Theater Verlag Magazin 2016

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Darstellende Kunst, Theater
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Suhrkamp Theater Magazin 2016

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Inhalt Prolog: Einar Schleef Chor der Flüchtlinge 2 Friedrich Ani

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Thomas Bernhard

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Tankred Dorst

10

Bettina Erasmy

11

Marjana Gaponenko

12

Rainald Goetz

14

Noah Haidle

16

Peter Handke

20

Martin Heckmanns

26

Wolfram Höll

30

Stephan Kaluza

34

Konstantin Küspert

35

Zwischenspiel: Jörn Klare Am Rand 38 Thomas Köck

41

Mehdi Moradpour

46

Christoph Nußbaumeder

50

Georg Ringsgwandl

53

Gerlind Reinshagen

54

Akin E. Şipal

58

Junges Programm

62

Ruth Johanna Benrath

63

Märchen 64 Starke Prosa für die Bühne

66

Briefwechsel 68 Epilog: Marjana Gaponenko Interview oder Einbeinig nach Europa 70 Wolfgang Hildesheimer 100. Geburtstag

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suhrkamp spectaculum

76

Jahrestage 78 Impressum 79

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Einar Schleef (1944-2001) Chor der Flüchtlinge Wir bitten nicht, wir fordern von euch Wohnung, Brot, nicht Salz, nicht Brot, nicht andere Kost. Zucker ist bei Kleidung und Fleisch. Der Gast ist König am Tisch des euch anderer Zucker, unser Mehl ist nicht euer Mehl, Fremden, König in seinem Bett. Eingedenk, daß euch und preist nicht wie billig ihr abgebt und wie teuer wir das träfe, was uns trifft, folgt dem alten Brauch. Kei- einst waren. Einst, das ist vorbei, vorbei, in jedem Gener bitte, denn geschähe es, lägen wir in unseren Bet- sicht könnt ihr lesen, was euch nie widerfahren mag, ten und ihr würdet klopfen und fordern. Wir taten den verschont mögt ihr bleiben, das bitten die Fordernden alten Brauch, oft, nicht eurem Volk, anderen Völkern von denen, die uns schlecht getan. Siegen die anderen, die gleich uns verdrängt wurden, getrieben, da das Alte geht es eurem Volk wie uns. nicht mehr standhielt. Wer es aufgegeben, gebrochen, Hundert sind wir, einhundert Kinder eines Vaters, der davon sprechen wir nicht. Hört von uns getragen, da nur er senicht unsere Klage, fordert sie hen kann. Wir sind blind, weil »Wir klagen ein, daß uns Gutes nicht, keine Besinnung, keine geschieht, daß ihr Freie Freien dient, wir nicht wissen wollten, wir Rückkehr, kein Bedenken, gebt, wurden gezwungen, Fremden damit eurer Freiheit Sinn und was nottut, sofort. zu gehorchen, wir wurden geGerechtigkeit widerfährt.« Wir klagen ein, daß uns Gutes zwungen, das zu tun, was ihr geschieht, daß ihr Freie Freien jetzt tun sollt, freiwillig, aus der dient, damit eurer Freiheit Sinn und Gerechtigkeit wi- Erkenntnis, daß ihr verschont mögt bleiben von Unheil derfährt. Tut ihr es nicht, wir weichen nicht, wir Freie, und Not. Gebt zu essen, gebt zu wohnen, gebt zu trinfordern und erwarten nur eins, wenn ihr es nicht gebt, ken, Mangel allein zeichnet nicht aus. Andere Völker sind wir bereit zu sterben. Eingedenk, ihr würdet Glei- sind verhungert, aber wir sterben, freiwillig, wie uns ches fordern, von uns oder anderen Völkern, mit denen der Vater gelehrt, denn wir haben gelernt, wir haben euch gleiche Bande verknüpfen wie uns mit euch, beten gesehen, endlich. wir für euren Mut, uns zu folgen in den Tod, wenn keine Hundert sind wir, einhundert Kinder eines Vaters. Ohne friedliche Forderung Einlösung erfährt. Unterschied, es gibt keinen. Anders klagen die Lieder Wir schlafen in euren Betten, wir essen an eurem Tisch, der Freien, anders der Sklaven, heute ein Lied, eine schlaft ihr auf Fluren, in Vorratskammern und Win- Forderung: Wohnung und Nahrung. Und laßt uns unkeln, laßt es uns gut gehen, bis wir vergessen, das alles, ter uns, verlangt nicht, wir sprechen eure Sprache, wir was ihr nicht wißt. Verlangt nicht zu wissen, von dem denken wie ihr, wir kleiden und leben einander ohne ihr verschont werden möchtet, aber bedenkt, bevor ihr Unterschied. Wir sind Völker verschiedener Länder, das tut, was nötig ist in eurer Meinung, was geschieht, an alte Band, was unser Volk und das eure verbindet, ist uns, an euch. Unsere Heimat könnt ihr nicht ersetzen, alt und nicht jeder weiß es. Alt, heißt in den Büchern

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suchen, die lange gelebt haben, können es wissen, wie unser Vater es weiß. Wir wollen nicht bücken, dienen und plagen, wir wollen wohnen und essen und unser eigenes Volk sein. Frei wollen wir entscheiden über unseren Dank, den wir bemessen, der nicht verhandelt werden kann, nennt uns hochmütig, verbohrt, unreif, unverfroren, wir wissen das, wir wissen es längst, viele Völker sahen unser Schiff, viele, von vielen Ufern wurde gedroht, von eurem nicht. Also seid Herren, seid Freie, gebt, damit deinesgleichen sich dir erweisen kann. Hundert sind wir, einhundert Kinder eines Vaters, unser Schiff ist der Rest, laßt es ausbessern ohne unsere Hilfe, laßt uns die Aufsicht über eure Arbeiter, über das notwendige Holz. Gebt mehr als wir fordern, anerkennt, Gastrecht ist Pflicht. Jedem wird Asyl gegeben, ob er vertrieben oder nur Ruhe bei euch sucht oder Arbeit oder Wissen, gebt: Was unser ist, gehört euch.

Uraufführungen der Theaterstücke

Aus: Wilder Sommer, nach Carlo Goldonis Trilogie der Sommer-

Gertrud (2007)

frische, Uraufführung: 1999

Abschlußfeier (2009)

Der Fischer und seine Frau (1976) Berlin ein Meer des Friedens (1983) Mütter (Schleef/Müller-Schwefe) (1986) Die Nacht (1987) Die Schauspieler (1988) Wezel (1995) Totentrompeten I (1995) Totentrompeten II (1997) Salome (1997) Wilder Sommer (1999) Totentrompeten III (2000) Nietzsche-Trilogie (2002) Gertrud. Ein Totenfest (2003) Lange Nacht (2003)

Totentrompeten IV (2011) Tarzan rettet Berlin (2011) 14 Vorhänge (Frei zur UA) Die Einladung (Frei zur UA) Verratenes Volk (2000) Uraufführungen der Prosabearbeitungen für die Bühne Die Bande (2002) Zigaretten (2003)

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4 Foto: Tibor Bozi

NEU IM THEATER VERLAG INGRID L AUSUND

Friedrich Ani Der Gefangene Monolog nach einer wahren Begebenheit

Jener Tag im März vor 22 Jahren änderte alles. Jakob Esterland erschoss bei einem Banküberfall ungewollt eine Frau. Der Filialleiter eines Supermarktes, der seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte, nicht die hohe Miete für das schöne Haus mit dem riesigen Garten, nicht die Raten für die Gefriertruhe, hatte die Sparkasse eines Nachbarortes überfallen und viel Geld erbeutet. Kurz vor dem Verlassen der Bank löste sich eine Kugel aus seinem alten Vorderlader, und Esterland erschoss ohne Not eine zufällig anwesende Kundin, eine Mutter von zwei kleinen Jungs. Sie hatte blaue Augen, erinnerte er sich, und sie trug einen blauen Mantel. Sie wird ihn fortan in seinen Träumen verfolgen. Und Esterland wird von diesem Tag an seine Familie anlügen und das Gefühl nie wieder loswerden, den Blicken der Welt ausgesetzt zu sein. Friedrich Anis packender Monolog kennt kein gutes Ende. Esterlands Schweigen entlädt sich Jahre nach dem Mord in einer rastlosen Beichte, die sich dem Leser wie eine Schlinge um den Hals legt. Der Gefangene ist die Geschichte eines Mannes, der versucht, den sozialen Ansprüchen seiner Familie gerecht zu werden, der ein guter Ehemann und ein liebevoller Vater sein will und an dessen Schweigen der eigene Sohn schließlich zerbricht. Mit Detailgenauigkeit und zärtlich-poetischen Bildern hat Ani ein Seelendrama geschrieben, das dem Leser nicht aus dem Kopf gehen wird. (1 H) Frei zur Uraufführung

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u.a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem AdolfGrimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Seine Romane um den Vermisstenfahnder Tabor Süden machten ihn zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Kriminalschriftsteller. Friedrich Ani ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und des Internationalen PEN-Clubs. Sein Roman Der namenlose Tag (2015) markierte Anis Wechsel zu Suhrkamp, mit den Theaterstücken Der Gefangene und Freiheit des Willens stellt der Theater Verlag Friedrich Ani als neuen Dramatiker vor.

»Meine Schwester fragte mich, wie mein Tag gewesen sei, und ich habe ihr ein paar harmlose Dinge erzählt. Sie hat mich eigenartig angeschaut, immer wieder. Diesen Blick hatte sie schon als Kind. Das war ihr Lügendurchleuchtungsblick.« (aus: Der Gefangene)

Freiheit des Willens Ein Verhörraum. In einem kleinen Dorf in Oberbayern verschwindet eine junge Frau spurlos. Schnell scheint mit dem verhaltensauffälligen Simon Kohlbeck ihr Vergewaltiger und Mörder festzustehen. Doch die Verhöre durch den forensischen Psychiater Ehrenwirth und den undurchsichtigen Ermittlungsbeamten Sittich lassen Zweifel zu. Sittich wird vom Geist des Opfers, Elena Moldau, heimgesucht und man ahnt, dass ihn weit mehr mit dem Beschuldigten verbindet, als es zunächst den Anschein erweckt. Je tiefer der Leser dabei in die Abgründe der Psyche und Vergangenheit der Figuren hineingeführt wird, umso deutlicher treten deren Narben und Traumata hervor. Freiheit des Willens basiert auf Protokollen eines wahren Falles und spielt auf kluge Art und Weise mit vermeintlichen Gewissheiten und sicher geglaubten Wahrheiten und überführt diese allesamt in einen Zustand der Schwebe und Ambivalenz, bis zu dem Punkt, an dem der Leser sich selbst fragen muss, was die Freiheit des Willens bedeutet und was ihr Preis ist. (1 D, 5 H, Besetzung variabel) Frei zur Uraufführung 5

Friedrich Ani Die Erfindung der Welt Schreiben für das Theater

Geboren im Sternzeichen der Lüge, bildete ich mir mit ungefähr sieben Jahren ein, den Unterschied zwischen maskierten und unmaskierten Worten erkennen zu können, die ich so nannte, weil sie mir vorkamen wie Menschen in verkehrten Kleidern. Jedes Geschenk, das ich erhielt, so glaubte ich, wäre eine Art Liebesersatz. In mir wuchs ein böses Misstrauen. Unterm Jahr nämlich empfand ich keine Nähe, keine Hingabe, ich nahm Anweisungen entgegen und befolgte sie, ich wartete auf ein wenig Heiterkeit und einfache Umarmungen. Etwas stimmt nicht, dachte ich. Und wenn ich dann Geburtstag hatte oder Weihnachten war, überhäuften mich Eltern und Verwandte mit Geschenken, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Also bedankte ich mich überschwänglich, stotterte und erfand Worte, die etwas ausdrückten, was ich nicht so meinte. Ich strahlte und spürte: Mein Strahlen war gemacht. Wie ist das möglich: Dass ein Kind nicht einfach hüpft vor Freude? Sondern abspringt und landet – jedenfalls in der eigenen Wahrnehmung. War ich denn kein Kind mehr? War ich nicht mehr außerhalb der Zeit und geborgen im Ei des Augenblicks, noch weit entfernt von der Stunde der Schalensprengung, wenn das Polarlicht der wirklichen Menschheit ein für alle Mal auf uns fällt? Hauste das Kind etwa in einem egomanischen Sonnensystem, eingebettet in Selbstherrlichkeit, oder schlimmer: eingekerkert in Finsternis, wo es seine Blicke schärfen musste wie Messer, um sich gegen die Monster der Einsamkeit zur Wehr zu setzen? Kann ein Kind tatsächlich so empfinden? Draußen die stotternden, im Überlebenstrieb sich selbst betrügenden, im Grunde ehrlichen Lügner, im Innern der zeternde, von Schatten umzingelte, sich Siege und Weisheiten einbildende Knirps, der nichts als mit dabei, ein Ernstgenommener, ein zur Anwesenheit auf der Bühne der Großen unbedingt Berechtigter sein wollte? Denkbar wärs. Ich wollte niemanden kränken. Hätte ich versucht, meinen

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Zustand zu beschreiben – wer hätte das ernstgenommen, wer ein Gespräch begonnen? Aber ich wollte sprechen, wollte teilhaben am übersichtlichen Universum um mich herum, an einer gloriosen Welt in weiter Ferne, die existierte, da war ich mir sicher. So begann ich, Dialoge, Monologe, von Schweigen ummantelte Texte zu schreiben (das Schweigen, so schien mir, wärmte die sprachlosen, seltsam verzurrten Figuren, die ich erfand, indem ich Augen und Ohren offenhielt und die Leute in meiner Umgebung beobachtete). Da war ich ungefähr zwölf Jahre alt, und alles war Theater. Keine Kunst, denn überall, wo ich hinschaute, fand ein Schauspiel statt, das ich bis in den letzten Winkel des Schnürbodens und der Garderobe ausleuchtete. Schnürboden? Garderobe? Keine Ahnung, dass es so was gab, auch wenn ich als Neunjähriger zum ersten Mal in einem echten Theater in der Großstadt war, sechzig Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt, in einer Oper noch dazu, in Porgy and Bess. Und hier? Dasselbe: Täuschung, Verzweiflung, Dunkelheit, Sehnsucht nach Liebe, ein unglückliches Leben. Da wusste ich: Eines Tages werde ich – und zwar für die Bühne! – vom Leben erzählen, so, wie es ist und wie die Menschen die Hände nacheinander ausstrecken und – wie in dieser Oper – würfeln ums Glück und fürs Freisein töten. Monologe, Dialoge, Szenen – Personen, Charaktere, Situationen, Stille, Halbschatten, eine Handvoll Utensilien, Kulissen, die verschwinden, wieder erscheinen, sich verwandeln. Später, in der schlauen Jugendzeit: Harold Pinter, Samuel Beckett, Edward Albee, das Theater des Absurden, Wahrheiten auf bedrucktem Papier, meiner Ersatzhaut, dem weißen Mantel, der meine Nacktheit bedeckte, für die ich einfach keine anders wärmende Bekleidung fand. Ich las und las, schrieb und schrieb, schwieg und schwieg, versank in vollendet unauffällig inszenierter Anwesenheit, hinter deren gläsernen Wänden mein echtes Dasein stattfand – oder das, was ich dafür hielt. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass die Fremden in meiner Nähe mir bloß als Fremde erschienen, weil ich sie als eine Art

gesichtslose, atemgleiche, handlungskonforme Masse sah, als eine Brigade unberechenbarer, verschlagener Gegner, die mir angeblich meinen Schatten streitig machten. Jetzt erkannte ich sie erst, erst jetzt begriff ich sie als Hosen, Röcke, Hüte, Jacken, Tarnkappen, Unterwäsche tragende Gefangene ihrer selbst gezimmerten Einzelzellen. Und ich war einer von ihnen, und keiner von uns glich dem anderen. So ließ ich sie agieren auf meinen Bühnen, ließ sie nach Worten ringen, ließ sie – redete ich mir ein – ganz bei sich sein und ultimative Erkenntnisse erlangen. Was ich damit erreichen wollte, wusste ich noch nicht, allenfalls, was ich nicht wollte: tricksen, jemandem nach dem Mund reden. So angestrengt und wild entschlossen, Großes zu sagen, kam mir nach und nach das Spielen abhanden. Denn ich kettete meine Figuren an Eisenkugeln, prall gefüllt mit der donnernden Ernsthaftigkeit meines Bedürfnisses, Köpfe zu erschüttern und Gehirne zu pulverisieren und aus den Bekannten ringsum irgendwie bessere, verständnisvollere Menschen machen zu wollen. Bald hörte ich ein Kichern – und erkannte: Das sind die Figuren in der Garderobe und die Requisiteure im Schnürboden, sie amüsieren sich über mein rumpelstilzchenhaftes Gebaren, mein feuerspeiendes Gemurmel im Hintergrund des dunklen Saals, mein geducktes Trippeln auf dem Heimweg in die Klause meiner Überzeugungen. Also hörte ich auf, fürs Theater zu schreiben. Auch kamen meine Figuren nicht mehr freiwillig raus, die Wörter verkrümelten sich, Geld musste her. In den Jahren, in denen ich als Reporter und freiberuflicher Lohnschreiber arbeitete, versuchte ich, meine Blicke und mein Sammelsurium an Begegnungen, Erlebnissen, Fundstücken in prosaische, lyrische, sonst wie freie Genres zu gießen – gelegentlich überzeugt, oftmals verzagt. Schließlich fand ich – aufgrund eines mir noch immer beinah grotesk anmutenden Zufalls einer Auftragsarbeit – zum Kriminalroman und seinen unfassbar weltläufigen Möglichkeitsformen. Aber der lodernde Kern meines neuen, wunderbaren, Barri-

eren niederreißenden, Eisenkugeln einschmelzenden Furors war nicht die Lust am Spannungszauber und Freisetzen verborgener krimineller Energien. Sondern mein vertrautes Entlarven jedweder Götter der Lüge. Mir gelang – als wäre ein Gelingen seit jeher irgendwo in einem Nebenzimmer angelegt gewesen – auf einmal das Erzählen eines Einzelnen in absoluter Freiheit. Und wie diese Freiheit sich äußern mochte – als Zeichen von Arroganz oder Gewalt, als das Bedürfnis, zu verschwinden oder zu verstummen –, blieb allein der Figur überlassen, und dem Leser wiederum blieb keine Wahl, als ihr zu folgen, zu vertrauen oder sich abzuwenden. Ich ließ es geschehen. Manchmal brach die Realität wie eine Lawine in die Gegenwart meines Personals, und ich bediente mich aller möglichen Utensilien und beweisbaren Indizien als Bausteine meiner Geschichten. Wahrlich erfunden hatte ich eh noch nie eine einzige Zeile, alles – hoffte ich – fand seine Entsprechung in der gewöhnlichen Außenwelt, die wir berühren, umarmen und bekämpfen können. Wie ich es als Kind gelernt und geübt hatte, schaute ich hin, hörte zu und machte mir Gedanken und Notizen. Und tatsächlich: Sie tauchten von Neuem auf, meine Figuren, meine Leute aus den Winkeln ihrer unscheinbaren Zimmer, sie wagten sich wieder ins Rampenlicht. Was für ein Glück. Sie ermutigten mich und harrten aus. Und eines Morgens schrieb ich eine Regieanweisung an den Anfang eines Textes, die Darstellung eines Raumes, eines bestimmten Ortes, und ich wusste: Dies ist nicht der Anfang eines Romans oder eines Drehbuchs – hier beginnt ein Theaterstück. Endlich, scheinbar Lichtjahre vom Planeten meiner ersten Gehversuche entfernt, betrat ich wieder ein ganz nach meinen ureigenen Vorstellungen gestaltetes Bühnenhaus, stürmisch wie einst, fast unbeschwert. Und als auf der Bühne der erste Satz fiel, verschwand ich im Schatten meiner Figur und kehrte erst wieder, als der Vorhang fiel und wir uns alle in der Garderobe versammelten und mit unseren Stimmen spielend tanzten. Und das ist die Wahrheit. Theater lügt nicht.

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8 Foto: Sepp Dreissinger

Zum 85. Geburtstag von

Thomas Bernhard Uraufführungen der Theaterstücke Köpfe (1960)

Einfach kompliziert (1986)

Die Erfundene, Rosa, Frühling (1960)

Claus Peymann verläßt Bochum und geht

Der Berg (1970)

als Burgtheaterdirektor nach Wien (1986)

Ein Fest für Boris (1970)

Ritter, Dene, Voss (1986)

Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972)

Heldenplatz (1988)

Die Jagdgesellschaft (1974)

Elisabeth II. (1989)

Die Macht der Gewohnheit (1974)

Claus Peymann kauft sich eine Hose und

Der Präsident (1975)

geht mit mir essen. Drei Dramolette (1990)

Die Berühmten (1976)

Die Rosen der Einöde (1995)

Minetti (1976) Immanuel Kant (1978) Der deutsche Mittagstisch (aus: Der deutsche Mittagstisch. Dramolette) (1979)

Uraufführungen der Prosabearbeitungen für die Bühne

Vor dem Ruhestand (1979) Der Weltverbesserer (1980)

Alte Meister (1997)

Am Ziel (1981)

Beton (1999)

A Doda, Maiandacht, Eis, Freispruch

Frost (1999)

(Vier Dramolette) (1981)

Das Kalkwerk (2001)

Alles oder nichts, Match (Zwei Dramolette)

Holzfällen (2003)

(1981)

Auslöschung – Ein Zerfall (2006)

Über allen Gipfeln ist Ruh (1982)

In der Höhe – Rettungsversuch. Unsinn (2010)

Der Schein trügt (1984)

Verstörung (2010)

Der Theatermacher (1985)

Der Untergeher (2013)

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Tankred Dorst Das Blau in der Wand

Ein Dialog I Mitarbeit Ursula Ehler

Ein Paar, das sich in einer einzigen langen Szene durch das ganze Leben redet bis in den Tod und darüber hinaus. Er ist engagierter Pazifist und Schriftsteller, der sich nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem »Tagesjournalismus« gegen Ende des Lebens wieder dem nie vollendeten Romanentwurf widmen möchte. Sie ist die Mutter des Kindes Ganymed. Gemeinsam kreisen sie um die Möglichkeit eines glücklichen Lebens als Paar. Wo findet man einen Ort, an dem man das Leben spürt? Wie kann man ein Kind großziehen, während man selbst mit dem Verlust der Eltern umgehen muss? Wer ist man wirklich, wer ist der andere? Wie begegnet man dem Alter, wie Krankheit und dem Nachlassen der Kräfte? Und was bleibt außer Einsamkeit, wenn am Ende nur mehr einer von beiden übrig bleibt? Sinnbild wird ein blassblauer Fleck in einer Fensternische des geerbten alten Hauses, vielleicht ein Stück Himmel, ein Kleid, eine Blume? Soll das Alte neu entdeckt werden oder mit weißer Farbe überstrichen, unter Putz gesichert werden, damit es niemand sehen kann, bis es in ferner Zeit zerstört wird und in Staub zerfällt? In Tankred Dorsts neuem Stück kann alles gemeinsam erlebte Erinnerung sein, gerade erfahrene Gegenwart oder imaginierte Zukunft. (1 D, 1 H)

Foto: Isolde Ohlbaum

Koproduktion Düsseldorfer Schauspielhaus, Ruhrfestspiele Recklinghausen Uraufführung: 8. Juni 2016, Recklinghausen September 2016, Düsseldorfer Schauspielhaus

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Tankred Dorst, geboren 1925, hat in Zusammenarbeit mit seiner Frau Ursula Ehler über dreißig Theaterstücke geschrieben. Er gehört zu den meistgespielten deutschen Gegenwartsautoren. Er erhielt unter anderem den Georg-Büchner-Preis, den Mülheimer Dramatikerpreis und 2014 den Brücke Berlin Initiativpreis gemeinsam mit Manfred Beilharz für ihre Initiative »Neue Stücke aus Europa«.

Zu den wichtigsten Stücken zählen Merlin oder Das wüste Land (1981) Ich, Feuerbach (1986) Korbes (1988) Parzival (1990) Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben (1992) Herr Paul (1994) Die Schattenlinie (1995) Wegen Reichtum geschlossen (1998) Ich bin nur vorübergehend hier (2007) Ich soll den eingebildeten Kranken spielen (2009)

Bettina Erasmy Brand Eine deutsche Familiengeschichte

Fritz und Greta lernen einander in den 50er Jahren kennen und gründen eine Familie. Die Geschäftsidee von Fritz, sein Geld zukünftig mit Immobilien verdienen zu wollen, wird sich als goldwert erweisen. Deutschland wird nach den Zerstörungen des Krieges schnell wiederaufgebaut, Fritz wirkt tüchtig mit am Wirtschaftswunder. Die Kinder Michael und Paulina wachsen in scheinbar gesicherten Verhältnissen auf. Doch sie tragen mit, was die Eltern belastet: das Schweigen über traumatische Erfahrungen, die sie als Kriegskinder in Bombennächten oder auf der Flucht erlebt haben; die verdrängte Trauer um Verstorbene, Geschwister, den Vater, die beste Freundin, die zu seelischer Entwurzelung führt. Während Greta als Kind und junge Frau erfahren hat, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, erfüllt sie sich spät doch noch den Traum von beruflicher Selbstverwirklichung. Ihrer emotional wenig gefestigten Tochter Paulina wird das ein Leben lang nicht gelingen. Michael macht zwar Karriere, doch zerbricht seine Beziehung darüber. Eines Tages kündigt sich eine Frau an, die sich als die polnische Halbschwester von Fritz vorstellt. Und im Testament von Gretas Mutter Else steht schließlich ein Name, den allein Greta kennt. Bettina Erasmy erzählt die komplexe Geschichte einer westdeutschen Familie über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts hinweg. Wie Traumata und Gefühlskälte sich einschreiben in die DNA, in die Körper einer Familie, darüber schreibt die Dramatikerin in erstaunlich leichtfüßigen und komischen Dialogen. Mit liebevoller Distanz entwirft Erasmy Bühnenfiguren, die einem nahgehen, und schreckt vor drastischen Bildern nicht zurück, die deshalb so stark berühren, weil sie an kollektive Erfahrungen rühren. (5 D, 4 H, Doppelbesetzungen möglich)

Foto: Jeanne Degraa

Frei zur Uraufführung

Stücke Mein Bruder Tom 4 D, 4 H UA: 5.12.2008, Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen Regie: Thomas Krupa Supernova 3 D, 2 H UA: 21.11.2010, Staatstheater Darmstadt Regie: Hermann Schein Das wollt ihr nicht wirklich 3 D, 4 H UA: 5.6.2010, Ruhrfestspiele Recklinghausen in Kooperation mit dem Staatstheater Wiesbaden Regie: Tilman Gersch Dass wir Geister sind 3 D, 4 H UA: 30.3.2012, Staatstheater Darmstadt Regie: Hermann Schein Chapters Besetzung variabel Koproduktion Staatstheater Kassel, Ruhrfestspiele Recklinghausen UA: 27.5.2016 Recklinghausen 4.6.2016 Staatstheater Kassel Regie: Schirin Khodadadian

Bettina Erasmy, geboren in Köln, studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in Köln und Vancouver/Kanada. Sie schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele und Dramatik und lebt in Berlin. Für ihr Stück Chapters erhielt sie bei den ARD Hörspieltagen 2014 den ARD Online Award. Erasmys Stücke wurden u.a. am Landestheater Tübingen, an der Berliner Volksbühne, an der Berliner Schaubühne, am Schauspielhaus Bochum, am Theater Basel und bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen aufgeführt.

