Serbien 1915 - Zentrum für Militärgeschichte und

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Geschichte, Weltgeschichte
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Zeitschrift für historische Bildung

C 21234

ISSN 0940 - 4163

Heft 3/2015

Militärgeschichte

Militärgeschichte im Bild: Deutsche UN-Soldaten in Somalia im Sommer 1993.

Kriegsschauplatz Serbien 1915 60 Jahre Innere Führung Bismarck in der Bundeswehr Hazardpolitik mit Erfolg

Militärgeschichtliches Forschungsamt

MGFA

Impressum

Editorial

ZMG 2014-H3 Impressum Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

Militärgeschichte Zeichen: 2.900

Zeitschrift Bildung V1für mthistorische 2014-08-21, V2 lekt 2014-08Herausgegeben 21, V3 mt 2014-08-22 vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr S. 2 durch Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack und Oberstleutnant Dr. Frank Hagemann (V.i.S.d.P.) Produktionsredakteure der aktuellen Ausgabe: Major Dr. Jochen Maurer und Hauptmann Ariane Huth M.A. Redaktion: Friederike Höhn B.A. (fh) Hauptmann Ariane Huth M.A. (aau) Major Dr. Jochen Maurer (jm) Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp) Major Dr. Klaus Storkmann (ks), korresp. Mitglied Mag. phil. Michael Thomae (mt) Bildredaktion: Dipl.-Phil. Marina Sandig Lektorat: Dr. Aleksandar-S. Vuletić Karten: Dipl.-Ing. Bernd Nogli Layout/Grafik: Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang Anschrift der Redaktion: Redaktion »Militärgeschichte« Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam E-Mail: ZMSBwRedaktionMilGeschichte@ bundeswehr.org Homepage: www.zmsbw.de Manuskripte für die Militärgeschichte werden an obige Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung, Übersetzung usw. Die Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redak­ tion behält sich Änderungen von Beiträgen vor. Die Wiedergabe in Druckwerken oder Neuen Medien, auch auszugsweise, anderweitige Vervielfältigung sowie Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung erlaubt. Die Redaktion übernimmt keine Verantwortung für die Inhalte von in dieser Zeitschrift genannten Webseiten und deren Unterseiten. Für das Jahresabonnement gilt aktuell ein Preis von 14,00 Euro inklusive Versandkosten (innerhalb Deutschlands). Die Hefte erscheinen in der Regel jeweils zum Ende eines Quartals. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes. Ihre Bestellung richten Sie bitte an: SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Stellmacherstraße 14, 26506 Norden, E-Mail: [email protected] © 2015 für alle Beiträge beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) Druck: SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden ISSN 0940-4163

dieses Heft nimmt neben zwei Schauplätzen im Ersten Weltkrieg auch zwei Ereignisse in den Blick, die sich wegen ihres Jubiläumscharakters besonders für diese Ausgabe eignen. Es ist 60 Jahre her, dass die Bundeswehr gegründet wurde. Damit stellt sich die Frage, was zum Aufbau dieser Armee in der Demokratie beigetragen hat. Rudolf J. Schlaffer wirft einen Blick in die Vergangenheit, um die Konzeption der Inneren Führung im Wandel von 60 Jahren zu betrachten: Inwiefern hat die Innere Führung den Aufbau der Bundeswehr beeinflusst und sind ihre Grundlagen von damals – Staatsbürger und inzwischen auch Staatsbür­ gerinnen in Uniform – auch heute noch anwendbar? Bereits zum 200. Mal jährt sich 2015 der Geburtstag des ersten Reichskanzlers, Otto von Bismarck. Christoph Nübel nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, die verschiedenen Sichtweisen in der Bundeswehr zu Bismarck im Verlauf der Jahrzehnte zu erklären. Dabei betrachtet er den Mythos Bismarck wie auch die teils heftige Kritik an seiner Person und Politik vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Während Ende 1914 an der Westfront der Bewegungskrieg erstarrte und sich die Armeen sprichwörtlich zum Schutz vor Waffenwirkung in die Erde vergruben, lagen die Verhältnisse an der Ostfront anders. Bereits im Heft 2/2015 haben wir mit der Schlacht von Gorlice und Tarnów den östlichen Kriegsschauplatz thematisiert. Nun wenden wir uns weiteren bisher kaum beleuchteten Gebieten im Osten zu: Direkt zu Beginn des Krieges stand Serbien auf der Seite der Ententemächte im Kampf gegen Österreich-Ungarn, konnte jedoch dessen erste Offensive zurückschlagen. Im Herbst 1915 griffen die Mittelmächte nun mit vereinter Übermacht Serbien erneut an. Lange konnte sich die serbische Armee nicht halten und flüchtete zur Adriaküste. Einen genauen Einblick über den unbekannten Kriegsschauplatz bietet der Beitrag von Gorch Pieken. Im Laufe des Krieges gab Rumänien seine Neutralität auf und zog im Sommer 1916 gegen die Mittelmächte in den Krieg. Marc Stegherr skizziert den Verlauf der nun folgenden Monate in denen sich schnell zeigte, dass die rumänische Armee auf den Krieg nicht vorbereitet war und von den deutschen und österreichischen Truppen sogar über die Landesgrenze hinweg zurückgeschlagen wurde. Das geschwächte Rumänien verkraftete den Kollaps des russischen Kriegspartners nach der Februar- und Oktoberrevolution 1917 nicht und war gezwungen, einen Waffenstillstand zu unterzeichnen. In eigener Sache: Die Redaktion begrüßt den neuen Mitherausgeber Oberstleutnant Dr. Frank Hagemann und freut sich auf eine gute Zusammenarbeit. Schließlich kennt er als ehemaliges Redaktionsmitglied die Sorgen, Nöte und auch Freuden von Redakteuren. Zu guter Letzt verdanken wir ihm den blauen Anstrich des Heftes. Damit wünschen wir Ihnen eine interessante Lektüre dieses Heftes. Ihre Ariane Huth und Jochen Maurer

Inhalt Der unbekannte Kriegsschauplatz: Serbien 1915

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Das historische Stichwort: Das Adventus-Ritual des Spätmittelalters 23 Neue Medien  24 Lesetipps26 Die historische Quelle 28 Geschichte kompakt 29 Ausstellungen30

Dr. Gorch Pieken, geb. 1961 in Sanderbusch/ Friesland, Wissenschaftlicher Direktor am Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Dresden

Die Innere Führung im Spiegel von 60 Jahren

Service

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Militärgeschichte im Bild UNOSOM II 

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Oberstleutnant Dr. Rudolf J. Schlaffer, geb. 1970 in Amberg, bis Juli 2015 Bereichsleiter Einsatzgeschichte ZMSBw, derzeit Referent im BMVg

Das Bismarck-Bild in der Bundeswehr

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Dr. Christoph Nübel, geb. 1982 in Heide, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HumboldtUniversität zu Berlin, Institut für Geschichts­ wissenschaften

Soldaten des deutschen UN-Hauptkontingents für Somalia am 22. Juli 1993 auf dem Flughafen von Mogadischu, im Hintergrund der Bundeswehr-Airbus, mit dem die Soldaten von Dschibuti kommend in der somalischen Hauptstadt eingetroffen waren. Am 23. Juli lief die Entladung der 113 Fahrzeuge des Bundeswehr-Konvois von dem Frachter »Beerberg« im Hafen von Mogadischu an. Am folgenden Tag sollten die Bundeswehrsoldaten zum 300 Kilometer nördlich gelegenen deutschen Stützpunkt in Belet Uen aufbrechen. Der Konvoi wurde bei der zweitägigen Fahrt von UN-Truppen aus Nigeria, USA und Italien geschützt. Foto: dpa

Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:

Hazardpolitik mit Erfolg Oberstleutnant d.R. Dr. Marc Stegherr, geb. 1968 in Ingolstadt, Gastprofessor an der Universität Cluj-Napoca/Klausenburg, Rumänien, Lehrbeauftragter für südslavische Landeskunde, LMU München

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Kapitänleutnant Christoph Buschmann, Bun­ des­archiv, Abt. Militärarchiv, Freiburg i. Br.; Kapitänleutnant Leonie Hieck M.A., ZMSBw; Kapitänleutnant Gerrit Huth, EinsFüKdoBw; Oberstleutnant Dr. Dieter H. Kollmer, ZMSBw; Hauptmann Benjamin Pommer M.A., ­ZOpKomBw; Hauptmann Christian Taube M.A., FüAkBw; Korvettenkapitän d.R. Dr. Manfred Wilde, Delitzsch.

Serbische Nationalbibliothek

Serbien 1915

5Rückzug der serbischen Armee im Herbst 1915.

Der unbekannte Kriegsschauplatz: Serbien 1915

A

m 6.10. soll der Vormarsch gegen Serbien beginnen u. zw. mit einer derartigen Kraft, daß die Brüder mit einem Schlage vernichtet werden & wir der Türkei zu Hilfe kommen können. Es wird ein ähnlicher Kampf werden wie in Belgien & können deshalb Wochen vergehen, ehe Du von mir wieder etwas erhältst«, schrieb der deutsche Soldat Paul Rockstroh am 4. Oktober 1915 an seine Frau Gretel. Einen Monat später war der Feldzug schon fast wieder vorbei, wie auch Paul Rockstroh in einem Brief an seine Frau und die Söhne am 5. November bemerkte: »Immerhin haben die Serben in den letzten Tagen hier große Einbußen erlitten. Es wurden große Massen Gefangene an uns vorüber transportiert u. die Bulgaren sollen nur noch 2 Stunden von uns entfernt stehen. Auf diesem Gebiete wären also die Serben bald erledigt.«

4

Die serbische Armee, die Mitte November 1915 geschlagen war, bestand zu diesem Zeitpunkt nicht nur aus waffenfähigen Männern aller Schichten der Gesellschaft, sondern auch aus Knaben, die nicht viel älter waren als die Söhne Paul Rockstrohs. Einer dieser Kindersoldaten hieß Stevan ­ Idjidović, dessen Erinnerungen 2012 posthum unter dem Namen erschienen, den er nach seiner Einwanderung in die USA an­genommen hatte: Stevan Idjidović ­Stevens.

Die Grenze an der Save Stevan Idjidović lebte in dem Dorf Jarak an der Mündung des Flusses Jarčina in die Save, die seit dem 19. Jahrhundert den Grenzverlauf zwischen Österreich-Ungarn und Serbien markierte. Jarak lag am nördlichen Ufer der Save und damit auf dem Ge-

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2015

biet Österreich-Ungarns. Im 17. und 18. Jahrhundert trennte die Save das Habsburger Reich vom Osmanischen Reich. Seit dieser Zeit dienten viele Männer des mehrheitlich von Serben bewohnten Ortes Jarak in den Armeen Österreichs und Ungarns, so wie Stevans Vater Mosije und sein Großvater Gavrilo, der als Soldat an der Niederschlagung der Märzrevolution von 1848 beteiligt gewesen war. Als Österreich-Ungarn 1908 Bosnien-Herzegowina annektierte, geriet Europa an den Rand eines Krieges der Großmächte. Der serbische Außenminister nannte die neuen Staatsbürger Österreich-­ Ungarns »unterdrückte Völker« und stellte die erweiterte Südgrenze des Habsburger Reiches in Frage, in dem nun insgesamt rund zwei Millionen Serben lebten. Obwohl sich der serbische Ministerpräsident für seinen Minister entschuldigte, blieb das Ver-

Kriegsverlauf im Herbst 1915 auf dem Balkan Ausgangslage am 5.10.15 Lageentwicklung bis 11.11.15 letzte Stellung der Serben am 23.11.15 Rückzug der Serben ab 24.11.15 Lageentwicklung bis 26.11.15 Angriffsrichtung

Gallwitz

Ram

Šabac

BELGRAD

Lešnica

D on a u

Obrenovac

Loznica

ÖSTERREICH U N G A R N Vlasenica

11. Armee

Jarak

S a ve

Smendria

Gruppe Belgrad

3. Armee

Palanka D

Valjevo

Jurišić Šturm

1. Armee

Svilajnac

Mišić

M or

Sarajevo

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Kragujevac

Paraćin

Užice

62. Infanteriedivision

Za pa d

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Kruševac

Nova Varoš

SERBIEN montenegrin. Armee

1. Armee

Mitrovica

Bojadjiew

Čakor-Pass

Trebinje

Priština

Ipek

Djakova

Podgorica

Skutari 20

30

40

50 km

Shëngjin (San Giovanni di Medua)

A D R I A

Höhenangaben:

1600 m

800 m

Rückzug nach Korfu

600 m 400 m 200 m 100 m 0m

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Todorow Skoplje

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Gostivar

TIRANA

2000 m

100 m

2. Armee Va r

Tetovo

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Ochrida

ALBANIEN

2400 m

1200 m

Serbischer Gegenangriff 19. – 24.11.15 wird abgeschlagen

Prizren

n

Dri

Bundesarchiv, Bild 183-1987-1210-502 / Heinrich Hoffmann / CC-BY-SA

CETINJE

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Prokuplje

Novi Pazar

Bijelopolje

MONTENEGRO

Durrës (Durazzo)

5Stevan Idjidovic´ im Jahr 1914.

Versecz

3. Armee

Kövess von Kövesshaza

Farbgebung der Nationalitäten Deutsche Österreicher-Ungarn Bulgaren Serben/Montenegriner

0

Familie Kimmel

Betschkerek Neusatz

Dona u

rina

hältnis mit Wien belastet, nicht zuletzt auch wegen eines von 1906 bis 1911 andauernden Handelskrieges zwischen beiden Staaten. Im Ersten und Zweiten Balkankrieg verdoppelte Serbien 1912 und 1913 sein Staatsgebiet durch die Eroberung osmanischer Territorien auf dem Balkan. Die angestrebte Ausdehnung Serbiens bis zur Adria verhin­ derten Österreich-Ungarn und Italien, deren diplomatische Initiative zur Gründung des Staates Albanien führte, der wie ein Sperrriegel wirkte. Vor diesem Hintergrund führte die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdi­ nand und seiner Frau Sophie in Sarajevo durch einen in Bosnien geborenen serbischen Nationalisten am 28. Juni 1914 zu einer gefährlichen Krise, zumal die österreichische Regierung die Drahtzieher des Attentats in serbischen Regierungskreisen vermutete. Die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Serbien blieb zunächst offen. Und die Menschen auf beiden Seiten des Flusses, die in der Mehrzahl Serbisch sprachen, konnten weiterhin ohne Pass die Save überqueren und auch das Dampfschiff nehmen, das zweimal wöchentlich die k.u.k. Hafenstadt Slavonski Brod und die serbische Hauptstadt Belgrad miteinander verband. Doch ­einen Monat nach dem Atten­tat, am 28. Juli 1914, erklärte Öster­reich-Ungarn Serbien den Krieg. Am nächsten Tag erschienen sogenannte Donau­monitore, Flusskriegsschiffe der k.u.k. Kriegsmarine, vor Belgrad und beschossen die Stadt.

Vlorë (Valona)

Monastir

Florina Berat Korca

GRIECHENLAND © ZMSBw

07605-03

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2015

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Serbien 1915

»Die Serben sind kriegsmüde. Das Volk hat genug geblutet […] Einen wirklich ernsthaften Widerstand leistet der Feind aber jetzt auch nicht mehr. Er versucht seine Reste nach Montenegro und Albanien zu retten. Ich glaube nicht, dass er viel über die Grenze bringen wird. Auch nach Griechenland können nur Trümmer gelangen, und den Anschluss an die von Saloniki vorgeschobenen Franzosen und Engländer werden nur kleine Verbände der serbischen Armee finden. Die Beute, welche die Letztere uns zurückgelassen hat, wächst täglich […] Die Bevölkerung benimmt sich bis jetzt ruhig. Eine geordnete Verwaltung ist im Werden.« Zwei Tage später: »Ein Teil kämpft noch tapfer, der größere ist kriegsmüde. Die Zahl der Gefangenen wächst täglich um einige Tausend.

Österreichs Offensiven scheitern Wenig später rückten österreichischungarische Truppen in Jarak ein, um die Invasion Serbiens mit dem Bau einer Pontonbrücke über die Save vor­ zubereiten. Gleichzeitig wurden die wehrfähigen Männer Jaraks eingezogen. Stevan war mit 15 Jahren noch zu jung für den Soldatendienst und sein Vater mit 49 Jahren schon zu alt. In Stevans Elternhaus nahmen drei österreichische Offiziere Quartier. Sie bezeichneten den Feldzug gegen Serbien nicht als Krieg, sondern als Strafaktion, die nicht nur mit aller Härte gegen gegnerische Soldaten, sondern auch gegen Zivilisten geführt werden solle. In ­einer Broschüre, die an die k.u.k. Truppenkommandeure im serbischen Aufmarschgebiet gerichtet war, stand zu lesen: »Der Krieg führt uns in Feindesland, das von einer mit fanatischem Haß gegen uns erfüllten Bevölkerung bewohnt wird, in einem Land, wo der Meuchelmord, wie auch die Katastrophe von Sarajewo zeigt, selbst den höher stehenden Klassen als erlaubt gilt, wo er gerade als Heldentum gefeiert wird. Einer solchen Bevölkerung gegenüber ist jede Humanität und Weichlichkeit höchst unangebracht, ja geradezu verderblich.«

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Ebenso viele flüchten sich in die Berge. Ich habe Mitleid mit dem Volk, namentlich mit den Frauen.« Am 22. November: »Die Serben geben das Entkommen nach Albanien noch nicht auf […] Lediglich der Zustand der Wege und der Gebirgscharakter des Schauplatzes der Kämpfe haben den Zusammenbruch verzögert und stützen die Bemühungen einzelner besonders tatkräftiger serbischer Führer. Wir können in den Gebirgsgegenden unsere ganze Kraft gar nicht entfalten und unter den Wegeverhältnissen unsere schwere Artillerie kaum vorwärts bringen. Die Truppen leisten das möglichste und überwinden Schwierigkeiten, von denen der Unbeteiligte sich kaum eine Vorstellung machen kann.« Wolfgang Foerster Mackensen, Brief und Aufzeichnungen des Generalfeldmarschalls aus Krieg und Frieden, Leipzig 1938, S. 234–241.

