalance zwischen den Familien aus Aley und dem Shuf. So wurde aus der früher in der Ersten Republik eher sporadisch gehandhabten Praxis, die Zahl der drusischen Minister von Fall zu Fall auf zwei zu erhöhen, nun eine feste Einrichtung. Vor allen Dingen Rafik 'al-Hariri versucht konsequent, die Jumblatt neben die Arslan an den Kabinettstisch zu bringen. So geschehen etwa im Jahre 1996, als es ihm gelang, die beiden Clansführer zu Ministern zu machen. 426 Walid Jumblatt, der 1991 den seinem Vater früher zugestandenen Parlamentssitz 'geerbt' hatte, wurde 1992 an der Regierung beteiligt, als ihm das Ministerium für Vertriebene überantwortet wurde. 427 Aber selbst an den Kabinetten, in denen er seit 1990 keine Ministerfunktion ausübte, war er politisch beteiligt und in den Ministerrunden durch seine 'Stellvertreter' präsent. So hat mit Marwan Hamadeh seit dem 7.11.2000 "ein enger Mitarbeiter von Drusenführer Walid Junblat"428 das Ministeramt für Vertriebene inne. 429 Als drusischer Repräsentant bzw. als der der Jumblatt hatte er vor dem Regierungseintritt des Clanschefs vor 1992 als Minister für Wirtschaft und Handel dem Kabinett Omar Karami angehört. Ein mit dem Clan aus dem Shuf verbundener Politiker saß damit seit Ta'if immer am Beiruter Kabinettstisch und dieser Einfluss überstand auch jeden jener Vorgänge, die in den westlichen Medien gerne als 'Regierungswechsel' bezeichnet werden. Selbst als Walid Jumblatt die Regierung Salim 'al-Hoss – die nach dem Rücktritt von Rafik 'al-Hariri im Dezember 1998 "aus Technokraten und Parlamentariern" gebildet worden war und der, so das Munzinger-Archiv im Jahre 2001, "keine Mitglieder politischer Parteien" angehörten – nach außen hin boykottierte 430 , wurde – wie aus libanesischen Parlamentsunterlagen hervorgeht – mit 'Anwar 'al-Khalil ein Mann von Hoss mit der Führung des bis dahin von Jumblatt geleiteten Ressorts betraut, der als der PSP "nahe stehend" gilt und der auch von Hariri schon zum Staatsminister in zwei Kabinetten ernannt worden war. 431 Doch auch die Arslan wurden im Rahmen dieses von außen her aufoktroyierten innerdrus ischen paritätischen Interessenausgleichs nicht vergessen und so wurde es ihnen nicht schwer gemacht, sich mit den neuen Machtverhältnissen und der syrischen Hegemonie zu arrangieren. Nicht von ungefähr beschuldigte die "Libanesische Diaspora" Talal Arslan schon im Jahre 1997, damals in seiner Funktion als "Minister der Emigranten", als bereitwilliger Helfershelfer dem "syrischen Plan" zu dienen. 432

426

Siehe: Hariri forms Cabinet, ShuFiMaFi, November 8, 1996; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/961108.htm (Abgerufen am 7.5.2001)

427

Zu den biografischen Angaben zu Walid Jumblatt bis zum Jahre 1996 siehe: The Lebanese Center for Policy Studies: The Lebanon Report, Number 3, Fall 1996, Biographical Briefs of the 1996 Deputies by Region: Walid Junblat; http://www.lcps.org.lb/pub/tlr/96/fall96/1996_deputies_bio.html (Abgerufen am 7.5.2001).

428

Biographical Briefs: Marwan Hamadeh.

429

Siehe u.a.: Munzinger-Archiv GmbH/IH-Länder aktuell: Infobase Länder, Libanon, abgerufen am 7.5.2001, S.4.

430

Munzinger-Archiv/IH-Länder aktuell, Infobase Land. Anfrage: [F Land:libanon ], S.3.

431

Biographical Briefs: Anwar al-Khalil.

432

Saade, José: Lebanese Government and Opposition clash in Ecuador, Quito (Ecuador), January 14, 1997, in: Lebanon Bulletin News Service: Lebanon Bulletin No.28; http://www.wlo-usa.org/Bulletins/bulletin28.htm (Abgerufen am 7.5.2001).

69 Als Talal im Jahre 1991 seinen Sitz im Parlament von seinem Vater Majid 'erbte', hatte der Clan offensichtlicherweise seinen Frieden mit der Post-Ta'if-Ordnung gemacht. So wurde der Parlamentsneuling auch gleich zum Minister für Tourismus im Kabinett Karami ernannt. 433 1996 wurde er von Rafik 'al-Hariri dann als Minister für Auswanderung in die Regierung berufen. 434 Seit Oktober 2000 gehört Talal dem neuen Kabinett Hariri als Staatsminister an. 435 Die Mitglieder der "Lebanese Christian Resistance" betrachten Talal und seine Mitarbeiter heute als "Repräsentanten des Taif-Regimes", denen in ihren ministeriellen Arbeitsteams "arabische Aktivisten mit palästinensischem und syrischem Background" zur Seite stehen. 436 In der Frage des 'Arabismus' scheinen sich die beiden Clanschefs äußerlich näher gekommen zu sein. Doch bleibt weiterhin unklar, was Arslan und Jumblatt meinen, wenn sie bei gleicher Wortwahl von der "nationalen Einheit" und "Identität" sprechen, die es nun zu erreichen gelte.

3.7

Die Drusen und die libanesische Identität

Was das Verhältnis von PSP, Baath, SSNP und schiitischer Amal anbetrifft, so hat Walid Jumblatt erst am Ende der 90er-Jahre wieder gefordert, dass "die nationalen arabischen und islamischen Kräfte" auch in Zukunft zusammenarbeiten müssten. Doch was die "Identität" des Libanon angeht, so meint auch er, dass diese nach wie vor "vieldeutig" sei und dass in diesem Land "jeder" "seine eigene Identität" habe. In einem solchen Zustand der "Abwesenheit einer nationalen Identität" könne dieser Libanon "kein Vaterland" sein, sondern nur eine "Ansammlung von Stämmen". 437 Doch auch was die "Identität" ihres eigenen "Stammes" anbetrifft, so ist auch diese im Selbstverständnis der Drusen von multipler Natur. So skizzierte schon Schmucker das drusische Dilemma mit der eigenen "nationalen Identität" in deutlicher Art und Weise. So bewegte sich die Artikulation des drusischen Selbstempfindens zum Zeitpunkt seiner Studie zwischen dem in vielen Verlautbarungen auffindbaren "Hinweis auf die klassisch-arabische Stammesabkunft" einerseits und der bei vielen Angehörigen der Gemeinschaft andererseits zu beobachtenden Hervorkehrung und Zurschaustellung "gewisser völkischer"(!) "Sondermerkmale", mittels derer sie ihre Überzeugung kundtaten, "keine reinrassigen Araber zu sein". 438 In dieser Sichtweise wird das Drusentum zu "einer 'geschichtlichen Größe'", die " im geografischen Raum der Länder Syrien, Libanon und Palästina eine geschichtlich gewachsene, vie lschichtige und in vielerlei Hinsicht vereinheitlichte Wesenheit darstellt". Die von Schmucker hervorgehobenen gemeinschaftsbildenden Faktoren der Abgeschlossenheit nach außen hin, der zirkel-internen Weitergabe "bodenständiger zäher Überlieferungen und rechtlich-sittlicher Wertmaßstäbe" und der Endogamie werden in der Literatur auch andernorts betont und haben zusätzlich verbunden mit dem z.B. auch bei Schiller zu findenden Hinweis auf die "interne Struktur" des drusischen Gemeinwesens allgemein "Anlass zu der Vermutung gegeben", dass

433

Biographical Briefs: Talal Arslan.

434

Hariri forms Cabinet.

435

Hariri forms 30-member Cabinet (October 27.2000).

436

Lebanon Bulletin No.28, S.3.

437

Entrevue: Walid Joumblatt: "La relation historique entre les Chrétiens et les Druzes est un mensonge."

438

Schmucker, S.221.

70 seine Angehörigen "aus der gleichen ethnischen Bevölkerung stammen" wie die Maroniten, aus der sagenumwobenen Gruppe der "»mountaineers of Lebanon«". 439 Tatsächlich nimmt diese Ähnlichkeit schon etwas weniger sagenumwobene Formen an, wenn man in diesem Zusammenhang zu dieser Betrachtung die in der EI zu findende Definition der Drusen als ein "syrisches Volk" hinzuzieht. 440 Allerdings ist auch gemäß der in diesem Lexikon nachzulesenden Darstellung davon auszugehen, dass die Religion vor der Nation existierte, d.h. dass hier eine zunächst religiöse Gemeinschaft erst allmählich und unter den bei Schmucker genannten Bedingungen aus einer Vermischung aus "syrischer Landbevölkerung" und "alten arabischen Stämmen" heraus ein "homogenes Volk" wurde. 441 Dieser sich auf der Basis einer Religionsgemeinschaft vollziehende Nationsbildungsprozess erinnert zwangslä ufig an die auch bei den Maroniten zu beobachtenden Entwicklungen. Allerdings ist die drus ische Gemeinschaft eine wesentlich – um ein halbes Jahrtausend – jüngere als die maronitische und ihre Entstehungsgeschichte fällt damit in einen Zeitraum, in dem viele Orientalisten bereits von einer weit gehenden Arabisierung der muslimisch gewordenen westsyrischen Bevölkerung ausgehen442 , aus deren Mitte sich ja diese Gruppe rekrutierte. Auch gibt es keine Anzeichen dafür, dass syrische bzw. aramäische Sprachen oder Dialekte bei den Drusen als Verkehrssprachen jemals eine Rolle gespielt hätten und das, was man bei ihnen als liturgische Sprache bezeichnen könnte, war von Anfang an Arabisch. 443 Noch unübersichtlicher wird das Bild von der Ethnizität dieser communauté schließlich bei der Betrachtung der Familiengeschichte(n) der Arslan und der Jumblatt, die im ersten Falle bis in vorosmanische Zeiten zurückreicht, im zweiten mit dem Aufstieg des Fakhr'ud-Din verbunden ist. 444 Denn in den Adern der Arslan – von "erhabener arabischer Abstammung" aus dem Stamme der Banu Tanukh445 und trotzdem proisraelisch bis in die 80er-Jahre hinein –, als auch der Jumblatt – "von vermutlich kurdischer Herkunft"446 und bis heute arabischnational in ihrer Ausrichtung – fließt durch die traditionellen Heiraten mit tscherkessischen Frauen auch türkisches Blut. 447 Auch auf die gesamte drusische Gemeinschaft bezogen meint daher Betts feststellen zu können, dass vor und nach der "offiziellen Abschließung der Gemeinde" im 11. Jahrhundert "viele gegensätzliche Blutlinien" in diesen "pool" einflossen. 448 Im Gegensatz zu den Maroniten entwickelte sich das kollektive Selbstverständnis der Drusen schon auf Grund des unleugbaren 'arabischen' Elements in Herkunft und Geschichte nicht auf der Basis einer negativen Abgrenzung dem Arabertum gegenüber, sondern wie bei den Orthodoxen, im Zuge einer voluntaristischen Annäherung. Andererseits hat sich das Drusentum aber auch, anders als das bei den Griechisch-Orthodoxen der Fall war, dem panarabischen Gedanken nicht in einer Art und Weise genähert, die diesem die eigenständige 'Volks'439

Schiller, S.31.

440

Stichwort Durûz, in: EI, Vol. II, Fasciculus 32, S.631.

441

Ebd., S.633.

442

Vgl. u.a. Cahen, a.a.O.

443

Vgl. u.a. Schmucker, S.17ff.

444

Betts, S.69ff.

445

Ebd., S.69 u. 128.

446

Ebd., S.136.

447

Ebd., S.48f.

448

Ebd., S.35.

71 Identität der Gemeinschaft geopfert hätte. Denn gerade diese Identität war ja – wie bei den Maroniten – mit einem bzw. mehreren Territorien im Libanon und in Syrien verknüpft. Daraus resultierte für die communauté im Grand Liban auch der Versuch, eine nicht nur, wie bei Schmucker angeführte, "zweiseitig positive Einstellung zum Ganzen", dem Staat Libanon und "zum Teil (Drusengemeinde)" zu entwickeln 449 , sondern eine vielmehr dreiseitige, die auch die arabische Dimension miteinschloss. Äußerungen wie die oben zitierten von Walid Jumblatt sind daher bis heute auf den von Schmucker richtig erwähnten "Willen" zurückzuführen, ein "Selbstverständnis" zu erhalten, das sich "zwischen Islam bzw. Arabertum und 'drusischer Islamität' bzw. drusischem Volkstum" "ansiedelt". 450 Dieser multiple Identitätsfindungsprozess aber wurde und wird in der communauté selbst überschattet von der Vorherrschaft des Sippenbewusstseins über das Gemeinschaftsbewusstsein. Die von Birgit Schäbler positiv beurteilte Tatsache, dass die Drusen eine "WirGruppenbildung" nicht in der Art durchlaufen haben, die zur Herausbildung dessen geführt hat, was als der "'drusische kompakte Block' (...) in der Literatur immer wieder begegnet"451 , hat aber schon im Verlauf des Arabischen Aufstandes gegen das Osmanische Reich genau jene entlang divergierender Clansinteressen verlaufenden Trennlinien offenbart, die von externen Akteuren im Sinne ihrer eigenen Politik so hervorragend instrumentalisiert werden können. Zerfiel die Gemeinschaft je nach Familieninteressen zwischen 1914 und 1918 in eine "anti-osmanisch" und eine "osmanisch-loyal" 'eingestellte' Fraktion und wusste schon der türkische Militärgouverneur der Provinz Syrien, wie man drusische Clanschefs mit Gesche nken und Würden auf seine Seite zieht, bestimmte später die Besetzung von Ämtern deren Haltung zur französischen Mandatsmacht 452 , so beherrschen heute auch die Syrer dieses Spiel und es stellt sich daher die Frage, ob die von Schäbler als verständlich angesehene "Überlebensstrategie" der Drusen, "sich als Gruppe alle Optionen offen zu halten (...)" und "das Bestmögliche herauszuschlagen"453 , sich nicht gegen sie selbst gekehrt hat und als Schwachpunkt von ihren Gegenspielern gegen sie selbst eingesetzt werden kann.

4.

Die "Libanonisierung" der Muslime

Auf die Forderung nach einem Abzug der syrischen Streitkräfte reagierten die religiösen Führungsinstanzen der Schiiten und der Sunniten im Libanon, der Oberste Schiitische Rat und der Dar 'al-Fatwa, sofort mit einer gemeinsamen Gegenrede. So erklärten Shaikh Muhammad Rashid Qabbani, der Großmufti der Republik, und Shaikh 'Abdel 'Amir Qabalan, der stellvertretende Vorsitzende des Rates der Schiiten, dass die "syrische Präsenz im Libanon (...) legal und vorübergehend" ist. Qabalan forderte, dass gerade dieses Thema von der politischen Tagesordnung gestrichen werden solle, "so lange Israel fortfährt, die syrischen Golanhöhen und die libanesischen Shebaa farms besetzt zu halten und so lange libanesische Häftlinge noch in israelischen Gefängnissen fest gehalten werden". 454 449

Schmucker, S.220.

450

Ebd., S.11.

451

Schäbler, S.15 u. 39. Die Autorin geht davon aus, dass das Drusentum gerade deswegen "überlebt hat", weil die Religion hier "eine perfekte Ergänzung zum in der Region vorherrschenden tribalen System (...) ist." (Ebd., S.38.)

452

Ebd., S.194 ff u. 237ff.

453

Ebd., S.195.

454

Muslim clerics reiterate Syrian presence in Lebanon is legal and temporary; Lebanon.com Newswire – Local News November 14 2000; http://www.lebanon.com/news/local/2000/11/14.htm (Abgerufen am 17.11.2000).

72 Der Sfeir-Fronde haben sich mittlerweile im schiitischen Lager auch die "Partei Gottes", die "Hizbollah" und die Amal-Bewegung angeschlossen. 455 Bei Sunniten und Schiiten betonen heute religiöse Würdenträger und politische Funktionäre in beinahe gleichem Tonfall, dass das syrische militärische Engagement in ihrem Land eine Angelegenheit von nationalem libanesischem Interesse sei. Ebenso wie Qabalan, der nun von der "Notwendigkeit der nationalen Einheit" spricht, fordert auch Qabbani die Erhaltung der "Einheit des Landes", hat es sich die Amal-Bewegung nach eigener Darstellung zum Ziel gesetzt, "die nationale Einheit zu stärken", spricht der Generalsekretär von Hizbollah, Sayyed Hassan Nasrallah davon, dass die libanesische Politik Syrien gegenüber heute "auf der Basis nationaler, und nicht sektiererischer Erwägungen" gestaltet werde. In diesem Umfeld, in dem, nach Meinung der Vereinigung islamischer Wohlfahrtsorganisationen, "alle Kräfte, die der Einheit des Libanon, seiner Unabhängigkeit und Souveränität (...) verpflichtet" sind, im islamischen Lager zu finden seien, wird nun der maronitische Nationalismus zu einem Störfall von "sectarianism" erklärt, der die Existenz der Nation gefährde. 456 Im "Interesse des gesamten Libanon"457 zu sprechen, das war in der Geschichte nicht immer das Ziel muslimischer Politiker und Parteien. Unter den Vorzeichen der veränderten nationalen bzw. innenpolitischen wie internationalen bzw. regionalen Gesamtkonstellationen der Post-Ta'if-Ära scheinen auch Christen und Muslime bei der Besetzung der Nationalismen ihre Rollen getauscht zu haben. Zwar scheint es auf der Hand zu liegen, dass das größere politische Gewicht, dass den Muslimen in der Zweiten Republik nun zugefallen ist, bei ihnen auch einen Prozess der zunehmenden Identifizierung mit diesem Staatswesen eingeleitet hat. Doch hat, wie Rosiny im Falle der Schiiten bzw. der "Hizb Allah" glaubt, erkannt zu haben, deren "Libanonisierung" – bzw. Umwandlung von einer eher panislamisch orientierten, "universalistische Ziele verfolgenden Kampforganisation" zu einer, eine "zunehmende Partizipation innerhalb des libanesischen politischen Systems" anstrebenden islamistischen Partei – schon vor Ta'if eingesetzt. 458 Doch ob dieser auch bei den Sunniten schon sehr viel früher beobachtete Prozess der "Libanonisierung" auch die Entwicklung einer 'libanesischen' Identität begünstigt hat, ist eine andere Frage. Denn der "exklusive" – und vor allen Dingen nichtarabische – Charakter des auf dem Gedankengebäude des Maronismus aufbauenden Libanonismus bot in seiner Urform einem Muslim keinen Ansatzpunkt für eine Identifizierung mit diesem Selbstempfinden. Wenn heute islamische Organisationen von einem 'libanesischen Nationalgefühl', von ihrem Libanonismus sprechen, so meinen sie einen, in dem ihr "Arabism" 459 seinen Platz gefunden und den Maronismus als dessen Grundlage und als Staatsdoktrin weitgehend verdrängt und ersetzt hat.

455

Pro-Syrian parties denounce Sfeir; The Daily Star, March 28, 2001, http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds010328-2.htm (Abgerufen am 7.5.2001)

456

Row over role of Damascus rages on, The Daily Star, November 7, 2000; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds001107-2.htm; sowie: Nasrallah insists on keeping Syrians here, The Daily Star, April 5, 2001; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds010405.htm; und: Muslim clerics: 'we won't stab Syria in back', The Daily Star, April 7, 2001; http://www.idrel.com.lb/shufimafi/archives/docs/ds010407-1.htm (Alle abgerufen am 7.5. 2001).

457

Pro-Syrian parties denounce Sfeir.

458

Rosiny, S.23f.

459

Muslim clerics: 'we won't stab Syria in back'.

73 Doch stellt sich auch hier die Frage, ob man von 'den Muslimen' im Libanon überhaupt sprechen kann. Denn die Tatsache, dass so viele Autoren den Beginn dieser "Libanonisierung" zu so vielen unterschiedlichen Zeitpunkten ansetzen und mit so vielen unterschiedlichen Ereignissen und äußeren Faktoren in Verbindung bringen, legt die Vermutung nahe, dass dieser Prozess nicht gleichmäßig verlaufen ist und nicht alle Akteure bzw. gesellschaftlichen Subsysteme im komplexen System clansorientierter Loyalitäten und Bindungen zur selben Zeit und in gleichem Umfang erfasst hat.

4.1

Die Sunniten, die unfreiwilligen Libanesen

Als am 1. September 1920 General Gouraud die Schaffung des "Staates des Großlibanon" verkündete, reagierte die muslimische Bevölkerung mit harscher Ablehnung auf diese Proklamation: "Zahlreiche Muslime weigerten sich, auf ihren Personalpapieren die Bezeichnung 'libanesisch' eintragen zu lassen. Sie boykottierten weitgehend die Volkszählung von 1921, die Wahlen von 1922 und 1925 zur neuen libanesischen Beratenden Versammlung. Ihre Notabeln – Muftis, Richter, Bürgermeister, führende Kaufleute und Grundbesitzer – hielten 1923, 1926, 1928 und 1936 Kongresse ab, bei denen unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Zusammenschluss mit Syrien gefordert wurde."460 Doch haben die Muslime nach 1936, wie Hanf meint, die "Nachteile, die ihnen aus dem anfänglichen Boykott des öffentlichen Dienstes entstanden" waren und gleichzeitig die Chancen erkannt, die ihnen das neue Staatswesen bot. 461 Da sich zusätzlich der Traum von einem arabischen Großstaat nicht hatte verwirklichen lassen, ging es ihnen nunmehr in erster Linie darum, die französische Mandatsherrschaft zu beenden. Dazu benötigte man aber die Zusammenarbeit mit den Christen. Gab es nun aber, wie Hanf glaubt, ab Mitte der 30er-Jahre eine 'muslimisch-libanesische Politik'? Genau im Jahre 1936, dem Jahr des letzten pansyrischen Kongresses, – nach der "Konferenz der Küste"462 , die, wie bei Schiller nachzulesen ist, erst den Auftakt zu einer Reihe von schweren christlich-muslimischen Zusammenstößen darstellte – wurde die muslimische Jugendorganisation und spätere Partei "Najjadah" gegründet, die sich zu einer erklärt "pan-arabischen politischen Ausrichtung" bekannte und einen "antilibanesischen Kurs" verfolgte. 463 Und noch im Jahre 1954 schrieb Albert Hourani, dass es "eine Schule des arabisch nationalistischen Denkens" gibt, "weit verbreitet unter den Moslems sowohl in Syrien als auch im Libanon, die den Anspruch des Libanon auf Unabhängigkeit nicht anerkennt" und die dieses Territorium "als eine Provinz von Syrien oder der arabischen Welt" betrachtet. Diese eine Provinz unterscheide sich zwar in Tradition und "religiöser Loyalität" von den anderen arabischen Provinzen, ihr könne deswegen aber nur eine "temporäre Autonomie" gewährt werden, bis sie endgültig in einem arabischen Großstaat aufgehen wird. 464 Denn die "Libanesen sind schlicht ein Zweig des arabischen Volkes". 465 460

Hanf, S.91.

461

Ebd., S.95.

462

Schiller, S.25.

463

Ebd., S.65.

464

Hourani, A. H.: Syria and Lebanon. A Political Essay; London/New York/Toronto 1954, S.264.

465

Ebd., S.133.

74 Das Selbstempfinden nicht weniger muslimischer Libanesen geben diese Sätze trotz der in ihnen enthaltenen Simplifizierungen bis auf den heutigen Tag genau wieder. Denn Staatsbürger des Libanon wurden sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im Rahmen der Grenzziehung zwischen den französischen Mandatsgebieten im Nahen Osten. Denn der "Kleine Libanon", in dem bis zu diesem Zeitpunkt die Maroniten und die Drusen "die wichtigsten Gemeinschaften" gewesen waren, war damals "mit umliegenden, vorwiegend von Sunniten, Schiiten und nichtmaronitischen Christen bewohnten Gebieten zum heutigen Großen Libanon verschmolzen" worden. "Zugeschlagen wurde dabei im Osten die BekaaEbene, ein Hauptsiedlungsgebiet der Schiiten, im Norden das vorwiegend von Sunniten und orthodoxen Christen bewohnte Hinterland von Tripoli, der Küstenstreifen mit den Städten Tripoli, Beirut, Saida 466 und Sur 467 sowie der überwiegend von Schiiten bewohnte Jabal 'Amil im Süden."468 Aus einer Reihe von wirtschaftlichen, geostrategischen sowie auch "sentimentalen und historischen Gründen"469 waren damit Gebiete dem neuen Staatsgebilde zugeschlagen worden, deren Einwohner keinen emotionalen, historischen oder aus der Religion herrührenden Bezug zum Dschubal 'al-Lubnan hatten. Nicht wenige maronitische Autoren bedauern heute die damalige Entscheidung für den Grand Liban als eine fatale Fehlentscheidung, da sie die – maronitische – "libanesische Identität" verändert habe und an Stelle eines vormalig sicheren "homeland for the Christians of Mount Lebanon" einen fragilen "binationalen Staat" geschaffen habe, der von Anfang an den Keim eines ethnischen Konfliktes in sich getragen habe. 470 Auch für die heutige Wissenschaft stellt "die Koexistenz von Gebieten mit unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklung" ein Problem dar, das die staatliche Einheit des Großlibanon seit seiner Gründung bedroht hat. 471 Belastet hat nach Einschätzung von Rosiny aber vor allem die durch das Proporzsystem und dessen Starrheit festgeschriebene politische "Privilegierung" der Christen das Zusammenleben der communautés, weil über das "Distributionssystem" "die ökonomische, militärische und soziale Chancenvergabe" zu Ungunsten der Muslime geregelt wurde. 472 So waren am Vorabend des Bürgerkriegs "die muslimischen Gemeinschaften der Schiiten, Sunniten und Drusen (...) an die Grenzen eines 'Systems mit geschlossenen Chancen' gestoßen". 473 Doch 466

Sidon.

467

Thyros bzw. Tyr.

468

Rosiny, S.44.

469

So stand Frankreich, der "Protektor" der Maroniten, nicht nur aus emotionellen Gründen hinter der Schaffung eines christlichen Staates im Nahen Osten. Diesen Wünschen hätte schon ein stabilerer, weil homogenerer Petit Liban genügen können. Dass der traditionelle Gegenspieler Frankreichs, dass Großbritannien die arabischen Nationalisten im Ersten Weltkrieg unterstützte, spielte hier eine Rolle ebenso wie die Tatsache, dass die maronitische Argumentation, dass der Kleine Libanon ökonomisch nicht überlebensfähig sei, den französischen Wirtschaftsinteressen entgegenkam. Denn Paris und die neuen "christlichen Finanzeliten und Unternehmer des Mount Lebanon" teilten ein gemeinsames Interesse an den Häfen, die als Relaisstationen im Ost-West-Handel eine herausragende Stellung einnahmen. (Phares, S.66ff.)

470

Ebd., S.71f. Ein maronitischer Kritiker der Groß-Libanon-Ideologie schrieb schon am Beginn der 80er-Jahre: "Sechzig Jahre nach dieser Deklaration ist das, was von diesem Großen Libanon übrig geblieben ist, kleiner als der Kleine Libanon. Indem sie einen großen Appetit auf mehr Territorien gezeigt haben, verloren die Christen ihr hauptsächliches Heimatland." (Zitiert Ebd., S.72.).

471

Hanf, S.92.

472

Rosiny, S.47.

473

Ebd., S.54.

75 Rosiny selbst bezeichnet den Nationalpakt von 1943 als einen "Kompromiss zwischen den rebellischen Gemeinschaften des Gebirges, besonders den Maroniten, und den mehrheitlich sunnitischen Städtern"474 . Auch erwähnt er z.B. für das Jahr 1972 soziale Konflikte zwischen "sunnitischen" Fabrikanten und einer "Arbeiterschaft", die "sich mehrheitlich aus Schiiten" zusammensetzte. 475 Von einem christlich-islamischen Gegensatz allein ist also nicht auszugehen.

4.1.1 Die Sunniten und der arabische Nationalismus Wie in der Literatur durchaus nachzulesen ist, war die Najjadah eine Partei, deren Führung und Anhängerschaft sich aus Sunniten zusammensetzte. 476 Auch wenn die Najjadah später zu einer sektiererischen Randgruppe in der politischen Landschaft des Libanon verkommen sollte, so war sie dennoch in ihrer Anfangsphase eine Organisation, die das 'antilibanonistische' Empfinden der sunnitischen Muslime dort artikulierte. Mehr Sympathie brachten diese dem arabischen Nationalismus bzw. Panarabismus entgegen. Noch bis zum Ende des Ottomanischen Reiches allerdings war die Verbreitung arabisch-nationalen Gedankenguts bei der muslimischen Bevölkerung im Raum der Provinz Syrien auf einen kleinen Kreis "hauptsächlich sunnitischer intellektueller Zirkel" und der mit ihnen "verbundenen" Notabeln der Städte beschränkt geblieben. 477 Zu der in ihren Anfängen christlich inspirierten und dominierten Nationalbewegung waren sie erst später gestoßen, weil sie sich im Staat der sunnitischen Osmanen, in dem sich die 'Volkszugehörigkeit' nach der Religion richtete, als Angehörige des herrschenden 'Staatsvolks' fühlen konnten. 478 Nach der Jungtürkischen Revolution änderte sich das, als der aufstrebende türkische Nationalismus das muslimische durch ein türkisches Staatsvolk ersetzte und die Araber im Reich, die "nicht wünschten, Türken zu werden" ausgrenzte. 479 In den geografisch 'kleinen' Dimensionen eines 'libanesischen' Raumes zu denken allerdings widerstrebte auch in Beirut den Angehörigen einer Glaubensrichtung und Volksgruppe, die im Vorderen Orient, im gesamten arabischen Raum vorherrschend ist, die zumindest bis zum Fall des Khalifats von Baghdad 1158 die bedeutendsten Herrscherhäuser in der islamischen Geschichte hervorbrachte und für die damit "islamische Geschichte" zwangsläufig "arabische Geschichte" ist. Das Geschichtsbewusstsein der Sunniten im Libanon entwickelte sich damit im Kontext der Entstehung des auch von Ende erwähnten "nationalarabischen Geschichtsbildes"480 , dessen 474

Ebd., S.46.

475

Ebd., S.53.

476

Vgl. Schiller, S.65.

477

Salibi, S.47.

478

Auf die, die wissenschaftliche Fachwelt, bis heute entzweiende Frage, von welchem Zeitpunkt an der Osmanische Staat, der sich als "Erbe des universalen Kalifats" verstanden hatte, ein "türkischer Staat" wurde, soll hier nicht eingegangen werden. Die Darstellungen von arabischen Wissenschaftlern, die schon relativ früh einen von der "nicht-türkischen muslimischen Bevölkerung" ausgehenden Widerstand gegen dessen 'türkische' "Ansprüche" erkennen können wollen, können aber als eindeutig von arabisch-nationalen Sentiments getrübte Geschichtswahrnehmungen und Geschichtsbilder eingestuft werden. (Vgl. u.a.: Hourani, Albert: A Vision of History. Near Eastern and Other Essays, Beirut 1961, S.74ff.)

479

Hourani (1961), S.84.