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12 Foto: Mathias Bothor

NEU IM THEATER VERLAG INGRID L AUSUND

Marjana Gaponenko Zu den Sternen A cosmic affaire I Ein Schauspiel in drei Akten

Eine kleine Mondkolonie im nächsten Jahrzehnt, besiedelt mit skurrilen Milliardären aus aller Welt, bildet die Szenerie von Marjana Gaponenkos erstem Theaterstück. Die Gravitationsprobleme scheinen unter Kontrolle, die Triebe sind es noch immer nicht. Auf ganz unterschiedliche Weise vereinnahmen die Mitglieder der ehemaligen High Society den hermetischen Raum, den sie nun seit einem Jahr bewohnen, um über Freiheit und Moral zu philosophieren, um über verschiedene Gesellschaftsentwürfe zu streiten und sich diversen amourösen Verstrickungen hinzugeben. Aus Überdruss entstehen Anziehungen und Abstoßungen zwischen den etwas abgehalfterten Koloniebewohnern. Es wird geflirtet, bis die Luft wegbleibt. Die Aussicht ist phantastisch, die Moral am Boden. Irgendetwas ist faul in diesem künstlichen Refugium. Eine Silvesterfeier läuft komplett aus dem Ruder. Als einer ausschert und moralisch abzurechnen beginnt, zeigt sich, mit welchen Mächten es die Exilanten noch immer zu tun haben. Marjana Gaponenkos Stärke im Erzählen für die Bühne liegt in der Leichtigkeit ihrer Dialoge, in der Skurrilität der Figuren, die wie in einem Schatten- oder Traumspiel die Dekadenz westlicher Gesellschaften kommentieren. (4 D, 4 H, weitere Besetzung variabel)

Marjana Gaponenko wurde 1981 in Odessa (Ukraine) geboren und studierte dort Germanistik. Nach Stationen in Krakau und Dublin lebt sie nun in Mainz und Wien. Sie schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf Deutsch. Für den Roman Wer ist Martha? wurde sie mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. Zu den Sternen ist ihr erstes Theaterstück. In ihrer freien Zeit kümmert sich Marjana Gaponenko um ihre Haflinger.

Frei zur Uraufführung

»Fern von der Erde sehe ich, dass ich von Anfang an für das Weltall bestimmt war. Von diesen Höhen hätte ich mein Leben lang besessen sein sollen.« (aus: Zu den Sternen)

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INGRID L AUSUND

Rainald Goetz

Georg-Büchner-Preis 2015

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Noah Haidle Das beste aller möglichen Leben Originaltitel: Local Time 5-7 AM I Deutsch von Barbara Christ

Wie erfüllend das beste aller möglichen Leben sein kann, hängt immer von dessen Möglichkeiten ab. Diese ändern sich schlagartig für das kinderlose Paar Naomi und East, als Findelkind Christopher eines Morgens vor der Tür ihres Apartments liegt, wenige Minuten alt und schon in der Lage zu sprechen, Gottesbeweise zu führen, Gedichte zu schreiben und seine neuen Eltern mit den großen Fragen nach der Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz zu konfrontieren. In den folgenden zwei Morgenstunden werden East und Naomi Zeugen eines Lebens im Schnelldurchlauf von Kindheit und Pubertät über die Midlife-Crisis bis ins hohe Greisenalter. Zwischen seinen Wachstumsschüben trinkt Christopher reichlich Kaffee und noch mehr Alkohol, konsumiert Heroin, vergewaltigt seine Eltern, erkrankt an der Welt, wird zum Propheten und stirbt schlussendlich an der Türschwelle, noch ehe der neue Tag angebrochen ist. Zurück lässt er die tablettensüchtige Naomi und den

alkoholabhängigen East, deren scheinbar wohlgeordnete Verhältnisse Christophers jähes Erscheinen und Ableben existentiell erschüttern – und ihnen vielleicht erlauben, sich einander und dem Leben noch einmal bewusster zu stellen. Vielleicht wird es ihnen noch gelingen, das beste aller möglichen Leben? Noah Haidles fiebrig pulsierendes Stück steckt voller Furor und unbedingter Bereitschaft zur Begegnung mit den schmerzhaften Seiten des Lebens. Haidles Figuren exerzieren Verstörungen, die beunruhigender und zugleich produktiver nicht sein könnten, fordern sie doch radikal zu Misstrauen gegenüber dem schönen Schein auf und dazu, sich dem Abseitigen, dahinter Verborgenen zuzuwenden. (1 D, 2 H)

Uraufführung: 2. Oktober 2015, Schauspiel Essen Regie: Thomas Krupa

»Der amerikanische Autor Noah Haidle hat aus ›Das beste aller möglichen Leben‹ eine Evolutions-Geschichte im Schnelldurchlauf gemacht: eine komische, surreale, pechschwarze Komödie, die die großen Themen wie Liebe, Tod und Lebenssinn mit tragikomischem Ton und einer gewissen Beckett-Nähe verhandelt.«

Foto: Susanne Schleyer

Martina Schürmann, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 2.10.2015

Noah Haidle, 1978 in Michigan geboren, ist Drehbuchautor und Dramatiker. Seine Stücke wurden USA-weit inszeniert, im deutschsprachigen Raum bekannt wurde Haidle 2009 durch die DEA von Mr. Marmalade. Haidles erstes Drehbuch wurde mit Al Pacino und Christopher Walken verfilmt (Stand Up Guys, Regie Fisher Stevens, USA 2012). Haidle hat einen Abschluss der Princeton University und der Juilliard School im Fach Szenisches Schreiben und lebt mit seiner Frau und ihren neun Fischen in Detroit. Das Theaterstück Alles muss glänzen wurde von Theater heute zum besten Ausländischen Stück des Jahres 2015 gewählt.

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Götterspeise Originaltitel: Pineapple in Syrup I Deutsch von Barbara Christ

Es ist Constants erster Arbeitstag in der Schulkantine der amerikanischen Kleinstadt Grand Rapids. Hier ist sie einmal selbst zur Schule gegangen, hier findet sie nun ihre berufliche Erfüllung: Denn sie hat 800 hungrige Mäuler zu versorgen, und als exzellente SelfmadeKöchin, die sie ist, hat sie Großes vor bezüglich der Verfeinerung des Speiseplans. Ihre Liebe gilt den Schülern, namentlich Sylvia Bell, deren Sorgen sie erhört und der sie Trost spendet, wenn die unglücklich Verliebte einmal mehr in Lebensschmerz versinkt. Selbst die Lehrer merken, dass ein neuer Wind weht in der Kantine. Wer dem ungenießbaren Schulessen bisher mit mitgebrachtem Lunch entging, genießt jetzt Constants Roastbeef in Rotweinsoße und Crème brûlée. So auch Tom Collins, Mathematiklehrer und ehemaliger Mitschüler von Constant, den sie einst anhimmelte. Als der verheiratete Mann Constant allerdings schwängert, ihre Stelle aus Kostengründen gestrichen wird

Stücke Mr. Marmalade Deutsch von Brigitte Landes 2 D, 4 H DSE: 4.4.2009 Badisches Staatstheater Karlsruhe Regie: Thomas Krupa Saturn kehrt zurück Originaltitel: Saturn Returns Deutsch von Brigitte Landes 1 D, 3 H

und man ihr schließlich ihr Kind wegnimmt, läuft Constant Amok. »Mitgefühl ist der einzige Weg, wie die Welt noch zu retten ist«, dieses Credo begleitet Constant auf ihren weiteren Stationen, als Kellnerin im Flughafenimbiss über die Psychiatrie bis zum Gefängnis, wo sie für Sterbehilfe die Todesstrafe erhält. Constants ungebrochene Liebe, ihr Idealismus und ihr bedingungsloser Gerechtigkeitssinn stoßen an die Grenzen eines Systems, in dem Nächstenliebe keine Bedeutung hat und niemand Verantwortung übernimmt für sein Tun. Noah Haidle schickt in Götterspeise eine wunderbar eigenwillige Frauenfigur auf einen Passionsweg, der eine ungewöhnlich deutliche Kritik am amerikanischen Traum beschreibt. (3 D, 3 H) Uraufführung: 20. Januar 2016, Nationaltheater Mannheim Regie: Zino Wey

DSE: 19.10.2010 Staatstheater Nürnberg Regie: Jean-Claude Berutti

DSE: 3.10.2014 Staatstheater Kassel Regie: Thomas Bockelmann

Skin Deep Song Deutsch von Thomas Krupa 3 D, 2 H UA: 1.2.2013, Schauspiel Essen Regie: Thomas Krupa

Lucky Happiness Golden Express Deutsch von Brigitte Landes 3 D, 2 H UA: 20.9.2013 Staatstheater Kassel Regie: Thomas Bockelmann

Willkommen zu Hause Originaltitel: Smokefall Deutsch von Brigitte Landes und Nina Peters 2 D, 3 H

Alles muss glänzen Originaltitel: The Homemaker Deutsch von Brigitte Landes 3 D, 5 H UA: 16.5.2015 Schauspiel Hannover Regie: Anna Bergmann Ada und ihre Töchter Originaltitel: What is the Cause of Thunder? Deutsch von Brigitte Landes 2D Frei zur DSE

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Tschechow, Beckett, Haidle Ein Porträt des Dramatikers Noah Haidle (aus Grand Rapids) I von Christine Wahl

Kurz vor unserem Treffen schickt Noah Haidle noch eine erkennungsdienstliche SMS: »Ich sitze draußen und versuche, möglichst unamerikanisch auszusehen.« Der sachdienliche Hinweis macht es tatsächlich unmöglich, am Treffpunkt etwa auf den falschen Hipster-Bart-Träger zuzusteuern: So viele begnadete Selbstironiker tummeln sich nicht im »Wohnzimmer« am Prenzlauer Berg. Haidle – Mitte dreißig, Lederjacke, lokaluntypisch interessierter Blick – war schon etwas früher da und hat sich vom Ambiente umgehend zu einer Filmszene inspirieren lassen. Dass demnächst tatsächlich Kevin Spacey oder George Clooney in den Universal Studios an einem Fake»Wohnzimmer«-Tresen stehen, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Hat schließlich schon einmal funktioniert: Noah Haidles Gangsterkomödie Stand Up Guys wurde vor drei Jahren in Hollywood mit Al Pacino verfilmt. Bis dahin kann man den dialektischen Witz des hauptberuflichen Dramatikers am Schauspiel Hannover genießen. Dort hat Anna Bergmann gerade Haidles jüngste Familienaufstellung The Homemaker – Alles muss glänzen urinszeniert, in der sich neben Haushaltsmessermorden und Doppellauf-Gewehr-Suiziden vor allem sintflutbedingte Todesfälle ereignen – sowohl im gegenständlichen als auch im metaphorischen Sinn. Denn die alttestamentarische Hausfrauen-Wiedergängerin Rebecca – die titelgebende Homemakerin – kocht, brät, putzt und wienert praktisch abendfüllend gegen den Weltuntergang an. »Weil wir nicht wissen, was wir sonst machen sollen«, wie sie stellvertretend fürs Gros der Erdbevölkerung messerscharf analysiert. Logisch, dass eine derart gläubige Pragmatikerin der Sintflut, die sich draußen vorm Eigenheim bereits knietief aufgestaut hat, durchaus auch ihre positiven Seiten abzugewinnen weiß: Eingedenk des nahenden (letzten) Abendmahls öffnet Rebecca kurzerhand die Haustür, greift sich eine im apokalyptischen Strom mitschwimmende Flunder und haut sie in die Dinner-Pfanne. Die von Bühnenbildner Florian Etti mit Retro-Charme ausgestattete Küchenzeile befindet sich laut Regieanweisung übrigens in Grand Rapids – und damit in allerbester Gesellschaft: Die »Butterworth-Klinik« aus Noah Haidles Lucky Happiness Golden Express, in der eine junge Frau namens Thump ihren Vater – den Schlaganfallpatienten Andrew – heimsucht und leider an so gar nichts anderes denken kann als an dessen attraktive »Risikolebensversicherung«, steht ebenso in Grand Rapids wie die Immobilie der hochschwangeren Violet aus Haidles Willkommen zu Hause. Deren Zwillingsföten haben offenkundig schon im Mutterleib zu viel Camus gelesen

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und beantworten die Grundfrage der Philosophie – ob sich das Leben lohne oder nicht – clevererweise bereits pränatal. Kurzum: Wann immer so ein Haidle’scher Familienkosmos, der auf den ersten Blick eigentlich ganz well made aussieht, hochnotkomisch ins Surreale abzudriften beginnt, Zeitgenossen sich dramatisch vervielfachen und sich selbst in verschiedenen Lebensaltern begegnen oder – wie in Haidles (internationalem) Durchbruch Mr. Marmalade – frühreife Kleinkinder sich Fantasie-Spielpartner ersinnen, die nicht nur ihre Angestellten verprügeln, sondern von denen sie auch selbst statt verhätschelt munter betrogen werden, ist die Chance relativ groß, dass sich das Ganze in Grand Rapids ereignet. Grand Rapids ist Noah Haidles Geburtsstadt. Und in der Tat müssen die frühkindlichen Lokalprägungen so nachhaltig gewesen sein, dass das »G-Rap«-Tattoo, das der Dramatiker am Fußgelenk trägt, nicht etwa für irgendwelche Gangsta-RapAmbitionen steht, sondern wirklich und wahrhaftig für die Heimat: Grand Rapids forever sozusagen. Andererseits: Irgendwann hatte sich Noah Haidle auch schon mal ein »K« für die Ewigkeit eintätowieren lassen; das Initial seiner damaligen Freundin. Als die Beziehung vorbei war, wurde kurzerhand ein »O« davor graviert: »OK«, in zweiter grafischer Instanz auch lesbar als »null K«. Genauso funktionieren im Prinzip Haidles Texte: Kein Pathosverdacht, der nicht jederzeit ironisch aushebelbar wäre; keine Comedy, die nicht zielsicher am tragödischen Urgrund entlangschürfte (und umgekehrt). Der Dramatiker selbst outet sich als regelrechter Fan von Bergmanns Urinszenierung und zeigt sich von der »Grazie und Demut« der deutschen Schauspieler äußerst angetan. Das hiesige Repertoire- und Ensembletheater-System mache das Spiel inszenierungsdienlicher und deutlich weniger Egotripanfällig als in den USA, sagt Haidle. Ursächlich beginnen für Noah Haidle die Vorzüge des deutschen Stadttheaters bereits in der Kantine: Diese beiläufige Möglichkeit zum gemeinsamen Essen, Trinken und Reden stifte einen Gemeinschaftssinn, der in seiner Zwanglosigkeit tatsächlich einmalig sei. Dass viele von Haidles Stücken in den letzten Jahren in Deutschland und nicht in den USA uraufgeführt wurden – in Kassel, Essen oder eben Hannover –, hat allerdings nicht ausschließlich mit der Kantinen-Vorliebe des Dramatikers zu tun. »Wenn du in den USA ein paar schlechte Kritiken bekommst, ist es für die Theater noch um einiges riskanter und weniger anspornend als in Deutschland, ein neues Stück zu produzieren«, lacht Haidle. Im Übrigen stünden einige seiner Stücke zu Hause durchaus auf dem Spielplan, allerdings

die vergleichsweise erbaulicheren, erschütterungsferneren. Dass Haidle einst hauptberuflich für die Bühne schreiben würde, war ihm übrigens schon mit siebzehn klar. Zwar hatte er bis zu diesem Zeitpunkt weder ein Theater von innen gesehen noch je »irgendetwas Kreatives« gemacht, geschweige denn eine einzige Zeile geschrieben. Aber: Er hatte seinen Bruder in einer Highschool-Aufführung erlebt – und daraus folgende Theorie abgeleitet: »Wenn ich tonnenweise Informationen in mich hineinfresse, bin ich eines Tages vielleicht in der Lage, den ganzen Kram einzuordnen und zu synthetisieren.« Gesagt, getan: Haidle – Sohn einer Schulaufsichtsrätin, Enkel eines US-Kongressabgeordneten unter Franklin D. Roosevelt und rein familienkarrieretechnisch für ein Juradiplom mit Polit-Karriere in Michigan vorgesehen – las sich tatsächlich durch die komplette abendländische Literatur- und Theatergeschichte; beginnend mit den Pulitzer-Preisträgern der Kategorie Drama in chronologischer Reihenfolge seit 1918. »Ich startete mit einem Stück namens Why Mary?«, lacht Haidle. »In den 1920ern, mit Eugene O’Neill, wurde es dann langsam besser.« Als der Dramatiker schließlich eine solide Lektürebasis intus hatte – »von Autoren, die mich interessierten, las ich zusätzlich Biografien und Interviews, um zu erfahren, von wem wiederum sie inspiriert worden waren« –, wagte er sich an die zweite Stufe seiner »Self-Education«. Er ging dazu über, die gesammelte Weltdramatik zusätzlich auf seiner Schreibmaschine abzutippen: Tschechow, Beckett, Arthur Miller. »Ich habe die Stücke natürlich nicht einfach nur kopiert, sondern den Denkprozess dieser Koryphäen Zeile für Zeile buchstäblich nach-gedacht, um ihre Baupläne zu erfassen, und dabei immer überlegt, welchen Satz ich selbst als nächsten geschrieben hätte«, sagt Haidle. Kleine Enttäuschungen blieben logischerweise nicht aus: Auch die eine oder andere Autorität ist an einer entscheidenden Dialogkreuzung mal in die falsche Richtung abgebogen und hat bei ihrem Schüler an Aura eingebüßt. Aber Könner wie Beckett, so Haidle nach wie vor sichtlich fasziniert, exerzierten ihre Dramen tatsächlich mit der Konsequenz einer mathematischen Beweisführung durch, die Euklid alle Ehre gemacht hätte – wobei das zu beweisende Axiom mit dem ersten Satz glasklar etabliert werde. »Zum Beispiel Warten auf Godot«, freut sich der Dramatiker: ›Nothing to say!‹ Oder Die Möwe: ›Why are you always wearing black?‹ Die Lässigkeit, mit der Noah Haidle im Folgenden scheinbar aus dem Stegreif einen Dramen-Starter nach dem nächsten zitiert, fordert natürlich geradezu zwanghaft zu Testfragen heraus: Tod eines Handlungsreisenden? – Haidle, wie aus der Pistole geschossen: »It’s all right, I came back.« – Hamlet? »Oh, das ist leicht: ›Who is there?‹« Okay; Drei Schwestern! Haidle grinst: »It’s been a year since father died.« Zurück zu den letzten Dingen in den ersten Sätzen. Dass der Dramatiker seinen Beckett ziemlich gut intus hat (»He’s the man!«), kann man stellvertretend an den endzeitlichen Wladimir- und Estragon-Wiedergängerinnen Wooden und Mimi aus

Skin Deep Song sehen, die nicht nur abendfüllend die Leichen ihrer Eltern, sondern auch die immergleichen Witze mit sich herumschleppen. Außerordentlich aufmerksam bei der Sache scheint Haidle allerdings auch gewesen zu sein, als auf seiner Schreibmaschine die Tschechows dran waren. Die Homemakerin Rebecca zum Beispiel verficht gegen all die Apokalyptiker, von denen sie der Reihe nach heimgesucht wird, bis zuletzt standhaft ihre Privatreligion: Allabendlich deckt sie den Tisch für ihren verschollenen Gatten, der ein Jahr zuvor aufgebrochen war, »das Glück zu suchen«, und für ihren schizophrenen Sohn Michael, welcher kurz darauf ebenfalls auf Nimmerwiedersehen losstiefelte, um »Dad« seinerseits wieder heimzuholen. »Ein Teil von mir weiß, dass sie heute Abend nicht nach Hause kommen«, bekennt Rebecca ihrer verbliebenen Teenie-Tochter Rachel wodkaklarsten Verstandes. »Aber ein anderer Teil von mir – der Teil, der wichtiger ist – trifft Vorbereitungen.« Nicht, dass die Tschechow’scher Wanjas oder Kirschgärtnerinnen diesen Sachverhalt je so deutlich aussprechen würden. Aber die Gefühlslage dürfte ihnen nicht fremd sein. Passend übrigens, dass Noah Haidle, der vor seinem Dramatikerstudium an der Princeton University und der New Yorker Juilliard School auch ein paar Semester Philosophie studiert hat, eindeutig zu den Irrationalisten tendiert. Sein Denker der Stunde? »Schopenhauer!« Fun ist im Gespräch mit Noah Haidle eine ziemlich wichtige Vokabel. Berlin war zum Beispiel »fun«: Der Dramatiker ist erstmals in seinem Leben Vespa gefahren, einmal in der »Topografie des Terrors« und einmal im Gorki-Studio gewesen (»very interesting«), hat auf der Kastanienallee eine Lederjacke gekauft, gegen den Theateragenten Tom Stromberg im Tischtennis verloren und ansonsten auf dem Balkon seiner Berliner Bleibe »ein bisschen gearbeitet«. Deutlich weniger »fun«-assoziiert scheint es für Haidle dagegen zu sein, ernsthaft auf potenzielle Interpretationen seiner Stücke angesprochen zu werden. In einem lustigen Programmheftinterview zum Homemaker antwortet er auf die Dramaturginnenfrage nach den alttestamentarischen StückBezügen sinngemäß, dass jemandem, der mit Vornamen Noah heiße und schon mindestens eine Milliarde »Arche«Witze über sich ergehen lassen musste, möglicherweise gar nichts anderes übrigbleibe, als irgendwann so ein Stück zu schreiben. Aber im Ernst: Nachdem Gabriel García Márquez, so Haidle, einmal in einer Besprechung zu Hundert Jahre Einsamkeit gelesen hatte, dass Frauen »die treibende Kraft für die Ordnung« und Männer »für die Unordnung« seien, habe er Männer und Frauen nie mehr auf die gleiche Art beschreiben können. Logisch, dass wir einen ähnlichen Fall unter gar keinen Umständen riskieren wollen; schon aus Eigeninteresse! Der Text ist eine gekürzte Fassung des Porträts von Noah Haidle, das im Juli 2015 in ›Theater heute‹ erschien.

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20 Foto: Isolde Ohlbaum

INGRID L AUSUND

Peter Handke

Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße Die Zeit, in der das neue Theaterstück von Peter Handke spielt, ist eindeutig bezeichnet: die »vier Jahreszeiten«. Der Ort der Handlung: eine Landstraße, eine »Allerweltslandstraße«? Die Protagonisten: »Ich«, der am Rande dieser Landstraße über eine Sitzgelegenheit verfügt. Und der sich von einem dramatischen Akteur zu einem epischen Erzähler wandeln kann. Für »Ich« ist die Landstraße »der letzte freie Weg in der Welt, der letzte nichtverstaatlichte, nichtvergesellschaftete, nichtgeographierte, nichtgeologisierte, nichtbotanisierte, nichtgegoogelte, nichtöffentliche und nichtprivate Weg auf Erden«. Diese freie Welt gilt es zu verteidigen gegen die »Landstraßenokkupanten«. Sie gehen einzeln, zu mehreren, in Massen über die Landstraße und sind natürlich ganz unschuldig und heißen demnach »Die Unschuldigen«. Und die »Unbekannte«, die schöne, ist die Unbekannte von der Landstraße, »die erhoffte, seit jeher ersehnte«. (Besetzung variabel)

Uraufführungen der Theaterstücke Publikumsbeschimpfung (1966) Selbstbezichtigung (1966) Weissagung (1966) Hilferufe (1967) Kaspar (1968) Das Mündel will Vormund sein (1969) Quodlibet (1970) Der Ritt über den Bodensee (1971) Die Unvernünftigen sterben aus (1974) Über die Dörfer (1982) Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990) Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) Zurüstungen für die Unsterblichkeit (1997) Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) Warum eine Küche (DSE 2002) Untertagblues (2004) Spuren der Verirrten (2007) Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts (DSE 2009) Immer noch Sturm (2011) Die schönen Tage von Aranjuez (2012)

Uraufführung: 27. Februar 2016, Burgtheater Wien Regie: Claus Peymann Deutsche Erstaufführung: 10. März 2016, Bayerisches Staatsschauspiel München Regie: Philipp Preuss

»›Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße‹ ist ein großartiges Stück, vielleicht sogar Handkes dramatisches Opus magnum.« Lothar Struck, ›Glanz & Elend‹ Magazin, 29.3.2015

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»Schattenhaft klar« Peter Handke über ›Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße‹ im Gespräch mit Nina Peters

Nina Peters: In ›Die Unschuldigen‹ gibt es ein »Ich« im Wechsel zwischen »Ich, Erzähler« und »Ich, der Dramatische«. War das die Grundidee? Peter Handke: Die Grundidee war das nicht. Das kam dann später hinzu als Dilemma. Die Grundidee war die Konfrontation. Die Konfrontation eines Individuums mit Menschen, die gar nicht wissen, daß sie eine Konfrontation bilden. Die Unschuldigen. Das war die Grundidee, die dramatische Idee. Was kommt da heraus? Daß das gar keine Widersacher sind, keine Feinde, sondern einfach Leute, die eine Konfrontation bilden, ohne Feind, ohne Schuld, ohne böse Absicht, ohne bösen Willen.

raus kam mir die Idee, daß das anfängt mit dem Scheißdreck aus dem Supermarkt und daß dann einer etwas aufhebt, was zu etwas ganz anderem wird. Also aus dem, was ich nicht erlebt habe, kam erst das Stück heraus. Daß da auf den Zetteln etwas steht, was ihm die Leute in einem anderen Licht erscheinen läßt. Und da habe ich gedacht: Jetzt bin ich auf dem Weg für das Stück. Da bin ich nicht mehr in dieser Eindeutigkeit: Da bin ich, das Individuum, da sind die Ahnungslosen, das ist ja noch schlimmer als »die Unschuldigen«. Da habe ich plötzlich gedacht, da ist ein Stoff … aus dem die Träume sind. Und dann habe ich die erotische Energie gespürt, das zu dramatisieren.

»Bewußtlos« heißt es einmal im Stück. Ja, das wäre fast schon beurteilend. Die sind sich sicher in ihrem Kreis bewußt. In Spuren der Verirrten heißt es, für die meisten Leute gibt es den anderen nicht mehr. Oder es wird eine humanitäre Aktion übers Fernsehen. Aber nicht auf der Straße direkt, auf der Landstraße gibt es den anderen nicht mehr. Nur noch im Fernsehen. Und da wird er wirtschaftlich ausgebeutet. Das war vielleicht die Grundidee. Aber da bin ich dann auch bald ins Schleudern geraten.

Es gibt in dem Stück mehrere Figurenpaare ... Ja, es gibt diese seltsame Beziehung zwischen dem Häuptling und dem Capo, und in manchen Momenten weiß man nicht, wer wer ist. Und dann ist da einer unter der Bevölkerung an der Landstraße, der ist der Doppelgänger des »Ich«. Der ist eigentlich »Ich«. Der könnte der Schlimmste von den allen sein, der Doppelgänger, der Dümmste. Das habe ich erst im nachhinein ein bißchen akzentuiert, im dritten oder vierten Durchgang. Aber das war mir beim Machen nicht klar, weil mir vieles nicht klar war. Weil ich selber was erfahren muß im Schreiben. Ich möchte keinen fertigen Plan haben, das ist für mich unmoralisch, und unästhetisch, beides. Auch die Frau des Capo, plötzlich ist sie viel interessanter, als wir je gedacht haben. Aber ich muß oft mit Klischees anfangen. Dadurch, daß ich die Klischees einfach körperlich nicht ertrage, möchte ich etwas anderes aus den Menschen machen – natürlich besteht die Gefahr, daß man die Menschen idealisiert, den Capo oder den Häuptling – aber ich möchte, daß die schillernde Existenzen werden oder dramatische Existenzen. Daß die genausogut ausbrechen könnten aus sich und daß sie bessere Individuen werden als das »Ich« von der Landstraße.