Nachdem am 12. August die ersten österreichisch-ungarischen Soldaten die Grenzflüsse Drina und Save überquert hatten, wurden vielerorts Galgen aufgestellt und unzählige Todesurteile an Menschen vollstreckt, die der »Spio­ nage« beschuldigt waren. Oft reichten dazu einfache Verdächtigungen oder Schuldzuweisungen mit dünner oder keiner Beweiskraft. Soldaten Österreich-Ungarns verübten in Serbien sys­ tematisch Verbrechen an Zivilisten. Gleichzeitig waren die österreichischungarischen Soldaten durch einen Guerillakrieg mit irregulären serbi­ schen Verbänden, sogenannten Komitas bzw. Komitadschis, bedroht, die auch in bereits eroberten Gebieten aus dem Hinterhalt schossen. Die österreichisch-ungarische Heeresführung reagierte mit Verhaltensvorgaben an die eigenen Truppenkommandanten: »In jedem Einwohner, den man außerhalb der Ortschaft, besonders in Waldungen trifft, sehe man nichts anderes als Bandenmitglieder, welche Waffen irgendwo versteckt haben; diese zu suchen haben wir keine Zeit; man mache diese Leute, wenn sie halbwegs verdächtig erscheinen, nieder.« Hinrichtungen galten als gängiges Mittel zur »Disziplinierung« der serbischen Zivilbevölkerung. Exeku­

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tionen auf öffentlichen Plätzen sollten eine abschreckende Wirkung erzielen. Die Erhängten blieben teilweise über mehrere Tage am Galgen hängen. Ein Schild um den Hals beschrieb das todeswürdige Vergehen. Zeitgenössische Quellen sprechen von 11 400 bis 36 000 serbische Zivilisten, die in den ersten Kriegsmonaten getötet wurden. Die erste österreichisch-ungarische Offensive indes geriet innerhalb weniger Tage ins Stocken. In der Schlacht von Cer kam es zur ersten großen Niederlage der k.u.k. Armee, nicht zuletzt aufgrund der deutlich höheren Kampf­ erfahrung der serbischen Soldaten, für die der Erste Weltkrieg nach den beiden Balkankriegen von 1912/13 bereits der dritte Krieg in kurzer Folge war. Bis zum 20. August zogen sich die Soldaten der Doppelmonarchie aus Serbien zurück. Dabei verübten sie in verschiedenen Ortschaften Gewalttaten an der Zivilbevölkerung. In der grenznahen Handelsstadt Šabac wurden am 17. August 1914 zwischen 60 und 80 Zivilisten auf dem Kirchplatz zusammengetrieben und erschossen. Die genauen Gründe dafür lassen sich nicht mehr rekonstruieren; eine zeitgenössische Quelle spricht davon, dass die Bewohner des Ortes bei der eintreffenden Nachricht über heranrückende serbische Verbände »unruhig wurden«. In Lešnica verübten k.u.k. SoldaMHM

Feldmarschall August von Mackensen: Tagebucheintrag

5»Österreichische Kultur in Serbien.« Hinrichtung serbischer Zivilisten durch Soldaten der k.u.k. Monarchie.

Familie Kimmel

5Um zu überleben, musste alles verwertet werden, auch das Fleisch der Tragtiere (1915).

ter Missachtung seiner Neutralität, im selben Monat umfangreiche französische Munitionstransporte passieren. Nach wie vor fehlte es der serbischen Armee jedoch an Bekleidung und festem Schuhwerk. Das dritte Aufgebot, circa 45 000 Mann, trug Zivilkleidung oder erbeutete Uniformen des Gegners – so wie auch Stevan, der nach seiner Flucht aus Jarak als Freiwilliger im serbischen Heer diente. Serbien bot jeden Mann und jeden Jungen auf, der ein Gewehr tragen konnte. Diese Streitmacht drängte die k.u.k. 5. und 6. Armee innerhalb von zwei Wochen aus dem Land. Die österreichisch-unga-

rische Heeresleitung ließ die Brücken über die Save abbrechen, der Feldzug war endgültig gescheitert.

Bulgarien greift ein Die militärische Situation blieb bis weit in das Jahr 1915 hinein unverändert; keine der Konfliktparteien konnte weitere bedeutende Erfolge für sich verbuchen. Erst der Kriegseintritt Bulgariens auf Seiten der Mittelmächte sowie eine von starken deutschen Verbänden unterstützte neue Offensive ÖsterreichUngarns, an der auch der eingangs zitierte Soldat Paul Rockstroh teilnahm,

Serbische Nationalbibliothek

ten ein Massaker an etwa 100 Dorfbewohnern, darunter zahlreiche Kinder. Auch Stevan Idjidovićs Heimatdorf Jarak, nur 12 Kilometer von Šabac entfernt, blieb nicht verschont. Die Ortschaft lag direkt an der Frontlinie und wechselte mehrfach den Besitzer. Die k.u.k. Soldaten machten oftmals keinen Unterschied zwischen Serben und serbischer Minderheit im eigenen Land, wie auch Stevan Idjidovic ­Stevens in Jarak beobachtete: »An has­ tig errichteten Galgen in der Nähe des Friedhofs waren wir mit dem grausigen Anblick von sechs baumelnden Körpern konfrontiert. Die Leichen von fünf alten grauhaarigen serbischen Bauern und einer jungen serbischen Bäuerin bewegten sich sacht im Wind.« Nachdem Jarak im August beim öster­reichisch-ungarischen Rückzug zwischenzeitlich von serbischen Sol­ daten eingenommen worden war, kehrten die k.u.k. Truppen am 13. September 1914 zurück. Am darauffolgenden Tag wurde Stevan von Geschrei und Lärm geweckt. In seinen Erin­nerungen beschreibt er, dass österreichisch-ungarische Soldaten als Rache für die angebliche Unterstützung des Feindes Häuser in Brand setzten und wahllos auf die Bewohner schossen. »Wir konnten nicht verstehen, warum sie unsere serbischen Dörfer anzündeten; wir waren über Generationen ­loyale Untertanen des Kaiserreichs gewesen.« Stevan wurde dabei von seiner Familie getrennt, sein Vater erschossen. Dem Jungen gelang die Flucht aus dem von k.u.k. Truppen besetzten Dorf, indem er den mehrere hundert Meter breiten Grenzfluss Save schwimmend durchquerte. Die Gewalttaten ereigneten sich sowohl in Šabac als auch in Jarak unter der Befehlsgewalt des k.u.k. Generals Kasimir Freiherr von Lütgendorf, der sich dafür nie vor Gericht verantworten musste. Auch die zweite im September angelaufene Offensive des österreichischungarischen Militärs gegen Serbien scheiterte aufgrund mangelnder Artillerieunterstützung, schlechten Wetters und eines »zeitweiligen Führungschaos«. Doch im Oktober marschierten erneut zwei k.u.k. Armeen in Serbien ein, die am 2. Dezember Belgrad eroberten. Zur Unterstützung der serbischen Armee ließ Griechenland, un-

5»Beeilt Euch! Die Kinder frieren!« (1915).

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Serbische Nationalbibliothek

Serbien 1915

und ihr Kind, die umarmt in einem matschigen Straßengraben lagen, oder das einsame Kind, das tot am Wegesrand zurückgelassen worden war, ohne dass es von den Vorbeiziehenden betrauert wurde. Der Tod war überall in einem solchen Ausmaß, dass er seinen Schrecken für uns verlor.«

Letzte Zuflucht auf Korfu

5»Verloren im Schnee« (1915).

führten im November 1915 zur Niederlage der serbischen Armee. Eine entscheidende alliierte Unterstützung blieb trotz der Entsendung britischfranzösischer Soldaten nach Thessaloniki aus, da die zentrale Bahnstrecke durch die bulgarische Armee erobert worden war. Einer Einkreisung konnten die serbischen Truppen nur durch die Evakuierung nach Südwesten an die Adria entgehen. Ihr Weg führte über das Bergmassiv Albaniens und Montenegros. Der riesigen Kolonne aus Soldaten der serbischen Armee schlossen sich unzählige Zivilisten an. Flüchtlinge sah auch Paul Rockstroh: »Wer das nicht gesehen hat, kann sich gar kein Bild machen. Wie das nur Mensch, Vieh u. Wagen aushalten können, ist ein Wunder. Man muß sich immer nur fragen, für was eigentlich diese kolossalen Anstrengungen gebracht werden. Etwas Widersinnigeres wie ein derartiger Krieg kann es gar nicht geben. Was für Not u. Elend dadurch über ein Land heraufbeschworen werden, zeigen nicht zuletzt auch die vielen Flüchtlinge, die uns begegnen. Leute mit Ochsenwagen, darauf ihr bißchen Hab u. Gut, soviel sie gerade fort kriegen. Und dann die klei-

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nen Kinder. Dabei zeigen aber die Leute kein Murren, sie nehmen vielmehr die Mütze ab, wenn sie an uns vorüber ziehen. Es wäre ein Glück für alle beteiligten Völker, wenn bald Frieden würde.« Vor allem den bulgarischen Truppen versuchten die Serben zu entgehen, denn sie befürchteten Vergeltungsmaßnahmen für die bulgarische Niederlage im Zweiten Balkankrieg. Unter den Flüchtenden befanden sich auch viele Angehörige der serbischen Oberschicht sowie der Regierung und der Königsfamilie, darunter der serbische König Petar I. und sein Sohn Aleksandar. Während des Marsches über die Berge starben unzählige Menschen infolge von Hunger und Kälte, andere wurden von albanischen Bergbewohnern getötet oder stürzten auf den vereisten Gebirgspässen in die Tiefe. Auch Stevan Idjidović marschierte als Soldat der 2. Armee über den Čakor-Pass: »Man konnte zwar keine Straße erkennen, aber der richtige Weg war nicht zu verfehlen. Er war von erfrorenen Menschen gesäumt, den Körpern der Soldaten und Flüchtlinge, die uns vorausgegangen waren. […] Erschütternde Szenen sah ich, etwa die tote Mutter

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Das Ziel der flüchtenden Truppen und Zivilisten waren die Hafenstädte Durrës, Vlorë und Shëngjin an der Adriaküste. Am 8. Januar 1916 beschlossen die Alliierten die Errichtung eines Auffanglagers auf der griechischen Insel Korfu, für den Transport standen 87 zivile und 70 Kriegsschiffe bereit. Französische Quellen nennen die Zahl von insgesamt 169 828 Menschen, die verschifft wurden, davon 140 000 Soldaten. Noch drei Monate zuvor war die serbische Armee etwa 420 000 Soldaten groß. Auf Korfu entstanden Zeltlager für die Mannschaften, Schwerverwundete brachte man auf die kleine Insel Vido, die von Überlebenden nur noch »Insel des Todes« genannt wurde. Der dortige Friedhof bot nach kurzer Zeit keinen Platz mehr, sodass die Verstorbenen nur noch im Meer bestattet werden konnten. Die Zahl der Menschen, die den Strapazen dieses Marsches zum Opfer fiel, ist bis heute unbekannt. Einige Schätzungen gehen von bis zu 240 000 Toten aus. Allein 11 000 Menschen starben infolge der entbehrungsreichen Flucht in den alliierten Auffanglagern Griechenlands. Mit insgesamt etwa 600 000 ­Toten erlitt die serbische Armee im Verhältnis zur eigenen Gesamtbevölkerung die größten Verluste aller am Ersten Weltkrieg teilnehmenden Staaten. Die Zahl der Toten unter der Zivilbevölkerung war ähnlich hoch. Allein infolge der Cholera- und Typhusepidemie im Winter 1914/15 starben über 100 000 Serben. Nicht zuletzt aufgrund dieser enormen Verluste an Menschenleben erfuhr der Erste Weltkrieg in der serbischen Literatur eine erhebliche Beachtung und Bedeutung als nationales Epos, in der die Flucht über die albanischen Berge als »serbisches Golgota« beschrieben wird. Auch Stevan Idjidović erreichte im Frühjahr 1916 die Insel Korfu. Als einer der Letzten konnte er in Vlorë ein völ-

Jahrestages des Kriegsbeginns, Serbien lediglich im Zusammenhang mit dem kriegsauslösenden Attentat von Sarajevo – dies habe, so der Produzent, mit Geld zu tun. Der sogenannte Zug der Hunderttausend vor 100 Jahren ist heute außerhalb Serbiens vergessen.  Gorch Pieken

Literaturtipps Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918, Darmstadt 2008. Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2007.

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lig überfülltes französisches Schiff besteigen. Sein Versuch, sich für die Kämpfe an der russischen Front freiwillig zu melden, scheiterte an seinem Alter. Stattdessen war er einer der 8500 serbischen Schüler und Studenten, die zur Ausbildung nach Frankreich, Großbritannien oder in die Schweiz geschickt wurden. Über die Zwischenstation Marseille kam er im Herbst 1916 nach Oxford, wo er ein Studium der Forstwissenschaften am St. John’s College absolvierte. Später wanderte er in die USA aus. Österreich-Ungarn und Bulgarien teilten derweil das Staatsgebiet Serbiens unter sich auf, die Grenze bildete der Fluss Morava. Die serbische Regierung verblieb im Exil auf Korfu und baute eine neue 125 000 Mann zählende serbische Armee auf. Erst am 1. November 1918 befreiten serbische Truppen die Hauptstadt Belgrad, zwei Tage später schied Österreich-Ungarn aus dem Krieg aus. Die Donaumonarchie zerfiel, während auf dem Balkan das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugo­slawien genannt) entstand. In der westeuropäischen Geschichtserzählung zum Ersten Weltkrieg findet der serbische Kriegsschauplatz kaum Beachtung. So erwähnt etwa die achtteilige internationale TV-Koproduktion »14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs«, produziert aus Anlass des 100.

5Die an Entkräftung, ihren Verwundungen oder Krankheiten verstorbenen Serben wurden auf dem offenen Meer vor der Insel Vido bestattet (1916).

Sie marschieren Ihre Augen lugen aus Schreckenskarsten Wie geöffnete Gräber, ihrer beraubt Seelen. Im heißen Atem die Lippen barsten. Über ihnen Schicksalsschwaden schwelen. Statt der Glocke schlägt das Herz die Stunden: Läutet Schrecken ein, in der Luft klirrt Eis. Glückliche Unschuld röchelt über Abgründen. Es verwest das Alter, der Junge wird zum Greis. Und die Gesandten der Hölle, sie marschieren. Und ihnen voran ein tollwütiges Bacchanal. Die Häuser erbeben, Fenstergläser klirren. Ruhe, Lärm und Nacht ersterben mit einem Mal. Erfrorene Seelen, nur die Finger zittern noch Wie kräftige Leiber, die man auf kalte Schwerter spießt. Mancher schlägt über der Stirn das Kreuz doch als Geste der Freiheit, die nicht mehr als Kinderweinen ist. (1916)

Übersetzung von Richard Schuberth. In: Gordana Ilic´ Markovic´ (Hrsg.), Veliki Rat. Der große Krieg. Der Erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Literatur und Presse, Wien 2014, S. 198.

Nach der Besetzung Belgrads durch die Mittelmächte am 9. Oktober 1915 brachte Vladislav Petkovic´ Dis seine Familie in die Stadt Cˇacˇak, wo sie ein sicheres Unterkommen fand. Er selbst schloss sich dem Zug der serbischen Armee über die albanischen Berge an und erreichte Korfu. Von dort wurde er gemeinsam mit anderen Serben nach Frankreich gebracht, um von den Strapazen zu genesen. Unter der Trennung von seiner Frau und seinen beiden Kindern litt Dis so sehr, dass er sich entschloss, vorzeitig nach Korfu zurückzukehren, um sich von dort nach Serbien durchzuschlagen. Die »Italia«, das Schiff, das ihn als Passagier aufnahm, wurde vor der Küste Korfus am 29. Mai 1917 torpediert und versenkt. Vladislav Petkovic´ Dis ertrank.

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2015

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Innere Führung

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m 12. November 2015 jährt sich die Ernennung der ersten Soldaten der Bundeswehr zum 60. Mal. Als wesentliches Markenzeichen der Bundeswehr gilt seither die »Innere Führung«. Konzipiert für Streitkräfte in der Demokratie nach der bedingungslosen Niederlage der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, bildete die Innere Führung das innere Gefüge für den vorgesehenen Kampf der Bundeswehr im konventionellen und atomaren Kalten Krieg. Dazu ist es nie gekommen und mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation fiel ab 1990 ein grundlegendes Element der Inneren Führung weg. Folgt man dieser Logik weiter, dann müsste sich doch eigentlich auch die Innere Führung ab 1990 erledigt haben oder zumin­dest einer Reform unterzogen worden sein. Jedoch besteht sie weiterhin fort, obwohl sie schon mehrfach totgesagt oder als ungeeignet für die Bundeswehr, besonders im Auslands­ einsatz, abgewertet worden ist. Die Kritik an der Inneren Führung ist älter als die Bundeswehr selbst und offenbart bisweilen eine schon beängstigende Un­kennt­nis des Entstehungszusammenhanges sowie der Inhalte der Organisations- und Führungsphilosophie der Bundeswehr.

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Die Innere Führung im Spiegel von 60 Jahren

Deutsches Konzept Wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Geschichte der Wehrmacht belegen den Wandel vor allem des Heeres von der Auslese- zur übergreifenden Annahmeorganisation in der Personalrekrutierung. Die Wehrmacht veränderte sich vor allem während des Krieges zu einer nationalsozialistischen Volksarmee. Daher mögen sich durchaus manche Elemente der nationalsozialistischen Volksarmee auch in der Inneren Führung der Bundeswehr wiederfinden. Auch deshalb hieß es im Handbuch Innere Führung aus dem Jahr 1957: »Innere Führung ist keine

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512. November 1955: Bundesverteidigungsminister Theodor Blank spricht in einer Feierstunde zu den ersten 101 Offizieren der Bundeswehr, die ihre Ernennungsurkunden aus seinen Händen erhielten. Nur zwölf der Offiziere waren in Uniform erschienen.

