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February 1, 2018 | Author: Anonymous | Category: Geschichte, Geschichte der Vereinigten Staaten
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Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

THEMENHEFT 1|12

Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte

Wechseljahre: Amerika zwischen den Wahlen

Einsichten und Perspektiven

Autor dieses Heftes

Impressum

Dr. Josef Braml ist seit Oktober 2006 wissenschaftlicher Mit-

Einsichten

arbeiter des Programms USA / Transatlantische Beziehungen

und Perspektiven

der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er leitet außerdem die Redaktion „Jahrbuch Internatio-

Verantwortlich:

nale Politik“. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der

Monika Franz,

Stiftung Wissenschaft und Politik (2002–2006), Projektleiter des

Praterinsel 2,

Aspen Institute Berlin (2001), Visiting Scholar am German-

80538 München

American Center (2000), Consultant der Weltbank (1999), Guest Scholar der Brookings Institution (1998–1999), Congressional

Redaktion:

Fellow der American Political Science Association (APSA) und

Monika Franz,

legislativer Berater im US-Abgeordnetenhaus (1997–1998).

Christoph Huber,

Ausbildungsstationen: Berufsausbildung zum Bankkaufmann;

Werner Karg

Wehrdienst Pionierbataillon 240; Abitur über den Zweiten Bildungsweg; Auslandssemester an der Université de Nice – Sophia

Gestaltung:

Antipolis; Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien (Di-

griesbeckdesign

plom) an der Universität Passau (1997); Promotion im Haupt-

www.griesbeckdesign.de

fach Politikwissenschaft und in den Nebenfächern Soziologie und Französische Kulturwissenschaft an der Universität Passau

Litho und Druck:

(2001).

creo Druck & Medienservice GmbH, Gutenbergstraße 1, 96050 Bamberg Titelbild: Speisung für bedürftige Immigranten und Arbeitslose im Friendship House in Immokalee, Florida, 2009 Foto: ullstein bild

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

Einsichten und Perspektiven

Inhalt

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5 6 6 7 8 11 13 14

Grundlagen des politischen Systems der USA Machtkontrolle: Checks and Balances Politische Einzelunternehmer Schwache Parteien, starke Interessengruppen und Ad-hoc-Koalitionen 9/11: Verschiebung der Machtbalance – Dominanz des Oberbefehlshabers Judikative: Inter arma silent leges Die Verantwortung der Legislative Öffentliche und veröffentlichte Meinung

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Die Wahlen 2008, 2010 und 2012: It’s the Stupid Economy!

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Wirtschaftslage und innenpolitische Rahmenbedingungen … Konsumschwäche und Arbeitslosigkeit Rekordhaushaltsdefizit und Staatsverschuldung Gefahr von Inflation und Spekulationsblasen Politikblockade

21 22 25 27 28 28 29 30 31 32 32 34 38 40 40

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Einleitung: Obamas „Change“ versus institutionelle Kontinuitäten

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… für die amerikanische Außenpolitik Handelspolitik Freie Hand für freien Handel? Protektionismus auf dem Kapitol-Hügel „Politik“ des schwachen Dollars Energie(außen)politisches Umsteuern Amerikas Sucht nach importiertem Öl Strategische Energieressourcen-Unsicherheit Energetische Wirtschafts- und Handelsrisiken Wahrnehmung von Umwelt- und Sicherheitsgefahren Reformunfähigkeit der US-Regierung unter George W. Bush Chancen eines Kurswechsels unter Obamas Führung Sicherheitspolitische „Neuorientierung“ nach Asien „Congagement“ mit China Engagement mit Japan Aufwertung Indiens „Af-Pak“-Krieg Globale NATO als „Allianz der Demokratien“

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Amerikanische Ideen für eine neue Weltordnung

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Schlussfolgerungen für Deutschland und die Welt 3

Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Wechseljahre: Amerika zwischen den Wahlen Von Dr. Josef Braml

Barack Obama beim Wahlkampf 2008 in New Hampshire 4

Quelle: alle Fotografien im Heft von ullstein

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Obamas „Change“ versus institutionelle Kontinuitäten „Change We Can Believe In“ lautete das Mantra des Wahlkämpfers Barack Obama. Für seine Anhänger, ja Jünger, dies- und jenseits des Atlantiks waren seine Worte in der Tat eine Glaubenssache. Jene, die im Vorfeld der Wahl Obamas zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika die überzogenen Erwartungen zu dämpfen suchten und mit rationalen Argumenten davor warnten, dass Obama als Präsident nicht über Wasser gehen können würde,1 wurden als Anti-Amerikaner diffamiert. Die sachlich begründeten Einwände, dass es institutionelle, fest im politischen System der USA begründete Schwerkräfte gebe, die gegen die ersehnten Ad-hoc-Veränderungen wirken, wurden von den Vorboten des neuen politischen Messias auf dem Scheiterhaufen der political correctness gebrandmarkt. Heute, im Jahre drei nach Obamas Inauguration, geläutert durch die Schwierigkeiten ihres Präsidenten, sich in den Niederungen der Tagespolitik unter anderem auch gegen den Kongress durchzusetzen, wird die Debatte wieder etwas nüchterner geführt. Doch dieselben transatlantischen Honoratioren, die damals vom Euphemismus jugendlicher Wählerinnen und Wähler inspiriert „Yes, We Can“ skandierten, werden auch heute nicht müde, wieder einmal die „neue Lage“ zu erklären: Im amerikanischen System sei es nicht so ein-

fach, „durchzuregieren“. Wo sie recht haben, haben sie recht: Das politische System der USA unterscheidet sich – aber grundlegend – von parlamentarischen Regierungssystemen wie dem der Bundesrepublik Deutschland.

Grundlagen des politischen Systems der USA Der zentrale Unterschied zwischen dem US-amerikanischen checks-and-balances-System und parlamentarischen Regierungssystemen liegt in der unterschiedlichen Beziehung zwischen der Legislative (Parlament) und der Exekutive (Regierung) begründet (siehe Abbildung 1).2 Anders als der US-Präsident, der durch einen Wahlakt eigene Legitimation durch den Wähler beanspruchen kann (siehe Abbildung 2), wird zum Beispiel die deutsche Kanzlerin mittelbar von der Mehrheit im Parlament gewählt. Auch in der politischen Auseinandersetzung muss der Kopf der Exekutive darauf vertrauen können, dass seine Politikinitiativen von seiner Fraktion bzw. Koalition im Parlament, sprich dem Bundestag mitgetragen werden. Diese Gewaltenverschränkung charakterisiert parlamentarische Regierungssysteme, zumal die Stabilität sowohl der Regierung/der Exekutive als auch jene der Parlamentsmehrheit von einer engen und vertrauensvollen Kommunikationsbeziehung zwischen beiden abhängen.3

Abbildung 1: Vergleich unterschiedlicher politischer Systeme

Quelle: eigene Darstellung

1 Josef Braml/Eberhard Sandschneider/Simon Koschut: Netzwerke entscheiden. Nicht alles wird gut nach den US-Wahlen im November, DGAP Standpunkt Nr. 11/2008, Berlin: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Juli 2008. 2 Emil Hübner/Heinrich Oberreuter: Parlament und Regierung. Ein Vergleich dreier Regierungssysteme, München 1977; Winfried Steffani: Parlamentarische und präsidentielle Demokratie: Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien, Opladen 1979; ebd.: Regierungsmehrheit und Opposition, in: Winfried Steffani/Jens-Peter Gabriel (Hg.): Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, Opladen 1991, S. 11–35. 3 „The confidence rule is the central element upon which the logic of the parliamentary system rests.“ R. Kent Weaver: Are Parliamentary Systems Better?, in: Brookings Review, 3 (1985) H. 4, S. 16–25; hier: S. 17. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Abbildung 2: Das Verfassungssystem der USA

Quelle: Zahlenbilder

Machtkontrolle: Checks and Balances Im politischen System der USA sind Legislative (Kongress) und Exekutive (Präsident) nicht nur durch verschiedene Wahlakte stärker voneinander getrennt. Das System der checks and balances ist darüber hinaus gekennzeichnet durch konkurrierende, sich gegenseitig kontrollierende politische Gewalten.4 (Dieses Prinzip ist auch auf der Ebene der Einzelstaaten angelegt; zudem konkurrieren die Staaten mit dem Bund um Kompetenzen – das sind historisch angelegte, permanente Auseinandersetzungen, die im Laufe der amerikanischen Verfassungsgeschichte auch das Oberste Gericht immer wieder zu Grundsatzentscheidungen genötigt haben.) Der amerikanische Kongress übernimmt nicht

automatisch die politische Agenda der Exekutive, sprich des Präsidenten, selbst wenn im Fall des united government5 das Weiße Haus und Capitol Hill von der gleichen Partei „regiert“ werden; insbesondere dann nicht, wenn Präsident und Kongress von unterschiedlichen Parteien „kontrolliert“ werden, also in Zeiten des so genannten divided government – eine Regierungskonstellation,6 die mit den Zwischenwahlen 2010 wieder eintrat. Politische Einzelunternehmer Während im US-System die Legislative (das heißt die zwei Kammern im Kongress: Abgeordnetenhaus und Senat, siehe Abbildung 3) als Ganzes mit der Exekutive um Macht-

4 Richard E. Neustadt beschreibt das amerikanische System treffend als „government of separated institutions sharing powers“. Charles O. Jones präzisierte Neustadts Idiom folgendermaßen: „separated institutions sharing and competing for powers“. Siehe Richard Neustadt: Presidential Power and the Modern Presidents: The Politics of Leadership from Roosevelt to Reagan, New York/Toronto 1990, S. 29; Charles O. Jones: The Presidency in a Separated System, Washington, D.C. 2005, S. 24. 5 James L. Sundquist: Needed: A Political Theory for the New Era of Coalition Government in the United States, in: Political Science Quarterly 103 (1988) H. 4, S. 613-635. 6 Auch Weaver und Rockman differenzieren zwischen diesen beiden „Regimetypen“; vgl. R. Kent Weaver/Bert A. Rockman: Assessing the Effects of Institutions, in: dies. (Hg.): Do Institutions Matter? Government Capabilities in the United States and Abroad, Washington, D.C. 1993, S. 1-41.