Warum? Ich wußte überhaupt nicht mehr weiter. Ich hatte keinen richtigen Plan. Ich habe mich so träumen oder treiben lassen, aber schon bewußt, schon sehr aufmerksam. Wie Goethe sagt, er schreibt als »Nachtwandrer«. Im Grunde bin ich ein Tagwandrer. Ich wußte nicht weiter, so schlimm wie noch nie. Nach zwei, drei Wochen habe ich gesagt, ich gebe es auf. Und dann? Und dann kam dieser Moment, der für mich der entscheidende Moment war, hier in meiner Allee. Das ist eigentlich meine Allee, weil, ich kümmere mich drum. Ich räume und reche und schneide, und die Leute schmeißen immer ihre Zettel weg. Und ich klaube die immer auf. Und das ist der billigste Scheißdreck, den sie im Supermarkt kaufen. Und aus dem he-

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Der Umschlag des Buches zeigt Musterungen auf einer Straße. Das Foto haben Sie gemacht. Wo ist das? Das ist die Straße, die geht vorbei hinter meiner Allee. Ich

habe so eine Wegwerfkamera. Und dann macht man in der Nacht mit dem Blitz Bilder vom Asphalt, vom Teer, und das hinterläßt so, nicht Kalligraphien, aber Graphien, so geheimnisvolle. Und gibt es diese Landstraße in Kärnten? Sie spielen sprachlich auf Kärnten an. Sicher gibt es die. Aber das Stück spielt ja nicht in Kärnten. Im dritten, vierten Durchgang habe ich so Lokalfärbereien hineingetan, ohne Dialekt. Das dramatische »Ich« und der Häuptling treffen sich plötzlich über gemeinsame Ausdrücke aus der Kinderzeit. Wenn gesagt wird, »nicht der da«, sondern »der dada«, das klingt wie ein Säugling, »der dada«, das ist wirklich Kärntnerisch. Vielleicht auch nicht. Sich treffen darüber, daß man nicht sagt »Sumpf«, sondern »Tumpf«. Aber nicht über Dialekt, sondern über die Leidenschaft der Ausdrücke. Das war ein sehr wichtiger Moment in dem Stück in der zweiten, dritten, vierten Bedenkzeit, daß das dazukam. Das hat mir gutgetan. Und deswegen habe ich auch lang gebraucht. Ich habe es ja vor dreieinhalb Jahren angefangen und erst im Februar dieses Jahres zu Ende phantasiert, ausphantasiert. Durch die Gespräche zwischen dem dramatischen »Ich« und dem Häuptling über die gemeinsame Kindheit kommt eine schöne Erzählebene in das Stück ... … das ist mir fast die liebste Stelle. Das war am Anfang überhaupt gar nicht da. Wo plötzlich einer nicht weiß, warst du das, der da beim Radfahren mit dem Schädel gegen einen Randstein geknallt ist? Oder war ich das? Das Thema ist erst einmal jenseits von Tschechow und Shakespeare angesiedelt, aber vorher und nachher ist viel, was dieses dramatische Fleisch und dieses dramatische Geheimnis hat. Aber ab und zu habe ich das gestreift im Leben. Und dann bei dem »Landstraßenstück«, so nenne ich es, ist es mir manchmal vorgekommen, daß ein Streifen der großen Dinge von Menschen stattgefunden hat. Aber es interessiert heute niemanden mehr, was ein Stück ist. Wie man ein Stück schreibt, das ist ein großes Geheimnis. Das ist eine gewaltige, spannende Geschichte, ein richtiges, reines Theaterstück. Bei Immer noch Sturm hat man immer gesagt, das ist ja gar kein Stück. Aber das ist ein reines Stück. Ich habe es nur so, aus einer Scheu in einer epischen Form geschrieben. Aber es ist ein reines Theaterstück. Mit fünf Akten. Wie eine Tragödie geschrieben, und es steht nur eins, zwei, drei, vier, fünf geschrieben. Es ist ein reines Stück.

In diesem Stück allerdings trägt der Protagonist als »Ich, Erzähler« und »Ich, der Dramatische« zwei Seelen in einer Brust. Auch der Dialog zwischen dem epischen Ich und dem dramatischen Ich ist ein reines Theaterstück. Zwei Spielarten, dramatische Arten eines Menschen, sind einander gegenübergestellt. Aber es ist ein Stück. Man könnte fast daraus ein Stück machen, aber es wird dann wie Rameaus Neffe von Diderot, oder irgendwas von Voltaire. Aber das interessiert mich nicht. Mich interessiert das Klare und zugleich Undeutliche. Schattenhaft klar. Im Stück spielen Sie auf Shakespeares ›Sturm‹ an. Ja, das kam mitten im Dahinwurschteln. Da habe ich gedacht, woher kenne ich das Ganze schon? Und dann habe ich den Stoff von Shakespeare noch einmal gelesen. Und plötzlich habe ich ein bißchen eine Hommage darauf gemacht, aber auch viel wieder herausgenommen. Das »Ich«, das ist im Grunde Caliban und Prospero in einer Person. Die »Unbekannte« könnte Ariel sein, aber eigentlich stimmt das nicht. Aber wenn das »Ich« an der Straße Reisig sammelt und herummurrt wie der Caliban, weil er Reisig sammeln muß, das kann ich mir gut vorstellen. Und das »Ich« kann zaubern wie Prospero. Ich mach mich da lustig über das »Ich«, das ist ein Pseudozauberer. Zum Beispiel hat er einen Unterstand. Und der andere schaut da hinein und sagt: »Hej, Mann, das ist ja ein richtiges Schloß!« Das ist ein seltsamer Moment, daß der hineinschaut in etwas, was die Zuschauer nicht sehen, und sagt: »Das ist ja ein richtiges Gewölbe, das sind ja Säle!« Und wenn der Schauspieler das gut macht, dann kann das sehr schön sein. Der Unterstand wird plötzlich ein Schloß. Es sei denn, er macht sich lustig. Vielleicht kann man das ambivalent machen. ›Immer noch Sturm‹ war Ihr erstes Stück, in dem ein »Ich« als Erzähler auftrat ... Ohne dieses »Ich« hätte ich Immer noch Sturm nie schreiben können. Ich hätte nie dieses historische, soziale, historiokritische Drama schreiben können wie, sagen wir, zu Grillparzers Zeiten. Seit Jahrzehnten, das ist jetzt keine Angeberei, beschäftigt mich dieses Drama meiner Familie. Die Weglosigkeit ist verschwunden, indem ich plötzlich das »Ich« hatte, das zugleich der Frager ist, zugleich die Autorität, zugleich der Hampelmann, der Harlekin des Stücks, zugleich das Kind des Stücks, zugleich der Älteste vor allem, weil auf der Bühne alle anderen jünger sind als er. Plötzlich konnte ich Immer noch Sturm … nicht schreiben, aber rhythmisieren. Ich hab

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nicht diese Autorität zu sagen, ich schreib jetzt einfach ein Stück über meine Familie, und das sind die Figuren. Dadurch, daß das »Ich« vordringlich wurde, kam diese dramatische Spannung hinein. Daß der Bruder der Mutter sagt, du mit deiner utopischen Welt, daß du denkst, alles wird wieder gut. Und die Welt, die Geschichte ist ein Sauhaufen, Sauhaufen wäre ja noch schön. Sauhaufen ist etwas Fruchtbares. … und in den ›Unschuldigen‹ steht nun wieder ein »Ich« da, allerdings im Wechsel zwischen »Ich, dem Erzähler« und dem »dramatischen Ich«, es steht am Rande der Landstraße und gibt sich den Menschen, die ihm begegnen, preis. Ja, ich bin der Diener und Herrscher der Landstraße. Das ist mein Ort, das ist mein letzter Ort. Ihr kommt da nicht her. Und zuerst freut er sich, daß da die da kommen. Er freut sich, heißt sie willkommen, aber ohne daß die ihn bemerken. Und weil sie ihn wirklich gar nicht bemerken, rempeln sie ihn an, fast realistisch. Weil das »Ich« das alles nur träumt, das Stück ist ja ein Traum? Ich weiß nicht, da ist gar keine Begründung zu liefern. Ich bin ganz erstaunt über mich, daß die meisten Leute, wo ich auch bin, mich nicht sehen. In den Lokalen, die sehen mich nicht. Nein? Das war auch ein Ausgangspunkt: Ich komme nicht vor. Und darüber werde ich natürlich wild. Und so fängt das Stück dann an. Und zugleich freut er sich. Und gleichzeitig denkt er: Das ist der letzte Ort, wo ich noch stumpf sinnieren kann. Und plötzlich kommt diese ganze Sippschaft, und eigentlich freut er sich. Und natürlich ist das eine Steigerung des Untertagblues, der Untertagblues ist ein Vorspiel. Die Unschuldigen sind ein Weltdrama, aber das interessiert ja niemanden. Es steckt nicht nur der ›Untertagblues‹ drin, ich habe den Eindruck, daß Ihr Werk, das epische, aber vor allem das dramatische, so stark hineinspielt wie bei keinem anderen Stück. Es gibt den ›Kaspar‹, die stummen Stücke, ›Über die Dörfer‹, ›Zurüstungen für die Unsterblichkeit‹, auch Ihr erstes Stück, die ›Publikumsbeschimpfung‹ ... … ja, dieses Mal ist es eine hilflose Beschimpfung, aber die sich, wie man sagt, gewaschen hat. Ich hätte gern etwas mehr erfunden, tätowierte Schwimmlehrer, irgendwie so was. Das hat mir Freude gemacht, nicht Spaß, im Wortsinn, biblisch. Ich hoffe, daß sich bei den Aufführungen diese Spiellust ergibt. Es darf ja kein Moment absolut ernst sein, gerade da-

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durch, dass es ernst ist, wird es Spiel. So wie bei Kafka. Weil er absolut ernst ist, wird er lustig. Dadurch, daß es absolut ernst ist, wird es Spiel. Ich glaube, man könnte jedes Ihrer Stücke hier wiederfinden. Sie zitieren Figuren, Motive, Bilder, auch Dialoge ... Ja, das ist wahr. Aber das mach ich nicht absichtlich. Ich bin kein selbstreferentieller Autor. Das passiert mir immer wieder, und erst im nachhinein merke ich es. Als ich jung war, hätte ich mir das immer wieder herausgenommen. Aber jetzt denke ich: Habe ich schon gesagt, um so besser. Das ergibt sicherlich eine gute Variante. Das macht mir überhaupt nichts mehr. Ein schlechtes Gewissen ist eh genug im Leben. Sie zitieren auch eines Ihrer Bilder, das aus Ihrer Prosa kommt. Es zeigt einen Mann, unterwegs mit dunklem Anzug und weißem Hemd. Der Häuptling sagt zum »Ich«, »diesen Mann hast du zur Idealfigur ernannt«. Was steckt hinter dem Bild? Ja, der geht an der Landstraße. Das ist eines meiner Urbilder. Ich hab als junger Mann, als Student, zwei Buben in Oberösterreich Nachhilfe gegeben. Latein, Englisch, alles. Der Vater war Arzt. Und wir sind mit dem Auto übers Land gefahren, die zwei Buben, ich und der Vater. Eine lange Fahrt. Und ein Mann ging an der Landstraße. Das war eigentlich alles. Ein Mann in einem dunklen Anzug und einem weißen Hemd ging am Rand der Landstraße dahin. Und die Hosenbeine haben geflattert, und es war Sonntag. Und war Sonne. Die Hosenbeine haben »segelgleich« geknattert im Wind, heißt es im Stück. Ich weiß nicht, ob sie geknattert haben, im Auto hat man das ja nicht gehört. Aber ich habe mir das so vorgestellt. Und ich hab gedacht: Das ist mein elftes Gebot, frei nach dem Dekalog. So zu gehen. Das geht mir immer noch so. »So zu gehen« ist Ihr elftes Gebot? Ja, manchmal denke ich das immer noch. Manchmal, wenn ich wandere, denke ich: Heute hast du den nicht verkörpert, den Mann von der Landstraße. Deswegen ziehe ich mir manchmal einfach ein weißes Hemd an und einen dunklen Anzug ... Na ja, nicht deswegen. Aber manchmal spüre ich das. Und ich finde auch manchmal gut, daß man weite Hosenbeine hat. Der ist die Idealfigur. Und was hat es auf sich mit der »Unbekannten« am Rand der Landstraße? Ja, man weiß nicht, wer die ist. Und ich hab das besonders

gern, wenn sie gegen Ende des Stücks die Vögel benennt, die über das Jahr durch die Landschaft ziehen.

denkt: Ihr seid so extrem. Es kann nur noch was Neues kommen.

»Starker Durchzug der Regenpfeifer im September. Anfang Oktober wurde bei Kilometer neunzehn ein laut rufender Rauhfußbussard beobachtet ...« Ich habe das besonders gern. Völlig sinnlos. Da habe ich ordentlich was hineingeschwindelt, erfunden. Aber ich empfinde das als einen Ruhemoment. Als ob sie sagt: »Mein Gott, ihr Vögel wart da.« Das ist fast schon Ideologie, aber als rhythmisches System.

Und dieses Neue ist etwas Positives. Ja, sicher. Es kann ja nicht so weitergehen. Es kann ja nicht Weltuntergang sein, das kann man nicht denken. Ich bin ja kein Adventist. Wenn ein Heiliger, dann wäre ich einer der ersten Tage, aber nicht einer der letzten. So wie Goethe. (lacht) Steht dann in den Interviews immer »Lachen«, »lacht«.

Es ist auf jeden Fall Ornithologie. Ja, ich habe einen Freund, dessen Sohn Vogelbeobachter ist. Der schickt mir jedes Jahr seine Vogelbeobachter-Broschüre, … die Vogelbeobachter gehen ja immer mit so Feldstechern herum (Peter Handke zeigt auf einen Feldstecher, der auf dem Tisch liegt) und wissen immer ganz genau, was das für Vögel sind. Und die Erstbeobachtung dieses und jenes Vogels in Österreich ist eine Sensation! Die »Unbekannten« sind eine ambivalente Gruppe. Sie zitieren in Ihrem Stück ein utopisches Bild, das, glaube ich, einst für Sie Bestand hatte. Da heißt es, aber als Abgesang auf dieses utopische Bild: »Mein Silhouettenglaube, wo ist er geblieben?«, fragt »Ich-der-Dramatische« am Ende, »Ja, die Silhouette, das hieß einmal: der, die, das große Unbekannte, das hieß: Große Erwartungen«. Das habe ich noch eingefügt. Und jetzt habe ich nicht einmal mehr die Unbekannten als Utopie. Und das stimmt auch. Das ist real heute. Nicht einmal mehr die Unbekannten, die Silhouetten in den Bussen, in den Morgenbussen, diese Leute sind meine Leute, und jetzt sind die alle vorbei. Und dann denkt das »Ich« zu Recht, dann geht es wieder weiter. Man kann ja nicht aufhören mit so was in einem Stück. Denn so ernst ist es auch wieder nicht. Der Schluß ist melancholisch, formuliert aber dennoch eine Utopie, habe ich das richtig gelesen? Ja, traurig ist er. Ja, »c‘est la vie«. Aber das »Ich« sagt, durch die und dank der Menschen, denen er begegnet sei, glaube er wieder an eine zukünftige Menschheit. Ja, das war ein entscheidender Moment. Das ist sehr gut, daß Sie das sagen. Das war ein entscheidender Moment, daß er

Ich finde, es gibt kein anderes Theaterstück von Ihnen, das so komisch ist. Weil das »Ich«, das »dramatische Ich« insbesondere, einen Sinn hat für Selbstkritik, weil es sich ins Lächerliche ziehen läßt. Ja, ja. Ich meine, die Frau sagt es ja nicht schlecht, die CapoFrau. Wie sie ihn beschimpft, wie er sich aufspielt ... »Wenn es jemand Totalitären gibt, dann ihn, den Idioten am Rand der Landstraße. Er hält sich für den Alleinzuständigen hier, zuständig für jedes Gran Vogelmist«, so verspottet sie ihn, seitenlang. Na ja, ich glaube, das sind ganz schöne Rollen. Wenn es das überhaupt noch gibt. Sie sind schön voneinander abgesetzt. Und alles changiert. Aber es changiert dann auch tatsächlich von einem scharfen Rand zu einem anderen scharfen Rand. Diese Frau fällt einmal zu Boden, kommt mir so vor. Sie übt das Sterben, oder? Und am Schluß vergilbt das Bild vom Unterstand. Ich habe nie in einem Theaterstück, von Kaspar oder Publikumsbeschimpfung, Ritt über den Bodensee, Die Unvernünftigen sterben aus usw., einen Schluß gefunden. In einer Erzählung, in der Prosa, ist das Ende oft ein Ausatmen, eine Erlösung gewesen. Frappant. Die Angst des Tormanns oder Der kurze Brief … Aber in den Stücken weiß ich nicht, wie man endet. Wie hört ein Theaterstück auf? Und deswegen muß es immer weitergehen, das dramatische Ich, das epische Ich ... Und jetzt hat es fast ein Shakespearesches Ende. Oder wie bei Ferdinand Raimund, »zärtlich will geschieden sein, Brüderlein fein«. Was soll‘s. Es ist ja keine Tragödie. Ich hab das sehr gern, ich bin ganz gerührt, wenn ich das lese. »Ach, ja!«, das hat der alte Goethe immer gesagt, wenn er die Enkelkinder gesehen hat. Er hat den Enkelkindern zugeschaut, »Ach, ja!«, das habe ich von ihm. Chaville, Ende Oktober 2015

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Martin Heckmanns Die Jugend von gestern Drei Elternpaare treffen sich zu einem Problemgespräch. Ihre Kinder sind zum zweiten Mal gemeinsam unterwegs auf einer Bergwanderung. Das ist nicht das Problem. Aber der Oberstudienrat Michael Küster und seine Frau Hanne haben auf dem Computer ihrer Tochter einen Film entdeckt, der die Jugendlichen am Ende der ersten Wanderung bei sexuellen Aktivitäten in der Berghütte zeigt. Im Gespräch der betroffenen Eltern soll nun eine gemeinsame Strategie entwickelt werden, wie die Kinder bei ihrer Rückkehr empfangen und über Sexualität und Internet aufgeklärt werden können. Dabei zeigt sich vor allem, wie die Beziehungsmodelle der Eltern alternieren und konkurrieren: Das Gastgeberehepaar ist in Therapie, die Sängerin und der sehr viel ältere Bio-Energetik-Therapeut führen eine offene Beziehung, und der Eventmanager tauscht seine Partnerin regelmäßig gegen eine jüngere aus. Als die Tochter des Hauses schließlich früher als vereinbart von ihrem Ausflug zurückkehrt, findet sie die Eltern aufgelöst und betrunken vor. Der Streit um die Deutungshoheit und um das bessere Leben und ein Geheimnis aus ihrer eigenen Jugendzeit haben die Beziehungen in verstörenden Aufruhr versetzt. Die Jugend von gestern ist eine irrwitzige Komödie über die Unordnung des Begehrens, konkurrierende Sexualmoral und die Schwierigkeit, in Zeiten von youporn und digitaler Überwachung nicht nackt dazustehen. (3 D, 3 H) Frei zur Uraufführung

Stücke – Auswahl Schieß doch, Kaufhaus! Frankfurter Fassung 5 Personen UA: 9.5.2002, TiF/Staatsschauspiel Dresden in Kooperation mit Theaterhaus Jena, Sophiensaele Berlin und Thalia Theater Hamburg Regie: Simone Blattner Kränk 3 D, 2 H UA: 11.3.2004 Schauspiel Frankfurt Regie: Simone Blattner Das wundervolle Zwischending 1 D, 2 H UA: 10.2.2005, Niedersächsisches Staatstheater Hannover Regie: Charlotte Roos Wörter und Körper 4 D, 7 H UA: 10.2.2007 Staatstheater Stuttgart Regie: Hasko Weber Kommt ein Mann zur Welt Mindestens 2 D, 3 H UA: 24.3.2007 Schauspielhaus Düsseldorf Regie: Rafael Sanchez

Foto: Dirk Opitz

Ein Teil der Gans 2 D, 3 H UA: 10.10.2007 Deutsches Theater Berlin Regie: Philipp Preuss

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Martin Heckmanns, geboren am 19. Oktober 1971 in Mönchengladbach, Studium der Komparatistik, Geschichte und Philosophie, lebt in Berlin. Mit Schieß doch, Kaufhaus! wurde er in der »Theater heute«-Kritikerumfrage zum Nachwuchsautor des Jahres 2002 gewählt und gewann bei den Mülheimer Theatertagen 2003 für Schieß doch, Kaufhaus! und 2004 für Kränk den Publikumspreis. 2012 wurde ihm der alle drei Jahre verliehene Margarete-Schrader-Literaturpreis der Universität Paderborn zugesprochen. 2015 war sein Kinderbuch Konstantin im Wörterwald für den Jugendliteraturpreis nominiert.

Die Zuschauer Wie sitzt der Zuschauer heute im Theater, und wie verlässt er es nach einer Vorstellung? Verändert? Bereichert? Getäuscht? Martin Heckmanns entwirft ein Kaleidoskop kleiner Szenen und Geschichten, die sich im Zuschauerraum des Theaters abspielen. Der Text lässt sich nicht am Theaterausgang abwimmeln, sondern begleitet die Zuschauer auf ihren Heimwegen und folgt ihnen in ihre Wohnungen. Dabei entsteht ein Chor unterschiedlichster Stimmen. Da sind Ehepaare, sich gegenseitig belauernd im Theatersaal, Vater und Sohn, die ein Theaterbesuch einander kurzfristig wieder annähert, ein Pärchen bei dem ersten Treffen, das feststellen muss, dass es das Bühnenideal einer romantischen Liebe nicht in den Alltag des Heimweges retten kann, und natürlich ist dort Herr Matuschek, der nach dem Besuch eines »Dramas der Unterdrückten« den Job bei einem Boulevardmagazin kündigen und seine eigene Katharsis erfahren wird. Unter diese Figuren mischen sich andere namenlose Stimmen in ihrem Verhältnis und ihrer Beziehung zum Theater. Zuschauer, die das Theater erfahren, andere, die es verstehen wollen, und wieder welche, die sich bereits über das Verstehen des Verstehens den Kopf zerbrechen. Indem sich in Heckmanns Stück Beobachtende beobachten lassen, werden die Wirkungen des Theaters vorgeführt, sein Zauber und seine Enttäuschungen, die Kollision von Theater und Leben ebenso wie die Verfeinerung des Lebens durch das Theater, bei dem immer die Gefahr mitschwingt, dass »draußen wieder alles in Einzelteile zerfällt, was sich hier immer wieder stimmig zu einer Geschichte fügt«, aber doch auch ein Theater, bei dem Abend für Abend die Chance besteht, »dass etwas ganz Neues beginnen könne«. (Besetzung variabel) Uraufführung: 19. September 2015, Staatsschauspiel Dresden Regie: Roger Vontobel

Hier kommen wir nicht lebendig raus. Versuch einer Heldin 1 D, weitere Darsteller UA: 22.4.2010 Düsseldorfer Schauspielhaus Regie: Hermann Schmidt-Rahmer Vater Mutter Geisterbahn 1 D, 2 H UA: 6.5.2011 Staatsschauspiel Dresden Regie: Christoph Frick Einer und Eine 2 D, 2 H UA: 15.11.2012 Nationaltheater Mannheim Regie: Dominic Friedel Es wird einmal 3 D, 2 H UA: 14.12.2013 Schauspielhaus Bochum Regie: Anselm Weber Der Diener zweier Herren Von Carlo Goldoni Neufassung von Martin Heckmanns nach den Übersetzungen von J. H. Saal und F. L. Schröder UA: 21.11.2013 Staatsschauspiel Dresden Regie: Bettina Bruinier  



»Dass sich Menschen in einem dunklen Raum einsperren lassen, um zu schweigen und anderen dabei zuzuschauen, wie sie scheitern und sterben.« (aus: Die Zuschauer)

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Zuschauen verbindet Aus dem Programmheft des Staatsschauspiels Dresden zur Uraufführung von ›Die Zuschauer‹ am 11. September 2015 I von Robert Koall

Der Betrachter ist in der klassischen Charakterisierung Dass es urteilen lehre oder moralische Anstalt sei, vermeistens einsam, still und häufig unbewegt. Die Zu- störende Erfahrung oder tröstendes Einverständnis schauer dagegen im gleichnamigen Stück von Martin möglich macht. Heckmanns zeigen sich redebedürftig, angeregt, aufge- Wesentlich aber, in diesen Zeiten und in diesem Stück, dreht und um Anschluss bemüht. Sie tauschen sich aus scheint die Bereitschaft und offensichtlich auch die über das Gesehene und suchen nach Ähnlichkeiten un- Lust, sich in die Situation zu versetzen, ein anderer zu tereinander und im Verhältnis zu den Figuren der Büh- sein. ne. Und bemerken verwundert, wie verschieden ihre Denn der Zuschauer nimmt sich im Zuschauen zurück, Wahrnehmung und ihre Aufmerksamkeit das gerade er schenkt Zeit und gibt Raum dem Fremden, das sich gemeinsam geschaute Geschehen deutet. vor ihm entfaltet. Er folgt Figuren auf ihren eigenartiAber sie kommen ins Gespräch oder in Streit über sich gen Wegen und in ihren eigensinnigen Gedankengängen. Und entwickelt schrittin der Spiegelung und kom»Wie wir leben, ist immer auch ein Ergebnis weise Verständnis, fühlt sich men einander näher im Inteder Erzählungen, die wir verinnerlicht ein im Verlauf der Geschichte resse am Widerspruch. und sucht nach einer VerbinEs sind die Unterschiede, die haben. Wir lieben, wie wir lesen, dung zum eigenen Erleben. – verbinden, weil sie zum Ausund wir kämpfen mit Fiktionen im Kopf.« Zuschauen verbindet auch in tausch auffordern. Auseinandersetzung schafft Zusammenhang. Gemeinschaft ist diesem Sinne; das Fremde mit dem Eigenen, als Menhier kein Zustand, sondern ein Prozess. Diese Gemein- schenkunde auf Ähnlichkeitssuche. schaft wird nicht fest, sondern in Aussicht gestellt im Die Zuschauer erzählen von einem Stück, das wir, die Gedankenaustausch und in der Reflexion. Zuschauer der Zuschauer, so nie gesehen haben. Ihr Heckmanns’ Stück geht aus vom Staunen. verbindendes Erlebnis wird uns nur fragmentarisch geEs nimmt seinen Ausgang in der Verwunderung darü- spiegelt zugänglich. Gelegentlich erkennen wir Bruchber, dass Menschen zusammenkommen, um anderen stücke bekannter Dramen wieder, die kein Ganzes ergeMenschen dabei zuzuschauen, wie diese wiederum Men- ben. Wir müssen uns auf unsichere Erzähler verlassen, schen spielen, die ihrerseits tragisch scheitern, komisch um aus deren Eindrücken selbst uns eine vollständige Geschichte zu imaginieren. fallen und schließlich häufig als Gewaltopfer enden. Das Stück ruft einige fast vergessene Hoffnungen auf, Unsere Einbildungskraft schafft so womöglich ein die sich im Lauf der Geschichte mit dem Theater ver- Schauspiel, das über uns bekannte Schauspiele hinausbunden haben. Dass es reinigen möge von schlechten wächst und wuchert, weil wir die Leerstellen füllen mit Gefühlen in einem kathartischen Akt. Dass es aufklären unserer Einbildungskraft und so Teilnehmer werden könne mit den Mitteln der Verstellung – den Menschen und Mitspieler. über sich oder die Gesellschaft über ihre Mechanismen. Und dazu, dazwischen und mittendrin ist Musik zu hö-

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ren, die die Kraft unserer Einbildung auf noch einmal andere Weise in Schwingung versetzt. Shakespeare wird hier gesungen, als ein dramatisches Echo durch die Zeiten, das den Raum und seine Geschichte zum Klingen bringt. Und nach und nach im Verlauf des Abends wächst die Vermutung, dass diese Zuschauer hier nicht erst seit ein paar Stunden sitzen und nicht nur dieses eine Stück gesehen haben, vielmehr seit Tagen oder Jahren schon, womöglich seit Beginn dieses Theaters. Sie verlieren ihre konkrete Kontur und werden zu den guten Geistern, die dieses Theater zum Theater erst machen. Sie sind die Geburtshelfer der Bühnenwesen, denn es ist das Interesse des Zuschauers, das die Gestalten auf der Bühne in Bewegung setzt. Und schließlich sind es die Zuschauer auch, die diese Gestalten am Leben erhalten, indem sie von ihnen begeistert oder gerührt oder erschreckt oder verärgert sind und sie weiter bei sich tragen in die Welt und ihren Alltag hinein. Denn Geschichten wirken. Wie wir leben, ist immer auch ein Ergebnis der Erzählungen, die wir verinnerlicht haben. Wir lieben, wie wir lesen, und wir kämpfen mit Fiktionen im Kopf. Don Quichotte ist vermutlich der berühmteste Leser, der vor lauter Feinden keine Windmühlen mehr sieht, weil die massenhafte Lektüre von Ritterromanen seinen Blick verrückt hat. Und ähnlich scheinen auch die Figuren in diesem Stück, wenn sie den Zuschauerraum verlassen und damit aufhören, bloß Zuschauer zu sein. Sie sind über die Maßen ergriffen von dem gesehenen Geschehen auf der Bühne und schauen auf die Außenwelt mit veränderten Augen. Sie sind erleichtert, dass sie die Kämpfe auf der Bühne unbeschadet überlebt ha-

ben, und diese Erleichterung eröffnet ihnen Spielraum und einen Blick auf sich als Spieler darin. Sie laden Obdachlose zum Essen ein, kündigen ihr Angestelltenverhältnis oder rufen zum Umsturz auf, Familien werden zusammengeführt, und Liebende imitieren die Leidenschaft, die sie auf der Bühne gesehen haben. Die meisten scheitern bei diesen Versuchen der Übersetzung von den Fiktionen in ihre Wirklichkeit, aber selbst dieses Scheitern erscheint ihnen heldenhafter als noch vor ihrem Theaterbesuch, weil sie gesehen haben, wie es sich schöner scheitern lässt. Und sie haben den Versuch gewagt und sich im Versuchen verändert, sie haben sich eingemischt in Verhältnisse, die von Menschen gemacht werden. Wie mühsam dieser Schritt vom Zuschauer zum Handelnden werden kann, weiß jeder schwermütige Zuschauer des Weltgeschehens. In diesem Spiel aber scheinen die Schritte märchenhaft leicht, und belohnt werden die Figuren dafür mit einer Erfahrung oder mit einer Einsicht und also einem Zusammenhang. Von diesen Verbindungen zum Fremden, zu unseren Erfindungen und zur Wirklichkeit handeln Die Zuschauer und von der sehnsüchtigen Suche, denn wie heißt es dort am Ende: »Ganz allein bin ich ja eher ein langweiliger Typ.« Robert Koall ist Chefdramaturg des Staatsschauspiels Dresden.