Erfindung der Bundeswehr. Sie ist nur ein neuer Begriff für ein Bündel von Führungsaufgaben, die es zu allen Zeiten in der Truppe gegeben hat, die uns heute aber in neuer Form und nachdrücklicher als früher gestellt sind.« Fundamental anders waren aber nun die Staatsverfassung und das politische System. Die Bundesrepublik

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Deutschland verstand sich als radikaler Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Deutschland. Im Grundgesetz von 1949 wurden ausdrücklich die individuellen Grundrechte an erster Stelle genannt und die Menschenwürde als unantastbar verankert. Ein Bezug der freiheitlich-pluralistisch-demokratischen Bundesrepublik zu einem totalitären Unrechtsstaat wie

tions­phase zu den künftigen westdeutschen Streitkräften voraus. Ehemalige, von den westlichen Alliierten beauftragte Wehrmachtgenerale machten sich Gedanken, wie die Aufstellung neuer deutscher Streitkräfte unter den nunmehrigen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen gelingen könnte. Alle ihre Denkschriften gingen von ­einer unabänderlichen Voraussetzung aus: Die Streitkräfte mussten sich in die demokratische Staatsordnung des neuen westdeutschen Staates und in das Bündnissystem seiner Besatzungsmächte einfügen. Die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland sollten sich somit entweder als »Deutsches Kontingent« in eine supranationale Europaarmee (Europäische Verteidigungsgemeinschaft, EVG) eingliedern oder größtenteils integraler Bestandteil des NATO-Bündnisses werden. Im »Amt Blank«, benannt nach dem Beauftragten/Bevollmächtigten des Bundeskanzlers für die mit der Vermeh­ rung der Alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen und späteren ersten Bundesminister für Verteidigung Theodor Blank, arbeiteten zivile SZ Photo

dem »Dritten Reich« und seiner Armee verbot sich daher von vornherein. Die Wehrmacht konnte somit nicht zu einem Muster für die neuen westdeutschen Streitkräfte werden, obgleich personelle Kontinuitäten und organisatorische Ableitungen unvermeidlich blieben. Der »politische Soldat« der Wehrmacht konnte aber niemals der »politische Soldat« der Bundeswehr sein. Demokratie und Diktatur standen sich hier unversöhnlich gegenüber und mussten daher zu einem grundlegenden Neuanfang im Bereich des inneren Gefüges der neuen westdeutschen Streitkräfte führen. Rückgriffe auf Errungenschaften der ersten deutschen Armee in der Demokratie, der Reichswehr in der Weimarer Republik (1919 bis 1933/35), waren aufgrund des Rekrutierungssystems und der Entwicklung zum »Staat im Staate« ebenfalls nur sehr begrenzt möglich. Mit der Bundeswehr wurden im Jahr 1955 die ers­ ten deutschen Streitkräfte in der Demo­ kratie und mit einer Allgemeinen Wehrpflicht seit der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 aufgestellt. Dem Aufbau der Bundeswehr ging eine seit 1948 beginnende Konzep­

510. Februar1965: Ulrich de Maizière, Wolf Graf von Baudissin und Johann Graf von ­ ielmansegg (v.li.) erhalten den Freiherr vom Stein Preis für ihre Verdienste um die K »Innere Führung« der Bundeswehr in einer Feierstunden im Auditorium Maximum der Universität Hamburg.

und militärische Experten an der Konzeption der neuen Inneren Führung. Am 10. Januar 1953 verfügte Blank als Ziel, »den Typ des modernen Soldaten zu schaffen und fortzubilden, der freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich ist«. Die maßgeblichen Bearbeiter des Konzepts ­waren zuvorderst Wolf Graf von Baudissin und danach Ulrich de Maizière. In vielen Sitzungen des zuständigen Bundestagsauschusses trugen sie das Konzept den Sicherheitspolitikern vor. Anders als die Reichs­tagsabge­ ordne­ten in der Weimarer Republik übten die Bundestagsabgeordneten einen entscheidenden Einfluss auf das innere Gefüge der künftigen Streitkräfte aus. In der Wehrmacht hatte in einigen Ausbildungseinheiten die Praxis geherrscht, den einzelnen Rekruten seiner Würde zu berauben. Zwar hatte die Wehrmacht auch über ein Beschwerderecht verfügt, in der Realität hatte das freilich oft anders ausgesehen. Das Beispiel der Wehrmacht im Nationalsozialismus hatte im Ergebnis zu drastisch belegt, dass der militärische Befehl über allen sittlichen und moralischen Werten rangiert hatte – viele Soldaten waren deshalb zu Verbrechern geworden. Solche Verbrechen durften in den Streitkräften der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr möglich sein. Daraus leiteten sich dann Forderungen für das Konzept der Inneren Führung ab. Im »Amt Blank« orientierten sich die Beamten und militärischen Experten an bereits bestehenden Vorbildern. Eine Studienkommission des »Ausschusses für Fragen der europäischen Sicherheit« des Deutschen Bundestages (die Vorgängerinstitution des Bundestagsausschusses für Verteidigung) besuchte 1954 den Militärbeauftragten in Schweden und beobachtete »die Gestaltung der Inneren Führung in der schwedischen Wehrmacht«. So überwachte im Verteidigungsstab (Oberkommando) der schwedischen Armee eine eigene Abteilung (Personalpflege) die menschlichen und sozialen Belange der Soldaten. Außerdem wurde das Militärstrafgesetzbuch und die Militärstraftaten abgeschafft. Das schwedische Modell wurde für die Bundeswehr zu einer deutschen Variante weiterentwickelt.

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Innere Führung

Organisations- und Führungsphilosophie

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Bei allen Unterschieden im Politik-, Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zwischen Schweden und der Bundesrepublik Deutschland existierten doch einige Parallelen. Beide Demokratien benötigten einen Soldaten, der vor allem als Persönlichkeit überzeugen musste. Aus ihm sollte dann der Einzelkämpfer geformt werden, der sich aus Überzeugung unterordnete und genau wusste, wofür er Soldat geworden war und wofür er kämpfen sollte. Aus dem Konzept im »Amt Blank« wurde in der Bundeswehr ab 1955 dann die Innere Führung. In der Umsetzung nahm der »Staatsbürger in Uniform« die Härten, Entbehrungen und notwendigen Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit im militärischen Alltag auf sich, um die freiheitliche Lebensordnung zu schützen. Solch ein Soldat konnte als Spezialist seinen Auftrag nur erfüllen, wenn er ohne persönliche Schikane in einer hoch technisierten Armee den Krieg im Atomzeitalter auch führen konnte. Die-

ser Soldat brauchte bis auf die Pflicht zur Disziplin und Kameradschaft sowie das Ansehen in der Öffentlichkeit weiter keine einschränkenden Freiheiten mehr hinzunehmen. Eine rechtsstaatliche Militärgerichtsbarkeit mit ­einer in der Ziviljustiz üblichen Trennung zwischen Strafverfolgungsbehörde und Rechtsprechung bildeten daher eine wesentliche Grundlage. Die Verrechtlichung des militärischen Systems erhoben der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung ab 1955 zur Handlungsmaxime. Streitkräfte in der Demokratie benötigten besonders die Berücksichtigung der persönlichen Freiheit, die Mitverantwortung des einzelnen Soldaten und die Fürsorge der Vorgesetzten. Die Innere Führung stellte vor allem an die Vorgesetzten hohe intellektuelle Anforderungen und erforderte sowohl eine solide schulische als auch militärische Ausbildung. Der »Staatsbürger in Uniform« war und ist eine gleichwertige Kombination aus freiem Menschen, gutem Staatsbürger und vollwertigem Soldaten. Eine beabsichtigte Verschiebung dieser drei gleichwertigen Elemente, insbesondere die oft geforderte höhere Gewichtung des »vollwertigen Soldaten« führten zu mehreren Krisen in der Inneren Führung. Doch gerade die Krisen der Inneren Führung lieferten den Beleg ihrer Funktionsfähigkeit. In den folgenden Ausführungen werden daher diese drei Elemente über die gesamten 60 Jahre kurz überblickt.

Freier Mensch

5Gründung der Bundeswehr, 1955 »Vom künftigen deutschen Soldaten. Gedan­ken und Planungen der Dienst­ stelle Blank«.

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Der Freiheitsbegriff war einer der zentralen Aspekte in der Konzeptionsphase und in der Umsetzung der Inneren Führung. In der Schrift der Dienststelle Blank »Vom künftigen deutschen Soldaten« aus dem Jahr 1955 hieß es: »Der totale Staat erzieht seine Bürger zum Sterben und verspricht das Heil der Urenkel. Freie Völker achten es für recht, ein tätiges und verantwortungsvolles Leben zu führen. […] Die freie Welt lehnt die totalitäre Verstaatlichung ab. Sie strebt nach der Vermenschlichung des Staates.« In der Bundesrepublik Deutschland besaß und besitzt der Staat das Gewaltmonopol. In dieser Konsequenz mussten den Streitkräften in der Demokratie auch enge Schranken im Umgang mit dem

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Menschen als Soldat gesetzt werden. Das des Öfteren angeführte Argument, dass inzwischen, anders als noch in den 1950er Jahren, die Demokratie gefestigt sei und die Streitkräfte in den verbündeten westlichen Demokratien eine engere Auslegung der Freiheitsrechte des Soldaten aufweisen würden, greift hier zu kurz. Auch nach der Deutschen Einheit im Jahr 1990 veränderten sich diese Prämissen nicht. Vielmehr war es wieder einmal notwendig geworden, unfreie Menschen aus einem totalitären Staat in eine freie Gesell­schaft und deren Armee zu überführen. ­Neben dieser Gültigkeit für die Bundeswehr der Einheit erhielt der Freiheitsbegriff auch eine zentrale Rechtfertigung für die Auslandseinsätze.

Guter Staatsbürger Der Soldat musste ein guter Staatsbürger im Sinne eines positiven Bekenntnisses und aktiven Eintretens für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland sein. Der Primat der Politik, der wiederum parlamentarisch kontrolliert und von den Staatsbürgern per Wahl legitimiert wurde, blieb uneingeschränkt erhalten. Die Ausübung der Befehls- und Kommandogewalt, das Soldatengesetz, die Vorgesetztenverordnung erhielten klare Regelungen und sie setzten Rechte sowie Pflichten für alle Soldaten. Der Bundeswehrsoldat verfügt seither im Gegensatz zu den Soldaten bis 1945 über das aktive und passive Wahlrecht und somit über alle staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Der »gute Staatsbürger« konnte aber in der Praxis durchaus in Konflikt mit dem Soldaten kommen. Gerade in der Zeit des gesellschaftlichen Wandels, die mit der Chiffre »1968« verbunden wird, lehnten sich viele Soldaten gegen politische Vorgaben auf und demonstrierten für ihre staatsbürgerlichen Rechte wie die freie Meinungsäußerung Ein »guter Staatsbürger« fordert auch seine Rechte ein. Daher musste sich die Bundeswehr auch an gesellschaftliche Veränderungen im Hinblick auf Frauen in den Streitkräften, Familienfreundlichkeit, Attraktivität und »Diversity Management« anpassen.

Pa/dpa/Thomas Frey

5Soldaten sudanesischer, vietnamesischer, syrischer und kasachischer ­Herkunft dienen am 1. Juni 2001 ­gemeinsam in der Koblenzer Falcken­ stein-­Kaserne.

Und wie die Erfahrungen in der bisherigen Geschichte deutlich zeigten, war damit zu keinem Zeitpunkt die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr gefährdet. Vielmehr zeigten diese Krisen der Inneren Führung gerade die Praxistauglichkeit. Eine Armee mit dem inneren Gefüge der Wehrmacht wäre dagegen wohl an solchen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gescheitert.

Vollwertiger Soldat Die Innere Führung versinnbildliche die »weiche Welle«, mit ihr sei kein »kerniger Kommiss« möglich oder sie sei nur »die Maske«, die politisch gewollt, aber militärisch unsinnig sei und daher abgelegt werden müsse. Solche Äußerungen oder Skandale finden sich immer wieder als Krisen in der Inneren Führung. Der Soldat der Bundeswehr sei ja auch kein vollwertiger Kämpfer,

da er ja eher einem uniformierten Beamten entspreche, so die damaligen Kritiker. Gesellschaftlich veranlasste Wandlungsprozesse, die sich auch in den Streitkräften auswirken sollten, wurden in dieser Logik als unsoldatisch abgetan, gleichwohl wurde aber stets die Anerkennung der zivilen Gesellschaft für den soldatischen Dienst eingefordert. Bis auf wenige lautstarke Kritiker zeigten sich doch die Millionen von Bundeswehrsoldaten in den 60 Jahren mit den Errungenschaften der Inneren Führung sehr zufrieden und sahen sich selbst auch als vollwertige Soldaten an. Im Kern der Inneren Führung stand auch stets der tapfere Soldat und harte Kämpfer im »permanenten Bürgerkrieg« und »im heißen Gefecht«, wie es im ersten Handbuch Innere Führung hieß. Innere Führung bedeutete eben nicht Verweichlichung, sondern erforderte vielmehr Härte und Zivilcourage. Das militärische Prinzip von ­Befehl und Gehorsam sowie die hierarchische Ordnung wurden zu keiner Zeit in der Geschichte der Inneren Führung in Frage gestellt. Einzig setzten das Grundgesetz und die daraus abgeleitete gesetzliche Ordnung eindeutige Schranken. Die Bundeswehrsoldaten waren während des gesamten Kalten Krieges vollwertig und einsatzbereit gewesen. Sie waren es auch in den heißen Gefechten der Auslandseinsätze ab 1990. Zwar haben sich nach 1990 die Anforderungen an den Bundeswehrsoldaten und das Kriegsbild verändert, aber doch wiederum nicht so fundamental, dass sich eine Überhöhung des »vollwertigen Soldaten« gegenüber dem »freien Menschen« und dem »guten Staatsbürger« rechtfertigen lassen würde. Schließlich wäre solch eine Interpretation gegen den Geist der Inneren Führung, die man zwar durchaus neu verfassen könnte. Eine Reform in diese Richtung wäre aber gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gerichtet und somit verfassungswidrig.

Bilanz und Perspektiven Die Innere Führung bewährte sich in der Aufbauphase der Bundeswehr, um aus Wehrmachtangehörigen Soldaten in der Demokratie zu machen, sie bewährte sich in den 1970er und 1980er

Jahren, als trotz der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Bundeswehr zur besten (Technisierung, Ausbildungsstand, Bildungsstand, Einsatzwert) deutschen Armee im 20. Jahrhundert wurde, und schließlich bewährte sie sich auch bei der Integration von NVA-Angehörigen in die Bundeswehr und bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Die Innere Führung erwies sich als derart elastisches Korsett, dass kritische Haltungen sowie politische und gesellschaftliche Veränderungen erfolgreich in die Streitkräfte sowie in die gesamte Bundeswehr integriert werden konnten. Die Innere Führung gilt daher nicht nur für die Streitkräfte, sondern sie ist die Organisations-und Führungsphilosophie der gesamten Bundeswehr. Sie regelt sowohl den organisatorischen als auch wertorientierten Umgang der Vorgesetzten mit den Untergebenen unter Aufrechterhaltung des Gehorsamsprinzips sowie des Führens mit Auftrag im Rahmen der Wert- und Normenordnung des Grundgesetzes und der Ausführungsgesetze der Bundesrepublik Deutschland in der Bundeswehr. Wem diese Definition als zu kompliziert und sperrig erscheint, dem sei noch diese prägnante Beschreibung angeboten: Die Innere Führung vereint in einer Person den Soldaten, Beamten, zivilen Mitarbeiter und den in der freiheitlichen Ordnung lebenden Staatsbürger. Diese Charakterisierung des Staatsbürgers in und ohne Uniform bleibt das grundlegende Element, das sich hoffentlich zukünftig in der Bundeswehr und in der Bundesrepublik Deutschland niemals verändern wird.

 Rudolf J. Schlaffer

Literaturtipps Frank Nägler, Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65, München 2010. Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hrsg.), Wolf Graf von Baudissin 1907–1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2007. Rudolf J. Schlaffer, Der Wehrbeauftragte 1951 bis 1985. Aus Sorge um den Soldaten, München 2006.

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Bismarck in der Bundeswehr

pa/akg images

Das Bismarck-Bild in der Bundeswehr

5Bismarcks Rede zum Landwehrgesetz.

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ir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.« Im Deutschen Kaiserreich wusste jeder, dass Reichskanzler Otto von Bismarck diesen Ausspruch geprägt hatte. Die enorme Verbreitung dieser Worte zeigt, wie sehr Bismarck vom deutschen Zeitgeist vereinnahmt wurde. Immer wieder zitiert und auf allerlei Nippes und Kitsch verewigt, passte das Zitat nur zu gut zum Bild vom »Eisernen Kanzler«, das viele von ihm zeichneten und das er auch selbst gern bediente. Ein guter Teil dieses Bildes war militärisch: Zu Lebzeiten war Bismarck gern in Uniform der Halberstädter Kürassiere aufgetreten, denen er als Offizier à la suite zugeordnet war. Seine Rolle in den sogenannten Reichseinigungskriegen zwischen 1864 und 1871 machte ihn ebenso wie seine teils martialischen Äußerungen, die auf einem ausgesprochenen Sinn für Realpolitik basierten, für ein nationalistisches und militaristisches Denken anschlussfä-

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hig. So verwundert es nicht, wenn dieses Bismarckbild in der Erinnerungskultur eine Fortsetzung fand. Das 1906 eingeweihte Bismarck-Denkmal in Hamburg, das zu einer nationalen Ikone wurde, zeigt Bismarck als standfesten Ritter, der sich auf ein mächtiges Schwert stützt.

Der Mythos Bismarck Bismarcks Popularität ist nicht nur auf seine markigen Sprüche, sondern auch auf sein Wirken zurückzuführen. Schon dessen erste Züge auf dem politischen Schachbrett waren umstritten. Kurz nach seinem Amtsantritt als preußischer Ministerpräsident 1862 machte er sich bei den Liberalen unbeliebt, als er den Wehretat ohne Zustimmung des Parlaments festsetzte. Damit ermöglichte er Militärreformen, die ­einen entscheidenden Anteil an den Erfolgen der preußischen Armeen zwischen 1864 und 1871 hatten. Jetzt wurden viele Gegner Bismarcks zu seinen

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Anhängern, hatte er doch mit der Reichsgründung die sehnlichsten Wünsche vieler Deutscher verwirklicht. Während er ein vielbewundertes europäisches Bündnissystem schmiedete, polarisierte er innenpolitisch durch seine Kampfmaßnahmen gegen Katholiken und Sozialisten. All das bot genug Stoff für Bewunderung und Kritik, auf jeden Fall sicherte es Bismarck lange den prominentesten Platz in der deutschen Erinnerung. Nach seinem Tode 1898 wurde Bismarck zum Mythos, zum Sinnbild einer glorreichen Vergangenheit; entrückt von der historischen Person konnte die mythische Gestalt Bismarck für allerlei Ideen und Ideologien vereinnahmt werden. Es gab eine große Anhängerschaft, die sein Erbe bewahren wollte, indem sie ihre Politik an ihm ausrichtete und mit ihm legitimierte. Im Rückgriff auf Bismarck war es möglich, an vertrautes Wissen anzuknüpfen und auch komplexe Botschaften verständlich darzustellen. Das

nutzten rechte wie auch linke Politiker im Kaiserreich und in der Weimarer Republik aus.