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Abbildung 3: Der Kongress – Aufgaben und Befugnisse

Quelle: Zahlenbilder

befugnisse konkurriert,7 ist „Opposition“ im parlamentarischen System auf die Minderheit im Parlament beschränkt, die nicht die Regierung trägt.8 Für die Regierungspartei/ -koalition sind Partei- und Fraktions- bzw. Koalitionsdisziplin grundlegend erforderlich, um die Funktionsfähigkeit der eigenen Regierung, ja des parlamentarischen Regierungssystems zu gewährleisten. Da Exekutive und Parlamentsmehrheit in einer politischen Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, haben einzelne Abgeordnete ohnehin ein Eigeninteresse, bei wichtigen Abstimmungen nicht von der Parteilinie abzuweichen und sich der Fraktionsdisziplin zu fügen. Wahlverfahren, Parteienfinanzierung, Kandidatenrekrutierung und die hohe Arbeitsteilung im Parlament geben weitere Anreize für parteidiszipliniertes Verhalten.9 Hingegen ist in den USA die politische Zukunft einzelner Abgeordneter und Senatoren weitgehend unabhängig von der des Präsidenten; ihre Wahlchancen sind im eigenen Wahlkreis bzw. Einzelstaat zu suchen. Aufgrund

des Wahlsystems und der Politikfinanzierung sind „politische Einzelunternehmer“ in den USA primär selbst für ihre Wiederwahl verantwortlich und haften gegebenenfalls auch persönlich für ihr bisheriges Abstimmungsverhalten im Kongress, weil sie sich gegenüber Interessengruppen und Wählern nicht hinter einer Parteidisziplin verstecken können. In der legislativen Auseinandersetzung fehlen US-Parteien Ressourcen und Sanktionsmechanismen, um den Gesetzgebungsprozess zu gestalten.10 Schwache Parteien, starke Interessengruppen und Ad-hoc-Koalitionen Parteien spielen in den USA – mit Ausnahme ihrer Funktion bei den Wahlen – eine untergeordnete Rolle. Das Unvermögen der Parteien, Politik zu gestalten und auch für personellen Nachschub zu sorgen, eröffnet sowohl Think-Tanks (das sind politikorientierte For-

7 Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische Partnerschaft“ zwischen Kongress und Präsident treffend als den „Kern des amerikanischen politischen Systems, der es von parlamentarischen europäischen [Systemen] unterscheidet“. Vgl. ders., Kongreß und Präsident, in: Willi Paul Adams/Peter Lösche (Hg.): Länderbericht USA, Bonn 1998, S. 207. Sicherlich ist es oftmals schwierig zu beurteilen, inwieweit es sich um parteipolitische oder institutionelle Auseinandersetzungen handelt. 8 Die unterschiedlichen föderalen Strukturen und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder bzw. Machtbefugnisse der Einzelstaaten in den USA werden hier nicht ausgeführt. 9 Vgl. Klaus von Beyme: Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt am Main 1993; Suzanne S. Schüttemeyer: Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949-1997: Empirische Befunde und theoretische Folgerungen, Opladen 1998; ebd.: Parliamentary Parties in the German Bundestag, Washington, D.C. 2001. 10 „Nor should one expect political parties in a separated system to exercise power they do not or cannot possess.“ Siehe Jones (wie Anm. 4), S. 18. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

schungsinstitute) als auch Interessengruppen größere Aufgabengebiete und Einwirkungsmöglichkeiten.11 So genannte advokatische, interessenorientierte ThinkTanks,12 die oftmals auch den entsprechenden rechtlichen Status erwerben, um Graswurzel-Lobbying betreiben zu können,13 arbeiten strategisch mit politisch gleichgesinnten Gruppen von Abgeordneten und Senatoren sowie Lobbyisten und Journalisten in „Themennetzwerken“14 oder „Tendenzkoalitionen“15 zusammen, um ihre Politikvorstellungen in die Tat umzusetzen. Ein besonders wirksames Mittel für Interessengruppen, um Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess und die Wiederwahl zu nehmen, sind „Wählerprüfsteine“ (scorecards oder voter guides). Interessengruppen der Christlichen Rechten machen zum Beispiel kritische Abstimmungen publik, „damit unsere Abgeordneten und Senatoren wissen, dass ihre Bevölkerung im Wahlkreis genau erfahren wird, wie sie abgestimmt haben“, erläutert etwa Lori Waters, die über vier Jahre das Eagle Forum geleitet hat.16 Auch die Christian Coalition, die prominenteste Organisation der Christlichen Rechten, ist seit jeher darum bemüht, vor allem im Vorfeld von Wahlen ihre Anhängerschaft auf das bisherige Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter aufmerksam zu machen.17 Dieser externe Einfluss einer Vielzahl unterschiedlicher und oft widerstreitender Interessen ist als erheblich einzuschätzen, vor allem auch bei den Kongresswahlen. Da US-Abgeordnete und Senatoren keiner Parteidisziplin unterworfen sind, können sie sich auch nicht hinter ihr verstecken. Einzelne Politiker laufen ständig Gefahr, im Rahmen einflussreicher Kampagnen an den Pranger gestellt und gegebenenfalls bei der Kandidatur um eine Wiederwahl persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie wägen deshalb bei jeder einzelnen Abstimmung gründlich ab, wie sie sich bei den nächsten Wahlen für sie auswirken könnte. Bei der UNFPA-Abstimmung (über die Finanzen des

Weltbevölkerungsfonds) zum Beispiel stellte neben anderen Grass-Roots-Organisationen der Christlichen Rechten auch das Eagle Forum Kongressabgeordnete vor eine solche Gewissensentscheidung: „Die UNFPA-Abstimmung wird morgen stattfinden“, erklärte die damalige Geschäftsführerin des Eagle Forums, Lori Waters. „Deshalb haben wir mit einem E-Mail-Alarm unsere gesamte Mitgliederbasis informiert: ‚Die Abstimmung wird extrem knapp ausfallen, fordert deshalb Euren Abgeordneten auf, für diese Gesetzesänderung zu stimmen.‘“ Das Eagle Forum werde die Abstimmung auch auf seinem scoreboard bekanntgeben, so Waters weiter, und eine target list herausgeben, auf der man lesen kann, dass zwar jeder kontaktiert werden solle, die genannten Abgeordneten aber „besondere Aufmerksamkeit“ benötigten. Laut Waters erweist sich dieses Vorgehen als besonders effektiv: „Wenn ein Kongressabgeordneter sieht, dass er auf einer Liste steht, dann ist er wirklich hellwach und merkt, dass er Farbe bekennen muss.“18 Der US-Präsident ist demnach laufend gefordert, im Kongress für die Zustimmung seiner Politik zu werben, das heißt je nach Politikinitiative unterschiedliche und zumeist parteiübergreifende Ad-hoc-Koalitionen zu schmieden. Mit anderen Worten: Der Präsident muss so genannte leadership demonstrieren und dafür sorgen, dass die (qualifizierte)19 Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren seiner Politik folgen,20 die ihrerseits eine institutionelle Identität als Mitglieder des Kongresses haben und sich der „anderen Staatsgewalt“ (the other branch of government) zugehörig fühlen. 9/11: Verschiebung der Machtbalance – Dominanz des Oberbefehlshabers Die Sorge um die institutionelle Machtbalance tritt jedoch in den Hintergrund, wenn – wie mit den Anschlägen vom 11. September 2001 deutlich wurde – Gefahr in Verzug ist

11 Vgl. Winand Gellner: Ideenagenturen fu? r Politik und O? ffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, Opladen 1995, S. 254. 12 Für eine Typologie von Think-Tanks siehe Gellner (wie ebd.) und R. Kent Weaver: The Changing World of Think Tanks, in: Political Science and Politics 22 (1989) H. 3, S. 563-579. 13 Vgl. Josef Braml: Think Tanks versus „Denkfabriken“? U.S. and German Policy Research Institutes‘ Coping with and Influencing Their Environments; Strategien, Management und Organisation politikorientierter Forschungsinstitute (dt. Zusammenfassung), Aktuelle Materialien zur Internationalen Politik 68, Stiftung Wissenschaft und Politik, Baden-Baden 2004, S. 50-70. 14 Vgl. Hugh Heclo: Issue Networks and the Executive Establishment, in: Samuel Beer/Anthony King (Hg.): The New American Political System, Washington, D.C. 1978, S. 87-124. 15 Vgl. Gellner (wie Anm. 11), S. 26-27; Paul Sabatier: Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen: Eine Alternative zur Phasenheuristic, in: PVS-Sonderheft 24 (1993), S. 116-148. 16 Interview J.B. mit Lori Waters, Executive Director, Eagle Forum, 14.7.2003. 17 Ausführlicher: Josef Braml: Das Themennetzwerk der Christlichen Rechten als politischer Machtfaktor in den USA, in: Winand Gellner/Gerd Strohmeier (Hg.): Politische Strukturen und Prozesse im Wandel, PIN-Jahrbuch 2004, Baden-Baden 2005, S. 81-95. 18 Interview J.B. mit Lori Waters, Executive Director, Eagle Forum, 14.7.2003. 19 Um parlamentarische Manöver im Senat, so genannte filibuster, abzuwenden (to invoke cloture), ist eine qualifizierte Mehrheit von drei Fünfteln (60) der Senatoren erforderlich. 20 In Neustadts (wie Anm. 4, S. 29-49) Terminologie muss der Präsident „Überzeugungskraft“ (the power to persuade) an den Tag legen.

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Die Anschläge des 11. September 2001: Das zweite Flugzeug schlägt in den südlichen Turm des World Trade Center ein.

und auch die Bevölkerung vom Präsidenten politische Führung erwartet, um das Land zu schützen. In Zeiten existenzieller Bedrohung kommt dem Präsidenten die Rolle des Schutzpatrons der Nation zu. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte steht er im Mittelpunkt der (Medien-)Aufmerksamkeit. Der patriotische Sammlungsaffekt des rally around the flag bedeutet einen immensen Vertrauens-

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vorsprung und Machtgewinn für den Präsidenten und die Exekutive. Der Kongress hat, wie eingangs ausgeführt, im politischen System der Vereinigten Staaten, anders als die Legislative in parlamentarischen Regierungssystemen, allgemein eine sehr starke, institutionell fundierte Machtstellung gegenüber der Exekutive – ein Machtpotenzial, mit

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dem in Zeiten nationaler Bedrohung freilich sehr behutsam umgegangen wird. Denn in Kriegszeiten ist jeder einzelne Abgeordnete und Senator angehalten, Partei für die nationale Sicherheit zu ergreifen. Obschon amerikanische Kongressmitglieder grundsätzlich keine Parteisoldaten, sondern unabhängige politische Unternehmer sind, stehen auch sie in solchen Zeiten an der Seite des Obersten Befehlshabers, wenn es darum geht, ihm „patriotische Handlungsbefugnisse“ zu geben und ihn bei der „Verteidigung des Heimatlandes“ zu unterstützen. In dieser Lage wäre die Legislative schlecht beraten, ihr institutionelles Gegengewicht in die politische Waagschale zu werfen, um eine starke und markante Oppositionsrolle zu spielen. Der Kongress hat in einer solchen Ausnahmesituation nicht das politische Gewicht, einen derartig populären Präsidenten im Kampf gegen den Terrorismus herauszufordern, würde er doch damit den Garanten der nationalen Einheit und Handlungsfähigkeit in Frage stellen. In Krisenzeiten kann der Kongress nur eine beratende und unterstützende Rolle spielen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Charles O. Jones bringt es auf den Punkt: „So effektiv die Arbeit des Kongresses sein mag und so sehr sich der Kongress in den letzten dreißig Jahren erfolgreich darum bemühte, eine verantwortungsvollere Rolle in der politischen Auseinandersetzung zu übernehmen – eine Krise wie diese, ein Pearl Harbor im eigenen Land gewissermaßen, verlangt nach politischer Führung. Der Kongress ist keine Einheit. […] Er hat politische Führer, aber keinen Einzelführer. […] Die Macht kann sich also nur zum Präsidenten verlagern. […] Der Kongress nimmt in diesem Prozess eine beratende und unterstützende Rolle ein. Aber sie ist nicht darauf angelegt, einen Krieg zu führen.“21 Mit den Anschlägen des 11. September 2001 wurde der bereits vorher artikulierte Wille der Exekutive katalysiert und legitimiert, die in den vergangenen drei Jahrzehnten entstandene Machtfülle des Kongresses22 wieder zu beschneiden. Schon unmittelbar nach Amtsantritt ließen Präsident George W. Bush und seine Gefolgsleute keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie die Position der Exekutive auf Kosten der Machtbefugnisse der Legislative zu stärken beabsichtigten. Diese offensive Strategie des Weißen