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Wolfram Höll Vom Verschwinden vom Vater »Ein / kalter / Spalt / in der Erde / vom Boden / unter uns / unter unseren Füssen / (und) mit unseren Füssen / grüssen / wir ihn«. Der da unten in der Erde liegt, ist der Vater. Er ist nicht mehr da, um ihn kreisen die Gedanken. Vom Verschwinden vom Vater ist die Annäherung eines Sohnes an das Sterben, den Tod seines Vaters. Wolfram Höll hat einen Bühnentext geschrieben, dessen poetische und musikalische Sprache nicht in Figuren aufgeht, sondern ins Offene strebt und dabei zu bemerkenswerter Konzentration findet. Es erklingen gegenwärtige und vergangene Stimmen, in denen das Erinnern und Vergessen wohnt, die sich manchmal gleichsam selbst lauschen, vom Autor fadenweise aufgespannt: filigran verdichtet, stets klaffend. Mal klingen diese Stimmen zusammen, dann gegen- oder nebeneinander. Sie lassen Situatives aufscheinen und

lösen es wieder auf. Nicht als monologisch oder dialogisch ist dieser Text zu begreifen, er ist weder Drama noch dramatisches Gedicht, doch verlangt er in seiner Form nichtsdestoweniger nach dem gesprochenen Wort. Die Worte bewegen sich entlang eines Grats: Ein Sprechen will heraus, während ein anderes Sprechen sich zurückzieht, abbricht, vielleicht vorher längst verstummt war. Den Tod kann das Sprechen und Nachrufen des Hinterbliebenen nicht einholen, ganz gleich, wie genau, wie zärtlich tastend oder heftig hervorquellend es sein mag, und doch wohnt diesem Sprechen eine Notwendigkeit inne. (Besetzung variabel)

Uraufführung: 7. Mai 2015, Theater Basel Regie: Antje Schupp

»Wie ein stotterndes Gedicht fliesst und stolpert der Text dahin, in rhythmischen Schlaufen, assoziativen Sprachsprüngen, variantenreich repetitiv. Scharfe Beobachtungssplitter eines schleichenden Abschieds … Diese nüchternen, distanzierten Beschreibungen einer finalen Beziehung erzeugen in der poetischen Brechung eine erstaunliche Nähe und Anteilnahme.«

Foto: Patrick Savolainen

Alfred Schlienger, ›Neue Züricher Zeitung‹, 7.5.2015

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Wolfram Höll, 1986 in Leipzig geboren, ist Autor und Hörspielregisseur und lebt in Biel. Er hat Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und Theater an der Hochschule der Künste Bern studiert. Sein vielfach ausgezeichnetes Stück Und dann wurde 2013 am Schauspiel Leipzig uraufgeführt (Regie: Claudia Bauer). Für das Stück wurde Höll der Mülheimer Dramatikerpreis 2014 verliehen und in der Kritikerumfrage von »Theater heute« wurde er zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. In der Spielzeit 2014/15 war Höll Hausautor am Theater Basel, wo im Mai 2015 sein Stück Vom Verschwinden vom Vater uraufgeführt wurde. 2015 erhielt er den Lessing-Förderpreis des Freistaates Sachsen sowie den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Im Februar 2016 wird sein neues Stück Drei sind wir am Schauspiel Leipzig uraufgeführt.

Drei sind wir Ein junges Paar träumt davon, nach Kanada zu gehen. Doch dann erwartet es ein Kind, das wegen einer schweren Form von Trisomie vielleicht nicht lebend geboren werden wird. Als das Kind zur Welt kommt, lebt und »anders ist«, halten die beiden an ihrem Traum fest. Mit Frühling, so der Name des Jungen, begeben sie sich in die unbekannte Ferne. In Québec empfängt sie Dany Daniel, der als freundlicher Tod fortan den Takt bestimmt und die drei durch fünf Jahreszeiten geleitet. Frühling wächst und entwickelt sich, steht im Mittelpunkt der Familie, deren Angehörige um ihn und seine Eltern kreisen, achtsam und ängstlich, stets um seinen baldigen Tod wissend. Und immer wieder sind da außerdem die Zuschreibungen selbst von Fremden, die das Anderssein des Kindes erwähnen und mit erschaffen. Doch wer oder was kann »Normalität« für sich beanspruchen? Und ist dieser Anspruch nicht ganz obsolet, wenn nicht gar obszön?

In Drei sind wir führt Wolfram Höll seine Figuren und uns an geheimnisvolle, manchmal unheimliche Orte, denen noch andere Wirklichkeitssedimente innewohnen, in denen andere Zeiten aufscheinen und vieles in der Schwebe bleibt. Zugleich besticht sein Stück durch die äußerst genaue Sprache, die den Dingen auf den Grund geht. Beharrlich und zärtlich kommt sie den Figuren nahe, zeigt sie in Momenten von Innigkeit und Glück wie auch in ihrem Hadern und mit ihren Schwächen. Und in ihrem Bemühen, in einer Situation des Erleidens und Entsetzens weiterhin nach den eigenen Handlungsmöglichkeiten, nach dem Wagnis zu suchen. (2 D, 3 H, Besetzung variabel)

Uraufführung: 20. Februar 2016, Schauspiel Leipzig Regie: Thirza Bruncken

»Es sind große Themen, die Wolfram Höll behandelt. Er lenkt unseren Blick auf die Details und konfrontiert uns mit scharf geschliffenen Gedankensplittern, die sich zu einem Erzählstrom verbinden, dem eine Inszenierung Struktur und Form und dem wir als Zuschauer einen Sinn geben müssen. Insofern stellen Wolfram Hölls Stücke tatsächlich keine geringe Herausforderung für das Theater dar – aber das ist angesichts ihrer Themen wohl auch gar nicht anders möglich … Diese Texte … sind literarische und psychologische Tiefenbohrungen. Jeder Satz wirkt wie aus Stein gemeißelt, nichts ist beliebig, jedes einzelne Wort zählt.« (Aus der Laudatio von Christian Holtzhauer anlässlich der Verleihung des Dramatikerpreises des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI, 10. Oktober 2015)

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Original aus dem Manuskript Drei sind wir

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Stephan Kaluza Blutmänner Was ist damals geschehen … in der Tiefe des Urwalds … bei den fremden Stämmen … weit ab von der Zivilisation … angesichts archaischer Rituale? Nach Jahren des Schweigens berichten drei Forscher unabhängig voneinander. Ihr Gesprächspartner bleibt dabei im Verborgenen: Antworten sie auf die Fragen eines Interviewers? Befinden sie sich vor Gericht? Oder legen sie vor sich selbst Rechenschaft ab, hören auf ihre innere Stimme? Stück für Stück wird so ein beschämendes Kapitel ethnologischer Studien enthüllt, der Forschungsbericht ähnelt zunehmend einer Rechtfertigung. Denn was als ambitioniertes Projekt zur Erforschung unbekannter indigener Stämme begann, geriet langsam, aber sicher außer Kontrolle. Und die zunächst harmlos erscheinende Schilderung ihrer Forschungen, die auch den Mythos der »Blutmänner« erzählt, wird zu einem schockierenden Bericht, zu einer Reise in das Dunkle der menschlichen Seele. Langsam wird das Netz sichtbar, in das sie verstrickt sind, gesponnen aus persönlichen Eitelkeiten, sexuellen Obsessionen und knallharten wirtschaftlichen Interessen. Wird jemals aufgeklärt, wer der Verantwortliche für den Ausbruch der tödlichen Krankheit ist, die sich zu einer medizinisch-humanitären Katastrophe ausweitet? Der Bericht endet. Die Stimmen verklingen im Dunkel. (3 H) Uraufführung: 13. April 2016, FFT Düsseldorf, Regie und Bühne: Stephan Kaluza (zusammen mit Episode 3 aus: Studie einer menschlichen Figur im Raum)

Stephan Kaluza studierte Kunst und Kunstgeschichte. Anschließend ergänzte er diese Studien an der Philosophischen Fakultät, Düsseldorf. Er lebt heute in Düsseldorf. Der Autor ist sowohl im Bereich der bildenden Kunst als auch in der Literatur tätig. In seinen Bildstücken inszeniert er Theaterstücke und Performances zu stillstehenden, simultan erlebbaren Bildern; u.a. wurden diese Interpretationen des Narrativen im Zendai Museum of Modern Art, Shanghai, im State contemporary Museum of Art, Seoul, im Museum of the Seam, Jerusalem, und im Künstlerhaus Bethanien, Berlin, ausgestellt.

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Stücke Atlantic Zero 4H UA: 5.5.2010 Düsseldorfer Schauspielhaus Regie: Christian Doll 3D 1 D, 1 H UA: 26.10.2012 Schauspiel Stuttgart Regie: Stephan Kimmig Sand 2 D, 6 H Frei zur UA Weil ich es kann 1D Frei zur UA

Konstantin Küspert rechtes denken Wie formt sich Gesellschaft? Wieso gibt es Ausgrenzung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit? Diesen drängenden Fragen geht Konstantin Küspert in rechtes denken nach, seine Untersuchungsgebiete sind dabei: »love«, »familie« und »philosophie«. Mit Elementen einer Polit-Soap spielt »love«: Jasmin und Püppi, antifa-affine Studentinnen, wollen ein Theaterstück »über die strukturen und gefahren von rechtem denken« entwickeln. Auf der Suche nach einer Geschichte, die der Materie gerecht wird, stolpern sie schnell über ihre eigenen Ansprüche. Und dann verknallt sich Jasmin noch in Casper, einen angehenden Burschenschafter. Am Mittagstisch der »familie« wird Sohn Peter, wertehungriges Kind, mit seinen Fragen nach moralischer Orientierung abserviert. Zweifelhafte Antworten finden sich allzu schnell am rechten Rand, sprich der selbsternannten »Mitte der Gesellschaft«. Vati will nicht bemerken, wie Peter einen Rechtsruck nach dem anderen vollzieht, während Mutti den Hals zusehends voll hat. Bedient sind auch die Menschen, die in »philosophie« dem Hobbes’schen Chaos entkommen wollen und deswegen einen Staat errichten. Das erweist sich als nicht ganz unproblematisches Vorhaben, zumal dieser Staat als eigenwilliger, manchmal ganz unsouveräner Leviathan auftritt. Uneinigkeit und Streit zwischen Leviathan und Bürgern sind die Folge, und die Konflikte machen an den Staatsgrenzen nicht halt. Die Bürger geben sich besorgt, sind doch plötzlich lauter Fremde da. Wohin mit denen? Und wessen Wohl, wessen Schutz, wessen Würde gelten mehr? Küspert, der schon mit mensch maschine gezeigt hat, dass er komplexe philosophische Theorien mit packenden Dialogen verstricken kann, hat mit rechtes denken ein hochaktuelles Thema aufgegriffen. (4 Personen, Besetzung variabel)

Stücke mensch maschine Besetzung variabel UA: 22.9.2013 Theater Regensburg Regie: Sahar Amini pest Besetzung variabel UA: 20.11.2015 Theater Regensburg Regie: Katrin Plötner

Foto: Susanne Schleyer

Uraufführung: 18. Oktober 2015, ETA Hoffmann Theater Bamberg Regie: Julia Wissert

Konstantin Küspert, 1982 geboren in Regensburg, Studium der Germanistik, Politik, Philosophie an der Universität Wien und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Seit 2002 als Autor, Regisseur und Dramaturg am Theater aktiv, am Burgtheater Wien, Schauspielhaus Wien und HAU Berlin. Zuletzt Schauspieldramaturg am Badischen Staatstheater Karlsruhe, dort Stückentwicklungen zu NSU und NSA. Küspert lebt als Autor und Übersetzer in Karlsruhe und Berlin.

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»love, familie, philosophie« Konstantin Küspert über ›rechtes denken‹ im Gespräch mit Frauke Pahlke

Frauke Pahlke: In deinem neuen Stück ›rechtes denken‹ beziehst du dich auf Thomas Hobbes’ Schrift ›Leviathan‹. Hobbes vertritt mit der Auffassung »jeder gegen jeden« kein allzu erbauliches Menschenbild. Schließen wir uns nur aus Angst vor allen anderen präventiv zu gruppenegoistischen Notgemeinschaften zusammen? Konstantin Küspert: Ja. Ich glaube, dass der Motor der Nationenbildung genau jenes Erleben ist, jene Furcht vor anderen. Man schließt sich zu Zweckgemeinschaften zusammen, überformt das gegebenenfalls ideologisch und baut Mauern. Ob man das nun reflektiert oder nicht. Wie bist du darauf gekommen, dir diesen Text als Folie für dein Stück vorzunehmen? Ich habe nach Möglichkeiten gesucht, wie man Politische Theorie anschaulich machen kann. Da drängt sich Hobbes mit seinen biblischen Figuren geradezu auf. Haben wir keine positiven Gründe, uns zusammenzutun? Gibt es für deine Figuren auch eine andere Triebkraft, ein anderes Begehren, sich in ein Miteinander zu begeben? Ich kann mir, wie gesagt, schon vorstellen, dass das ideologisch überformt ist, als Befreiungsmoment, als Emanzipationsprozess, aber das ist nachgelagert bzw. vorgeschoben. Unterbewusst – oder der Elite bewusst – ist sicher immer der Sicherheitsgedanke ausschlaggebend. Das schließt sicheren Zugang zu Ressourcen ebenso ein wie Sicherheit vor Übergriffen anderer. Die »philosophie«-Ebene setzt ein mit einem vorstaatlichen Zustand. Dann wird der erste Staat gebildet, wird ein Leviathan gebaut und gleichsam zum Leben erweckt,

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ein ziemlich künstliches und fragiles Gebilde von zweifelhafter Souveränität, das erstaunlicherweise sprechen kann. Die Nationwerdung der zu Bürgern gewordenen Menschen funktioniert nur bedingt, was in deinem Stück hoch amüsant vonstattengeht. – Welche Konflikte tragen Leviathan und Bürger aus? Konflikte, die unvermeidlich entstehen, wenn der (vermeintliche) Wille der Mehrheit gegen den Willen Einzelner steht. Der Staat ist zwangsläufig ein eigenes Wesen; im Idealfall handelt es im besten Interesse der meisten Bürger. Da sich aber immer Einzelne nicht repräsentiert fühlen bzw. es bei manchen auch eine Differenz zwischen »want« und »need« gibt und schließlich möglicherweise der Staat auch gegen den Willen der Bürger handeln kann, wird es immer einen Richtungsstreit geben, und Personen, die das Wirken des Staats etwa in Fragen des Umgangs mit Migration hinterfragen und bekämpfen. Wie steht es um das Verhältnis zwischen dem ersten und den anderen Leviathanen, die plötzlich auftauchen? Die anderen Leviathane sind, wie bereits konzeptionell im Staat als Abgrenzung angelegt, erst mal tendenziell feindlich. Natürlich werden irgendwann wie in jeder guten Partie Risiko-Allianzen geschmiedet – die aber oft nicht sehr nachhaltig sind. »Je artifizieller seine Entstehung (des Staates), desto prekärer und hysterischer das Nationalgefühl. … Insofern setzt eine ordentliche Nationalgeschichte die Fähigkeit voraus, zu vergessen, was ihr nicht in den Kram paßt«, schreibt Hans Magnus Enzensberger in ›Die Große Wanderung‹. Kann rechtes Denken innerhalb solcher Struk-

turen, wenn wir sie einmal für Deutschland annehmen, überhaupt jemals überwunden werden? Keine Ahnung. Moderne Nationalstaaten sind weitgehend beliebig. Insofern ist so ein Nationalgefühl auch irgendwie Quatsch. Frag doch die Leute aus Niederbayern, wer ihnen kulturell näher ist: Niedersachsen oder Oberösterreich. Ich finde es lächerlich, so beliebige Nationen wie Österreich oder Deutschland zu bejubeln. Aber ich weiß nicht, ob rechtes Denken zwangsläufig an eine Nation gebunden ist. Das kann ja auch viel kleinere Strukturen betreffen, oder viel größere. Es geht um ein Überlegenheitsgefühl, und das ist eine dem Menschen immanente Schwäche. Das kriegt man nicht raus. »love«, »familie«, »philosophie« nennst du die drei Stückebenen. Inwiefern sind Liebe, Familie und Philosophie fundamentale Elemente rechten Denkens? Die Liebe zu den »Eigenen«; Familie als Keimzelle jeder Bewegung; Philosophie zur ideologischen Unterstützung, zur Erklärung und Legitimation des eigenen Handelns. Welche Erscheinungsformen rechten Denkens findest du am bedrohlichsten, welche bereiten dir am meisten Sorge? Diese antistaatlichen Bewegungen wie die so genannte Pegida oder die Alternative für Deutschland, die weite Teile der Gesellschaft ablehnen. Da wird ein Klima geschaffen des »die gegen wir«, was ein idealer Nährboden ist für Gewalt und Faschismus, legitimiert durch subjektiv erlebte Selbstverteidigung. Der Figur des Sohnes, Peter, legst du eins zu eins Zitate aus Manifesten rechter Gruppen und aus den Dresdner Thesen von eben jenen Pegida-Anhängern in den Mund und lässt diese weitgehend unkommentiert für sich sprechen. Beim Lesen entsteht Unbehagen, weil die Texte auch ungemein eloquent, rhetorisch versiert sind. Wie ging es dir damit? Ach, ich finde die lustig. Rhetorik ist ja nur dann gefährlich, wenn man sich darauf einlässt. Dann ist die Gefahr recht groß, dass man beim Zuhören denkt: Ja,

stimmt eigentlich. Aber wenn man sich die ganze Zeit vor Augen hält, dass die Personen, die das geschrieben haben, schlicht Nazis sind, dann ist man, glaube ich, nicht in Gefahr. Aber ich arbeite natürlich mit der Verführungskraft dieser Sprache, in der Hoffnung, den Rezipienten zum einen ihre eigenen Rassismen deutlicher zu machen und zum anderen die Autoren dieser Texte zu entdämonisieren. Das sind einfach nur Menschen, manche von ihnen können gut schreiben, mehr ist das nicht. Doof bleibt doof. Du stellst in dem Stück viele Stile und Tonhöhen nebeneinander, lässt sie einander überlagern, spielst mit Klischees und Brüchen, montierst Zitate unterschiedlichster Herkunft. Daraus ergibt sich eine spröde Ästhetik. Allen Figuren ist eine große Künstlichkeit gemeinsam, obwohl du auch O-Töne, also dokumentarische Elemente, einsetzt. Worin bestand der Reiz, diese »Vielstimmigkeit« zu rhythmisieren? Meine Aufmerksamkeitsspanne ist als Kind der 80er recht kurz. Deshalb habe ich eine Tendenz zu schnellen Schnitten und schnellen Wechseln. Ich langweile mich schnell. Und immer, wenn ich mich langweile, denke ich: So, jetzt reicht’s, neue Szene. Wie würdest du dein Verfahren, mit Texten aus ganz unterschiedlichen Quellen zu arbeiten, beschreiben? Text ist immer Intertext. Es gibt kein Originalgenie, keinen Menschen, der nie etwas konsumiert hat und allein aus sich heraus schöpft. Schriftstellerei, Theater, jede Kunst besteht aus der Rekombination bestimmter Einflüsse, besteht aus Intertextualität. Die dystopischen Welten, die du in deinem Schreiben entwirfst, sind Zuspitzungen jener Welt, in der wir leben. Wer alle deine Stücke liest, wird feststellen, dass sie stets mit demselben rätselhaften Nachsatz enden: »SWEET DREAMS..« Ausdruck von Zynismus oder entschlossene Aufforderung, mit Ausdauer am Besserwerden der Welt weiterzuarbeiten? Vielleicht auch einfach der Wunsch des Autors an die Rezipienten, eine gute Nacht zu haben.

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Jörn Klare Am Rand Eine Begegnung in der Türkei

Am Ende unserer Begegnung wird er mir das Benzin zeigen, mit dem er sich verbrennen will. Zwei kleine Kanister in einem Nebenraum seiner kargen Hütte. »Warum?« »Mein ganzes Leben lang war ich illegal. Ich habe genug schlechte Erfahrungen gemacht.«

Foto: Joachim Zimmermann

Wir begegnen uns im Wartezimmer einer Menschenrechtsorganisation im Osten der Türkei. Ich möchte etwas über die Situation der Kurden hier erfahren. Er hockt neben mir und spricht mich unvermittelt an. Ein schlanker, fast schmächtiger Mann, Anfang dreißig. Sein dunkelrotes Haar ist in der Mitte gescheitelt, er trägt billige Turnschuhe, ausgewaschene Jeans und ein weißes T-Shirt mit orangefarbenen Ärmeln, das für die Strände Floridas wirbt. Seine Augen sind blassgrün, die Traurigkeit in seinem Blick kann ich kaum ertragen. »Ich will dir meine Geschichte erzählen.« Später sitzen wir in einem Café, trinken Tee. Es geht um sein Leben. Seine Kindheit in Afghanistan, der Tod des Vaters, als er fünf ist, der Tod der Schwester, als er zwölf ist, der Tod des Bruders, als er fünfzehn ist. Kämpfe im Krieg und Kämpfe ohne Krieg. Raketen, Granaten, Kugeln, Messer. »Erzähl mir von deinen guten oder glücklichen Erinnerungen.« »Die gibt es nicht. Nur Tragödien.«

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Er spricht leise. An den Nebentischen sollen sie nicht hören, was er sagt. Sein Englisch ist schlecht, er hat es auf der Flucht gelernt. Immer wieder sucht er nach Worten. Er redet von der großen Nationalmoschee im pakistanischen Islamabad, der Stadt, in der seine Tante lebt. »Der erste Sex meines Lebens.« Er ist etwa fünfzehn Jahre alt, als ihm klar wird, dass er homosexuell ist. »Es war ein ganz natürliches Gefühl.« Am Anfang denkt er, dass das vorübergeht, dass er mit der Zeit so wird, wie die anderen sind. Ein Jahr vergeht und noch eins. »Ich dachte, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der so ist.« Es gibt in dieser Zeit niemanden, mit dem er offen sprechen kann. Seine Familie ist sehr religiös, sie würde ihn verstoßen oder Schlimmeres tun. Er verschließt sich. Als er seine Tante in Islamabad besucht, ist er achtzehn Jahre alt. Ein Türsteher der Moschee, in der es einen versteckten Sanitätsraum gibt, wird sein Freund und Geliebter. »War das nicht ein Moment, in dem du glücklich warst?« »Sex ist nicht Glück. In dieser Stadt hier habe ich viel Sex. Es bedeutet nichts.« Wir bezahlen den Tee und gehen in der Stadt spazieren. Es fällt ihm leichter zu sprechen, wenn wir uns nicht in die Augen schauen. Ein Jahr nachdem er aus Pakistan zurückgekehrt ist, schließt er die Schule ab, verlässt

Jörn Klare, geboren 1965, schreibt Features, Reportagen (u.a. für den Deutschlandfunk und Die Zeit), Sachbücher und Theaterstücke. Klare erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Viel diskutiert wurden seine Sachbücher Was bin ich wert? Eine Preisermittlung (Suhrkamp, 2010, wurde 2014 verfilmt) sowie Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand. Vom Wert des Lebens mit Demenz (Suhrkamp, 2011).

seine Heimatprovinz, studiert in der Hauptstadt Kabul. Es herrscht Krieg und die Universität ist zu großen Teilen zerstört. Er hat heimliche Beziehungen zu älteren Männern, die meisten sind verheiratet, einer ist Arzt, ein anderer Armeeoffizier. Dann erobern die Taliban die Stadt, die Universität schließt, und jeden Freitag werden auf öffentlichen Plätzen Menschen aufgehängt, weil sie homosexuell sind. Er kehrt in sein Dorf zurück und begegnet einem schönen, jungen Mann. »Er flirtete mit anderen Jungen, die ihn wütend abwiesen. Ich dachte nicht, dass er sich für mich interessiert. Doch dann probierte er es auch bei mir.« Nach einigen Wochen wird ein Onkel misstrauisch, sie müssen fliehen. Kurz schaut er mich an, wir sitzen am Ufer eines großen Sees, dann starrt er auf sein billiges, aus bunten Schnüren geflochtenes Armband. Seit jenem Tag hat er seine Mutter, die ihn gegen alle Verdächtigungen und Anschuldigungen verteidigte, nicht wiedergesehen. Sie kennt die Wahrheit nicht. »Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden.« Schweigen. Wir stehen auf, gehen weiter. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nach einer Weile spricht er von seiner Flucht. Von ihrem Dorf aus laufen die beiden jungen Männer Richtung Iran, ein Schmuggler bringt sie über die Grenze und lässt sie die 100 Dollar, die er verlangt, zwanzig Tage lang abarbeiten. In Teheran schlagen sie sich mit

Gelegenheitsjobs durch. Niemand merkt, dass sie ein Paar sind. »Aber war das nicht so etwas wie Glück?« Er schüttelt den Kopf. »Ständig sprach er davon, ein Mädchen zu heiraten, nannte mich nutzlos und sagte, dass er mich gar nicht will.« Als Afghanen werden sie von den Iranern abgelehnt, immer wieder hören sie, dass sie den Einheimischen die Arbeit nehmen und in ihre Heimat verschwinden sollen. »Dort habe ich mich sehr fremd gefühlt.« Er hofft auf ein freies Leben in Westeuropa und zieht allein weiter. Mit Hilfe von Schleusern schafft er es nach Istanbul, die Polizei greift ihn auf, schafft ihn wieder an die iranische Grenze, zwingt ihn, nachts durch die Berge Richtung Osten zu gehen, wo ihn iranische Polizisten aufgreifen und wieder zurückschicken. »Ich sagte ihnen, dass ich aus Afghanistan bin. ›Nein‹, sagten sie, ›du bist aus der Türkei in unser Land gekommen. Dahin sollst du zurück.‹« Das ist der einzige Moment unserer Begegnung, in dem er so etwas wie ein Lächeln zeigt. Ein paar Monate später ist er wieder in Istanbul, dreimal scheitert er bei dem Versuch, weiter in den Westen zu kommen. Dann gibt er auf und bittet das UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, um Hilfe. Da er aus dem Iran gekommen ist, schicken sie ihn wieder

Stücke Du sollst den Wald nicht vor dem Hasen loben 2D UA: 28.1.2015 Staatstheater Karlsruhe Regie: Katrin Plötner Der frühe Hase fängt die Axt 2H UA: 10.4.2015 Staatstheater Nürnberg Regie: Kathleen Draeger

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in diese Richtung zu einer Außenstelle in den Osten der Türkei. Gut 100 Kilometer sind es von hier bis zur iranischen Grenze. Seit zwei Jahren wartet er auf eine Entscheidung oder auch nur auf irgendein Zeichen, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. Er bekommt keine Unterstützung, keine medizinische Versorgung und darf nicht arbeiten. »Manchmal trage ich Frauenkleider.« Als er sich das erste Mal für Sex bezahlen lässt, gibt ihm der Mann umgerechnet elf Euro. »Zuerst wollte ich das nicht.« Eine iranische Transsexuelle hat sie zusammengebracht. »Sie selbst mag nur die Jungen, ich mag nur die Älteren. Wenn die ihr folgen, sage ich, dass sie bei ihr keine Chance haben, und frage, ob sie vielleicht mich wollen.« Seine Kunden sind Türken und Kurden aus allen Gesellschaftsschichten. Zwei oder drei in der Woche. Mehr will er nicht. »Es kostet zu viel Kraft. Ich bestehe darauf, dass sie auch mich befriedigen. Es geht ja auch um Liebe. Ich will sie wirklich sehr, aber sie kommen nur ein- oder zwei- oder dreimal zu mir. Keiner will eine Beziehung.« Manchmal verprügeln sie ihn. Auf Kondome verzichtet er, vor dem HI-Virus hat er keine Angst. Er hat dieses Leben ohnehin satt. »Und deine Kunden?« »Die meisten sind Familienväter. Einige fragen, ob ich auch Beziehungen zu anderen Männern habe. Ich sage, dass ich nur sie liebe.« Wir sind an seiner Hütte am Stadtrand angekommen. Ein kahler Raum, auf dem Betonboden liegt eine Matratze, er setzt sich darauf, bietet mir einen Plastikhocker an. Andere Möbel gibt es nicht. Die Länder in Westeuropa haben hart für ihren Lebensstandard gearbeitet, sagt er, und er versteht, dass sie das für sich getan haben und nicht für den Rest der Welt.