Armee, Gesellschaft und ­Geschichte nach 1945

bpk

Doch die oft bemühte militärische Seite Bismarcks war nach 1945 diskreditiert. Der »Bismarck in Kürassierstiefeln« galt als Verkörperung des deutschen Militarismus. Ein solches Denken, von den Alliierten als »Krankheit« bezeichnet, sollte durch die Auflösung des Staates Preußen 1947 auch symbolisch zu Grabe getragen werden. Obwohl seine Popularität sogar diese geschichtspolitische Zäsur überdauerte, war ein militärischer Bismarck für die 1955/56 gegründete Bundeswehr im Grunde unbrauchbar, denn die neuen (west)deutschen Streikräfte sollten nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg in bewusster Abgrenzung zu solchen Traditionen aufgebaut werden. Allerdings lassen sich einflussreiche politische Mythen nicht einfach per Verordnung entsorgen. War es möglich, in Bismarck, weiterhin einer der populärsten Deutschen, einen unbelasteten historischen Anker für die Bundeswehr zu finden? Die Bundeswehr basierte auf einem doppelten Selbstverständnis: Auf der einen Seite stand die radikale Absage an militärische Traditionen. Paradigmatisch dafür ist die Himmeroder

Denkschrift, die im Oktober 1950 während eines Treffens ehemaliger Wehrmachtoffiziere entstand. Sie hielt fest, dass »die Voraussetzungen für den Neuaufbau« einer deutsche Armee »von denen der Vergangenheit so verschieden« seien, dass »ohne Anlehnung an die Formen der Wehrmacht heute grundlegend Neues zu schaffen ist«. Auf der anderen Seite kommt auch heute noch keine Armee der Welt ohne den Blick zurück aus, ohne die Geschichte als Orientierungshilfe für das eigene Handeln. Innerhalb der Bundeswehr gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Reformern, die um geeignete Tradi­ tions­linien für die Truppe rangen. In den ersten Jahren nach ihrer Gründung rekrutierte sich der überwiegende Teil der Bundeswehrführung aus der Wehrmacht. Es war nicht zu erwarten, dass sich dieses Personal ohne Weiteres vom Vorbild Wehrmacht verabschieden würde. Gleichwohl war die Armee des Nationalsozialismus zumindest in offiziellen Verlautbarungen nur sehr eingeschränkt geeignet, als historischer Referenzpunkt der jungen deutschen Armee zu dienen. Unverfänglicher als die Wehrmacht waren die Traditionen der preußischen Reformzeit, mit denen die Konzepte »Innere Führung« und »Staatsbürger in Uniform« legitimiert wurden. Otto von Bismarck fiel in die Kategorie der begrenzt belasteten Tradi­

5Das 1906 eingeweihte Hamburger Bismarckdenkmal.

tionen, mit denen in der Bundeswehr die deutsche Geschichte verhandelt wurde. Er war von den Nationalsozialisten nicht rigoros vereinnahmt und damit unbrauchbar geworden. Gleichwohl stellte sich die Frage, ob Bismarck durch seinen Politikstil nicht einen deutschen Sonderweg begründet hatte, der in den Abgrund führte – »von Bismarck zu Hitler«, wie das Schlagwort lautete. Der britische Historiker A.J.P. Taylor war nicht der einzige, der nach 1945 die Auffassung vertrat, der Nationalsozialismus und Hitler seien ein notwendiger Endpunkt einer spezifisch deutschen Geschichtsentwicklung. Andere hingegen waren bemüht, den Nationalsozialismus als atypi­ schen »Unfall« darzustellen, als eine Katastrophe, die über die Deutschen hereingebrochen sei und die man nicht aus dem 19. Jahrhundert heraus erklären könne. Diese zwei Interpretationslinien bestimmen die Bismarckdeutung im Grunde bis heute. In der jungen Bundesrepublik lässt sich eine schrittweise Entfremdung von Bismarck beobachten. Bismarck hörte auf, Leitstern der Politik zu sein, weil der Glaube an historische Vorbilder durch den Nationalsozialismus erschüttert war und viele Konflikte der Bismarckzeit als überwunden galten: Die Verfassung war freiheitlich-demokratisch ausgerichtet und die politischen Außenseiter des Kaiserreiches – Katholiken und Sozialdemokraten – in Amt und Würden. Die Teilung Deutschlands in Ost und West unterstrich, dass man sich nicht mehr in der Welt des 19. Jahrhunderts befand. Es stellte sich sogar die Frage, ob Bismarcks kleindeutsches Reich von 1871 zu einer Fußnote der Geschichte werden würde. Diese Phase ermöglichte es, Bismarck zu historisieren und ein ausgewoge­ neres Urteil über ihn zu fällen. Je mehr sich die Gegenwart von seinem Werk entfernte, desto unbefangener konnte man sich ihm als historische Persönlichkeit nähern. Es war sogar möglich, dass Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) Bismarck 1971 »einen der großen Staatsmänner unseres Volkes« nannte, ohne dass es einen Aufschrei gab und Brandt des Verrats an der sozialdemokratischen Geschichte bezichtigt wurde. Lassen sich in der Bundeswehr ähnliche Entwicklungen finden, oder

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dpa

Bismarck in der Bundeswehr

5Bismarckkaserne in Schwäbisch Gmünd.

verfolgte sie einen geschichtspolitischen Sonderweg?

Das Bismarck-Bild in der ­Bundeswehr Ein Teil des öffentlichen Bekenntnisses der Bundeswehr zu Bismarck ging ausgerechnet auf die Zeit des Nationalsozialismus zurück. 1936 wurde bei Hamburg eine »Bismarck-Kaserne« errichtet und in den 1960er Jahren von der Bundeswehr mit diesem Namen übernommen. Insgesamt gab es nur zwei Bismarck-Kasernen, dagegen aber 30, die nach Teilnehmern des Zweiten Weltkrieges benannt waren. Militärangehörige eigneten sich offenbar besser zur Identitätsstiftung als der Reichskanzler, der eher als ein Teil der zivilen Sphäre begriffen wurde. Das zeigt auch ein Blick in Zeitschriften, welche die Bundeswehr herausgegeben hat. Sie sind eine wichtige Quelle, denn sie machen die Auseinandersetzungen um die Auslegung der deutschen Geschichte sichtbar. Frühe Artikel beispielsweise in der Zeitschrift »Wehrausbildung in Wort und Bild« über die Kriege 1864 bis 1871 schilderten vor allem die Genialität des preußischen Generalstabschefs Hellmuth von Moltke d.Ä. Bestenfalls kam Bismarck in diesen Beiträgen in einer Nebenrolle vor. Wenn Bismarck auch nicht im Mittelpunkt der Traditionsstiftung der Bundeswehr stand, war er bis in die 1970er Jahre auf dem subtileren Feld der poli-

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tischen Bildung ständig präsent. Wer Bismarck war, das musste der »Staatsbürger in Uniform« offenbar wissen und daher fanden sich in den Bundeswehrzeitschriften wie der »Wehrausbildung« oder den »Information für die Truppe« immer wieder Abrisse von wenigen Zeilen, die neben Lenin und dem »Alten Dessauer« auch Bismarck thematisierten. Hier überwog ein positives Bismarckbild, das durch die Kürze der Darstellung jedoch verzerrt wurde. Bismarck galt als weitsichtiger Politiker, der seinen Zeitgenossen immer einige Schritte voraus war. Lob fand auch die Einführung der gesetzlichen Sozialversicherung 1881. Das ist jedoch eine wenig differenzierte Sicht, die für die machtpolitischen Intentionen dieses Vorhabens, mit dem er das sozialdemokratische Wähler­ milieu austrocknen wollte, keinen Platz ließ. Bismarcks Leistungsbilanz wurde nur durch die Erwähnung von Kulturkampf (gegen die katholische Kirche) und Sozialistengesetz (gegen die Sozialdemokratie) getrübt, wobei das knappe Format dieser Artikel allerdings wenig Raum für differenzierte Erläuterungen bot. Eine kritische Bewertung Bismarcks setzte mithin einen historisch kundigen Leser voraus, der durch die Lektüre der Artikel in den Bundeswehrzeitschriften eigentlich erst hervorgebracht werden sollte. In den Bundeswehrzeitschriften erschienen aber auch längere Artikel zur deutschen Geschichte. Darin ließ man Professoren zu Wort kommen, um sich

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eines externen Fachurteils zu versichern. So wollte die Bundeswehr vermeiden, auf dem glatten Terrain ins Schlittern zu geraten, welches das Bismarck-Bild angesichts der Kontinuitätsdebatte zur deutschen Geschichte darstellte. Hier griff man allerdings vor allem auf die Expertise konservativer Historiker wie Theodor Schieder zurück. Diese verneinten einen geraden Weg von Bismarck zu Hitler oder umschifften die schwierige Frage ganz. Die kontroverse Innenpolitik Bismarcks wurde dagegen eher selten thematisiert. Wenn, dann geschah dies durchaus kritisch: Die »politische Freiheit der Staatsbürger war beschränkt, und das Reich war keine parlamentarische Demokratie im modernen Sinne«, monierte »Information für die Truppe« 1963. Durch einen andauernden »Machtkampf« im Innern habe Bismarck Katholiken und Sozialisten vom Reich entfremdet. Den Sozialis­ tengesetzen ließ sich angesichts der ideologischen Frontstellung des Kalten Krieges allerdings auch eine positive Seite abgewinnen. So wurde in der Unterdrückung der Sozialdemokratie im Kaiserreich auch eine notwendige Verteidigungsmaßnahme des Staates gegen gefährliche Kommunisten gesehen – eine Interpretation, die gut in den anti­ kommunistischen Konsens der Bundesrepublik passte.

Der Friedensfürst Im Mittelpunkt der Zeitschriftenbeiträge der 1960er und 1970er Jahre stand der geniale Außenpolitiker Bismarck, der im Lichte der aktuellen Weltlage gedeutet wurde. Hier zeigte sich erneut, wie sehr die Gegenwart die Lesarten der Geschichte bestimmte. Fast alle Autoren waren sich einig, dass Bismarck Kriege nur in Kauf genommen habe, wenn sie unausweichlich gewesen seien. Das bedeutete, dass zwischen 1864 und 1870 die Kriegsschuld nicht bei Preußen, sondern immer bei den Gegnern zu suchen war. Diese Interpretation ist vor dem Hintergrund der in den 1960er Jahren heftig ausgetragenen Fischer-Kontroverse zu lesen. Der Historiker Fritz Fischer hatte in seinen Arbeiten den bequemen Konsens aufgekündigt, Deutschland sei wie alle anderen Nationen auch in den Ersten Weltkrieg hineingeschlit-

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tert. Fischer wurde daraufhin von konservativer Seite entschieden angegriffen, erfuhr zugleich auch breite Unterstützung in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Angesichts dieser Debatte er­ s chien es umso wichtiger, dass ­Preußen-Deutschland wenigstens im 19. Jahrhundert nicht als Kriegstreiber dastehen sollte. Bundeswehrzeitschriften beschrieben Bismarck als Vater eines Bündnissystems, das Europa jahrzehntelang den Frieden gebracht habe. Diese Leistung stach nach Jahren der Gewalt – die Phase zwischen 1914 und 1945 wird gelegentlich auch als zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet – deutlich heraus. Bismarck war ein Garant des Friedens in Europa und bot damit einen klaren Kontrast zur risikobehafteten Weltordnung jener Tage, in denen man sich der Kriege und der Reichsgründung vor 100 Jahren erinnerte. Jetzt bestimmte die Bipolarität des Kalten Krieges das Bild, in der ein Konflikt wie die Kuba-Krise 1962 in einem Atomkrieg zu enden drohte. Bismarck jedoch verkörperte in der deutschen Armee so sehr das Bild des Moderators und Vermittlers, dass er sogar in einem Artikel über Möglichkeiten der Krisenbewältigung als Beispiel auftauchte. Der in den Publikationen der Bundeswehr erkennbare Bismarck glich also einem Friedensfürsten, dessen Zeit und Werk sich klar von der Gegenwart unterschieden. Auf diese Weise wurde eine kritische Debatte der Kontinuitätsfrage vermieden. Indem sie den friedensliebenden Außenpolitiker Bismarck zeigten und den spaltenden Innenpolitiker und militäraffinen Bismarck übergingen, erteilten die Artikel der Behauptung eine Absage, die nationalsozialistischen Verbrechen wurzelten in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Damit adaptierte die Bundeswehr ein Narrativ, das bereits im Kreis des militärischen Widerstandes im Vorfeld des 20. Juli 1944 kursierte und damit ausdrücklich traditionswürdig war. Als der christlich-konservativer Hitlergegner Ulrich von Hassell im Jahre 1944 Bismarcks Grab in Friedrichsruh besuchte, schrieb er in sein Tagebuch: »Es ist bedauerlich, welches falsche Bild wir selbst in der Welt von ihm erzeugt haben, als dem Gewaltpolitiker mit Kürassierstiefeln. In Wahrheit waren

5Bundespräsident Joachim Gauck spricht am 1. April 2015 in Berlin beim Festakt des Deutschen Historischen Museums (DHM) anlässlich des 200. Geburtstags von Otto von Bismarck.

die höchste Diplomatie und das Maßhalten seine große Gabe.« Die Vielfalt der Meinungen und Interpretationen zeigt: Es ist unmöglich, von einem Bismarckmythos zu sprechen. Immer wieder veränderten sich seine Botschaften, er wurde mehrfach umgeschrieben. In der Bundesrepublik demontierte man das Bild des »Eiser­ nen Kanzlers« und bedingungslosen Machtpolitikers rasch. Das zeigt, wie sehr nach 1945 die zuvor oft bemühte militärische Seite Bismarcks diskreditiert war. Zugleich verlor der Mythos seine Brisanz. Heute spielt Otto von Bismarck kaum noch eine Rolle in Politik und Gesellschaft. Er ist – wenn überhaupt – als Politiker bekannt, der vor langer Zeit die Reichsgründung zu Stande gebracht hatte. 2003 wurde er wohl vor allem wegen dieser Leistung in einer Fernsehshow auf den neunten Platz unter den »größten« Deutschen gewählt. Wenn dieses Ergebnis sicherlich keine Repräsentativität beanspruchen kann, zeigt es immerhin doch den Stellenwert Bismarcks in der Berliner Republik. Das Erinnerungsjahr 2015 belegt erneut, dass Bismarck mittlerweile erfolgreich historisiert wurde und sich keine großen Kontroversen um seine Person entzünden, obwohl das Urteil über sein Werk immer noch zwischen Bewunderung und Kritik schwankt. Dementsprechend stellt man heute das eingangs zitierte Bismarckwort, die Deutschen fürchteten in der Welt allein Gott und nichts anderes, in einen neuen Kontext. Vielsagend ergänzt

wird das Zitat dann mit dem in der Kaiserzeit regelmäßig ausgelassenen zweiten Teil des Satzes: »Und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen lässt.« Auch die Bundeswehr interpretierte den Bismarckmythos neu. Als Zivilist wahrgenommen, fand sich Bismarck in die zweite Reihe der Geschichtsbilder der Bundeswehr wieder. Die Militärzeitschriften machten Licht und Schatten im Werk und Wirken Otto von ­Bismarcks sichtbar, doch zumeist verkörperte er die positiven Seiten der deutschen Vergangenheit. Im Mittelpunkt stand ganz klar die Auffassung, Bismarck habe eine beispielhafte Friedensordnung für Europa begründet. Wenn in den untersuchten Veröffentlichungen auch konservative Positionen dominierten, bewegten sie sich doch immer im Rahmen des in der bundesrepublikanischen Gesellschaft Sagbaren und scherten nicht in Extreme aus. Insofern zeigt ein Blick auf das Bismarckbild im deutschen Militär, dass sich die Bundeswehr für vielfältige Meinungen öffnete und eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit aufnahm.

 Christoph Nübel Literaturtipps Otto Pflanze, Bismarck, 2 Bände, München 1997/98. Markus Raasch (Hrsg.), Die deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2010.

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Hazardpolitik mit Erfolg

Hazardpolitik mit Erfolg

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Rumäniens Eintritt in den Ersten Weltkrieg 5Zwei deutsche Soldaten und ein rumänischer Polizist patrouillieren im besetzten Bukarest, Ende 1916.

D

er Kriegseintritt Rumäniens 1916 aufseiten der Entente, die aus Frankreich, Großbritannien und Russland bestand, ist als Verrat, Tragödie und als riskantes Glücksspiel mit überraschend gutem Ausgang beschrieben worden. Rumänien wurde zwar vernichtend geschlagen und musste im Mai 1918 einen schmachvollen Separatfrieden mit den Mittelmächten unterzeichnen. Doch der Sieg der Entente machte Rumänien zum Sieger und vergrößerte sein Staatsgebiet um gut zwei Drittel – um Siebenbürgen, Teile des Banat, die Maramuresch, Bukowina und Bessarabien.

Neutralitätserklärung 1914 Als der Erste Weltkrieg 1914 ausbrach, erklärte die Regierung in Bukarest, zur großen Enttäuschung König Carols (Karl I.), der aus dem deutschen Hause Hohenzollern stammte, die Neutralität Rumäniens, obwohl das Land 1883 dem »Dreibund« beigetreten war, einem geheimen Defensivbündnis zwischen dem Deutschen Kaiserreich, der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn und Italien, das 1912 zuletzt erneuert worden war. In der Julikrise nach dem Attentat von Sarajevo war aufseiten der Donaumonarchie zunächst nur der ungarische Ministerpräsident Graf István Tisza gegen einen Krieg mit Serbien,

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weil er einen rumänischen Einfall in Siebenbürgen befürchtete. Tisza rechnete das Königreich Rumänien von Anfang an zu den Gegnern. Er musste unter dem Druck der deutschen Regierung jedoch nachgeben, nachdem diese die Neutralität Rumäniens garantiert hatte. Der k.u.k. Generalstab seinerseits versprach, die Grenze Siebenbürgens zu stärken sowie Streitkräfte dorthin zu verlegen. Allerdings war die ungarisch-rumänische Grenze 1916, als die rumänische Armee die Karpatenpässe nach Siebenbürgen überschritt, praktisch nur von Gendarmen bewacht, da die Streitkräfte der Donaumonarchie an der russischen Front gebraucht wurden. Am 26. Juli 1914 wurde in einem breiten Grenzstreifen von Serbien bis Galizien, das heißt auch im zur ungarischen Reichshälfte gehörenden Siebenbürgen, der Ausnahmezustand ­erklärt: Der Grenzübertritt, das Versammlungsrecht, die Verwaltungskompetenz der Komitate (regionale Verwaltungseinheiten Ungarns) wurden eingeschränkt, die Geschworenen­ gerichte aufgehoben und das be­ schleunigte Strafprozessverfahren eingeführt. Im ganzen Land galt die Presse­zensur, den Behörden wurde die Kontrolle des Post-, Telegramm- und Fernsprechverkehrs erlaubt. Pferde und Fahrzeuge wurden für Kriegszwecke beschlagnahmt und Wehr-

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pflichtige wurden massenweise eingezogen. Das nüchterne politische Kalkül diktierte den politischen Entscheidungsträ­ gern Rumäniens die Notwendigkeit, die militärischen Kräfte des Landes möglichst lange unbeschadet zu erhalten. Bereits bei Kriegsausbruch setzte jedoch ein Wettstreit zwischen der Entente und den Mittelmächten ein, die jeweils versuchten, Rumänien für sich zu gewinnen – aus strategischen Gründen, aber auch um Lieferungen von Erdöl und landwirtschaftlichen Produkten zu erhalten. Die Mittelmächte versprachen bei einem Kriegseintritt auf ihrer Seite dem Königreich Bessarabien, die Entente sagte für den umgekehrten Fall das Banat, die Bukowina und Siebenbürgen zu.