480

Ende, Werner: Arabische Nation und islamische Geschichte. Die Umayyaden im Urteil arabischer Autoren des 20. Jahrhunderts, Beiruter Texte und Studien. Herausgegeben vom Orient-Institut der Deutschen Morgenländi-

76 Darstellung und Analysierung allerdings den Rahmen dieser Studie bei weitem sprengen würde. Fest zu halten bleibt, dass die libanesischen Sunniten im Übergang von einer vormalig von der Religion und damit universalistisch geprägten zu einer auf den arabischen Sprachraum hin ausgerichteten Identität die Schriften des im Irak lebenden 'politischen' Geschichtsschreibers Sati 'al-Husri, des Propagandisten einer "arabischen Nationalgeschichte"481 , zur Grundlage ihres eigenen Selbstverständnisses machten. Die Schiiten hingegen taten sich schwer mit dieser arabischen Nationalbewegung. So stellt Salibi fest: "Schiiten und Drusen hegten kaum mehr den Wunsch, von einer herrschenden sunnitischen Klasse im Namen des Arabismus dominiert zu werden, als es die Christen ta ten."482

4.1.2 Die Sunniten und die "Häresie" der Shi'a Wenn Hanf davon spricht, dass die "libanesischen Muslime" in ihrer "Mehrheit" als "arabische Muslime" "auf keinen Fall" in den Grand Liban integriert werden wollten, so stellt er 'en gros' historisch unbestreitbare Tatsachen dar. Dass sie hingegen, mit Blick auf ihre Geschic hte, vor mehr als achtzig Jahren an Stelle des Libanon lieber "einen osmanischen Bundesstaat, mehr noch einen neuen arabischen islamischen Staat" gewollt hätten, bedarf gewisser Differenzierungen. 483 Denn die Erfahrungen der Schiiten mit sunnitisch-islamischen Staatswesen waren durchaus gemischter Natur. So standen sie im 'sunnitischen ' Staat der Ottomanen von ihrem Rechtsstatus her als häretische Muslime noch unter den "Völkern des Buches", d.h. noch unter den Christen und den Juden. 484 Das war zwar auch bei den Drusen der Fall, doch fiel den Anhängern des Hakim-Kultes eine besondere Rolle im System der indirekten osmanischen Herrschaft im Dschubal 'al-Lubnan zu. Als aus der Sicht der Hohen Pforte unbereche nbarer Unsicherheitsfaktor galten die Schiiten der Bergregion des Dschubal 'Amil und um Kisrawan zudem auf Grund ihrer engen Beziehungen zu der mit dem Osmanischen Reich im Vorderen Orient rivalisierenden Großmacht Persien. Die Schiiten des Libanon gehörten und gehören demselben Zweig der Schia (Shi'a) an wie die Herrscher des Iran seit den Safaviden am Beginn des 16. Jahrhunderts, nämlich der Zwölfer-Shi'a. Aus diesem Grund herrschte regster kultureller und religiöser Austausch zwischen diesen geografisch eigentlich weit vo neinander entfernt liegenden Gemeinschaften, den die Pforte in Istanbul mit Misstrauen beobachtete. Den Drusenemiren fiel dabei die Rolle zu, diesen Unsicherheitsfaktor im westsyr ischen Raum "unter Beobachtung" zu halten und – wenn notwendig – auch "Gewalt" einzusetzen. 485 Das Problem der Beziehungen der libanesischen Schiiten zum Iran und deren Wahrnehmung als Bedrohung aus sunnitischer Sicht zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Region bis in die Gegenwart hinein. Die Sunniten, die die Shi'a nur als ein "bedauernswertes politisches Schisma" in der islamischen Geschichte betrachten, ließen sich oft zu "Verfolgunschen Gesellschaft, Band 20, Beirut 1977, S.21. 481

Salibi, S.209.

482

Ebd., S.53.

483

Hanf, S.90f.

484

Vgl. Kap. 6 des Textes.

485

Salibi, S.145.

77 gen" dieser 'Häretiker' hinreißen. Nach der Revolution im Iran beunruhigten diese jahrhundertealten Kommunikationsstränge zwischen Tehran und dem Dschubal 'Amil die "Sunniten von Beirut" umso mehr. 486

4.2

Die Libanonisierung der Sunniten

Zur staatstragenden Kraft waren die Sunniten im Libanon schon bald geworden, zu einer zudem, ohne deren Mitwirkung der Nationalpakt nicht zustandegekommen wäre. Zum sog. "establishment" gehörte bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs vor allen Dingen eine "urbane Elite der Sunniten", die, so Rosiny, bis dahin "von der rasch expandierenden Wirtschaftsentwicklung (...) profitiert" hatte. Der Autor hebt in diesem Zusammenhang auch "die Zusammena rbeit der sunnitischen und christlichen Handelsbourgeoisie, die sich den Orient-OkzidentHandel aufteilten", hervor. Infolgedessen spricht er mit Blick auf die sozial und politisch unterprivilegierte Stellung der Schiiten im Libanon auch von einem innermuslimischen "Interessensunterschied". 487 Offensichtlich war schon bis zum Jahre 1975 geworden, dass weite Teile des sunnitischen Bürgertums ihre eigenen Interessen mit denen des "maronitischen" Libanon identifizierten, obwohl sie sich selbst nach wie vor als "Araber" definierten. Die Ambivalenz sunnitischer Positionsbestimmungen im Spannungsfeld von Arabismus und Libanonismus zeigt sich vor allen Dingen bei der Gegenüberstellung der wirtschaftlichen und der politischen Bereiche. So schreibt Hanf, dass die "großen Wellen arabischer Begeisterung im Libanon, von der Forderung nach Anschluss an das arabische Königreich bei Ende des Ersten Weltkrieges über den Nasserismus bis zur Identifizierung mit der palästinensischen Befreiungsbewegung (...) überwiegend von den Sunniten des Libanon getragen" wurden. 488 Rosiny sieht in dem propalästinensischen Engagement der "sunnitischen Notabeln" hingegen eine Ableistung von Lippenbekenntnissen, da eine "Besserstellung der mehrheitlich sunnitischen Palästinenser (...) das politische Gewicht im Staat" und damit im konfessionalistischen System "zu ihren Gunsten verschoben" hätte. 489 Tatsächlich ging es diesen zu'ama nun um ein Maß an politischer Partizipation, das ihrem Anteil an der Volkswirtschaft des Landes entsprechen sollte. Denn für die Sunniten war die Option eines großarabischen Staates schon aus wirtschaftlichen Gründen längst unattraktiv geworden, weil aus dem 'politisch' maronitisch dominierten Staat schon am Vorabend des Bürgerkrieges ein 'ökonomisch sunnitischer' geworden war. So offenbarte die konfessionalistische Zusammensetzung, die "sectarian composition" des Board of Directors der "Beirut Traders Organization", die im Gegensatz zum politischen Proporzsystem bei der Besetzung von Regierungs- und öffentlichen Ämtern flexibel variierte und sich so den realen interkommunitären Größen- und Kräfteverhältnissen in Handel und Wirtschaft anpasste, 1972 schon ein sunnitisches Übergewicht: zehn Sunniten saßen in diesem Gremium nur fünf Maroniten gegenüber, sowie vier Griechisch-Orthodoxe, drei Griechische Katholiken und zwei Schiiten. 490 486

Ebd., S.50f. u. 214.

487

Rosiny, S.96.

488

Hanf, S.176.

489

Rosiny, S.97.

490

Siehe: Table 1: Sectarian composition of the Beirut Traders Association, Board of Directors Elected in 1972, bei: Baroudi, Sami E.: Sectarianism and Business Associations in Postwar Lebanon, in: Arab Studies Quarterly,

78 Dasselbe galt auch für das Führungsgremium der Handels-, Industrie- und Landwirtschaftskammer von Beirut und dem Mount Lebanon, wo von 1972 bis 1976 sechs Sunniten, vier Griechisch-Orthodoxe, drei Maroniten, zwei Schiiten, ein Katholik, ein Druse und ein Armenier vertreten waren. 491 Es verwundert da auch kaum, dass die Diskussion um eine stärkere Beteiligung an der Macht, bzw. um eine verfassungsmäßige Stärkung des sunnitischen Ministerpräsidenten gegenüber dem maronitischen Staatspräsidenten, aus diesen Kreisen heraus geführt wurde. Logisch und konsequent erscheint auch, dass ein Mann wie Rafik 'al-Hariri, der geradezu zur Symbolfigur für den sunnitischen Wirtschaftserfolg, zur Verkörperung des erfolgreichen sunnitischen "businessman" geworden ist, gleichzeitig zu einer "Haupttriebfeder des Taef Agreements"492 wurde. Daher müssten heute, so Michael C. Hudson, die Sunniten "beträchtliche Befriedigung" empfinden angesichts der "Position ihrer Gemeinde" in der Zweiten Libanesischen Republik. "In Anbetracht dessen, dass sie den Libanon des 'goldenen Zeitalters' vor dem Bürgerkrieg dominiert hatten (wenn auch nur an zweiter Stelle hinter den Maroniten) (...)" seien sie als die eigentlichen "sectarian winners" aus dem "constitutional 'fine-tuning'" in Ta'if hervorgega ngen. 493 Doch hat dieser Zugewinn an Macht und Einfluss eine "Libanonisierung" der sunnitischen Identität bewirkt? Einige Wissenschaftler wie Sami A. Ofeish gehen nun davon aus, dass nach und mit Ta'if eine "neue muslimische Bourgeoisie (...) offen ihre Akzeptanz" für die "Vorwärtsentwicklung einer 'libanesischen Nation'" 'signalisiert' hätte. 494 Der Prozess der "Libanonisierung" der sunnitischen Identität scheint vor allen Dingen auch deswegen voranzuschreiten, weil die Ta'ifVerfassung die "arabische Identität" des Libanon festschreibt. Den Libanon als eine zwar eigenstaatliche, aber dennoch arabische 'entity' zu erhalten, das entspricht heute zum größten Teil in der Tat dem sunnitischen mainstream-Denken.

4.3

Die Clans der Sunniten

Doch von einer kompakten gesellschaftlichen Gruppe, von einer nach außen hin geschlossen auftretenden Subgemeinschaft ist auch bei den Sunniten nicht auszugehen. So erwähnt auch Hudson den innersunnitischen Konflikt zwischen den beiden im letzten Jahrzehnt im Amte des Premierministers sich abwechselnden Politikern Rafik 'al-Hariri und Salim 'al-Hoss. Eine deutliche Gegenposition zum gegenwärtigen Regierungschef Hariri bezieht Hoss jetzt, weil er diesen als einen Vertreter einer kleinen "(multi-sectarian) group" von "wohlhabenden Geschäftsleuten und Notabeln" sieht, die das Land nun 'beherrschen'. 495 Vol. 22, No.4, Fall 2000, S.83. 491

Siehe: Table 4: Sectarian composition of the CCIAB's Board of Directors: 1972-1976, ebd., S.89.

492

Hariri (Rafik, Bahaeddine), in: Who's Who in Lebanon, 1997-1998, Fourteenth Edition, München/New Providence/London/Paris 1996, S.126f.

493

Hudson, Michael C.: Lebanon after Ta'if: Another Reform Opportunity lost? in: Arab Studies Quarterly, Vol. 21, No.1, Winter 1999; Special Issue: The Second Republic of Lebanon, S.34f.

494

Ofeish, Sami A.: Lebanon's Second Republic: Secular Talk, Sectarian Application; in: The Second Republic of Lebanon, S.104.

495

Hudson, S.35.

79

Mit dieser "clientelistic, wealthy ruling coalition" kann sich Hoss nicht anfreunden. Doch Hoss selbst ist keineswegs nicht in das klientelistisch-familiäre Distributionssystem des Libanon miteingebunden. Seine eigene Ausbildung, seine Karriere in Wirtschaft und Banken steht der eines Rafik 'al-Hariri in nichts nach, seine Familie ist nicht unbekannt. Die von ihm seit den 60er-Jahren eingenommenen Funktionen und Ämter sind beinahe unzählbar. 496 Und wenn auch beide Familien als relative "Newcomer" in der Politik gelten können – Hoss betrat 1976 als Chef eines Kabinetts "unpolitischer Fachleute" die politische Bühne des Landes 497 , nur ein 'Hoss' hatte zuvor von 1957 bis 1960 als Abgeordneter im Parlament gesessen498 , Hariri genoss noch bis zum Beginn der 90er-Jahre nur den Ruf eines "Millionärs", der sein Privatflugzeug gerne libanesischen Politikern zur Verfügung stellte 499 –, so haben die Hariris ihre Position als "Neu-zu'ama" doch mittlerweile gefestigt. Das System des Klientelismus zwar nicht aufgebrochen, doch innovativ ergänzt haben Rafik und seine Schwester Bahia (Bahiyya) – die seit 1992 Abgeordnete des Parlaments ist500 – durch ihr soziales Engagement im Rahmen ihrer Hariri Foundation und durch die von ihrer Familie gegründeten Gesundheits- und Sozia ldienste 501 . Mit der Übernahme von Aufgaben, für die im Libanon der Staat nicht verantwortlich zeichnet, haben sich die Hariris ihre eigene Klientel geschaffen, was zwangsläufig das Misstrauen der traditionellen zu'ama auf sich zog. Vor dem Hintergrund gegensätzlicher Clansinteressen ist auch die Problematik der sunnit ischen Haltung(en) zum libanesischen Staat, zum Libanonismus, zur libanesischen Identität und zum Konfessionalismus zu sehen. Divergierende Clansinteressen erklären auch die in der Literatur zu findenden unterschiedlichen zeitlichen Angaben zum Beginn des Prozesses der sunnitischen Akzeptanz des Staates Libanon. Denn Theodor Hanf hat durchaus Recht, wenn er behauptet, dass die Sunniten am Vorabend des Nationalpaktes bereits am politischen System des Grand Liban partizipierten. 1931 hatte ein muslimischer Kongress, zusammengesetzt aus Sunniten, Schiiten und Drusen, sogar das Amt des Präsidenten in einem künftigen Staat Libanon für einen Muslim reklamiert und damit mit der Linie eines kompromisslosen Bo ykotts gegen dieses Staatswesen gebrochen. 502 Doch stellt sich bei all diesen Verlautbarungen die Frage, welche Familienverbände hinter ihnen standen.

4.4

Sunnitische Clansinteressen und die "Loyalität" zum Staat Libanon

Einer der bedeutendsten Unterschiede zwischen Maroniten und Sunniten ist, dass letztere im Gegensatz zu ersteren keine wichtigen Clansparteien – und damit auch keine zu diesen Organisationen gehörenden Parteimilizen – gegründet haben. Wenngleich auch feststeht, dass Parteien wie die der Chamoun oder der Eddé nur familieneigene Vehikel für eine parteipolitisch getarnte Artikulation und Durchsetzung von Clansinteressen blieben, so stellt sich die Frage, warum die Clansfamilien der Sunniten, der bis 1975 zweitwichtigsten und seit 1990 wohl wic htigsten "power broker" des Landes, nie einen solchen Weg beschritten haben. 496

Siehe: Hoss (Salim, El-), in: Who's Who in Lebanon, S.132.

497

Hanf, S.293.

498

Vth Lebanese National Assembly (30 June 1957 – 4 May 1960), List of Deputies, in: Who's Who in Lebanon 1997 – 1998, S.365.

499

Siehe: Hanf, S.737 u. 740.

500

Biographical Briefs: Bahiyya al-Hariri.

501

Vgl. Hariri, (Bahia, El), in: Who 's Who in Lebanon, S.126.

502

Ammoun, S.346.

80

Da diese 'Tarnvorrichtungen' aber keine in der politischen Kultur des Libanon wurzelnden Organismen sind und keinen im System politisch-konstruktiven Sinn erfüllen, scheint es erklärbar zu sein, warum die nach 'Osten', zur arabischen Welt hin orientierten zu'ama der Sunniten ihre eigenen Interessen allein auf traditionalem Weg durchzusetzen versuchten. Und diese Familieninteressen und -geschichten erklären so von Fall zu Fall die jeweils panarabische oder dem libanesischen Staat gegenüber konstruktiv-kooperationswillige Haltung eines sunnitischen Politikers. Nicht ohne Grund wählten schon die ersten Staatspräsidenten ein Familienmitglied der Solh als Regierungschef. Camille Chamoun "bevorzugte" während seiner Amtszeit Sami Solh als Premierminister 503 , der zwischen 1942 und 1958 insgesamt acht Kabinette bildete. 504 Sami Solh war nicht ohne Zufall der "Vetter" von Riad 'as-Solh, der unter der Präsidentschaft von Bishara 'al-Khoury von 1943 bis zu seiner Ermordung 1951 sechs Mal mit der Regierungsbildung beauftragt worden war. 505 In seiner Jugendzeit war Riad 'as-Solh noch ein "glühender nationalistischer" Araber gewesen. 506 Er und Khoury wurden dann aber bekannt als das "Ta ndem"507 , das zusammen mit dem griechischen Katholiken Henri Pharaon und dem Chaldäer Michel Chiha – bzw. unter deren Vermittlung – jenen "historischen Kompromiss"508 schloss, der Grundlage des Nationalpaktes werden sollte. "Kompromiss", das bedeutete, dass die Christen darauf verzichten sollten, aus dem Libanon ein westliches Land zu machen, während die Muslime von ihren großsyrischen Träumen Abschied nahmen. Die Brüder Kazim und Takieddine Solh hatten ebenfalls, obwohl panarabisch von ihrem Ansatz her denkend, die Grundlagen für einen solchen Kompromiss ausformuliert. Eingehend auf die "christlichen Ängste", forderten sie, dass angesichts des Faktums, dass der Libanon "tatsächlich" "als ein Land" existiere, die Debatte "Arabism" vs. "Phoenicianism" auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden sollte und beide Seiten auf einen Teil ihrer Herrschaftsansprüche verzichten müssten. 509 Aus der Hafenstadt Sidon, einer der Relaisstationen im Handel zwischen Orient und Okzident stammend, mutet bei diesem Bruderpaar die hier eingenommene Mittlerposition zwischen den gegensätzlichen Standpunkten schon fast wie eine natürliche Folge dieser Herkunft an. Sa'eb Salam, der noch von Bishara 'al- Khoury zum Premierminister ernannt worden war und dann noch unter den Präsidenten Chamoun, Chehab und Franjieh insgesamt fünf weitere Male mit der Regierungsbildung beauftragt wurde 510 , unterstrich gerne die "Gemeinsamkeiten", die die "libanesischen Gemeinschaften" miteinander teilten. 511 Sa'eb war der Sohn des einflussreichen Beiruter Notabeln und Oberhauptes der Stadtverwaltung 'Abu 'Ali Salam. Als prominenter 503

Hanf, S.153.

504

Vgl.: Successive Cabinets (since 1926), in: Who's Who in Lebanon, S.383ff.

505

Ebd.

506

Ammoun, S.330.

507

Hanf, S.151.

508

Zitiert ebd., S.97.

509

Salibi, S.185.

510

Siehe: Lebanese Heads of State (since 1926), sowie: Successive Cabinets; in: Who's Who in Lebanon, S.359 u. 385ff.

511

Hanf, S.150.

81 sunnitischer Beiruter Politiker nahm dieser mit seinen "christlichen Freunden und politischen Verbündeten" am Arabischen Kongress in Paris teil. Lange Jahre als Gegner eines Großlib anon bekannt, strebte er dann aber eine "Integration des muslimischen Elements in das herrschende libanesische Establishment" an. 512 Als in der Stadtverwaltung führende Notabeln hatten es die Salam seit jeher gelernt, den politischen Kompromiss mit den anderen communautés zu suchen. In den 70er-Jahren allerdings suchte Sa'eb Salam dann die Nähe der PLO. Er und andere "konservative muslimische Politiker (...) akzeptierten nun", so Hanf, die neue "faktische Lage und versuchten, das für sie Beste daraus zu machen. 513 Angenähert hatten sich die Positionen Salams nun mittlerweile jenen eines Rashid Karameh, der, ebenfalls mehrmals Regierungschef des Landes, z.B. 1958 zusammen mit Sa'eb Salam zu den Gegnern Chamouns im nasseristischen Lager gezählt hatte. 514 Aus dem überwiegend sunnitisch bewohnten Tripoli stammend, wo sich traditionell als einem seiner Schwerpunkte "der arabische Nationalismus" "konzentriert"515 und wo ihnen im eigenen Stammgebiet die Gegnerschaft von "lokalen Rivalen", die sich demonstrativ zu einer militanteren Form des Nasserismus bekannten, das Leben etwas schwerer machte, 516 hatten die Karameh Interesse an einer etwas weniger konsensorientierten Politik dem maronitischen Staatspräsidenten gegenüber als die Salam. Die Politik eines Rashid Karameh aber offenbarte jenes Dilemma, in das die sunnitischen Notabeln seit den 60er- und 70er-Jahren geraten waren. Denn den zu'ama drohte in dieser communauté die Kontrolle über die eigene Klientel zu entgleiten. Denn diese war nun im Gegensatz zu ihren Clansführern eindeutig "propalästinensisch" eingestellt". 517 Im "sunnitischen Unterschichtenmilieu" hatten sich neue politische Gruppierungen gebildet, die an der Autorität der traditionellen Führungsschicht zunehmend vorbei agierten. 518 Die sozialen Verwerfungen in der Folge dessen, was Rosiny als "Wachstum ohne Entwicklung" im Vorkriegs-Libanon bezeichnet, 519 hatten auch vor Teilen der sunnitischen Bevölkerung nicht Halt gemacht. Eine sunnitische Miliz wie die Mourabitun, die dann im Bürgerkrieg wahlweise auf Seiten der PLO, der PSP, oder der Amal sowie auch gegen diese kämpfte, entwickelte sich nicht wie bei den Maroniten als eine Partei- bzw. Clansmiliz, sondern an den althergebrachten Herrschaftsstrukturen vorbei. Dies trifft vor allen Dingen für die ebenfalls sich aus diesem sozialen Konfliktpotenzial heraus entwickelnden fundamentalistischen Strömungen und Splittergruppen zu. Für einen "Clansman" wie Salam aber blieben die Mourabitun nur "eine Bande von Dieben und Mördern ohne jede Ideologie". 520

512

Salibi, S.167ff.

513

Hanf, S.226.

514

Ebd., S.156.

515

Zitiert ebd., S.465.

516

Ebd., S.245.

517

Ebd., S.170.

518

Ebd., S.245.

519

Rosiny, S.48ff.

520

Salam, zitiert bei Hanf, S.513.

82 Unter dem Druck der 'sunnitischen Straße' fluktuierte die Politik der Notabelnpolitiker zwischen propalästinensischen und traditionell konsensorientierten Positionen. Als Konsequenz aus diesem "Zickzackkurs" haben die "alten Sunnitenführer", so einer ihrer von Hanf zitierten Repräsentanten, am Ende des Bürgerkriegs "an Einfluss verloren", da sie "um jeden Preis der so genannten Straße gefallen" wollten. Einmal Nasseristen, dann konsensorientiert, "zogen es viele Leute vor, sich gleich nach der Sonne zu richten und nicht nach dem Mond. Die Führer verblassten wie der Mond am Morgen verblasst". 521 Somit scheint es, als ob das Ende des Bürgerkriegs auch das Ende der alten Clanseliten der Sunniten mit sich gebracht hätte.

4.5

Die Gesellschaftsstrukturen bei den Sunniten: Persistenz und Fluktuation

Im Juni 1991 "erbte" Omar Karami (Karameh), Rechtsanwalt aus Tripoli, den Parlamentssitz seines ermordeten Bruders Rashid. 522 Vom 24.12.1990 bis 7.5.1992 regierte Omar als "appointed Prime Minister" das Land. 523 Im 1996 gewählten Parlament saß neben Omar auch sein "politischer Rivale", sein Cousin Ahmad, der zuvor von seinem Vater Mustafa die Führung der – bedeutungslosen – Nationalen Jugendpartei geerbt hatte. 524 Im selben Parlament saß auch Tammam Salam, der Sohn von Sa'eb Salam. Bei den Wahlen des Jahres 2000 verlor Ahmad Karameh seinen Sitz, sein Vetter aber, dessen Name auf der "National Dignity List" zusammen mit denen der Franjieh zu finden war, konnte seinen Sitz verteidigen. 525 Die alten Clanseliten leben also noch. Doch von den vier sunnitischen Mitgliedern des Kabinetts vom 7.11.2001 gehörten drei Minister dem Parlament von 1996 noch nicht an. Nur einer, 'Abd 'ar-Rahim Mrad, verfügt schon über längere Parlamentserfahrung. Als "sunni businessman" ist er der 'neuen Elite' um Premier Hariri zuzurechnen. 526 Nicht nur mit diesen 'neuen Eliten' müssen heute die traditionellen Clansführer ihren Einfluss teilen. Die Wahlen des Jahres 1996 sahen im Norddistrikt den Sunniten Khaled Daher als einen der Sieger, der die Jama'a Islamyya, die sunnitische Muslimbruderschaft, vertrat. Er wurde im Jahre 2000 zwar nicht mehr wieder gewählt, ebenso wie Omar Misqawi, der vor seinem Einzug ins Parlament Mitglied des Hohen Shari'a-Rates und des Konsultativrates der Muftis des Libanon gewesen war. Doch trotz der gescheiterten Wiederwahl und der Tatsache, dass beide den voneinander zu unterscheidenden fundamentalistischen und traditionalistischen Strömungen im Islam zuzurechnen sind, trugen bei den letzten Kommunalwahlen vor drei

521

Zitiert ebd.

522

Biographical Briefs: Omar Karami.

523

Karame (Omar Abdel Hamid, H.E.) in: Who's Who in Lebanon, S.148.

524

Biographical Briefs: Ahmad Karami.

525

Siehe: LebVote, Lists: North Lists, Second District: wysiwyg://276/http://www.lebvote....nglish/Candidates/Lists/North.asp, sowie: LebVote: Lists of Winning Candidates; The North Districts, Second District; wysiwyg://293/http://www.lebvote....vote/English/results/Results4.asp (beide abgerufen am 20.2.2001).

526

Zur Kabinettsliste siehe: Munzinger-Archiv GmbH/IH-Länder aktuell, Infobase Länder: Libanon. Zu Mrad siehe auch: Biographical Briefs.

83 Jahren vor allen Dingen im sunnitischen Tripoli in den Augen vieler Beobachter "religiöse Fanatiker" den Sieg davon. 527 Als Moderatoren versuchten sich damals "gemäßigte" Kräfte wie der Großmufti des Libanon, der sogar zur Wahl christlicher Kandidaten aufrief. 528 In Beirut aber war eine Anstrengung aller politischen Gruppen einschließlich des Premiers nötig, um das prekäre Gleichgewicht vor dem Wählerwillen zu 'schützen' und um ein allen am libanesischen Machtkartell beteiligten Parteien unangenehmes Ergebnis zu verhindern. 529 Im Gegensatz zur christlichen Seite hat das klientelistische System im muslimischen Lager sozialen Verwerfungen, die durch die ökonomischen Fehlentwicklungen der letzten vier Jahrzehnte verursacht wurden, nicht entgegenwirken können. Zwar versucht etwa die familiäre "Sozialpolitik" der Hariris hier, Abhilfe zu schaffen. Doch die verarmten muslimischen Unterschichten stellen immer noch ein Rekrutierungsfeld für Fundamentalisten dar. So gelangte im Wahldistrikt der Bekaa-Ebene 1992 und 1996 ein Sunnit sogar über die Liste der Hizbollah ins Parlament 530 .

5.

Die Identität der Schiiten zwischen Arabertum, Islam und Libanonismus

"Es gibt keine zwei Islame oder drei Islame. Es gibt nur einen Islam, der die in Gottes Buch beschriebene Religion ist, und die Lehren des Propheten Mohammed."531 Mit diesen Worten sprach sich Shaikh Muhammad Rashid Qabbani als Großmufti des Libanon und Kopf des Dar'al-Fatwa 1998 dafür aus, die "Gräben" zwischen den beiden "hauptsächlichen Denkschulen" des Islam, der Sunna und der Shi'a, zu überwinden. Gleichzeitig kündigte er an, dass sich seine Institution und der Oberste Schiitische Rat zur Bildung einer gemeinsamen Kommission entschlossen haben, die sich mit der Herausgabe gemeinsamer Religionsbücher für den Schulunterricht beschäftigen soll. Qabbani war zu diesem Zeitpunkt erst kurz zuvor von einer Reise in den Iran zurückgekehrt, wohin er einer "offiziellen Einladung" der Tehraner Führung gefolgt war. 532 Nicht nur die "Bindungen zwischen Tehran und Dar'al-Fatwa" wollte der Großmufti dort stärken, sondern auch die "Islamische Republik" , bei der er sich für deren "Unterstützung" für die "arabische Sache" be-

527

Last big push to play to a Beirut draw. Muslims urged at Friday prayers to back Christian candidates; Lebanese News-6-6-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/June98/6_6_98/N11.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

528

Christians fear virtual shutout in Beirut's poll. Sunni grand mufti replies with call for responsible voting; Lebanese news-30-5-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/May98/30_5_98/N13.HTM (Abgerufen am 27.11.2001).

529

Scramble to keep balanced Beirut council. Hariri may drop his objections to parties joining in elections; Lebanese news-29-5-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/May98/29_5_98/N9.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

530

Siehe: Biographical Briefs: Ibrahim Bayan.

531

Qabbani calls on Muslims to put differences aside; Lebanese news-7-9-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/September98/7_8_98/N9.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

532

Qabbani leads delegation to Iran; Lebanese News-24-8-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/August98/24_8_98/N11.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

84 dankte, dazu aufrufen, eine "wichtige Rolle" in den Beziehungen der arabischen Welt zu allen islamischen Staaten zu übernehmen. 533 Doch hinter solchen Verlautbarungen verschwimmen aber nach wie vor die Umrisse dessen, was Qabbani als "Freundschaft und Kooperation unter den Muslimen in islamischen Ländern" bezeichnen will. 534 Und es verschwimmen hier vor allen Dingen die Trennlinien zwischen schiitisch/konservativen, sunnitisch/konservativen, schiitisch/fundamentalistischen und sunnitisch/fundamentalistischen Strömungen. Denn da unterstützt z.B. der Iran fundamentalistische Gruppierungen beider Lager, 535 schiitische wie auch jene sunnitischen, die, wie die Verbindung 'al Bir wal-Ihsan, gegen die eigene 'Ulama, gegen die eigenen Religionsgelehrten, agitieren. 536 Und gerade auf Schiiten gleich welcher Ausrichtung sind andererseits sunnitische Fundamentalisten eigentlich schlecht zu sprechen. So stellte es auch keinen Zufall dar, dass gerade kurz nach dem Besuch Qabbanis in Tehran ein sunnitischer shaikh, der der Association of Islamic Philanthropic Projects (AIPP) in Tripoli nahe steht, massenweise Flugblätter verteilen ließ, in denen er die Shi'a der "Häresie" bezichtigte. Die AIPP selbst versuchte da noch, zu beschwichtigen und auf die Hizbollah zuzugehen. Doch zu deren Ärger wiederum kamen nun auch aus deren eigenen Reihen Anklagen, die die Sunniten vice versa der Ketzerei beschuldigten. So lässt sich auch in den Statements der Hizbollah nach wie vor ein gewisses Maß an Skepsis bezüglich der anvisierten innerislamischen Kooperation erkennen, die nur dann funktionieren könne, wenn jede der beiden Seiten sich an folgende 'Spielregeln' halte: "Wenn ein schiitischer Shaikh die Sunniten attackiert, müssen ihn die Schiiten aufhalten und wenn ein sunnitischer Shaikh Schiiten attackiert, dann müssen die Sunniten ihn aufhalten." Andernfalls, so die unmissverständliche Drohung, werde es wieder einen "sectarian war" geben.537 Die Gefahr eines solchen "sectarian war" war denn auch gerade während des Iran-Besuches von Qabbani für besonders groß gehalten worden, da zu diesem Zeitpunkt der Konflikt zwischen Tehran und den Taliban in Afghanistan Rückwirkungen auf das sunnitisch-schiitische Verhältnis im Libanon zu zeitigen drohte. Dieses Verhältnis wird auch noch zusätzlich dadurch belastet, dass, so Augustus Richard Norton, "Hariri und seine Kollegen", also die 'neuen – sunnitischen – Eliten', zwar aus wahltaktischen Gründen mit schiitischen Parteien paktieren und koalieren, gleichzeitig aber sicherstellen wollen, "dass Hizballah ihre Rolle im politischen System nicht" noch mehr "erweitern" kann. 538 Doch die in den Medien anzutreffende Gleichsetzung "Hizbollah = libanesische Schiiten" ist eine unzutreffende Verallgemeinerung. So saßen in dem 1992 gewählten Parlament neben 12

533

Ebd., sowie: Iran pledges continued support for resistance; Lebanese News-26-8-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/August98/26_8_98/N9.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

534

Qabbani calls on Muslims to put differences aside.

535

Salibi, S.213f.

536

Sabonji forgives would-be assassins; Lebanese News-18-4-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/April98/18_4_98/N6.HTM (Abgerufen am 27.11.2000).

537

Nasrallah shuns plans for Jezzine.

538

Norton, Augustus Richard: Lebanon's Conundrum, in: The Second Republic of Lebanon, S.45.