»Wenn, dann wollen sie gut ausgebildete Flüchtlinge oder welche mit viel Geld. Leute wie mich wollen sie nicht. Ich würde sie belasten. Selbst wenn ich es zu euch schaffen würde, glaube ich nicht, dass ihr mich akzeptiert. Das ist unmöglich.« Er will kein Illegaler und kein Fremder mehr sein. Zu lange ist er dem Glück oder einer Idee von Glück hinterhergerannt, als dass er noch daran glauben könnte. Er plant eine letzte Aktion, sie soll vor dem Büro des UNHCR stattfinden, das ihn so schlecht behandelt hat, wobei die dort doch wissen müssen, wie es Homosexuellen in Afghanistan ergeht. Er denkt an ein Fanal. »Du kommst mir wie ein Selbstmordattentäter vor.« Er nickt, als wäre es ein Kompliment. »Ja, aber die töten sich selbst, um möglichst viele andere Menschen mit in den Tod zu ziehen. Ich will es tun, um anderen zu helfen.« Ich will ihm Geld geben, das er ablehnt. Er will, dass ich seine Geschichte weitererzähle. Ich biete an, ihm zu helfen, wenn er es bis Deutschland schafft. Er schüttelt den Kopf. Er will nicht mehr nach Deutschland. Bevor ich gehe, will er mir im Nebenraum noch etwas zeigen.

Die Recherchen für seine Reportagen haben Jörn Klare, neben der Türkei, bereits in über 30 Länder geführt. Dauerhaft beschäftigt ihn der Begriff »Heimat« (im Frühjahr 2016 wird sein Buch »Nach Hause gehen« erscheinen), der auch das Thema seines neuen Monologes, »Melken«, sein wird: »Wie soll man ›Willkommen‹ sagen, wenn man selbst nicht mehr die Heimat hat?«, fragt darin ein alter Mann aus dem Osten Deutschlands. Das Dorf, in dem er lebt, ist so gut wie ausgestorben, doch seit einigen Tagen sieht er vor seinem Fenster fremde Menschen und blickt zurück auf sein Leben.  

»Er will kein Illegaler und kein Fremder mehr sein. Zu lange ist er dem Glück oder einer Idee von Glück hinterhergerannt, als dass er noch daran glauben könnte.«

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Thomas Köck Isabelle H. geopfert wird immer

Daniel C. hat es nicht leicht. Gerade zurückgekehrt vom Einsatz in einem der vielen Krisengebiete dieser Welt, deutet sein Umfeld zu Hause seine Kriegserfahrungen als posttraumatische Störung. Der Auslandseinsatz muss ja schließlich seine Spuren hinterlassen haben (auch wenn Daniel ganz anders darüber denkt). Was ihm dort aber wirklich widerfuhr, kann niemand auch nur ahnen. Auf einer Raststätte trifft er schließlich eine Anhalterin, eine Geflüchtete. Sie nennt sich Isabelle Huppert und wird von der Polizei gesucht. Nun kann Daniel endlich den Helden spielen, der er immer sein wollte. Und die Grenzen zwischen Opfer und Täter beginnen zu verwischen … Auf unterschiedlichen Erzählebenen entwickelt Thomas Köck ein packendes, fast absurd erscheinendes

Roadmovie, spielt mit den Klischeevorstellungen vom Krieg, von Misshandlung, von Flüchtlingen, Menschentransporten und Grenzbeamten. Sein Stück besticht durch sein Gespür für erschreckend aktuelle Themen, den hohen Grad an sprachlich-theatraler Gestaltungskraft, nicht zuletzt aber auch durch seinen schwarzen Humor. Ein Kommentar zur vom Scheitern bedrohten europäischen Flüchtlingspolitik. Und eine Hommage auf eine große Schauspielerin, die gerade in der Darstellung von Schrecken und Leid zu ihrer wahren Größe findet. (2 D, 2 H)

Uraufführung: 7. Januar 2016, Pfalztheater Kaiserslautern, Regie: Ingo Putz

Thomas Köck, 1986 in Steyr, Oberösterreich, geboren. Sozialisiert durch Musik, studierte er zunächst in Wien und Berlin Philosophie und Literaturwissenschaften, seit 2012 Studium des Szenischen Schreibens an der Universität der Künste in Berlin mit Aufenthalt am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. Mit jenseits von fukuyama gewann Köck den Osnabrücker Dramatikerpreis 2014. Im Februar 2015 erhielt Köck für sein Stück Isabelle H. (geopfert wird immer) den Stückepreis des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises, verbunden mit einer Uraufführung am Pfalztheater Kaiserslautern. Er erhält das ThomasBernhard-Stipendium 2015 am Landestheater Linz und das Wiener Dramatikerstipendium. Das Stück paradies fluten (verirrte sinfonie) war eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt 2015. In der Spielzeit 15/16 ist Köck Hausautor am Nationaltheater Mannheim.

Stücke jenseits von fukuyama 3 D, 2 H UA: 17.5.2014 Theater Osnabrück Regie: Gustav Rueb

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Klimatrilogie paradies fluten

paradies hungern

verirrte sinfonie teil eins der klimatrilogie

teil zwei der klimatrilogie

Wassermassen gleich dringen die Worte und Bilder auf uns ein, die Thomas Köck im ersten Teil seiner ›Klimatrilogie‹ entwirft. Sind es Fluten aus dem Paradies, die hier anrollen als Fluch, Rache oder Segen für die Erde? Oder wird gar das irdische Paradies selbst geflutet, unbewohnbar gemacht? Sprachgewaltig und von melancholischer Komik durchsetzt, schlägt der Autor virtuos einen Bogen von der Frühphase der Globalisierung bis ins Heute: vom Kautschukboom des späten 19. Jahrhunderts, dem ganze Landstriche und Völker zum Opfer fallen, über den wahnwitzigen Export bürgerlicheuropäischer Kultur durch den Bau des Opernhauses Teatro Amazonas, bis hin zur Geschichte einer Tänzerin, die die nackte Gewalt der heutigen Arbeitswelt – voll flexibilisiert, auf Projektbasis und im Selbstmarketing – zu spüren bekommt. Werden die Fluten das letzte bisschen Menschlichkeit dieser Erde wegspülen wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer? Ein Stück für u. a. ein ertrinkendes Tanzensemble, ein erschöpftes Symphonieorchester, zwei Überlebende in Klimakapseln und eine durchschnittliche weiße mitteleuropäische Familie. (Besetzung variabel) Für paradies fluten erhält Thomas Köck den Kleist-Förderpreis 2016.

Sind es im ersten Teil der Klimatrilogie große, global erfahrbare Strömungen, die zu sozialen, ökonomischen und ökologischen Verwerfungen führen, so begegnen wir im zweiten Teil der Trilogie mit Ben, Maggie und Caro drei Menschen, die hungern und dürsten nach Kommunikation, Gemeinschaft, Zwischenmenschlichkeit. Ben, dessen Einsamkeit letztlich das Misstrauen seines Nachbarn erregt, bis dieser schließlich die Polizei auf ihn hetzt. Maggie, die sich von der Peripherie in die Mitte der Stadt vorgearbeitet hat, aber in der Angst lebt, wieder an deren Rand gedrängt zu werden. Und schließlich Caro, die als Kriegsreporterin in einem Luxushotel in der Wüste festsitzt und auf der Suche ist nach dem einen Bild, der einen Story. Die drei Orte des Stücks – Wüste, verödete Großstadtperipherie und die leere Wohnung – werden so zu Schauplätzen der Vereinzelung angesichts der Erfahrung des Verlusts gesellschaftlicher Utopien. Wir begegnen Menschen, die aufgrund ihrer traumatisierenden Erlebnisse mit Bilderfluten in ihren Köpfen konfrontiert sind, deren Gewalt mit Sprache nur schwer beizukommen ist. (2 D, 1 H) Uraufführung: 24. Oktober 2015 Hessisches Landestheater Marburg, Regie: Fanny Brunner Am dritten Teil der Klimatrilogie schreibt der Autor.

Koproduktion Staatstheater Mainz, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Kleist Forum Frankfurt/O. Uraufführung: 2. Juni 2016, Recklinghausen September 2016, Staatstheater Mainz

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Paul Brodowsky Kapillare Weltzusammenhänge Zu Thomas Köcks Theaterstücken

Vor dem Fenster steht ein Baum. Sagen wir eine Linde. Dieser Baum ließe sich besingen, man könnte von den Menschen erzählen, die ihre Namen in seine äußere Rindenstruktur ritzten, von den Kindern, die unter der Krone nach Ästen suchen, um Krieg zu spielen mit hölzernen Handfeuerwaffen. Man könnte den Baum, sagen wir einen Ahorn, auch als Teil des öffentlichen Raumes beschreiben, gepflanzt und gehegt mit Steuergeldern, reguliert und beschnitten, um Doppeldeckerbusse und Sattelschlepper voller Warentermingüter berührungsfrei unter sich passieren zu lassen. Man könnte den Material-, den Brennwert dieser Esche taxieren. Man könnte Fotos von der Ulme schießen und zur Not die Kontraste auf den Bildern hochfahren. Oder im Smartphone den Sepiabutton antippen und erzählen, wer an den Ästen dieser Eiche vor siebzig, vor achtzig Jahren aufgeknüpft wurde. Man könnte den Baum, einen Ginko, als Naturereignis feiern, seine Vergänglichkeit, seine zyklische Ruhe beschwören, man könnte ihn reappropriativ mit einem Wollschal umstricken, dann kämen andere vorbei und rissen Witze über den Wollschal, der den Baumhals wärmt, einfach nur, um die Zeit totzuschlagen. Oder man könnte trocken feststellen, dass diese japanische Zierkirsche im langjährigen Mittel von Jahr zu Jahr früher blüht und später ihre Blätter abwirft. Thomas Köck würde den Baum, eine balkanische Rosskastanie in voller Blüte, vermutlich vor unseren Augen ausreißen und vor uns in die Luft halten. Und zwar so, dass wir einen Moment lang in den Abgrund schauen dürften, in den Erdtrichter unter seinen Wurzeln: Fernsehkabel und Fernwärmeleitungen, Wurmfraß und Zivilisationsschrott. In einer

atemberaubenden Kamerafahrt würde unser Blick an Haarwurzeln und Rhizome herangeführt, bis sich diese Mikrokosmen in ihrer spannungsreichen Komplexität als Weltbilder vor uns auffalteten, um dann Zeuge zu werden, wie der Baum in einer einzigen raschen Bewegung verkehrt herum, Krone voran, in die Erde zurückgesteckt würde. Als Autor, zumal als Theaterautor sitzt man Tag für Tag, Satz für Satz vor einem blassblauen, leeren Screen. Die Themen, die uns alle betreffen, stehen uns bis zum Hals: die Verwerfungen eines irrwitzig entfesselten Kapitalismus, die sich im Bereich von Medien und Politik mehrenden Symptome einer postdemokratischen Gesellschaft, die Klimakatastrophe, das Elend der Geflüchteten, der jeweils eigene und im Vergleich zu den jetzt schon genannten Themen triviale, aber immer wieder heimtückisch in die Kniekehlen schlagende, tief im Hirn verankerte neoliberale Hang zur Selbstoptimierung und Selbstausbeutung. Hier jetzt Unterbrechung: Ich muss mal nur kurz ein paar Mails beantworten, dann bin ich gleich mit einer Kollegin, die vorgestern eine katastrophale Premiere hatte, bei Kimchi Princess zum Mittagessen verabredet, wir haben allerdings nicht viel Zeit, später schnell die Kinder aus der Kita holen, diesmal bitte möglichst ohne Geschrei vor der grauhaarig-depressiven Verkäuferin Kinderwinterschuhe kaufen, es hat tatsächlich geschneit am Wochenende. Das Problem an den großen, weltumspannenden Krisenthemen ist: Sie sind auf den ersten Blick zutiefst untheatral. In ihrer Komplexität meint man ihnen eigentlich nur mithilfe soziologischer Studien oder kulturkritischer Essays zu Leibe rücken

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zu können. Oder sie unterfliegen zu müssen, wie es wahlweise der anheimelnde Featurejournalismus beziehungsweise die aufmerksamkeitsökonomisch zugespitzte, sensationshungrige Echtzeitmedienmaschine tagtäglich für uns tut. Sich als Theaterautor aus diesen immer weiter hereintickernden Gewöllebergen herauszuschlagen ist auch deshalb keine leichte Aufgabe, weil es uns – zumindest auf den ersten Blick – gut geht: Wir leiden keinen Hunger, wir leben in keiner Diktatur, genießen weitreichende Freiheiten. Untheatral sind diese Zusammenhänge zudem deshalb, weil sie sich kaum personalisieren lassen: Wenn PeterLicht einen Abgesang auf »den Kapitalismus, den alten Schlawiner« einsingt, ist das vor allem das ironische Eingeständnis der Ungreifbarkeit dieses übermächtigen Gegners. Die verheerenden Brüche und Fehlleistungen unseres Weltzusammenhangs hat niemand persönlich zu verantworten, sie sind systemisch, liegen begründet in der eingeimpften Mikrophysik unseres Denkens oder in transnationalen Strukturen, in, wie es so schön heißt: Sachzwängen, die wir meist schnell als alternativlos, als kleinstes aller denkbaren Übel anzusehen bereit sind. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen eine bühnentaugliche, subjektzentrierte Sprechposition zu behaupten, scheint mindestens heikel. Nicht ohne Grund haben die relevanteren Dramatiker der letzten Jahre, also etwa René Pollesch, Kathrin Röggla und Elfriede Jelinek, Figuren in ihren Texten von der Bühne weitgehend verabschiedet, um sich mit unterschiedlichen Mitteln (und wechselndem Erfolg) der textflächigen Untersuchung von Diskursen zuzuwenden. Und nicht ohne Grund fallen Zuschauern, Lesern und Theaterkritikern von Thomas Köcks Texten diese drei Autoren

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ein, wenn sie seine Stücke lesen oder sehen – man merkt Köcks Texten an, dass er diese Postdramatiker emphatisch rezipiert hat. Zugleich gehen Köcks Texte aber einen Schritt weiter. Sein hochdekoriertes Debütstück trägt den programmatischen Titel jenseits von fukujama: Köcks Texte sind bevölkert von Rudimentfiguren, Gespenstern eines subjektzentrierten Sprechens. Typisch dafür sind die exzessiven Chor- und sprecherlosen Spiegelstrichpassagen, aus denen sich aber immer wieder individualisierte Sprechpositionen herauskristallisieren. Als Symptom dieser auswuchernden Figurationen lassen sich etwa die absurden Sprecherbezeichnungen lesen: »EINIGE BEZAHLTE JUNGSPUNDE DER CLUB DER UNSICHTBAREN HAND SCHLÄGERBANDEN JETZT ÜBEREINANDER HERFALLEND WIE DIE RATTEN WÄHREND DIE GUMMIBARONE ERLEICHTERT ZUSCHAUEN AUF DEN STRASSEN WIEDER BLUT DIE PRESSE IST ENTSETZT IM DSCHUNGEL TERROR KRIEG WILDE UND DIE BEDROHUNG EUROPAS GIFTGASWAFFEN WERDEN SCHON GESUCHT bei aufständen in den kautschukwäldern rund um manaus kam es zu den schwersten zusammenstößen von sicherheitskräften und terroristischen kräften seit der geschichte der kolonialisierung […]« Eingemischt sind aber auch immer wieder stärker konturierte Figuren, durch die Weltgeschehen und Persönliches wie durch einen lebensgroßen Liveticker gefiltert werden:

»eine tänzerin dreht jetzt alleine auf einer bühne

ihre runden sie dreht mehrere auf einmal fällt stolpert steht aber sofort wieder auf und wiederholt alles noch einmal in großbritannien ziehen die herbeiprognostizierten werte für jugendarbeitslosigkeit tiefe gräben durch die gesellschaft die dort nicht existiert vor afrika ist ein schiff mit zweitausendfünfhundert containern voller macbooks gekentert fischer sammeln jetzt die teuren elektronischen sonderteile ein tauchen ohne ausrüstung in lebensgefährliche tiefen apple zahlt monsterpreise aus einem versicherungsfonds der mit dem kentern des schiffs schwere schäden an der börse hinterlassen hat […] echte nacktfotos von berühmten superstars erregen weltweit aufsehen die tänzerin kann nicht mehr und überprüft jetzt ob sie neue nachrichten erhalten hat sie dehnt sich dabei manchmal lächelt sie und atmet erleichtert auf sie wiederholt ihre übung noch einmal«

hocherregten indirekten Rede von einem aberwitzigen Humor; zugleich scheint dahinter das Drama einzelner, individueller Subjekte mit ganz realen Verzweiflungen immer noch auf. Diese Gleichzeitigkeit von Ernsthaftigkeit und Ironie, von diskursgetränktem Bewusstseinsstrom und verzweifeltem Aufbegehren figurenhafter Knotenpunkte im Diskurs machen Köcks speziellen dramatischen Zugriff aus. Wenn wir jetzt aus dem Fenster schauen, sehen wir dort keinen Baum mehr, sondern einen Ausschnitt, einen kapillar verwurzelten Zipfel des Weltzusammenhangs, der vor uns ausgebreitet worden ist, den wir jetzt durchdrungen und neu, anders, überraschend begriffen haben. Paul Brodowsky schreibt Prosa und Dramatik; seine Prosa erscheint im Suhrkamp Verlag. Er unterrichtet Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin im Rahmen einer Professur für »Dramentechnik«.

Hier werden individuelles Bewusstsein, also die konkrete persönliche Situation, mit realen – aber auch mit aberwitzig-erfundenen – massenmedialen Ereignissen in einem beinahe Joyceschen stream-of-consciousness ansatzlos miteinander verschleift. Wir unterbrechen den Text für einen kurzen Schlagabtausch mit dem stellvertretenden Chefredakteur der Welt-Gruppe, dessen selbstgefällig-xenophober Facebookpost zur aktuellen Flüchtlingskrise nicht unkommentiert stehen gelassen werden konnte. Diese gebrochenen Figurensprechpositionen wirken zugleich hochgradig komisch, auch und gerade weil sie wie ein permanenter Kommentar auf das alte figurenzentrierte Sprechen daherkommen. Die Vater-Mutter- und Mutter-Tochter-Dialoge in paradies fluten sind in ihrer vor Ausrufezeichen strotzenden,

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Mehdi Moradpour studierte Physik und Industrietechnik in Nur und Qazvin, Iran. 2001 flüchtete er nach Deutschland. Er hat in Leipzig und Havanna Hispanistik, Amerikanistik und Arabistik studiert. Er lebt als Autor, Übersetzer und Dolmetscher für Persisch und Spanisch in Berlin. 2013 war er mit reines land für den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik nominiert. 2014 wurde er in den Lehrgang Forum Text an der UniT Graz aufgenommen. 2015 bekam er den Jurypreis des 3. Autorenwettbewerbs der Theater St. Gallen und Konstanz für mumien. ein heimspiel. Sein Musiktheaterstück chemo brother wird am 30. April 2016 an der Deutschen Oper Berlin Premiere haben. 46 Foto: Neda Navaee

NEU IM THEATER VERLAG INGRID L AUSUND

Mehdi Moradpour türme des schweigens Sperber kann schweigen. Er hat seine Habichtaugen geschlossen und spricht nicht mehr. Sein Koma hat ihn in ein schützendes Schweigen gehüllt, die grellen Licht- und Tonsignale des Krankenhauses legen sich als Dämmschicht zwischen ihn und seine ungelösten Beziehungen. »warum hast du mir immer die weltgeschichte erzählt, aber nicht darüber, wer du bist? und wer ich?«, fragt ihn seine älteste Tochter Dana. Mit ihr war seine Frau Sepi schwanger, als Sperber gefoltert wurde – und schwieg. Sepi und Sperber haben sich im politischen Widerstand kennengelernt. Und noch immer sind sie, die beiden Lebensextremisten, über ihre Liebesgeschichte und ihre Töchter miteinander verbunden. Obwohl das Unsagbare am Erlebten sie einander zunehmend fremd macht. Sepi entlässt ihre Gefühle, ihren Kopf und ihren Körper in eine leidenschaftliche Beziehung zu dem Proktologen Veit, der in sie hin-

einhorcht und -forscht. Für Dana wird der geknebelte Lustschrei beim Sex mit ihrer Freundin Jenny zum Entlastungsmoment aus allem Verschwiegenen. Und Tana, die jüngere Tochter, nimmt überhaupt nur vorsichtig und stotternd Kontakt auf zu ihrer Familie und empfängt lieber akustische Signale aus der Tierwelt. In türme des schweigens umkreist Mehdi Moradpour die Gefühlswelt und Beziehungskonstellation einer Familie, in der die unaufgearbeiteten politischen Erfahrungen der Eltern auch das Leben der Töchter in Beschlag nehmen. Wie ein Tinitus, der alle stetig durchdringt. Moradpour formiert seine Figuren in eine immer hermetischere Konstellation und strenge Komik, bis sie nicht mehr anders können, als miteinander in Verhandlung zu treten, um die Last des Schweigens offensiv zu teilen. (3 D, 2 H) Frei zur Uraufführung

mumien. ein heimspiel Alle haben sie eine Art Beziehung zu Mamal. Zu Mamal, dem ehemaligen Angehörigen des Paramilitärs, dem Soldaten, dem Folterer vom Dienst, dem Gefolterten, dem Geliebten, dem Fluchthelfer, dem »scheinschwulen Kommunistenaraber«, dem Flüchtling. Nur ist Mamal jetzt verschwunden. Nicht mehr auffindbar in dem und um das Heim für Asyl und Soziales, in dem er gerade noch offiziell gelebt hat und das die Drehscheibe ist in diesem Stück. Zurück bleiben lose Beziehungsstränge, die in die Gespräche der Zurückgebliebenen hineinragen und neu verknüpft werden auf der Suche nach der Geschichte, die sich ereignet hat. Und dabei fliegen neue Geschichten auf, die sich mal manifest, mal andeutungsweise zwischen Mehdi Moradpours Figuren ereignen: zwischen Otto, dem Heimleiter, der in einer Lebenspartnerschaft mit dem ehemaligen Heimbewohner Davoud eingetragen ist. Davoud, kurz Dud, wiederum ist in eine Affäre verstrickt mit Ada, die sich in eine Ehe mit dem fast verstummten

Computerspezialisten Pep nach Europa gerettet hat. Um sie alle kreist Viv mit ihren einladenden Augen, eine Sozialforscherin mit Vorliebe für Taxidermie und Mumifizierung. Szene für Szene seziert Mehdi Moradpour mit seiner poetischen, hoch sensiblen Sprache als Werkzeug einen Körper von außen nach innen, vom Leib bis in die Blutkörperchen. Einen Erzählkörper, der alle Figuren – ihre Sehnsüchte, ihre Suche nach Anschluss – miteinander verbindet. Dabei gelingt es ihm, Zusammenhänge zu eröffnen, ohne eine Version dominant werden zu lassen. Die Wahrheit über Mamals plötzliches Verschwinden und die Frage, wie sich Flucht in die Körper und ihre »Wertigkeit« einschreibt, werden dabei immer komplexer. Und das Verschwinden geht weiter. (2 D, 3 H) Uraufführung: 9. April 2016, Theater Konstanz / Schweizer Erstaufführung: Juni 2016, Theater St. Gallen Regie: Andreas Bauer

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»Von der Wunde leben« Mehdi Moradpour über ›türme des schweigens‹ im Gespräch mit Miriam Denger

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Mehdi Moradpour, in Ihrem neuen Stück schreiben Sie über den missglückten Versuch von Menschen, miteinander und mit der Welt in Verbindung zu treten – über Eltern, die daran scheitern, ihren Töchtern von früher zu erzählen. Zu Beginn des Stücks hat diese Stille eine extreme Form angenommen: Sperber, der Vater, liegt im Koma. Wie lässt sich für das Schweigen eine Sprache finden? Es gibt eine Schnittstelle zwischen dankbarem und quälendem Schweigen. Ich habe versucht, aus dieser Schnittstelle heraus eine Sprache zu finden. Ich arbeite oft mit ungewöhnlichen Metaphern, die nicht organisch sind, mit Strukturen von Sprachstörungen, mit Anakoluthen, also Satzbrüchen, oder komprimierter Sprache. Als wir den Text mit Schauspielern zusammen ausprobierten, fanden wir heraus, dass er sich wie Schaum anfühlt: ein Sprachschaum, in den man mit der Hand hineingreift und den man doch nicht ganz zu fassen bekommt.

idee, die ich für das Stück hatte, war ein Mann, der politischer Gefangener war und nun im Koma liegt. Ich kannte und kenne noch Menschen, die gefoltert wurden, oder deren Eltern oder Familienangehörige, zum Beispiel als linke oder islamisch-reformistische Gegner der Regierung nach der iranischen Revolution 1979.

