Sie ringen in der Pfütze um ihr Leben

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Darstellende Kunst, Theater
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Sie ringen in der Pfütze um ihr Leben von Dietmar Zimmermann „Jack in the Box“ ist ein gemeinnütziger Verein für Beschäftigungsförderung. Auf dem heruntergekommenen Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Köln-Ehrenfeld stehen inmitten einer Industriebrache ein paar Seecontainer herum. In einer Werkstatt für Upcycling arbeitet der Verein nicht mehr gebrauchte Gegenstände auf und führt sie einer neuen Nutzung zu. Die Seecontainer sind ein Teil dieses Konzepts: Als mobile, temporär nutzbare und modular erweiterbare Architektur werden auch sie innovativ und originell genutzt. Zum Beispiel als stockdunkler Schiffsbauch eines Flüchtlingsschiffs. Ein äußerst raubeiniger Sklaventreiber drängte den Unterzeichner und alle anderen Besucher ins beängstigende Dunkel. Man sah die Hand vor Augen nicht, hörte aber eine auf dem Boden kriechende Flüchtlingsfrau, die um Geld oder einen - echten oder gefälschten - Pass bettelte. Draußen turnte eine Farbige auf einer Holzkonstruktion herum, machte hilflose Schwimmbewegungen und rief: „Rette mich!“. In einer Pfütze rangen Yoshiko Waki, eine der beiden Impresarios der Tanzgruppe bodytalk, und einer ihrer Tänzer um ihr Leben. Und zwar mit sichtlichem Vergnügen. Das ist schräg - aber wenn es so weiter geht, könnte die Uraufführung der ersten Kooperation von bodytalk mit der Friedensbewegung Warless Day der Aktionskünstlerin Solmaz Vakilpour eine platte Angelegenheit werden. Es wird: genau das, was sich auf dem Parcours zu der Halle, in der die eigentliche Performance stattfinden wird, andeutete. Es wird eine kuriose, szenenweise mitreißende Melange aus Wutbürgertum, Provokationen, tiefster Verzweiflung und ausgelassener Fröhlichkeit. Also das, was schon frühere Performances von bodytalk auszeichnete. Allerdings wird es nicht platt. Diesmal stehen Solmaz Vakilpour und ihre Aktionskunst im Vordergrund. Die Aktionen der jungen Exil-Iranerin könnte man auf den ersten Blick ebenfalls als platt bezeichnen: Sie trommelt ein paar Gleichgesinnte zusammen und arrangiert nackte menschliche Körper im öffentlichen Raum, die sie dann mit (Theater-)Blut übergießt. Natürlich erinnert das an die Aktivistinnen von Femen oder an Pussy Riot - und Riot gibt‘s dann auch meistens, wie Vakilpour erläutert: Meist ruft ganz schnell jemand die Polizei, und die löst die Demo dann in Windeseile auf. Mehr als zehn Minuten habe sie selten Zeit für ihre Aktionen. Was das mit Friedensbewegung zu tun hat? Flashlightartig schoss ein unreflektierter Gedanke durchs Hirn: Welcher Spießer ruft denn heute noch die Polizei, nur weil ein paar blutüberströmte Nackte auf der Kölner Domplatte liegen? Dieser erschreckende Gedanke ist der Clou. Wie abgebrüht sind wir eigentlich schon gegen solche Bilder, die auf den Schlachtfeldern in Syrien, in den Folterkellern des Iran oder in den Bürgerkriegs-Regionen der dritten Welt noch heute Realität sind! Manchmal stellt Vakilpour einen bewaffneten Soldaten neben ihre Verwundeten und Leichen, manchmal gruppiert sie die Körper ihrer Performer zu kunstvollen menschlichen Skulpturen - aber am eindrucksvollsten erscheinen dem Rezensenten die schockierenden Bilder der auf dem Pflaster liegenden, blutüberströmten Menschen. Der begleitende Aktionismus erscheint da eher überflüssig - das ganze Geschrei und Bohai, das sich darum herum abspielt, gibt der Aktion etwas von einem Happening. Das gilt auch für die entsprechende Aktion, die Vakilpour in bodytalks Inszenierung von Fleshmob mit Toten an zentraler Stelle einbaut. Überraschenderweise ist am Premierenabend mehr als die Hälfte der Zuschauer bereit, sich auf der Bühne an der Aktion zu beteiligen - und eine Handvoll davon zieht sich sogar aus. „Nacktose-Intoleranz“, wie die Performer es nennen, hat hier keiner. Doch ein bisschen wirkt das Ganze ausgestellt, und wenn alle angezogen Bleibenden unsicher im Bühnenhintergrund mit den Füßen stampfen und Parolen wie „No more wars“ murmeln, fragt man sich doch wieder, ob das die angemessene Weise eines Protests ist. Einerlei: Zu bodytalk passt es. Denn die schaffen es immer wieder auf atemberaubende Art und Weise, Stimmungen kippen zu lassen und mit politischen Inkorrektheiten zu spielen. Die Fallhöhen sind enorm: Sylvana Seddig, eine der herausragenden Tänzerinnen der Truppe, begibt sich auf den Catwalk und tänzelt über die Bühne, als wäre das hübsche Mädchen einem Alptraum von Francis Bacon entsprungen: Da tanzt eine Schwerstbehinderte, eine Kriegsversehrte, wie man sie sich schlimmer kaum denken kann. Und ruft dem Zuschauer fröhlich zu: „Ich bin eine Friedensbewegung!“ Na sowas: Ganz subtil und für Sekundenbruchteile nur hat da eine der Performerinnen die ambivalenten Gefühle des Rezensenten im Hinblick auf Vakilpours Aktionskunst aufgegriffen und jeder Kritik den Wind aus den Segeln genommen. - Auch das Bild von Yoshiko aus der Pfütze wird wieder aufgegriffen: Die Tänzer sitzen in Autoreifen, die ein jeder sofort als Rettungsringe begreift, und klammern sich fest, um zu überleben; Geräusche eines Fliegerangriffs, wütende Texte dazu treffen den Zuschauer ins Innerste - doch die Flucht nach Deutschland gelingt, und das Wortkonzert endet beim Grenzübergang im Jubel: „Ich bin Deutscher, ich bin Weltmeister.“ Choreographien flüchtender Menschen in den Rettungsringen kippen von Bildern der Angst in Bilder von großer Ästhetik;