85 Abgeordneten der Hizbollah 20 Parlamentarier von Amal539 , einer Bewegung "näher der Mitte des ideologischen Spektrums", gleichzeitig aber auch "eng verbunden mit Syrien", das diese Partei als einen "useful check" gegen eine Hizbollah-Übermacht betrachtet. Auch deswegen hat Damaskus Amal nach Einschätzung von Hudson mit dem "größten Einfluss in der post-Ta'iflibanesischen Regierung" ausgestattet. 540 Und im Süden des Landes trat noch zu den Wahlen des Jahres 2000 – allerdings ohne größeren Erfolg – eine "Human Liberation's List" unter der Führung von Kamil 'al-Assad an, einem traditionellen Clansführer der Schiiten in dieser Region. 541

5.1

Die Schiiten im politischen System des Libanon

Wissenschaftler wie Michael C. Hudson gehen davon aus, dass heute bei den Schiiten des Libanon das Gefühl vorherrscht, vom Prozess der Umgestaltung der politischen Ordnung nicht "genügend" profitiert zu haben. Auch in der Zweiten Republik falle ihnen nicht jenes politische Gewicht zu, das ihnen als der "largest single sectarian community" eigentlich zukommen müsse. 542 Tatsächlich stellt die schiitische communauté, die Schätzungen zufolge fast ein Drittel der libanesischen Gesamtbevölkerung umfasst 543 , heute nur 27 von insgesamt 128 Abgeordneten im Parlament und damit ebenso viele wie die Sunniten, deren Bevölkerungsanteil sich auf kaum mehr als 20 % belaufen dürfte. Zum Zeitpunkt des Zensus von 1932 noch die drittstärkste Bevölkerungsgruppe und damit im Nationalpakt von 1943 auf Platz drei in der Rangordnung der communautés verwiesen, war vor allen Dingen sie es, die vor dem Hintergrund ihres stetigen Anwachsens seit den 60er-Jahren von der Starrheit des Proporzsystems besonders benachteiligt wurde. In den Staatsämtern und in den Reihen der "Staatsbeamten" blieb sie, wie Rieck anhand genauer Zahlenmaterialien bewiesen hat, "unterrepräsentiert". Von den "Spitzenpositionen" blieb für sie nur der Rang des Parlamentspräsidenten reserviert, "der protokollarisch sogar an zweiter Stelle angesiedelt war, dessen Befugnisse aber kaum die Bezeichnung 'zweiter Mann im Staat' rechtfertigten". 544 Anders aber als bei den Sunniten, die eine Stärkung der Position 'ihres' Ministerpräsidenten anstrebten, machte sich bei den Schiiten eine antikonfessionalistische Stimmung breit.

539

Hudson, S.29. Diese Gesamtzahl von Hizbollah und Amal-Abgeordneten übersteigt natürlich die Zahl der der schiitischen communauté zustehenden Sitze auf Grund der Regelungen des Wahlsystems und der damit verbundenen Tatsache, dass nicht-schiitische "Alliierte" auf den Listen der beiden Parteien für nichtmuslimische Sitze kandidieren können.

540

Ebd., S.34.

541

Siehe LebVote; Lists. South Lists; wysiwyg://270/http://www.lebvote....nglish/Candidates/Lists/South.asp (Abgerufen am 20.2.2001).

542

Hudson, S.34.

543

Norton, S.43.

544

Rieck, Andreas: Die Schiiten und der Kampf um den Libanon. Politische Chronik 1958-1988, Mitteilungen des Deutschen Orient-Instituts 33, Hamburg 1989, S.43ff.

86 Im Gegensatz zu den Sunniten ging es für sie ja auch, so wiederum Rosiny, primär nicht um politische, sondern um "soziale Partizipation". 545 Denn 'überrepräsentiert' waren sie vor allen Dingen in den Unterschichten des Landes. Unter der nicht nur infrastrukturellen "Benachteiligung ihrer Hauptsiedlungsgebiete" im Südlibanon und in der Bekaa-Ebene – und nach der "Landflucht" der 70er-Jahre in den Slums von Beirut – leidend 546 , entwickelte sich bei ihnen ein soziales Konfliktpotenzial, das viele zunächst in die Arme linker, am Rande des politischen Spektrums sektierender Parteien trieb.547 Doch zur politisch relevanten Kraft wurde dieses Protestpotenzial erst ohne marxistischatheistische Imponderabilien, angetrieben nun von einem neuen religiösen, aus dem Schiitentum selbst kommenden Impetus und Selbstverständnis, das als erster der Geistliche Imam Musa 'asSadr artikulierte. Sadr wurde zum Begründer der "Schiitischen Bewegung" und der aus ihr hervorgehenden Amal-Bewegung bzw. -Partei. Auch er forderte, die soziale "Unterprivilegierung der Schiiten zu beenden"548 und die politische durch die "totale Abschaffung" des Konfessionalismus" zu beheben549 . Auch die "Charta" der "später zur militärischen und politischen Organisation 'AMAL' erweiterten schiitischen Bewegung"550 , übernahm diese Postulate.551 Doch als Nabih Birri (Berri), der Führer der Amal, 1984 unter Präsident Gemayel in das Kabinett aufgenommen wurde, begann das, was Rieck als "Verwässerung seiner politischen Forderungen" bezeichnet. 552 Seit November 1992 ist Berri Parlamentspräsident. Als dieser verfügt er heute über mehr Kompetenzen als seine Vorgänger. Beispielsweise kann seit Ta'if die Ernennung eines Premierministers durch den Staatspräsidenten nicht ohne vorherige Rücksprache mit ihm erfolgen. 553 Auch die Wahl eines neuen Präsidenten ist ohne ihn nicht möglich und findet auf seine "Einladung" hin statt.554 Seine Amtszeit wurde von früher einem Jahr auf vier verlängert, was auch hier seine vorher schwache Stellung dem Parlament gegenüber gestärkt hat. 555 So ist auch heute von den "drei führenden 'Präsidentschaften' im Post-Ta'if Libanon" die Rede und von der allmächtigen "Troika", bestehend aus dem Staatspräsidenten, dem Premier und dem Parlamentspräsidenten, an der Staatsspitze. 556 Kritische Stimmen sprechen aber auch heute noch von der "clientelistic, wealthy ruling coalition", innerhalb derer Ämter, Macht und Einfluss wie Stücke einer Torte aufgeteilt werden. 557 Und Nabih Berri, der in den 70er-Jahren für die – politisch und sozial – "Beraubten" sprach, wird 545

Rosiny, S.96.

546

Rieck, S.33 u. 59.

547

Ebd., S.60.

548

Rosiny, S.101.

549

Rieck, S.125.

550

Ebd., S.144.

551

Charta der "Bewegung der Beraubten (...)": vom 29.3.1975, zitiert ebd., S.144ff.

552

Ebd., S.533.

553

The Lebanese Constitution, promulgated on 23 May 1926 modified by the constitutional laws of 17 October 1927, 8 May 1929, 9 November 1943, 7 December 1943, 21 January 1947, 21 August 1990, 19 October 1995; Article 53, 2.

554

The Lebanese Constitution, Article 73.

555

Siehe Hudson, S.27.

556

Ebd., S.31.

557

Ebd., S.35.

87 heute als der "patriarchalische Advokat der (...) schiitischen Gemeinschaft innerhalb der Staatsmaschine" angesehen. 558 Die Macht der schiitischen zu'ama zu brechen aber war Amal angetreten. Schon Imam Musa 'asSadr hatte mit seiner Politik die Vormachtstellung des im Süden mächtigen Clans um Kamil 'al'Assad herausgefordert 559 , der trotz aller sozialer Verwerfungen seinen Anteil am interkonfessionellen Machtkartell hatte behaupten können. Vor allen Dingen Kamil 'al-'Assad hatte sich vor Berri über einen weiten Zeitraum hinweg die Position des Parlamentspräsidenten gesichert. 560 Für diese "schiitischen Konservativen", so Rieck, "bestand" daher auch kaum "ein Grund, einen gewaltsamen Umsturz des libanesischen Systems zu wünschen. Eine etwaige Abschaffung des Konfessionalismus hätte auch ihre Position untergraben (...)."561 Dass auf Kamil 'al-'Assads Stuhl heute Nabih Berri sitzt, könnte von einer kleinen Revolution im Lager der Schiiten zeugen. Doch ein Jahrzehnt nach Ta'if ist die Abschaffung des Konfessionalismus in weite Ferne gerückt und auch vom Parlamentspräsidenten sind keinerlei Initiativen in diese Richtung zu erwarten. Auch hat Berri, der sich noch am Beginn der 80er-Jahre "gegen das traditionelle (...) Establis hment" seiner Gemeinschaft wandte, gerade mit diesem auch privat seinen Frieden geschlossen, als er nach der Scheidung von seiner ersten Frau eine Tochter aus dem Kreise der altehrwürdig etablierten schiitischen Familien des Landes heiratete. 562 Mit seiner Bereitschaft zu politisch notwendigen Kompromissen hat sich der Amal-Führer aber schon früher in das Spannungsfeld zwischen den etablierten Eliten und den sozial deprivilegierten schiitischen Massen im Süden und in den Elendsquartieren von Beirut hineinmanövriert. Diesen Massen hatte zudem die Islamische Revolution im Iran ein neues ideologisches Leitbild vermittelt, das neben das von Amal angebotene 'Lösungsmodell' des 'Säkularstaats Libanon' getreten war: Die "die universalistischen Impulse der Islamischen Revolution im Iran" in sich aufnehmende Vorstellung von einer "Systemtransformation in ein Islamisches System". 563 Diejenigen, denen im Sommer 1982 nach der israelischen Invasion Berris Haltung gegenüber dem maronitischen Präsidenten und die Verhandlungsbereitschaft vieler Amal-Politiker Israel gegenüber zu kompromissorientiert war, hatten sich damals von der "Schiitischen Bewegung" abgespalten. Sie stellten das Grundreservoir für die sog. "Islamische Bewegung" dar, die seither unter dem Namen "Hizbollah" bekannt ist.

558

How the election battle for the Shiite vote opened a new chapter in national politics; Lebanese news-22-698; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/June98/22_6_98/N9.HTM (Abgerufen am 4.12.2000).

559

Rosiny, S.101.

560

Rieck, S.43.

561

Ebd., S.205.

562

Munzinger-Archiv GmbH/Internationales Biografisches Archiv. Infobase Personen: Nabih Berri, libanesischer Jurist und Politiker. Anfrage vom 23.5.2001.

563

Rosiny, S.111.

88 5.2

Arabismus, Islamismus und Libanonismus als widerstreitende Elemente im schiitischen Selbstverständnis

Bei den Parlamentswahlen des Jahres 2000 gewann die Allianz "Widerstand und Entwicklung" alle 23 Parlamentssitze im Südlibanon und in Nabatieh. "Widerstand und Entwicklung" ist ein Bündnis aus Amal und Hizbollah564 , die schon bei den Wahlen der Jahre 1992 und 1996 mit gemeinsamen Listen angetreten waren. Diese "Kooperation" soll, so Nabih Berri," nicht lediglich für Wahlen" bestehen, sondern dabei helfen, die "Stabilität und Sicherheit im Süden" zu gewährleisten. 565 Dies war und ist auch notwendig, denn diese Stabilität wurde und wird von den "politischen Rivalitäten" bedroht, die das Verhältnis der beiden Allianzpartner zueinander kennzeichnen. 566 So trugen denn auch gerade zu dem Zeitpunkt, da Berri seine Lobeshymne auf "Widerstand und Entwicklung" sang, die Parteigänger und Anhänger beider Richtungen ihre Rivalitäten in einem "shoot-out" im Dorf Markaba aus. 567 Und auch nach den Wahlen reißt die Serie gewalttätiger 'bündnisinterner' Auseinandersetzungen nicht ab, ob an den Hochschulen oder ganze Dörfer in Aufruhr versetzend.568 Schon in den 80er- und 90er-Jahren indes war es, wie etwa vom Mai 1988 bis November 1990, zu regelrechten innerschiitischen Bürgerkriegen gekommen. 569 Dabei ging es nicht nur um die Vormachtstellung in dieser communauté. Es handelte sich auch um ein Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Formen schiitischen Selbstverständnisses.

5.2.1 Die arabische Identität der libanesischen Schiiten Die "Wichtigkeit, die nationale Einheit und Koexistenz" zu wahren, wird in Berris Verlautbarungen oft betont. 570 Doch von welcher 'nationalen Einheit' die Rede ist, bleibt in vielen Amal-Texten unklar. Auch auf die Frage nach der nationalen Identität des Libanon bzw. der in ihm lebenden Schiiten werden widersprüchliche Aussagen gemacht. So heißt es schon in der "Charta der 'Bewegung der 564

Munzinger-Archiv GmbH/IH-Länder aktuell. Infobase Länder: Libanon.

565

Berri: Amal and Hizbullah united; Lebanese news-3-6-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/June00/03_06_00/N19.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

566

MP: speaker and Hizbullah will play coy over list; Lebanese news-3-7-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/July00/03_07_00/N12.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

567

Berri: alliance with Amal not temporary; Lebanese news-19-8-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/August00/19_08_00/N18.HTM, sowie: Cleric says shooting not premeditated; Lebanese News-19-7-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/July00/19_07_00/N12.HTM, und: Amal men who killed Hizbullah fighters may face death penalty; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/July00/17_07_00/N21.HTM (alle abgerufen am 23.5.2001).

568

Shiite parties clash at LU; Lebanese News-1-2-01; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2001/February01/01_02_01/N5.HTM und: Hizbullah and Amal brawl in Bint Jbeil; Lebanese news-5-2-2001; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2001/February01/05_02_01/N20.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

569

Siehe dazu u.a.: Munzinger-Archiv GmbH/Internationales Biografisches Archiv: Infobase Personen: Nabih Berri.

570

Amal men who killed Hizbullah fighters may face death penalty.

89 Beraubten'" aus dem Jahre 1975 unter Punkt 6: "Die Bewegung der Beraubten ist eine patriotische Bewegung, die an der nationalen Souveränität, an der Einheit des Vaterlandes (...) fest hält." Doch schon im nächsten Absatz heißt es: "Die Bewegung sieht das Festhalten an (panarabischen) nationalen Interessen, die Befreiung des arabischen Landes und die Freiheit aller Söhne der (arabischen) Nation als ihre vordringlichsten Verpflichtungen an (...)."571 Aus Gründen dieser panarabischen Solidarität fühlt sich Amal auch zur Parteinahme für die Palästinenser verpflic htet. Nicht eine arabisch-national, sondern eine "pan-islamisch begründete Solidarität" ist es, die die Hizbollah zur Einnahme einer ebenfalls propalästinensischen Haltung veranlasst.572 Doch waren schon vor Ausbruch des Bürgerkrieges im Süden des Landes die palästinensischen Flüchtlinge für die verarmte schiitische Landbevölkerung zu erbitterten Konkurrenten geworden. Wie auch Hanf konstatiert, waren es die Schiiten, die unter der "Präsenz" der bewaffneten Fedayeen "am meisten zu leiden" hatten und die durch deren Guerilla-Aktivitäten gegen den Staat Israel in einen Konflikt mithineingezogen wurden, der sie ursprünglich gar nichts anging. Hanf betrachtet so die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe als die eigentlichen "Opfer der palästinensisch-israelischen Auseinandersetzung"573 , was noch in den 70er-Jahren dazu führte, dass die "südlibanesischen Schiiten" sogar mit den von Israel unterstützten Milizen des Major Sa'ad Haddad zusammenarbeiteten. 574 Auf die Frage, von wem der Libanon befreit werden müsse, gab denn auch Amal immer wieder unterschiedliche Antworten. Manchmal richtete sich ihr 'Befreiungskampf' nicht nur gegen die Israelis, sondern auch gegen manche der "arabischen Brüder". Den Wahrheitsgehalt der Losung "Amal kämpft gegen alle Flaggen" bekam so die PLO vor allen Dingen während des "palästinensisch-schiitischen Krieges" im Jahre 1986 zu spüren. 575 Doch von einem "Fremdkörper" wollten die "Beraubten" den Libanon nie befreien: von den syr ischen Truppen. Als Hafiz 'al-'Assad im Juni 2000 starb, übernahm Nabih Berri die Führung der libanesischen 'Trauergemeinde' und organisierte Trauerfeierlichkeiten im ganzen Land. 576 Als erster "libane-sischer Offizieller" besuchte er im Juli 2000 dann den Sohn Hafiz 'al-'Assads und den neuen syrischen Präsidenten Bashar in Damaskus. 577 Von allen Kräften der "Nationalen Bewegung" –der sich Amal ohnehin nur zeitweise anschloss– war und ist die Organisation Berris diejenige, für die Syrien am erklärtesten "der arabische Bruderstaat" ist. 578 Dem widersprach aus dieser Sicht auch nicht, dass man sich gleichzeitig auch für die "Bewahrung des ungeteilten libanesischen Staates" aussprach. 579 Panarabismus und Libano571

Zitiert bei Rieck, S.145.

572

Rosiny, S.118.

573

Hanf, S.314.

574

Ebd., S.294.

575

Siehe: Munzinger-Archiv GmbH, Infobase Personen: Nabih Berri.

576

Amal takes an early lead in grieving Assad; Lebanese news-12-6-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/June00/12_06_00/N6.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

577

Berri and Bashar discuss reconstruction; Lebanese News-8-7-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/July00/08_07_00/N13.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

578

Rieck, S.381.

579

Ebd., S.370.

90 nismus stehen für Amal in keinem Widerspruch zueinander, weil ihr Libanonismus von Anfang an ein arabisierter war. So ist der Staat Libanon nach Ta'if als "arabischer" Staat auch das viel zitierte "Vaterland" von Amal. Und die von Berri gewünschte und gelobte "syrische Führung" beim Wiederaufbau des Südens 580 stellt für ihn nichts anderes dar, als 'arabische Nachbarschaftshilfe'. Doch bleibt die Frage, ob Amal nicht nur heute, sondern auch schon früher die einzige "Organisation" gewesen ist, die "am deutlichsten die schiitische Identität verkörperte (...)". 581

5.2.2 Die islamische Identität der libanesischen Schiiten Im Wahlkampf des Jahres 2000 hatten sich die Führung von Amal und Hizbollah darauf geeinigt, wenige Wochen vor dem Urnengang sämtliche Wahlplakate und Poster von Politikern und "Märtyrern" von öffentlichen Plätzen zu entfernen. Davon ausgenommen waren die Bilder von Imam Sadr und von Ayatollah Khomeini, der Symbolfigur der Hizbollah. 582 Sadrs Bekundungen "islamischer Solidarität" implizierten immer die Erhaltung eines Libanon, "dessen arabische Identität" für ihn unumstritten blieb.583 Als 'islamisch-universalistisch' sind seine Lehren nicht zu bezeichnen, da ihm die Forderung nach der Errichtung eines Islamischen Staates, eines "Gottesstaates" im Libanon noch fremd blieb. "Islamischer Internationalismus an Stelle des libanesischen oder arabischen Nationalismus, d.h. Ersetzung der Loyalität zum Staat Libanon oder zur größeren arabischen Welt durch die Loyalität zur islamischen Umma (...)" 584 , das stellte aber seit 1979 jene von Tehran aus erfolgte ideologische Herausforderung an den Amal-Patriotismus dar, die keine spezifisch libanesischschiitische Identität mehr voraussetzte. Der Iran konnte sich seither vor allen Dingen deswegen als zusätzlicher externer Akteur im Libanon-Konflikt etablieren, weil er sich den seit Jahrhunderten zwischen den geistlichen Führungen der Shi'a in Persien und im Libanon existierenden Kommunikationsstränge bedienen konnte. Denn schon in der Vergangenheit stellten in Wechselseitigkeit die Theologieschulen des Dschubal 'Amil auf der einen Seite und der theologischen Hochschule von Qum in Persien das Rekrutierungsfeld für die Geistlichkeit der jeweils anderen Seite dar. So holten die Safaviden, die sich als erste Herrscher des Iran zum schiitischen Glauben bekannten, zum Zwecke der 'Bekehrung' der damals noch mehrheitlich sunnitischen Bewohner ihres Landes Theologieschüler aus dem Dschubal 'Amil in ihr Reich, da der Libanon zu diesem Zeitpunkt noch vor Persien einer der wichtigsten demografischen Konzentrationsräume der Shi'a war.585 Andererseits vollzog sich diese 'theologische Entwicklungshilfe' nach der Etablierung der Shi'a als der bestimmenden Staatsreligion im Iran auch in der umgekehrten Richtung, rekrutierte sich 580

Assad re-confirms support for Lahoud, Hoss, Lebanon; Lebanese News-26-8-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/August00/26_08_00/N13.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

581

Rieck, S.370.

582

Few violations in the South of agreed poster-free zones; Lebanese news-18-8-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/August00/18_08_00/N9.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

583

Rosiny, S.101 u. 108.

584

Rieck, S.335.

585

Siehe dazu u.a.: Richard, Yann: Die Geschichte der Schia in Iran. Grundlagen einer Religion, Berlin 1989.

91 dann gerade in jüngster Zeit die Geistlichkeit des Libanon aus Männern, die in Qum studiert hatten, 586 oder wie Imam Sadr selbst, dort geboren waren. Doch haben neben diesen Kommunikationssträngen auch andere, in der Religion des Schiitentums und dessen Geschichte begründete Faktoren in der libanesisch-schiitischen Bevölkerung eine Aufnahmebereitschaft für universalistisch-islamische Ideen begünstigt. Auch Rosiny erwähnt die "Spezifika der schiitischen Glaubenslehre", die "seit jeher eine transnationale Solidarisierung der geografisch verstreuten Gemeinschaften" "begünstigten". 587 "Überregionale Loyalitätsverhältnisse" werden so von Lehre und hierarchischem Aufbau der Geistlichkeit geschaffen, wenn die "einfachen Gläubigen (...) in Glaubensfragen dem Diktum eines" mitunter eben auch sehr weit entfernten "Mujtahid" unterworfen sind. 588 Neben diesen "Spezifika" sind es die Grundlagen der schiitischen Religion, die bei der ZwölferShi'a des Dschubal 'Amil eine Entwicklung zu einer regional abgeschlossenen Sekte wie im Falle der Drusen verhindert haben. Sich als die wirkliche Form des Islam verstehend, reklamiert die Shi'at 'Ali, die Partei 'Alis, des Schwiegersohns des Propheten, die "Rechtmäßigkeit" der Nachfolge Muhammads, das "Khalifat", nur für 'Ali, dessen Sohn Husain und alle anderen Nachkommen aus "dem Œusainidischen Geschlecht". 589 Von der Macht nach dem Tod 'Alis im Jahre 661 in der Regel ausgeschlossen, wird die Legitimität des – nach 661 politisch realen – Khalifats abgestritten, dem das – ideelle – Imamat der 'Aliden entgegengehalten wird. Der Imam selbst ist nicht nur bloßes "Oberhaupt der Gemeinde" und damit "mehr als ein bloß zeitlicher und irdischer Führer, er ist ein Mann, der die notwendige Tugend und das Wissen hat, seine Glaubensbrüder auf den 'rechten Weg' zu leiten". 590 Die Linie dieser Imame führt im Falle der Zwölfer-Shi'a eben "bis zur schicksalhaften Zahl Zwölf". Das rätselhafte Verschwinden des zwölften Imams – andere Sekten der Shi'a bezweifeln gar, dass es ihn überhaupt gegeben hat – wird von seinen Anhängern mit der "Kleinen" und der "Großen Verborgenheit" erklärt. Dies ist eine Art messianischer Verklärung, die davon ausgeht, dass der zwölfte Imam "vor dem Ende der Zeiten (...) als der Mahd ¾ ('der Rechtgeleitete') – eine messianische Gestalt- zurückkommt, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen". 591 In Erwartung der Wiederkunft dieses Imams hatte sich die "Partei Alis" jedoch über Jahrhunderte hinweg in ein passives Defensivverhalten zurückgezogen, das allgemein in der Literatur mit dem Begriff des "Quietismus" belegt wird. 592 Doch diese quietistische Grundhaltung und die Tatsache, dass es dem Schiitentum während der Großen Verborgenheit eines "politischen und religiösen Oberhauptes" ermangelte, befriedigte im 20. Jahrhundert Theologen und Geistliche immer weniger. Schon früher hatte es Ansätze dazu gegeben, dem Mahdi "vorbehaltene Funktionen" auf die Rechtsgelehrten, die 'Ulama, zu übertragen, da sich die Frage stellte, ob "in der Abwesenheit des Mahdi religiöse Gelehrte in seinem 586

Rosiny, S.85.

587

Ebd., S.195.

588

Ebd., S.196.

589

Cahen, S.209.

590

Ebd., S.57.

591

Ebd., S.209f.

592

Rosiny, S.84.

92 Geiste weiterregieren und Entscheidungen treffen" könnten, "um seine Wiederkehr vorzubereiten". 593 Immerhin hatte es schon zur Zeit der "kleinen Verborgenheit" im 9. und 10. Jahrhundert vier "Mittler" gegeben, die vorgaben, "mit dem Imƒm in Verbindung zu stehen und seine Weisungen stellvertretend zu erfüllen". 594 Seit den Fünfzigerjahren legten nun viele Theologen die "quietistische, traditionelle Interpretation des schiitischen Islam" ab. 595 Vor allen Dingen Ayatollah Khomeini sprach schon vor dem Ausbruch der Islamischen Revolution viele der "prärequisiten Funktionen des Imam" den 'Ulama zu und begründete damit deren "Recht zur Herrschaftsgewalt". 596 Dass sich Khomeini dann selbst als "Imam" bezeichnete, sorgte, obwohl dieser Titel nicht nur einen Anspruch auf die alidische Nachfolge Muhammads bezeichnet, sondern auch als ein "E hrentitel für besonders angesehene Geistliche"597 gilt, für Unruhe in den religiösen Zirkeln der Zwölfer-Shi'a.598 Der Oberste Schiitische Rat des Libanon "negierte (...) den exklusiven Führungsanspruch Khumainis für die gesamte islamische Umma"599 und Amal-Führer Berri erklärte: "Khomeini wird von uns hoch geehrt. Er ist ein hoher religiöser Würdenträger. Deswegen leisten wir aber noch lange nicht ihm oder dem Iran politische Gefolgschaft. Unsere Beziehungen zu Khomeini sind wie die eines katholischen Landes zum Papst."600 Tatsächlich hatten die libanesischen Schiiten mittlerweile ja ihren eigenen "Verborgenen Imam", nämlich ihren "Imam" Sadr. Denn nachdem dieser im September 1978 von einer Revolutionsfe ier in Libyen nicht mehr zurückgekehrt war, wurde er von seinen Anhängern daselbst "mit der Aura eines 'Verborgenen Imam' umgeben". 601 Auf "Imamslinie" im Tehraner Sinne schwenkten im Libanon die Hizbollah ein. 602 1985 erklärte deren Führung, dass man "den Befehlen der einzigen weisen und gerechten Führung (...) die sich derzeit im rechtgeleiteten Imam, dem Ayatullah al-'Uzma Ruhullah al-Musawi al-Khumaini (...) verkörpert(...)" "gehorchen"603 werde. 593

Ebd.

594

Cahen, S.209.

595

Rosiny, S.85.

596

Ebd., S.84.

597

Ebd., S.350.

598

So schreibt Khalid Duran: "Gegenwärtig geht der theologische Zwist innerhalb der Zwölfer-Schia darum, ob Khomeini wirklich Vertreter des verborgenen Imam sei, – denn so wird er offiziell tituliert – oder ob er gar der verheißene Messias selbst sei. Teile des orthodoxen schiitischen Klerus sind zutiefst betroffen darüber, dass für Khomeini überhaupt der Titel Imam verwandt wird. Gewiss bezeichnet Imam unter anderem ganz einfach einen Vorbeter in der Moschee, jedoch legt die Art und Weise, wie Khomeini als Imam bezeichnet wird, den Ve rdacht eschatologischer Anmaßung zumindest nahe." (Duran, Khalid: Islam und politischer Extremismus. Einführung und Dokumentation. Deutsches Orient-Institut: Aktueller Informationsdienst Moderner Orient, Sondernummer 11, Hamburg 1985, S.6.)

599

Rosiny, S.87.

600

Berri, zitiert bei Duran, S.45.

601

Duran, S.44. Alles scheint indes darauf hinzudeuten, dass Musa as-Sadr "auf Grund schwer wiegender Differenzen mit Qaddâfî entweder in Libyen ermordet wurde oder noch immer dort gefangen gehalten wird." (Ebd.). Rieck führt sogar "Vermutungen" an, die davon ausgehen, dass Khomeini selbst, der ja das unangefochtene Imamat beanspruchte, hinter dem Verschwinden Sadrs stecken könnte (Rieck, S.335). Ursache und Folge stimmen hier allerdings nur schwer überein.

602

Duran, S.45.

603

Zitiert bei Rosiny, S.195.

93 Und die "transnationale Ideologie" der libanesischen Islamisten604 zeigte sich nun in der strikten Ablehnung jeglicher auf den Libanon eingegrenzten politischen Zielsetzungen: "Der Libanon ist nicht für sich allein genommen das Ziel (...) Libanon ist ein kleines Stückchen der Länder der Muslime, ein Teil unseres Ziels."605 Die schiitische Identität im Libanon indes scheint eine multiple Identität zu sein, denn neben universalistischen sind libanonistische Dimensionen durchaus erkennbar.

5.2.3 Die libanesische Identität der Schiiten Ebenso wie die Drusen, so Salibi, haben auch die Schiiten des Libanon in der Vergangenheit nicht abgestritten, dass das Land eine "special history" habe.606 Vor allem die Bewohner des Dschubal 'Amil haben so ein Gefühl der emotionellen Bindung an 'ihr Territorium' entwickelt, das sie gegen äußere Feinde und Invasoren oftmals verteidigen mussten. Die "islamische" Geschichte hingegen war für sie seit dem Tod 'Alis nur eine sunnitische, nur "Trug" und Schande und die "arabische Geschichte", die wiederum nur eine sunnitische geblieben sei, habe daher "seit dem Tod des Propheten und besonders seit dem Märtyrertum des Husayn (...) mit der islamischen Geschichte denselben Makel geteilt". 607 Trotz der Tatsache, dass man sich als Araber definierte, blieb man daher immer in einer Minderheitensituation, die eine ethnische Identifizierung mit dem arabischen Umfeld erschwerte. So konnte der arabische Nationalismus als sunnitisch eingefärbte Bewegung anfänglich auch nur geringen "Fortschritt unter den Schiiten" erzielen. 608 Dem maronitischen Libanonismus und der Vorstellung, in einem von dieser Religionsgruppe dominierten Staat leben zu müssen, konnte man indes ebenso wenig Positives abgewinnen. 609 Um Gemeinsamkeiten mit anderen erkennen zu können, mussten die Bewohner des Dschubal 'Amil ihre Blicke über "die überwiegend sunnitische Welt des Arabismus" hinaus richten. 610 Es gibt also sowohl eine eigene libanesische, bzw. an diesen Dschubal 'Amil gebundene "Geschichte", die verbunden ist mit den "local chiefs and heroes", die ihr Land gegen die drusischen Emire verteidigten und die der "Jabal Amil scholars", die durch die ganze "schiitischmuslimische Welt" reisten und speziell in den Iran entsandt wurden. 611 Dies sind jene beiden Wurzeln, aus denen heraus sich das libanesisch-schiitische Selbstverständnis speist und sich damit dessen Positionsbestimmungen in Geschichte und politischer Welt des Vorderen Orient entwickelt haben. Auf der anderen Seite aber stellen sie aber auch jene beiden Pole dar, zwischen denen sich diese Orientierungen bewegen.

604

Ebd., S.199.

605

Zitiert ebd., S.195.

606

Salibi, S.205.

607

Ebd., S.206 u. 207.

608

Ebd., S.47.

609

Ebd., S.54.

610

Ebd., S.208.

611

Ebd., S.205f.