Sperber und seine Frau Sepi lernten sich im Widerstand der kommunistischen Minderheitenbewegung kennen. Während Sepi mit Dana schwanger war, wurde Sperber im Gefängnis gefoltert. Er schweigt darüber, und auch Sepi verschweigt eine Gewalterfahrung. Das, wovon geschwiegen wird, scheint aber in den Körpern zur Wiederholung verdammt. Die Traumata werden an die nächste Generation weitergegeben. Aus den besten aller möglichen Handlungsgründe werden durch Folter und Gewalt Störungen erzeugt, die sich permanent reproduzieren können. Manche durchbrechen diesen Quasikreislauf, andere nicht. Die Ausgangs-

Bereits vor ein paar Jahren schrieben Sie, die Thematisierung von Migrationskulturen auf dem Theater solle weniger zu exotischer Abendunterhaltung, Pflichtprogrammen oder Betroffenheitsritualen führen, sondern zur Selbstverständlichkeit eines politischen Theaters. Sind wir heute einen Schritt weiter? Das Theater kann die erweiterte Themenvielfalt aufgreifen, Partizipation fordern, aber genauso mit neuen Formen experimentieren. Meine Lesart von Hans-Thies Lehmanns »Unterbrechung des Politischen« ist aber die einer Unterbrechung des Mainstream-Politischen. Auf den Bühnen sehe ich Abbildungen der politischen All-

Wir haben uns für dieses Gespräch auf Schloss Retzhof in der Nähe von Graz getroffen. Nur wenige Kilometer von uns entfernt liegt die Grenze zu Ungarn, 40 000 Menschen sind in diesem Moment unterwegs nach Deutschland. Jeder einzelne dieser Menschen ist eine notwendige Bereicherung. Mit jedem geflüchteten Menschen, der hierherkommt, wird auch das wichtig, was Menschen schon erlebt haben, die hier bereits leben. Offensichtlich gehen wir zurzeit geradewegs in die Wunde hinein, es ist ein großes Potenzial vorhanden, um vieles bewirken zu können.

tagsreden. Diese Art von Theater wiederum kann nur im Sinne einer möglichst großen Heterogenität notwendig sein. Denn das einzig Absolute, an das ich glaube, ist die Heterogenität. Es soll so viele verschiedene Bestandteile geben, dass wir in ihnen verloren gehen! Das ist gut, weil wir dann automatisch neue Gemeinschaften bilden, weil wir jegliche Identität als herrschaftsgebende Form auflösen können und uns neue Splitter suchen. Und das kann eben in dieser Wunde passieren, in dieser Wunde namens Deutschland. Ihr Text enthält viel Unverdauliches. Sepis Liebhaber ist Proktologe, er will sie heilen. Kann es für die Figuren dieses Stücks so etwas wie Heilung geben? Ich glaube generell nicht an das Konzept einer möglichen Heilung. Für mich steckt ein unerreichbarer Absolutheitsanspruch darin. Heilprozesse gibt es, aber sie sind nie vollständig abgeschlossen, und es wäre auch nicht gut, wenn gewisse Wunden völlig geschlossen würden. Es geht darum, mit den Resten leben zu können, statt diese integrieren zu wollen. Warum braucht es den Proktologen als Figur im Stück? Falls Sepi sich überhaupt noch einmal verlieben kann, dann nur in ihn. Wenn sie überhaupt noch einmal Lust empfinden kann, dann nur noch bei jemandem, der ihre chronische Verstopfung zu »heilen« versucht oder verbessert, also der, der mit dem zu tun hat, was verdaubar ist. Der Proktologe hat eine ähnliche Funktion wie die Geier im Totenkult der Zarathustrier. Diese Vögel hacken das Fleisch von den Knochen der Toten, die auf den sogenannten Türmen des Schweigens liegen. Der Proktolo-

ge kann diese Leichenteile sozusagen verdauen und so wieder in einen Kreislauf bringen. Auch eines Ihrer nächsten Stücke, »mumien. ein heimspiel«, wird ein Beziehungsgeflecht aus Abhängigkeiten beschreiben, eine Gruppe von Menschen, die sich um eine Leerstelle herum organisieren, um einen Riss im Gewebe, um offene Wunden. Woher stammt Ihre Faszination für das Bild der Wunde? Theater gleicht einer rhizomatischen Vampirmaschine, die Exzessivität, aber auch absolute Reduktion nicht ausschließen muss. Es ist ein künstlerisches und soziales Laboratorium, das Wunden braucht und sie auch erzeugen kann, um sich im Sterben zu üben, wie es Susanne Kennedy nennt, und genauso, um sich im Leben zu üben. Die Wunde ist ein idealer Ort. Für Nietzsche ist es die Wunde, die uns zwingt zu leben. Es gibt wahrscheinlich Menschen, die besser von den Verkrustungen leben, und Menschen, die vom Inneren der Wunde leben. Ich empfinde eine große Lebendigkeit darin, von der Wunde zu leben. Das Interview ist erschienen in »Theater der Zeit« 10/2015 und ist hier in gekürzter Version wiedergegeben.

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Christoph Nußbaumeder Margarete Maultasch Drama in 5 Akten

Foto: Susanne Schleyer

In die politischen Unruhezeiten des 14. Jahrhunderts entführt uns das neue Stück von Christoph Nußbaumeder und greift die historische Rolle der legendären Margarete von Tirol auf, um daraus ein sehr heutiges Drama um Macht und Moral entstehen zu lassen. Als junges Mädchen zwangsverheiratet, körperlich und seelisch vergewaltigt, eingespannt in wechselnde politische Planspiele, gelingt Margarete die zeitweise Selbstbefreiung. Sie nutzt ein Machtvakuum, sucht sich einen jüdischen Gelehrten als Berater und beginnt zu regieren. Ihr Land öffnet sich in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Bis die Pest alle Pläne durchkreuzt und der kurzen Blüte ihrer Regentschaft ein jähes Ende bereitet. Die alten Mächte erlangen neuen Schwung und bringen Margarete in immer stärkere Bedrängnis. Sie verhärtet sich und wird zu einer Funktionärin der Macht. Eine späte, unerwartete Liebe droht ihr das Herz

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zu brechen. Widerstrebend entscheidet sie sich für die Staatsräson und muss doch das Scheitern all ihrer Träume erleben. Über drei Jahrzehnte spannt sich der dramatische Bogen dieses großen Stückes. Lion Feuchtwangers Prosaporträt einer hässlichen Herzogin setzt Nußbaumeder die Figur einer modern wirkenden, selbstbewussten und schönen Frau entgegen, die sich vielfältiger patriarchaler Intrigen und Zumutungen zu erwehren weiß, die aber zeitlebens im Konflikt zwischen Macht- und Herzensanspruch gefangen bleibt. (3 D, 13 H, Doppelund Mehrfachbesetzung möglich) Margarete Maultasch ist ein Auftragswerk der Tiroler Volksschauspiele Telfs. Bis zu der dort geplanten Inszenierung des Stückes im Sommer 2018 ist die Uraufführung des Stückes frei.

Christoph Nußbaumeder, 1978 im niederbayerischen Eggenfelden geboren, ist Dramatiker und Autor. Nach Abitur und Zivildienst arbeitete er in einer Automobilfabrik in Pretoria/ Südafrika und studierte Rechtswissenschaften, Germanistik und Geschichte in Berlin. Seine Stücke wurden u.a. bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, an der Berliner Schaubühne, am Schauspielhaus Bochum und am Schauspiel Köln uraufgeführt. Christoph Nußbaumeder lebt in Berlin.

Alles, was passiert Christoph Nußbaumeder – Notizen zum eigenen Schreiben

Vor meinem Haus hat sich ein kupferfarbener Teppich über den ganzen Platz hinweg ausgebreitet, und vom Asphalt sieht man nur noch kleine schimmernde Inseln. Schön sieht das aus. So lange, bis der Regen kommt, dann wird aus dem Laubwerk eine schlierigdunkle Masse, auf der man leicht ausrutschen kann. Ein paar Tage lang lag das Kupferfeld vor meiner Haustür. Gestern Morgen sind dann drei Arbeiter vom Bezirksamt gekommen und haben mit Laubbläsern die Blätter weggepustet. Mit ihren Overalls und ihren Geräten erinnerten sie mich ein wenig an die Ghostbusters aus den Achtzigern. Ob die Arbeiter sich auch so vorkommen, wenn sie das tun? Was sie überhaupt denken beim Laubpusten? Wie sie wohl zueinander stehen? Und wer bekommt was, wann und wie? Nach meinem Platz kommt der nächste dran. Die Blätter fallen bis aufs letzte. Am Ende der Prozedur war in der Platzmitte ein kleiner Laubberg entstanden. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch. In meinem Beruf bin ich eine Art Kommunikationsforscher. Wer als Arbeitsgerät nur eine Schreibmaschine hat, sieht in jedem Menschen eine potentielle Figur, die es von A nach B zu transferieren gilt. Und zwischen A und B kann alles passieren. Als Kommunikationsforscher weiß ich, dass Gesagtes nur einen geringen Teil

der Verständigung ausmacht. Durch Sprache habe ich nur eine begrenzte Möglichkeit der Mitteilung zur Verfügung, deswegen kann ich immer nur präzise im Ungefähren sein. Die Mitteilung selbst ist eine Mischung aus Ablauschen und Verdichtung, ein Konglomerat aus Auf-den-Punkt-Bringen und Unausgesprochenem, bestimmt durch den Informationsgehalt der Rede, aber durch den Klang der Worte. Die Info und der Sound beziehen sich aufeinander und haben bisweilen leitmotivischen Charakter. Nichtsdestotrotz muss ich die Situationen in ihrer Komplexität erfassen und sie anschaulich machen. Mich interessieren dabei Geschichten, die Figuren in den Vordergrund stellen, weniger die Handlung und ein mit ihr einhergehendes Konzept mit der Absicht zu zeigen, »was zu beweisen wäre«. Ich finde so was ziemlich öde. Auf der Bühne braucht nichts bewiesen zu werden, denn wenn ich wollte, könnte ich für alles einen Beweis konstruieren. Und ist die Figur nicht ohnehin die Determinierung von Ereignissen? Ist die Handlung nicht sowieso Folge der Figurenkonstellation, wenn man sie denn lebensdurchlässig kreieren will? Mir geht es um zugespitzte Situationen, die müssen nicht reißerisch oder spektakulär, aber doch so zwingend sein, dass sich mir die Frage aufdrängt, wie ich anstelle der jeweiligen

Stücke

Ich werde nicht sterben In meinem Bett 1D Anna Politkowskaja gewidmet Monolog für eine Frau UA: 17.5.2007 Schauspielhaus Bochum Regie: Burghart Klaußner

Mit dem Gurkenflieger in die Südsee 4 D, 9 H, Statisten UA: 3.6.2005, Landestheater Linz/ Ruhrfestspiele Recklinghausen Regie: Bernarda Horres Liebe ist nur eine Möglichkeit 5 D, 6 H UA: 17.10.2006, Schaubühne am Lehniner Platz Berlin Regie: Thomas Ostermeier

Mindlfinger Goldquell oder Wir scheißen auf die Ordnung der Welt 3 D, 6 H UA: 11.2.2006, Landestheater Linz Regie: Georg Schmiedleitner Offene Türen 2 D, 3 H UA: 5.4.2007 Nationaltheater Mannheim Regie: Christiane J. Schneider

Jetzt und in Ewigkeit 4 D, 5 H UA: 15.12.2007 Nationaltheater Mannheim Regie: Burkhard C. Kosminski

Mörder-Variationen 1 D, 4 H UA: 10.5.2008 Bühnen der Stadt Köln Regie: Florian Fiedler Terminator Ein Jugendtheaterstück 2 D, 3 H UA: 13.11.2009, Theater Essen Regie: Ines Habich

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Figur handeln würde? Ich habe eh das Gefühl, dass man erst auf sich zukommen lassen und dann eine Haltung mit allen anderen verwandt ist. Dass auch ein anderer zu ihnen einnehmen. Sie tragen vorher schon ein einin mir ist, so wie ich in allen anderen. Interessant wird deutiges Urteil in sich. Zu meinen, man könne die Welt es, wenn sich eine gewisse Identifikation mit jemandem eindeutig und absolut erklären, ist anmaßend und starreinstellt, den man im Grunde als abstoßend empfindet. sinnig beziehungsweise deshalb auch unsinnig. Leben Also den Leser/Zuschauer so weit zu bringen, dass er ist Bewegung, ist die Summe aus allem, was passiert. selbst Anteile in sich entdeckt, die nicht deckungs- Ich glaube, man muss Disziplinargesellschaften pergleich sind damit, wie man gerne wäre. Es gibt diesen manent angreifen beziehungsweise ihre schleichenden Ausweitungen sich selbst und anGedanken von Philippe Sollers, »Interessant wird es, wenn sich eine deren vor Augen führen. Und das auf den ich immer und immer wieder Bezug nehme: »Das Krite- gewisse Identifikation mit jemandem geht am eindrücklichsten, wenn man den Menschen zeigt und alrium für den Faschisierungsgrad einstellt, den man im Grunde als les, was mit ihm passiert. einer Gesellschaft ist: Je gelasseabstoßend empfindet.« Am Nachmittag ist dann noch das ner sich die Menschen in ihr vor Augen halten, dass es in ihnen auch etwas Gemeines, Nachbarmädchen gekommen. Greta ist als Prinzessin Tierisches und Schablonenhaftes gibt, desto weniger verkleidet, ihre Kita hat dem Faschingsanfang Rechnung getragen. Greta und ich kommen gut miteinander faschistisch ist sie.« Diese Dinge sind mir wichtig aufzuzeigen, im Versuch, aus. Sie versorgt mich mit Neuigkeiten aus ihrem Kosden einzelnen Menschen zu beleuchten: nachvollzieh- mos, ich kann meine Kinderbuchideen an ihr austesten. bar, widersprüchlich, geheimnisvoll, verwundbar – Im Zuge dessen habe ich sie gefragt, was sie beruflich eben so, wie er auf die Welt gekommen ist. So, wie man einmal machen möchte. Sie überlegte kurz, dann grinste ihm das immer noch ansieht, selbst wenn er dem Säug- sie mich an: »Schreiben«. Greta ist fünf und kann noch lingsalter schon längst entwachsen ist, ganz gleich, ob nicht schreiben. Nach Pizzabäckerin und Blumenverer freigeistig oder abgerichtet, ob er aufrichtig oder käuferin jetzt also Schreiben. Aha. Sie musterte mich korrupt ist. Das Faktum der Geburt und die Tatsache prüfend und war gespannt, wie ich reagieren würde. des Todes sind die größten gemeinsamen Nenner unter Ich aber ließ mir keine Reaktion entlocken, stattdessen allen Determinanten der menschlichen Existenz. Wer hakte ich ungerührt nach. »Und was willst du dann so gekommen ist, wird auch wieder gehen. Wer da ist, wird schreiben?« Sie spitzte den Mund und schaute nachnur lebenslänglich bleiben. Irgendwann bist du nichts denklich aus dem Fenster, unten sah sie zwei Kinder, weiter als ein Blatt auf einem Haufen, allen Konzepten die sich in einem fort in den Laubhaufen stürzten und zum Trotz. Ich bin grundsätzlich sehr skeptisch gegen- vor Freude lauthals johlten. »Alles, was passiert.« Sagte über Leuten, die sich nur über den Kopf Wahrheiten es und hob die Augenbrauen. Dem hatte ich nichts mehr angeeignet haben. Diese Leute können die Dinge nicht hinzuzufügen.

Die Kunst des Fallens 4 D, 5 H UA: 3.6.2010, Schauspiel Köln Regie: Katja Lauken Eisenstein 4 D, 5 H UA: 26.9.2010 Schauspielhaus Bochum Regie: Anselm Weber

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Meine gottverlassene Aufrichtigkeit 1D UA: 18.9.2012 Sophiensaele, Berlin Regie: Bernarda Horres; Anna Eger Mutter Kramers Fahrt zur Gnade 3 D, 4 H UA: 15.5.2013, Ruhrfestspiele Recklinghausen 2013 Regie: Heike M. Goetze

Die Perlmutterfarbe nach dem Roman von Anna Maria Jokl 15 Mädchen und Jungen, Doppelbesetzung möglich, ab 11 Jahren UA: 7.11.2013 Junges Schauspielhaus Düsseldorf Regie: Annette Kuß Von Affen und Engeln 3 D, 5 H UA: 13.5.2015, Ruhrfestspiele Recklinghausen in Koproduktion mit den Sophiensaelen Berlin Regie: Bernarda Horres

Das Fleischwerk 3 D, 5 H, Doppelbesetzungen möglich UA: 12.9.2015 Schauspielhaus Bochum Regie: Robert Schuster Das Wasser im Meer 4 D, 5 H UA: 13.5.2016 Landestheater Linz Regie: Gerhard Willert

Georg Ringsgwandl Der Hund, der Hund Sprechoper für ältere Frau, Hund und drei Stimmen

Eine alte Frau geht mit ihrem Hund durchs Viertel, um sie herum das Treiben des täglichen Lebens: Müllabfuhr, Gefrierkostlaster, Handwerker auf einer Baustelle. Irgendwo liebt sich ein Paar, aus einem anderen Fenster Streit, Gebrüll, Türen knallen, ein Kind weint. Das Innenleben der Wohnbebauung. Stimmen von Menschen aus der Vergangenheit, die ihr Leben geprägt haben: ihr Mann, ihr Liebhaber, Freundinnen, der Hausarzt, der Friseur, ihr verstorbener Sohn. Sie spricht mit Nachbarn, Obdachlosen, dem Hausarzt, jungen Müttern, und die realen Gespräche mischen sich mit den Stimmen in ihrem Kopf. Ringsgwandls Sprechoper ist eine Komposition aus Stimmen, Geräuschen, aus Anklängen von Kinderliedern und Schlagern, aus poetischen Wortwechseln, in der sich Gegenwart und Vergangenheit miteinander verweben. Ein zartes Porträt einer alten Frau mit Hund, äußerlich unscheinbar, aber was für ein Leben dahinter. Die Idee: Keiner, der das Stück gelesen oder gesehen hat, wird je wieder achtlos an einer alten Frau vorbeigehen. (2 D, 2 H) Uraufführung: 29. Juli 2015, Tiroler Volksschauspiele Telfs, Regie: Susn Weber

Stücke Der varreckte Hof (Bayerische Fassung) Stubenoper. Gesänge in einer sterbenden Sprache 3 D, 2 H UA: 4.8.2012 Tiroler Volksschauspiele Telfs Regie: Susn Weber DEA: 4.10.2013 Theater an der Rott, Eggenfelden Regie: Susn Weber Der verreckte Hof (Hochdeutsche Fassung) SEA: 4.10.2014, Theater an der Winkelwiese, Zürich Regie: Stephan Roppel Die Donauprinzessin Ein Abend für eine Schauspielerin und zwei, drei Musiker 1 D, 2, 3 Musiker Frei zur Uraufführung

»Ringsgwandl verzichtet fast völlig auf schnelle kabarettistische Kalauer, sondern hat einen Text voll Poesie geschaffen, wenn er die Erfahrungen und die Weltsicht der einsamen alten Frau mit Hund ausbreitet. Wenn man will, kann man sich da im Stadl durchaus an großes klassisches Theater erinnert fühlen, an Samuel Becketts ›Das letzte Band‹ zum Beispiel.«

Foto: Christian Kaufmann

Bernhard Doppler, ›Deutschlandradio Kultur‹, 29. Juli 2015

Georg Ringsgwandl arbeitete bis zu seinem 44. Lebensjahr als Arzt und steht seit über dreißig Jahren auf der Bühne. Er veröffentlichte zehn Studioalben, schreibt Musiktheaterstücke, Bücher und Beiträge für Magazine und Zeitungen.

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Foto: Isolde Ohlbaum

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Zum 90. Geburtstag von

Gerlind Reinshagen »Ein Kokon der anderen Möglichkeiten« Hans-Ulrich Müller-Schwefe über Gerlind Reinshagen Durch einige Bücher der Autorin bewegt sich eine alte, erblindende Frau; eine asketische Erscheinung; frei, sich zu erinnern, frei, alles zu hören und mit ihren sich eintrübenden Augen zu sehen – um strikt nur zu beherzigen, worauf es ankommt. Ein preußischer HOMER? »Wer singt? Nicht ich. Ich schreibe, wenn ich schreib, ein Leben, so wie es mir erscheint. Und wenns sich einmischt und sich selber schreiben will, kann ich dafür? Ich muß den Anfang finden.« (Vom Feuer, 16) Gerlind Reinshagen, die 1926 in Königsberg geboren wurde, wohnt seit langer Zeit in BERLIN. In vielen ihrer Stücke und Prosabücher, zuletzt in ihrem Roman nachts und dem jüngsten Theaterstück Die Fernfrau, ist das Berlin der Gegenwart Handlungsort, mit der Präsenz einer Hauptfigur. Die KRIEGsjahre und die davor und danach durchlebte sie als Mädchen und als junge Frau in Halberstadt. Neben dem wenig jüngeren Alexander Kluge ist sie die andere Chronistin der Zerstörung Halberstadts durch den Luftangriff am 8. April 1945 – und der Zerstörung des zivilen Lebens, die vorausgegangen war. In der von Männern weitgehend befreiten, merkwürdig weiblich geprägten Schul- und Familienwelt des Kriegs gedeihen Träume und Fantasien eines anderen Lebens. Die männlichen Helden, Kampfflieger, Generäle, zartbesaitete Schulkameraden, sterben an der Front im Osten oder kehren verwundet

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und gebrochen zurück. In den Hunger- und Trümmerjahren danach, wie befreit von Ballast, scheint materielle Knappheit eine große Beschwingtheit und experimentierfreudige Beweglichkeit freizusetzen, die bald darauf den Erfolgen des Wirtschaftswunders erliegen. (Hinzuweisen ist, neben den beiden Prosabänden Zwölf Nächte und Vom Feuer, auf die Stücktrilogie Sonntagskinder, Das Frühlingsfest und Tanz, Marie!) Jeder Mensch hat eine AURA. Manche können sie sehen. Sie erkennen am Zustand der Aura, wie es um den Betreffenden steht. Zur ›Grundausstattung‹ der Autorin Gerlind Reinshagen scheint zu gehören, dass sie jeden von uns durch auch so eine Art Aura, einen Kokon der anderen Möglichkeiten, worin wir leben, herausgehoben und ausgezeichnet sieht. In ihren Theaterstücken und Gedichten, den Erzählungen und Romanen wird sie nicht müde, ihre Figuren auf diese Weise zu vervollständigen, ihnen Größe zu verleihen. Sie macht die Kokons sichtbar, bringt sie ins Spiel. Sodass alles schön wird? Keine Angst. Eine paradiesisch, gar spirituell befriedete Scheinwelt kommt bei der ›Operation Reinshagen‹ nicht heraus. Wohl aber verteilen sich die Gewichte anders. Beziehungen erscheinen in einem neuen Licht. Sauerstoff wird zugeführt. Aussichten, und seien es bestürzende, tun sich auf. Noch in der Sackgasse bricht sich Manövrierfähigkeit Bahn. In einer SPRACHE übrigens, die geerdet, nicht ohne Witz und Schlagfertigkeit ist und doch immer wieder zu gebundener Rede drängt, mit den Flügeln schlägt – um zu fliegen. (Leichtigkeit und Witz zeichnen viele

ihrer Stücke aus, zum Beispiel auch Joint Venture, die dialogische, extrem vergnügliche »Kleine Studie über die Impotenz«.) Eines der schönsten Textbeispiele ist der jüdischen Dichterin Gertrud KOLMAR (1894-1943) gewidmet, die nicht emigrierte, sondern – für ihren Vater und dann allein – sehenden Auges in ihrer Stadt, in Berlin, ausharrte. Die Frau und die Stadt – Eine Nacht im Leben der Gertrud Kolmar ist ein großer Monolog, ein Gesang im Feuerofen. Auch Kolmar-Gedichte hat Gerlind Reinshagen geschrieben. Eines lautet: »Nichts Was mich angeht Verrat ich je Die Stadt nicht Noch die Zeit In der ich mich befinde Wo ich herkomm Ahnt keiner Nur meine Tiere wissen früh Wohin wir gehen« P.S. Und der preußische Homer – die blinde Frau? Die Autorin hat so jemanden gekannt, wie sie erzählt; eine ferne Verwandte; eine Art Vorbild. Ihr SELBSTBILD? Hans-Ulrich Müller-Schwefe ist langjähriger Lektor von Gerlind Reinshagen im Suhrkamp Verlag.

»Jede Forschungsreise ist gut. Jeder Aufbruch ins noch immer Unentdeckte.« Gerlind Reinshagen

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Die Fernfrau Es ist Nacht in der Stadt. In das Meer aus Stimmen, das tagsüber nach Touristen und Passanten klingt, mischen sich die Stimmen von Prostituierten, Bettlern, von potenziellen Selbstmördern und vom Messi-Jessi. Teresa, kurz vor der Mitte ihres Lebens, eine Nachtschwärmerin, die »hinter die Menschen kommen« möchte, die liebeskranken, die todeskranken, verwählt sich. Sie landet beim Doktor, gerade am Beginn der zweiten Lebenshälfte, ein ganz normaler Feld-, Wald- und Wiesendoktor. Aus dem Zufall entwickelt sich ein Gespräch, die beiden Einsamen finden sich, in der anderen Stimme, die zuhört. Während am Tag Touristen auf der Suche nach der nächsten Sensation durch die Stadt strömen, baut sich nachts am Telefon eine Verbindung auf. Doch was für eine? Freundschaft? Seelenverwandtschaft? Liebe? Immer wieder streiten sie und finden dennoch nicht mehr auseinander. Der Doktor schließlich möchte seine »Fernfrau« sehen, doch für Teresa steht ein Kennenlernen im Tageslicht außer Frage. Zwischen Zoo und Dönerbude kommt es schließlich zur Begegnung. 2011 erschien Gerlind Reinshagens Roman nachts. Ihr neues Stück nimmt diesen Dialog über die Einsamkeit wieder auf und bringt ihn jetzt auf die Bühne: eine Großstadtsymphonie, im Hintergrund ein stetiges Handyklingeln. Während am Augusthimmel der Perseidenstrom vorüberzieht, entspinnt sich zaghaft über die Distanz von Lautsprechern und Telefonnetzen hinweg eine Beziehung. Im Zeitalter der Beredsamkeit wird »eine kleine angeraute / Stimme, mitten in der Nacht« zum Fluchtpunkt. (1 D, 2 H, weitere Besetzung variabel)

Uraufführungen der Theaterstücke Doppelkopf (1968) Das Frühlingsfest (1980) Eisenherz (1982) Die Clownin (1986) Die Feuerblume (1988) Tanz, Marie! (1989) Die fremde Tochter (1993) Die grüne Tür (1999) Die Frau und die Stadt (2015) Drei Wünsche frei Göttergeschichte Joint Venture

Frei zur Uraufführung

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Akin E. Şipal Kalami Beach Kalami Beach ist ein Traumstrand auf Korfu. Und »Korfu ist eine epische Insel und hier herrscht episches Licht«. In diesem flirrenden Licht am Inselrand Europas lässt Akin E. Şipal zwei seiner Figuren in bewusster Schicksalhaftigkeit durch einen verhinderten Badeunfall aufeinanderprallen: Ernst rettet Ayda. Obwohl Ayda lieber ertrunken wäre. Im angenehm ereignisarmen Abseits der Nebensaison beginnen die beiden eine Affäre, die einen doppelten Zeugungsunfall verursacht: Die eigentlich unfruchtbare Ayda wird schwanger und das zufällige Paar stellt fest, dass es miteinander verwandt ist. Die deutschen und armenischen Ahnen werden zu unsichtbaren Protagonisten, durch die die Völkermorde Europas mit der Wucht des Zufalls in die melancholische Strandgegenwart von Ernst und Ayda einmarschieren. Ernst berichtet Ayda, dass sein Großvater als Wehrmachtsoffizier in Korfu stationiert war, als die Juden der Insel deportiert wurden. Und sie stellen fest, dass ihre Verwandtschaftsbande über den Bau der Bagdadbahn vom Taurusgebirge ins türkische Adana führen, wo Aydas armenische Großeltern umgekommen sind. Aydas Mutter ist Ernsts Großtante. Erahnte innerfamiliäre Opfer- und Täterrollen überblenden sich, verschatten ihren Beziehungsbeginn.

Blackout, Zeitsprung: Im zweiten Teil des Stücks tritt der gefühlt ungeliebte Sohn von Ayda und Ernst als junger Erwachsener in Erscheinung. Und wie eine intellektuelle Handgranate, die sich ihrer Planstrecke längst entzogen hat, steuert er zielsicher in die Geschichtspassivität und das unaufgearbeitete biografische Erleiden der Eltern- und Großelterngeneration hinein. Er stellt die Identitätsfrage und verortet sich selbst als jemand, der in der Schule als »scheiß Türke bezeichnet wurde, obwohl ich der Einzige war, der einer schlesischen Offiziersfamilie entstammt«. Eine Diversität, die sich – entgegen dem propagierten Zeitgeist – nicht verkaufen lässt. Zum Showdown führt Akin E. Şipal seine unglückliche Kleinfamilie auf den gutbürgerlichen Tennisplatz, wo der Sohn als vom Vater installierter Tennisprofi das Match gegen seine Eltern als Lebensglücks- und Erziehungsversager eröffnet. Und zugleich mit Europa abrechnet, dieser »auf sich selbst zentrierten Familie, die eine nach außen hin verheerende Form von Innerlichkeit zelebriert«. (1 D, 2 H) Uraufführung: Spielzeit 2016/17 Nationaltheater Mannheim

Akin E. Şipal, 1991 in Essen geboren, studiert Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Für sein erstes Theaterstück Vor Wien gewann er den bundesweiten Wettbewerb »In Zukunft«, für Santa Monica erhielt er den Förderpreis Literatur der Kulturbehörde Hamburg. Şipal ist als Drehbuchautor an diversen Kurz- und Langfilmen beteiligt, die auf Festivals wie Festival des Films du Monde de Montréal, Internationale Hofer Filmtage, Internationales Kurzfilmfestival Hamburg oder Dok Leipzig zu sehen sind. Sein drittes Theaterstück Kalami Beach ist ein Auftragswerk für das Nationaltheater Mannheim und wird dort in der Spielzeit 2016/17 uraufgeführt. Am Theater Bremen entstand 2015 in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Selen Kara und dem Musiker Torsten Kindermann Istanbul, ein Liederabend über Sezen Aksu. 58

Über Adana Ein Reisebericht

»Ein Haus in der Nähe einer Airbase« ist der Arbeitstitel für das Stück, an dem Akin E. Şipal aktuell arbeitet. Es spielt in Adana und Umgebung, am Rande des geschichtssatten »Fruchtbaren Halbmondes« und nicht weit von der türkischsyrischen Grenze gelegen. Diverse politische, militärische und religiöse Einflusssphären überlagern sich hier. Der Autor kennt Adana gut, das »Haus in der Nähe einer Airbase« ist Teil seiner Familienbiografie. Diesen Sommer war er wieder dort, um für sein neues Stück zu recherchieren.