Kriegseintritt 1916 Mitentscheidend für den Kriegseintritt Rumäniens aufseiten der Entente 1916 war der Tod König Carols am 10. Ok­ tober 1914, der die Notwendigkeit weite­ rer Rücksichtnahmen auf die Mittel­ mächte schwinden ließ. Der Thronfolger, König Ferdinand, dachte weniger dynastisch, fühlte sich dem Deutschen Reich weniger verpflichtet als sein Vorgänger und stimmte der Entente-freundlichen Politik der Regierung unter Ion Brătianu zu. Ausschlaggebend für diese Entscheidung

picture alliance/akg-images

war auch die Aussicht, ebenso leicht Gebietsgewinne zu machen wie 1913 infolge des zweiten Balkankrieges, als Rumänien die südliche Dobrudscha zugeschlagen worden war. Zudem hoffte die rumänische Regierung auf die Abtretung der Bukowina, die Russland in einem Geheimabkommen versprochen hatte. Auch fühlte sich die rumänische Regierung 1916 sicherer vor einer allzu starken deutschen Reaktion, da die Schlacht um Verdun für die deutsche Seite katastrophal auszugehen schien und die Ententemächte gute Aussichten hatten, in der SommeSchlacht die deutsche Front im Westen zu durchbrechen. Darüber hinaus wichen die österreichisch-ungarischen Kräfte infolge der russischen Brussilov-Offensive zurück. Es sah fast so aus, als könne Rumänien durch seinen Kriegseintritt aufseiten der Entente der zusammenbrechenden Donaumonarchie den Gnadenstoß versetzen und sich Siebenbürgen einverleiben, da mit zusätzlicher deutscher Unterstützung nicht zu rechnen sei. Doch die Begeisterung für die nationale Befreiung »der Brüder in Siebenbürgen vom ungarischen Joch« war keineswegs ungeteilt. Die rumänische National-Liberale Partei Siebenbürgens hatte im Sommer 1914 ihre Treue gegenüber Österreich-Ungarn bekundet, und noch im Februar 1917 unterzeichneten etwa 200 siebenbürgische Rumänen mit ihren Metropoliten und

5Kriegseintritt Rumäniens aufseiten der Entente: Vorbeimarsch rumänischer Truppen an König Ferdinand I., 1916.

Bischöfen und einigen rumänischen Abgeordneten des Budapester Parlaments eine Deklaration, in der sie ihre Treue gegenüber der ungarischen Krone verkündeten. Die rumänische Elite Bessarabiens, die die Lage der siebenbürgischen Rumänen jederzeit der russischen Autokratie vorgezogen hätte, war ebenfalls gegen ein Bündnis mit der Entente und damit gegen Russ­ land.

Kämpfe in Siebenbürgen Als rumänische Truppen Ende August 1916 in Siebenbürgen einmarschierten, äußerte König Ferdinand, »selbst die Siebenbürger Rumänen empfingen [sie] als Feinde«, und der Politiker und Professor Nicolae Iorga merkte an: »Kein einziges Wort der Begrüßung kam aus ihren Reihen, als die rumänischen Heere 1916 die Grenze überschritten.« Bedeutende rumänische Intellek­tuelle, die der rumänische His­ toriker Lucian Boia »Germanophile« nennt, sprachen sich für die Neutralität oder den Eintritt aufseiten der Mittelmächte aus. Etliche von ihnen wurden nach dem Krieg als Vaterlandsverräter vor Gericht gestellt – etwa Ioan Slavici, Tudor Arghezi, Gheorghe Dem Teodorescu und Constantin Stere – und sogar eingekerkert. Rumänien befürchtete, sich zu spät am Krieg zu beteiligen. Nach zwei Jahren »bewaffneter Neutralität« überreichte der rumänische Gesandte am 27. August 1916 in Wien eine Erklärung, wonach sich Rumänien denen anschlösse, die besser in der Lage seien, »die Durchführung seiner nationalen Einheit zu sichern«. Rumänien hatte der Donaumonarchie den Krieg erklärt. Der geheime Bündnisvertrag mit den Mittelmächten von 1883, das politische Testament Carols I., war zerrissen. Sogleich folgten die Kriegserklärungen Deutschlands, Bulgariens und der Türkei an Rumänien. Bereits einen Tag später, am 28. August 1916, drang das rumänische Heer durch die Karpatenpässe in das ungeschützte Siebenbürgen ein und besetzte dessen süd-östlichen Teil. Da aber der Schlag zu rasch erfolgte, das rumänische Heer auf einen Krieg noch nicht ausreichend vorbereitet war, brach der Handstreich unter der deutschen Gegenwehr in Siebenbürgen und der deutsch-bulga-

rischen in der Dobrudscha innerhalb kurzer Zeit zusammen. Die rumäni­ sche Armee stand zwar am 10. September bereits vor Hermannstadt, doch in Siebenbürgen erschien die deutsche 9. Armee unter General der Infanterie Erich von Falkenhayn, der mit den Österreichern die rumänische Offensive nicht nur aufhielt. Die rumänischen Truppen wurden vielmehr in mehreren verlustreichen Schlachten aufgerieben und zum Rückzug gezwungen. Unterstützung leistete das Deutsche Reich dem bereits geschwächten Bundesgenossen Österreich-Ungarn unter denkbar ungünstigen zeitlichen, strategischen und logistischen Umständen. »Wohlbekannte deutsche Führer teilten sich mit österreichisch-ungarischen Generälen in die Aufgaben der Verteidigung des schönen Ungarlandes«, wie es in einer zeitgenössischen Beschreibung heißt. Zu diesen »wohlbekannten« Militärs gehörte erstens Feldmarschall August von Mackensen, der an entscheidender Stelle an der Schlacht von Tannenberg beteiligt war und zusammen mit seinem Stabschef Hans von Seeckt als Architekt der strategisch bedeutenden Siege von GorliceTarnów, Brest-Litowsk, Pinsk, Belgrad und eben in Rumänien gilt; zweitens der Königlich Bayerische Generalleutnant Konrad Krafft von Dellmensingen, Träger des Ordens Pour le Mérite für seine Leistungen vor Verdun; drittens Generalleutnant Eberhard Graf von Schmettow und und viertens der k.u.k. General der Infanterie und spätere Generalstabschef Artur Baron Arz von Straußenburg. In der Nacht vom 21. auf den 22. September 1916 kam es bei Hermannstadt zur Schlacht, in der sich unter anderen das deutsche Kavalleriecorps Schmettow, die k.u.k. 71. Infanterietruppendivision unter Generalmajor Anton Goldbach von Sulitaborn und das Szekler-Regiment Nr. 82 gegen wiederholte Angriffe und Durchbruchsversuche der rumänischen Armee bewährten. Durch geschickte Umgehung durch unwegsames Gebirge, in der Gegend des Roten-Turm-Passes, namentlich durch das Deutsche Alpenkorps unter Führung des Königlich Bayerischen Generalmajors Adolf Ritter von Tutschek, gelang es, die rumänische Armee einzukesseln. Die verzweifelt zurückflutenden Rumänen

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Hazardpolitik mit Erfolg

versuchten den Pass zu durchbrechen. Die rumänische Seite führte Verstärkungen heran, um den Einschließungsring aufzubrechen, die jedoch von deutscher Seite zurückgeschlagen wurden, was furchtbare Verluste bei den rumänischen Verbänden verur­ sachte. Die Enge der Passstraße wurde für die vom Norden hereindrängenden rumänischen Verbände zur Falle. Berge von Leichen türmten sich auf der Straße und an den Hängen, die von den anderen Soldaten, die sich den Weg bahnen wollten, in den Fluss gestoßen wurden, der sie zu Hunderten zu Tal führte, »nach Rumänien, dem Heimatlande, wohin nur Trümmer dieser unglücklichen Armeegruppe entkamen«. Am 29. September 1916 war die rumänische 1. Armee geschlagen. Etwa 40 Bataillone und 16 Batterien wurden zersprengt, 3000 Soldaten ge-

rieten in Gefangenschaft. Das waren ge­ ringe Verluste angesichts der in die Tau­ sende gehenden gefallenen Rumänen. Die rumänische 2. Armee, die der 1. Armee in der Schlacht von Hermannstadt nicht hatte zu Hilfe kommen können, rückte jedoch weiter Richtung Nordwesten und Westen vor, stieß erfolgreich gegen die geschwächte Gruppe Schmettow, das Alpenkorps sowie gegen deutsche und österreichische Truppenteile zwischen den Flüssen Alt und Harbach (rum. Olt und Hârtibaciu) vor, was die Kräfte der Mittelmächte zu rascherem Neuaufmarsch zwang. Die schnelle Umgruppierung, der Eilmarsch durch den Geisterwald nach Kronstadt und der schnelle Angriff auf die eigentlich überlegene rumänische 2. Armee waren nach der Schlacht von Hermannstadt der zweite entscheidende Schritt für die Befreiung Siebenbürgens.

Der Feldzug der Mittelmächte gegen Rumänien, Herbst 1916 2500 m

Stellungen Ende September 1916 Bewegungen/Angriffe

Kolomea

2000 m

Kamieniec-Podolski

1500 m 1000 m

Czernowitz

800 m 600 m 400 m 200 m

Stellungen Ende September 1916 Großwardein Stellungen Anfang Dezember 1916Zilah Bewegungen/Angriffe

100 m

Letschizki

Békás Pass

1. Armee

2544 m

Kronstadt 7.−9.10.16

Törzburger Pass

Jiul

Ploieşti

BUKAREST Alt

Caracal

RUMÄNIEN

1723 m 4. Armee Bodza Pass Focşani

1. Armee

Presan Korps Istrate

Roşiorii de Vede

Stellungen Ende September 1916 Stellungen Anfang Dezember 1916 Bewegungen/Angriffe

SOFIA Russen Stellungen Ende September 1916 Stellungen Anfang Dezember 1916 Bewegungen/Angriffe

20

Galaţi

Zimnicea

Brăila

Isman

Heeresgruppe

König von Rumänien

Donau-Armee Sacharow

DonauArmee Teile Cernavoda Donau

Giurgiu Nikopol

Kagul

Averescu

Lom Palanka

Rumänen

in Aufstellung

Berlad

2. Armee

Piteşti

Slatina

4. Armee

Oitoz Pass

Predeal Pass

Craiova

Roman

Gyimes Pass

Fogaras

Eisernes Tor

Iaşi

reth Se

Orsova

100 km

1864 m Tölgyes Pass Petra

Roter Turm Pass Szurduk Pass

80

Balta

Falkenhayn Korps Karlsburg Staabs Hermannstadt Korps Korps Morgen 26.−29.9.16 Krafft Hötzing

Vulcan Pass

60

9. Armee

Arz von Straußenburg

9. Armee

40

Botoşani

ÖSTERREICHUNGARN

2502 m

Mehadia

20

< 100 m

Klausenburg

Korps Kühne

0

Pflanzer-Baltin

Bistritz

Miers ch

Südwest-Front Brussilow

Sereth

7. Armee

Anfangsschlacht Jenopol

Dn je

Pruth

str

Österreicher-Ungarn Stellungen DebrecenEnde September Groß1916 Karol Stellungen Anfang Dezember 1916 Bewegungen/Angriffe Bulgaren

RUSSISCHES REICH

Höhenangaben:

Deutsche

Rustschuk

Tutrakan Silistra

Constanza

Sistova Bjala

Donau-Armee

SCHWARZES MEER

Kosch

BULGARIEN Grabowo

Sumla

3. Armee Nerasow

Heeresgruppe Mackensen

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Varna

© ZMSBw

07608-01

Am 2. und 3. Oktober fanden die ers­ ten Angriffe statt, am 4. Oktober musste die rumänische 2. Armee aus dem Becken von Kronstadt zurückweichen, und am 7. Oktober war sie vor Kronstadt soweit in die Defensive geraten, dass es für sie nur noch darum ging, den Rückzug von Material und Mannschaften in das Gebirge zu decken. Während Hermannstadt von den Gefechten unberührt geblieben war, fanden nun im Nordteil von Kronstadt heftige Kämpfe statt. Teils im Häuserkampf rangen deutsche, österreichisch-ungarische und rumänische Truppen miteinander. Die Kräfte der Mittelmächte standen dabei unter dem steten Druck, Kronstadt schnellstmöglich einzunehmen, um den heranrückenden rumänischen Einsatztruppen zuvorzukommen, was schließlich im Morgengrauen des 9. Oktober gelang. Etwa 200 mit Verpflegung beladene Eisen­bahnwaggons, 1200 rumänsiche Soldaten und 23 Geschütze fielen den Siegern in die Hände. Auch die rumänische 2. Armee musste Siebenbürgen räumen. General von Falkenhayn erließ am 10. Oktober einen Armeebefehl, in dem es hieß: »In 14-tägigem Siegeszug haben die mir unterstellten Truppen die 1. und 2. rumänische Armee, von denen jede der Kopfzahl nach unseren gegen sie eingesetzten Kräften stark überlegen war, vernichtend geschlagen und zersprengt. Hell leuchtet für alle Zeiten der Ruhm der Tage bei Hermannstadt und vor dem RothenThurm-Pass, am Geisterwald und bei Kronstadt, an der Oboroca und Tulisa. Der freche Eindringling, der sich schon bis in das Herz Siebenbürgens geschlichen hatte, ist von dem uns heiligen Boden gefegt. Mit schneller Flucht in unwegsame Gebirge glaubt er sich allein noch der Wucht unserer Waffen entziehen zu können.« Zugleich hatte die deutsche 1. Armee unter General Arz von Straußenburg die Kraft des Gegners südöstlich von Neumarkt am Mieresch (rumän. Târgu Mureş, ungar. Marosvásárhely) gebrochen. Doch der Kampf um Siebenbürgen war damit noch nicht endgültig beendet. Rumänische Durchbruchsversuche über die Gebirgspässe forderten das Alpenkorps und die k.u.k. Gebirgsbrigaden. Hinzu kamen eisige Kälte, Regen- und Schneewetter, da

Waffenstillstand und Separatfrieden Während die Kämpfe in Siebenbürgen tobten, waren die rumänisch-russi­ schen Kräfte bereits bis 21. Oktober 1916 vom deutsch-bulgarisch-türkischen Heer unter dem Oberbefehl von Feldmarschall Mackensen, das aus Bulgarien in der Dobrudscha eingedrungen war, vollständig geschlagen worden. Die rumänische Armee geriet somit in die Zange und musste weichen. Die Provinzen Dobrudscha, Oltenien und Muntenien wurden von den Verbänden der Mittelmächte besetzt. Der rumänische König Ferdinand I., sein Hof und die Regierung flohen nach Iaşi, und, nach der Schlacht am Argesch zwischen 1. und 3. Dezember, fiel Bukarest am 6. Dezember 1916 kampflos. Mackensen, der sich durch seine Siege und den rumänischen Erfolg den Spitznamen »neuer Marschall Vorwärts« verdient hatte, nahm auf

einem Schimmel die Parade der siegreichen Truppen in Bukarest ab. Die österreichisch-ungarischen Vorstöße kamen jenseits der Ostkarpaten, die deutsch-österreichische Offensive im Süden der Moldau zum Stehen. Mit Hilfe der französischen Militärmission Henri Berthelots wurde die rumänische Armee soweit reorganisiert, dass im Juli 1917 gerade noch verhindert werden konnte, dass auch die Moldau überrannt wurde. Rumänien war aber derart geschwächt, dass es nach dem Kollaps des russischen Kriegspartners nach der Februar- und Oktoberrevolution 1917 gezwungen war, mit Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei einen Waffenstillstand und am 7. Mai 1918 einen demütigenden Separatfrieden in Bukarest zu schließen, der mit beträchtlichen Gebietsverlusten (Dobrudscha, Karpatenkämme) und erheblichen Reparationen verbunden war. Rumänien war auf ganzer Linie geschla­gen worden. Das Besatzungsregime unter deutscher Leitung profitierte von Nahrungsmittel- und Öl­ lieferungen an das Deutsche Reich. ­Gemäß der vorherrschenden Interpretation der Zwischenkriegszeit ist es als ausbeuterisch und repressiv beschrieben worden. Einige wenige Historiker (Lucian Boia, Lisa Mayerhofer) weisen darauf hin, dass die deutsche Okkupation eine Sonderstellung im Rahmen der Besatzungsregime des Ersten Weltkrie­ges einnahm. Vor dem Hintergrund der weithin deutschfreundli­ chen Haltung habe sich die Besatzungs­ armee gegenüber der rumänischen Bevölke­rung nicht wie in Feindesland verhalten, was wiederum die Kooperationsbereitschaft verstärkte. Für die Verwaltung des besetzten Rumäniens, das dem Oberkommandierenden Feldmarschall August von Mackensen unterstand (die südliche Dobrudscha hatten die Bulgaren besetzt), wurden größtenteils einheimische Kräfte herangezogen und die bestehenden Strukturen beibehalten. Das sei auch darauf zurückzuführen, dass es den Deutschen an Personal mangelte, um die gesamte Verwaltung zu übernehmen, wodurch es der rumänischen Bevölkerung gelang, sich einer lückenlosen Kontrolle und dem Zugriff der Besatzer zu entziehen. Es gab allerdings auch Internierungen von ver-

ullstein bild/SZ Photo/Scherl

sich die Kämpfe bis in den November hinzogen. Am 7. November fiel beim Monte Sate, etwa 60 km südöstlich von Hermannstadt, der in der Truppe äußerst beliebte, hochdekorierte Major Prinz Heinrich von Bayern vom Königlich Bayerischen Infanterie-Leibregiment, dessen Kommandeur er seit März 1915 in Frankreich, Serbien und dann wieder in Frankreich gewesen war. Am 14. November gelang der deutschen 9. Armee der Durchbruch durch das Tal des Jiu (dt. Schil) in den Südkarpaten in die Walachei, da die rumänische Seite Verstärkungen vor allem in das Argesch-Tal, nach Câmpulung und Sinaia heranführte. Die Artillerie, die am Jiu-Fluss gegen die rumäni­ schen Stellungen eingesetzt wurde, war unter unvorstellbaren Strapazen über das Gebirge gebracht worden, wegen der Unwegsamkeit des Geländes aber nur teilweise. Daher fiel die kampfentscheidende Rolle den Infanteristen, Jägern, Maschinengewehrtruppen und Pionieren zu. Nachdem die rumänische Armee, die die Stadt Târgu Jiu nicht hatte halten können und sich auf den Höhen südlich des Ortes verschanzt hatte, geschlagen war – wiederum unter schweren Verlusten der Rumänen – konnten die Truppenverbände Falkenhayns in die Walachei vorstoßen.