Hauses, den vor allem in der Amtszeit des Vorgängers Bill Clinton erstarkten Kongress wieder in eine untergeordnete Rolle zu drängen, erhielt mit den Terroranschlägen von New York und Washington ihre Legitimation – die in der amerikanischen Bevölkerung gemeinhin gehegte Überzeugung, dass dies angesichts der nationalen Bedrohung rechtens, ja notwendig sei. Im so genannten Globalen Krieg gegen den Terror konnte der Präsident nunmehr die dominante Rolle des Oberbefehlshabers der Streitkräfte spielen. Aber auch in der nationalen Diskussion gelang es George W. Bush, seine Diskurshoheit zu etablieren und sich als Schutzpatron zu gerieren, der die traumatisierte Nation vor weiteren Angriffen bewahrt.23 Das Weiße Haus ließ denn auch keinen Zweifel an seinem Selbstverständnis und nutzte das enorme Machtpotenzial, die so genannte contingency power, die dem Präsidenten bei nationalen Notlagen zufällt: „Aufgrund der Art und Weise, wie unsere Nation konstituiert und unsere Verfassung geschrieben ist, liegt die politische Macht in Kriegszeiten hauptsächlich in den Händen der Exekutive“ – lautete der Klartext des damaligen Pressesprechers Ari Fleischer.24 Um jeglichen Missverständnissen vorzubeugen, wurde der damalige Justizminister John Ashcroft im Kongress noch deutlicher: „Ich hoffe auch, dass der Kongress die Amtsgewalt des Präsidenten respektiert, den Krieg gegen den Terrorismus zu führen und unsere Nation und ihre Bürger mit der ganzen ihm von der Verfassung zugedachten und vom amerikanischen Volk anvertrauten Machtfülle zu verteidigen.“25 Im Zuge des Globalen Krieges gegen den Terror hat Präsident George W. Bush als Oberster Befehlshaber vor allem bei der inneren Sicherheit seine Handlungsmacht auf Kosten der Legislative und Judikative ausgeweitet. Zudem verdeutlichen die Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte, insbesondere der HabeasCorpus-Rechte mutmaßlicher Terroristen, partielle und vermutlich temporäre Defizite der einstigen Vorbild-Demokratie USA. Diese – auch unter der Regierung Obama bislang fortgeführte – Entwicklung ist umso prekärer, als der Zustand der amerikanischen, freiheitlich verfassten offenen Gesellschaft aufgrund ihres Vorbildcharakters die weltweite Perzeption

21 Zit. n. John Cochran/Mike Christensen: Regrouping with a Common Purpose, in: Congressional Quarterly Weekly, 59 (15.9.2001) H. 35, S. 2114. 22 Ausführlicher zum „Triumph der Legislative“ siehe Jürgen Wilzewski: Triumph der Legislative: Zum Wandel der amerikanischen Sicherheitspolitik 1981-1991, Frankfurt am Main/New York 1999. 23 Ausführlich dazu: Josef Braml: Machtpolitische Stellung des Präsidenten als Schutzpatron in Zeiten nationaler Unsicherheit, in: Zwei Jahre Präsident Bush: Beiträge zum Kolloquium der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin am 13. Februar 2003, SWP-Studie S 9, Berlin 2003, S. 35-39. 24 Zit. n. Dana Milbank: In War, It’s Power to the President, in: Washington Post v. 20.11.2001, S. A1. 25 Testimony of Attorney General John Ashcroft, Senate Committee on the Judiciary, 6.12.2001, Washington, D.C.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Der Sitzungssaal des Obersten Gerichtshofs in Washington, D.C.

demokratischer Rechtsstaatlichkeit und internationale Rechts- und Ordnungsvorstellungen beeinflusst.26 In der amerikanischen Geschichte gab es immer wieder Phasen äußerer Bedrohung, in denen sich die Machtbalance zu Gunsten der Exekutivgewalt verschoben hat. In einer eingehenden Analyse dieses Phänomens mit dem Titel „All the Laws but One: Civil Liberties in Wartime“ warnte William Rehnquist, bis zu seinem Tode Anfang September 2005 Chief Justice des U.S. Supreme Court, vor der Gefahr, dass der Oberste Befehlshaber in Kriegszeiten durch zusätzliche Machtbefugnisse dazu verleitet werde, den konstitutionellen Rahmen zu überdehnen.27 Judikative: Inter arma silent leges Nach seinem Blick in die Geschichte hat der Oberste Richter jedoch kein allzu großes Vertrauen, dass seine Zunft der Exekutive die zu wahrenden Grenzen unmittelbar aufzeigt: „Wenn die (höchstrichterliche) Entscheidung getroffen wird, nachdem die Kriegshandlungen beendet sind, ist es wahrscheinlicher, dass die persönlichen Freiheitsrechte favorisiert werden, als wenn sie getroffen wird, während der Krieg noch andauert.“28 Obschon vereinzelt zivilgesellschaftliche advocacy groups einige Teilerfolge erzielt und einschlägige Urteile erwirkt haben, wurden diese in der Regel nach Gegenhalten der Exekutive von höheren Instanzen wieder zurückgewiesen oder für nicht rechtskräftig erklärt.

Solange der „Globale Krieg gegen den Terror“ andauert, wird wohl die römische Maxime inter arma silent leges auch im politischen System der Vereinigten Staaten in Geltung bleiben.29 Wenn auch das Recht nicht völlig geschwiegen hat, so erweisen sich die bisherigen Äußerungen bislang doch als kraftlos. Das Oberste Gericht hält sich in Krisenund Kriegszeiten als (im eigenen Selbstverständnis) nichtpolitische Instanz eher zurück – es will dem Obersten Befehlshaber nicht in den Arm fallen. Zwischenzeitlich sprach jedoch der Oberste Gerichtshof ein „Machtwort“: zum rechtlichen Status des in Afghanistan festgenommenen amerikanischen Staatsbürgers Yaser Esam Hamdi (Hamdi et al. vs. Rumsfeld) und zu den Rechtsansprüchen von Nicht-Amerikanern auf dem US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay, Kuba (Rasul et al. vs. Bush). Mit diesen Urteilen vom 28. Juni 2004 widersprach der Supreme Court der bisherigen Praxis der Exekutive, nach der diese die Möglichkeit einer Ex-PostÜberprüfung durch eine juristische Kontrollinstanz verwehrte und eigenmächtig a priori darüber urteilte, wer welche Rechte „verdient“. Der Oberste Gerichtshof verdeutlichte, dass die richterliche Kontrolle exekutiver Entscheidungen ein wesentliches Element des amerikanischen Systems der checks and balances sei. Bei der Urteilsfindung ging es um nicht weniger als das Habeas-Corpus-Prinzip, das Recht jedes Häftlings in demokratisch verfassten Staaten, die Verfassungs- oder Gesetzmäßigkeit seiner Festnahme vor Gericht anzufechten. Die Richter nahmen nur zur

26 Ausführlicher: Josef Braml: Rule of Law or Dictates by Fear. A German Perspective on American Civil Liberties in the War Against Terrorism, in: Fletcher Forum of World Affairs 27 (2003) H. 2, S. 115-140. 27 William H. Rehnquist: All the Laws but One: Civil Liberties in Wartime, New York/Toronto 1998, S. 224. 28 Ebd. 29 „Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze“, oder „Im Krieg ist das Recht kraftlos“ (Cicero, Rede für Milo; Übersetzung nach Detlef Liebs: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 1982, S. 197). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Das Gerichtssystem der USA Im Gerichtswesen der USA herrscht ebenso das Prinzip der Gewaltenteilung – zwischen der Bundesgerichtsbarkeit und der Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten, die parallel existieren. (Daneben gibt es auch noch die – außerhalb der Judikative wirkende – Militärgerichtsbarkeit (military courts). Die Bundesgerichtsbarkeit besteht aus drei Instanzen: Auf der untersten Ebene richten 94 district (trial) courts, darüber stehen 13 Berufungsgerichte (appellate courts), deren Urteile wiederum vom Obersten Gericht (Supreme Court) revidiert werden können. Der Supreme Court besteht aus neun Richterinnen und Richtern, die auf Lebenszeit berufen werden. Sie werden vom Präsidenten ernannt und müssen von der Legislative, namentlich vom Senat, gebilligt werden. Die höchstrichterlichen Urteile beeinflussen u.a. auch die Kräfteverhältnisse der politischen Gewalten im US-System der checks and balances. So wurden die Versuche der Regierung George W. Bushs, die eigenen Machtbefugnisse auf Kosten jener der Legislative und Judikative auszuweiten, vom Supreme Court verurteilt. Unter anderem mit dem Urteil vom Juni 2008 (Boumediene et al. vs. Bush et al.) wahrte das Oberste Gericht einmal mehr die eigene Raison d’Être – gleichwohl mit einer denkbar knappen Mehrheit von fünf gegen vier Stimmen. Dabei haben die beiden von Präsident Bush ernannten Richter Samuel A. Alito und Chief Justice John G. Roberts, Jr. in ihrer Minderheitsmeinung die Machtanmaßungen und Vorgehensweise des Präsidenten im „Globalen Krieg gegen denTerror“ gebilligt. Mit der künftigen Neubesetzung von Richterämtern am Supreme Court stehen mit einer möglichen Veränderung der Mehrheitsverhältnisse auch grundlegende, für die Qualität der amerikanischen Demokratie ausschlaggebende Entscheidungen auf dem Spiel.

Frage der Gerichtsbarkeit Stellung,30 nicht aber zu den weiteren Verfahrensweisen. Sie behaupteten damit zwar ihre Machtbefugnisse. Doch sie gingen nicht soweit, der Exekutive vorzuschreiben, wie diese rechtsstaatlichen Prinzipien auf die aktuellen Fälle angewendet werden sollen. Auch mit der weiteren Entscheidung im Fall des auf Guantánamo inhaftierten Salim Ahmed Hamdan31 (Hamdan vs. Rumsfeld) wies das Oberste Gericht den Präsidenten einmal mehr in die Schranken, indem es die eigenen Machtbefugnisse und die Rolle des Kongresses verdeutlich-

Die Gerichte der Einzelstaaten sind hauptsächlich für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zuständig. Jeder Einzelstaat hat sein eigenes, mehrstufig aufgebautes Gerichtssystem. So gilt in einigen Staaten noch dieTodesstrafe, während sie in anderen bereits abgeschafft wurde. Auch die Berufung der Richter ist unterschiedlich: Je nach Bundesstaat werden Richter entweder direkt vom Volk gewählt oder politisch, das heißt von der jeweiligen Exekutive und Legislative, ernannt.

te. Die Bush-Administration hatte im Vorfeld der höchstrichterlichen Entscheidung öffentlichkeitswirksam argumentiert,32 dass der Supreme Court im Fall Hamdan vs. Rumsfeld keine Jurisdiktion habe, weil der vom Kongress gebilligte Detainee Treatment Act (auch für laufende Fälle) vorsehe, dass Inhaftierte auf Guantánamo keine HabeasCorpus-Petitionsrechte vor Bundesgerichten geltend machen können, sondern ihre Fälle zunächst in Militärtribunalen (mit Revisionsmöglichkeit vor dem Berufungsgericht des District of Columbia) entschieden werden müssen und