bodytalks

Tänzerinnen

spielen

den

drohenden

Untergang

wie

die

gut

gebauten,

aber

ein wenig lächerlichen

Synchronschwimmer bei den Olympischen Spielen. Und sie lachen dabei. Schließlich haben sie Spaß an der Ausübung ihres Jobs! In hohem Erzähltempo, unter offenbar ungeheurem Druck berichtet Solmaz von der Verfolgung im Iran, von psychischen und physischen Misshandlungen auch innerhalb ihrer Familie. Als Zuschauer ist man geneigt, sein Mobile Phone zu zücken und Solmaz sofort die Nummer einer Therapeutin zuzustecken - aber da reagiert schon die bodytalk-Moderatorin mit einem lakonischen: „Au weia“. - „Ich bin ja nur Performensch“, sagt sie achselzuckend. Nach dem blutigen nackten Leichen- und Kriegsverletzten-Getümmel nehmen die Performenschen lustvoll und für deutsche Bühnen ungewöhnlich explizit sexuellen Kontakt auf. Hurrah, wir leben noch - es ist ja alles nur gefaket. Die Performance von bodytalk und Warless Days ist von größter Radikalität - und von unendlicher Fröhlichkeit, mit der die radikalen Situationen immer wieder aufgelöst werden. Bilder von großer Brutalität wechseln ab mit Folklore-Rock, Blut- und Todesmetaphern mit pastellfarbenen Zelten und Kostümen, Einfühlsames mit Ekelhaftem. Die Performer, die übrigens ihre großartigen tänzerischen Qualitäten bis zur völligen Verausgabung unter Beweis stellen, machen eindrucksvoll auf ihr im wahrsten Sinne des Wortes todernstes Anliegen aufmerksam und feiern gleichzeitig eine große Party. Immer wieder weisen sie auf die Spielsituation hin, in der sie und wir uns befinden. Aber kaum drehen sie einmal an der Stimmungs-Schraube, geben wir unsere Distanz auf. Emotional durchgeschüttelt, werden wir unablässig von einem Gemütszustand in den nächsten getrieben. Das ist verwirrend - und macht es schwer, die einzelnen, von ihren Theatermitteln und ihrer Performance-Qualität durchaus heterogenen Teile des Abends zu beurteilen. Aber auch wir kriegen ja unser Fett ab. Was tun wir eigentlich gegen den Krieg?, fragen uns die Performer. Was tun wir mit unserer eigenen, fraglos komfortablen Lebenssituation? - „Online jammern“, sagt die Flüchtlings-Dame, die am Anfang von der Holzkonstruktion gerettet werden wollte. Macht der Schreiber dieser Zeilen aber nicht. Er applaudiert online.