94 So halten die Schiiten einerseits den Libanon "durchaus" für ein "akzeptables Vaterland". 612 Sie wandten sich aber, anders als die Angehörigen der anderen großen communautés – wo sich die "Veränderungen" der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsphasen der letzten Jahrzehnte immer noch "innerhalb des durch die Strukturmerkmale des Konfessionalismus, Klientelismus, Familialismus und Regionalismus vorgegebenen Rahmens"613 abspielten –, als die aus diesem Geflecht und Netzwerk 'Hinausgeworfenen' dem imaginären 'Heimatland' der islamischen 'Umma zu. Doch da die schiitisch-messianische 'Erlösung' in Gestalt der Verwirklichung der Ziele des "Imam al-Mahdi" durch Ayatollah Khomeini und damit die "Errichtung der islamischen Weltregierung"614 auf sich warten ließ, begnügte sich Hizbollah nun mit einem 'Islamischen Libanon' als einer ersten Etappenlösung auf dem Weg dorthin. Als Folge "obsiegte" so langfristig trotz universalistischer Ansprüche "in politischen Entscheidungen in der Regel die Interessenlage, die sich eher nach bestehenden staatlichen Entitäten ausrichtete (...)". Doch spricht diese pragmatische und taktisch-opportune "Libanonisierung" der Islamischen Bewegung noch nicht für ein von Rosiny perzipiertes "implizit national-libanesisches Denken"615 im Sinne einer Adaption einer nationalen libanesischen Identität. Ähnlich wie bei den Anhängern von Amal, die sich schon früh vor allem deswegen als "libanesische Nationalisten schiitischer Konfession" verstanden wissen wollten, weil es ihnen darum ging, "das Erbe der Maroniten anzutreten und vom Potenzial des gesamten Libanon zu profitieren, statt sich mit einem miserablen" (schiitisch-südlibanesischen, Anm. d. Verf.) "Kleinstaat zufrieden zu geben"616 , ging und geht es auch hier um eine neue nationale Identität eines neuen Libanon, die mit der des alten nicht mehr übereinstimmen sollte. Oder kurz: Man will die 'staatliche Hülle' im Gegensatz zu früher nun durchaus erhalten, aber mit einem anderen Inhalt ausfüllen. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Einschätzung Rosinys, dass sich die Schiiten auch deswegen den Fortbestand der staatlichen "Entität" des Libanon wünschen, weil sie sich konkret vor einer "sunnitischen Majorisierung" in einem syrischen bzw. arabischen Großstaat fürchten. 617 Im Libanon hingegen stellen sie heute die relative Bevölkerungsmehrheit dar, was ihnen und ihren politischen Ambitionen langfristig günstigere Ausgangspositionen in diesem Kleinstaat sichert. So haben auch hier die demografischen Veränderungen und die Umkehrung der Größenverhältnisse zwischen den communautés auch zu einem Bewusstseinswandel geführt.

5.3

Das libanesisch/schiitisch-syrisch-iranische Beziehungsdreieck

Zu diesem Bewusstseinswandel beigetragen hat auch die politische Rolle, die Damaskus den Organisationen der Schiiten, allen voran Amal, in der Post-Ta'if-Ordnung zugedacht hat. So verdanke Berri, wie Hudson meint, feststellen zu können, seine "Prominenz" in erster Linie Syrien, dem er ein "loyaler Verbündeter" sei. 618 Vor diesem großen Nachbarn fürchtet sich Amal auch nicht, denn Syrien wird – trotz sunnitischer Bevölkerungsmehrheit – von einer Baath-Führung regiert, die sich größtenteils aus der schiitischen "Sekte" der Alawiten rekrutiert. Berris Präferen612

Hanf, S.177.

613

Rosiny, S.89.

614

Zitiert ebd., S.194.

615

Ebd., S.199.

616

Duran, S.45 u. 55.

617

Rosiny, S.203.

618

Hudson, S.31.

95 zen für Damaskus waren und sind, wie Duran schon konstatiert hat, "allein durch die Regierung Asad gegeben, (...)"619 und sein "Arabismus" begegnet allen anderen arabischen Staaten mit Misstrauen – und hat damit einen eindeutig schiitisch-historischen Einschlag. Folgerichtig kommt auch er nicht an den historischen Beziehungen seiner Gemeinschaft zum Iran vorbei. Auf Einladung aus Tehran besuchte er so im August 2000 den Iran, wo er u.a. auch mit dem "spiritual leader" des Landes, mit 'Ali Khamenei zusammentraf. 620 Bei seiner Rückkehr informierte Berri die libanesische Öffentlichkeit nicht nur darüber, dass die iranische Regierung einige der "housing projects" im Süden des Landes finanziell unterstützen werde, sondern auch darüber, dass Amal nun in Tehran ein Büro eröffnen wird. 621 Eine wirkliche Hinwendung der Amal-Bewegung zum theokratischen Regime in Tehran muss das aber nicht bedeuten. Tatsächlich hat sie es seit jeher verstanden, sich zwischen syrischiranischen Interessengegensätzen in der Region und im Libanon geschickt hindurchzulavieren und dabei das Beste für sich selbst herauszuholen. Günstig für Berri war in diesem Zusamme nhang auf internationaler Ebene die gemeinsame 'Frontstellung' Syriens und des Iran gegen den Irak, was ihm z.B. im iranisch-irakischen Golfkrieg eine relativ unproblematische Parteinahme "zu Gunsten Irans und Syriens" zur gleichen Zeit ermöglichte.622 Denn die alte Feindschaft und Konkurrenz zwischen den beiden Baath-Regimen in Baghdad und Damaskus hatte nach Ausbruch des Krieges Syrien die Annäherung an Tehran suchen lassen und damit eine Allianz zw ischen den beiden 'Schutzmächten' der Schiiten im Libanon entstehen lassen, die diesen nur gelegen kam. 'Schiitische Solidarität' im Beziehungsgeflecht Iran-Syrien-Amal-Hizbollah war aber immer ein von den jeweils divergierenden oder konvergierenden Interessenlagen der jeweiligen staatlichen und nicht-staatlichen Akteure bestimmtes und damit instabiles Konstrukt, das auch aus der Sicht des Westens oft nur sehr schwer durchschaubar blieb. So intervenierte Syrien in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre im Libanon, um dort "Kämpfe zw ischen den rivalisierenden Amal und Hizballah-Faktionen" zu beenden623 , ohne dabei jedoch "zu Gunsten von Amal" einzugreifen, weil man – so Hanf – aus wirtschaftlichen Gründen "einen offenen Bruch mit dem Iran, der Schutzmacht Hizbullahs" vermeiden wollte. 624 Tatsächlich hatten sich die "militärischen, politischen und ökonomischen Kontakte" zwischen Tehran und Damaskus seit dem September 1980, dem Ausbruch des iranisch-irakischen Krieges intensiviert. Denn nachdem Damaskus im April 1982 – um dem alten Konkurrenten und Gegenspieler in Baghdad zu schaden – die Grenzen zum Irak schloss und damit auch zwei Pipelines, die irakisches Erdöl zum Mittelmeer führten, kappte, begann Syrien, Erdöl zu besonders günstigen Bedingungen aus dem Iran zu beziehen. Im Gegenzug sagte die syrische Führung zu, den Iran nun mit "raffinierten Ölprodukten oder Gewinnen aus dem Wiederverkauf von Rohphosphaten, Ge-

619

Duran, S.55.

620

Berri prepares for official visit to Iran; Lebanese news-1-8-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/August00/01_08_00/N19.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

621

Amal to open Tehran office; Lebanese news-7-8-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/August00/07_08_00/N24.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

622

Duran, S.47.

623

Ellis, Kail C.: Lebanon: The Struggle of a Small Country in a Regional Context; in: The Second Republic of Lebanon, S.14.

624

Hanf, S.407.

96 treide und Textilien als auch mit sowjetischen Militärvorräten" zu versorgen. 625 An einer, wie Tanter es formuliert, "trade total dependence (...) on Iran" war Damaskus aber nicht interessiert und am Beginn der 90er-Jahre ermöglichte die Teilnahme an der "Gulf War coalition" gegen Saddam Hussein Syrien das Heraustreten aus seiner "Isolation". 626 Schon zuvor kollidierte die direkte iranische Unterstützung für den militärischen Aufbau der Hizbollah im südlichen Libanon mit den syrischen Hegemonialbestrebungen dort. Die über Syrien einsickernden iranischen Pasdaran ließ man hier, wie Duran glaubt, "nur ungern gewähren. Es kam sogar zu Zusammenstößen zwischen syrischem Militär und iranischen 'Revolutionswächtern', die zu zeitweiligen Verstimmungen zwischen Damaskus und Teheran führten". 627 Auch nicht zuletzt deswegen scheint man in Damaskus Amal als den bereits zitierten "useful check against Hizballah" zu betrachten. 628 Berris neueste Iran-Initiativen zeugen andererseits von dem Willen von Amal, eine an den eigenen schiitisch-libanesischen Interessen orientierte, nur schwer kalkulierbare Allianzpolitik zu betreiben, deren 'Eigenständigkeit' darin besteht, die Interessen der im Libanon miteinander konkurrierenden externen Mächte gegeneinander auszuspielen.

5.4

Die Identität der Schiiten nach Ta'if

Von den Grundlagen eines neuen Selbstverständnisses zeugen auch ökonomische Daten, die aufzeigen, dass die Schiiten des Libanon – bzw. einige ihrer neuen Repräsentanten – aus der Rolle des sozialen underdog herauszuwachsen sich anschicken. Ging Rosiny im Jahre 1994 noch davon aus, dass die schiitischen Massen als solche als sozial unterprivilegiert und hier nur die zu'ama aus der Schicht der Großgrundbesitzer als Ausnahme anzusehen sind, so hat jene Entwicklung, die auch der sunnitischen Gemeinschaft zu neuer Wirtschaftskraft verholfen hat, auch vor dieser communauté nicht Halt gemacht. Zählte so im Direktorium der "Vereinigung libanesischer Industrieller" bis zum Jahre 1975 noch kein einziger Schiit zu den 24 Mitgliedern dieses Gremiums, so steht heute dort eine jeweils gleiche Anzahl von Sunniten und Schiiten – jeweils 5 – zusammen mit zwei Drusen 12 christlichen Vertretern gegenüber.629 Mit dieser Entwicklung mitgegangen ist auch die Programmatik des "Resistance and Development Bloc" und mit ihm die von Amal. Die soziale, auf die benachteiligten Unterschichten abgestellte Komponente wird zwar noch immer nicht vernachlässigt, wenn etwa das "Central Labor Office" von Amal Stellung bezieht gegen die Regierungspläne, die Unternehmensbeiträge zum National Social Security Fund zu senken630 . Mit neuem ökonomischem Realitätssinn widmet

625

Tanter, Raymond: Rogue Regimes. Terrorism and Proliferation. Houndmills, Basingstoke, Hampshire and London 1998, S.183.

626

Ebd., S.183 u. 184.

627

Duran, S.60.

628

Hudson, S.34.

629

Siehe: Baroudi, Table 6, S.93.

630

Amal slams Hariri's NSSF proposal; Lebanese News-9-12-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/December/09_12_00/N12.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

97 man sich nun aber auch den allgemeinen Zielen der wirtschaftlichen Entwicklung und dem "boosting" der verschiedenen Wirtschaftssektoren. 631 Doch steht dies schon für die bewusste Übernahme gesamtnationaler Verantwortung, oder nicht vielmehr immer noch für eine an den Interessen einer – jetzt zwar sozial breiter gestreuten – konfessionellen Klientel orientierte Politik? Berri selbst zumindest wird von dieser Klientel angesehen als "the person with access to state services for the Shiites (...)". 632 Der Bewältigung der "nationalen Aufgaben wie der Wohlfahrtversorgung", denen der libanesische Staat "nicht gerecht werde", 633 hat sich deklaratorisch auch Hizbollah verschrieben und ein "social services network" aufgebaut.634 Doch handelt es sich hier in erster Linie eben um "community services". Und Hizbollah übt – wie bei den Kommunalwahlen des Jahres 1998 – nach wie vor kaum Anziehungskraft auf christliche oder sunnitische Wähler aus. Würde sich die "Partei Gottes" diesen Bevölkerungsgruppen gegenüber öffnen, würde sie, so ein Beobachter, Gefahr laufen, ihre "Identität" zu 'verlieren.' Wenn Hizbollah aber andererseits "ihre Identität beibehält, dann werden die Leute" (die nicht-schiitischen Wähler, Anm. d. Verf.) "ihren letztendlichen Zielen gegenüber argwöhnisch bleiben". 635 Kann diese Identität eine national- und gesamt-libanesische sein? Und wenn, wie auch Rosiny anführt, die islamisten mit der "Befreiung und Verteidigung des libanesischen Territoriums" Aufgaben übernommen haben, die eigentlich einer nationalen "libanesischen Armee" obliegen würden636 , wenn sie aus ihrem Guerillakrieg gegen Israel eine "klare Identität" ableiten, 637 so scheint diese doch eher eine panarabische oder panislamische zu sein. Und dass man in Tehran deren Partei als eine Organisation ansieht, die die "islamisch-arabische Unabhängigkeit und Würde" verteidigt und sie deswegen tatkräftig unterstützt 638 , wirkt dem allgemeinen Argwohn, dass Hizbollah mit den iranischen Interessen verbunden bleibt, 639 nicht unbedingt entgegen. Die Frage nach dem Selbstverständnis der Schiiten im Libanon aber impliziert vor allen Dingen auch die nach deren Vorstellungen von einer Koexistenz mit den anderen Religionsgemeinschaften. Im Falle Berris hat Duran auf die Bemühungen der Amal-Bewegung hingewiesen, "den engen schiitischen Rahmen zu sprengen" und die Existenz der anderen communautés anzuerkennen, jedoch auch hervorgehoben, dass viele hier glauben, dass der "Libanon unter schiitischer Dominanz stehen" solle, "weil dies ihr gutes Recht wäre". 640 631

Speaker's bloc lays out priorities; Lebanese News-6-12-2000; http://archive.dailystar.com.lb/leb/2000/December/06_12_00/N13.HTM (Abgerufen am 23.5.2001).

632

How the election battle for the Shiite vote opened a new chapter in national politics.

633

Rosiny, S.206f.

634

How the election battle for the Shiite vote opened a new chapter in national politics.

635

Zitiert ebd.

636

Rosiny, S.206.

637

Hizbullah protests inclusion in State Dept. terrorist list; Lebanese news-11-10-99; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1999/October99/11_10_99/N20.HTM (Abgerufen am 4.12.2000).

638

Ebd.

639

Siehe: Hizbullah's elevation to guerrilla status gets cool reception, Lebanese news-2-9-98; http://archive.dailystar.com.lb/leb/1998/September98/2_9_98/N8.HTM (Abgerufen am 4.12.2000).

640

Duran, S.46.

98 Im Falle der Hizbollah hängt die Beantwortung dieser Frage in erster Linie davon ab, inwieweit die Islamische Republik Iran immer noch als "Vorbild" für die libanesischen Islamisten gilt. Rosiny geht davon aus, dass diese die Unmöglichkeit der "Übertragbarkeit des politischen Systems im Iran" auf den Libanon mittlerweile akzeptiert hätten. 641 Doch geht es hier nicht um die Islamische Republik Iran allein. Es geht um das Modell des Islamischen Staates, um das Islamische System generell, nach dessen Ideal die Verfassung des Iran geformt wurde – und von dem auch die libanesischen Islamisten sprechen. Denn vor allen Dingen in jenen Bereichen, die die Beziehungen von Muslimen und Nicht-Muslimen regeln, die die Rolle von Nicht-Muslimen in einem solchen islamischen Staat definieren, erfanden die Mullahs im Iran keine neuen Gesetze, sondern griffen vielmehr auf das traditionelle islamische Minderheitenrecht zurück.

6.

Der "Islamische Staat" und die "Toleranz des Islam": interreligiöse Koexistenzvorstellungen im Islam

6.1

Das Bürgerrecht der Nicht-Muslime im Dar 'ul-Islam

Noch im Jahre 1974 lehnte die Partei der Phalanges libanaises in einem Kommuniqué eine Redistribution der proportionellen Ämter- und Machtverteilungsschlüssel zu Gunsten der Muslime im Libanon strikt ab. Denn, so die Resolution, "wenn die Muslime, im Namen der Mehrheit, an die Macht gelangten, würden die Christen zu der Minderheitensituation zurückkehren, die die ihre unter dem ottomanisch islamischen Reich war". 642 So hätte ihnen als einer nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppe im Dar 'ul-Islam, dem "Herrschaftsbereich des Islam", nur die in der orientalistischen Fachliteratur viel zitierte "citoyenneté de 'seconde zone'" zugestanden. 643 Auch wenn, wie Nawaf Salam feststellt, der Begriff "citoyen" den "Realitäten des klassischen Islam" kaum entsprechen kann644 – wie könnte er auch, hat sich die 'Staatsbürgerschaft', verbunden mit der Idee der égalité, doch auch im Abendland erst mit der Aufklärung herausgebildet, wurde erst mit dem Durchlaufen dieser geschichtlichen Entwicklungsstufen aus dem 'subject' auch ein 'citizen' –, so kann doch fest gehalten werden, dass Christen und Juden in den Staaten der islamischen Welt nicht die gleichen "Rechte" und nicht die gleichen "Pflichten" wie die Muslime hatten. 645 Außerhalb der islamischen 'Umma stehend, die für Salam eine "politische Gemeinschaft" darstellt, die sich auf der Basis eines "Jus religionis" definiert, das der Autor als dritte und 'islamische Form' eines Staatsangehörigkeitsrechts dem Jus sanguinis und dem Jus solis der Europäer entgegenstellt, gehörten sie nicht dem an, was man als das 'herrschende Staatsvolk' bezeichnen könnte. Diese Aussage relativiert sich natürlicherweise vor dem Hintergrund der Verfassungsrealität(en) in den im 20. Jahrhundert unabhängig gewordenen Staaten des Nahen Ostens, die aus der Sicht eines Islamisten kaum mehr als "Islamische Staaten" anzusehen sind. Denn noch 1988 konstatierte Omaia Elwan, dass von "den 22 Mitgliedern der Arabischen Liga (...) 19 Staaten eine ge641

Rosiny, S.202.

642

Zitiert in: Salam, Nawaf: La condition libanaise. Des communautés, du citoyen et de l'État, Beyrouth 1998, S.75.

643

Salam, Nawaf : L' émergence de la notion de citoyenneté en pays d 'Islam, Beyrouth 1998, S.103.

644

Ebd., S.103, Anm. 74.

645

Ebd., S.103f.

99 schriebene Verfassung" haben, "die in Anlehnung an europäische Vorbilder in Paragrafenform verkündet ist". 646 Als "Staatsreligion" wurde der Islam zu diesem Zeitpunkt "in den Verfassungen von zwölf arabischen Staaten" – damals noch Südjemen dazugerechnet – bezeichnet, was allerdings noch nicht viel zu bedeuten hatte, denn: "In allen arabischen Verfassungen, also auch denjenigen, die den Islam zur Staatsreligion erklären, wird vorbehaltlich der Beachtung des ordre public und der guten Sitten die Freiheit der Religionsausübung für andere Bekenntnisse sowie ein Diskriminierungsverbot wegen der Religionszugehörigkeit statuiert."647 Neun Verfassungen bezeichneten die shari'a als "Quelle der Gesetzgebung". 648 Sie war und ist vielerorts aber nicht die einzige "Quelle", denn in Ägypten z.B. galt bis zum Ende der 70er-Jahre der code civil als das zweite Fundament der Rechtsprechung. Doch das Diskriminierungsverbot bedeutet nicht überall auch die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes. Die syrische Verfassung, die zwar "wegen der beachtlichen Anzahl von Christen" in der Bevölkerung von einer Erhebung des Islam zur Staatsreligion absah, sieht aber andererseits dennoch vor, dass das Staatsoberhaupt immer ein Muslim zu sein hat. 649 Solche Bestimmungen gibt es auch in Jordanien, Mauretanien und Kuwait. Selbstverständlich ist dies in SaudiArabien, das erst gar keine Verfassung hat, da hier dem "Koran bzw. der shar¾‘a" allein "bereits alle Rechtsgrundsätze entnommen werden" können. Was die "Frage des Bekenntnisses zum Islam als Voraussetzung für die Bewerbung um wichtige Ämter" anbetrifft, so haben auch die "ü brigen Verfassungen" keine Vorkehrungen getroffen, "da in diesen Staaten das Bekenntnis zur islamischen Religion, sieht man vom Libanon ab, als selbstverständlich vorausgesetzt wird". 650 Die Erhebung der shari'a zur einzigen Rechts- und Gesetzesquelle in Ägypten im Jahre 1980 hat insbesondere in den Reihen der koptischen Minderheit für Unruhe gesorgt, die bis zu diesem Zeitpunkt und seit den Tagen des Muhammad 'Ali traditionell eine bedeutende politische Rolle am Nil gespielt hatte 651 und die nun ihren Ausschluss aus der Politik des Landes befürchtete. Die seither erkennbare "Unterrepräsentierung" der koptischen Christen in der ägyptischen Politik ist für den exil-libanesischen Wissenschaftler Walid Phares nicht nur ein 'lokales' Problem, sondern im Zusammenhang einer alle orientalischen Christen bedrohenden Islamisierung von Staat(en) und Gesellschaft(en) im Nahen Osten zu sehen. Denn der Fundamentalismus und sein Wunsch, eine "integrierte islamistische Gesellschaft zu restaurieren", seien, so Phares, die Vorboten einer "Vernichtung der nicht-muslimischen Gruppen der Region". 652 Dem würde die schiitische Geistlichkeit des Libanon widersprochen haben, denn nach deren Verlautbarungen würden die Christen in einem "Islamischen Staat" Libanon "gleichberechtigt zu den Muslimen" behandelt werden. 653 646

Steinbach, Udo/Robert, Rüdiger (Hrsg.): Der Nahe und Mittlere Osten. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte Kultur, Bd.1: Grundlagen, Strukturen und Problemfelder; 3; IV, Gesetzgebung und Rechtsprechung (von Omaia Elwan). Opladen 1988, S.249.

647

Ebd.

648

Ebd., S.250.

649

Ebd., S.249f.

650

Ebd., S.249 u. 251.

651

Vgl. Anschütz, S.10f.

652

Phares, S.17 u. 21.

653

Rosiny, S.214.

100 Keine dieser beiden Darstellungen – die euphemistisch-idealisierende wie die verteufelnde – dürfte indes den wahren Charakter der islamischen Haltung Andersgläubigen gegenüber und deren Einstufung in einem sog. "Islamischen System" wieder geben. Und deren Quintessenz lässt sich in wenigen, bei Rosiny zitierten, von ihm aber nicht im wahren Umfang ihrer Bedeutung erläuterten Sätzen darstellen: "Wir wollen für euch" (die Christen, Anm. d. Verf.) "das Gute und rufen euch zum Islam auf (...). Wenn ihr ablehnt, so wollen wir lediglich, dass ihr euch an eure Verträge mit den Muslimen haltet und euch an keinen Feindseligkeiten gegen sie beteiligt." Und: "Der Libanon ist ausschließlich ein Teil des islamischen Bodens. Die Anwesenheit der Christen auf ihm ist daran gebunden, dass sie die islamische Herrschaft anerkennen."654 Dies ist nicht nur ein 'schiitischer Standpunkt.' Auch ein bedeutender Repräsentant des libanesischen Sunnitentums hat mit einer bewusst provokativen Herstellung einer Analogie zur europäischen Geschichte erklärt: "Wenn die Christen sich Araber nennen und auch als Araber handeln, dann sind sie mit uns gleich. Sie müssen sich aber im demokratischen Sinne als Minorität benehmen (...). Auch in England kann ein Angehöriger der katholischen Minderheit nie König sein (...). In der Religion ist jeder gleichwertig. In der Politik aber regiert die Majorität."655 Sunnitisch-schiitisches Einverständnis herrschte so trotz aller theologischen, auf die shari'a und die unterschiedlichen Rechtsschulen bezogenen Differenzen bei der Abfassung eines Verfassungsentwurfes "für eine Islamische Republik im Libanon (...)", der 1986 – nicht ohne Bedeutung – in Tehran im Rahmen eines "Konklave libanesischer Geistlicher" erstellt worden war. 656 Auch der sunnitische Mufti des Dschubal 'al-Lubnan war hierzu angereist. Und auch wenn man sich darüber stritt, ob die Zeit für die Errichtung eines "Islamischen Systems" reif sei, so war man sich dennoch darin einig, dass in einem islamischen Staate Libanon künftig die Konfession "die die zahlenmäßige Mehrheit der Versammlung auf sich vereinigen kann, (...) die Regierung" "bildet". Aus den Ausführungen Rosinys lässt sich unschwer herauslesen, dass mit dieser Konfession hier die islamische gemeint ist und dass die Entscheidung darüber, wer in der zwar "direkt vom Volk" gewählten, aber doch eben islamischen "Schura-Versammlung" die Mehrheit stellt, nur zwischen Sunniten und Schiiten fallen kann. 657 Offensichtlich ist, dass sich diejenigen, die sich in Tehran trafen, der Tatsache bewusst waren, dass nicht die Schiiten allein, sondern nur die Muslime zusammen die Bevölkerungsmehrheit im Libanon repräsentieren. Grundsätzliche innerislamische Gegensätze und Streitigkeiten sollten so zu Gunsten der Verwirklichung des gemeinsamen Fernziels der Errichtung einer theokratischen Ordnung – im Libanon, im gesamten Orient oder auch als ein "Staat der Menschen"658 – zurückgestellt werden. In diesem Sinne schluckten auch die sunnitischen Teilnehmer des Konklave die für sie eigentlich unzumutbare 'Kröte' einer schiitischen Prärogative in dieser "Islamischen Republik", indem "Imam al-Khumaini als dem höchsten Rechtsgelehrten (...) und Stellvertreter des Imam al-Mahdi (...) eine Schiedsgerichtsfunktion

654

Zitiert ebd., S.192f.

655

Omar Farroukh zitiert bei Hanf, S.467.

656

Rosiny, S.216.

657

Ebd., S.217.

658

Ebd., S.216.

101 und die oberste legislative, judikative und administrative Autorität über das zu errichtende System eingeräumt werden sollte". 659 Schon die Verfassung der Islamischen Republik des Iran hatte versucht, ein bedeutendes Hindernis auf dem Weg zu dieser "Einheit" zu beseitigen, in dem sie erklärt, dass "alle Muslime (...) eine einzige Nation" bilden und "anderen islamischen Schulen" als der Zwölfer-Shi'a ihren "vo llen Respekt" bekundet. Sie gesteht ihnen zu, "in Einklang mit ihrer eigenen Jurisprudenz" zu handeln, ihre "religiösen Riten" frei auszuüben, personenstandsrechtliche Fragen vor ihren eigenen Gerichtshöfen klären zu lassen und ihre Kinder in der Religion selbst zu erziehen. 660 Diese gleichen 'Rechte' werden nun zwar "innerhalb der Grenzen des Gesetzes" auch den Zoroastriern, den Juden und den Christen zugestanden, die qua Verfassung die "einzigen anerkannten religiösen Minderheiten" im Iran sind 661 und es wird weiter erklärt, dass alle Muslime gehalten seien, "Nicht-Muslime in Einklang mit ethischen Normen und den Prinzipien der islamischen Gerechtigkeit und Billigkeit" zu behandeln. 662 Doch trotz dieser Zusicherungen vermittelt die Verfassung schon im Text selbst den Eindruck, dass diese Minderheiten zwar 'tolerierte' Bevö lkerungsgruppen darstellen, diese aber in gewissem Sinne nicht 'dazugehören' und Außenstehe nde, dem eigentlichen Staatsvolk nicht angehörende Personenkreise bleiben. So ist zwar von der "Teilhabe des gesamten Volkes an der Gestaltung seines politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Schicksals" die Rede. 663 Doch wer mit diesem "gesamten Volk" gemeint ist, wird in Artikel 3 Absatz 15 deutlich, wenn die "Stärkung der islamischen Brüderlichkeit" unter eben diesem "Volk" zur verfassungsmäßigen "Pflicht" der Regierung der Islamischen Republik erhoben wird. Und wenn davon die Rede ist, dass "alle Menschen des Iran" "die gleichen Rechte" genießen würden, so heißt es nur, "egal welcher ethnischen Gruppe oder Stamm sie angehören". 664 Und wenn betont wird, dass "alle Bürger des Landes (...) in gleicher Weise den Schutz des Gesetzes" genießen und über "alle menschlichen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte" verfügen, so wird dies auch gleich wieder mit dem Zusatz "in Einklang mit islamischen Kriterien" eingeschränkt. 665 Vom Buchstaben des Gesetzes und den demografischen Begebenheiten in Iran ausgehend scheint es erklärlich, warum dem Schutz von religiösen nicht-muslimischen Minderheiten, die knapp 1 Prozent aller iranischen Staatsbürger stellen, nicht dasselbe politische Gewicht zukommt wie den in Artikel 19 erwähnten ethnischen, nicht-persischen Minderheiten, die zusammengenommen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. 666 659

Ebd.

660

Islamic Republic of Iran Constitution: 1-General Principles, Article 11, Article 12. Iranian Government Constitution, English Text; wysiwyg://163/http://www.iranonli...fo/Government/constitution-1.html (Abgerufen am 23.5.2001).

661

Islamic Republic of Iran Constitution, Article 13.

662

Ebd., Article 14.

663

Ebd., Article 3.

664

Islamic Republic of Iran Constitution: 3 – The Rights of the People, Article 19; wysiwyg://159/http://www.iranonli...fo/Government/constitution-3.html (Abgerufen am 23.5.2001).

665

Ebd., Article 20.

666

Zu den entsprechenden Zahlen siehe u.a.: Der Fischer Weltalmanach 2001, Frankfurt am Main 2000, Sp.377. Zu den ethnischen Minderheiten im Speziellen siehe: Franz, Erhard: Minderheiten in Iran. Dokumentation zu Ethnographie und Politik. Dokumentations-Leitstelle Moderner Orient: Aktueller Informationsdienst Moderner Orient, Sondernummer 8, Hamburg 1981.

102 In ihren Grundzügen beruft sich diese Verfassung aber auf das klassische islamische Minderhe itenrecht. War die seit Jahrzehnten schon zu beobachtende "Re-Islamisierung", die von Islamismus, Fundamentalismus und islamischem Integrismus zu unterscheiden ist, "eine von fast allen Schichten getragene stärkere Betonung des islamischen Kulturerbes", die "das Neue", aus dem Westen kommende nicht ablehnte, sondern es "islamisch" zu "imprägnieren" versuchte 667 , so ist das klassische Modell eines 'Islamischen Staates' nun anscheinend wiederauferstanden – in der Theorie (im Libanon) und in der Praxis (im Iran) – bei den Islamisten. Sie halten sich dabei an jenes 'Modell', das sie bei jenen "Schutzverträgen" aus der Zeit der arabisch-islamischen Eroberungen fanden, auf die der bei Rosiny zitierte Islamist eigentlich hinweisen will. Diese "Schutzverträge" regelten als erste das Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen und stellten die Grundlagen der Minderheitenpolitik der Staaten und Mächte im Dar 'ul-Islam bis hinauf zum Osmanischen Reich dar. Widersprüche zur Minderheitenpolitik dieser Staaten sind daher auch weniger in der Theorie als vielmehr in der Praxis zu vermuten. Denn die Politik islamischer Herrscher war oft flexibler und anpassungsfähiger als das rigide Gerüst religions-rechtlicher Vorgaben, an die sich die Islamisten heute streng halten wollen. Mit diesen Rechtsvorschriften indes lassen sich heute sogar Vorschriften wie die von den Taliban in Afghanistan nun erlassenen rechtfertigen, die die dortigen Nicht-Muslime "zum Tragen besonderer Kennzeichen" zwingen sollen. Denn wenn es aus Kabul heute verlautet, dass sich in der Öffentlichkeit eines islamischen Landes "Muslime von Nichtmuslimen" unterscheiden müssten und diese andersgläubigen Minderheiten nicht das Recht hätten, "ihre Religionen öffentlich zu zelebrieren", 668 so können sich diese Maßnahmen durchaus auf die konkreten Regelungen der "Schurut adh-Dhimma" berufen. Deren Grundlage ist der Vertrag des 'Umar bin 'al-Hattab, " mit dem", wie Motzki feststellt, "das islamische Minderheitenrecht quasi völkerrechtlich abgesichert werden soll (...)". 669 Motzki selbst bezeichnet diesen Vertrag als "Fiktion", doch hat diese Fiktion ihre Spuren in der Geschichte bis in die Gegenwart hinein hinterlassen, wie das aktuelle Beispiel aus Afghanistan belegt. Denn dieser Vertrag des 'Umar untersagt es den Christen, sich wie Muslime zu kleiden. Vielmehr müssten sie sich deutlich von ihnen "unterscheiden (...)". 670

6.2

Die Schurut 'adh-Dhimma: die rechtlichen Grundlagen des Daseinsrechts von Nicht-Muslimen in der islamischen Welt

In einer wohl kaum besser auszuformulierenden Art und Weise hat Karl Binswanger den Begriff "Dhimma" (hier: ¯imma) definiert: "(...) die ¯imma ist der das Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen, vorab Schriftbesitzern, regelnde Vertrag, bzw. das diesbezügliche Vertragsverhältnis. Allgemeiner ausgedrückt: ¯imma regelt eine spezielle Form von Koexistenz oder Kohabitation bestimmter Gruppen."671

667

Duran, S.12 u. S.14.