5General Erich von Falkenhayn, Befehlshaber der 9. Armee, vor seinem Hauptquartier in Rumänien, 1916.

dächtigen Personen. Ansonsten verlief das öffentliche Leben ohne wesentliche Eingriffe. Als Verbündeter der Ententemächte erhielt Rumänien am Ende in den Pariser Vorortverträgen 1919/20 doch noch das, wofür es 1916 in den Krieg eingetreten war: Siebenbürgen, darüber hinaus das Banat und die Bukowina. Im nationalrumänischen Narrativ erscheinen der Kriegsausgang und die Entstehung Großrumäniens nach dem Krieg als beinahe zwangsläufig, getragen von der ungeteilten Zustimmung aller Rumänen, was nicht zuletzt wiederum Lucian Boia als Mythos entlarvt hat. Angesichts einer desaströsen Kriegführung, mehr als 100 000 rumänischen Gefallenen und 150 000 Kriegsgefangenen ist die Frage legitim, ob nicht das Festhalten an der Neutralität die bessere Wahl gewesen wäre.

 Marc Stegherr Literaturtipps Lucian Boia, Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft, Köln u.a. 2003. Lucian Boia, Die Germanophilen. Die rumänische Elite zu Beginn des Ersten Weltkrieges, Berlin 2014. Keith Hitchins, Rumania 1866-1947. Oxford History of ­Modern Europe, Oxford 1994. Lisa Mayerhofer, Zwischen Freund und Feind. Deutsche ­Besatzung in Rumänien 1916–1918, München 2010.

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Service

Das historische Stichwort

Das Adventus-Ritual des Spätmittelalters

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m 29. November feiern Christen dieses Jahr den 1. Advent und leiten damit die vierwöchige Vorbereitungszeit vor Weihnachten ein. Dass sich der Begriff Advent, lat. adventus, auf die Ankunft des Herrn, also von Christus bezieht, dürfte auch weniger religiösen Menschen bekannt sein. Im Mittelalter bezeichnete er jedoch auch ein wichtiges städtisches und herrschaftliches Ritual, das heute kaum noch mit diesem Stichwort in Verbindung gebracht wird. Das Adventus-Ritual wurde bei Ankunft des Königs bzw. Kaisers in einer Stadt unter Beachtung fester Bräuche und liturgischer Formen durchgeführt. Es diente dazu, die Herrschaftsübernahme durch den König als Stadtherrn zu demonstrieren und Eintracht und Stabilität sinnfällig darzustellen. Der Ursprung des Zeremoniells liegt in hellenistischer Zeit und wurde zur politischen und sakralen Überhöhung des Regenten auf den Herrscherkult übertragen.Über den römischen Kaiserkult, die Germanen und das Papsttum fand dieses Zeremoniell Eingang in das Brauchtum des Mittelalters. Voraussetzung für die häufige Durchführung des Herrschereinzugs war die eigentümliche Form mittelalterlicher Reiseherrschaft mit der im Spätmittelalter zentralen Bedeutung der Reichsstädte. Deutsche Könige regierten damals noch nicht von einer Hauptstadt aus, sondern reisten mit Familie und Hofstaat durch das Reich und verweilten in ihren Königshöfen, Pfalzen, Reichsburgen und Reichsstädten. Der Herrschereinzug war jedesmal ein öffentliches, repräsentatives Ereignis, das aufgrund seiner starken Formalisierung einen großen Planungsund Organisationsaufwand bedeutete. Je nach Vorlieben des Herrschers, nach Größe und Vermögen der Stadt, nach Wetter und schließlich auch nach Verhältnis zwischen Stadt und Stadtherrn konnte die Ausgestaltung des Adventus stark variieren. Das Adventus ­Ritual wies aber immer folgende Ele-

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mente auf: Occursio, Ingressus, Processio, Offertorium; wobei vor dem Zeremoniell stets die Vorbereitung stand und abschließend die Einherbergung folgte. In der Vorbereitungsphase wurden die Vorkehrungen für den Adventus seitens der Einziehenden und der Empfangenden getroffen. Der reisende Hof entsandte dazu Untermarschälle und Furiere in die Stadt, welche die Auswahl und Ausstattung des königlichen Quartiers vornahmen; zumeist wurde der Herrscher in repräsentativen Patrizierhäusern, gelegentlich auch in geistlichen Gebäuden beherbergt. Der Einzug wurde nun anhand der räumlichen Gegebenheiten vor Ort geplant: die Breite des Zuges im Verhältnis zum Stadttor und die Route der Prozession entlang der präsentablen Gebäude und Plätze mussten festgelegt werden. Auf dieser Route waren sodann die Straßen gegebenenfalls auszubessern, Müll und Unrat zu beseitigen sowie die Gebäude und Tore festlich zu schmücken. Auch das Militär hatte sorgfältige Vorbereitungen zu treffen. Die Ankunft des Herrschers erforderte diverse Sicherheitsvorkehrungen, Wach-, Ronden- und Feuerschutzordnungen mussten aufgestellt werden, Aufmarschpläne für die räumliche Entfaltung der Truppen im Feld vor der Stadt sowie für den beengten Raum innerhalb der Stadtmauern mussten erstellt und ihre Umsetzung geübt werden. Der Einsatz des Militärs sollte so die städtische Wehrhaftigkeit eindrucksvoll und augenfällig inszenieren. Anlässlich des hohen Besuches wurden auch gesellschaftliche Ereignisse wie Tänze, Jagden, Turniere oder Schauspiele vorbereitet. Die Versorgung des Hofes mit Speisen und Getränken musste sichergestellt und schließlich auch Gastgeschenke, die dem Herrscher anläss­lich seines Besuchs überreicht wurden. Dabei handelte es sich in der Regel um kostbare Trinkgefäße, die mit dem Stadtwappen verziert waren.

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Um den Adventus formell einzuleiten, wurde das Reichsoberhaupt durch eine Ratsgesandtschaft der Stadt eingeladen. Dieser Akt war Bestandteil der Occursio, des Empfangs und Geleits des Herrschers. Ausgewählte Mitglieder der städtischen Führungsschicht bildeten die Gesandtschaft und reisten dem Herrscher oftmals sogar mehrere Tagesreisen weit entgegen, um die Einladung auszusprechen. Dem Herrscher sollte durch diesen Empfang sowohl ein Gefühl seines Willkommens als auch ein erster Eindruck der Prosperität und Macht der Stadt vermittelt werden. Waren Herrscher oder Stadt zur Zeit des Adventus bedroht, ritten die Gesandten zur Abschreckung und zur Versinnbildlichung militärischer Stärke und Wehrhaftigkeit der Stadt in Harnisch und Waffen. Nach Annahme der Einladung wurde der Hof von der Gesandtschaft auf dem Weg zur Stadt eskortiert. Vor dem Stadttor machte der Zug Station. Der Herrscher nutzte diese Pause für letzte praktische Vorbereitungen: Er wechselte die Reisekleidung gegen repräsentative Gewänder, stieg vom Wagen auf ein Pferd für den Einritt in die Stadt um und ließ sein Gefolge für den Einzug Aufstellung nehmen. Die Formation folgte einer streng festgelegten Ordnung, welche die Bedeutung und Hierarchie der teilnehmenden Gruppen und Einzelpersonen widerspiegelte. Der Herrscher ritt im letzten Drittel des Zuges. Von der Spitze der Formation bis zu ihm nahm der gesellschaftliche Rang der Teilnehmer zu. Die Positionen hinter ihm waren wiederum Personen geringerer Bedeutung vorbehalten. Zwischen den einzelnen Abteilungen gingen kleinere Gruppen von Herolden und Spielleuten, die den Marschierenden den Takt vorgaben und den Adventus musikalisch begleiteten. So erhielt der Zug seinen auch akustisch festlichen und unterhaltsamen Charakter. Die Prozession wurde am Stadttor von einem geistlichen Empfangskomitee erwartet. Auch die städtische Führungsschicht – soweit nicht bereits seit der Occursio im Zug selbst vertreten – nahm am Tor Aufstellung. Sie erwartete den Herrscher mit einem Baldachin, unter dem er die Stadt betreten sollte. Gelegentlich bildeten Soldaten ein Spalier, oder einheitlich gerüstete

Unter dem Baldachin durchquerte der Herrscher, nun wieder zu Pferde, das Stadttor, hinter dem ihn die jubelnden Bürger erwarteten. Nun folgte die Processio, der festliche Umzug durch die Stadt. Dieser folgte der zuvor festgelegten Route durch repräsentativ geschmückte Straßenzüge, die an wichtigen Kirchen, am Rathaus und an prächtigen Bürgerhäusern entlang führte, um dem Herrscher die geistliche und politische Bedeutung und den Wohlstand der Stadt zu demonstrieren. An der Hauptkirche fand der Adventus seinen religiösen Höhepunkt. Der Herrscher sprach dort ein Gebet, brachte ein Geldopfer, das Offertorium, dar und hörte eine Begrüßungspredigt an. Der Klerus erbat Gottes Segen für ihn und entließ ihn unter den Klängen von Orgel und Chor. Damit endete der kirchliche Empfang, die geistlichen Stadtvertreter schlossen sich dem Weiterzug zum Quartier des

Herrschers nicht mehr an. Auch die Schar der Gäste und Zuschauer löste sich während des Aufenthalts an der Hauptkirche auf, sodass der Herrscher nur mehr von der weltlichen Führungsschicht zu seiner Unterkunft begleitet wurde, wo die Einherbergung stattfand. Hier suchten ihn führende Ratsmitglieder später am Tag zur Übergabe des Gastgeschenks auf. Mit einer kurzen, formellen Rede wurde der Herrscher abermals begrüßt und mit der Gabe als Zeichen der Großzügigkeit bedacht. Diese Schenkung bildete den Abschluss des Zeremoniells. Leonie Hieck Literaturtipps Anna Maria Drabek, Reisen und Reisezeremoniell der römisch-deutschen Herrscher im Spätmittelalter, Wien 1964. Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt. Hrsg. von Peter Johanek und Angelika Lampen, Köln 2009. bpk/Lutz Braun

Truppen nahmen repräsentativ Aufstellung. Die städtische Jugend schließlich bildete die stärkste Gruppe der Empfangenden. Sie wartete dem Herrscher mit Wimpeln und Fähnchen auf und verstärkte damit den festlichen Rahmen des Ingressus, des Einzugs. Am Stadttor angekommen, stieg der Herrscher vom Pferd und erwies einem ihm von einem ranghohen Geistlichen dargebotenen Kreuz oder Heiligtum seine Verehrung. Anschließend begrüßten ihn die weltlichen Vertreter der Stadt mit einer Kniebeugung und einer formelhaften kurzen Rede. Der Bürgermeister bot dann die Stadtschlüssel der wichtigsten Stadttore an, die vom Herrscher angenommen, geschüttelt und dem Stadtvertreter – an Reiches statt – zurückgegeben wurden. Dieser Akt der Schlüsselübergabe bildete den rechtlichen Kern des Adventus-Rituals, er versinnbildlichte die Anerkennung des Herrschers als legitimen Stadtherren.

5Der Einzug von König Rudolf von Habsburg in Basel 1273.

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Neue Medien

! Comics & Graphic Novels M W er Saccos Werke kennt, weiß, dass dieser nie ausschließlich das Vordergründige, das Offensichtliche in den Mittelpunkt stellt. Die von ihm erfundenen »Comic-Reportagen« geben eben auch besondere Einblicke in die Hintergründe, die Ursachen sowie die Auslöser von Kriegen und Konflikten. Natürlich weicht Sacco dabei keinesfalls der brutalen Wahrheit des Krieges aus. Tod, Leid und Zerstörung als unausweichliche Bestandteile und Folgen von Kriegen finden auch bei ihm ihren Niederschlag in deutlichen Schwarz-weiß-Bildern. In seinem Band »Sarajevo« findet das Heranführen des Lesers an den Balkankrieg über die Figur »Neven« statt: ein ehemaliger Kämpfer, der aufseiten der Bosnier Sarajevo verteidigt hat und nun nach Kriegsende als Guide für Journalisten arbeitet. Der »Fixer« ­Neven, also der Beschaffer von Kontakten, Organisator und Übersetzer, nimmt Sacco im Zuge von dessen Recherchen mit auf eine journalistische Reise durch den Balkankonflikt. Gekonnt werden Kriegserlebnisse und Geschichten mit Anmerkungen zum Kriegsverlauf und den Akteuren aus Politik sowie Militär verknüpft. Dabei verwischt oftmals die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, wenn sich der Leser immer wieder die Frage stellt, ob denn nun diese oder jene Kriegserzählung Nevens wohl wirklich in der Wirklichkeit so stattgefunden hat. Hin und hergerissen zwischen schmerzhaften Erinnerungen, übertriebenen Kriegsgeschichten, Selbstzweifeln und Zukunftsangst begleitet Neven den ­Leser durch den Krieg und die Schlacht(en) um Sarajevo. Überzeugend. jm

it dem vorliegenden Band »Die Heimatlosen« nimmt sich Paco Roca eines Themas an, das bisher bestenfalls wenig Beachtung in anderen Graphic Novels gefunden hat: die Vertreibung und der Kampf der spanischen Exil-Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Obwohl der Spanische Bürgerkrieg bereits in einigen Graphic Novels (Andreas Martens, Quintos; Antonio Altarriba, Die Kunst zu fliegen) thematisiert wurde, geriet die Geschichte der spanischen Widerstandskämpfer, die ihr Land im Zuge des Spanischen Bürgerkrieges und aufgrund der Machtergreifung des Franco-Regimes verlassen mussten, bis heute stets zu kurz. Dieser Entwicklung hält Paco Roca sein Werk »Die Heimatlosen« entgegen und setzt den spanischen Exilanten damit ein grafisches Denkmal. Mit viel Liebe zum Detail und umfangreichen Hintergrundinformatio­ nen zum Verlauf des Krieges erzählt Roca im Stil eines Zeitzeugengespräches den Lebensweg des gealterten spanischen Widerstandskämpfers Miguel Ruiz. Die Geschichte verläuft dabei auf den beiden Ebenen der Gegenwart, also des Gesprächs Rocas mit Muiz, das in Schwarz-weiß-Bildern gehalten ist, und den verschiedenen, in farbigen Bildern gehaltenen Kriegserlebnissen, die Ruiz bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges widerfuhren. Die Flucht und der Kampf von Ruiz führen ihn über die halbe Welt, angefangen von Spanien über Strafkolonien in Afrika bis in das von Deutschen besetzte Frankreich. Neben der Erkenntnis, wie erdrückend und unmenschlich die Vertreibung aus dem eigenen Land gewesen sein muss, gewinnt der Leser auch ei-

Joe Sacco, Sarajevo, Zürich 2015. ISBN 978-3-03731-133-2; 176 S., 26,00 Euro

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nen Eindruck davon, welchen Anteil die spanischen Exil-Widerstandskämpfer an der erfolgreichen Bekämpfung der deutschen Truppen im Afrika-Feldzug und an der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten hatten. Letztlich führt Roca damit das scheinbare Nischen-Thema der spanischen Exilanten aus dem Dunkel ans Licht. jm

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er berührende Bericht von Irmgard Litten, der bereits 1940 noch vor der Niederlage Frankreichs in Paris unter dem deutschen Titel »Die Hölle sieht dich an« erschien, liegt nun als Hörbuch vor – und legt ein frühes Zeugnis von der absoluten »Machtlosigkeit« im Umgang mit dem NS-Unrecht ab. Noch vor Beginn des Krieges war die Autorin nach Frankreich, später nach Großbritannien emigriert und beschrieb in ihrem Werk den erfolglosen Kampf um die Freilassung ihres Sohnes Hans Litten (geb. 1903), der sich nach fünf Jahren in Haft 1938 schließlich im KZ Dachau das Leben genommen hatte. Hans, der zwischen 1928 und 1933 in Berlin als Strafverteidiger für die linke Arbeiterschaft wirkte, hatte im Edenpalast-Prozess 1931 als Ankläger gegen die Nationalsozialisten selbst Adolf Hitler im Zeugenstand scharf angegriffen und vorgeführt – und damit wohl sein eigenes Schicksal besiegelt. Infolge des Reichstagsbrandes wurde der Jurist 1933 in »Schutzhaft« genommen und zunächst in das »Schutzhaftlager« nach Spandau verbracht. In den kommenden fünf Jahren erlebte er Gefangenschaft, Folter und Hoffnung. Seine Mutter, die über gute gesellschaftliche Verbindungen verfügte, versuchte mit allen Kräften, das Leben ihres Sohnes zu retten. Sie schrieb Anträge auf Hafterleichterung und nach jeder Verlegung von Hans Litten in ein weiteres Lager – von Spandau aus wurde er u.a. nach Brandenburg, Buchenwald und Paco Roca, schließlich 1937 nach Dachau verlegt – Die Heimat­ setzte sie sich für die Freilassung des losen, Berlin »Schutzgefangenen« Litten ein. 2015. ISBN Gelesen wird das erschütternde 978-3-95640033-9; 328 S., Zeugnis eines inszenierten Todes von 39,00 Euro Patricia Litten, der Enkelin der Autorin

neue Irmgard Litten, Trotz der Tränen. Ein Hörbuch, 2013. ISBN 3937337512; 3 CDs, 220 Minuten, 17,90 Euro und Nichte von Hans Litten – die Briefe von Hans an seine Mutter wurden von Gerd Heidenreich sehr stimmig vertont. Insbesondere in den Besuchsszenen wird deutlich, wie Hans Litten nur durch Gesten und Anspielungen auf Musik und Literatur seiner Mutter Hinweise auf seinen tatsächlichen körperlichen und seelischen Zustand geben kann. Patricia Litten trägt ruhig und gefühlvoll die scharfsinnigen Beobachtungen der Haftbedingungen, des Verhaltens der Wachmannschaften und insbesondere des körperlichen Verfalls von Hans Litten durch seine Mutter vor. Die verschiedenen Gespräche mit diversen Gesprächspartnern werden dabei durch die Sprecherin so passend interpretiert, dass die schlimmen Lebensbedingungen der politischen Häftlinge, die Trostlosigkeit von Hans und die Machtlosigkeit seiner Mutter spürbar werden. Janine Rischke-Neß