“FLESHMOB MIT TOTEN” “JACK IN THE BOX” IN KÖLN EHRENFELD Nach(t)gedanken von Klaus Dilger HIER GEHT ES ZUM VIDEO Eine bitterböse Gesellschafts- und Selbstkritik, die bodytalk und WARLESS DAY mit ihrer ersten gemeinsamen Produktion da betreiben! Nicht weniger böse und zynisch gewählt ist der Titel „FLESHMOB MIT TOTEN“; der Unter- oder Nebentitel, „EINE PERFORMENSCH“, den bodytalk als Motto bereits schon mehrere Male in ihren Programmankündigungen verwendet hat, charakterisiert treffend die Darbietung. Die Gleichung Mensch als Performer oder der „menschelnde“ Performer, mit all seinen | ihren Schwächen, Psychosen, Leiden, seiner | ihrer Egomanie, Narzissmus und persönlichen Bedürfnissen, die zu Motoren der Darstellung und Selbstdarstellung taugen, wird hier schmerzhaft für Darsteller, wie auch für die Zuschauer ausgelebt. Rotzfrech wagen sich die “Spontis” der deutschen Tanzszene im Schulterschluss mit den Friedensaktivisten von WARLESS DAY an ein höchst aktuelles und hochsensibles Thema und hinterfragen selbst die Welle der Hilfsbereitschaft (und ihr eigenes Tun) als reines Epikureertum! Da bleibt nicht viel Distanz übrig, die man der Kunst gemeinhin abverlangt. Und weil die neunzehn! Projektbeteiligten den Machern wohl noch nicht ausreichen, werden die zahlreichen Zuschauer gleich mit auf die Bühne gebeten, um kurze zehn Minuten lang am „FLESHMOB“, der “FLEISCHBEWEGUNG”, mit und ohne Hüllen, teilzuhaben.

Die Gesellschaft(en) sind wir Alle – und so wird aus einem vorgehaltenen Spiegel schnell ein Panoptikum und Spiegelkabinett, das Einen schwindlig werden lässt! Zur Live-Musik (Komponisten und Musiker werden nicht gesondert benannt), die einem David Lynch zur Ehre gereicht hätte und aus Mündern sprudelnden Schicksalen, die stets sofort mit blankem, scharfzüngigem Zynismus zerhackt werden, überflutet eine, teils brutale und sich stets einprägende, Bilderwelt die Zuschauer!

STOPP!!! schreien Hirn und Inneres – es ist, als wollten die Macher uns im (Mittel)Meer der Bilder, Worte und Soundtracks ertrinken lassen! Und gerade, als „Land in Sicht“ ist, ein Ende sich andeutet, beginnt eine weitere Protagonistin der Szene ihren Lebenslauf zu erzählen Doch dann fällt das Schwarz der Dunkelheit doch noch über die improvisierte Bühne von „Jack in the Box“ Das Premierenpublikum bejubelt eine Inszenierung, bei der die Macher sich auf den ersten Blick partout nicht festlegen wollen – Doch die Bilder wirken noch lange nach und so wird sich ein Jeder in den folgenden Tagen seine Blicke in die vielen Spiegel zu (s)einem eigenen „Stück“ verdichten.