Juli 2015. Es ist Ramadan. Ich sitze im Flieger nach Adana. Vor mir ein GI, der in Statur und Bewegungsprofil an LeBron James erinnert. Um ihn herum wuseln seine Kinder, ein Mädchen, ein Junge. Beide sind klein und zierlich und passten wahrscheinlich genau in seine Handinnenflächen. Die Turkish-Hostessen bemühen sich, den Aktionsradius der kleinen Imperialisten mit O-Saft und Airbussen aus Plüsch so gering wie möglich zu halten. Der Vater, ein Fels wie die Rocky Mountains, muss mindestens zwei Meter groß sein, sein breiter Schädel ragt im Sitzen über die Lehne. Seine Kurzhaarfrisur, akkurat – der englische Rasen des Tages. Vor lauter Vorfreude projiziere ich das Bild des Adana International Airport auf seinen Hinterkopf: Palmen auf den versengten Grünstreifen zwischen Start und Landebahn, gepflegte, verblichene bungalowartige Terminals. Es ist das erste Mal in all den Jahren, die ich diese Strecke fliege, dass ich einen GI sehe. Sonst sind es immer Angehörige, Ehefrauen und Kinder, die am Ausgang

des Terminals in breitschultrige Jeeps mit getönten Scheiben steigen. Dieses Mal wieder: Der Familienvater in Waffen nimmt seine Tochter huckepack und den etwas älteren Sohn an die Hand. So will er sie nicht in Versuchung führen, die Gepäckausgabe zu bespielen. Sie steigen in einen Jeep, braun gepanzert wie eine Küchenschabe. Die Krabbelgruppe mit Riese verschwindet in einer Dieselwolke. Ich sehe ihnen hinterher und staune. Ein beziehungsvoller Moment, denn ich weiß, wohin sie fahren. Die Inçirlik Airbase liegt in Richtung Stausee. Die ersten fünf Kilometer hätten wir gemeinsam fahren können. Ich nehme ein Taxi. Das Haus meiner Familie liegt auf einer Landzunge, die in den Çukurova-Stausee ragt, der die Pastelltöne des Himmels beherbergt. Es gibt ein Dutzend Buchten, große Tropfen aus weißem Kalkstein und Ringelnattern, die sich im Schilf verstecken. Unser Haus liegt in einer Siedlung von 26 beinahe identischen Häusern. Was im ersten Moment unromantisch klingt, ist es ganz und

Stücke Santa Monica 2 D, 2 H UA: 1.3.2015 Nationaltheater Mannheim Regie: Tarik Goetzke Vor Wien 2 D, 3 H Frei zur UA

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gar nicht. Die abblätternde Farbe der Fassaden, die ei- »Musa …«, sage ich, »ich brauche nur ein Brot und gentümliche Architektur, Zitronen- und Feigenbäume, ein großes Stück Beyaz Penir. Morgen fahre ich schon die in unregelmäßigen Abständen in den Gärten zwi- weiter.« »Wohin denn, Akın bey?« »Nach Urfa, Göbekli schen den Häusern stehen … All das trägt zum Gefühl Tepe, Halfeti …« Der Wächter hat ein unpünktliches Lächeln und trauribei, man befände sich in einer Oase. Der Zaun, der das weitläufige Areal um die Häuser ge Augen. Seine Untröstlichkeit ist wie die der Hunde. abgrenzt, dient bloß pro forma zur Abschreckung von Es ist eben kein Vergnügen, im Dienste der lower UpperDieben. Der einsame Wachmann, der meist in seinem Class zu stehen. Aber es gibt Schlimmeres. In diesem weißen Kunststoffkabuff neben dem automatischen Moment starten Kampfjets aus Inçirlik und bombardieSchiebetor residiert, klagt immer wieder darüber, dass ren Stellungen des Islamischen Staates (IS). Man hört er alleine in so einer gigantischen Ansammlung von sie nicht. Ja, man würde sie nicht einmal bemerken, Häusern nicht für die Sicherheit ihrer Bewohner garan- wenn sie auf meinem Unterarm starteten oder landeten. tieren könne. Woraufhin die Eigentümerversammlung Vielleicht röche es nach verbrannten Haaren. ihm zyklisch ausrichten lässt, dass es sowieso keine Ga- Seitdem die Siedlung vor 20 Jahren von einem Bauingerantien gäbe, für gar nichts. Sich von einem Mitarbeiter nieur und seinen Geschwistern gebaut wurde, steht das einer privaten Sicherheitsfirma, die schreckliche Löhne Gerücht im Raum, es sollten ein Tennisplatz und ein Swimmingpool her. Dazu wird zahlt, Missmanagement vorwer»Ich bin fasziniert vom Licht, es in absehbarer Zeit nicht komfen zu lassen, kommt gar nicht das mich an farbige Kreide erinnert, men. Man sieht Menschen Entin Frage. Das lässt sich nicht mit schlossenheit an und wenn ich dem holprigen Standesbewusstnippe an einem Drink und glotze am Haus des Siedlungsvaters vorsein der Eigentümer vereinbaauf den riesigen Stausee …« beispaziere und er, in seinem viel ren. Die zum größten Teil wohlhabenden Familien haben in ihrem großbürgerlichen zu großen Poloshirt, mit schlackernden Armen grüßt, Selbstverständnis ein Faible für große Familienhunde. unmotiviert, berentet, weiß ich, dass Tennisplatz und Weil sie keinerlei Knowhow im Umgang mit Hunden Pool Legenden bleiben werden. Besser so. Wir haben als Haustieren besitzen, wissen sie auch nicht, dass den See. Ich trete auf die Terrasse, von der Reise beHunde beschäftigt werden wollen. Ich habe noch nie nebelt, schwimme in den vielen Unwahrscheinlichkeieinen der Hausbesitzer mit seinem Hund Gassi gehen ten, wie in Selbstverständlichkeiten. Ich bin fasziniert sehen. Stattdessen wird die Siedlung von einem gan- vom Licht, das mich an farbige Kreide erinnert, nippe zen Rudel unterforderter reinrassiger Golden Retriever, an einem Drink und glotze auf den riesigen Stausee, Labradoodle und einem deutschen Schäferhund bevöl- diesen selbst in der Abendsonne noch hell erleuchtekert. Fellbesetzte Karamellbonbons, die von einem zum ten grün-blauen Fleck, auf dessen gegenüberliegender Seite die Lichter Adanas ihrerseits zu leuchten beginnächsten Schatten schleichen. Die meisten Anwohner der Karşikent-Sitesi sind an der nen. Stilsicher, diskret; echte Großstadtlichter eben. nahe gelegenen Çukurova-Universität beschäftigt, der Die zwanzigstöckigen Sozialbauten sehen von hier aus aus wie Hochhäuser. So stelle ich mir die Skyline von größten des Nahen Ostens.

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Manhattan vor. Wenn ich doch jede freie Sekunde dazu nutze, nach Adana zu fliegen, werde ich niemals Zeit haben, die Skyline von Manhattan vis-à-vis zu bestaunen. Die von Manhattan hat ein aggressives Geltungsbewusstsein, sie bürdet sich einem auf. Jeder zweite Film beginnt oder endet auf ihr. Die Skyline von Adana ist in dieser Hinsicht ein echter Underdog und besticht als klassische Chimäre. Von weitem schön, von nahem hässlich. Ich solidarisiere mich mit dem weniger populären Ort. Zumal Adana bei diesem Besuch nur als Sprungbrett dient. Meine diesjährige Route führt mich ins Zweistromland, an die syrische Grenze. Ich sehe ein Frachtflugzeug der US Air Force über dem See den Landeanflug antreten. Das Flugzeug erinnert an einen Walfisch und wirft einen gigantischen, sanft über der ruhigen Wasseroberfläche des Sees schwebenden Schatten. Das macht alles noch romantischer, als es sowieso schon ist. Wer weiß, was es geladen hat. Einen Schwung Harleys, ein paar Sprengköpfe, eine Spezialeinheit? Who knows? Who cares? Bei der Bescherung interessieren einen ja auch nur die eigenen Geschenke. Ein aus Kausalitäten zusammengebasteltes Statement stünde mir, in gewisser Weise als Sohn dieser Stadt, nicht gut zu Gesicht. Ich weiß viel zu wenig, um das alles fundiert kommentieren zu können. Die Nähe Adanas zu den Orten, die die Welt bedeuten im Moment, und die Nachbarschaft zum Zweistromland und damit der Keimzelle aller Sesshaftwerdung machen, dass die Luft steht und flirrt zugleich. Ein Surren, und dann! Ein Pfau rennt quäkend an unserem Tulpenbeet vorbei, wenig später folgt ein Labradoodle. Er prallt an den Marmorstufen zur Terrasse ab. Die Hitze beeinträchtigt das Orientierungsvermögen der Hunde. Ihm ist schwindelig. Er trottet davon. Ich decke die von großen weißen Laken umschlungenen Möbel im Salon nicht ab. Außer eines der Betten in einem

der Schlafzimmer. Ich trinke einen weiteren Schluck vom Brandy, den mein Onkel vom Duty Free mitgebracht und der beachtlichen Bar des Hauses übergeben hat. Ich gehe schlafen. Morgen beginnt meine eigentliche Reise. Zweistromland, Fruchtbarer Halbmond. Ich will eines dieser Safe Houses um Urfa ausfindig machen, in dem sich ISKämpfer verstecken. Nur mal gucken. Und ich will die heiligen Karpfen im Teich des Abraham füttern. Der Wallfahrtsort, die fünftheiligste Stätte des Islam, liegt in der Altstadt Urfas und ist in einen achthundert Jahre alten Moscheenkomplex eingebettet. Die dazugehörige Legende könnte auch der Plot eines Disneyfilms sein: Der böse Monarch Nemrut ergeht sich in ungezügeltem Polytheismus, woraufhin sich Abraham aufgefordert sieht, ihm beizubringen, dass es nur einen Gott gäbe. Abraham wird auf Geheiß Nemruts vom Zitadellenberg in ein eigens für ihn vorbereitetes Feuer geworfen. An dieser Stelle dann: Auftritt Gott. Funktion: Erzählerisches Korrektiv. Befehl: Das Feuer habe kühl zu sein und seinen Eleven freundlich zu behandeln. Also verwandeln sich das Feuer in Wasser und die Holzscheite in Karpfen und Abraham fällt weich, wie in einen Rosengarten. Gut, Rosen haben Dornen, aber gute Geschichten haben eben auch sympathische Ungenauigkeiten. Vermutlich bin ich ein antiquierter Reiseberichterstatter. Ich verneine eine investigative Recherche. In meinen Augen ist die einzig wahre Form der Recherche, eine Dekade an einem Ort zu verleben, ohne eine unangenehme Frage zu stellen. Ich bin korrumpiert durch meinen türkischen Großvater, der in Adana geboren wurde und ein Kind der Çukurova ist. Jener Senke zwischen Riviera und Taurusgebirge, der Kornkammer der türkischen Republik der Gründungsjahre, die den Staatsbürger gewordenen Menschen von damals das Überleben sicherte, als es hieß, autark zu sein, um nicht in den Zweiten Weltkrieg eintreten zu müssen.

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Junges Programm Stücke für ein junges Publikum – Eine Auswahl

Etel Adnan Wessen Ehre? Originaltitel: Crime of Honour Deutsch von Brigitte Landes 3 D, 1 H, Besetzung variabel, ab 12 Jahren Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung François Bégaudeau Die Klasse Originaltitel: Entre les murs Deutsch von Katja Buchholz und Brigitte Große Besetzung variabel, ab 14 Jahren Walter Benjamin Radau um Kasperl Besetzung variabel, ab 7 Jahren Edward Bond Der Balanceakt Originaltitel: The Balancing Act Deutsch von Brigitte Landes 4 D, 3 H, Besetzung variabel, ab 14 Jahren Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung Jean-Claude Carrière Die Konferenz der Vögel Originaltitel: La conférence des oiseaux Deutsch von Renate Doufexis Besetzung variabel, ab 6 Jahren Dietmar Dath Die Abschaffung der Arten zahlreiche Bühnenadaptionen Besetzung variabel, ab 14 Jahren

Dirk Dobbrow Bomber 1 H, ab 14 Jahren

Konstantin Küspert mensch maschine Besetzung variabel, ab 12 Jahren

Per Olov Enquist In der Stunde des Luchses Originaltitel: I Lodjurets Timma Deutsch von Angelika Gundlach 2 D, 2 H, ab 14 Jahren

Heidi von Plato Hampel und Trampel 2 D, ab 5 Jahren Frei zur Uraufführung

Judith und Werner Fritsch Der singende Draht Besetzung variabel, ab 6 Jahren Frei zur Uraufführung Nikolaus Günter Wild ist der Wind oder Quadrophenia II 1 D, 3 H, ab 14 Jahren Frei zur Uraufführung Martin Heckmanns Kränk 3 D, 2 H, ab 12 Jahren Hermann Hesse Demian Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend Bühnenfassung von Daniela Löffner 2 D, 4 H, ab 14 Jahren Anna Maria Jokl Die Perlmutterfarbe Ein Kinderroman für fast alle Leute Für die Bühne bearbeitet von Christoph Nußbaumeder Besetzung variabel, ab 11 Jahren

Weitere Titel finden Sie unter www.suhrkamptheater.de

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Raymond Queneau Zazie in der Metro Originaltitel: Zazie dans le Métro Deutsch von Eugen Helmlé Besetzung variabel, ab 8 Jahren Judith Schalansky Der Hals der Giraffe Bühnenfassung von Anita Augustin und Florian Fiedler 1 D, ab 14 Jahren Dianne Warren Im Zeichen der Schlange Originaltitel: Serpant in the Night Sky Deutsch von Heide Liebmann 3 D, 3 H, ab 14 Jahren Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung

Ruth Johanna Benrath Frankfurt/Oder, Frankfurt/Main

Foto: Bernd Suchland

Caro ist sauer auf ihren Vater: Ausgerechnet in Frankfurt an der Oder musste er eine Stelle annehmen! Dabei wäre sie lieber bei ihrer Freundin Ayla in Frankfurt am Main geblieben. Zum Glück kann Caro etwas, das keiner in ihrer neuen Klasse kann: Sie spielt Gitarre und schreibt Songs. Und da das Talent der neuen Mitschülerin nicht lange unbemerkt bleibt, bittet Jojo sie bald, ein Liebeslied für die toughe Fine zu schreiben, die nach jeder Annäherung immer wieder das Weite sucht. Aber auch Paul bittet Caro um einen Song für eine neue Internet-Bekanntschaft. Ausgerechnet Paul! Dabei hat Caro gerade Gefallen an ihm gefunden. An Paul, der gerne Tag und Nacht Computerspiele zockt, Schule schwänzt und nicht einmal weiß, wie man Spaghetti kocht. Und der die Ressentiments seiner Mutter wiedergibt, die die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten verdammt, denn Glück hat sie ihr nicht

gebracht. Caros Songs handeln von Liebe und Verlust, von Sehnsucht und ihrer Lieblingsstelle am Fluss in einer Stadt, mit der sie nur langsam warm wird. Und wenn es mal wieder Zoff gegeben hat mit den Neonazis auf der Straße oder sie sich das Herz ausschütten muss wegen Paul, skypt sie mit ihrer Freundin Ayla in Frankfurt am Main. Und deren Ratschläge werden sich als wertvoll erweisen … Ruth Johanna Benrath beherrscht die Kunst der lakonischen Erzählweise. Die Jugendlichen aus Frankfurt/ Oder, Frankfurt/Main begeistern mit ihrem charmanten und schlagfertigen Witz. Ein Stück über die Verortung im eigenen Leben. (2 D, 3 H)

Ein Theaterstück für Jugendliche ab 14 Jahren Frei zur Uraufführung

Ruth Johanna Benrath, geboren 1966 in Heidelberg, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Seit 2007 Veröffentlichung von Gedichtbänden und Romanen. Bei Suhrkamp erschien 2011 Wimpern aus Gras. Seit 2013 schreibt Benrath für das Theater und leitet Schreibwerkstätten für Kinder und Jugendliche. Für das Jugendtheaterstück Klassenkämpfe erhielt sie den Preis des Coburger Forums junger Autoren. Ruth Johanna Benrath lebt in Berlin.

Stücke Klassenkämpfe 2 D, 3 H UA: 12.6.2015 Landestheater Coburg Regie: Judith Kunerth

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Märchen Auf dieser Doppelseite laden wir Sie ein zu einer Wiederbegegnung mit Märchenstoffen und ihrer Bearbeitung für die Bühne durch drei namhafte Autoren des Suhrkamp-Programms. Unterschiedlich, eigen und konsequent sind die jeweiligen Zugriffe auf die Welt der Märchen mit ihrer Phantastik und ihren Archetypen: Mal entsteht dabei pralles Märchentheater, mal Stücke mit sozialpolitischem Akzent.

Bertolt Brecht Hans im Glück Das ländliche Idyll von Hans und Hanne wird von einem Reisenden gestört. Er verführt Hanne, entreißt sie Hans und bricht mit ihr in ein neues Leben auf. Hans bleibt auf ihrem Bauernhof zurück. Kurz darauf tauscht er jedoch den Hof gegen einen Wagen und lässt sich ebenfalls auf das Abenteuer Freiheit ein. Wie in dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm tauscht Hans gutgläubig Stück für Stück seines Besitzes und sucht in dem ihm widerfahrenden Übel immer wieder aufs Neue sein Glück und die Liebe seines Lebens. Brechts Hans im Glück ist eine gesellschaftskritische Adaption des bekannten Märchens. Er lädt Hansʼ eingetauschte Besitztümer symbolisch auf und lässt seinen Helden immer weiter sozial absteigen. Dennoch behält sich dieser seine Lebensfreude und fügt sich in seine Situation. (Besetzung variabel) Uraufführung: 11. Januar 1998 Thalia Theater Regie: Christian Schlüter

Cesare Lievi Die wilden Schwäne

Märchentheater nach Hans Christian Andersen Deutsch von Michael Eybl In Frieden und Eintracht leben Prinzessin Elisa und ihre elf Brüder am Hof des alten und weisen Königs. Besessen von Machtgier, Neid und Missgunst, gelingt es ihrer Stiefmutter, der neuen Königin, im Verbund mit drei bösen Kröten, Prinzessin Elisa vom Hof zu verstoßen. Mittels eines Zaubers hatte die böse Königin schon zuvor die elf Prinzen in Schwäne verwandelt. Einsam und verlassen in einer Höhle bekommt Elisa unerwartete Unterstützung von drei freundlichen Mäusen und erfährt schließlich von der Erscheinung ›Fata Morgana‹, wie sie ihre Brüder vom bösen Zauber befreien kann: Aus Brennnesseln muss sie elf Hemden fertigen und den Schwänen überziehen. Während der Arbeit aber muss sie absolut stumm bleiben, kein Wort darf ihr über die Lippen kommen! Elisa bleibt selbst dann noch stumm, als der neue, junge König sie findet, sie zu sich auf sein Schloss holt und zu seiner Frau macht. Wegen ihres sonderbaren Verhaltens aber landet Elisa auf dem Scheiterhaufen. Erst in letzter Minute kann sie ihre Brüder vom Zauber erlösen und sich selbst retten. – Cesare Lievi macht aus dem weniger bekannten, vielschichtigen Märchen ein packendes, phantasievolles Bühnenstück für die ganze Familie, das dabei dicht an der Vorlage von Hans Christian Andersen bleibt. (4 D, 16 H, Doppel- und Mehrfachbesetzung möglich) Uraufführung: 14. November 2014 Stadttheater Klagenfurt Regie: Cesare Lievi

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Thomas Brasch Die wilden Schwäne

Nach Hans Christian Andersen Thomas Brasch erzählt in seiner Fassung des Andersʼschen Märchens, wie aus einer verwöhnten Prinzessin und ihren elf tumben Brüdern sozialbewusste und empathiefähige Menschen werden, die künftig als Kollektiv zusammen mit dem neuen Regenten das Reich regieren (und dabei auch noch dem Klerus ein Schnippchen schlagen). Ein Erzähler umreißt dabei knapp die wichtigsten Stationen der Handlung: wie der greise, despotische König seine Macht an seine neue Frau verliert, wie diese die Prinzen verflucht und in Schwäne verwandelt, die so zum ersten Mal die reale Welt sehen – außerhalb des Palastes. Und wie die Prinzessin schließlich ihre Brüder rettet, indem sie ihre Ichbezogenheit überwindet und selbstlos bereit ist, auch Schmerzen für ein höheres Ziel zu ertragen. (Besetzung variabel: 2 D, 12 H) Uraufführung: 13. März 2004 Theater an der Sihl, Zürich Regie: Enrico Beeler

Thomas Brasch Falada Mit Falada hat Thomas Brasch eine so poetische wie abgründige Interpretation des Grimmʼschen Märchens Die Gänsemagd geschaffen. Aus der Sicht des Pferdes Falada, dessen Kopf abgeschlagen und von Gedanken schwer am Torhaus hängt, erzählt Brasch die Geschichte der Prinzessin, die, von ihrer Magd zum Kleidertausch gezwungen, ihrem königlichen Bräutigam als Gänsemagd dienen muss. Der Blick des königlichen Pferdes nimmt untrüglich jede kleine Veränderung

im Machtgefüge wahr. Treu steht Falada seiner einstigen Herrin in der Not bei, spendet Trost, erfüllt seinen Zweck – und wird vergessen. Ein Märchen für ein Pferd, eine Prinzessin, eine Magd und viel Volks Geschrei. (Besetzung variabel) Frei zur Uraufführung

Thomas Brasch Der Schweinehirt Ein Prinz mit winzigem Reich, der eine Frau braucht, und eine Kaiserstochter, die vor Langeweile umkommt und einen Mann verbrauchen will. Thomas Braschs Neuerzählung von Hans Christian Andersens Märchen Der Schweinehirt ist voller Musik und unbeirrbarem Gespür für die Misstöne des Hochmuts: Der Prinz singt, die Prinzessin liebt einzig ihre Spieluhr. Die Nachtigall, die der Prinz ihr als Brautgeschenk schickt, ist ihr zu lebendig. Sie lässt sie aus dem Fenster werfen; der Vogel zwitschert’s dem Prinzen. Trotzig zieht der Abgewiesene an den Hof des Kaisers und verdingt sich unerkannt als Schweinehirt. Er lockt die Prinzessin in den Stall und luchst ihr ein paar Küsse ab. Als der Kaiser dies entdeckt, verbannt er seine Tochter und zwingt sie zur Heirat mit dem Schweinehirten. Niedergang einer Hochmütigen: Auch der Prinz schlägt ihr schließlich die Tür zu seinem Königreich vor der Nase zu. (Besetzung variabel) Frei zur Uraufführung

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Starke Prosa für die Bühne Ausgewählte Romane aus dem Suhrkamp-Programm

Gerbrand Bakker Oben ist es still

Marceline Loridan-Ivens Und du bist nicht zurückgekommen

Helmer van Wonderen, Bauer wider Willen, macht klar Schiff. Er verfrachtet seinen bettlägerigen Vater ins Obergeschoss, entrümpelt Wohn- und Elternschlafzimmer, streicht Dielen, Fenster, Türen und Wände und schafft neue Möbel an. Das Gemälde mit den schwarzen Schafen, die Fotografien von Mutter und die alte Standuhr kommen nach oben, alle Pflanzen, die blühen können, auf den Misthaufen. Da Vater ihm nicht den Gefallen tut, einfach zu verschwinden, sich von einem Windstoß hinwegfegen zu lassen oder wenigstens zu sterben, richtet Helmer sein Leben unten neu ein. Doch die ländliche Ruhe währt nicht lange, denn eines Tages kommt ein Brief von Riet, der Frau, die Helmers Zwillingsbruder das Leben kostete. Ihr pubertierender Sohn Henk soll auf dem Hof das Arbeiten lernen … Genau in der Beobachtung von Mensch und Natur, subtil in der Anspielung und von zärtlicher Skurrilität, entwickelt Bakkers trockener, lakonischer, oft dialogischer Erzählstil einen unwiderstehlichen Sog. Unversehens findet man sich mit einem wortkargen Bauern inmitten von Milchkühen, Texel-Schafen, einer Nebelkrähe und zwei Eseln an die großen Fragen des Lebens erinnert und versteht, dass Komik und Tragik, Witz und Wehmut, Oben und Unten unauflöslich zusammengehören.

Marceline ist fünfzehn, als sie zusammen mit ihrem Vater ins Lager kommt. Sie nach Birkenau, er nach Auschwitz. Sie überlebt, er nicht. Siebzig Jahre später schreibt sie ihm einen Brief, den er niemals lesen wird. Einen Brief, in dem sie das Unaussprechliche zu sagen versucht: Nur drei Kilometer sind sie voneinander entfernt, zwischen ihnen die Gaskammern, der Geruch von brennendem Fleisch, der Hass, die Unausweichlichkeit der eigenen Verrohung, die ständige Ungewissheit, was geschieht mit dem anderen? Einmal gelingt es dem Vater, ihr eine kleine Botschaft auf einem Zettel zu übermitteln. Aber sie vergisst die Worte sofort – und wird ein Leben lang versuchen, die zerbrochene Erinnerung wieder zusammenzufügen. Marceline Loridan-Ivens schreibt über diese Ereignisse und über ihre unmögliche Heimkehr, sie schreibt über ihr Leben nach dem Tod, das gebrochene Weiterleben in einer Welt, die nichts von dem hören will, was sie erfahren und erlitten hat. Und über das allmähliche Gewahrwerden, dass die Familie ihren Vater dringender gebraucht hätte als sie: »Mein Leben gegen deines.« Und du bist nicht zurückgekommen ist eine herzzerreißende Liebeserklärung, ein einzigartiges Zeugnis von eindringlicher moralischer Klarheit – das wohl letzte Zeugnis seiner Art.

315 S. Broschur. € 9,99 (978-3-518-46142-6)

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111 S. Gebunden. € 15,00 (978-3-458-17660-2)

Heinz Helle Eigentlich müssten wir tanzen

Clemens J. Setz Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

Fünf junge Männer verbringen ein Wochenende auf einer Berghütte. Sie kennen sich lange, sie kennen sich gut. Sie bauen eine Schneebar, trinken, eingeschworen wie früher, nur älter. Als sie ins Tal zurückkehren, sind die Ortschaften verwüstet. Die Menschen sind tot oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt. Zu Fuß versuchen sie, sich in ihre Heimatstadt durchzuschlagen. Sie durchwandern die winterliche Welt: ein zerstörtes Museum des Kapitalismus, kalt und seltsam wehrhaft. Sie versenken ihre Mobiltelefone im See, verschlingen getautes Tiefkühlbaguette und vergewaltigen eine Frau. Sie funktionieren, so gut sie können. Nachts bleiben sie wach oder tanzen, um nicht zu erfrieren, und streifen durch ihre Erinnerungen. Sie werden immer weniger. Auf ihrer gemeinsamen Suche nach einem Grund, am Leben zu bleiben. In einer knappen, klaren, präzisen Sprache erzählt Heinz Helle aus der Perspektive eines namenlos bleibenden Ich-Erzählers. Die Erzählung verstellt immer mehr erhoffte Auswege und nimmt uns mit in Bilder, die wir vergessen wollen, aber nicht mehr vergessen können. Sie nehmen uns den Atem, weil sie uns so nah an uns selbst rücken. An uns als Ohnmächtige in einer stehengebliebenen Zivilisation. Der Text fordert uns auf, uns selbst einzusetzen in dieses Szenario.