668

Die Taliban wollen Minderheiten kennzeichnen, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.5.2001.

669

Motzki, S.81.

670

Binswanger, Karl: Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts. Mit einer Neudefinition des Begriffes "¯imma", München 1977, zugl. Univ. München, Diss. 1977, S.28.

671

Ebd., S.1.

103 Als Grundlage gilt hierbei die "Konvention" bzw. "Schurut des Omar", ein "Vertrag", "der zw ischen den Christen Syriens und dem zweiten Kalifen (...) geschlossen worden sein soll (...)"672 und in dem so nachzulesen ist, dass es den Christen im islamischen Herrschaftsbereich u.a. untersagt ist: – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –



neue Kirchen zu bauen, sowie alte, "die zu Ruinen verfallen sind", wieder zu errichten, "Spionen", bzw. Feinden des Islam "Unterschlupf" zu gewähren bzw. Verrat am Islam zu begehen, den christlichen "Kult" "öffentlich" zu zelebrieren, einen Christen vom Übertritt zum Islam 'abzuhalten', "wenn dies sein Wille ist", den Muslimen zu "ähneln" in Bezug auf die "Kleidung", etwa durch das Tragen eines "Turbans oder des Schuhwerks, oder durch die Art, die Haare zu tragen (...), die Sprache der Muslime zu sprechen, beim Reiten Sättel zu benutzen, Schwerter bzw. "irgendeine Art von Waffen" zu tragen, den Muslimen vom Koran verbotene Getränke und Lebensmittel zu verkaufen, christliche Kreuze und christliche Bücher "auf von Muslimen frequentierten Wegen" "in Erscheinung treten zu lassen", die Stimmen "in Gegenwart von Muslimen" zu "erheben", "öffentliche Prozessionen" etwa am Palmweihfest abzuhalten, bei christlichen Beerdigungen "die Stimme zu erheben", die christlichen Toten "in der Nachbarschaft von Muslimen" zu beerdigen, auf öffentlichen Wegen "mit lauter Stimme" zu beten, "Sklaven" der Muslime anzustellen und "auf die Häuser der Muslime" "Einblick" zu nehmen. Gehalten sind die Christen dazu, allen Muslimen Gastfreundschaft zu gewähren und diese auf ihren Reisen für drei Tage zu "beherbergen", den Muslimen "voll Respekt" zu begegnen und sich von einem Sitzplatz zu 'erheben', wenn sich diese dort "setzen wollen", – den 'Naqus', d.h. ein Schlaginstrument in den Kirchen nur sehr "zart" anzuschlagen und zum Zeichen einer deutlichen Unterscheidung von den Muslimen den 'Zunnar', einen speziellen Gürtel, um die Taille zu tragen. 673

Doch an der Authentizität dieses Dokuments bzw. des in ihm angeführten Datums des Vertragsschlusses, das mit dem Jahr 78 islamischer Zeitrechnung (= 687 n. Chr.) angegeben wird, bestehen aus wissenschaftlicher Sicht berechtigte Zweifel. Motzki geht davon aus, dass die "Entstehung dieses fiktiven Vertragswerkes (...) wohl als ein langsamer Prozess zu begreifen (...)" ist, der erst "im Lauf der Konstituierung des islamischen Reiches und der Ausbildung des islamischen Rechts (...)" abgeschlossen wurde. 674 Für Antoine Fattal ist diese Konvention nicht auf den zweiten Khalifen, auf 'Umar bin 'al-Hattab, in der westlichen Literatur auch als 'Umar I bezeichnet, zurückzuführen, sondern auf 'Umar II, den 'Umayyadenkhalifen 'Umar bin 'Abd 'al-'Aziz (717-720). Hier handelt es sich um mehr als nur um bloße zahlenfetischistische Haarspaltereien von Althistorikern oder um eines der vielen 672

Motzki, S.78.

673

"La Convention de 'Umar", zitiert in der von Ãur³ûðî überlieferten Fassung bei: Fattal, Antoine: Le statut légal des non-musulmans en pays d'Islam; L'Institut de Lettres Orientales de Beyrouth; Tome X, Beyrouth 1958, S.61ff.

674

Motzki, S.81f.

104 akademischen Streithobbys, sondern um eine Auseinandersetzung von auch gegenwärtig wieder höchst tagespolitischer Bedeutung. Denn 'Umar I. gilt bis heute vielen als ein Leitbild für einen 'toleranten Islam', der dem der Fundamentalisten entgegengehalten wird. So wird dieser 'Umar beschrieben als ein Herrscher, der für seinen "Liberalismus und seine Toleranz" berühmt gewesen sei. 675 Denn in der Frühzeit des Islam hätten noch keine "Restriktionen" in der Kleiderordnung bestanden, den Dhimmis, den "Schutzbefohlenen", wären noch alle "öffentlichen (...) physischen oder individuellen" "Freiheiten" zugestanden worden. Auch was die "liberté politique" anbetraf, so sind nach den arabischen Eroberungen in den früher byzantinischen Gebieten die "alten Funktionäre", d.h. die christlichen Staatsdiener zunächst von den neuen Herren überno mmen worden. 676 So veränderten diese Herrscher, wie auch der bekannte Orientalist Claude Cahen feststellte, zunächst kaum "die Lebensumstände der Untertanen" in den eroberten Gebieten. 677 In dieser Weise stellt die Nahostwissenschaft heute jene Epoche dar, die Ära der rashidun, der rechtgeleiteten Khalifen, des "'reinen' 'ursprünglichen, 'unverdorbenen', 'progressiven' Islam", auf den sich bemerkenswerterweise heute Islamisten, islamistische Modernisten und diejenigen, die die Vision eines 'toleranten Islam' in die gegenwärtige politische Diskussion miteinbringen, gleichzeitig berufen. 678 Und so setzen all jene, die der Huntington'schen These vom "Clash of Civilizations" entgegentreten, die an die Möglichkeit einer "muslimisch-christlichen Koexistenz" nicht nur im Libanon glauben, dem Islam der Konvention des 'Umar den Islam von Najran entgegen. 679 Ein solcher 'Islam von Najran' wird hier zum Idealbild erhoben, auf dessen Basis ein interreligiöses Zusammenleben im Rahmen einer wirklichen égalité möglich sei.

6.3

Der Islam von Najran als Gegenmodell zur Schurut 'adh-Dhimma?

Diejenigen, die das Idealbild eines Islam von Najran verfechten – unter ihnen bemerkenswerterweise nicht wenige christliche Autoren! – gehen nun davon aus, dass der zwischen Medina und dieser Stadt geschlossene Vertrag die eigentlich autoritative, weil auf Muhammad selbst zurückzuführende, Quelle und Anweisung für den Umgang mit Christen und Juden sei.

6.3.1 Najran und das 'Prinzip der Gleichheit' Gemäß der "musulmanischen Überlieferung" trafen im Verlauf des Jahres 9 der Hedschra, d.h. 630/631 n. Chr., mehrere "Delegationen" aus "ganz Arabien", d.h. von der Arabischen Halbinsel, in Medina ein, um den "Propheten des Islam" dort zu treffen. Unter diesen "Delegationen" befand sich auch eine der Christen von Najran, einer Stadt im südwestlichen Arabien, ca. dreihundert Kilometer nördlich der heutigen Hauptstadt des Yemen, von San'a gelegen. 680 "Musulmanische Schriftsteller" überliefern, dass diese einen "Pakt" mit dem Propheten schlossen, nachdem 675

Muir und Arnold, angeführt bei Fattal, S.67.

676

Ebd., S.60.

677

Cahen, S.26.

678

Geertz, Clifford: Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien, Frankfurt am Main 1988, S.105f.

679

Dagher, S.45.

680

Tardy, René : Najrân. Chrétiens d'Arabie avant l'islam; L'Institut de Lettres Orientales de Beyrouth, Nouvelle Série: B. Orient Chrétien, Tome VIII, Beyrouth 1999, S.187.

105 sie zuvor "einen theologischen Disput mit Muhammad und seinen Weggefährten" geführt hatten. 681 Das Abkommen zwischen Medina und Najran ist einer von fünf der Nachwelt erhaltenen und von Fattal in geradezu archäologischer Kleinarbeit gesicherten und 'restaurierten' Verträgen, die der Prophet selbst mit christlichen und jüdischen Gemeinden auf der Arabischen Halbinsel schloss. Im Jahre 10 der Hedschra unterstellte sich Najran der Oberhoheit Medinas. Es hatte zwar materiellen Tribut an die 'Stadt des Propheten' (Medinat 'an-Nabi) zu entrichten. Im Gegenzug aber wurde seinen Einwohnern die Beibehaltung ihrer Religion zugesichert. Vom "rechtlichen Gesichtspunkt" aus gesehen, wurde ihnen die Bewahrung ihres "status quo ante" garantiert. Und in dem von Fattal rekonstruierten Text heißt es dann ganz anders als in der Konvention des 'Umar: "Keine Erniedrigung wird auf ihnen lasten (...)."682 Als authentisch und für die weitere islamische Rechtsgeschichte richtungweisend kann dieser Vertrag vor allen Dingen deswegen gelten, weil er das zentrale 'Linkage' für die christlichislamische Koexistenz im Dar-'ul-Islam enthält und die 'Rollenverteilung im Rahmen dieser Koexistenz vorgibt. So heißt es hier: "Der Schutz Allahs und die ¯imma des Propheten erstrecken sich auf Naðrƒn und seine Umgebung, auf deren Personen, deren Besitz, deren Praxis des Kultes (...)."683 Diesen "Schutz" erhalten die Christen von Najran, wie Tabari und Mas'udi berichten, als Gegenleistung für die Entrichtung einer Sondersteuer für Andersgläubige, der so genannten "Kopfsteuer". Diese Vertragsbedingungen werden über Jahrhunderte hinweg und bis zum Ende des Osmanischen Reiches als fundamentale Prämisse und staatsrechtliches Fundament die juristische Lage von Christen und Juden in der islamischen Welt bestimmen. Und: Im Vertrag des 'Umar sind sie nicht enthalten. Für H. Lammens stellten solche Regelungen den Beweis für den synallagmatischen Charakter dieses Vertrags dar. Doch stellt sich die Frage, ob diese "Gegenseitigkeit" auch "Gleichheit" bedingte. Lammens hat dies bejaht. 684 Schmucker indes wirft Lammens und Fattal hier eine "Vereinfachung der Problematik dieses Gegenstandes" vor. Die Sicht klassischer arabischer Kommentatoren wiedergebend, stellt er deren "Überlegungen" dar: "Dominierend musste aber doch die Sache der Muslime bleiben! Sie diktierten, wenn auch nicht gewaltsam, ja den Vertrag und waren trotz der zahlreichen Zugeständnisse an den Gegner die Souveräne."

681

Ebd., S.189.

682

Zitiert bei Fattal, S.24.

683

Zitiert ebd., S.23.

684

Siehe ebd., S.24ff.

106 Viel sagend sei auch die von Seiten des Propheten an die 'Vertragspartner' ergangene Drohung mit der "Kündbarkeit des Vertrags seitens der Muslime" gewesen. 685 Tatsächlich enthält der von Fattal übersetzte Text die Klausel: "Sie werden den Schutz Gottes und die šimma des Propheten haben, so lange sie sich gemäß der ihnen auferlegten Verpflichtungen verha lten."686

6.3.2 Die Entwicklung eines Besatzungsstatutes zum Minderheitenrecht Anders als heutige Autoren wie Muhammad Sammak, die im Islam von Najran einen Islam des Dialogs sehen und in ihm ein Modell für eine künftige muslimisch-christliche Koexistenz nicht nur im Libanon erblicken687 , haben frühere arabische Autoren wie Majlisi eben diesen Vertrag als das "Geständnis der Ohnmacht" der tributpflichtig gewordenen Christen bezeichnet. 688 Die historische "Wirklichkeit" im Jahre 10 der Hedschra mag, wie auch Schmucker meint, ganz anders ausgesehen haben und die damalige Übereinkunft scheint weder ein Freundschafts- noch ein "Unterwerfungsvertrag" gewesen zu sein689 , sondern ein von den jeweiligen ökonomischen und militärischen Interessen bestimmtes Zweckbündnis zwischen der Handelsmacht Najran und der Militärmacht Medina. Eine Übereinkunft allerdings, die zwischen der "aufsteigenden medinensischen Macht"690 und einer absteigenden Wirtschaftsmacht im Süden erzielt wurde, deren Handelswege zudem, wie Tardy dargestellt hat, durch den damals dort herrschenden Zustand des "désordre général" bedroht waren. 691 So wurde hier auch dem schwächeren Partner die Leistung von Tributen auferlegt.692 Und da sind auch jene anderen vier Verträge, die Muhammad im Jahre 628 mit den Juden von Haibar, ca. 626-629 mit Bahrain, 630 mit Tabuk und 631 mit den Banu Taglib schloss. Überall lässt sich das gleiche Schema erkennen, überall lassen die Eroberer den Eroberten die Wahl zwischen der Annahme der neuen Religion des Propheten, dem "Krieg" oder der Tributpflicht, deren Erfüllung in Haibar noch in der eingeforderten Ablieferung der Hälfte der Ernte oder in Tabuk schon in der Entrichtung der Kopfsteuer bestand. 693 Von Kleiderordnungen freilich und allerlei eingeforderten "Respekts"-Bekundungen ist hier noch nicht die Rede. So handelt es sich bei all diesen Verträgen um keine "islamischen Besonderheiten", sondern um auch aus der europäischen Geschichte bis in die frühe Neuzeit hinlänglich bekannte kriegsrechtliche Kapitulations- bzw. Übergabeverträge. Niederlagen machten auch hier die Besiegten zu Unterworfenen. Und so definiert auch die europäische Geschichtswissenschaft im Allgemeinen den Tribut u.a. als "(...) Leistungen, die von einer polit. Gruppe (Provinz, besiegtem Staat) an

685

Schmucker, Werner: Die christliche Minderheit von Naðrƒn und die Problematik ihrer Beziehungen zum frühen Islam, in: Otto Spies (Hrsg.), Studien zum Minderheitenproblem im Islam 1; Bonner Orientalistische Studien, Neue Serie, Band 27/1, Bonn 1973, S.242.

686

Zitiert bei Fattal, S.24.

687

Sammak, Muhammad: Einführung in den muslimisch-christlichen Dialog (Arabisch), Beirut 1998.

688

Schmucker (1973), S.241.

689

Ebd., S.242 u. 244.

690

Ebd., S.236, u. 244.

691

Tardy, S.188f.

692

Siehe dazu den Text bei Fattal, S.23.

693

Vgl. dazu ebd., S.18ff. angeführten Texte.

107 eine stärkere (Zentralstaat, Sieger) zu erbringen sind. Dann auch die Abgaben für die Respektierung der Selbstständigkeit eines schwächeren durch einen stärkeren Stamm, Volk etc.". 694 Die 'islamische Besonderheit' indes ist die Perpetuierung dieser, wie Bosworth sie nennt, "ad hoc conventions"695 , dieses Besatzungsstatutes, zu einer "ad infinitum" 696 verfassten Form eines religiösen Minderheitenrechts. Dessen endgültige Ausformung freilich erfolgte erst mit der Ausdifferenzierung dieser Gesellschaft bzw. eben erst, "als die Islamische Religion zum ersten Mal begann, die allgemeine Struktur der nahöstlichen Gesellschaft zu durchdringen". 697 Doch bleibt damit die Frage noch immer offen, was am islamischen Minderheitenrecht auf die Ur-Religion zurückzuführen ist und wie es mit dessen "Verbindlichkeit für die Praxis"698 dann aussah.

6.4

Rechtstheorie und Rechtspraxis

Die Ankündigung des Kleiderordnungs-Dekretes der Taliban-Regierung in Afghanistan ist im Mai 2001 auf weltweite Empörung gestoßen. Bundesaußenminister Joschka Fischer sah in ihm eine "eklatante Verletzung der universellen Menschenrechte", die EU-Parlamentspräsidentin eine "neue Stufe in der Eskalation von Schande und Wahnsinn" in Afghanistan und die UNMenschenrechtskommissarin erinnerte das "Identifikationsdekret" an Nazi-Praktiken und an die Vorgänge in Ruanda. Die Opposition in Afghanistan verurteilte die Anordnung und betonte, dass die Hindus in ihrem Land "seit Jahrhunderten (...) stets ihre Religion" hätten "frei ausüben können". 699 Doch die Taliban selbst berufen sich bei ihrer Gesetzgebung auf das islamische Recht. In ihrem Land soll heute die "safrangelbe Farbe" "orthodoxe Hindus" kennzeichnen, während "die Farbe Grün den Islam symbolisiert". 700 In seiner auf Reiseberichten von Europäern basierenden Beschreibung der Lage der "Andersgläubigen "im Ägypten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geht Motzki auch auf die damalige Kleiderordnung ein: "Grün, die Farbe des Propheten, war Nichtmuslimen generell verboten; sie blieb (...) den Nachkommen der Familie Muhammads vorbehalten. Die Christen trugen Turbane aus blauem oder blau-weiß gestreiftem Leinen, die Juden dunkelbraune (...). Das Turbantuch der Muslime war in der Regel weiß. Rote Pantoffel gehörten zum Kostüm der einheimischen Christen, blaue oder schwarze wiesen den Träger als Juden aus."701

694

Stichwort : Tribut, in: dtv Wörterbuch zur Geschichte, Band 2, München 19804 , S.795.

695

Bosworth, C.E.: The Concept of Dhimma in Early Islam, in: Braude, Benjamin; Lewis, Bernard: Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society. Vol.I.: The Central Lands, New York/London 1982, S.44.

696

Binswanger, S.5.

697

Bosworth, S.45.

698

Binswanger, S.26.

699

Taliban-Dekret für Hindus wird weltweit scharf kritisiert, in: Die Welt, 25.5.2001.

700

Ebd.

701

Motzki, S.68.

108 Motzki betont aber auch, dass es nur "von Zeit zu Zeit zu" solch "verschärften Maßnahmen gegen die Minderheiten" kam und dass beispielsweise die Edikte von 1772 und 1786, die die oben genannten Regelungen betrafen, – "als Reaktionen auf allzu große Freiheiten zu verstehen" sind, die etwa die Christen zuvor noch genossen hatten. 702 Begründet wurden diese Gesetze also damit, "dass die 'dimmis' den Vertrag (...) gebrochen, (...) und dass sie die Auflagen, zu denen sie seit der Zeit des Kalifen 'Umar verpflichtet wären, missachtet hätten." Und Motzki stellt auch fest: "Mit dieser Begründung wurden schon Jahrhunderte vorher Edikte gegen die Minderheiten gerechtfertigt"703 – und sie werden es auch heute wieder in Afghanistan. Die "Quelle", auf die solche Kleiderordnungen zurückgeführt werden, ist ein "Modellvertrag", der von Shafi'i überliefert ist, einem Rechtsgelehrten704 , nach dem eine der vier Rechtsschulen im Islam benannt ist. Shafi'i lebte sogar noch später als 'Umar II, von 767 bis 820. Wahrscheinlich ist daher auch, dass seine Bekleidungsgesetze auf 'Umar II als 'Vorbild' zurückzuführen sind, da dieser Khalif von 717 bis 720 die ersten "Präskriptionen" in dieser Richtung erließ 705 , was wiederum auf ihn als den 'Umar der Konvention hindeutet. Mit dem Erlass der ersten dann durchgreifenden Kleiderordnungen werden die Khalifen von Baghdad, und hier besonders Harun 'ar-Rashid II in Verbindung gebracht, der in den Köpfen abendländischer Romantiker zumeist als der sagenhafte Herrscher aus "Tausend und eine Nacht" herumspukt. Die spezielle Kennzeichnung durch spezifische, auf die jeweiligen Glaubensgruppen bezogenen Farben erscheint zum ersten Male im Edikt des Khalifen Mutawakkil aus dem Jahre 850.706 Doch Fattal weist auch darauf hin, dass diese Vorschriften nach Mutawakkil nur mehr leere Gesetzeshülsen blieben und dass sie erst von 'al-Hakim in Ägypten wieder in Kraft gesetzt wurden. Generell lässt sich in der Geschichte des Islam ein 'Auf und Ab' in der Minderheitengesetzgebung, ein Pendeln zwischen Restriktivismus und einem gewissen Laisser-faire Christen und Juden gegenüber erkennen.

6.5

Minderheitenrecht versus Minderheitenpolitik

Für Bassam Tibi gibt es nicht 'den Islam'. Denn: "Es ist ja auch kaum zu erwarten, dass in einem Zivilisationskreis, der ein Fünftel der Menschheit (...) umfasst, eine einheitliche, von allen akzeptierte Vorstellung von Religion und eine damit korrespondierende Kultur gelten könnte."707 Nach dieser vertikalen Differenzierung unterscheidet Tibi auch nochmals den "rigiden SchariaIslam" etwa vom "Volksislam", der "offener" sei. 708

702

Ebd., S.69 u. 71.

703

Ebd., S.70.

704

Cahen, S.81.

705

Fattal, S.97ff.

706

Ebd., S.100ff.

707

Tibi, Bassam: Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München, 1994, S.65.

708

Ebd., S.75.

109 Doch auch bezüglich des islamischen Rechts sagt Tibi, dass es eine "einheitliche Schari'a als konsistentes Rechtssystem (...) nie gegeben" hat. Und was das Verhältnis von Schari'a und Koran anbetrifft, stellt er nicht ohne einen gewissen Zynismus fest: "Der Begriff Schari'a kommt nur ein einziges Mal im Koran vor, und zwar nicht in der Bedeutung von Recht."709 Was die rigide Interpretation von Koranzitaten durch den so bezeichneten Fundamentalismus angeht, geht er auf dessen aus dieser Offenbarung abgeleiteten Forderung ein, "die Tötung des Apostaten" zur Rechtspraxis zu machen. In der entsprechenden Sure 2, 217 heiße es aber nur: "Diejenigen unter Euch, die sich von ihrer Religion abwenden, sterben als Ungläubige", was Tibi als eine erst für das "Jenseits" angedrohte Bestrafung für den Abfall vom Islam ansieht. 710 Doch trotz der Tatsache, dass die 'Jenseitsorientierung' dieser Strafandrohung in vielen Koranübersetzungen noch viel deutlicher zum Ausdruck kommt 711 , glauben heute selbst die Taliban, sich bei einer etwaigen Verhängung der Todesstrafe gegen die Anfang August 2001 festgenommenen Mitarbeiter von Shelter Now darauf berufen zu können, eine "Entscheidung entsprechend dem islamischen Recht"712 getroffen zu haben. Mit dem Koran stimmt das freilich wieder nicht überein. Aber auch hier haben die von den Rechtsgelehrten des 8. Jahrhunderts und von ihren Modellverträgen geprägten Rechtsnormen das Denken vieler 'Ulama seither beherrscht. Denn schon in dem von Shafi'i überlieferten Vertragstext hatte es geheißen, dass "das Leben" eines Andersgläub igen, der einen "Muslim von seinem Glauben" abbringt, der "Gewalt der Muslime" überantwortet wird.713 Und wenn auch Tibi davon spricht, dass es 'den Islam' nicht gibt, so geht doch auch er davon aus, dass es nur eine – rechtstheoretische – Haltung zu Christen und Juden gibt: "Christen gelten nach der islamischen Doktrin als Dhimmi, Schutzbefohlene; sie haben das Recht auf Duldung, nicht aber auf Gleichberecht igung."714 Bezogen auf die Möglichkeiten und Grenzen eines Dialogs zwischen den beiden Weltreligionen des Islam und des Christentums, nicht nur in Asien oder Afrika, sondern auch in Europa und in Deutschland, stellt sich Tibi daher die Frage: "(...) Religionsfreiheit setzt die Gleichheit aller Religionen voraus (...). Ist der islamische Dialog mit ihnen ein solcher mit Schutzbefohlenen? Oder ist die Aufgabe dieser Doktrin (...) eine Grundvoraussetzung für den Dialog?"715 Tatsächlich war ein solcher Dialog in der Geschichte aber möglich. Doch haben die osmanischen Sultane, die die aus dem Spanien der Reconquista geflüchteten Juden aufnahmen, diese, von Tibi so bezeichnete "Islamische Doktrin" deswegen aufgegeben?

709

Tibi, Bassam: Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, Stuttgart/München 2000, S.101.

710

Tibi (1994), S.67.

711

So heißt es in der Übersetzung von Max Henning, in der diese Sure im Übrigen unter 2, 214 zu finden ist: "Wer sich aber von euch von seinem Glauben abtrünnig machen lässt und als Ungläubiger stirbt, deren Werke sind vergeblich hienieden und im Jenseits, und des Feuers Gefährten sind sie und verweilen ewig darinnen." (Der Koran. Aus dem Arabischen übertragen von Max Henning, Stuttgart, 1960.)

712

Muhammad Haqqani von der afghanischen Religionspolizei, zitiert in: 24 Festgenommenen droht die Todesstrafe, in: Frankfurter Rundschau, 7.8.2001.

713

Zitiert bei Fattal, S.77.

714

Tibi (2000), S.22.

715

Ebd., S.23.

110 6.6

Die Dhimma: Bürgerrecht, Minderwertigkeitsstatus oder Privileg?

Im 16. Jahrhundert hatten die Juden, "die der Sultan liebte"716 , nach ihrer offiziellen Vertreibung aus dem Spanien der Inquisition im Jahre 1492 im Reich der Osmanen freundliche Aufnahme gefunden. Die jüdischen Gemeinden von Saloniki und Istanbul sollten zu den wohl bedeutendsten Zentren jüdischen Geistes- und Wirtschaftslebens in der damals bekannten Welt werden und in der jüdischen Historiografie wurde die "Gnade" der ottomanischen Herrscher zu einem Leitmotiv. 717 Und wenn auch nicht alles so rosig war, wie Geschichtsschreiber wie Avram Galanté es darzustellen pflegten, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass die Bestimmungen der Schurut adh-Dhimma in jenen Tagen nicht jene Anwendung gefunden haben, die sich Shafi 'i noch gewünscht hätte. Nicht wenige Khalifen und Sultane verließen sich schon früher bei ihren Regierungsgeschäften auch auf Juden und Christen. Von einer 'politischen Machtbeteiligung', so Claude Cahen andererseits, kann indes niemals die Rede gewesen sein. Cahen, der die Bereiche Verwaltung und Politik strikt voneinander trennt, stellt so für die Periode des "klassischen Islam" fest: "Die Bekleidung religiöser Ämter im engeren Sinn, ebenso militärischer Funktionen und selbstverständlich die Ausübung politischer Macht ist Nichtmuslimen untersagt."718 Der Ausschluss von Dhimmis vom Militär leitet sich von dem im Vertrag des 'Umar nachzulesenden Verbots des Waffentragens ab. Die Forderung nach 'politischer Machtlosigkeit' der Andersgläubigen aber wird direkt aus dem Koran selbst abgeleitet.

6.6.1 Die koranischen Grundlagen der islamischen Minderheitengesetzgebung und die "Machtlosigkeit" der Dhimmis In der Diskussion um das islamische Minderheitenrecht steht vor allen Dingen der viel zitierte Koranvers 9.29 im Vordergrund, in dem es heißt: "Kämpfet wider jene von denen, welchen die Schrift gegeben ward, die nicht glauben an Allah und an den Jüngsten Tag und nicht verwehren, was Allah und sein Gesandter verwehrt haben, und nicht bekennen das Bekenntnis der Wahrheit, bis sie den Tribut aus der Hand gedemütigt entrichten."719 Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei die Formulierung "gedemütigt", bzw. der arabische "Passus" "wa-hum ªƒ¼ir½na". Andere Übersetzungen geben dieses "wa-hum ªƒ¼ir½na" auch mit "kleinlaut" wieder. Binswanger glaubt die Quintessenz dieser Passage mit einem Rückgriff auf den Koran-Kommentar von Paret darlegen zu können, der über die arabische Bedeutung dieses Wortes schreibt: "In allen diesen Stellen bedeutet ªƒ¼ir bzw. ªa¼ƒr, dass sich jemand in einem jämmerlichen Zustand der Machtlosigkeit befindet."720

716

Zitiert bei: Braude, Benjamin: Foundation Myths of the Millet System, in: Braude/Lewis, Vol.I, S.79.

717

Siehe dazu u.a.: Rozen, Minna: Strangers in a Strange Land: The Extraterritorial Status of Jews in Italy and the Ottoman Empire in the Sixteenth to the Eighteenth Centuries, in: Aron Rodrigue (ed.), Ottoman and Turkish Jewry. Community and Leadership, Indiana University Turkish Studies 12, Bloomington 1992, S.125 u. 155, Anm.3.

718

Cahen, S.140.

719

Koran, Sure 9.29, in der Übersetzung von Hennnig, S.184.

720

Paret, zitiert bei Binswanger, S.20.

111 Man braucht diese Debatte indes nicht nur auf diesen Vers einzuschränken. Ähnliches findet sich auch an anderen Stellen im Koran. An das "Volk der Schrift" wenden sich auch die Verse 106 bis 108 der Sure 3, wo es dann in Vers 108 heißt: "Mit Schmach werden sie geschlagen, wo immer sie getroffen werden, außer sie seien in der Fessel Allahs und in der Fessel der Menschen." Das Gleichnis mit den Fesseln wird von Henning auch gleich in einer Fußnote zum besseren Verständnis 'eingedeutscht', indem er diese Stelle dort so interpretiert: "D.h. es sei denn, dass sie sich zum Islam bekehren oder sich unterwerfen."721 Dem stehen aber andererseits auch andere Koranstellen gegenüber, in denen es beispielsweise wie in Sure 2.59 heißt: "Siehe sie, die da glauben, und die Juden und die Nazarener und die Sabäer722 – wer immer an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und das Rechte tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und Furcht kommt nicht über sie, und nicht werden sie traurig sein." Ähnlich lautet auch Sure 5 Vers 73 und Sure 3.57 – in anderen Übersetzungen auch 3.64 – gilt manchen gar als jene Stelle, an der lessing'scher Geist zu erkennen sei und ein dialogbereiter Islam mit Christen und Juden von 'gleich zu gleich' sprechen wolle: "Sprich: 'O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns, dass wir nämlich Allah allein dienen und nichts neben ihn stellen und dass nicht die einen von uns die andern zu Herren annehmen neben Allah.'" Diese Aufforderung "zu einem Vergleich"723 bedeutet aber keinen Verzicht des Islam auf den Anspruch, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein, denn am Schluss dieser Sure heißt es: "Und so sie den Rücken kehren, so sprechet: 'Bezeuget, dass wir Muslime sind'." Mit diesem absoluten Wahrheitsanspruch steht der Islam jedoch in der Reihe der monotheistischen abrahamitischen Religionen nicht allein da und auch dem Dialog zwischen den christlichen Konfessionen selbst hat sich gerade ein solches Hindernis nicht selten in den Weg gestellt. Die buchstabengetreue Auslegung des Vertrages des 'Umar jedoch bestimmte als "communis opinio"724 das Denken der Rechtsgelehrten spätestens seit dem 9. Jahrhundert – aber nicht immer die Rechtspraxis und die tatsächlich exekutierte Minderheitenpolitik, die sich weit liberaler gestalten konnte. Da sich aber die libanesischen Islamisten zuerst eher dieser "communis opinio" anschlossen, fürchten sich die Christen des Landes heute vor einer Redegradierung "zu einem Status des dhimmi oder Bürgers zweiter Klasse unter muslimischem Schutz". 725

6.6.2 Die Schurut-rechtlichen Grundlagen des modernen "Islamischen Systems" und die "Autonomie" der nicht-muslimischen Gemeinschaften im Dar 'ul-Islam Doch das heute propagierte Modell des 'Islamischen Systems' vermittelt kein einheitliches Bild. So setzt zwar das 'iranische Modell', das zum Vorbild der libanesischen Islamisten wurde, wie der Gottesstaat der Taliban auch, die politische "Machtlosigkeit" von Andersgläubigen voraus. Es hat diese aber anders als in Afghanistan keinen stigmatisierenden Kleiderordnungen – im Sinne von "Unterscheidung" – unterworfen. 721

Der Koran in der Übersetzung von Henning, S.77, Anm.21.