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n das große online zu findende Angebot zum Ersten Weltkrieg reiht sich auch das Bundesarchiv ein. Mit seinem in Freiburg beheimateten Militärarchiv verfügt es über einen umfangreichen Schatz an exklusiven Originaldokumenten. Große Teile dieses einmaligen Bestandes, mehrere tausend Akten mit insgesamt mehr als 700 000 Seiten, macht das Archiv jetzt online zugänglich: Der Nutzer kann in der Datenbank u.a. zur Überlieferung des königlich-preußischen Militärkabinetts, der Heeresgruppen, einzelner Kommandanturen und Festungen bis hin zum

»Kriegsaussschuss für Kaffee, Tee und deren Ersatzmittel« sowie der Reichskartoffelstelle stöbern. Besonders span­nend sind die Bestände des in China gelegenen Gouvernements ­Kiautshou sowie des Reichskolonialamts zu Deutsch-Ostafrika, Südwestafrika, Kamerun und Togo sowie den deutschen Südseegebieten. Wer sich eher für Bilder interessiert, wird über die Datenbank des Archivs mit mehreren hunderttausend Bildern (Fotos, Luftbilder und Plakate) aus der Zeit des Ersten Weltkriegs bedient. Auch Tonaufnahmen gehören zum Schatz des Bundearchivs. Drei Aufnahmen wurden online gestellt: die berühmte Ansprache Kaiser Wilhelm II. »An das deutsche Volk«, die Rede des Generaloberst Paul von Hindenburg an seine Soldaten vom 31. August 1914 nach dem Sieg von Tannenberg und eine Aufnahme des Großadmirals Alfred von Tirpitz aus dem Jahr 1915. Auch mehr als 150 Filme aus dem Bestand des Bundesarchivs wurden im Rahmen des Projekts »European Film Gateway« digitalisiert. Über den Link zum Internetauftritt des »European Film Gateway« stehen dem Nutzer nicht nur die Bestände des Bundesarchivs, sondern sogar die Bestände von 33 anderen europäischen Archiven offen. Eine eigene Initiative des Freiburger Militärarchivs findet sich unter in der Rubrik »Urgroßvater im Ersten Weltkrieg«: Hier findet der Nutzer zahlreiche online gestellte Gefechtsberichte und Tagebucheinträge im Original: etwa den Gefechtsbericht des Infanterie-Regiments Nr. 56 über den Angriff und Gegenangriff um das Grabenstück 708-709 im Abschnitt »Toter Mann« an der Westfront am 21. September 1916 oder den Bericht einer Patrouille in Deutsch-Ostafrika vom 13. August 1916. Dem Nutzer des BundesarchivPortals eröffnen sich schier unendliche Archivweiten. ks

www.ersterweltkrieg.bundesarchiv.de

http://www.bpb.de/shop/multimedia/ mobil/146941/app-erinnerungsorte

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ie App »Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus« basiert auf der gleichnamigen Datenbank der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) ermöglicht den Zugriff auf derzeit 418 Erinnerungsorte. Hier­zu gehören Gedenkstätten, Museen, Dokumentationszentren, Mahnmale und Online-Angebote. Die App ist kostenlos für IPhone und Android verfügbar. Alle Orte werden mit einem kurzen Text, Hinweisen zum pädagogischen Angebot und einem Foto beschrieben, zusätzlich sind Öffnungszeiten und Kontaktdaten abrufbar. Die Suche innerhalb der App kann eingegrenzt werden auf Kategorien, Bundesländer und Online-Angebote sowie regional anhand von Postleitzahlen. Aufgrund der Angabe seines eigenen aktuellen Standorts kann der Nutzer auf einer Karte sich umliegende Erinnerungsorte anzeigen lassen. Ziel der App ist es, ein Ausgangspunkt für die historisch-politische Bildung im Themenbereich der Verfolgung verschiedenster Menschengruppen unter der NS-Diktatur zu sein. Sie lädt den Leser ein, seine Umgebung mit anderen Augen zu betrachten – insbesondere auf Reisen ist es immer wieder horizonterweiternd, einen Blick auf die App zu werfen, um zu erfahren, was für »Erinnerungsorte« sich in der Umgebung befinden. Die Datenbank und die App sind »Work in Progress«, d.h. vorhandene Einträge werden laufend aktualisiert und neue Erinnerungsorte aufgenommen. Über die Homepage der BPB können auch die Nutzer weitere Erinnerungsorte vorschlagen. Nach der Installation der AndroidApp kann es zu einer Endlosschleife kommen, man kann die App dann nicht mehr verlassen. In diesem Fall muss das Smartphone neu gestartet werden – anschließend sollte die App normal funktionieren. Gerrit Huth

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Service

Lesetipp

Peter Scholl-Latour

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on seinen Lesern wurde der 2014 verstorbene Autor für seine fundierten, durch eigenes Erleben vor Ort gestützten Analysen bewundert; von seinen Kritikern wurde er böse als »König der Unken« verspottet. Dabei hat Scholl-Latour mit seinen Unkenrufen, seinen Warnungen vor den Folgen militärischen Engagements im Nahen Osten, in Afghanistan oder in Vietnam am Ende sehr oft Recht behalten. In seinem neuem, letzten Buch zeigt Scholl-Latour große Sympathie für die in Afghanistan und der Türkei eingesetzten deutschen Soldaten, auch wenn er keinen Hehl aus seiner pessimistischen Lagebeurteilung machte. Im Irak und Afghanistan hätten sich »die amerikanischen Stäbe beinahe feindselig gegen jede objektive Lagebeurteilung abgekapselt« (S. 20). Doch den Vorwurf des Antiamerikanismus weist er zurück. Dieser sei ihm schon 1965 vom damaligen westdeutschen Außenmi­ nister Gerhard Schröder nach seinen kritischen Reportagen über den be­ ginnenden amerikanischen Vietnam­ einsatz gemacht worden. Besonders scharf kritisiert der große alte Orientkenner die Syrienpolitik des Westens, die allein in Assad den Schuldigen sehe und die Einmischung der Türkei, Saudi-Arabiens und der Golf-Emirate dulde. Hinter dem Giftgaseinsatz in Ghouta, der 2013 um Haaresbreite zum Eingreifen der USA, Frankreichs und Großbritanniens in den Syrienkrieg geführt hätte, sieht Scholl-Latour nicht Assad sondern die Aufständischen, »die präzise zu dem Zeitpunkt, als Obama seine rote Linie zog, sich zu dieser Provokation entschlossen in der Erwartung, dass nunmehr die vernichtende Vergeltung der amerikanischen Luftwaffe über Damaskus hereinbräche« (S. 281). Die Mahnungen

Peter Scholl-Latour, Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Wes­tens im Orient, Berlin 2014. ISBN 978-3-54907412-1; 351 S., 24,95 Euro

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des alten, furchtlosen Kriegsreporters werden uns künftig fehlen. ks

Katyn 1940

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nde Januar 1943 entdeckte ein deutscher Oberstleutnant im Wald von Katyn, westlich von Smolensk, ein Mas­sengrab mit den sterblichen Überresten von etwa 4300 polnischen Offizieren. Sie waren 1940 vom sowjeti­ schen Geheimdienst NKWD erschossen worden. Das Massaker von Katyn steht heute symbolisch für die systematische Auslöschung der polnischen Elite nach dem Einfall der Roten Armee 1940, der insgesamt etwa 25 000 Offiziere zum Opfer fielen.

Thomas Urban, Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens, München 2015. ISBN 978-3-40667366-5; 249 S., 14,95 Euro

Thomas Urban, viele Jahre Korres­ pondent in Polen und Russland, zeichnet anlässlich des 75. Jahrestags des Verbrechens dessen Geschichte nach. Nach der Entdeckung des Massengrabs wurde das Verbrechen durch Joseph Goebbels propagandistisch ausgeschlachtet, um einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben. Doch die Sowjetunion schob der Wehrmacht das Verbrechen zu, fälschte dazu Briefe und Papiere der Toten; die Westalliierten spielten mit, Pragmatismus siegte über Aufklärung. Erst in den 1950er Jahren wurden die Zweifel an der sowjetischen Version auch außerhalb der polnischen Aktivistenkreise salonfähig, doch sollte es noch bis 1990 dauern, bis Moskau seine Schuld eingestand. Vielschichtig und informationsgesättigt spürt Urban den Spuren des Verbrechens nach und vermag dabei die beinahe unübersichtliche Anzahl von Akteuren dem Leser ebenso klar zu ordnen wie den unzähligen Gerüchten und Legenden Platz einzuräumen. Seine detektivische Aufarbeitung ist eine historische Dokumentation, keine

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Anklageschrift gegen Russland, auch wenn seine Enttäuschung über die noch immer nicht vollständig vorgenommene Klarstellung und die fehlende juristische Aufarbeitung seitens Moskaus nicht zu verkennen ist. fh

Deutschen Marine(n)

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ie Geschichte jeder deutschen Marine ist eng mit der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden. Anders als die meisten euro­päischen Staaten, hat Deutschland während der letzten 160 Jahre nicht nur eine Marine besessen, sondern gleich acht: Angefangen mit der Reichsflotte von 1848 über die preußische Marine, die Marine des Norddeutschen Bundes, die Kaiserliche Marine, die Reichsmarine (der Weimarer Republik), die Kriegsmarine bis 1945 bis hin zur Volksmarine der DDR und der Marine der Bundesrepublik Deutschland, die seit der Wiedervereinigung kurz Deutsche Marine heißt. Manche dieser ­Marinen sind historisch besonders auffällig und Gegenstand unzähliger Literatur, andere wiederrum sind nur als eine Randerscheinung der Geschichte zu sehen. Das im besten Sinne populärwissenschaftliche Buch von Jann M. Witt gibt einen gut überschaubaren und kurzweiligen Überblick über die wichtigsten historischen Ereignisse der unterschiedlichen deutschen Marinen. Witt hört aber nicht 1990 auf, sondern lenkt den Blick seiner Leser auf die Einsätze »Sharp Guard« in der Adria 1993 bis 1996, den wenig bekannten humanitären Einsatz der Fregatten »Karlsruhe« und »Köln« sowie des Tankers »Spessart« vor Somalia 1993 und die Beteiligung der Marine an den Operationen »Enduring Freedom« und »Active Endeavour« nach 2001. Auch

Jann M. Witt, Deutsche Marine­ geschichten. 1848 bis heute, Berlin 2015. ISBN 978-3-94459423-1; 144 S., 14,95 Euro

die aktuellen Einsätze UNIFIL und »Atalanta« werden bereits kurz vor­ gestellt. Die Fülle der Themen hat den Nachteil, dass vieles nur kurz ange­ rissen, anderes ausgespart werden muss. Christoph Buschmann

haltensweisen aller drei Generationen im Sinne der transgenerationalen Übertragung besser versteht. Gabriele Bosch

Reichskanzler Bülow

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ie Generation der zwischen 1955 und 1975 Geborenen hat von klein auf materiell alles bekommen, was sie zum Leben brauchte. Sie profitierte in vollen Zügen von den Früchten des Wirtschaftswunders. Doch im Rückblick tauchen Erinnerungen an das Familienleben auf, die nicht nur schön, sondern auf diffuse Weise auch beklemmend sind. Die »Nebelkinder« können oft gar nicht genau benennen, welche Nebel und Schatten auf ihrer Herkunft liegen. Über die Traumatisierung von Kriegskindern, die zwischen 1939 und 1945 unter 16 Jahre alt waren, ist bereits viel geschrieben worden. Bekamen diese Frauen und Männer später selbst Kinder, gaben sie ihre Erlebnisse wie Hunger, Kriegsschrecken, Flucht, Vaterverlust und sexuelle Übergriffe unbewusst weiter. Über schuldhaftes Verhalten der Großeltern oder andere Familiengeheimnisse wurde nicht gesprochen. Die Kriegsenkel nahmen ihre Eltern nicht selten als gefühlskalt oder innerlich abwesend wahr, was bei ihnen selbst zu psychischen Problemen führte. Woher rührt das Gefühl, eine schwere Last zu tragen? Den Kriegskindern fehlte häufig ein Problembewusstsein, dass mit ihnen etwas nicht stimmen könnte. Die eindrücklichen Berichte von Kriegsenkeln, die sich in der Mehrzahl profes­ sio­nell mit der Aufarbeitung von Traumata beschäftigen, sind unter die Überschriften Erfahrung, Deutung und Heilung gestellt. Die Lektüre führt dazu, dass man Einstellungen und Ver-

ernhard Fürst von Bülow war von 1900 bis 1909 Reichskanzler. Er galt in den Augen seiner Anhänger als umsichtiger Staatsmann, der Ruhe und Stetigkeit in die Innenpolitik brachte und in der Außenpolitik kriegerische Verwicklungen verhinderte. Seine Gegner hingegen sprachen ihm jegliche Kunst des Staatsmannes ab und arbeiteten heraus, dass er lediglich den Willen Kaiser Wilhelms II. umsetzte. Peter Winzen hat sich nun nach langjährigen Studien aufgemacht, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Er beschreibt den Lebensweg des 1849 geborenen und 1929 gestorbenen Bülow in drei Großabschnitten: Aufstieg, Kanzlerschaft und römisches Exil. Er schildert die Entwicklung des Juristen vom Attaché zum Botschafter in den Jahren 1873 bis 1893. Die Jahre der deutschen Flottenrüstung sowie des Ausbaus der Kolonien erlebte Bülow als Staatssekretär des Äußeren und ab 1900 als Reichskanzler. In diese Zeit fielen der Boxer-Aufstand in China, die Verschlechterung des deutsch-britischen Verhältnisses, die Bosnien-Krise und die Daily-Telegraph-Affäre (beide 1908). Letztere führten zum Zerwürfnis mit dem Kaiser, der ihn entließ. Es folgte eine Zeit intensiver publizistischer Tätigkeit. Der Autor arbeitet heraus, dass Bülow etwa für die deutsche Vorkriegspolitik zwischen 1898 und 1909 keineswegs nur Erfüllungsgehilfe war. Indirekt trug Bülow demnach die historische Verantwortung für den Weg in die Julikrise 1914. So ganz nebenbei gelingt Winzen auch noch eine Geschichte des Beziehungsgeflechtes der

Michael Schneider und Joachim Süss (Hg.), Nebel­ kinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte, Berlin [u.a.] 2015. ISBN 978-3-94430591-2; 382 S., 19,99 Euro

Peter Winzen, Reichskanz­ ler Bernhard von Bülow. Mit Weltmachtphantasien in den Ersten Weltkrieg, Regensburg 2013. ISBN 978-3-7917-2546-8; 573 S., 36,95 Euro

Traumaschatten

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führenden deutschen Politiker, Diplomaten und Militärs jener Zeit. hp

»Kanonen statt Butter«

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anonen statt Butter« – unter diesem Zitat von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß setzt sich Tim Schanetzky mit Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich auseinander. Im zweiten Band der Reihe »Die Deutschen und der Nationalsozialismus« schreibt er eine kritische Wirtschaftsgeschichte für die Zeit zwischen 1933 und 1945 und beleuchtet darin die Zusammenhänge von Aufrüstung, Kriegswirtschaft, Konsumgesellschaft, Zwangsarbeit und NS-Regime. Dabei ist ihm besonders daran gelegen, militärische Zwecke der Wirtschaft des Dritten Reiches (»Kanonen«) mit den gerne übersehenen, ganz alltäglichen Bedürfnissen der Gesellschaft (»Butter«) in ihrem Spannungsverhältnis darzustellen. Im Ergebnis werden in seinem Buch nicht nur Terror, Ausbeutung, Arisierung und Zwangsarbeit behandelt, auch die Lebensstandards der damaligen Zeit, Konsummöglichkeiten und -chancen der Bevölkerung werden in den Blick genommen. Schanetzky analysiert in dem lebendig geschriebenen Buch die Zusammenarbeit der Unternehmer mit dem NS-Regime und untersucht die Rolle der Wirtschaft: Zunächst für den Erfolg des Nationalsozialismus durch die Überwindung der Wirtschaftskrise und die Rüstungswirtschaft und später für das Scheitern und für den Zusammenbruch von Versorgung, Kommunikation und Verwaltung. Er kommt zu dem Fazit, dass die deutsche Wirtschaft von Beginn an mit Hitlers Regime kooperierte und bereit war, sich den Regeln des Dritten Reiches unterzuordnen – oftmals unter Druck oder aus Angst vor Repressalien, vor allem aber auch, weil es lukrativ war. Leonie Hieck

Tim Schanetzky, »Kanonen statt Butter«. Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich, München 2015. ISBN 978-3-406-67515-7; 272 S.; 16,95 Euro

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Service

Die historische Quelle

Die Wehrtechnische Studiensammlung der Bundeswehr in Koblenz

Entwicklung der Wehrtechnik

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ls Einrichtung und Referat des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr gehört die seit 1982 in Koblenz ansässige »Wehrtechnische Studiensammlung« (WTS) zu einem ihrer maßgeblichen Bestandteile. Die Sammlung ist aus der bei der Erprobungsstelle der Bundeswehr in Meppen seit 1962 aufgebauten »Waffen- und Studiensammlung für Entwicklungs- und Konstruktionsstudien« hervorgegangen. Sie wird von Seiten der Bundeswehr nicht als Museum, sondern als Studiensammlung geführt. Die 24 000 Objekte umfassen einen in dieser Form einmaligen Bestand an Militär- und Wehrtechnik, wobei etwa ein Zehntel der Exponate des Gesamtbestandes auf 7200 qm öffentlich gezeigt wird. In unregelmäßigen Abständen gibt es auch thematische Sonderausstellungen. Schwerpunkte des Bestandes bilden die Handwaffensammlung mit rund 10 000 Objekten sowie Munition, Rad- und Kettenfahrzeuge, automatische Waffen, Geschütztechnik, Raketen, Marinegerät, Luftfahrzeuge, Infor­mationstechnik, Fernmelde-, Elektronik- und optisches Gerät, Pioniergerät, Bekleidung und Ausrüstung aus dem historischen und dem aktuellen Bestand der Bundeswehr und anderer Streitkräfte. Innerhalb dieser Sammlungsgruppen ist der Bestand an technisch hochinteressanten Demonstratoren, Prototypen und Versuchsmustern hervorzuheben. Zum Bestand der Heeresgroßtechnik gehören beispielsweise ein französischer Panzer vom Typ Renault FT 17 aus den letzten Monaten des Ers­ ten Weltkrieges, deutsche Kettenfahrzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg, wie z.B. das Sturmgeschütz III und der Jagdpanther, bis hin zu Vorserienmodellen der Bun-

deswehr bzw. der NATO, wie der Schützenpanzer Marder II und der Kampfpanzer 70. Der Bestand der WTS entwickelt sich progressiv und degressiv dynamisch, d.h. neben der Übernahme neuer Technik und Ausrüstung einerseits werden andererseits einzelne Objekte für ingenieurtechnische Untersuchungen zur Verfügung gestellt und damit abgeschrieben. Dies erklärt sich aus der eigentlichen Aufgabenstellung der WTS für die Bundeswehr. Besonders imposant sind die Präsenzbibliothek und das Archiv mit über 100 000 technischen Dokumenten, wie Dienstvorschriften und Gerätebeschreibungen der Bundeswehr, NVA und NATO, 17 700 Titeln von Fach­ büchern und -zeitschriften zur Militärtechnik sowie zur Militär­geschichte. Die Einrichtung ist die zentrale ingenieurtechnische Studien- und Schausammlung dieser Art in Deutschland. Mit dem neuen Konzept aus dem Jahr 2000 ergaben sich folgende Aufgaben: 1. die Fortschritte der Wehrtechnik mit dem Schwerpunkt der Entwicklung nach 1945 zu dokumen­tieren und darzustellen; 2. bei der Laufbahnausbildung und Fortbildung von Wehringenieuren und Technikern mitzuwirken; 3. Waffen und Gerät für technische Untersuchungen, Erprobungen und Weiterentwicklungen bereitzustellen. Hinzu kommen die Mitarbeit im Museums- und Sammlungsverbund der Bundeswehr und die Öffnung der Schauausstellung für die interessierte Öffentlichkeit. Manfred Wilde

WTS Koblenz

Literaturtipp Wehrtechnische Studiensammlung ­Koblenz. Ein Überblick. 50 Jahre WTS – 30 Jahre in Koblenz. Redaktionsleitung: Rolf Wirtgen. Redaktion: Frank Köhler, Lothar Simon, Hubert Zimmer. Hrsg. vom Verein der Freunde und Förderer der Wehrtechnischen Studien­ sammlung Koblenz e.V., Hunzel: Hermes Medien [2012].