30 Die Bush-Administration vertrat die Auffassung, dass der – wohl bewusst gewählte – Inhaftierungsort auf dem US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay (Kuba) außerhalb des souveränen Staatsgebietes der Vereinigten Staaten liege. Entsprechend könnten dort internierte ausländische Staatsangehörige keinen Anspruch auf einen Prozess vor einem US-Gericht geltend machen. Doch nach Auffassung der Richtermehrheit des Supreme Court kontrollieren die USA de facto das Gebiet. Deshalb seien auch amerikanische Gerichte zuständig. Vgl. die Exzerpte aus den Urteilen des Supreme Court: Excerpts from Rulings in 3 Cases on Government Detention of Terror Suspects, in: New York Times v. 29.6.2004. 31 Osama bin Ladens Chauffeur, der in Afghanistan aufgegriffen und auf Guantánamo inhaftiert wurde. 32 Siehe etwa die Verlautbarungen von Regierungsvertretern in: Warren Richey: At Court, a Terror Case Rife with Tough Issues, in: Christian Science Monitor v. 27.3.2006; Charles Lane: Court Case Challenges Power of President. Military Tribunals’ Legitimacy at Issue, in: Washington Post v. 26.3.2006, S. A01; Linda Greenhouse: Detainee Case Will Pose Delicate Question for Court, in: New York Times v. 27.3.2006.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Das Gefangenenlager Camp Delta auf dem Militärstützpunkt Guantánamo Bay im Jahr 2006

dabei auch nicht grundsätzlich die Legalität von Militärtribunalen angezweifelt werden kann. Mit der Entscheidung vom 29. Juni 2006 behauptete die Richtermehrheit am Obersten Gerichtshof einmal mehr die eigene Zuständigkeit und erklärte die Militärtribunale für unrechtmäßig, da sie zum einen gegen internationales Recht, namentlich gegen die Regeln der Genfer Konvention verstoßen, zum anderen auch nicht explizit vom Kongress autorisiert worden waren. Damit widersprach das Gericht zwar dem unilateralen Vorgehen des Präsidenten, aber nicht der Möglichkeit, Militärtribunale einzusetzen. Der Supreme Court forderte die Exekutive vielmehr auf, in Zusammenarbeit mit dem Kongress einen praktikablen Weg zur Handhabung von Militärtribunalen zu finden.33 Die Verantwortung der Legislative Nachdem der Oberste Gerichtshof im Juni 2006 dem unilateralen Vorgehen des Präsidenten einmal mehr widersprochen und ihn zur Zusammenarbeit mit dem Kongress auf-

gefordert hatte, war die Legislative umso mehr in der Verantwortung. Mit dem am 17. Oktober 2006 unterzeichneten Military Commissions Act legalisierte der Kongress die vom Präsidenten unilateral autorisierten Militärtribunale. Die Legislative hat damit bis auf Weiteres das Recht von Angeklagten, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung von einem Bundesgericht überprüfen zu lassen (Habeas Corpus), ausgehebelt. Ferner erwirkte der Präsident legislative Rückendeckung, um das lange Zeit geheim gehaltene Verhörprogramm der CIA fortzusetzen. Zudem wurde der Präsident legitimiert, die Genfer Abkommen im Umgang mit Kombattanten und Kriegsgefangenen nach seinem Ermessen auszulegen. Kritische Medien, allen voran die Washington Post, appellierten daraufhin eindringlich an den Kongress, dass die Wiederinkraftsetzung des Habeas-Corpus-Prinzips unerlässlich sei, um die USA wieder in Einklang mit internationalen Rechtsnormen und Menschenrechtsstandards zu bringen.34

33 Ebenso wenig wurde in diesem Fall die Frage geprüft, ob die Inhaftierung des Klägers im Gefangenenlager auf Guantánamo rechtmäßig ist. Vgl. Cass R. Sunstein: The Court’s Stunning Hamdan Decision, in: The New Republic Online v. 30.6.2006, http://www.tnr.com/ doc.mhtml?i=w060626&s=sunstein063006 (Stand: 23.11.2006). 34 Democrats Will Now Have the Chance to Curtail the Bush Administration’s Human Rights Abuses, in: Washington Post v. 19.11.2006, S. B06. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Im gleichen Sinne, obgleich viel später, erklärte im Urteilsspruch vom 12. Juni 2008 das Oberste Gericht denn auch wesentliche Bestimmungen des Military Commissions Act von 2006 für verfassungswidrig und die ein Jahr zuvor ebenso von der Exekutive und dem Kongress im Detainee Treatment Act etablierten Verfahrensweisen für rechtlich unzulänglich. Die denkbar knappe Richtermehrheit (fünf gegen vier Stimmen) entschied im Fall des auf Guantánamo inhaftierten Lakhdar Boumediene (Boumediene et al. vs. Bush et al.), dass insbesondere Paragraph 7 des vom Präsidenten im Oktober 2006 unterzeichneten Gesetzes nicht mit dem verfassungsmäßig garantieren Habeas-Corpus„Privileg“ vereinbar ist, da die vom Kongress und Präsidenten vorgesehenen Bestimmungen es so genannten feindlichen Kämpfern (enemy combatants) verwehrt haben, ihre Inhaftierung vor einem Bundesgericht überprüfen zu lassen. Nach Auffassung der Richtermehrheit ist der writ of habeas corpus unabdingbar für den Schutz der individuellen Freiheit, ja ein unentbehrlicher Mechanismus zur Überwachung der Gewaltenteilung. Damit behauptete der Supreme Court seinen eigenen Machtanspruch bei der Gewaltenkontrolle im US-System der konkurrierenden, sich gegenseitig kontrollierenden Gewalten. Die Richter nahmen wie schon in früheren Urteilen auch in diesem Fall nur zur Frage der grundlegenden Zuständigkeiten Stellung, nicht aber zu den weiteren Verfahrensweisen. Das Augenmerk bleibt demnach auf den Kongress gerichtet, die in mehreren Urteilen des Supreme Court bestätigte legislative (Kontroll-)Funktion wahrzunehmen. Doch der demokratische Vorsitzende des Justizausschusses im Senat, Patrick J. Leahy, erwiderte auch dem Drängen des damaligen Justizministers Michael Mukasey – der vom Kongress neue Richtlinien für den rechtlichen Umgang mit Inhaftierten auf Guantánamo forderte –, dass dieses Thema erst in der nächsten Legislaturperiode nach den Kongressund Präsidentschaftswahlen verantwortungsvoller als bisher behandelt werden sollte.35 Insgesamt kann man festhalten, dass sich auch der Kongress bis heute noch nicht als die institutionelle Instanz bewährt hat, die wirksam für eine ausgewogene Balance

zwischen staatlicher Sicherheit und individuellen Freiheitsrechten sorgt. Dennoch wurde deutlich, dass selbst ein wartime president gezwungen ist, auf die Initiative des Kongresses zu reagieren – die jedoch aus politischen Gründen nicht im Widerspruch zur öffentlichen Meinung stehen darf. Öffentliche und veröffentlichte Meinung Die Anschläge vom 11. September 2001 haben die gesellschaftlichen Präferenzen, die Wahrnehmungen und das Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft verändert. Vor allem hat die nationale Sicherheit an Bedeutung gegenüber dem Schutz der individuellen Freiheiten, der so genannten civil liberties,36 gewonnen.37 Das Grundvertrauen in die eigene Stärke als einzig verbliebene Supermacht wich dem Bewusstsein der Verwundbarkeit im „Heimatland“. Nicht zuletzt wurden mit den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon auch Symbole der wirtschaftlichen und militärischen Macht der Vereinigten Staaten zerstört. Die Wahrnehmung eigener Verwundbarkeit rief ein immenses Sicherheits-, Schutz- und Handlungsbedürfnis hervor. In der ersten allgemeinen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit wurde der Ruf nach staatlicher Autorität deutlich artikuliert. Da der 11. September 2001 den Erfahrungshorizont auch der amerikanischen Bevölkerung sprengte, dürfte der enorme Vertrauensvorschuss unmittelbar nach den Anschlägen – die Zustimmungsrate für den Präsidenten erreichte die 90Prozent-Marke (siehe Abbildung 4, S. 16) – nicht allein auf eine Ex-post-Bewertung des Regierungsverhaltens zurückzuführen sein. Vielmehr brachten die Bürger damit vermutlich vor allem ihre Erwartung zum Ausdruck, dass die Regierung, namentlich der Präsident, sie schützen werde.38 Differenziertere Meinungsumfragen lassen darauf schließen, dass der Vertrauensbonus des Präsidenten in erster Linie auf den Erwartungen an seine institutionelle Rolle als Oberster Befehlshaber im „Krieg gegen den Ter-

35 Patrick J. Leahy zit. in: Mukasey Asks Congress to Clarify Detainee Rights, in: Congressional Quarterly (CQ) Today Midday Update v. 21.7.2008. 36 Die wichtigsten – im Weiteren synonym als individuelle oder persönliche Freiheitsrechte bezeichneten – civil liberties werden durch die ersten zehn Verfassungszusätze (amendments) garantiert. Diese auch unter den Begriff der Bill of Rights subsumierten Grundsätze wurden am 15.12.1791 en bloc als integraler Bestandteil in die Verfassung aufgenommen. Nach dem Bürgerkrieg kamen weitere amendments hinzu, wobei das vierzehnte wegen seiner due-process- bzw. equal-protection-Bestimmungen besonders signifikant für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte „jeder Person“ ungeachtet der Staatsbürgerschaft ist. 37 Ausführlicher dazu: Josef Braml: USA: Zwischen Rechtsschutz und Staatsschutz. Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte, SWP-Studie Nr. S 5, Berlin, Februar 2003. 38 Insofern trägt es zum Verständnis dieses Phänomens bei, wenn man nach David Easton zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung differenziert. Erstere gründet auf der Zufriedenheit der Bürger mit konkreten Politikinhalten bzw. mit der spezifischen Leistung von Regierungsvertretern; letztere reflektiert eine allgemeine Einstellung der Bevölkerung gegenüber den politischen Institutionen. Siehe David Easton: A Systems Analysis of Political Life, New York 1965.

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Erhöhte Sicherheitsstufe in der New Yorker Central Station im Februar 2003

ror“ beruhte.39 Auch 15 Monate nach den Anschlägen des 11. September 2001 sahen drei von vier Amerikanern in ihrem Präsidenten einen „starken Führer“40 – eine Charakterisierung, auf die sich George W. Bush dann weiterhin, vor allem bei seiner Wiederwahl 2004 stützen konnte.41 Nach den Anschlägen des 11. September beeinträchtigten die durch Unsicherheit und Angst verstärkten patriotischen Gefühle und religiösen Überzeugungen auch

das Differenzierungs- und rationale Urteilsvermögen vieler Medienschaffender. So konnte Oberbefehlshaber Bush einen völkerrechtswidrigen – und von den meisten Sicherheitsexperten42 als unnötig und kontraproduktiv qualifizierten – Krieg gegen das Regime Saddam Husseins mit falschen Behauptungen (Massenvernichtungswaffen in den Händen von Saddam Hussein, die an Terroristen weitergegeben werden können)43 und religiösen Vorstellungsinhal-