722

Johanneschristen.

723

Ebd., S.72, Anm.15.

724

Motzki, S.83.

725

Dagher, S.18.

112 Das Vorbild der Schurut-Regelungen lässt sich jedoch auch im Falle Irans eindeutig erkennen. Die politische "Machtlosigkeit" der Andersgläubigen offenbart sich so u.a. darin, dass sie – mit Ausnahme der im Parlament für sie vorbehaltenen Sitze – über kein passives Wahlrecht verfügen, nicht für das Präsidentenamt kandidieren dürfen, keine Funktionen in der Armee, der Justiz oder den anderen Sicherheitskräften übernehmen dürfen und Anstellungen im öffentlichen Dienst nur denjenigen vorbehalten sind, die den "Prinzipien und Regeln des Islam" gehorchen. Ihr Zugang zu Universitäten ist eingeschränkt und Schuldirektoren dürfen sie ebenfalls nicht werden. 726 Die vom Schurut-Recht als "Gegenleistung" für die Anerkennung "der muslimischen Autorität"727 gewährte Autonomie der Dhimmi-Gemeinden wird auch von der iranischen Verfassung garantiert. Sie erklärt, dass die "anerkannten religiösen Minderheiten", das sind "Zoroastrier, Juden und christliche Iraner" "frei" darin sind, "ihre religiösen Riten und Zeremonien" "innerhalb der gesetzlichen Grenzen" auszuüben und "im Einklang mit ihrem eigenen Kanon in Angelegenheiten der personalen Affären" (d.h. in personenstandsrechtlichen Fragen, Anm. d. Verf.) "und der religiösen Erziehung zu handeln". 728 Dem Buchstaben nach orientieren sich die iranische Verfassung und ihr Minderheitenrecht an den klassischen Modellen eines "islamischen Staates", wie er einer auch das Osmanische Reich war. Stanford J. Shaw schildert diese Autonomie von nicht-muslimischen Gemeinschaften im Reich der Ottomanen daher auch in folgender Weise: "In jenen Bereichen des Lebens, deren Organisation sich nicht in Händen des Staatsapparates (...) befand, stand es den Untertanen frei, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wünschten (...). Die grundlegende vertikale Strukturierung der Untertanen wurde von der Religionszugehörigkeit bestimmt. Jede religiöse Gruppe durfte sich als weitgehend selbstbezogene und autonome Gemeinschaft, genannt millet, mit ihren eigenen Gesetzen und mit einer eigenen Verwaltungsstruktur unter ihrem jeweiligen religiösen Oberhaupt organisieren (...)." Dieses Oberhaupt "(...) war gegenüber der herrschenden Klasse des Reiches für die Erfüllung der Pflichten und Aufgaben der millet-Mitglieder verantwortlich, insbesondere für das Steuerzahlen und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (...). Die millet nahmen also zahlreiche soziale und administrative Funktionen wahr, die nicht als in den Rahmen der Staatsaufgaben fallend betrachtet wurden, wie etwa Heiraten, Scheidungen, Geburten und Todesfälle, Gesundheitsfürsorge, Erziehungswesen, öffentliche Ordnung und Rechtspflege. Jede millet unterhielt darum ihre eigenen Schulen, Hospitäler, Wohlfahrtseinrichtungen und Gerichtshöfe (...)."729 Deswegen aber von einem millet als von "einer Art 'Staat im Staate' zu sprechen" lehnt Binswanger ab.730 Und auch Shaw grenzt ja die Autonomie der Dhimmi-Gemeinden auf jene Bereiche ein, die nicht direkt zu den "Staatsaufgaben" gehörten. Die islamische Geschichte durchzieht zudem das Problem der juristischen Kompetenzabgrenzungen. In zivilrechtlichen und personenstandsrechtlichen Fragen sind die Gerichte der Dhimmis zuständig und Juynboll stellte für die

726

2000 Annual Report on International Religious Freedom : Iran. Released by the Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor, U.S. Department of State, September 5, 2000. http://www.state.gov/www/global/human_rights/irf/irf_rpt/irf_iran.html (Abgerufen am 23.5.2001).

727

Motzki, S.83.

728

Islamic Republic of Iran Constitution: 1- General Principles, Article 13.

729

Shaw, S.90f.

730

Binswanger, S.149.

113 Andersgläubigen im Islam auch fest: "Dem islamischen Strafgesetz unterstehen sie (...) nicht, abgesehen von den Fällen, in denen sie auch nach ihrem eignen Religionsgesetz strafbar sind."731 Diese Konditionen sind Ausfluss des personalen, nicht territorialen Rechtsverständnisses des Islam. Personal muss dies ja auch sein im Hinblick auf die Tatsache, dass der Islam einerseits ein eigenes religiöses Recht entwickelt hat, das nur auf Muslime angewandt werden kann, andererseits, dem Koran folgend, keine Zwangsbekehrung unter den christlichen und jüdischen Bevö lkerungsgruppen in den damals eroberten Gebieten möglich war. 732 Doch ist a priori schon ein mit der shari'a Vergleichbares christliches Strafrecht nicht vorauszusetzen. Des Weiteren stellt sich das Problem interkonfessioneller juristischer Auseinandersetzungen. Auf diesem Gebiet zeigt sich schon die Suprematie der islamischen Rechtsprechung bzw. Gerichtsbarkeit, denn diese zieht z.B. automatisch alle Fälle, bei denen "– eine der beteiligten Parteien Muslim ist oder – die prozessierenden ¯imm¾s nicht der gleichen Konfession angehören (...)" an sich. 733 Letztlich bleibt festzustellen, dass bei allen Fällen von Kompetenzüberschne idungen nicht das Wort des Patriarchen oder des Rabbi, sondern das des Kadi zählt. Die plurale Organisationsstruktur der ethnisch und konfessionell fragmentierten Gesellschaften im Dar 'ul-Islam ist damit wie im Falle des Osmanischen Reiches nur in Bezug auf die Ebene der millets der Dhimmis als eine vertikale anzusehen. Was das Verhältnis dieser Dhimmi-millets zu dem der Muslime anbetrifft, ist eine – um Shaw hier zu präzisieren – horizontale Unterordnung unverkennbar. Von den Körperschaften der Andersgläubigen im Islamischen Staat zustehenden Kompetenzen könnte man daher staatsrechtlich als von Residualkompetenzen sprechen und von der sog. Autonomie der millets als von einer Residualautonomie. Dass dieses Modell die Kata'ib, die gewohnt ist, für die Christen im Libanon die politische Führungsrolle zu reklamieren, nur wenig begeistern kann, ist vor diesem Hintergrund verständlich. 734 Und auch heute scheint trotz anders lautender Verlautbarungen das Projekt einer "Islamischen Republik Libanon" als Fernziel noch lange nicht aus der Programmatik der Hizbollah verschwunden zu sein. So rief die "Partei Gottes" auch die Christen zu einem Dialog auf, dessen eigentlichen Sinn und Zweck sie aber gar nicht verhehlt: "Wir rufen die Anderen zum Islam auf, so wie jeder Andere zu seinen Ideen auffordert." Und: "Wenn die Menschen vom Islam überzeugt werden, so ist es selbstverständlich, dass der Islam herrschen wird. Wenn uns dies aber nicht gelingt, wird er wie jede andere politische Richtung mit den anderen Bewegungen (...) zusammenarbeiten." Der anzustrebende Idealzustand aber

731

Juynboll, Th. W.: Handbuch des islamischen Gesetzes nach der Lehre der schafi'itischen Schule, Leiden/Leipzig 1900, S.354.

732

So heißt es in Sure 2.257: "Es sei kein Zwang im Glauben. Klar ist nunmehr unterschieden das Rechte vom Irrtum; und wer den Tâghût verleugnet" (d.h. wer nicht der Vielgötterei anhängt, Anm. d. Verf.) "und an Allah" (in diesem Sinne der 'eine Gott' und damit auch der der Christen und Juden) "glaubt, der hält sich an der stärksten Handhabe, in der kein Spalt ist; (...)."

733

Binswanger, S.151f.

734

Dies auch trotz der Tatsache, dass die Maroniten nur wenig 'direkte' Erfahrung mit diesem millet-System gemacht haben, da die Osmanen ihre Gebiete als 'abgelegen' betrachteten, sie nur 'indirekt' beherrschten und das – territoriale – Emirat des Libanon quasi 'neben' der ansonsten und im Kernland anzutreffenden staatlichen Organisationsstruktur stand.

114 bleibt jener, in dem die "überwältigende Mehrheit (...) zum Islam" bekehrt sein wird, und ein Islamisches System errichtet werden kann. 735 Das alles erinnert augenfällig an den Vers 3.57 bzw. 3.64 des Koran und an die dortige Auffo rderung "(...) kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns (...)." Pragmatische und taktische Anpassungsfähigkeit an die von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen in der Bevölkerung abhängige Durchsetzungsmöglichkeit islamischer Rechtsvorstellungen scheint ein Charakteristikum 'islamischer Politik' seit jeher zu sein.

6.6.3 Das islamische Minderheitenrecht in der Geschichte: Toleranz, Intoleranz, Pragmatismus und Sachzwänge Die erste historisch erkennbare Wende hin zu einer restriktiven Rechtsauslegung der SchurutBestimmungen, hin zur Zurückdrängung der Dhimmis aus den öffentlichen Ämtern fiel in eine Epoche, in der, wie Cahen schreibt, "die Islamisierung" der Gesellschaft "beginnt" und z.B. "mehr Araber unter den Gewerbetreibenden sind". Nun ging es darum, "dem Bild einer wahrhaft islamischen Gemeinschaft" zu "entsprechen". 736 Dies scheint die Thesen Binswangers zu bestätigen, der über den Phasenablauf der Islamisierung der Gesellschaften des Orients schrieb: "Solange die Muslime in einem neu eroberten Land zahlenmäßig in der Minderheit sind, ist ein relativ ungetrübtes Zusammenleben mit den ¯imm¾s nachweisbar (...) Mit dem Erstarken des Islam geht eine šimmi-feindliche, diskriminierende Politik parallel (...)."737 Ist damit auch der von Tibi beschworene und zum Leitbild erhobene Islam von Cordoba, wo "im Mittelalter eine vormoderne Form interreligiöser Toleranz zwischen Juden, Christen und Muslimen praktiziert wurde", 738 allein damit zu erklären, dass die Muslime in Spanien trotz Ausübung der Herrschaft eine zahlenmäßige Minderheit geblieben waren? Doch wenn Binswanger für das Osmanische Reich des 16. Jahrhunderts eine beginnende Zurückdrängung des christlichen und des jüdischen Elements ausmacht, so hat Findley andererseits darauf hingewiesen, dass gerade zu dieser Zeit und bis hinauf in das 18. Jahrhundert, wenngleich auch proportional unterrepräsentiert, Dhimmis in "offiziellen und semioffiziellen Positionen" im Herrschaftssystem der Osmanen zu finden waren. 739 Binswanger hat die 'Toleranz' einiger Sultane auch mit "ökonomischen Zwängen" begründet und erklärt, dass diese Herrscher sehr wohl wussten, "dass man das Huhn, von dem man goldene Eier erwartet, nicht schlachten darf". 740 Dafür scheint zu sprechen, dass die arabischen Khalifen zunächst an einem massenhaften Übertritt der Bevölkerung der eroberten Gebiete zu ihrer Religion kein Interesse zeigten. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind jene Gesetze, die in der Frühphase der islamischen Ge735

Zitiert bei Rosiny, S.220ff.

736

Cahen, S.105.

737

Binswanger, S.6.

738

Tibi ( 2000), S.25.

739

Findley, Carter V.: The Acid Test of Ottomanism: The Acceptance of Non-Muslims in the Late Ottoman Bureaucracy, in: Braude/Lewis, Vol. I, S.340.

740

Binswanger, S.14.

115 schichte sogar den Übertritt zum Islam verboten – und deren steuerrechtliche Begründung. Auch Cahen hat auf die Haltung des frühen islamischen Staates hingewiesen, der mit solchen Maßnahmen verhindern wollte, dass er "einen Teil seiner Einkünfte verlor". 741 Und diesen Teil der staatlichen Einkünfte stellten die Einnahmen aus der Kopfsteuer dar. Mit Hilfe dieser Steuer hatte der islamische Staat einen lukrativen Anteil aus dem Wohlstand und aus dem Gewinn aus den Geschäften der Handel treibenden christlichen und jüdischen Oberschichten des Vorderen Orients abschöpfen können. Als diese die lästige Sondersteuer abschütteln und zum Islam übertreten wollten, untersagte dies der Staat nicht selten und als diese ökonomische und steuerrechtliche Konversionsbewegung schließlich nicht mehr aufzuhalten war, belastete man die Konvertiten ebenfalls wieder mit Sondersteuern. 742 In dieser Diskriminierung von "nicht-arabischen Konvertiten" erblicken heute einige Autoren den Auslöser für die Restriktivierung der Minderheitengesetzgebung ab dem 8. Jahrhundert. Sie sehen vor allen Dingen in den mawâlî, jenen persisch-stämmigen Konvertiten, die in der Bürokratie des Abbasiden-khalifats aufgestiegen waren, die Urheber der Schurut-Gesetzgebung, da sie die ihnen geltende Diskriminierung auf die nächst-untergeordnete Ebene quasi 'weiter'- bzw. 'umleiten' wollten. 743 Die daraus abgeleitete fragwürdige These von Chabry und Chabry, dass aus all diesen Gründen der Verbindung von Arabismus und Islam nicht-arabische Muslime eine Nicht-Muslimen gegenüber intolerantere Haltung zeigen als arabische Muslime, ist nicht nur eine gefährliche Verallgemeinerung, sondern auch eine pseudo-politikwissenschaftliche, anhand nur eines einzigen Fallbeispiels elaborierte Gesetzmäßigkeit, die keiner geschichtswissenschaftlichen Betrachtung standhält. Schon ein Blick auf den türkisch-seldschukischen Staat des 12. Jahrhunderts, wo "die eingeborenen Christen (...) tolerant behandelt" wurden744 , beweist dies. Allerdings stellten die Christen im seldschukischen Staat zu diesem Zeitpunkt noch die Bevölkerungsmehrheit dar, was wieder – ebenso wie das Beispiel der Kopten in Ägypten, die dort "die öffentlichen Ämter (...) fast allein in ihrem Besitz" hatten, so lange sie eben die "Mehrheit der Bevölkerung"745 stellten – zu Binswanger zurückführen könnte. Doch war in Ägypten die unter den Tuluniden ab dem Jahre 884 einsetzende Intoleranz Christen und Juden gegenüber keine Folge sich verändernder Mehrheitsverhältnisse, sondern diese konfessionell-demografische Veränderung Folge einer tulunidischen Politik, die zum Ziel hatte, "den Einfluss der großen koptischen Familien zurückzudrängen (...)"746 . Auf der anderen Seite werden die auf die Tuluniden dann folgenden Fatimiden sich wieder Juden und Christen gegenüber "außerordentlich entgegenkommend" zeigen und "die Verwaltung weitgehend šimmis (...) übertragen". 747

741

Cahen, S.47.

742

Ebd.

743

Chabry, Laurent/Chabry, Annie: Politique et minorités au Proche-Orient. Les raisons d'une explosion, Paris 1984, S.30ff.

744

Cahen, S.304.

745

Ebd., S.257f.

746

Ebd., S.259.

747

Ebd., S.264.

116 Und jenes Spanien des von Tibi so verklärten Islam von Cordoba ist in der Geschichte andererseits auch eine Region des erklärtesten religiösen Fanatismus gewesen, wo ab dem 12. Jahrhundert unter den Almoraviden und Almohaden "ein Geist der Intoleranz gegen die Nicht-Muslime" Einzug hielt, die dort aber die Mehrheit geblieben waren. 748 Der Hinweis Cahens auf die weltoffene Wirtschaftspolitik der Fatimiden indes, die an Rohstoffen aus Italien wie an den "Mittelmeermärkten" generell interessiert waren, führt zu einem der wesentlichsten Gründe ihrer Politik. Denn Cahen schreibt: "Diese Politik setzte gute Beziehungen zu den Christen und Juden der anderen Staaten voraus (...)."749 Und welche 'Untertanen der Khalifen' eigneten sich hier als Mittelsmänner besser als jene christlichen und jüdischen Kaufleute und Händler, die auf diesen Märkten schon fast zu Hause waren? Und auch Metin Kunt schreibt über die Dhimmis im islamischen Staat: "(...) wenn ihre Talente und ihre Erfahrung unverzichtbar waren, besetzten manche Nicht-Muslime auch wichtige Posit ionen in ziemlich großer Anzahl in der Bürokratie und sogar in der Armee."750

6.7

Die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des Dhimmi

Generell "garantiert" das islamische Minderheitenrecht den Dhimmis die "Unverletzlichkeit des Eigentums" und die "Freiheit der Verträge, des Handels und des Gewerbes". 751 Abgesehen von Regelungen, die den Verkauf von Wein und Schweinefleisch betreffen – die den Muslimen ja verboten sind – und von Bestimmungen, die unterbinden wollen, dass ein Dhimmi bei einem Geschäft mit einem Muslim zum Kommanditär oder auch Kommanditisten wird, gibt es – so Fattal – keine schwer wiegenden rechtlichen Einschränkungen für das nicht-muslimische Wirtschaftsleben in der islamischen Welt. 752 Trotz der Kappung der alten Handelswege des Mittelmeeres als Folge der islamischen Expansion noch bis zum 11. und 12. Jahrhundert waren Nicht-Muslime in der Gruppe der Kaufleute und der Händler für die Wirtschaft des Orients ein unverzichtbares Element geblieben. Und im zaghaft sich anbahnenden Ost-West-Handel, auf den ersten Handelsrouten "vom christlichen oder islamischen Westeuropa" durch den Dar 'ul-Islam bis nach China sind jüdische Kaufleute zu finden. Selbst im innerislamischen Handel sind neben den Muslimen alle Religionen präsent: "(...) Christen, Juden und Zarathustrier, Buddhisten in Zentralasien und mancherorts Manichäer."753 Sollte der islamische Herrscher dieses Huhn, um beim Binswanger'schen Bild zu bleiben, etwa schlachten? Er musste doch Interesse an einem prosperierenden Handel haben und ihm ging es wie beim Steuerrecht darum, einige der hier gelegten "goldenen Eier" für die eigene Staatskasse einzustreichen. So gibt es analog zur Kopfsteuer nicht uninteressante, auf die Rechtslehre zurückzuführende, 'religionsspezifische' Zollbestimmungen, die bei der Wareneinfuhr in islamische

748

Ebd., S.309.

749

Ebd., S.264.

750

Kunt, Ý. Metin: Transformation of Zimmi into Askerî, in: Braude/Lewis, Vol I, S.56.

751

Fattal, S.144.

752

Ebd., S.146f.

753

Cahen, S.184f.

117 Länder eine Abgabe von fünf Prozent verlangen, wenn der Händler bzw. der Importeur ein Dhimmi ist und nur zweieinhalb Prozent, wenn er ein Muslim ist. 754 Cahen erwähnt auch andere "Sonderabgaben, etwa für den Handel", die Nicht-Muslime zu entrichten haben. Zu sehr abmagern wollte man das Huhn aber auch nicht lassen. Zu pragmatischen Konzessionen war die Wirtschaftspolitik der Khalifen und Sultane so z.B. auch im Hinblick auf "den Bedarf an bestimmten Waren" bereit, sodass die Zollsätze variierten und je nach Bedarf und Belieben gesenkt oder auch angehoben wurden. 755 Auf die Rolle der millets und ihrer Vertreter im Osmanischen Reich als "Mittelsmänner zw ischen den muslimischen Massen und (...) dem europäischen Kapital" hat Issawi hingewiesen. Christen und Juden bildeten eine "unternehmerische kleine Bourgeoisie von Händlern, Geldverleihern, Maklern und Kommissionären" und waren damit eine Relaisstation im europäischorientalischen Kapital- und Warenverkehr. Auch benötigte die sich diversifizierende osmanische Gesellschaft spätestens im 19. Jahrhundert dann ihre "Fähigkeiten", ihre Qualifikationen in Berufen wie denen des Ingenieurs, des Technikers oder des Anwalts. 756 Als Folge von "Wohlstand und Macht" konnten Dhimmis sogar "hohe Regierungsbeamte" werden. Doch das bei weitem markanteste Beispiel der pragmatischen Auslegung rechtlicher Vorschriften unter dem Eindruck volkswirtschaftlicher und realpolitischer Erfordernisse liefert der oben genannte Fall der Zoroastrier, denn sie sind eigentlich kein "Volk des Buches".

6.8

Die Rechtspraxis islamischer Minderheitenpolitik zwischen pragmatischer Flexibilität und Prinzipientreue

Der Koran selbst weiß an vielen Stellen genau zu unterscheiden zwischen den 'Andersgläubigen', "welchen die Schrift vor euch gegeben ward"757 und den "Ungläubigen", die der Vielgötterei anhängen, und von denen es in Sure 3.112 heißt: "Siehe die Ungläubigen, nimmer sollen ihnen Gut und Kinder etwas vor Allah helfen; und jene sind des Feuers Gefährten, und ewig sollen sie darinnen verweilen."758 Sind die Christen und Juden, wie in Sure 2.257 nachzulesen ist und wie oben dargestellt wurde, keinem "Zwang im Glauben" unterworfen, so gilt dies für Polytheisten und für solche, die keine Schriftbesitzer sind, nicht. Die Zoroastrier bzw. Anhänger der zarathustrischen Kirche, die im sassanidischen Persien vor der arabischen Eroberung "Staatskirche" gewesen war, wurden aber schon bald von "den neuen Herren" – wie Cahen schreibt – "wohl oder übel den anerkannten Schriftreligionen gleichgestellt", indem deren heilige Schriften zu einem Buch erhoben wurden "das der jüdischchristlichen Bibel vergleichbar wäre". 759 754

Fattal, S.155.

755

Cahen, S.111 u. 192.

756

Issawi, Charles: The Transformation of the Economic Position of the Millets in the Nineteenth Century, in: Braude/Lewis, Vol. I, S.261f.

757

Sure 5.62.

758

Diese dichotomische Unterscheidung ist aber nicht überall im Koran so erkennbar. So heißt es in Sure 5.77: "Wahrlich, ungläubig sind, die da sprechen: 'Siehe, Allah ist ein dritter von drei'", was sich auf die Dreifaltigkeitslehre bezieht.

759

Cahen, S.89 u. 245.

118

Das gleiche Muster lässt sich auch im Falle der Hindus erkennen, denen schon kurz nach der Eroberung des Sind von den Khalifen in Damaskus ebenfalls der Dhimmi-Status zuerkannt worden war. Dabei handelte es sich, wie die Indologie-Professoren Embree und Wilhelm schreiben, nicht etwa "um religiöse Toleranz im modernen Sinne, sondern um politische Klugheit". 760 Diese "Klugheit" half dabei, eine islamische Herrschaft "inmitten einer nicht-islamischen Bevölkerung" zu etablieren und diese für Jahrhunderte zu festigen. Von diesem Gespür für das angesichts der gegebenen demografischen Mehrheitsverhältnisse realpolitisch Machbare und vor allen Dingen Sinnvolle zeugt die Geschichte des Sultans Iltutmish, der einmal von den 'Ulama "auf seine Pflicht aufmerksam" gemacht wurde, die Hindus, die keine Schriftbesitzer seien, vor die Wahl zu stellen: "Tod oder Annahme des islamischen Glaubens (...)." Die Antwort des Sultans, "dass unter solchen Bedingungen die Hindus sich erheben und die mohammedanischen Herrscher besiegen könnten"761 , ist in diesem Sinne viel sagend genug. Der Wunsch nach Etablierung und Stabilisierung der islamischen Herrschaft ging allerdings auch hier immer einher mit konkreten fiskalischen und wirtschaftlichen Interessen. Denn in den Sultanaten und Khalifaten, die wie etwa Gudscharat, Drehscheiben des Seehandels zwischen dem Nahen und dem Fernen Osten waren oder die wie das Mogulreich die "Kontrolle des Handels im Arabischen Meer" innehatten, bescherten die Sondersteuern und -abgaben der Staatskasse nicht unbeträchtliche Einnahmen. 762 Das alles bedeutet allerdings nicht, dass die Geschichte der Mogul-Herrscher in Indien nicht von Wechselfällen frei gewesen wäre. Auf Perioden, in denen, wie unter dem berühmten Akbar dem Großen (1556-1605) z.B. "die unterschiedliche Behandlung von Hindus und Muslimen im zivilen wie militärischen Staatsdienst ganz aufgehoben" wurde, 763 folgten solche, in denen diese Entscheidungen wieder revidiert wurden. Und dies führt auch zum Kern der islamischen Minderheitenpolitik. Und das heißt: Islamische Herrscher mögen, solange sie sich als solche verstanden, das Schurut-Recht auch noch so freizügig ausgelegt haben und zum Vorteil der Dhimmis bis zum Äußersten regelrecht 'gebeugt' haben. Aufgehoben oder staatsrechtlich außer Kraft gesetzt haben sie es nie! Und so blieb der Dhimmi auch immer und egal in welcher Position der "Schutzbefohlene" des Sultans bzw. Khalifen, dessen Privilegien anders als ein grundlegendes Bürgerrecht jederzeit widerrufen werden konnten. Für den jüdischen Menschen, der vor einem halben Jahrtausend den Scheiterhaufen der Inquis ition entkommen war, stellte zweifelsohne die Flucht in den Dar 'ul-Islam nicht nur die reine Lebensrettung, sondern auch eine rechtliche Besserstellung im Vergleich zu seiner vorherigen Lage dar. Im Gegensatz zum blindwütigen religiösen Eifer der Conquestadores, in deren Vorstellungswelt es noch nicht hineinpasste, dass in einem Staat des Abendlandes auch Andersgläubige ein Lebensrecht haben könnten, stellte ein 'Vertragsverhältnis', das zumindest die Beibehaltung eines anderen Glaubens garantierte, damals "Toleranz" dar. Denn die Vorstellung islamischer Herrscher von der Verbreitung ihres Glaubens, die nicht Bekehrung um jeden Preis, sondern 'nur' 760

Embree, Ainslie T./Wilhelm, Friedrich: Indien. Geschichte des Subkontinents von der Induskultur bis zum Beginn der englischen Herrschaft; Weltbild Weltgeschichte, Band 17, Augsburg 1998, S.181.

761

Ebd., S.195.

762

Vgl.: Ahmad, Aziz: Indien, in: Grunebaum, S.227f., S.249 u. 276.

763

Ebd., S.230 u. 249.

119 Unterwerfung bedeutete, schien ein größeres Maß an individueller Religions-'freiheit' zu gewährleisten als noch das frühneuzeitliche abendländische "Taufe oder Tod" der "'Indianerproklamation' von 1513" oder auch als der "Grundsatz 'cuius regio, eius religio'" des Augsburger Religionsfriedens von 1555.764 Doch das Modell dieses – inegalitären – Pluralismus wurde in den folgenden Jahrhunderten vom abendländischen Gesellschaftsmodell 'überholt'. Humanismus, Renaissance, Aufklärung, Reformation und Gegenreformation schufen bzw. erneuerten in Rückbesinnung auf die Welt der Antike nicht nur jenes Christentum, wie man es heute kennt, sondern brachten mit ihm auch die moderne Bürgergesellschaft hervor. Mochte der Pragmatismus der osmanischen Sultane, die das geistige, kulturelle und ökonomische Potenzial erkannt hatten, das die Sepharden, die Juden aus Spanien, mit sich brachten, auch 'liberaler' gewesen sein als der Dogmatismus eines Ferdinand von Aragon und einer Isabella von Kastilien, die selbst bei den "gewaltsam bekehrten Israeliten" noch deren "Kryptojudentum" "auszumerzen" sich anschickten. 765 'Liberal' im europäischen Sinne des 19. Jahrhunderts war er dann aber schon lange nicht mehr. Diesen 'europäischen' Weg zu beschreiten schickte sich indes auch das Osmanische Reich im Jahre 1839 offiziell an. Mit den berühmten Dekreten bzw. Sultanserlassen hatt-i serif (1839) und hatt-i hümayun (1856) wurde die Epoche der Tanzimat-Reformen eingeleitet, in der alle "Untertanen" des Sultans ohne Rücksicht auf ihre Religionszugehörigkeit "vor dem Gesetz gleichgestellt" werden sollten. 766 Doch hatt-i serif und hatt-i hümayun wurden zu Meilensteinen in der türkischen, nicht in der islamischen Geschichte. Die Epoche der Tanzimat-Reformen wies zwar einerseits in Etappen den Weg hin zur Gründung der modernen Türkischen Republik unter Atatürk, entfremdete jedoch gleichzeitig Teile der muslimischen Bevölkerung wie etwa in den arabischsprachigen Provinzen dem Herrscher in Istanbul. Und die Wahabiten auf der Arabischen Halbinsel stritten der "Ottomanischen Herrschaft" nun ihre "Islamische Legitimität" ab, mit den historisch bekannten Folgen. 767 Atatürk andererseits unternahm den Versuch, "den Islam so weit zu säkularisieren (...), dass er den Bedürfnissen einer modernen Gesellschaft Rechnung trug". 768 Doch beraubte er der islamischen Herrschaftslehre nicht ihres Kernstückes, wenn er das Khalifat abschaffte, die Religion vom Staat trennte und damit die den Herrschaftsanspruch der Osmanensultane untermauernden und legitimierenden "theokratischen Denkmuster"769 aufgab? Atatürk selbst hat erklärt: "Wir müssen uns der islamischen und orientalischen Tradition entziehen und der westlichen Zivilisation zuwenden."770 Bleiben Säkularismus und Islam unaufhebbare Widersprüche?

764

Salewski, Michael: Deutschland. Eine politische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Band 1, 800-1815, München 1993, S.83 u. 118.

765

Ruggiero, Romano/Tenenti, Alberto: Die Grundlegung der modernen Welt. Spätmittelalter, Renaissance, Reformation; Weltbild Weltgeschichte, Band 12, Augsburg 1998, S.223.

766

Shaw, S.125 u. 132.

767

Salibi, S.226.

768

Shaw, S.152.

769

Rill, Bernd: Die Türken zwischen Europa und Asien. Von der Schlacht von Malazgirt bis zum Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft; in: Politische Studien Nr.367, September/Oktober 1999, S.65.

770

Zitiert bei: Meier, Max Georg: Zwischen Tradition und Moderne. Spannungen innerhalb der türkischen Gesellschaft, in: Politische Studien Nr.367, S.71.

120 "Der Grundsatz des Säkularismus" ist so in der Türkei, weil, wie Max Georg Meier schreibt, "rigide" gehandhabt, nicht ohne "Gegenreaktion" geblieben. 771 Nicht ohne Grund aber beschäftigt sich heute der libanesische Wissenschaftler Nawaf Salam mit den Tanzimat-Reformen, den mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten und ihrem Scheitern. 772 Denn trotz aller Vorbehalte könnte sich nach der Meinung des Autors, der sich selbst als einen säkularen Sunniten bezeichnet, für den Libanon ein Ausweg aus der Krise finden lassen, wenn man im Nahen Osten an jener vor hundert Jahren abgebrochenen geschichtlichen Entwicklung wieder anknüpfen könnte.

7.

Grenzen und Möglichkeiten interreligiöser Koexistenz: der Libanon, ein Lehrbeispiel?