„Fleshmob mit Toten / Eine Performensch" Foto: Jennifer Peterson

Hitliste des Leidens 30. September 2015

bodytalk blickt auf die Posen gesellschaftlichen Engagements – Tanz in NRW 10/15 Die Freie Szene reagiert immer schneller auf Ereignisse, die unsere Gegenwart prägen. Die Medien sind voll von den Bildern flüchtender Menschen, und während hier das Fernsehen von der ungarischen Grenze berichtet, zeigt die Gruppe bodytalk in ihrer Produktion „Fleshmob mit Toten / Eine Performensch“ schon die Reflexion über dieses Ereignis. Die etablierten Stadttheater mit ihren umständlichen Produktionsbedingen scheinen bei jenem Publikum abgehängt, das jetzt den Think Tank Theater benutzen will, um unsere Gegenwart in den Blick zu bekommen. Dass es angesichts des Flüchtlingselends zwölf geschlagen hat, kommentiert der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi mit dem Satz: „Die Zeit der Schweigeminuten ist vorbei“. Die 20-köpfige Truppe von bodytalk liefert das Bild zu solchen Worten, wenn die Bühne plötzlich von nackten Leibern übersät ist, die still da liegen. Bilder des Holocaust oder Massakern wie in Syrien oder in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila stellen sich ein. Tatsächlich hat die Entscheidung, Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, gezeigt, dass Handeln den Nebel der Betroffenheitsgesten durchbrechen kann. bodytalk nimmt aber auch ketzerisch die Kunstszene ins Visier, die sich gerne friedensbewegt und anklägerisch gibt, wenn dem Krieg – was immer das sei – der Kampf angesagt werden soll. Aber ist das dann noch Kunst oder ein humanitärer Persilschein, den man sich selbst ausstellt? Das Ensemble um Yoshiko Waki und Rolf Baumgart legt den Finger auf den Nerv der obskuren Gewissenskultur, und sie machen das so verwirrend, dass sich das Publikum immer wieder fragt, sind die nun dafür oder dagegen? Mit der Intention, das Publikum aus der moralischen Balance zu bringen, arbeitet bodytalk in jeder seiner Produktionen. Diese Doppelbödigkeit unterscheidet die Gruppe am deutlichsten von ihrer Konkurrenz innerhalb der Szene. Diesmal kooperiert bodytalk mit der Iranerin Solmaz Vakilpour, die im letzten Jahr den

„Warless Day“ gründete, eine Aktion, bei der sie nackt im öffentlichen Raum agiert. Bedeutet nackt zu sein, aber auch schon kritisch oder subversiv zu sein? Solmaz Vakilpour, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt, erzählt eine Geschichte, von der sie sagt, dass es ihre sei, in der sie von furchtbaren körperlichen und seelischen Misshandlungen berichtet, die sie im Iran erlitten haben soll. Welches Leiden ist glaubhaft, gibt es ein Ranking des Leids und wer leistet sich Mitleid? Braucht es komfortable gesellschaftliche Bedingungen, um sich Mitleid leisten zu können? Fragen, die von bodytalk gestellt werden, während zugleich ein wildes Treiben auf der Bühne entflammt. Musik, Tanz und Agitation, alles durchkreuzt einander. Alle Darsteller entkleiden sich, das Publikum wird - wenn es möchte - auf die Bühne geholt, so dass sich das Spektakel aus unterschiedlichen Perspektiven erleben lässt. Kopf und Körper sprechen auf ihre Weise, nichts geht in Eindimensionalität auf. In den lauten Szenenfolgen stellen sich immer die Fragen nach Haltung und Gestus politischer Aktionen. Mit humanitärem Goodwill kommt hier niemand durch, dafür ist das Material auch viel zu heterogen und zu inspirierend. Ein Erlebnis ist es in jedem Fall, auch wenn vieles grobkantig aneinander gesetzt wird, erlebt man Theater, Tanz und Performance als offenes Gesamtkunstwerk, das sein Publikum unmittelbar in Atem hält. „Fleshmob mit Toten / Eine Performensch“ | R: Yoshiko Waki / Rolf Baumgart | Fr 9.10., Sa 10.10. 20 Uhr | Theater im Pumpenhaus, Münster | 0251 23 34 43 THOMAS LINDEN

05.10.2015, 10:56 Uhr | www.choices.de/hitliste-des-leidens | © 2001-2015 berndt media

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