39 Vgl. die Umfrage der Public Opinion Strategies v. 14.-17.1.2002; zit. in, American Enterprise Institute: AEI Studies in Public Opinion: American Public Opinion on the Terrorist Attacks, Washington, D.C., 28.6.2002, S. 25. 40 So das Ergebnis einer Umfrage der Washington Post und von ABC News; zit. in: Dana Milbank/Claudia Deane: President’s Ratings Still High, Poll Shows: 75 Percent View Bush As „Strong Leader“; 66 Percent Approve His Work Performance, in: Washington Post v. 22.12.2002, S. A04. 41 In einer CNN/USA Today/Gallup-Umfrage vom 3.-5.9.2004 bekundeten 60 Prozent der Amerikaner, dass George W. Bush ein „starker und entschlossener Führer“ sei, während nur 30 Prozent seinem Herausforderer, Senator John Kerry, diese Charaktereigenschaft zuschrieben. Siehe Lydia Saad: Bush Exceeds or Ties with Kerry on Most Ratings of Presidential Characteristics: Leadership and Honesty are Bush’s Strong Points, Gallup Poll Analyses, Washington, D.C., 14.9.2004. 42 Siehe zum Beispiel Richard N. Haass: War of Necessity, War of Choice. A Memoir of Two Iraq Wars, New York 2009. 43 Präsident Bush hatte in seiner kriegsvorbereitenden Ansprache zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003 einmal mehr die Lage im Irak mit der existenziellen Bedrohung der USA durch Massenvernichtungswaffen in den Händen von Terroristen assoziiert: „Stellen Sie sich diese 19 Luftpiraten mit anderen Waffen und anderen Plänen vor – dieses Mal von Saddam Hussein bewaffnet. Eine Phiole, ein Kanister, eine in dieses Land geschmuggelte Kiste würde ausreichen, einen Tag des Grauens zu veranstalten, wie wir ihn noch nie erlebt haben“; s. George W. Bush, Bericht zur Lage der Nation, 28.1.2003; Übersetzung der amerikanischen Botschaft in Berlin, USINFO-B-DE, Washington, D.C. 2003. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Abbildung 4: Zustimmungsrate für den Präsidenten, Februar 2001 bis Februar 2002 Quelle: Gallup

ten44 legitimieren45 und damit nicht zuletzt seine Wiederwahlchancen wahren46 – ohne nachhaltige Kritik der etablierten Medienorgane wie Fox oder CNN.47 In dem Maße, in dem die Amerikaner die Bedrohung für den Terrorismus wieder gelassener gesehen haben und auch die menschlichen und wirtschaftlichen Folgen des von George W. Bush im Namen der Terrorbekämpfung geführten Irak-Krieges begriffen, schenkten sie auch anderen Themen wieder mehr Aufmerksamkeit. Insbesondere

die Finanzkrise, die sich zur weltweiten Wirtschaftskrise ausweitete, hat seitdem das Wahlverhalten der amerikanischen Wählerinnen und Wähler dominiert.

Die Wahlen 2008, 2010, 2012: It’s the Stupid Economy! Barack Obama wurde 2008 nicht zum Präsidenten gewählt, weil er als der stärkere Oberbefehlshaber galt, sondern weil

44 „Wir gehen mit Zuversicht voran, weil dieser Ruf der Geschichte das richtige Land erreicht hat. [...] Die Amerikaner sind ein freies Volk, das weiß, dass die Freiheit das Richtige für jeden Menschen und die Zukunft jeder Nation ist. Die Freiheit, die wir schätzen, ist nicht Amerikas Geschenk an die Welt, sie ist das Geschenk Gottes an die Menschheit. Wir Amerikaner glauben an uns, aber nicht nur an uns. Wir geben nicht vor, alle Wege der Vorsehung zu kennen, aber wir vertrauen in sie, setzen unser Vertrauen in den liebenden Gott, der hinter allem Leben und der gesamten Geschichte steht. Möge Er uns jetzt leiten. Und möge Er weiterhin die Vereinigten Staaten von Amerika segnen“, – so lauteten die Schlusssätze der kriegsvorbereitenden Rede des amerikanischen Präsidenten zur Lage der Nation; siehe ebd. 45 Angesichts der mangelnden parteiübergreifenden Unterstützung im Vorfeld des Irak-Krieges – 84 Prozent der Parteigänger des Präsidenten unterstützten den Krieg; auf Seiten der Demokraten waren dagegen nur 37 Prozent der Befragten bereit, dem Kurs George W. Bushs zu folgen – war für George W. Bush der Rückhalt seiner Parteifreunde umso wichtiger. Differenzierte Analysen zeigen darüber hinaus, dass neben der Parteizugehörigkeit auch religiöse Faktoren für die Unterstützung des Kriegskurses des Präsidenten ausschlaggebend waren: Von den Amerikanern, die in der Gallup-Umfrage angaben, dass ihnen Religion „sehr wichtig“ sei, unterstützten rund 60 Prozent den Krieg. Dagegen fiel dieser Wert bei den Befragten, die zu Protokoll gaben, dass ihnen Religion „nicht sehr wichtig“ sei, mit 49 Prozent deutlich niedriger aus; vgl. Frank Newport: Support for War Modestly Higher among More Religious Americans: Those Who Identify with the Religious Right Most Likely to Favour Military Action, Gallup Poll Analyses, Washington, D.C., 27.2.2003. 46 Im Vorfeld der Wiederwahl George W. Bushs – die in den Augen vieler Beobachter wegen des Irak-Krieges gefährdet schien – wurde deutlich, dass häufige Kirchgänger auch nach dem Waffengang eher geneigt blieben, den Krieg zu unterstützen, als weniger religiöse Amerikaner; siehe National Annenberg Election Survey: Blacks, Hispanics Resist Republican Appeals But Conservative White Christians Are Stronger Supporters than in 2000, Annenberg Public Policy Center of the University of Pennsylvania, 25.7.2004, S. 2, 5 und 7. 47 Anders ist die Leistung einiger überregionaler Zeitungen in der überwiegend innenpolitischen Debatte um die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte im Namen der Sicherheit zu bewerten. Insbesondere die New York Times und Washington Post haben die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte durch die Exekutive und das Versagen des Kongresses massiv kritisiert.

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man ihm eher als seinem Herausforderer (und Irak-Kriegsbefürworter) Senator John McCain zutraute, das Land aus der größten Wirtschafts- und Finanzkrise seit den dreißiger Jahren zu führen. Mit der kritischen Wirtschaftslage rückten die Kriegsschauplätze im „Globalen Krieg gegen den Terror“, insbesondere im Irak und in Afghanistan, in der Wahrnehmung der meisten Amerikaner in weite Ferne. Anders als noch bei der vom Sicherheitsthema dominierten Wiederwahl George W. Bushs trieben im Wahlkampf 2008 nunmehr die Sorgen um die hohen Energiepreise und die prekäre wirtschaftliche Situation die amerikanischen Wähler um. Weitaus häufiger als außenpolitische Themen wie Irak oder Terrorismus wurden in Meinungsumfragen innenpolitische Belange wie Wirtschaft, Ausbildung, Arbeitsplätze, Gesundheitsfürsorge, Energie und soziale Sicherung als ausschlaggebend für das Abstimmungsverhalten im November 2008 genannt.48 Differenzierte Analysen im Vorfeld der Wahlen zeigten, dass jene Wähler, denen Wirtschaftsthemen am wichtigsten waren, den designierten Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, Senator Barack Obama, klar dem Bewerber der Republikaner, Senator John McCain, vorzogen.49 Angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage und der akuten oder drohenden Arbeitslosigkeit fühlten sich Angehörige der Mittelschicht besonders verunsichert. Wie 1992 Bill Clinton konnte 2008 Barack Obama die prekäre Wirtschaftslage bei den Präsidentschaftswahlen in einen politischen Vorteil ummünzen. Obama sensibilisierte die mittlere Einkommensschicht für wirtschaftspolitische Themen und mobilisierte nicht zuletzt auch Minderheiten, sprich schwarze und hispanische Wähler,50 für seine wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele. Bei der schwarzen Bevölkerung hat Obama 95 Prozent der Stimmen erhalten.51

Ebenso konnte Obama bei der mittlerweile größten Minderheit, den Latinos, den Wähleranteil der Demokraten merklich erhöhen. Er gewann über zwei Drittel der Stimmen hispanischer Wähler, die in vielen hart umkämpften Einzelstaaten wie Florida, New Mexico und Colorado den Ausschlag gaben.52 Das Erfolgsrezept war einfach: Obamas Wahlkämpfern ist es unter anderem gelungen, den auf sexualmoralische Themen fixierten „religiösen Rechten“ und Republikanern eine alternative Deutung so genannter moral issues entgegenzuhalten.53 Neue Graswurzelorganisationen der „religiösen Linken“ haben (im Sinne der katholischen Soziallehre) auch Armutsbekämpfung, Bildung, Krankenversicherung und Alterssicherung als moralische Themen definiert. Seit seiner Amtsübernahme steht Präsident Obama nunmehr in der Pflicht zu handeln, seine wirtschafts- und sozialpolitischen Versprechen einzulösen. Teilweise bereits mit Erfolg: Anders als sein demokratischer Vorgänger Bill Clinton und die damals in diesem Politikfeld federführende First Lady Hillary Clinton, die an einer umfassenden Gesundheitsreform scheiterten, konnte Präsident Obama dem Kongress eine Jahrhundertreform abringen. Unter anderem konnte er durchsetzen, dass den 45 Millionen bis dato nicht bzw. 16 Millionen unterversicherten54 Amerikanern eine Krankengrundversicherung gewährt werden soll. Auch bei den Zwischenwahlen im November 2010 – bei denen nicht der Präsident, sondern nur der Kongress, sprich alle 435 Repräsentanten des Abgeordnetenhauses und ein „Drittel“ (37) der Senatoren, zur Wahl anstanden – gab die prekäre wirtschaftliche Lage den Ausschlag. Die Demokraten verloren das Abgeordnetenhaus an die Repub-

48 Laut Umfragen des Pew Research Center for the People and the Press v. 21.-25.5.2008, zit. in: Congressional Quarterly (CQ) Weekly v. 9.6.2008, S. 1512. 49 Umfragen zit. in: Kevin Friedl/Mary Gilbert, To Withdraw, Or Not To Withdraw?, in: National Journal Poll Track v. 15.7.2008. 50 Laut einer Analyse der Daten des U.S. Census Bureau wurden eine von vier Stimmen von „nicht-weißen“ Wählern abgegeben. Insbesondere konnte die Wahlbeteiligung schwarzer Wähler von 60,3 (2004) auf 65,2 (2008) Prozent gesteigert werden. Ebenso erhöhte sich der Urnengang von Wählern hispanischer Herkunft von 47,2 (2004) auf 49,9 Prozent (2008). Siehe Mark Hugo Lopez/Paul Taylor (Hg.): Dissecting the 2008 Electorate: Most Diverse in U.S. History, Pew Research Center Report, Washington, D.C., 30.4.2009. 51 Siehe: Presidential Election Results. How the Race Was Won, in: The Economist v. 6.11.2008. 52 In vier der sechs swing states, die Präsident George W. Bush bei den Wahlen 2004 mit nur fünf oder weniger Prozentpunkten Vorsprung gewann, konzentriert sich die Wählerschaft der Latinos: in New Mexico (mit einem Anteil von 37 Prozent der Wahlberechtigen), Florida (14 Prozent), Nevada (12 Prozent) und Colorado (12 Prozent). Weitere Staaten mit einem hohen Anteil hispanischer Wahlberechtigter sind Texas (25 Prozent), Kalifornien (23 Prozent), Arizona (17 Prozent) und New York (11 Prozent). Siehe Paul Taylor/Richard Fry: Hispanics and the 2008 Election: A Swing Vote?, Washington, D.C., Pew Hispanic Center, Dezember 2007, S. 18. Siehe auch: Josef Braml: US-Wahlen: Mit Spanglish ins Weiße Haus: Wie Demokraten und Republikaner um die Latino-Wähler werben, in: Internationale Politik, 63 (Oktober 2008) H. 10, S. 86-89. 53 Ausführlicher zur Machtsymbiose zwischen Christlich-Rechten und Republikanern: Josef Braml: Amerika, Gott und die Welt. George W. Bushs Außenpolitik auf christlich-rechter Basis, Berlin 2005. 54 Ezra Klein: The Health of Nations, in: The American Prospect v. 7.5.2007. http://www.prospect.org/cs/articles?article=the_health_of_ nations (Stand: 18.4.2011). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Tabelle 1: Sitzverteilung im amerikanischen Kongress, 112. Legislaturperiode (seit 3.1.2011)