7.1

Das Modell der westlichen Demokratie zwischen Orient und O kzident: Demokratie und ethnische Fragmentierung

Für Nawaf Salam hat die verhängnisvolle "Einwirkung des Okzidents" auf den Orient im 20. Jahrhundert die Idee der Demokratie dort diskreditiert. In der Phase der Tanzimat-Reformen "hatten die okzidentalen Mächte die Einrichtung repräsentativer Institutionen im ottomanischen Reich gefördert", später jedoch an dessen Untergang gearbeitet. Als Mandatsmächte hätten sie dann nach dem Ersten Weltkrieg zwar "moderne Konstitutionen und Institutionen parlamentarischen Typs" im Nahen Osten geschaffen, diese jedoch oft selbst wieder außer Kraft gesetzt und abgeschafft oder sich manipulativer Eingriffe nicht enthalten. So sind die "neu geformten Staaten" und ihre Institutionen in der Region in den Augen der Einheimischen nur "«künstliche» Schöpfungen" und "kolonialistische Entwürfe" geblieben, von ihnen "zurückgewiesen" als "fremde" und eingepflanzte Gebilde.773 Bei den Tanzimat-Reformern sei jedoch "die Adaption okzidentaler Ideen" einhergegangen mit dem Versuch, diese Ideen mit den "Vorschriften des Islam und der sharî'a" in Einklang zu bringen.774 Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, könnte man das Jahr 1877 als das Jahr einer 'historischen Katastrophe' bezeichnen, in dem sich die Wege der – politischen – Kulturen des Orients und des Okzidents, die erst kurz zuvor zusammengefunden hatten, wieder trennen. Denn als in diesem Jahr Sultan 'Abdülhamid II das osmanische Parlament "sine die" 'suspendiert' 775 , setzt er damit einer Entwicklung ein Ende, die bis zu diesem Zeitpunkt in seinem Reich bereits eine Keimzelle für die Entstehung parlamentarischer Institutionen hatte heranreifen lassen, und dies in sehr viel ausgeprägterem Umfang als im 'europäischen' Russland. Die Klage darüber, dass die Politik der europäischen "Großmächte, die" nur "ihre eigenen imperialen Ziele" verfolgten, diese Tanzimat-Reformen zum Scheitern gebracht hat, wird heute vor allen Dingen von Autoren vorgebracht, die sich selbst als säkulare Muslime definieren. 776 Tat771

Meier, S.74.

772

Siehe: Salam, Nawaf: L'émergence da la notion de citoyenneté en pays d'Islam, S.107ff.

773

Salam, Nawaf: L'émergence de la notion de citoyenneté en pays d'Islam, S.127ff.

774

Ebd., S.110.

775

Shaw, S.133.

776

Karal, Enver Ziya: Non-Muslim Representatives in the First Constitutional Assembly, 1876-1877; in: Braude/ Lewis, Vol.I, S.399.

121 sächlich lieferte 1877/78 der Krieg mit Bosnien, Herzegowina, Serbien sowie Montenegro und vor allen Dingen die russische Invasion in dessen Folge 'Abdülhamid den außenpolitischen Vorwand für sein Vorgehen. 777 Die Folgen jenes 'Umbruchs', die vom Sultan selbst als Gegenreaktion auf den erzwungenen territorialen Rückzug an allen Grenzen des Reiches geförderte Verbreitung des panislamistischen Gedankenguts eines 'al-Afghani 778 – der allen Islamisten heute noch als einer ihrer geistigen Stammväter gilt – sind bis in die Gegenwart hinein zu spüren. Doch kam die Wende von 1877/78 durchaus nicht ad hoc, war doch allzu offensichtlich, dass der Sultan-Khalif nie gewillt war, sich auf die Rolle eines Staatsoberhauptes nach europäischem Vorbild reduzieren zu lassen. Von Volkssouveränität war so nie die Rede, da die Macht nie vom Volk, sondern nur von Gott ausgehe. Den theokratischen Herrschaftsanspruch des Khalifenamtes wollte 'Abdülhamid so von Anfang an unangetastet wissen. 779 Und auch Karal hebt bei all den Hindernissen, die den Tanzimat-Reformern im Wege standen, hervor: "Die muslimische Reaktion muss miteinbezogen werden."780 Nicht von ungefähr lassen sich aber Parallelen zwischen diesem osmanischen und dem libanesischen Verfassungsmodell erkennen. Eine Demokratie westlichen Zuschnitts zu schaffen schickten sich so weder die Tanzimat-Reformer noch die Väter der libanesischen Verfassung an. Mag der Libanon zu Recht auch als "der in der arabischen Welt am weitesten demokratisch entwickelte Staat" gelten und bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges noch "als Modell erfolgreicher Konkordanzdemokratie in multiethnischen Staaten" gehandelt worden sein781 , das politische System des Libanon aber stellt wie auch das Verfassungsmodell der Tanzimat-Reformer ein Koexistenzmodell für eine ethnisch und religiös fragmentierte und segmentierte Gesellschaft dar, die über keine kollektive nationale Identität verfügt. Auf die Unmöglichkeit, europäische Verfassungsmodelle in den Orient hinein implantieren zu können, hat schon Karal im Falle der Tanzimat-Ära verwiesen: "Die europäischen Verfassungen entwickelten sich aus vom Volk getragenen Revolutionen heraus in Staaten, die bereits einen Grad an nationalem Bewusstsein hatten. Das Ottomanische Reich war kein solcher Staat, eher war es eine Sammlung von verschiedenen Völkern."782 Auch für die libanesische Politik konstatierte Perthes, dass diese "in den seltensten Fällen national orientiert, (...) auf den gesamten Libanon bezogen" war, "sondern üblicherweise konfessionalistisch oder regionalistisch" ausgerichtet ist. Und: "(...); lokale Bosse, Abgeordnete und Minister (...) sahen sich zuerst als Repräsentanten ihrer lokalen oder konfessionellen Klientel. Parteien mit landesweiter Anhängerschaft und einer tatsächlich auf das gesamte Land bezogenen Politik entstanden, von kleinen, radikalen Gruppen abgesehen, nicht."783

777

Shaw, S.133.

778

Zu Dschamal 'ud-Din 'al-Afghanis Rolle in den "drei Ideologien" des 'Abdülhamid siehe u.a. ebd., S.135.

779

Siehe ebd., S.131ff. Der Autor geht gar davon aus, dass die Verfassung von 1876 nur erlassen wurde, "um ein Eingreifen der gerade zur Konstantinopel-Konferenz versammelten europäischen Mächte in innere Angelegenheiten des Osmanischen Reiches zu verhindern".

780

Karal, S.399.

781

Perthes, S.7.

782

Karal, S.391.

783

Perthes, S.58.

122 Unverkennbar ist a priori auch, dass das libanesische tawâ'if-System, d.h. das System der "communautés religieuses", seine historischen Wurzeln im osmanischen millet-System hat. Das osmanische System des "hierarchisierten Pluralismus" trug, wie Salam konstatiert, nicht nur zum Überleben der libanesischen Konfessionsgemeinschaften bei, 784 es stellte auch die Grundlage des Nationalpaktes dar. Die Delegierung personenstands- und zivilrechtlicher Fragen an die communautés, die religionsspezifischen unterschiedlichen Formen des "droit successoral" im Libanon785 – des hanafitischen z.B. für die Sunniten – stellen fast schon ein Spiegelbild osmanischer bzw. islamisch-minderheitenrechtlicher 'Vertragsverhältnisse' dar. Anders als im millet-System sollte nun aber im tawâ'if-System die hierarchische Unterordnung der verschiedenen andersgläubigen 'Gemeinschaften' unter eine einzige unterbleiben, d.h. der Staat als solcher nicht mehr nur einem millet quasi 'gehören'. Nicht mehr Exklusion, sondern Inklusion, nicht mehr Ausschließlichkeit und Abgrenzung, sondern korporative Machtverteilung sollten die politische Partizipation aller kommunitären Subsysteme auf der Ebene des nunmehr 'gemeinsamen' Staatswesens gewährleisten. Diesen Schritt zu tun indes schickten sich auch schon die Tanzimat-Reformer 1876 an. Und da die Gewährleistung dieser Partizipation eben durch Wahlen erfolgt, lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen dem 1876 im Falle der ersten osmanischen Parlamentswahl angewandten Wahlmodus und dem libanesischen Wahlrecht erkennen. In beiden Fällen ging und geht es ja darum, nicht in erster Linie eine 'Volkswahl' durchzuführen, sondern darum, einen interkommunitären Interessenausgleich herbeizuführen. Stehen im Libanon in jedem der – heute fünf – Wahlbezirke jeder communauté eine ihrem proportionalen Bevölkerungsanteil entsprechende Anzahl von Parlamentssitzen zu786 , so sollte 1876 auch "die Zahl der muslimischen und nicht-muslimischen Repräsentanten aus jeder Provinz" – ohne Istanbul – in erster Linie die dortigen ethnischen und religiösen Mehrheitsverhältnisse "reflektieren". 787 Parteien waren und sind in beiden Fällen unwichtig bzw. auch non-existent. Inkorporativer in interkommunitärer Hinsicht wurde das libanesische Wahlgesetz freilich dadurch, dass anders als im osmanischen Falle – wo die Abgeordneten über die millet-Räte gewählt wurden788 – hier durch das rein geografisch-territoriale Wahlkreis-Einteilungsmuster z.B. auch christliche Wähler über die Besetzung eines muslimischen Parlamentssitzes mitentscheiden können. Das hat im Endeffekt nichts daran geändert, dass sich, wie Perthes schon festgestellt hat, die jeweils Gewählten als Vertreter nur ihrer eigenen communauté verstehen. Und damit wird auch deutlich, dass die Parlamente damals in Konstantinopel wie in Beirut heute keine "Volks"-vertretungen im westlichen Sinne waren und sind, und die Abgeordneten in ihrer Gesamtheit keine Nation repräsentieren. Freilich könnte man diesen Häusern jene Funktion zuordnen, die eine Zweite Kammer in einem föderalen System erfüllt, wo die einen Gesamtstaat konstituierenden Gliedstaaten zusammentreten und wo dann eben im System eines nicht mehr territorialen, sondern personalen Föderalismus die communautés die nicht territorial definierten Gliedstaaten darstellen. Aber das alles würde auch hier ein auf diese Gesamtheit bezogenes Zu784

Salam, La condition libanaise, S.30.

785

Ebd., S.33f. u. 54.

786

Zum Wahlrecht siehe Perthes, S.61ff., und für die Zeit vor dem Abkommen von Ta 'if Hanf, S.94 und Schiller.

787

Karal, S.393.

788

Shaw, S.131.

123 sammengehörigkeitsgefühl voraussetzen, das man als 'libanesisches Nationalempfinden' bezeichnen könnte. Doch ist für Salam die "Lebanese Nationality", die in Artikel 6 der Verfassung beschworen wird, nichts anderes als eine Farce. Denn die Libanesen "werden in der Realität nur als Mitglieder der Gemeinschaften behandelt, denen" – und nicht dem Individuum, – "die verschiedenen politischen Rechte zugesprochen werden". 789 Und so macht der Autor einen Widerspruch zwischen Verfassungstheorie und Verfassungsrealität aus. Denn die Konstitution, die Hanf noch schwärmerisch als Ausfluss einer "jakobinisch beeinflussten Staatsdefinition" bezeichnet790 , werde vor allen Dingen durch die konfessionalistische Verteilung von Macht und Ämtern zu einer bloßen Ansammlung leerer Buchstaben degradiert. Denn konfessionalistischer Proporz widerspreche in jedem Falle dem Gleichheitsgrundsatz. So fragt Salam: Wie könne jener diesen Gleichheitsgrundsatz betreffende Artikel der Verfassung ("Alle Libanesen sind gleich vor dem Gesetz. Sie genießen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte (...) ohne welche Unterscheidung auch immer."791 ) ernst genommen werden, wenn z.B. das Amt des Präsidenten, des Ministerpräsidenten oder des Parlamentspräsidenten, wenn alle Ämter in Verwaltung und öffentlichem Dienst jeweils bestimmten communautés zugeschrieben werden und damit kein Libanese auf Grund von Qualifikation Zugang zu diesen Positionen hat? 792 Salam weist dem Konfessionalismus die Schuld an der Verfestigung der cleavage-Strukturen in der libanesischen Gesellschaft zu. Andererseits aber legt schon der Blick in die Geschichte die Vermutung nahe, dass dieser Konfessionalismus genau umgekehrt eben der Ausdruck konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse im Libanon sowie im Vorderen Orient überhaupt sein könnte. Für die libanesischen Verfassungsväter zumindest stellte dieses System die einzige Möglichkeit dar, die Koexistenz so unterschiedlicher Volks- und Religionsgruppen in einem Staatsverband zu Gewähr leisten. Alles andere, so Michel Chiha, wäre gegen die "Natur der Dinge" gegangen. 793 Es ging also letztlich darum, einen "modus vivendi" zwischen den communautés zu finden, und nicht darum, einen wirklichen Gemeinsinn zu schaffen, es ging um state-building ohne nationbuilding. Auch westliche Wissenschaftler würden dieser Einschätzung heute zustimmen. Scheffler z.B. geht davon aus, dass das Modell der westlichen Demokratie und das "liberale Staatsrecht in der Tradition der europäischen Aufklärung" per se nicht in die orientalischen Gesellschaften hinein implantierbar sind. Denn das liberale Demokratiemodell "rekonstruiert Gesellschaft begrifflich aus einer bipolaren Spannung von Individuum und Staat und nimmt daher eine systematische Deprivilegierung von Gruppenrechten vor". 794 Das Integrationsmodell der "uniform incorporation" in "'kulturell' pluralen Gesellschaften", wo die Individuen "nicht in ihrer Eigenschaft als Mitglieder bestimmter Gruppen, sondern als gleichberechtigte individuelle Staatsbürger, in das Gemeinwesen eingegliedert" werden, habe sich im Nahen Osten als "hochgradig problematisch erwiesen". Dies vor allem, weil die "verfassungsmäßige Legitimität aller Staaten der Region auch weiterhin in letzter Instanz durch religiö789

Salam, Nawaf: La condition libanaise, S.58.

790

Hanf, S.95.

791

The Lebanese Constitution, Article 7.

792

Siehe: Salam, Nawaf: La condition libanaise, S.56ff.

793

Chiha, Michel: Politique intérieure, Beyrouth 1964, S.93.

794

Scheffler, Thomas: Ethnisch-religiöse Konflikte und gesellschaftliche Integration im Vorderen und Mittleren Orient. Literaturstudie. Ethnizität und Gesellschaft, Occasional Papers Nr.1, Freie Universität Berlin 1985, S.36.

124 se und ethnonationalistische Kriterien begründet ist" und bezüglich der Minderheiten in diesen multiethnischen Gebilden "eine Politik staatsrechtlich egalitärer Individualisierung in zwangsassimilatorische Homogenisierungsversuche münden kann". 795 Als warnendes Beispiel hierfür und für die als Folge einer Implantierung eines 'westlichen' nationalstaatlichen Konstrukts in den Orient drohenden Desintegrationserscheinungen führt Scheffler auch das Osmanische Reich an, wo nach dem Scheitern der Tanzimat-Reformen aus dem ottomanischen ein türkisches Staatsbürgertum wurde, was in den arabischen Provinzen und auf dem Balkan kaum "inkorporierend" wirkte. Tatsächlich scheint der Prozess der "uniform incorporation" nur dort möglich, wo ein weitgehend homogenes und egalitäres Staatsbürgertum – sei es auch im Sinne eines voluntaristischen Nationsbildungsprozesses – vorzufinden ist. Doch auch das Modell der den gesellschaftlichen Verhältnissen im Vorderen Orient anscheinend mehr Rechnung tragenden "consociational incorporation", wo nicht mehr Individuen, sondern "unterschiedliche kulturelle Gruppen, die auf sozialer und politischer Ebene als distinkte korporative Segmente organisiert sind"796 , die Gesellschaft konstituieren, ist gerade hier mit Problemen behaftet. Das bewies nicht nur das – fehlende – Zusammenspiel der osmanischen millets gerade in der Reformperiode. Denn auch dieses Modell setzt den Willen der Gruppen voraus, auf der Basis einer – gruppenbezogenen – 'Gleichheit' unter einem gemeinsamen staatlichen Dach zusammenleben zu wollen. Gruppen aber, die über Jahrhunderte hinweg ihr kollektives Bewusstsein aus einer bewussten Abgrenzung allen anderen Gruppen gegenüber heraus gewonnen haben, deren Selbstbewusstsein als 'in-group' sich auf der Basis einer bewussten Unterscheidung von allen anderen 'out-groups' herausgebildet hat, sind schwer zu einer solchen Form der Koexistenz zu bewegen. So stellt auch das libanesische "Inkorporations"-Modell – Inkorporation hier verstanden als die "Eingliederung unterschiedlicher kultureller Gruppen in ein übergreifendes politisches Gemeinwesen"797 – durchaus kein so klares Beispiel einer "consociational incorporation" und damit einer "korporativen Konkordanzdemokratie" dar, wie das in der Literatur und auch bei Perthes und Scheffler so dargestellt wird. Der Vergleich mit der Schweiz hinkt allemal. Denn was die interkommunitäre Gleichgewichtung der politischen Partizipation anbetrifft, so war noch bis 1990 eine Vormachtstellung einer communauté, der maronitischen, unverkennbar. Das libanesische Inkorporationsmodell des Nationalpaktes bewegte sich vielmehr nahe an der Grenze zur "differential incorporation". Zwar konnte man das konfessionalistische ProporzSystem nicht als "gesatzte Herrschaft der einen Gruppe über die anderen in einem institutionalisierten System von Sonderrechten, Diskriminierungen, Abhängigkeiten und Dominanzen" bezeichnen. Die verschiedenen communautés aber verfügten nur über den für diese Kategorie charakteristischen "strukturell ungleichen Zugang zur öffentlichen Sphäre"798 , weswegen man dieses Modell hier als eine Mischform ansehen könnte.

795

Ebd., S.35f.

796

Ebd., S.35.

797

Ebd.

798

Ebd.

125 Selbst in den Reformdiskussionen ging es, wie in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, auch aus der Sicht des vom System Benachteiligten, nie um 'Gleichstellung', sondern um die Vormachtstellung, die die einen erhalten und die anderen erringen wollten. Die Akteure auf der Bühne des libanesischen "Konvivialismus" schienen und scheinen den Denkmustern der von der Geschichte in der Region geprägten und vorgegebenen Koexistenzmuster verhaftet zu sein. So wollte der maronitische Patriarch Hayek am Ende des Ersten Weltkrieges schon 'den Spieß' einfach nur 'umdrehen', als er in der Delegation, die den Libanon auf der Pariser Friedenskonferenz vertreten sollte, neben sich nur vier christliche Bischöfe – einen griechisch-katholischen und drei maronitische – duldete. 799 Die 'Rollenverteilung', wie sie dem Patriarchen für 'seinen' Libanon vorschwebte, war eindeutig: Den Muslimen sollte nun jene Stellung zukommen, die den Dhimmis zuvor im islamischen Staat zugewiesen worden war. An politischen Entscheidungen sollten sie nicht teilhaben. Hayeks Pläne scheiterten schließlich an der französischen Mandatsmacht, die zur Stabilisierung ihrer eigenen Herrschaft die Kooperation der Eliten aller Volks- bzw. Religionsgruppen suchte. Die Proportionalisierung des libanesischen Machtverteilungsschlüssels, d.h. die Umstrukturierung des traditionellen von Salam so bezeichneten "hierarchischen Pluralismus" zu einem zumindest annähernd 'egalitären Gruppenpluralismus' war schon zuvor im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Europäer erfolgt, als diese in der Folge der Ausschreitungen des Jahres 1860 im Rahmen des "Règlement organique" die Einrichtung einer Repräsentativversammlung für das "Moutassarifat" des "Kleinen Libanon" forcierten. Von einer anfänglich paritätischen Repräsentation der Gemeinschaften ging man dann 1864 "zu einer annähernd proportionalen Verteilung" über.800 Die communautés verstanden es aber, diese Proportionalisierung in ihrem eigenen Sinne für die Aufrechterhaltung und Verfestigung der jahrhundertealten cleavage-Strukturen in ihrer Gesellschaft zu instrumentalisieren und damit zumindest deren vertikale Segmentierung zu konservieren. Dies zeigt sich auch in der Hartnäckigkeit, mit der die communautés bis heute an diesem System fest halten. Und dass dies gerade auch zahlenmäßig kleine Minoritäten tun, die aus 'europäischer Sicht' eigentlich von einem Übergang zu einem 'offenen System' liberaler staatsrechtlicher Prägung profitieren würden, scheint die Scheffler'sche These nur noch zu untermauern. Denn Scheffler geht ja davon aus, dass die Implantierung "eines liberal-individualistischen Staatsrechts" im Orient dort die – im alten System garantierte – "kulturelle Autonomie ethnischer und religiöser Minderheiten" bedroht. 801 Auch die Vehemenz, mit der sich so z.B. die Angehörigen des griechisch-orthodoxen millets im 19. Jahrhundert gegen ihre staatsbürgerrechtliche Gleichstellung zur Wehr setzten802 , erscheint aus der Sicht eines Europäers zunächst irrational und unverständlich zu sein. Die von Clogg erwähnte Furcht vor einer staatlich erzwungenen "Assimilation" des eigenen millet aber bringt die Problematik auf den politisch, historisch, gesellschaftlich und sozialpsychologisch wichtigsten Punkt. Dass der Versuch, in einem ethnisch fragmentierten und segmentierten Staatsverband einen 'modernen' Staat unter rationalen, 'aufgeklärten' Gesichtspunkten aufzubauen, kontraproduktive 799

Ammoun, S.234.

800

Hanf, S.85.

801

Scheffler, S.36.

802

Siehe dazu bei Clogg, S.199f.

126 Endergebnisse, ja den Widerstand der per Gesetz nun 'gleichgestellten' Minoritäten hervorrufen und damit zentrifugale Tendenzen freisetzen kann, ist indes kein Phänomen, das in der Geschichte einzig und allein mit dem "orientalischen Mosaik" verbunden gewesen wäre. Zu sehr erinnert das Schicksal der osmanischen Tanzimat-Politik z.B. an das Zeitalter des "aufgeklärten Absolutismus" eines Josephs II. Dessen ungestümer Wille, die "Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen" mit aller Gewalt durchzusetzen, musste auch in seinem habsburgischen Vie lvölkerstaat zwangsläufig danach trachten, "die historischen Rechte und Privilegien der einzelnen Nationen" zu "beseitigen". Die "Rationalisierung des Staates" führte zu dessen "Zentralisierung". Der Versuch des Aufbaus eines effektiven Verwaltungsapparates, – der eben einer "Vereinheitlichung", d.h. auch einer einheitlichen Verwaltungssprache bedurfte – führte zu dessen "Germanisierung"803 , die bei den Völkern, die "zur 'Glückseligkeit' zu führen"804 sich Joseph angeschickt hatte, nur wenig Begeisterung hervorrief. Ebenso stellte die in gleicher Weise "zu einer zentralistischen Homogenisierungswelle" bzw. "Turkifizierungspolitik" führende "formale Gleichstellung" aller Einwohner des Osmanischen Reiches, die sich "gegen alle lokalen, religiösen und ethnischen Autonomien und Sonderrechte im Reichsgebiet richtete", auch dessen Zusammenhalt in Frage. 805 Problemloser vollzog sich hingegen der Übergang zum 'modernen' Staat, zum egalitären Staatsbürgertum dort, wo, wie in Westeuropa, ein nation state existierte, wo eine nationale, ethnische oder auch kulturelle Homogenität gegeben war oder wo diese Homogenität wie in den Vereinigten Staaten auf voluntaristischer Basis geschaffen wurde – und wird. Die von Scheffler am Beispiel des Osmanischen Reiches gezogene Lehre ist so nicht nur für den Orient von maßgebender Bedeutung. Die Lehre, dass das liberale Demokratiemodell europäischer und nordamerikanischer Prägung und Tradition und der Typus einer "sozial pluralen Gesellschaft", deren konstituierende Elemente Gruppen und nicht Individuen sind, schwer miteinander in Einklang zu bringen sind, lässt auch vice versa in – geografisch – 'umgekehrter' Ric htung nicht unwesentliche Schlussfolgerungen zu. Denn ebenso, wie im Orient 'importierte' westliche Vorstellungen von Individuum und Staat nicht mit den dort vorgegebenen hierarchischen Gruppenpluralismen harmonisieren, könnte in den multikultureller werdenden Gesellschaften des Westens die Eingliederung 'unterschiedlicher kultureller Gruppen' "als distinkte korporative Segmente" für die hier vorgegebenen staats- und bürgerrechtlichen Fundamente von paralysierender Wirkung sein. Denn "consociational incorporation" und "liberales Staatsrecht" sind inkompatibel und dies gilt zwischen Orient und Okzident in beiden Richtungen. Diese Inkompatibilität gilt letztendlich für den Gesamtbereich der sich grundsätzlich unterscheidenden Vorstellungen von Rechtssystem und Rechtshoheit, die aus islamischer Sicht personal und gruppenbezogen sind und mit der Territorialität des abendländischen Rechtsverständnisses konfligieren. Für die immer mehr zu Einwanderungsländern werdenden Staaten der westlichen Welt scheint sich daher auch das Modell einer "consociational incorporation" für eine erfolgreiche Integrationspolitik zu verbieten. Anbieten würde sich damit letztlich nur das Modell einer "'kulturell' pluralen Gesellschaft" und eine an diesem Modell orientierte Einwanderungs- und Integrationspolitik, die Fragmentierungserscheinungen und der Herausbildung von Subgesellschaften und separaten Gruppenidentitäten entgegenwirkt. Dies muss dann eben auch auf dem Wege einer "Deprivilegierung von Gruppenrechten" geschehen. 803

Weis, Eberhard: Der Durchbruch des Bürgertums: 1776-1847; Propyläen Geschichte Europas, Band 4, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1982, S.24.

804

Zitiert in: Barudio, Günter: Das Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung 1648-1779; Weltbild Weltgeschichte, Band 25, Augsburg 1998, S.304.

805

Scheffler, S.14 u. 36.

127

Damit verbunden ist seitens der Aufnahmeländer auch die Notwendigkeit einer Strategie zur Verhinderung der Bildung von Volksgruppenparteien, was z.B. auch durch die Öffnung der großen demokratischen Parteien für diesen Klientenkreis geschehen könnte.

7.2

Die Persistenz des "orientalischen Mosaiks"

Vor einer solchen Wahl stand und steht man im Libanon nicht. Die Erfahrungen der TanzimatReformen spiegeln sich hier – und auch im Zitat von Michel Chiha – wider. Der "Natur der Dinge" im Libanon entsprach so ein sozialer oder auch struktureller Gruppenpluralismus. Für einen erfolgreichen Nationsbildungsprozess reichte dies allerdings nicht aus. Wie überlebensfähig sich die "Segmente" und "Fragmente" in dieser Gesellschaft erwiesen haben, zeigt auch die aktuelle tagespolitische Entwicklung im Land. Denn trotz aller Bekundungen, dass der Konfessionalismus die Wurzel allen libanesischen Übels sei, haben auch die Protagonisten der Post-Ta'if-Ära und der Zweiten Republik hier keine neuen Wege beschritten. Die "Charter of the Lebanese National Reconciliation" ist in diesem Punkt eine Ansammlung leerer Buchstaben und bloßer Willenskundgebungen geblieben. Wieder einmal sollte in Ta'if allen "Bürgern" die "Gleichheit" all ihrer Rechte garantiert und so der Weg geebnet werden für ein neues "Wahlgesetz frei von konfessionellen Restriktionen". 806 Diesem Gebot wurde sogar Verfassungsrang eingeräumt.807 Doch das Papier, auf dem libanesische Verfassungen stehen, ist geduldig und so wurde ein diesbezügliches Gesetz bis heute nicht verabschiedet. Der Einlösung harrt ebenfalls das in dieser Charter abgegebene Versprechen, dass das "libanesische Territorium" ein "vereinigtes Territorium" sei und dass "jeder Libanese" ein "Recht" darauf habe, " in jedem Teil dieses Territoriums zu siedeln", ungeachtet jeglicher "Zugehörigkeit". 808 Denn als eines der hehren Ziele für den "politischen und sozioökonomischen Wiederaufbau" des Libanon wurde so die Wiederumkehrung jener "social recomposition" vorgegeben, der die libanesische Gesellschaft in den Jahren des Bürgerkrieges ausgesetzt gewesen war. 809 Denn die "Folgen von Flucht und konfessionell oder politisch motivierter Vertreibung stellen", wie Perthes es formuliert hat, "nicht nur ein immenses soziales Problem für den Nachkriegslibanon dar, sondern gleichzeitig auch eine ökonomische und politische Herausforderung (...)". 810 Die Zahl der Displaced Persons wird unterschiedlichen Angaben zufolge auf 800.000 bis 1,2 Millionen geschätzt 811 . Das bedeutet, das seit 1975 zwischen 25 und 45% aller Libanesen ihren ursprünglichen Herkunfts- und Wohnort verlassen mussten. "Flucht und Vertreibung", so Perthes, "zerstörten die soziale Struktur vor allem der Hauptstadt, aber auch anderer Städte und Dörfer grundlegend" und 806

Charter of the Lebanese National Reconciliation: 1 – General Principles, Absatz C, und: 2 – Political Reforms, Abschnitt A, Absatz 5.

807

Siehe Artikel 24 der Verfassung.

808

Charter of the Lebanese National Reconciliation, Abschnitt 1, Absatz I.

809

Nasr, Salim: New Social Realities and Post-War Lebanon: Issues for Reconstruction, in: Samir Khalaf/Philip S. Khoury (eds.), Recovering Beirut. Urban Design and Post-War Reconstruction, Leiden/New York/Köln 1993, S.72.

810

Perthes, S.47.

811

Vgl. Angaben ebd., S.49, bei Nasr, S.67 und bei Dagher, S.84.

128 beendeten damit ein "konfessionelles Nebeneinander", das die Situation bis dahin vorgeblich gekennzeichnet hätte.812 Vor allen Dingen libanesische Autoren zeichnen so gerne das Bild eines Vorkriegs-Libanon als einer "confessionally-mixed area" und heben jenen "mixed communal character" hervor, der nicht nur die Landgemeinden ausgezeichnet habe.813 Und in Beirut, so Samir Khalaf, "koexistierte" eine gemischte Bevölkerung gar "friedlich" miteina nder. 814

7.2.1 Das "orientalische Mosaik" und der Gruppenpluralismus:

Koexistenz nur auf Distanz Seit Beginn des Bürgerkrieges war eine "fortschreitende Division des Landes in zunehmend homogene Enklaven" und damit eine "anwachsende Konzentration der verschiedenen Gemeinschaften in separaten Gebieten" zu beobachten. Diese konfessionelle bzw. ethnische 'Entmischung' hat Nasr anhand konkreter Zahlen aufgezeigt: Waren so z.B. in den südlichen Regionen des Libanongebirges noch 1975 etwa 55% der Einwohner Christen, so waren es 1989 nur mehr 5%. In Westbeirut und seinen Vorstädten sank der christliche Bevölkerungsanteil im selben Zeitraum von 35% auf 5% und in der Bekaa-Ebene von 40% auf 15%, während der prozentuale Anteil der Muslime in den Vororten von Ostbeirut von 40% auf 5% und im "Security Belt" des Südlibanon von 50% auf 10% zurückging. 815 Khalaf und Nasr gehen davon aus, dass die mit diesem Prozess verbundene "Territorialisierung" auch "der Identitäten" die damit "korrespondierende Segregation der Bevölkerung entlang" der viel zitierten "sectarian lines" begünstigt habe. 816 Doch fördern schon Teile des 1992 von der Regierung aufgelegten Repatriierungsprogrammes für Displaced Persons den Grad der interkommunitären 'Vermischung' im Vorkriegs-Libanon zu Tage. So sollen im Rahmen des "resettlement program" für den Harf-Distrikt im Shuf-Gebirge die dort nach 1975 bzw. 1982 von drusischen Milizen vertriebenen Christen wieder in ihre "sieben benachbarten Dörfer" zurückgeholt werden. 817 Spricht Judith Harik im Falle des Harf-Distriktes von einer vor 1975 dort anzutreffenden "mixed Christian-Muslim population"818 , so wird doch klar, dass Christen und Drusen hier nicht 'Tür an Tür' in guter und vor allen Dingen nächster Nachbarschaft neben- oder gar miteinander gelebt hatten. Die Koexistenz folgte auch hier schon einem – wenngleich auch kleinmaschigerem – geografischen Verteilungsmuster. Und auch der Ablauf der 'ethnischen Säuberungen' nach 1975 lässt deutliche Segregationserscheinungen erkennen, die längst vor diesem Datum existiert ha tten, denn in der Regel ging es für die 'eine Seite' immer darum, die "Dörfer" der 'anderen Seite' zu erobern und zu entvölkern. Schon die ersten Vertreibungen kennzeichnete dieses Schema, wenn z.B. "Sunniten der Akkarebene (...) christliche Dörfer" angriffen oder "der maronitische Ort Beit Millat (...) von ihnen 812

Perthes, S.48f.