3Das Schnittmodell einer Vorserie des Leopard 1 gibt Einblicke ins Innere des Fahrzeugs für jedermann, ohne sich durch die Lucke in den Innenraum zu begeben.

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30. November 1945

455 n.Chr.

Air Transport Auxiliary wird aufgelöst

Eroberung von Rom durch die Vandalen

or 70 Jahren wurde die Organisation außer Dienst gestellt, die im Zweiten Weltkrieg für den Transport von Militärmaschinen der Royal Air Force (RAF) eingesetzt wurde. Insgesamt 147 verschiedene Flugzeugtypen – vom leichten Trainings-Doppeldecker bis zum viermotorigen Bomber – wurden durch die Air Transport Auxiliary (ATA) von Werften und Reparaturplätzen zur Truppe und zurück transferiert. Diese wichtige Aufgabe übernahmen in Großbritannien keine Militärpiloten, sondern ab 1941 ausschließlich zivile Piloten der ATA. Aufgestellt wurde die ATA 1940 durch Gérard d’Erlanger, Direktor der britischen Fluggesellschaft British Overseas Airways Corporation. Er schlug eine solche paramilitärische Organisation bereits 1938 vor, um dem sich abzeichnenden Pilotenmangel zu begegnen. Zur ATA gehörten nicht nur für den militärischen Dienst zu alte oder untaugliche britische Piloten wie er selbst, sondern auch freiwillige ausländische und weibliche Piloten. Gerade der Einsatz von weiblichen Piloten (insg. 16%) sorgte für Aufmerksamkeit der zeitgenössischen Presse, insbesondere nachdem die seinerzeit berühmte Rekordfliegerin Amy Johnson mit vereisten Tragflächen in die Themse gestürzt war. Insgesamt stellt die ATA eine Fallstudie für die außerordentlich gelungene Integration von Frauen in eine Organisation bei Eliminierung von Diskriminierung dar; gleiche Bezahlung für beide Geschlechter war zu der damaligen Zeit nicht selbstverständlich. Zu den »Unternehmensgrundsätzen« der ATA gehörte zwar das Prinzip der absoluten Risikovermeidung: Die wertvollen Flugzeuge sollten unbeschädigt ihr Ziel erreichen und Kapriolen sowie Flüge unter schlechten (Wetter-)Bedingungen vermieden werden. Dennoch ließen 174 ATA-Piloten ihr Leben, unter ihnen 15 Frauen. Über 309 000 neue, beschädigte und reparierte Flugzeuge wurden bis Kriegsende für die RAF transferiert. Die Auflösung der ATA fand im feierlichen Rahmen statt – die historische Bedeutung der ATA wurde deutlich herausgestellt, denn ohne die ATA hätte die »Luftschlacht um England« welche die RAF bis zum Äußersten forderte, noch unter deutlich ungünstigen Umständen stattgefunden. Auch in Deutschland wurden im Verlauf des Krieges meh­ rere »Überführungsgeschwader« aufgestellt, in denen verein­ zelt Frauen dienten. Über diese ist allerdings kaum etwas be­ kannt, die meisten Akten wurden vernichtet. Christian Taube

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pa/akg-images

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n der vormals bedeutendsten Stadt der Welt bot sich den Bewohnern ein ungewohntes Bild. Angehörige des germanischen Volkstamms der Vandalen drangen trotz bestehender Verträge in Rom ein und plünderten die Stadt. Das Römi­sche Reich war zu dieser Zeit nur noch ein Schatten seiner selbst. Ironischerweise prägte die vandalische Besetzung Roms seit dem 18. Jahrhundert nachhaltig ihr Bild als »zerstörungswütige Plünderer« (Vandalismus), obwohl sie bei diesem für die Antike gängigen Verfahren harmloser vorgingen als ihre römischen Gegner in den Jahrhunderten zuvor. Das alte Imperium Romanum erfuhr erst 60 Jahre zuvor seine Teilung in einen westlichen und einen östlichen Teil. Durch die Völkerwanderung, der sich auch die Vandalen in Mitteleuropa anschlossen, geriet insbesondere der weströmische Reichsteil unter Druck. Zu dieser Zeit war schon das norditalienische Ravenna dessen Hauptstadt. Im Laufe der großen Bevölkerungsbewegungen zogen die germanischen Stämme über Gallien nach Hispanien und dann schlussend­ lich nach Nordafrika, der damaligen Kornkammer des Reiches. Diese Provinz war wegen ihres Reichtums das Ziel des vandalischen Königs Geiserich. Laut römischen Quellen sollten die Vandalen als Verbündete (lat. foederati) durch den römischen Statthalter eingebunden werden, um die Provinz Nordafrika gegen die Berber zu verteidigen. Nach einer mühsamen Überfahrt von Hispanien nach Nord­afrika erreichten laut dem oströmischen Geschichtsschreiber Prokop etwa 80 000 Vandalen die nordafrikanischen Provinzen. Nach Querelen mit dem Statthalter und Gefechten mit weströmischen Truppen eroberten die Vandalen die Hauptstadt Karthago. Viel wichtiger war aber der Coup, der ihnen mit der Beschlagnahmung der römischen Kriegsschiffe gelang. Dieser Handstreich sollte die Vandalen zur einzigen germanischen Seemacht der Antike werden lassen. Sie eroberten nach und nach Sardinien, die Balearen sowie Korsika und bedrohten damit die römische Vorherrschaft im Mittelmeer. Den Höhepunkt dieser Streifzüge stellte die bereits erwähnte Eroberung von Rom dar. Mittels notgedrungen geschlossener Verträge konnte Ravenna die Situation entspannen, obwohl damit die Anerkennung der vandalischen Eroberungen verbunden war. Maßnahmen gegen die Vandalen ließen so lange auf sich warten, dass die ausbleibende Versorgung mit Getreide aus Nordafrika zu einer Hungersnot im Reich führte. Benjamin Pommer

3Die argentinisch-britische Pilotin Maureen Dunlop diente als First Officer im ATA und flog u.a. die Jäger Spitfire und Hurricane sowie den Wellington-Bomber und Mosquito-Aufklärer.

3Eroberung der Stadt Rom durch die Vandalen unter König Geiserich.

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• Berlin Alltag Einheit. Portrait einer Übergangs­ gesellschaft 27. Mai 2015 bis 3. Januar 2016 sowie Homosexualität_en 26. Juni bis 1. Dezember 2015 Deutsches Historisches Museum Unter den Linden 2 10117 Berlin Tel.: 0 30 / 20 30 40 www.dhm.de täglich 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 8,00 Euro (unter 18 Jahren Eintritt frei)

• Ingolstadt Napoleon und Bayern 30. April bis 31. Oktober 2015 Bayerisches Armee­ museum Neues Schloss Ingolstadt Paradeplatz 4 85049 Ingolstadt Tel.: 08 41 / 9 37 70 www.hdbg.de täglich 9.00 bis 18.00 Uhr 30. April bis 31.10.2015 Eintritt: 9,00 Euro

• Kalkriese Ich Germanicus! Feldherr Priester ­Superstar 20. Juni bis 1. November 2015 Varusschlacht im ­Osnabrücker Land Venner Str. 69 49565 Bramsche-­ Kalkriese Tel.: 0 54 68 / 9 20 40 www.kalkriesevarusschlacht.de April bis Oktober täglich 10.00 bis 18.00 Uhr November bis März

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Ausstellungen

Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 5,00 Euro

• Ludwigsburg »Gerüstet für den Krieg – vorbereitet auf den Frieden« 24. Mai 2015 bis 31. Januar 2016 Garnisonmuseum Ludwigsburg Asperger Str. 52 71634 Ludwigsburg Tel.: 07 11 / 25 73 416 www.garnisonmuseumludwigsburg.de Mittwoch 15.00 bis 18.00 Uhr Sonntag 13.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 2,00 Euro

• Mühlhausen Gezeichnet! Gustav Wolf-Weifa skizziert den Ersten Weltkrieg 11. September 2015 bis 31. Januar 2016 St. Marien, Müntzer­ gedenkstätte Bei der Marienkirche 99974 Mühlhausen Tel.: 0 36 01 / 8 56 60 www.mhl-museen.de Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 4,00 Euro

• Oberammergau NS-Herrschaft und Krieg Oberammergau 1933–1945 4. April bis 8. November 2015 Oberammergau ­Museum Dorfstr. 8 82487 Oberammergau Tel.: 0 88 22 / 9 41 36 www.oberammer gaumuseum.de Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 6,00 Euro

• Rastatt Kleine Geschenke er­ halten die Freundschaft 15. August bis 22. November 2015 Wehrgeschichtliches Museum im Schloss ­Rastatt Herrenstr. 18 76437 Rastatt Tel.: 0 72 22 / 3 42 44 www.wgm-rastatt.de Dienstag bis Sonntag und Feiertag April bis Oktober 10.00 bis 17.30 Uhr November bis März 10.00 bis 16.30 Uhr Eintritt: 7,00 Euro

• Münster/Westfalen • Ratingen Propaganda trifft ­Grabenkrieg: Plakatkunst um 1915 11. September 2015 bis 10. Januar 2016 LWL-Museum für Kunst und Kultur Domplatz 10 48143 Münster Tel.: 02 51 / 59 07 01 www.lwl-museum-­ kunst-kultur.de Dienstag bis Sonntag und Feiertag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 8,00 Euro

Heimat.Front – Ober­ schlesien und der Erste Weltkrieg 10. Mai bis 8. November 2015 Oberschlesisches ­Landesmuseum Bahnhofstr. 62 40883 Ratingen (Hösel) Tel.: 0 21 02 / 96 50 www.oberschlesisches-­ landesmuseum.de täglich außer Montag 11.00 bis 17.00 Uhr Eintritt: 5,00 Euro

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2015

Heft 4/2015

Service

Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung

 Vorschau Der 12. November 1955 gilt als der Gründungstag der Bundeswehr. Die ersten 101 Freiwilligen erhielten ihre Ernennungsurkunden. Nur: eine Armee existierte damit noch lange nicht. Ab Januar 1956 wurden Mannschaften, Unteroffiziere sowie Offiziere ausgebildet, im Laufe der nächsten Jahre wurden Einheiten, Verbände und Großverbände aufgestellt und der NATO als einsatzbereit gemeldet. Ähnliches geschah ab dem 1. März 1956 in der DDR mit der Aufstellung der Nationalen Volks­ armee im Bündnis des Warschauer Vertrages. Rüdiger Wenzke beleuchtet die Anfangs­jahre beider deutscher Armeen im Überblick. Die in diesem Heft (3/2015) begonnene Reise zu den eher »vergessenen« Fronten des Weltkrieges 1914–1918 (Serbien/Rumänien) setzt Marcel Serr fort. Er stellt die Palästinafront und damit dem Krieg in der Levante vor. Diese umfasste die heutigen Staaten Syrien, Israel, Jordanien, Libanon, Irak, Türkei sowie den Gaza-Streifen. Hier waren deutsche und österreichisch-ungarische Truppenteile zu Lande zu Wasser und in der Luft zur Unterstützung des verbündeten Osmanische Reich eingesetzt. Helmut Schuhart spannt einen über tausendjährigen Bogen über die wechselhafte Beziehung zwischen Polen und Russen. Mit dem Wissen von heute in puncto Psychologie gab es während und vor allen Dingen nach allen Kriegen Traumata. Sie wurden zumeist anders benannt, nicht ­erkannt, verdrängt, vergessen bzw. verschwiegen und kamen erst nach Jahrzehnten wieder hoch. Diese trafen Soldaten und Zivilbevölkerung gleichermaßen. Katrin Hentschel widmet sich dieser Thematik am Beispiel des Zweiten Weltkrieges und seiner langen psychischen Nachwirkungen für Kriegsgefangene, Verwundete, Vergewaltigte, Flüchtlinge und Ausgebombte. hp

Militärgeschichte im Bild

Das somalische Desaster: Die Mission UNOSOM II und ihr Scheitern im Herbst 1993

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setzen – mit mehr beteiligten Nationen, mehr Soldaten, aber auch mehr Hilfsgütern. Erstmalig beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland mit 1500 Soldaten an einem solchen Einsatz. Die beteiligten Kontingente aus 29 Nationen mit insgesamt 20 000 Mann Kampftruppe, 8000 Logistiksoldaten und 2800 Zivilisten hatten zwar einen gemeinsamen Auftrag, unterlagen jedoch den Grenzen der Auftragserfüllung, die ihre Regierungen festlegten, den »national caveats«. In der Durchführung waren die Kontingente jedoch auf Zusammenarbeit angewiesen und stützten sich zumeist auf die ameri­ kanische Führung sowie deren Mittel der Machtprojektion ab. Dies führte zwangs­läufig zu erheblichen Friktio­ nen in der Kommunikation und Koordination bei der Auftragserfüllung. In den verschiedenen Regionen Somalias entwickelten sich so aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmung der Aufträge stark voneinander abweichende Verhältnisse zwischen den UNTruppen und der einheimischen Bevölkerung. Während in den Regionen der australischen, französischen oder deutschen Kontingente, die von den Vereinten Nationen angestrebte humanitäre Hilfe ohne größere Problem pa/AP

ach dem Ende der Herrschaft des Diktators Siad Barre 1991 versank Somalia in einen blutigen Bürgerkrieg, in dessen Folge jegliche staatliche Autorität und Formen öffentliche Verwaltung verloren gingen. Faktisch exis­ tierte kein handlungsfähiger Staat mehr. Mit dem Scheitern der Blauhelmmission UNOSOM im Dezember 1992, die einen ausgehandelten Waffenstillstand überwachen sollte, und aufgrund der anhaltenden, massiven Gewalt somalischer Clan-Milizen auch gegen die eingesetzten Blauhelme erhielt eine multinationale Unified Task Force (UNITAF) mit bis zu 28 000 Soldaten unter Führung der USA vom UN-Sicher­heitsrat den Auftrag, »mit allen erforderlichen Mitteln« Ballungszentren sowie Häfen zu sichern und eine sichere Umgebung für humanitäre Hilfe zu schaffen. Nachdem die UNITAF zunächst ihren Auftrag hatte durchsetzen können, führte eine deutliche Reduzierung der US-Anteile zum Wiederaufflammen der Gewalt. Infolgedessen beschloss der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 814 vom 26. März 1993, die UN-Kräfte von 3500 auf 30 800 Mann zu erhöhen. Die neue Mission UNOSOM II sollte die Ziele der vorhergehenden Missio­nen auf einer breiter abgestützten Basis durch-

59. Juli 1993, Mogadischu: Somalier umringen ein italienisches Militärfahrzeug und zeigen Portraits des Milizenführers Mohamed Farrah Aidid (AP Photo/Hansi Krauss, dieser Fotograf wurde nur drei Tage nach dieser Aufnahme getötet).

durchgeführt werden konnte, eskalierte die Situation im amerikanischen Sektor, zu dem auch die Hauptstadt Mogadischu zählte. Die innersomalischen Konflikte verschärften die schwierige und unübersichtliche Lage in der somalischen Hauptstadt. Am 5. Juni 1993 töteten Milizen des Clanführers Mohammed Farah Aidid 23 pakistanische UN-Blauhelme, als diese versuchten, einen von Aidids Radiosendern zu schließen. Dadurch geriet die Situation in Mogadischu und somit für die gesamte UNMission vollkommen außer Kontrolle. In der Folgezeit wurden die UN-Truppen aufgrund der Dynamik des Bürgerkriegs immer mehr zu einer weiteren »Kriegspartei«. Auf Geheiß des damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton wurde vor diesem Hintergrund zunächst Aidid persönlich gejagt, dann seine Miliz mit aller Härte bekämpft. Am 3. Oktober 1993 wollten amerikanische Spezialkräfte zum entscheidenden Schlag ausholen und – unter einer vollkommenen Fehleinschätzung der Lage – eine größere Anzahl von Aidids Unterführern mitten in Mogadischu verhaften und aus der Stadt heraustransportieren. Die sogenannte »Operation Irene« endete in einem Desaster, das als »Schlacht von Mogadischu« in die Geschichte einging. Die zwei Tage andauernde massive militärische Auseinandersetzung in den Straßen der somalischen Hauptstadt kostete 18 amerikanischen Soldaten und vermutlich fast 1000 Einheimischen das Leben. Infolgedessen befahl Präsident Clinton am 6. Oktober 1993, das amerikanische Engagement in Somalia zu beenden und alle US-Truppen bis zum 31. März 1994 aus dem Land zurückzuziehen. Da die anderen Kontingente der UNOSOM II-Mission zwingend auf die Kooperation mit der US-Eingreiftruppe angewiesen waren, führte diese Entscheidung auch zum vorzeitigen Abzug der meisten anderen Blauhelme. UNOSOM II war somit gescheitert. Somalia ist bis heute ein »gescheiterter Staat« und eine Brutstätte des Terrorismus. Dieter H. Kollmer

Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 3/2015

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