Republikaner Demokraten Unabhängige Gesamt

Abgeordnetenhaus

Senat

242 193

47 51 2 100

435

Quelle: U.S. Congress; eigene Darstellung

likaner und sechs Sitze im Senat. Gleichwohl konnten sie damit noch die „Mehrheit“ in dieser zweiten Kammer des Kongresses verteidigen (siehe Tabelle 1). Sechs von zehn Wählern (62 Prozent) erklärten in den Umfragen unmittelbar nach dem Wahlgang, dass wirtschaftliche Probleme ihre Hauptmotivation waren, gefolgt von der umstrittenen Gesundheitsreform (18 Prozent) und der illegalen Einwanderung (8 Prozent). Außenpolitik blieb außen vor: Nur acht Prozent der Amerikaner hat der Krieg in Afghanistan umgetrieben.55 Auch mit Blick auf seine mögliche Wiederwahl im November 2012 ist Präsident Obama gut beraten, alles daran zu setzen, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Herkulesaufgabe wird umso schwieriger, als zudem der Handlungsspielraum des Präsidenten durch die Blockademacht des Kongresses – insbesondere durch dessen Haushaltsbewilligungsrecht, die so genannte power of the purse – massiv eingeschränkt ist. Insgesamt wird die Bewältigung der Finanz-, Wirtschafts- und Infrastrukturprobleme viel Geld kosten, das Amerika aufgrund der desolaten Haushaltslage fehlt. Angesichts der prekären Haushaltslage und abzusehenden Blockade der politischen Gewalten (Stichwort: gridlock) in den USA muss umso mehr Augenmerk auf die Gestaltungsmacht der US-Notenbank gerichtet werden: Die Federal Reserve versucht weiterhin, die Wirtschaft mit Liquiditätsspritzen wiederzubeleben. Erfolg oder Misserfolg ihres Handelns werden die Präsidentschaftswahlen 2012 beeinflussen und auch das Wirtschaftswachstum in Europa und in Schwellenländern nachhaltig bestimmen.

Tabelle 2: Die aktuelle Rezession im historischen Vergleich Rezession

1973-75

1981-82

2007-09

Dauer (in Monaten) Zunahme der Arbeitslosenquote (in Prozentpunkten)57

17

18

19

3,5

2,6

4,5

Quelle: U.S. Bureau of Labor Statistics,58 eigene Berechnung

Wirtschaftslage und innenpolitische Rahmenbedingungen … Die amerikanische Wirtschaft befand sich von Dezember 2007 bis Juni 2009 in einer Rezession.56 Gemessen an der Dauer und seinen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt war dieser Konjunktureinbruch der längste und folgenreichste seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (siehe Tabelle 2). Bisherige Rezessionen konnten vor allem dank der Zugkraft der Automobilindustrie und der Wachstumsimpulse des Immobilienmarktes überwunden werden. Doch mit einem Auftritt dieser beiden Branchen als Dei ex machina ist dieses Mal nicht zu rechnen. Die Automobilbranche, die in den glorreichen Zeiten der „Großen Drei“ – Chrysler, Ford und General Motors – etwa ein Zehntel aller Konsumausgaben vereinnahmte, ist in technischer Hinsicht von ihren internationalen Wettbewerbern überholt worden. Amerikanische Autobauer haben Marktanteile insbesondere an asiatische Konkurrenten verloren, die Kraftstoff sparende oder Hybrid-Automobile mit verschiedenen Antrieben oder Kraftstoffen anbieten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise verschärfte die ohnehin prekäre Lage der amerikanischen Autoindustrie. Seit den fünfziger Jahren haben Eigenheiminvestitionen ein Drittel der amerikanischen Wirtschaftsleistung befördert. Mit der Immobilienblase platzte für viele auch der amerikanische Traum vom eigenen Heim. Mittlerweile sind nicht mehr nur die Kredite an Schuldner mit geringer

55 Laut Exit Polls des Nachrichtensenders CNN v. 3.11.2010. 56 Am 1.12.2008 datierte das National Bureau of Economic Research (NBER) den Beginn der Rezession auf Dezember 2007. Da im dritten und vierten Quartal 2009 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zu den jeweiligen Vorquartalen wieder um 2,2 bzw. 5,9 Prozent gewachsen ist, kann man von einem (vorläufigen) Ende der Rezession ausgehen. 57 Das ist die Differenz zwischen der Arbeitslosenquote am Ende und zu Beginn der Rezession. 58 U.S. Bureau of Labor Statistics: Labor Force Statistics from the Current Population Survey, Monthly Seasonally Adjusted Household Data, Washington, D.C., 8.1.2010.

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Konzernzentrale von General Motors in Detroit im Jahr 2007 – im Vordergrund ist eine Reklame für die Ende 2009 aufgegebene Marke Pontiac zu sehen.

Kreditwürdigkeit (so genannte subprime mortgages) notleidend, sondern aufgrund der anhaltenden Arbeitslosigkeit auch weitere Kreise von Hauseigentümern vom Verlust ihrer Immobilie bedroht. Nach Schätzungen der Wirtschaftsanalyseagentur Moody’s Economy mussten 2009 weitere 1,8 Millionen Amerikaner ihre kreditfinanzierten Eigenheime an ihre Banken abtreten. Im Vergleich zum Vorjahr (mit 1,4 Millionen Zwangsvollstreckungen) war das eine weitere spürbare Verschlechterung der Lage auf dem Immobilienmarkt.59 Für 2011 erwartete die US-Regierung, dass weitere 2,5 Millionen Einfamilienhäuser zwangsversteigert werden.60 Insgesamt wären damit etwa neun Millionen

Amerikaner betroffen.61 Mit steigender Tendenz: Heute steht eins von vier Häusern in Amerika „unter Wasser“,62 das heißt, die (Noch-)Eigentümer schulden ihren Banken höhere Beträge in Form von Hypothekendarlehen, als ihr Haus aktuell auf dem Markt wert ist. Zur Zeit werden neun von zehn Hauskrediten direkt oder indirekt durch staatliche Stellen gesichert,63 nicht zuletzt von den de facto verstaatlichten Hausfinanzierern Fannie Mae und Freddie Mac. 2008 mussten beide Institute vom Staat gerettet werden – mit bislang 150 Milliarden Dollar.64 Mit diesen Instituten sollte ursprünglich der amerikanische Traum realisiert werden – eine „Gemeinschaft

59 60 61 62 63

Renae Merle: Unemployment Spike Compounds Foreclosure Crisis, in: Washington Post v. 18.8.2009. Laut Bericht des Representative of German Industry and Trade (RGIT), Nr. 4/2011, Washington, D.C. Gregory White: Joseph Stiglitz Predicts Another 2 Million Foreclosures in 2011, in: Business Insider v. 9.2.2011. America’s Property Market. On a Losing Streak, in: The Economist v. 24.3.2011. Gemäß einer Studie von LPS Applied Analytics; zit. in: Government’s Overwhelming Role in Mortgages, in: Wall Street Journal v. 12.1.2011. 64 Nils Rüdel: Fannie Mae und Freddie Mac – Der Amerikanische Traum wird abgewickelt, in: Handelsblatt v. 11.2.2011.

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Finanzkrise im Jahr 2009: Das Haus in Florida musste von seinen Bewohnern geräumt werden.

von Eigentümern in Amerika (ownership society)“ zu schaffen, wie es Präsident George W. Bush nannte.65 Hingegen legte im Februar 2011 die neue Regierung unter Federführung von Finanzminister Timothy Geithner dem Kongress Reformpläne vor, wonach sich der Staat aus dem Immobilienmarkt wieder zurückziehen sollte.66 Angesichts der „prekären Lage auf dem Immobilienmarkt“ könne dies jedoch nur behutsam und in einem „richtig bemessenen Tempo“ geschehen, um die Erholung der Wirtschaft nicht zu gefährden.67 Auch im kommerziellen Bereich ist nichts Gutes zu erwarten: Die schwierige wirtschaftliche Lage wird Geschäftsschließungen und weitere schwerwiegende Belastungen für den Immobilienmarkt zur Folge haben. Nach Einschätzung des Congressional Oversight Panel (COP), der mit dem Bankenrettungspaket 2008 etablierten staatlichen

Aufsichtsbehörde, drohen ab 2011 auf dem Gewerbeimmobilienmarkt Kredite in Höhe von 200 bis 300 Milliarden Dollar auszufallen und weitere Banken in den Konkurs zu treiben. Laut COP weisen selbst gut kapitalisierte Banken und vor allem kleinere Institute eine riskante Geschäftskonzentration im Gewerbeimmobiliensektor auf.68 Nach Angaben des staatlichen Einlagensicherungsfonds, der Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC), sind weitere 700 Banken mit einer Gesamteinlagensumme von etwa 400 Milliarden Dollar in großen Schwierigkeiten, nachdem im vorherigen Jahr bereits 140 Bankpleiten verzeichnet wurden.69 Nunmehr sind Banken misstrauischer geworden: Sie sind zurückhaltend, anderen Instituten Geld zu leihen, und vorsichtiger, Kredite an Einzelpersonen zu gewähren, insbesondere wenn diese damit wie bisher ihren Konsum finanzieren wollen.

65 Siehe zum Beispiel: White House, Office of the Press Secretary: Fact Sheet: America’s Ownership Society: Expanding Opportunities, Washington, D.C., 9.8.2004. 66 U.S. Department of the Treasury/U.S. Department of Housing and Urban Development: Reforming America’s Housing Finance Market. A Report to Congress, Washington, D.C., Februar 2011. 67 Ebd., S. 1. 68 Congressional Oversight Panel, February Oversight Report: Commercial Real Estate Losses and the Risk to Financial Stability, 10.2.2010, Washington, D.C., S. 2-4, 102, 131-132. 69 Zit. in: FDIC-insured „Problem” Institutions. Botched Banks, in: The Economist v. 26.10.2010.