813

Nasr, S.67 u. 69.

814

Khalaf, Samir: Urban Design and the Recovery of Beirut, in: Khalaf/Khoury, S.12.

815

Nasr, S.68 sowie Table 1, S.69.

816

Khalaf (1993), S.28 und Nasr, S.68.

817

Harik, S.159.

818

Ebd., S.162.

129 erobert und der größte Teil der Bewohner ermordet" wurde 819 , das "christliche Dorf Taalabaya" von palästinensischen "Guerillas" eingenommen wurde, während andererseits Einheiten der Kata'ib "'allogene Bevölkerungsinseln' in ihrem Kerngebiet" einkreisten und so z.B. "die Bewohner eines schiitischen Dorfes bei Antelias im Norden Beiruts" "vertrieben". 820 Hanf spricht denn auch davon, dass es sich, wenn es zum Beispiel um christliche Dörfer außerhalb des Kernlandes der eigenen Gemeinschaft ging, um sog. "allogene Inseln", um "überwiegend christliche Inseln" etwa "in den kompakten Siedlungsgebieten" der anderen Religionsgemeinschaften handelte, die sich dann im Kriegsgeschehen "für 'kollektive Geiselnahme'" durch den jeweiligen Gegner optimal eigneten. 821 So stellt sich die Frage, wie der Autor angesichts dieser von ihm selbst dargestellten Sachverhalte zu seiner zumindest für die Vorkriegs-Zeit nicht sehr negativen Beurteilung des libanesischen Konvivialismus kommt. Und wenn Khalaf Hourani zitiert, der die "urbane Idee des Libanon" als eine Idee beschreibt, der "eine plurale Gesellschaft" vorschwebte, "in der die Gemeinschaften (...) innerhalb eines gemeinsamen Rahmens koexistierten"822 , so muss er doch schon im Falle seines eigenen Heimatortes Aley von jenen althergebrachten "divisions within the town" sprechen und von jenen "christlichen Vierteln", die 1982 so leicht zur Zielscheibe für drusische Angreifer im sog. "Mountain War" werden konnten. 823 Und was das früher für seine kosmopolitische Ausstrahlung und seinen Multikulturalismus berühmte Beirut anbetrifft, so spricht auch er von den "communal boundaries", die innerhalb der Stadtgrenzen noch einmal Quartiers- und Stadtviertelgrenzen markierten, lange bevor der Bürgerkrieg die Stadt in einen muslimischen West- und einen christlichen Ostteil spaltete. 824 Und die Stadterweiterungen schon des 19. und dann auch des 20. Jahrhunderts schrieben diese "segmental and spatial decomposition of Beirut" fort. 825 "Konfessionelle Wohnviertel" schossen in "konzentrischem Muster" um Beirut herum aus dem Boden, und alle verfügten als "separate und distinkte" Einheiten exklusiv über eigene Krankenhäuser, Wohlfahrtsgesellschaften, "polit ische und soziale Clubs". 826 Nur der Vorort Ras Beirut, wo "gehobenes Bürgertum und Intellektuelle" residierten, bildete hier eine "Ausnahme"827 , wurde zu jenem Ort, an dem die "arabische Welt" dem Ideal einer "liberalen und offenen Gemeinschaft" am "nächsten" kam. 828 Das Viertel sollte einmal "ein Modell für ei-

819

Hanf, S.269.

820

Ebd., S.273.

821

Ebd., S.258.

822

Hourani, zitiert bei Khalaf ( 1993), S.22.

823

Khalaf (1993), S.13.

824

Ebd., S.17 u. 21.

825

Ebd., S.21.

826

Ebd., S.24f.

827

Hanf, S.261.

828

Khalaf, (1993), S.14.

130 nen zukünftigen Libanon" werden. 829 Doch es wurde, wie Khalaf resignierend feststellt", nicht mehr als ein Mikrokosmos der fragmentierten politischen Kultur" des Landes. 830 Doch wenn libanesische Autoren hervorheben, dass diese sich schon im städtebaulichen Grundriss niederschlagende Fragmentierung ihrer Gesellschaft eine Spezialität nur ihres Landes sei, wenn selbst westliche Politologen dieses Phänomen als ein 'libanesisches Übel' bezeichnen, so ist an dieser Stelle ein Blick hinaus über die Grenzen des Landes, ein Blick in die Geschichte und auf das, was die Wissenschaft als die "sozialräumliche Gliederung" der "Orientalischen Stadt" bezeichnet, nicht uninteressant. So schreibt Eugen Wirth über "Grundriss und Baubestand" eben dieser orientalischen bzw. orientalisch-islamischen Stadt unter Punkt 1 seiner Betrachtung: "Die Stadt im Orient gliedert sich – ja sie zerfällt nicht selten – in eine größere Zahl von streng gege neinander abgeschlossenen Quartieren (...). Die wenigen Verbindungen zwischen diesen Quartieren können in der Regel sogar mit Toren verschlossen werden."831 Im Gegensatz zur früh-abendländischen "Viertelsbildung (...) nach dem Sozialstatus und dem Sozialprestige der Bewohner" haben im Orient seit jeher "die Solidarität der Großfamilie und ein starker Zusammenhalt der Bluts- und Schicksalsgemeinschaft" den gesellschaftlichen Aufbau und damit auch die "sozialräumliche Gliederung" der Städte bestimmt: "Im Orient (...) ist der gegenseitige Abschluss der Großfamilien und Blutsgemeinschaften erheblich stärker. Hier wo hnen bei gleicher Herkunft, gleicher Religion oder gleicher Sprache Arm und Reich im selben Viertel zusammen."832 Diese "Charakteristika" sind allerdings nicht nur für den Fall der 'islamischen Stadt' kennzeic hnend: "(...); wir finden sie bereits in vielen Stadtanlagen des Alten Orients und des Alten Ägypten."833 Dies gilt in dieser Form nicht nur für die 'geografische', wohnortbezogene, sondern für alle anderen Bereiche der Eingliederung des Individuums in die oft jahrhundertealten Familien-, Clansund Stammesstrukturen. So geht z.B. Erhard Franz davon aus, dass im Gesamten orientalischen Kulturraum zwischen "Atlantik im Westen und Indus im Osten" "gemeinsame Grundstrukturen" "im sozio-kulturellen Bereich" erkennbar sind, in deren Rahmen das "Individuum (...) seine soziale Identität durch seine Familienzugehörigkeit" "erhält". Diese Zugehörigkeit bestimmt auch seine "Klan-, Stammes- bzw. Volkszugehörigkeit" und auch die zu einer Religion. Diese Strukturen sind "altorientalischen Ursprungs (...)", 834 d.h. sie reichen vor die Epoche der islamischen Eroberungen zurück. Der Theorie, die die Entstehung des oft zitierten "orientalischen Mosaiks" mit den "historischen Konstitutionsbedingungen der islamischen Gesellschaften" in Verbindung bringt,835 kann mit den 829

Hanf, S.261.

830

Khalaf ( 1993), S.21.

831

Wirth, Eugen: Kontinuität und Wandel der Orientalischen Stadt. Zur Prägung von städtischem Leben und städtischen Institutionen durch jahrtausendealte kulturraumspezifische Handlungsgrammatiken; in: Gernot Wilhelm (Hrsg.), Die Orientalische Stadt: Kontinuität, Wandel, Bruch. 1. Internationales Colloquium der Deutschen Orient-Gesellschaft, 9.-10. Mai 1996 in Halle/Saale; Saarbrücken 1997, S.33.

832

Ebd., S.37.

833

Ebd., S.34.

834

Franz, Erhard: Familie, Klan und Stammeswesen, in: Steinbach/Robert, Bd.1, S.511.

835

Scheffler, S.10 u. 12. So meint der Autor, dass die Entstehung dieses "Mosaik-Systems" die "Folge" einer "einzigartigen Allianz einer städtisch geprägten, universalistisch ausgerichteten Großreligion mit der Expansion verwandtschaftspartikularistisch organisierter Stammesverbände" war. (Ebd., S.12.)

131 Forschungsergebnissen der Wissenschaft vom Alten Orient gesichert entgegengetreten werden. Eine "klassische islamische Stadt" hat es deshalb ebenso wenig gegeben wie die "klassische is lamische Gesellschaft, sondern eben eine "klassische orientalische Stadt" und eine "klassische orientalische Gesellschaft."

7.2.2 Koexistenz im Orient: Nebeneinander statt Miteinander Doch zeigt auch die Wirkungsbreite dieses Systems dessen Persistenz und Überlebensfähigkeit. Die Miteinbeziehung der nicht-islamischen, z.B. der christlichen Bevölkerungsgruppen in dieses Mosaik ist ein Beweis dafür. Denn auch in gesellschaftlichem Aufbau und Struktur der communauté, im Clanswesen, im Familialismus und im Klientelismus unterscheiden sich die Maroniten in keinster Weise von allen anderen Orientalen. Die Prägung orientalisch-christlicher Denkstrukturen und Verhaltensmuster im sozio-kulturellen Umfeld des Nahen und Mittleren Ostens offenbart sich so auch im Abgrenzungsverhalten den anderen 'Mosaiksteinchen' gegenüber, die sich zwar in einem Gesamtbild aneinander fügen, jedoch niemals ineinander übergehen, und die sich daher alle als endogame Gemeinschaften konstituiert haben und konstituieren. Über die schiedlich-friedliche – aber vor allen Dingen eher schiedliche – Koexistenz dieser distinkten Einheiten schrieb daher auch Scheffler in einem anderen Aufsatz: "Im sozialen Alltagsleben konfessionell oder ethnisch gemischter Siedlungsräume spielten religiöse oder ethnische Grenzen (...) eine erhebliche Rolle. Mit wem (und wie) man wohnte, speiste, arbeitete, betete oder seine Kinder verheiratete, hing in hohem Maße von religiösen und ethnischen Zugehörigkeiten ab."836 Doch wenn Scheffler nun davon ausgeht, dass das tribale Zugehörigkeitskriterium in der jüngsten Entwicklung hinter dem kommunalen zurückgetreten sei und sich somit die Sphäre, innerhalb derer sich Identitätsfindungsprozesse im Orient und speziell im Libanon abspielen in dieser Hinsicht quasi erweitert habe, so stellt andererseits Kuderna gerade für dieses Land in Fragen der 'Heiratspolitik' fest: "Bei den Eheschließungen spielt die Partnerwahl innerhalb der Sippe und hier wiederum die allerdings immer seltener realisierte Idealvorstellung der patrilinearen Verbindung mit der Tochter eines Onkels väterlicherseits immer noch eine gewisse Rolle. Diese tradit ionelle Praxis führt zu relativ stabilen Verwandtschaftsgruppen, begünstigt aber gleichzeitig das Entstehen bzw. Fortbestehen rivalisierender Fraktionen in den Sippen und Dörfern."837 Man sollte daher auch keinen Gegensatz zwischen Clans- und Gemeinschaftsidentität konstruieren, wie dies Scheffler tut. Die Zugehörigkeit eines Libanesen zu einer communauté definiert sich ja, wie in dieser Studie schon aufgezeigt, 'über' die Clanszugehörigkeit. Des Weiteren stellt es daher auch kein 'libanesisches' Phänomen dar, wenn Hanf z.B. konstatiert, dass im Land der Zedern im familiären Bereich interkommunitäre Vermischung unterbleibt: "Zwar haben in den letzten Jahrzehnten Heiraten zwischen verschiedenen christlichen Religionsgemeinschaften zugenommen; sie lagen aber 1970 noch unter 10%. Eheschließungen zwischen Muslimen und Christen sind statistisch insignifikant geblieben und auf obere Einkommens- und Bildungsschichten beschränkt."838

836

Scheffler, Thomas: Politische und gesellschaftliche Stellung von Minderheiten, in: Steinbach/Robert, Bd.1, S.502.

837

Kuderna, Michael: Libanon, in: Steinbach/Robert, Bd.2, S.243.

838

Hanf, S.111.

132 Geschlossen werden muss die geringe Zahl solcher Mischehen zudem im Ausland – zumeist auf Zypern –, da das tawa'if-System personenstandsrechtliche Fragen in die Zuständigkeit der communautés verweist und hier nur der Islam die Möglichkeit einer Eheschließung zwischen einem Muslim und einer Nicht-Muslima kennt – die Ehe zwischen einer Muslima und einem NichtMuslim hingegen untersagt er. 839 Und so scheinen das tawa'if-System und dessen historischer Vorläufer, das millet-System, nicht so sehr spezifische Charakteristika eines vom Islam und seinen politisch-theologischen Prinzipien geformten Herrschaftssystems zu sein, scheint nicht der Islam Politik und Gesellschaft im Orient geprägt zu haben, sondern umgekehrt der Islam und sein Herrschaftssystem ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Region und der hier anzutreffenden gesellschaftlichen "Mosaik"-Strukturen zu sein. Und so muss auch auf die Feststellungen eines C.E. Bosworth hingewiesen werden, der hervorgehoben hat, dass es "Systeme zur Regulierung von Minderheiten", wie eben das "islamische millet-System", schon in der "älteren nahöstlichen Welt" gegeben hat, in der sich die Bevölkerungsstrukturen der alten 'Reiche' schon damals durch ethnische oder religiöse Heterogenität ausgezeichnet haben. 840 So waren die christlichen Minderheiten schon im Reich der Sassaniden, in dem der Zoroastrismus Staatsreligion war, der Zahlung einer "Kopfsteuer" unterworfen. Im Gegenzug für die Entrichtung dieser Sondersteuer wurde ihnen die Freiheit der Ausübung ihrer Religion garantiert und ein Autonomiestatus gewährt, in dessen Rahmen sie gemäß "ihrer eigenen Gesetze und Gebräuche"841 leben konnten. Nicht von ungefähr erinnert gerade dies an die heutige iranische Verfassung. Interessant an der Minderheitengesetzgebung eines Shapur II (309-379 ist auch, dass hier den Christen "der Bau von neuen Kirchen" untersagt wird, was sich dann bei Shafi 'i wortwörtlich so wieder findet. 842 Die Höhe von Tempeln, Kirchtürmen oder später Minaretten gab und gibt in den Gesellschaften des Orients Auskunft darüber, wer sich in welcher Stadt in einer inferioren oder superioren Position befand und befindet. Schon sehr früh in der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens waren damit jene Spielregeln der multiethnischen und multi-religiösen Koexistenz und die Integrations- bzw. Subordinationsmuster in den und im hierarchisch-pluralistischen Aufbau der Gesellschafts- und Herrschaftssysteme erkennbar, die bis heute nicht ohne Bedeutung sind. Der Islam hat diese cleavage-Strukturen lediglich noch weiter verfestigt bzw. regelrecht 'zeme ntiert'.

839

Diese Unterscheidung lässt sich damit erklären, dass hier davon ausgegangen wird, dass die Kinder aus einer solchen Verbindung die Religion des Vaters annehmen. Muhammad selbst, der zu seinen Lebzeiten bei seiner Koalitionspolitik das christliche Element im arabischen Stammeswesen zu berücksichtigen hatte, erlaubte seinen Anhängern "züchtige Frauen (...) von denen" zu Ehefrauen zu nehmen, "welchen die Schrift vor euch gegeben ward (...)". (Koran, Sure 5, 7.) Was jedoch die Glaubensausrichtung jedweder Nachkommenschaft anbetrifft, so heißt es in Sure 16, 74: "Und Allah gab euch aus euch selber Gattinnen und gab euch von euren Gattinnen Söhne und Enkel (...). Wollen sie da an das Nichtige glauben und Allahs Gnade verleugnen?" Dieser 'Anspruch' ist allerdings für monotheistische Religionen nicht ungewöhnlich.

840

Bosworth, S.37.

841

Ebd., S.39.

842

Ebd.

133 7.3

Der Gegensatz zwischen Orient und Okzident und nicht zw ischen Islam und Christentum

Wie sehr die Maroniten sozio-kulturell und mental Orientalen sind, zeigt sich auch in ihrer Einstellung zur Frage der Trennung von Religion und Politik. Schon Patriarch Hayek beanspruchte für sich als dem geistlichen Oberhaupt des Maronitentums auch dessen politische Führung. Im "Orient", und nicht nur im Islam, sind, wie auch Carole H. Dagher schreibt, "Politik und Religion" miteinander "verflochten" und so ist es für alle Ostkirchen in der Region bis heute schon fast "unmöglich", eben diese Politik aus ihren kirchlichen Tagesordnungen zu "verbannen". 843 "Verflochten" waren Kirche und Staat, waren Papsttum und Kaisertum, Religion und Politik im Abendland zwar auch, diente auch hier der Gedanke des "Gottesgnadentums" bis in die frühe Neuzeit hinein als Legitimationsbasis weltlicher Herrschaft. Doch hatte hier die "Zweischwerterlehre" schon im frühen Mittelalter die weltliche von der geistlichen "Gewalt" zu scheiden gewusst, auch wenn aus der Sicht der Kirche "das weltl. Schwert" zuerst "dem Papst" "gegeben sei (...) der es den Herrschern zu verleihen habe (...)"844 . In Ostrom hingegen, in Byzanz hatte trotz "Unterscheidung zwischen Sacerdotium und Imperium" letzteres die Überhand über ersteres gewonnen, hatte ein "Zusammentreffen von historischer Situation und politischer Theologie" ein "Verständnis kaiserlicher Herrschaft als Theokratie" hervorgebracht, bestimmte ein Kaiser Kirchenpolitik, der weltliche und geistliche Gewalt für sich in Anspruch nahm, der "Bischofsstühle schuf und besetzte, Verordnungen über Kirchenzucht und Liturgie erließ und Konzilien und Kirche in Glaubensfragen seinen Willen aufzwingen konnte (...)"845 . Von diesen Tendenzen, den "Imperator" in Konstantinopel auch zum "Sacerdos" zu machen, von diesem byzantinischen "Cäsaropapismus"846 hin zu den Khalifenämtern in Damaskus und Baghdad und hin zur politischen Theologie des Islam scheint es daher auch, sinnbildlich gesprochen, nur mehr ein kleiner Schritt gewesen zu sein. Die Geschicht(en) der Ostkirchen bewegen sich alle in dieser Tradition, von den berühmten frühen "Mönchsrepubliken der Maroniten" ist in der Literatur häufig die Rede und so hat bis heute der Vatikan gerade im Falle der mit Rom uniierten Christen seine erklärten Schwierigkeiten mit deren "traditionellem Standpunkt" zur Rolle der "Kirche im Staat." So fordert Rom gerade hier eine "Änderung der Mentalität", was im Libanon nicht unwidersprochen blieb und bleibt. 847 Dies alles zeigt, dass der Libanon nicht der Ort ist, an dem ein 'Stellvertreterkrieg" eines "Kampfes der Zivilisationen" stattfindet, sondern ein 'inner'-orientalischer Konflikt, der das drohende Scheitern eines Koexistenzmodells im Rahmen des "orie ntalischen Mosaiks" markierte. Ökonomischer und geografischer' Zwangsrationalismus' indes war es an erster Stelle, der schon immer Formen der Koexistenz und sogar der Kooperation im 'libanesischen Mosaik' bedingte, die man sogar als die vertikalen Trennlinien im gesellschaftlichen Koordinatensystem entlang interfamiliärer Verbindungslinien horizontal überschneidenden Interaktionslinien bezeichnen könnte.

843

Dagher, S.114ff.

844

dtv-Wörterbuch zur Geschichte, München 19804 , Bd.2, S.891.

845

Maier, Franz Georg: Einleitung: Byzanz als historisches Problem; und ders.: Grundlagen und Anfänge der byzantinischen Geschichte: Das Zeitalter des Justinian und Heraklios (518-717), in: Franz Georg Maier (Hrsg.), Byzanz; Weltbild Weltgeschichte, Band 13, Augsburg 1998, S.23, 35 u. 63.

846

Zu diesem Begriff vgl., u.a. das betreffende Stichwort im dtv-Wörterbuch zur Geschichte, Bd.1.

847

Dagher, S.114ff.

134 Schon das Beispiel der Franjieh aus Zghorta zeigt dies. Das regionale Verteilungsmuster der Religionsgemeinschaften bedingt des Weiteren vor allen Dingen bei Clans- und Familienführern sog. "allogener" Städte und Dörfer, die als "Inseln" der jeweils einen Gemeinschaft im Kerngebiet einer anderen Konfessionsgruppe zu finden sind, ein ebenfalls zwangsläufiges Interesse an einer friedlichen Koexistenz mit den sie umgebenden Bevölkerungsgruppen. So ist es kein Zufall, wenn sich heute der Maronit George Deeb Ni'meh als "Oberhaupt" der Gemeinde von Dayr al-Qamar im Parlament in Beirut als "Parteigänger der christlich-drusischen Koexistenz" zu erkennen gibt, liegt doch 'sein Dorf' mitten im Shuf-Gebirge. 848 Regionalismus tritt damit neben Familialismus und Klientelismus, denn begrenzte Interessengemeinschaften von Clans unterschiedlicher Religionszugehörigkeit hat es daher auch immer wieder gegeben, wie etwa in den "common spaces" der großen Städte, in den Bazaaren und später dem "central business district" in Beirut. 849 Ob dies, wie Khalaf behauptet, allerdings schon eine konkrete Basis für ein "intercommunal mixing" dargestellt haben könnte 850 , muss fraglich bleiben. Und die Erfahrungen des Bürgerkrieges und der Vertreibungen haben wie bei den maronitischen Flüchtlingen aus dem Harf-Distrikt deren Haltung zur Frage der interkommunitären Koexistenzmöglichkeiten noch weiter negativ beeinflusst, wie Judith Harik in ihrer Untersuchung dargelegt hat. So halten es heute nur mehr 43% dieser Displaced Persons für möglich, selbst auf wirtschaftlichem Gebiet "normal mit ihren muslimischen Nachbarn" zu "interagieren", während 77% einen solchen Geschäfts-"Verkehr" "als Routine vor 1975" bezeichnen. 851 Doch haben, wie Harik selbst anführt, auch vor 1975 fast die Hälfte aller Maroniten in dieser Region über keine 'sozialen Kontakte' zu Drusen verfügt, erfolgte jede Sozialisierung nur innerhalb der betreffenden Gruppen in jeweils "hauptsächlich homogenen Dörfern oder in Sekten-Enklaven innerhalb gemischt-religiöser Dörfer". 852 Koexistenz ja, aber Koexistenz auf Distanz, das war immer schon der Grundsatz des libanesischen Konvivialismus und der Bürgerkrieg hat hier keine Nation in der Mitte auseinandergerissen, sondern bereits vorhandene gesellschaftliche cleavage-Strukturen auch territorial verfestigt. Auch jede künftige Form des Konvivialismus im Rahmen der Zweiten Republik orientiert sich daher auch wieder am Prinzip des Konfessionalismus und damit wieder am tawa'if-System. Trotz aller krisenhaften Entwicklungen und trotz des Scheiterns der Ersten Libanesischen Republik scheint dieses Modell des Gruppenpluralismus als Modell der innergesellschaftlichen Konfliktregulierung und des interkommunitären Interessenausgleichs in den Mosaik-Gesellschaften des Nahen Ostens unersetzbar – obwohl die eine oder andere Gruppe hier immer 'den Kürzeren zieht'. Der Libanon-Konflikt ist damit weder Beweis für oder gegen die Huntington'sche These. Hier prallten keine zwei Kulturen – die eine abendländisch, die andere morgenländisch – aufeinander, sondern unterschiedliche vorderorientalische Kultursegmente. Der Libanon ist damit kein Modell, keine "Botschaft" an die Welt, wie es der Papst formulierte, die für den christlichislamischen Dialog überall oder speziell in Europa Zeichen setzen könnte. 848

Siehe: Biographical Briefs: George Deeb Ni'meh.

849

Khalaf, S.21f. u. 31.

850

Ebd., S.22.

851

Harik, S.165.

852

Ebd., S.165.

135

Das Beispiel des Libanon aber führt dem Westen trotzdem jene Schwierigkeiten vor Augen, die sich bei der Begegnung der Kulturkreise des Abendlandes und des Morgenlandes – nicht des Christentums und des Islam an sich – und vor allen Dingen bei jeglichen Versuchen, die aus jeweils unterschiedlichen Gesellschaftssystemen hervorgehenden und divergierenden Vorstellungen von Herrschaftssystemen und Demokratie miteinander in Einklang zu bringen, ergeben. Dem Zusammenleben von Christen und Muslimen in Europa stellen sich diese Probleme unter 'umgekehrten' Vorzeichen und damit nicht in dieser 'libanesischen' Form. Eine zentrale und häufig gestellte Frage hierbei ist die nach den Entwicklungschancen für einen säkularen, europäischen Islam. Mit Blick auf die historisch-geografische Verbreitung des Islam lässt sich durchaus feststellen, dass diese Weltreligion außerhalb jenes Raumes, in dem diese Verbreitung vom Atlantik bis nach Mittelasien durch "Eroberung" stattfand, auch Koexistenzmuster mit anderen Religionsgemeinschaften entwickelt hat, die deutlich von den Maßgaben der Dhimmi-Gesetzgebung abweichen. So gibt es z.B. einen südostasiatischen Islam. Denn: "Nicht Armeen, sondern persische, arabische und indische Händler hatten den Islam nach Südostasien gebracht", wo "die neue Religion nicht wie im Nahen Osten von oben, von der Spitze des staatlichen Aufbaus her, die Gesellschaften" durchdrang, "sondern auf dem Weg durch die Handel treibenden Mittelschichten". Ohne militärische Macht im Rücken, passte sich hier die Religion des Propheten den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen in der Region an und wurde sogar in einen regelrechten "Synkretisierungsprozess" etwa mit dem Hinduismus "mithineingezogen". 853 So entstand z.B. in Indonesien der Abangan-Islam, der weit davon entfernt blieb, Andersgläubige zu Dhimmis zu machen. Doch auch dieser Volks-Islam sieht sich nicht erst jetzt, sondern seit fast hundert Jahren schon mit zunächst nur aus dem Vorderen Orient kommenden und von dort ausgehenden Wellen der Fundamentalisierung der Religion konfrontiert, die auch in Staaten wie Indonesien der polit ischen Forderung nach einem "Islamischen Staat" einen neuen Nährboden geschaffen haben. 854 Den wie auch immer zu forcierenden Prozess der Säkularisierung und Aufklärung, der Entwicklung eines "europäischen" Islam vor diesen rigoristischen Uniformierungsbestrebungen zu schützen, ist hier ebenso wichtig wie die Einsicht, dass dieser Prozess nicht überfordert werden darf. Immerhin müsste hier der Islam in nur wenigen Jahrzehnten eine Entwicklung nachvollziehen, für die auch das Christentum und das Abendland Jahrhunderte benötigten und die hier, wie Michael Salewski schreibt, ein ständiges Vor und Zurück, "Fortschritt und Rücksturz ins Bodenlose"855 – und das bis in die allerjüngste Vergangenheit hinein – kennzeichnete. Von ungestümem Fortschrittsglauben beseelt waren aber schon die Protagonisten der Jungtürkischen Revolution von 1908/09, die einer "kulturellen Renaissance" des Islam das Wort redeten und die der Hoffnung Ausdruck gaben, "dass der Islam 'endlich seine Toten begräbt. Wenn einst die Geister Omars und Alis in die Studierzimmer der muhammedanischen Gelehrten gebannt sind und nicht mehr auf dem Markt des Lebens herumspuken dürfen; wenn die zwar herrlichen, aber jetzt überlebten Erzeugnisse einer vergangenen Kulturperiode in den Schränken der Bibliotheken eingeschlossen sind, dann wird auch der Islam, zu neuem Leben erwachend, sich seiner 853

Münch-Heubner, Peter L.: Osttimor und die Krise des indonesischen Vielvölkerstaates in der Weltpolitik. Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Bd.82, München 2000, S.131.

854

Siehe u.a.: Islam in Indonesia. God's warriors and Wahid's, in: The Economist, May 12th 2001.

855

Salewski, S.157.

136 gewaltigen Kräfte bewusst werden und in eifrigen Wettbewerb treten mit den übrigen Kulturvö lkern, nicht mehr seufzend nach der Vergangenheit, sondern tätig in der Gegenwart, wirkend für die Zukunft'"856 . Doch wollte solche Worte später nur mehr Atatürk hören und auch der arabische Nationalismus scheiterte an solchen Denkansätzen. Ob ein europäischer Islam an ihnen anknüpfen wird können, wird sich noch zeigen müssen.

856

Zitiert bei Ende, S.2.

137

Verantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung Autor: Dr. Peter L. Münch-Heubner Historiker, Orientalist und Publizist, München

138

"aktuelle analysen" bisher erschienen: Nr.

1

Problemstrukturen schwarz-grüner Zusammenarbeit (vergriffen)

Nr.

2

Wertewandel in Bayern und Deutschland – Klassische Ansätze – Aktuelle Diskussion – Perspektiven (vergriffen)

Nr.

3

Die Osterweiterung der NATO – Die Positionen der USA und Russlands (vergriffen)

Nr.

4

Umweltzertifikate – ein geeigneter Weg in der Umweltpolitik? (vergriffen)

Nr.

5

Das Verhältnis von SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen nach den Landtagswahlen vom 24. März 1996 (vergriffen)

Nr.

6

Informationszeitalter – Informationsgesellschaft – Wissensgesellschaft (vergriffen)

Nr.

7

Ausländerpolitik in Deutschland (vergriffen)

Nr.

8

Kooperationsformen der Oppositionsparteien (vergriffen)

Nr. und

9

Transnationale Organisierte Kriminalität (TOK). Aspekte ihrer Entwicklung Voraussetzungen erfolgreicher Bekämpfung (vergriffen)

Nr.

10

Beschäftigung und Sozialstaat

Nr.

11

Neue Formen des Terrorismus (vergriffen)

Nr.

12

Die DVU – Gefahr von Rechtsaußen (vergriffen)

Nr.

13

Die PDS vor den Europawahlen (vergriffen)

Nr.

14

Der Kosovo-Konflikt: Aspekte und Hintergründe (vergriffen)

Nr.

15

Die PDS im Wahljahr 1999: "Politik von links, von unten und von Osten" (vergriffen)

Nr.

16

Staatsbürgerschaftsrecht und Einbürgerung in Kanada und Australien (vergriffen)

Nr.

17

Die heutige Spionage Russlands

Nr.

18

Krieg in Tschetschenien

139 Nr.

19

Populisten auf dem Vormarsch? Analyse der Wahlsieger in Österreich und der Schweiz (vergriffen)

Nr.

20

Neo-nazistische Propaganda aus dem Ausland nach Deutschland

Nr.

21

Die Relevanz amerikanischer Macht: anglo-amerikanische Vergangenheit und euro-atlantische Zukunft

Nr.

22

Global Warming, nationale Sicherheit und internationale politische Ökonomie. Überlegungen zu den Konsequenzen der weltweiten Klimaveränderung für Deutschland und Europa

Nr.

23

Die Tories und der "Dritte Weg". Oppositionsstrategien der britischen Konservativen gegen Tony Blair und New Labour

Nr.

24

Die Rolle der nationalen Parlamente bei der Rechtssetzung der Europäischen Union. Zur Sicherung und zum Ausbau der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages (vergriffen)

Nr.

25

Jenseits der "Neuen Mitte": Die Annäherung der PDS an die SPD seit der Bundestagswahl 1998

Nr.

26

Die islamische Herausforderung – eine kritische Bestandsaufnahme von Konfliktpotenzialen

Nr.

27

Nach der Berliner Wahl: Zustand und Perspektiven der PDS

Nr.

28

Zwischen Konflikt und Koexistenz: Christentum und Islam im Libanon

in Vorbereitung:

Die Abwehr ballistischer Trägersysteme. Bedrohungslage – Möglichkeiten – politische Konsequenzen

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