Was geschah in der Stunde zwischen Frau und Gitarre? In einem Wohnheim für behinderte Menschen wird die junge Natalie Reinegger Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm. Der Mann sitzt im Rollstuhl, ist von unberechenbarem Temperament und gilt als »schwierig«. Dennoch erhält er jede Woche Besuch – ausgerechnet von Christopher Hollberg, jenem Mann, dessen Leben er vor Jahren zerstört haben soll, als er ihn als Stalker verfolgte und damit Hollbergs Frau in den Selbstmord trieb. Das Arrangement funktioniere zu beiderseitigem Vorteil, versichert man Natalie, die beiden seien einander sehr zugetan. Aber bald verstört die junge Frau die unverhohlene Abneigung, mit der Hollberg seinem vermeintlichen Freund begegnet. Sie versucht, hinter das Geheimnis des undurchschaubaren Besuchers zu kommen und die Motive seines Handelns zu verstehen. Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des Clemens J. Setz. Sie fördert ihre innere Ordnung zutage, ihre Geheimnisse und Prinzipien: Macht und Ohnmacht, Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung und Liebe in allen Spielarten – fürsorglich, respektvoll, besessen, Liebe als Wahn und als Manipulation. Und Rache. So subtil und schmerzhaft, dass die Frage nach Täter und Opfer in namenloses Gelände führt. Die Stunde zwischen Frau und Gitarre wurde 2015 mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet.

173 S. Gebunden. € 19,95 (978-3-518-42493-3)

1021 S. Gebunden. € 29,95 (978-3-518-42495-7)

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Briefwechsel Leseprogramme für die Bühne

Bertolt Brecht, Helene Weigel »ich lerne: gläser + tassen spülen«

Thomas Bernhard, Siegfried Unseld Der Briefwechsel

Briefe 1923–1956 In einer ersten Bestandsaufnahme zum Jahreswechsel 1923/24 schreibt Brecht an und über die junge Schauspielerin: »H W / (zu deutsch: Havary)«; von ihr getrennt herrschen bei ihm »Starke Langeweile / 90 % Nikotin / 10 % Grammophon«. Immer wieder bestürmt er sie: Fragen nach einem Zimmer oder einer Wohnung, nach Büchern und Artikeln oder nach Autopreisen und der Wiederbeschaffung von verlorenen Papieren; er erkundigt sich nach ihren Rollen und Auftritten und nach der Resonanz von Publikum und Kritik; er berichtet über die Arbeit an seinen eigenen Stücken oder darüber, dass er »mit viel Nikotin wenige Sonette hergestellt« habe. Nach der Flucht aus Deutschland Anfang 1933 geht es immer wieder um Orte, an denen Brecht weiterarbeiten kann, um die Mühsale einer Familie im Exil, um zwei Kinder, die ihre Muttersprache nur noch zu Hause hören, und um die Nöte einer Schauspielerin, die fünfzehn Jahre lang ohne Bühne ist. Und deren Briefen wir hier zum ersten Mal begegnen. Diese von Erdmut Wizisla erarbeitete und ausführlich kommentierte Ausgabe der Briefe von Bertolt Brecht und Helene Weigel ist die erste weitgehend vollständige Edition der Korrespondenz zwischen Brecht und seiner Ehefrau.

402 S. Gebunden. € 26,95 (978-3-518-41857-4)

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30 Jahre alt, ohne Resonanz auf seine bis dahin veröffentlichten drei Gedichtbände, vom eigenen überragenden schriftstellerischen Können allerdings überzeugt, schreibt Thomas Bernhard im Oktober 1961 an Siegfried Unseld: »Vor ein paar Tagen habe ich an Ihren Verlag ein Prosamanuskript geschickt. Ich kenne Sie nicht, nur ein paar Leute, die Sie kennen. Aber ich gehe den Alleingang.« Obwohl der Suhrkamp Verlag das Manuskript ablehnte, gingen der Alleingänger und der Verleger seit dem Erscheinen von Bernhards erstem Roman »Frost« 1963 gemeinsam den Weg, der den Autor in die Weltliteratur führte. In den etwa 500 Briefen zwischen beiden entwickelt sich ein einzigartiges Zwei-Personen-Schauspiel: Mal ist es eine Tragödie, wenn etwa Bernhard die aus seinen Werken bekannten Schimpftiraden auf den Verleger loslässt, der seinerseits auf die Überzeugungskraft des Arguments setzt. Es dominiert das Beziehungsdrama: Der Autor stellt die für sein Werk und seine Person unabdingbaren Forderungen. Der Verleger seinerseits weiß, dass gerade bei Bernhard rücksichtslose Selbstbezogenheit notwendige Voraussetzung der Produktivität ist. Solch einen dramatischen Briefwechsel zwischen Autor und Verleger, in dem bei jeder Zeile alles auf dem Spiel steht, kennt das Publikum bislang nicht.

869 S. Broschur. € 18,00 (978-3-518-42213-7)

Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja Eine Ehe in Briefen

Wolfgang Koeppen, Marion Koeppen »...trotz allem, so wie du bist« – Wolfgang und Marion Koeppen. Briefe

Der große russische Autor Lew Tolstoj und seine Frau Sofja führten während ihrer fünfzigjährigen Ehe einen ausgedehnten Briefwechsel. Diese Briefe geben Einblicke in das Alltags- und Familienleben der Tolstojs und in die Entstehung von Tolstojs großen Werken wie Krieg und Frieden, Anna Karenina, Die Auferstehung oder Die Kreutzersonate. Als nach etwa zwei Jahrzehnten Ehe das Familienglück zum Familiendrama wurde und der Schriftsteller sich immer mehr von seiner Familie und seinem bisherigen Leben abwandte, ersetzten die Briefe häufig das Gespräch der Partner. Über Wochen verkehrten Tolstoj und seine Frau nur schriftlich miteinander. Sie trugen in Briefen ihre Auseinandersetzungen aus, fügten einander seelische Verwundungen zu und offenbarten ihr Innerstes, ihren Schmerz und ihre Wut. Und sie beschworen gegenseitig ihre Liebe, rangen um Annäherung. Sie kämpften für ihre Überzeugungen, die nun nicht mehr miteinander zu vereinbaren waren – sie kämpften um ihre Liebe. Der dramatische Briefwechsel zwischen Lew Tolstoj und Sofja Tolstaja ist das bewegende Zeugnis einer großen und zugleich schwierigen Liebe.

Über einen Zeitraum von sechsunddreißig Jahren schrieb Wolfgang Koeppen Briefe an seine um einundzwanzig Jahre jüngere Frau Marion. Es sind berührende Dokumente der Liebe und Fürsorge, aber auch der Angst und Resignation, und sie tauchen Marion Koeppen in ein völlig neues Licht. Denn anders als bisher wahrgenommen, erscheint in diesen erstmals veröffentlichten Briefen nicht die alkoholkranke Ehefrau als Ursache für die anhaltende Schreibkrise, sondern sie werfen die Frage auf: Ist es nicht Marion, der Wolfgang Koeppen Inspiration und Anregung verdankt, und hat sein literarisches Verstummen nicht ganz andere Gründe? Koeppens Briefe und die erhaltenen Gegenbriefe der Ehefrau zeigen eine für beide Seiten belastende, dennoch bis zum Tod Marion Koeppens unauflösbare Verbundenheit: »denn ich liebe ja dich, du Einzigartige, Sonderbare, unverwechselbare, dich Märchenwesen, trotz allem, so wie du bist«. Außerdem dokumentiert dieser Briefband die Entstehung einiger der bekanntesten Texte Wolfgang Koeppens, etwa von Das Treibhaus, Nach Rußland und anderswohin sowie Amerikafahrt, und er eröffnet einen neuen Blick auf das Verhältnis zwischen Koeppen und seinen Verlegern, Henry Goverts und Siegfried Unseld.

Brigitte Landes hat diesen Briefwechsel für die Bühne bearbeitet.

493 S. Broschur. € 12,95 (978-3-458-35786-5)

456 S. Gebunden. € 32,80 (978-3-518-41977-9

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Marjana Gaponenko Interview oder Einbeinig nach Europa Ein Dramolett

Im August 2015 war ich Artist in Residence in der südhessischen Stadt Lorsch. Meine Gastgeber haben mich gebeten, in einem Nachmittagsworkshop mit mehreren afghanischen Asylbewerbern und mit Hilfe eines Dolmetschers Texte rund um das Thema Flucht zu erarbeiten. Unser Treffpunkt war der Gemeinderaum der evangelischen Kirche. Aus dieser besonderen Begegnung ist allein dieses Dramolett entstanden.

Personen: ABDULRAHMAN, ein junger Mann aus Jalalabad HERR ADWITZ, ein Mittvierziger aus Kabul, Minenopfer MOHAMAD, der Jüngste von zehn Geschwistern, Vollwaise aus Kabul DOLMETSCHER INTERVIEWERIN

seiner Muttersprache Schala bala, harhar, hamabatal elm arban. INTERVIEWERIN Ich heiße Anna, komme aus Russland und bin Schriftstellerin. Der Plan sieht … DOLMETSCHER zu ihr gewandt Moment mal! Brubatalam, name man anna ast. Ma russa malalam. Hra kre krawala bam, aimros bebakschen, e- eh … historda, barada. Alle vier Männer lachen.

Ein etwas düsterer Raum mit drei Fenstern. Blick in einen wunderschönen sonnigen Garten. Vogelgezwitscher. In der Mitte des Raums ein rechteckiger Tisch mit Papierbögen, Wassergläsern, einer Wasserflasche und Brezeln. Die Autorin schraubt die Wasserflasche auf, füllt ein Glas und schiebt es langsam zu Herrn Adwitz, der mit starrem Blick diese Bewegung verfolgt und das Glas bis zum Ende des Gesprächs nicht anrührt. INTERVIEWERIN Dann würde ich sagen, ich stelle mich mal vor und erzähle ein wenig über meinen Auftrag. DOLMETSCHER spricht leise, aber sehr akzentuiert, in

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INTERVIEWERIN Was haben Sie ihnen gesagt? DOLMETSCHER Ich habe ihnen den Schriftstellerberuf erklärt. INTERVIEWERIN nachdenklich. Ich bin Schriftstellerin und habe den Auftrag, Sie dabei zu begleiten, die schönsten Erlebnisse aus Ihrem Leben zu Papier zu bringen. Pause, sie fährt etwas hastig fort. Momentaufnahmen Ihrer Kindheit zum Beispiel. Es sollen aber bitte nicht die Schilderungen des Kriegselends und der Flucht sein. Davon sind die Zeitungen voll, der Leser ist übersättigt und abgestumpft. DOLMETSCHER übersetzt.

INTERVIEWERIN Schreiben Sie so, dass jeder skeptische Deutsche menschliche Wesen in Ihnen erkennt. Menschliche Wesen mit Gefühlen, Erinnerungen, Humor und Charme ... lächelt abwesend. Letzteres ist natürlich nicht obligatorisch. Es geht darum, dass sich nach dem Lesen Ihrer Lebensgeschichten das Asylanten-Etikett von Ihnen ablöst und auf der Flasche nur mehr »Mensch« steht. Ich weiß nicht, ob das eine gelungene Metapher ist ... übergibt dem Dolmetscher mit einem Handzeichen das Wort. INTERVIEWERIN Die Texte, die Sie heute niederschreiben, werden in ein Buch in deutscher Sprache einfließen. Ein berührendes Buch für die Bevölkerung dieser Stadt. Ich hoffe zumindest, dass es die Menschen berühren wird … DOLMETSCHER fasst sich an den Mund, stöhnt Ich habe vergessen zu sagen, dass die Männer Analphabeten sind. INTERVIEWERIN nach kurzem Schweigen Umso besser. Dann erspare ich den Jungs die Mühe und schreibe für sie. DOLMETSCHER So ersparen Sie auch mir die schriftliche Übersetzungsarbeit. INTERVIEWERIN zieht den Papierstapel, der für die Männer gedacht war, zu sich heran. Beginnen wir mit Abdulrahman. Was ist seine schönste Erinnerung? Woran denkt er besonders gerne? DOLMETSCHER übersetzt zunächst, wendet sich dann der Interviewerin zu Er sagt, dass er an seine Cousine denkt. Er ist in sie verliebt. Bei uns dürfen Cousins und Cousinen heiraten. Es hat aber nicht geklappt, mit der Heirat. Leider. Aber er weiß, dass sie auch in ihn verliebt ist. INTERVIEWERIN schreibt Aha, das ist sehr interessant. Und woher weiß er, dass sie in ihn verliebt ist? DOLMETSCHER übersetzt wieder Sie hat es ihm gesagt. INTERVIEWERIN Wie dürfen wir uns dieses Mädchen vorstellen? Wie sieht es aus? DOLMETSCHER übersetzt Schön sieht sie aus. Nicht dick. Sie trägt einen Tschador. Er will sie heiraten und hat die Mutter des Mädchens auf seiner Seite.

Nur der Vater macht Stress. INTERVIEWERIN Was kann er noch über seine Kindheit mit der Cousine erzählen? DOLMETSCHER übersetzt Sie haben im selben Dorf gelebt und sich als Kinder jeden Tag getroffen. Zusammen haben sie Schafe gehütet. Das war schön. INTERVIEWERIN Wie romantisch! rezitiert »Sagt, wo sind die Rosen hin, die wir singend pflückten, als sich Hirt und Schäferin Hut und Busen schmückten?« Ist ein Lied aus dem 18. Jahrhundert. hastig Das brauchen Sie nicht zu übersetzen. Der Dolmetscher lächelt ratlos. INTERVIEWERIN Ist das Dorf schön grün, oder ist es dort eher staubig? Und die Häuser? Was hatten die für Dächer? DOLMETSCHER übersetzt Ein grünes Dorf, Häuser aus Lehm, Bambusvordächer. INTERVIEWERIN Ich brauche mehr Details. DOLMETSCHER übersetzt Zwei große Hunde waren immer mit dabei, die passten auf die Schafe auf. INTERVIEWERIN Aha, das ist interessant! macht Notizen. Zwei große Hunde also. Und wie hießen sie? Welche Farbe hatten sie? DOLMETSCHER spricht mit Abdulrahman Abdulrahman zuckt mit den Schultern und schnalzt mit der Zunge, als würde er die Hunde rufen. Die Interviewerin scheint kurz irritiert zu sein. DOLMETSCHER übersetzt Schwarze Hunde. Er sagt, die Hunde waren schwarz. Sie hatten keine Namen. INTERVIEWERIN Gut, vielen Dank, das reicht. Wie ist es mit Ihnen, Herr … ähm, Herr Adwitz? Sie haben einen markanten Namen. Ad heißt auf Russisch … Hölle. Und Witz heißt auf Deutsch Witz. Eine Witzhölle also. Lächelt erwartungsvoll, während der Dolmetscher übersetzt. Herr Adwitz schaut sie entgeistert an. Das Lächeln der Interviewerin erlischt.

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INTERVIEWERIN Gibt es etwas, woran Sie gerne denken? Herr Adwitz spricht lange und gestikuliert. DOLMETSCHER übersetzt Er ist mit 17 auf eine Mine getreten. Eine üble Sache. Das Gute war aber, dass die Nachbarn, nachdem er aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, meinten, er solle heiraten. Auf diese Weise hat er seine Cousine geehelicht. Es war eine Cousine väterlicherseits. Sie haben vier Kinder bekommen. INTERVIEWERIN leise Glück im Unglück. Herr Adwitz erzählt. Der Dolmetscher und die drei Männer lachen. DOLMETSCHER kichernd Seine Cousine wollte vom Dach springen, als sie von der Heirat mit dem Krüppel hörte. Doch die Brüder des Mädchens haben sie überzeugt, ihn zum Mann zu nehmen. Sie haben ihr Hilfe versprochen, und sie willigte schließlich ein. INTERVIEWERIN Ich bin mir sicher, Ihre Herzensdame hat diese Entscheidung nicht be… wird von Herrn Adwitz unterbrochen. DOLMETSCHER 30.000 Afghani musste er dem Brautvater zahlen. Später wollte er 5.000 zusätzlich. INTERVIEWERIN Fragen Sie ihn bitte, wie er vor seinem schrecklichen Unfall gelebt hat. DOLMETSCHER übersetzt Er hatte ein Kleidergeschäft. Zuerst kaufte er auf dem Flohmarkt Pullover. Dann ließ er aus der Wolle von den Frauen im Dorf neue Kleidungsstücke nähen. INTERVIEWERIN schreibt und spricht laut vor sich hin Ließ von den Frauen im Dorf Kleidungsstücke nähen. HERR ADWITZ macht eine Bewegung, als führe er eine Nadel, spricht aufgeregt Modder nawischtan schusch al schodan.

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DOLMETSCHER Seine ganze Familie konnte nähen, mit Seide sticken. Auch er kann das. INTERVIEWERIN Wunderbar. Vor dem Schneiderberuf habe ich, als Frau, viel Respekt. Pause Möchte er etwas über das Unglück erzählen? DOLMETSCHER übersetzt Nach der Detonation bemerkte er nicht, dass ihm etwas fehlte. Immer wieder versuchte er aufzustehen und fiel auf die Seite. Dann lag er drei Stunden allein da. Erst am Abend kam jemand vorbei und fand ihn. Der Dorfarzt leistete Erste Hilfe. Trotzdem blutete das Bein die ganze Nacht. Am nächsten Morgen trugen ihn die Männer stundenlang über die Felder nach Kabul ins AliAbad-Krankenhaus. INTERVIEWERIN Was geschah mit dem Bein? DOLMETSCHER übersetzt Das Bein landete in einem nahe gelegenen Gemüsegarten. Einige Tage danach wollte der Gartenbesitzer gießen. Er wunderte sich über die vielen Fliegen und fand das Bein. Der Schuh war noch dran. Er hat es beerdigt. Zusammen mit dem Schuh. INTERVIEWERIN Und dann bekam er die Prothese? DOLMETSCHER übersetzt Am Anfang hat er eine Prothese aus mehrfach gefaltetem Kuhleder getragen, mit Socke drüber. Als die abgewetzt war, hatte er neun Jahre lang eine Kunststoffprothese. Mit der kam er hierher. Nun ist die auch kaputt. INTERVIEWERIN Nicht weiter verwunderlich, nach dieser langen Reise. Hat er ein Lieblingswort? Eine kindische Frage, ich weiß, aber es würde mich wirklich interessieren. DOLMETSCHER erklärt lange und übersetzt Nak. Das heißt Birne. INTERVIEWERIN Nak. In der Tat sehr schön. Besten Dank! Die Interviewerin wendet sich an Mohamad.

INTERVIEWERIN Was ist Ihnen Schönes im Leben widerfahren? DOLMETSCHER übersetzt Die Kindheit ist die schönste Zeit im Leben. Er hat in jeder Sekunde seines Lebens Sehnsucht nach dieser Zeit. Als Kind hatte er viele Freunde und ließ Drachen steigen. Selbstgebastelte Drachen aus Bambus und Plastiktüten. INTERVIEWERIN schreibt Drachen steigen lassen ... wie wundervoll. Ich dachte, so etwas gibt es nur hier. Kann er das gut? Dazu braucht man Geschick. DOLMETSCHER übersetzt Geschick und Windstille. Sonst reißt der Faden. Oft ist der Drachen in den Garten des Nachbarn gefallen. Er musste immer wieder an das Tor des Nachbarn klopfen. Irgendwann hatte der Mann genug von der ständigen Klopferei. Er machte den Drachen einfach kaputt ... Jetzt ist das Wetter gut zum Drachensteigen zeigt zum Fenster. Aus dem Off ist Vogelzwitschern / Bienensummen zu hören. Es ist windstill.

Er kann sich vorstellen, wieder einen Laden zu haben. INTERVIEWERIN lächelt mitleidig Ich möchte auch einen Laden haben. an den Dolmetscher Sie nicht? DOLMETSCHER grinst komplizenhaft Schon, wer möchte das nicht? INTERVIEWERIN Und was können Sie, Mohamad? DOLMETSCHER übersetzt Er sagt, er kann sehr gut Drachen steigen lassen. INTERVIEWERIN kann sich das Lachen nicht verkneifen Süß! Die Interviewerin sieht auf die Uhr. INTERVIEWERIN Na gut, ich danke jedem ganz herzlich. Sie steht auf, sammelt die leeren Papierbögen ein und drückt jedem die Hand. Die Männer bleiben ratlos zurück.

INTERVIEWERIN erstaunter Blickwechsel zwischen Fenster und Dolmetscher Hat er das Drachensteigen allein praktiziert? DOLMETSCHER übersetzt Mit seinem Bruder Ematulla. Er war wie eine Mutter für ihn. Er hat gekocht, genäht. Um die anderen Geschwister hat er sich auch gekümmert. Die Eltern haben sie früh verloren. INTERVIEWERIN Wie viele Geschwister sind es insgesamt? DOLMETSCHER übersetzt Zehn. INTERVIEWERIN Wahnsinn. Ich bin Einzelkind und hätte gerne neun Geschwister gehabt. Überlegt. Wie stellen sich alle drei ihre Zukunft hier vor, was können sie handwerklich? DOLMETSCHER übersetzt Abdulrahmans Antwort Eine Schneiderlehre wäre toll. Er kann ein bisschen nähen. INTERVIEWERIN Gute Idee! DOLMETSCHER übersetzt die Antwort von Herrn Adwitz

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74 Foto: Jerry Bauer

Zum 100. Geburtstag und 25. Todestag von

Wolfgang Hildesheimer Das dramatische Werk im Suhrkamp

Der schiefe Turm von Pisa. Ein Spiel in einem

Theater Verlag

Akt (1959)

Der Drachenthron. Eine Komödie / Die Eroberung der Prinzessin Turandot (1955)

Pastorale oder die Zeit für Kakao. Ein Spiel in einem Akt (1958) Die Uhren. Ein Spiel in einem Akt (1959) Landschaft mit Figuren. Ein Spiel in zwei Teilen (1959)

Die Verspätung. Ein Stück in zwei Teilen (1961) Rivalen (1961) Nachtstück (1963) Mary Stuart. Eine historische Szene (1970) Die Herren der Welt. Eine Komödie in zwei Teilen Übersetzungen

Das Opfer Helena. Eine Komödie in

Bernard Shaw: Die heilige Johanna (1966)

zwei Teilen (1959)

Bernard Shaw: Helden (1970) William Congreve: Der Lauf der Welt (1985)

»Das absurde Theater ist eine Parabel über die Fremdheit des Menschen in der Welt. Sein Spiel dient daher der Verfremdung. Es ist ihre letzte und radikale Konsequenz. Und Verfremdung bedeutet Spiel im besten, wahrsten und – nebenbei bemerkt – im ältesten Sinne.« Wolfgang Hildesheimer

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suhrkamp spectaculum Bereits erschienen Volker Braun Dmitri / Die Übergangsgesellschaft / Nibelungen / Transit Europa / Limes. Mark Aurel / Was wollt ihr denn suhrkamp spectaculum

253 Seiten. Broschur. € 20,– (978-3-518-42378-3)

303 Seiten. Broschur. € 24,(978-3-518-42438-4)

Noah Haidle

Gesine Schmidt

Mr. Marmalade / Lucky Happiness Golden Express / Ada und ihre Töchter suhrkamp spectaculum

liebesrap / Oops, wrong planet! / Expats / Bier, Blut und Bundesbrüder suhrkamp spectaculum

205 Seiten. Broschur. € 18,– (978-3-518-42412-4)

217 Seiten. Broschur. € 18,– (978-3-518-42413-1)

240 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42462-9)

Noah Peter Handke Haidle Thomas Oberender

Einar Schleef

Stephan Kaluza

Mr. Marmaladeoder / Haupteingang? Nebeneingang Gespräche über 50Golden Jahre Schreiben Lucky Happiness Express / fürs und Theater Ada ihre Töchter suhrkamp spectaculum

Die Schauspieler / Mütter / Wezel / Berlin – ein Meer des Friedens suhrkamp spectaculum

Atlantic Zero / 3D / Sand suhrkamp spectaculum

199 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42437-7)

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151 Seiten. Broschur. € 14,– (978-3-518-42379-0)

228 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42463-6)

227 Seiten. Broschur. € 20,(978-3-518-42484-1)

Erscheint im Mai 2016

Erscheint im Mai 2016

Georg Ringsgwandl

Werner Fritsch

Der varreckte Hof / Der verreckte Hof suhrkamp spectaculum

Nofretete / Das Rad des Glücks / Mutter Sprache suhrkamp spectaculum

Ca. 130 Seiten. Broschur. Ca. € 14,(978-3-518-42508-4)

Ca. 100 Seiten. Broschur. Ca. € 14,(978-3-518-42509-1)

Mutter Weichsenrieder spricht mit Menschen, die nicht mehr leben, und sieht Dinge, die es nicht gibt. Wird sie dement oder tut sie nur so? Eine Pflegerin muss her. Ihre Kinder, die Handarbeitslehrerin Gerlinde und der Industriemanager Rupert, haben keine Zeit für die alte Bäuerin. So kommt Svetlana aus Moldawien auf den Hof und bringt die eingelaufenen Verhältnisse ins Rutschen. Dieses Buch veröffentlicht die ursprüngliche, bayerische Fassung der erfolgreichen »Stubenoper« Der varreckte Hof sowie die neuere hochdeutsche Fassung, Der verreckte Hof. Mit enthalten das Notenmaterial und ein Essay des Autors zu Dialekt, Hochsprache und den Hintergründen des Stücks. Georg Ringsgwandl arbeitete bis zu seinem 44. Lebensjahr als Arzt und steht seit über 30 Jahren auf der Bühne. Er veröffentlichte zehn Studioalben, schreibt Musiktheaterstücke, Bücher und Beiträge für Zeitungen und Magazine.

Drei Frauen verleiht Werner Fritsch in Das Rad des Glücks und Mutter Sprache und in Nofretete eine Stimme. Alle drei blicken zurück auf ein schmerzvolles Leben, dennoch formulieren sie Hymnen darauf. Die legendäre Königin Nofretete trauert um ihren Gemahl, den altägyptischen König Echnaton, der einst den Monotheismus eingeführt hatte. Nach seinem Tod droht die alte, mafiöse Priesterkaste die Macht zurückzugewinnen. Mit der Sintiza »Großmutter Courasch« (Das Rad des Glücks) hat Fritsch eine Ausnahmeprotagonistin für die deutsche Dramatik geschaffen: Ihr Leben war vor allem ein Überleben in den Lagern von Auschwitz und Ravensbrück. Mutter Sprache schließlich ist die Erinnerung einer alten Bäuerin an ein Leben, das »ein Gehetz und ein Gewürg« war und das den autobiografischen Kosmos birgt, aus dem Werner Fritsch seit Cherubim (1987) seine Figuren, Konflikte, seine Haltung als Erzähler schöpft.

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Jahrestage 2016

2017

85. Geburtstag

75. Geburtstag

9. Februar 1931 – 12. Februar 1989

8. August 1942

105. Geburtstag und 25. Todestag

75. Geburtstag

15. Mai 1911 – 4. April 1991

6. Dezember 1942

100. Geburtstag und 25. Todestag

50. Geburtstag

9. Dezember 1916 – 21. August 1991

30. November 1967

Thomas Bernhard Max Frisch

Wolfgang Hildesheimer

Isabel Allende Peter Handke Albert Ostermaier

90. Geburtstag

Gerlind Reinshagen 4. Mai 1926

2018

100. Geburtstag

80. Geburtstag

Peter Weiss 8. November 1916 – 10. Mai 1982

Herbert Achternbusch 23. November 1938 75. Geburtstag

Reinhild Hoffmann 1. November 1943

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Impressumsum / Kontakt

Suhrkamp Verlag AG Suhrkamp Theater Verlag Pappelallee 78-79 10437 Berlin E-Mail: [email protected] (oder: [email protected]) Telefon: +49 (0)30/740 744 395 Telefax: +49 (0)30/740 744 399 www.suhrkamptheater.de Leitung: Christiane Schneider Nicola Ahr (Assistenz) Dramaturgie: Nina Peters (Lektorat Theater) / Frauke Pahlke (Vertretung) Michael Sauter (Lektorat Theater, Musiktheater) Ruth Feindel (Lektorat Theater) Lizenzen: Britta Davis (professionelle Theater, internationale Lizenzen) Alexandra Murphy (Amateure, Lesungen, TV-Ausschnitte, Vertonungen) Textbuchbestellungen: über www.suhrkamptheater.de, www.theatertexte.de oder [email protected]

Redaktion: Gestaltung:



Dramaturgie Jutta Schneider Grafik Design, Frankfurt a. M. © Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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