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Konsumschwäche und Arbeitslosigkeit Auch das fehlende Vertrauen der Verbraucher in die wirtschaftliche Lage – eine weitere, wesentliche Ursache für das zurückhaltende Konsumverhalten – ist im Januar 2009 auf ein Rekordtief abgestürzt und hat sich seitdem nicht merklich verbessert. Selbst wenn die USBürger weiterhin konsumieren wollten, könnten sie es nicht mehr: Ihre hohe persönliche Verschuldung, die anhaltende Immobilienkrise, der Verlust von Arbeitsplätzen und steigende Energiepreise schmälern die Kaufkraft der Amerikaner. Sogar jene, die noch ausreichend Mittel zur Verfügung haben, verzichten auf Konsum. Vor allem die Sorge um den Arbeitsplatz bewirkt, dass sie wieder mehr sparen. Der ABC News Consumer Index ist denn auch seit zwei Jahren kontinuierlich stark abgefallen und pendelte sich auf einem Rekordtief ein.70 Diese Kennziffer ist ein Warnsignal für noch größere Probleme: Die amerikanische Wirtschaft wird hauptsächlich, etwa zu zwei Dritteln, von der Nachfrageseite, also durch Konsum angetrieben. Sollten die Nachfrage weiterhin zurückgehen und zugleich die Unternehmen – aufgrund der allgemein sinkenden Kaufkraft und der Schwierigkeit, Kredite zu erhalten – noch weniger investieren und damit die Wirtschaft zusätzlich von der Angebotsseite her bremsen, könnten die USA in eine noch tiefere Rezession abrutschen (double-dip recession). Dies würde den Konsum noch mehr schwächen, die Abwärtsspirale beschleunigen und die Arbeitslosigkeit weiter erhöhen. Seit Beginn der Wirtschaftskrise im Dezember 2007 hatte sich die Arbeitslosenquote bis zum Dezember 2009 auf zehn Prozent verdoppelt und sich seither auf einem Niveau von neun Prozent eingependelt. Zwar wurden in den Medien hin und wieder leichte Verbesserungen gemeldet; doch diese sind häufiger der Tatsache geschuldet, dass viele Langzeitarbeitslose aus der Statistik genommen werden. Rechnet man noch jene hinzu, die ihre Jobsuche aufgegeben haben und in den offiziellen Statistiken nicht mehr erfasst werden, kann man davon ausgehen, dass einer von fünf arbeitswilligen Amerikanern (18 Prozent) ohne Beschäftigung ist. In absoluten Zahlen bedeutete allein die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenquote einen Anstieg um 7,6 auf 15,3 Millionen – der stärkste Anstieg seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.71

Bezeichnend für das Ausmaß der Rezession ist nicht nur der rasante und nachhaltige Anstieg der Arbeitslosenzahlen, sondern auch die Zunahme der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit. Gemäß den Angaben des amerikanischen Arbeitsministeriums bezogen im Februar 2011 Arbeitslose im Durchschnitt bereits über 37 Wochen Arbeitslosenhilfe. Langzeitarbeitslose – die mehr als 27 Wochen ohne Arbeit sind – machen mittlerweile 44 Prozent aller Arbeitslosen aus.72 Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist auf dem höchsten Stand seit 1948 und belastet die Arbeitslosenversicherung nachhaltig. Normalerweise werden die Leistungen vom Bund und den Einzelstaaten gemeinsam getragen. Doch die Kassen vieler Staaten waren bereits vor der Wirtschaftskrise leer, sodass ihnen Washington seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise wiederholt finanziell unter die Arme greifen musste. Nach der üppigen Unterstützung im Rahmen des 787-Milliarden-Dollar-Förderprogrammes vom Februar 2009 verabschiedete die USLegislative im November 2009 erneut ein 24-MilliardenDollar-Programm, um mit Bundeszuschüssen unter anderem die maximale Bezugsfrist für Arbeitslosengeld um weitere drei Monate zu verlängern. Nach Einschätzung von Arbeitsmarktexperten des Urban Institute fehlten der Arbeitslosenversicherung zum Jahresende 2009 bereits zehn Milliarden Dollar.73 Weitere Verlängerungsrunden werden diese Belastungen noch um Einiges erhöhen. Nach Angaben des Council of State Governments hatten zum März 2011 bereits 32 Einzelstaaten knapp 46 Milliarden an Schulden beim nationalen Arbeitslosenfonds (Federal Unemployment Account) angehäuft. Nach Prognosen des Arbeitsministeriums werden bis Ende 2013 voraussichtlich 40 der 50 Staaten auf diese Finanzhilfe angewiesen sein und insgesamt über 90 Milliarden Dollar benötigen, um die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zahlen zu können.74 Ebenso wirken sich die durch Arbeitslosigkeit verursachten Kosten für die Rentenversicherung belastend auf den Staatshaushalt aus: Vielen älteren Langzeitarbeitslosen bleibt keine andere Wahl als die mit persönlichen finanziellen Einbußen verbundene Frühverrentung. Aufgrund der zurückgehenden Beschäftigung sinken die Beiträge zur Rentenversicherung, sodass die Einnahmen hinter den Ausgaben zurückbleiben. Zum ersten Mal seit den achtziger Jahren werden die zusätzlichen Ausgaben die Einnahmen der Social Security übersteigen.

70 ABC News Consumer Confidence Index v. 6.2.2011, http://www.langerresearch.com/uploads/m020611.pdf (Stand: 20.4.2011), vgl. auch den Bloomberg Weekly Consumer Comfort Index vom 15. Dezember 2011. 71 Vgl. U.S. Bureau of Labor Statistics (wie Anm. 58). 72 Daten des U.S. Department of Labour zit. in: The Council of State Governments: State Unemployment Insurance Trust Funds, March 2011 Update. 73 John Maggs: Jobless Picture Is Worse Than It Seems, in: National Journal v. 17.10.2009. 74 The Council of State Governments (wie Anm. 72). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Im Speisesaal des Friendship House in Immokalee, Florida, nehmen bedürftige Immigranten und von der Finanzkrise betroffene Arbeitslose eine Mahlzeit zu sich, 2009.

Die angespannte soziale Lage – unter anderem auch die wachsenden Kosten für die staatliche Gesundheitsversorgung sozial schwacher oder älterer Amerikaner, die über die staatlichen Programme Medicaid bzw. Medicare grundversichert sind – erfordert politisches Handeln. Zudem wird die Bewältigung der Finanz-, Wirtschafts- und Infrastrukturprobleme viel Geld kosten, das Amerika aufgrund der von George W. Bush mit verursachten desolaten Haushaltslage fehlt. Rekordhaushaltsdefizit und Staatsverschuldung In der Amtszeit von Präsident Bill Clinton konnte der amerikanische Staat noch mehr an Steuern einnehmen, als gleichzeitig in Form von Leistungen ausgegeben wurde, und somit Haushaltsüberschüsse erzielen. Damit wurde auch die Staatsverschuldung verringert. Mit seiner „Butter-undKanonen“-Politik der Steuererleichterungen trotz hoher Kriegsausgaben brachte Präsident George W. Bush die USA wieder zurück auf den Pfad defizitärer Staatshaushalte und steigender Schuldenlast (siehe Abbildung 5).

Ebenso wie sein Vorgänger George W. Bush, der im Oktober 2008 das erste 700 Milliarden Dollar schwere Stabilisierungsprogramm, das Troubled Asset Relief Program (TARP), aufgelegt hatte, um das Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren, setzte Präsident Obama gleich zu Beginn seiner Amtszeit, im Februar 2009, mit dem American Recovery and Reinvestment Act (ARRA) weitere 787 Milliarden Dollar ein, um die Wirtschaft anzukurbeln. Mit den beiden Rettungs- bzw. Konjunkturprogrammen wurde der durch Bushs Finanzgebaren ohnehin schon angespannte Staatshaushalt umso mehr belastet. Bereits das Haushaltsjahr 2008 markierte mit 459 Milliarden Dollar ein Rekorddefizit. 2009 war der Fehlbetrag mehr als dreimal so hoch: 1.413 Milliarden Dollar. 2010 wurde der Staatshaushalt erneut um 1294 Milliarden Dollar überzogen. Auch im vergangenen Haushaltsjahr, das am 30. September 2011 endete, bezifferte sich das Haushaltsdefizit auf 1300 Milliarden Dollar.75 Sicherlich sind diese – in absoluten Zahlen ausgedrückten – Belastungen für Amerika leichter zu schultern, als sie für ein kleineres Land zu bewältigen wären. Doch

75 Gemäß den Daten des U.S. Department of the Treasury und des Congressional Budget Office, abrufbar unter: http://www.cbo.gov/.

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Abbildung 5: US-Haushaltsdefizite und -überschüsse 1980–2011 (in Mrd. Dollar) 400,0

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Quelle: Congressional Budget Office (CBO), eigene Darstellung

selbst auf die Wirtschaftsleistung bezogen hat das Defizit mit jeweils neun bis zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den letzten drei Jahren wiederholt die 1983 erzielte Rekordmarke von sechs Prozent bei weitem übertroffen, die Präsident Ronald Reagan dem Land zugemutet hatte. Indem sich Jahr für Jahr Milliardendefizite summiert haben, musste die Gesamtschuldenobergrenze, die vom Kongress bereits im Februar 2010 auf 14 Billionen Dollar erhöht wurde, erneut angehoben werden. Dass diese in der Vergangenheit routinemäßig abgewickelte Aktion nunmehr im heftigen politischen Streit eskalierte, der sich zwischen den Parteien, aber umso deutlicher innerhalb der beiden Lager abspielte, verdeutlicht den Ernst der Lage. Selbst die Drohungen der Ratingagenturen – die Unfähigkeit der Politik, einen Kompromiss zu finden, als Anlass zu nehmen, um die Kreditwürdigkeit der USA herabzustufen – brachte die politischen Kontrahenten nicht wirklich zur Raison. Nach monatelangem, die Finanzmärkte beunruhigendem, politischem Ringen konnte Präsident Obama am

2. August 2011 dann doch noch den Budget Control Act unterzeichnen. Wie der Name des Gesetzes suggeriert, wurden mit der Anhebung der Schuldenobergrenze, um zunächst 900 Milliarden Dollar, auch Ausgabenkürzungen verbunden: In den nächsten zehn Jahren sollen insgesamt bis zu 2.400 Milliarden Dollar eingespart werden. Zunächst musste eine überparteiliche Gruppe von Abgeordneten und Senatoren bis zum 23. November 2011 Vorschläge unterbreiten, um im Zeitraum von 2012–2021 mindestens 1500 Milliarden zu kürzen. Nur wenn die Empfehlungen der Arbeitsgruppe von beiden Kammern des Kongresses ohne Änderungen bis zum 15. Januar 2012 angenommen werden, würde der Präsident autorisiert, die Schuldenobergrenze um weitere 1.500 Milliarden Dollar zu erhöhen. Sollte die Arbeitsgruppe scheitern oder der Kongress deren Empfehlungen nicht zustimmen, könnte Präsident Obama die Obergrenze zwar erneut um 1.200 Milliarden Dollar anheben, doch würde in diesem Fall ein automatischer Mechanismus greifen und in den künftigen zehn Haushaltsjahren 1.200 Milliarden nach dem Rasenmäherprinzip im Sozialund Sicherheitsbereich kürzen.76

76 Congressional Budget Office: Estimated Impact of Automatic Budget Enforcement Procedures Specified in the Budget Control Act, Washington, D.C., 12.9.2011. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Abbildung 6: Von der Öffentlichkeit finanzierte Staatsverschuldung (debt held by the public) in Prozent des BIP, 1980– 2011 70,0

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Quelle: Congressional Budget Office (CBO), eigene Darstellung

Dieser für viele Außenstehende schwer durchschaubare Kompromiss soll zweierlei ermöglichen: zum einen, kurzfristig die Schulden zu bedienen, um die Zahlungsunfähigkeit der USA zu verhindern; zum anderen, mittel- bis langfristig den Schuldenberg abzubauen, um die Kreditwürdigkeit zu wahren und die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu gefährden. Aus gutem Grund: Aus wirtschaftspolitischer (keynesianischer) Sicht war die Erhöhung der Staatsverschuldung kurz- bis mittelfristig zu rechtfertigen, denn vorerst wurde der Zusammenbruch des Bankensystems verhindert und Nachfrage generiert, die die Rezession abfedert und Arbeitsplätze sichert. Langfristig geht Staatsverschuldung jedoch auf Kosten des Wirtschaftswachstums: Staatliche Investitionen erschweren, ja sie verdrängen über den Mechanismus des crowding out private Investitionen.

Eine weitere Gefahr besteht darin, dass die anhand des BIP gemessene Wirtschaftsleistung nicht mehr mit der Staatsverschuldung Schritt halten kann. Betrachtet man das Verhältnis zwischen der auf Kreditmärkten öffentlich wirksamen Verschuldung77 und dem BIP in den drei zurückliegenden Dekaden, so wird eine Tendenz deutlich: Zwischen 1980 und 1995 nahm die Verschuldung stärker als die Wirtschaftsleistung zu, der Quotient stieg also an (siehe Abbildung 6). In den Jahren 1995 bis 2001 fiel er aufgrund sinkender Verschuldung wieder, um dann seit 2002 im Zuge zunehmender Staatsverschuldung wieder merklich zu steigen. 2008 wurde bereits die 40-Prozent-Marke überschritten, 2009 wurden 47,2 Prozent des BIP erreicht. Mittlerweile wurde die Höchstmarke der neunziger Jahre (1993: 49,4 Prozent), die Präsident Clinton von

77 Im Gegensatz zum gross federal debt beinhaltet die so genannte debt held by the public nur die – aufgrund ihres Einflusses auf Zinssätze und Investitionsentscheidungen privater Akteure – in ökonomischer Hinsicht relevanten Staatsschulden, die über den Kreditmarkt veräußert werden. Hingegen beinhaltet das gross federal debt auch intragouvernementale Verbindlichkeiten und Verpflichtungen (trust funds), etwa gegenüber der Sozial- und Arbeitslosenversicherung oder Pensionskassen für Staatsbedienstete.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Ein überproportionaler Anstieg der Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP birgt die Gefahr, dass Investoren keine „riskanten“ US-Staatsanleihen mehr kaufen. Freilich bleibt den Hauptfinanciers der US-Schulden, vor allem China und Japan, gar nichts anderes übrig, als weiter zu investieren, um nicht den Wertverlust ihrer bestehenden Anlagen in den USA zu riskieren. Doch werden auch sie ihre Portfolios diversifizieren, sprich in anderen Staaten und Währungen investieren, um das Risiko zu begrenzen. Hinzu kommt, dass der künftige US-Finanzierungsbedarf den bisherigen bei Weitem übertreffen wird und zudem die Finanzkraft ausländischer Kreditgeber überfordern dürfte, die wie Japan und China ihrerseits mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben. Insgesamt sind Anleger beim Kauf von lang laufenden Anleihen ohnehin vorsichtig und wählerisch, zumal viele Staaten und Unternehmen in den kommenden Jahren die Anleihemärkte mit neuen Emissionen zur Abdeckung der Schulden und Defizite fluten werden. Die US-Notenbank müsste dann noch umfangreicher intervenieren, indem sie Staatspapiere aufkauft, sprich „Geld druckt“. Damit wäre zwar die Gefahr der Staatsinsolvenz vorerst gebannt, aber jene der Inflation heraufbeschworen. Gefahr von Inflation und Spekulationsblasen Den Ordner mit dem Logo der amerikanischen Notenbank hält ihr Präsident Ben Bernanke in Händen, 2010.

seinen Amtsvorgängern Ronald Reagan und George Bush sen. geerbt hatte, übertroffen: mit 62 Prozent im Haushaltsjahr 2010 und 67 Prozent im Haushaltsjahr 201178 – mit weiterhin steigender Tendenz: Selbst gemäß den auf optimistischen Annahmen fußenden Prognosen des Weißen Hauses dürfte in zehn Jahren die von der Öffentlichkeit und zu einem Gutteil vom Ausland finanzierte Staatsverschuldung der USA bemerkenswerte 80 Prozent des BIP erreichen.79 Dieses Szenario erscheint umso bedrohlicher für die USStaatsfinanzen, wenn man zudem die demografisch bedingte Finanzierungslücke der sozialen Sicherungssysteme berücksichtigt. Ohne grundlegende Reformen werden die Kosten staatlich finanzierter Ansprüche (entitlement programs) astronomische Höhen erreichen, sobald die „BabyBoom“-Generation gegen Ende der nächsten Dekade aus dem Arbeitsleben scheidet.

Zur Bewältigung der Wirtschaftskrise missachten die Währungshüter in den USA einmal mehr ihre monetaristischen Prinzipien. Indem die US-Notenbank mit massiven Liquiditätsspritzen die Wirtschaft wiederzubeleben versucht, riskiert sie weitere Finanzblasen und Inflation. Zudem werden politische Erwägungen es künftig erschweren, frühzeitig Inflationsgefahren einzudämmen. Ohnehin haben die USBundesregierung und die Einzelstaaten mit milliardenschweren fiskalpolitischen Förderprogrammen in das amerikanische Wirtschaftsgeschehen eingegriffen. Um das aktuelle geldpolitische Dilemma der USNotenbank zu verdeutlichen, ist ein kurzer Rückblick auf die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise illustrativ: Nachdem im Jahr 2000 die Spekulationsblase an den USAktienmärkten platzte und die Terroranschläge vom 11. September 2001 ein Übriges taten, um die US-Wirtschaft zu verunsichern, reagierte die US-Notenbank mit merklichen Leitzinssenkungen, um eine Rezession zu verhindern. Selbst als sich die Wirtschaftslage verbesserte, hielt die Federal Reserve an ihrer Niedrigzinspolitik fest und war mit dafür verantwortlich, dass im amerikanischen Markt zu viel Liquidität vorhanden war. Banken konnten damit ihre Kre-

78 So der Direktor des Congressional Budget Office, Douglas W. Elmendorf: Confronting the Nation’s Fiscal Policy Challenges, Testimony before the Joint Select Committee on Deficit Reduction, U.S. Congress, Washington, D.C., 13.9.2011, S. 17. 79 Office of Management and Budget: Mid-session Review, Budget of the U.S. Government, Fiscal Year 2010, Washington, D.C., August 2009, S. 25. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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ditvergabe ausbauen – vor allem zugunsten von Kreditnehmern mit geringer Bonität – und verursachten so den Immobilienboom und die damit ausgelöste Finanz- und Wirtschaftskrise. Heute kann es sich die US-Notenbank indes weiterhin nicht leisten, die Zinsen zu erhöhen und so Liquidität vom Markt abzuschöpfen, weil dies die aufgrund des Vertrauensverlustes im Bankensektor80 bereits vorhandene Kreditklemme forcieren würde. Zudem besteht die Sorge, dass ein erhöhtes Zinsniveau weitere Kreditnehmer, die aufgrund der schlechten Arbeitsmarktlage ohnehin über geringere Einkommen und wegen der steigenden Benzinpreise über weniger Kaufkraft verfügen, mit einem so genannten „Zahlungsschock“ konfrontieren würde, wenn sie merken, dass der höhere Zinssatz die Rückzahlungslast spürbar erhöht. Dies würde noch mehr notleidende Kredite verursachen und die Gefahr einer weiteren Immobilien- und damit Finanzkrise heraufbeschwören. Die Notenbank reduzierte denn auch sukzessive den Leitzins, zu dem sich Geschäftsbanken Geld verschaffen können, und signalisierte bereits bei ihrer Sitzung im Dezember 2008, dass sie die Rekordtiefmarke (0 bis 0,25 Prozent) bis auf Weiteres beibehalten wolle.81 Die nunmehr risikoscheuen Banken gaben jedoch die an sie verabreichte Liquidität nicht an Privatunternehmen und Verbraucher weiter, sodass es für private Marktteilnehmer schwieriger wurde, Investitionen und Konsum zu finanzieren. In der Folge setzte die Notenbank weitere „kreative Instrumente“ ein, um die Privatunternehmen direkt mit Geld zu versorgen und die Kreditvergabe zu beleben:82 Im März 2009 kündigte die amerikanische Notenbank an, im Zuge ihres so genannten quantitative easing – ein Euphemismus für „Geld drucken“ – 300 Milliarden Dollar an Schulden, also langlaufenden US-Staatsanleihen, aufzukaufen, um sie marktfähig zu halten. Zudem erklärte sich die Federal Reserve bereit, durch Hypotheken „gesicherte“ Wertpapiere im Gegenwert von 1,45 Billionen Dollar zu erwerben. Im November 2010 verkündete die Notenbank eine zweite Runde des quantitative easing (QE2): Sie kaufte bis Ende des zweiten Quartals 2011 weitere US-Staatsanleihen im Wert von 600 Milliarden Dollar. Damit dürfte die Federal Reserve seit Beginn der Krise insgesamt 2,3 Billionen Dollar in die Wirtschaft gepumpt haben.83

Die außerordentliche Geldschwemme der US-Notenbank wird die in bisherigen Krisenzeiten inflationshemmende Wirkung von Arbeitslosigkeit hinwegspülen. Der ehemalige Notenbankchef Alan Greenspan sagte den USA bereits im Sommer 2009 eine Inflation von über zehn Prozent voraus, wenn die Federal Reserve nicht bald ihre Bilanz korrigieren und die Leitzinsen anheben sollte.84 Doch es ist bis auf Weiteres denkbar, dass politischer Druck die US-Notenbank auch künftig davon abhält, der Inflationsgefahr rechtzeitig zu begegnen, indem sie schon beim Wiederanspringen der Konjunktur die von ihr in großen Mengen zur Verfügung gestellte Liquidität im Sinne einer so genannten „Exit-Strategie“ wieder vom Markt abschöpft. Denn aus Sicht der schon im November 2012 zur Wiederwahl anstehenden Abgeordneten und Senatoren im Kongress wäre eine Straffung der Geldpolitik erst dann opportun, wenn sich das Wachstum der Wirtschaft als nachhaltig erweist und die Verbesserungen auch für die Arbeitnehmer – sprich: die Wähler – spürbar werden. Laut Präsident Obama, der ebenso zur Wiederwahl antreten muss, ist die Rezession erst vorbei, wenn die US-Wirtschaft „wieder neue Arbeitsplätze schafft“.85 Die Politik hat ohnehin milliardenschwere Wirtschaftsförderprogramme aufgelegt, um die Finanzkrise zu beheben und die Wirtschaft wiederzubeleben. Bereits gegen Ende der Amtszeit George W. Bushs rettete der Kongress mit einer Finanzspritze in Höhe von 700 Milliarden Dollar das Banken- und Finanzsystem vor dem Kollaps. Sein Nachfolger Obama brachte mit dem American Recovery and Reinvestment Act (ARRA) ein 787 Milliarden Dollar umfassendes Konjunkturpaket auf den Weg. Mit den darin enthaltenen Steuererleichterungen soll einerseits Nachfrage geschaffen werden. Andererseits versucht der Staat mit Investitionen, etwa in die Verkehrsinfrastruktur und das Gesundheits- und Sozialwesen, die Angebotsseite zu stärken. Insbesondere soll die Förderung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien die Grundlage für eine robuste und nachhaltige Wirtschaft des 21. Jahrhunderts legen. Das Umsteuern auf eine so genannte low carbon economy, also das Wirtschaften mit möglichst niedrigem Verbrauch

80 US-Banken sitzen weiterhin auf „faulen Krediten“, die sie nach und nach aus ihren Büchern abschreiben müssen, um ihre Bilanzen zu bereinigen. 81 Board of Governors of the Federal Reserve: FOMC Statement and Board Approval of Discount Rate Requests of the Federal Reserve Banks of New York, Cleveland, Richmond, Atlanta, Minneapolis, and San Francisco. Pressemitteilung v. 6.12.2008. 82 Vgl. Rede von Ben S. Bernanke: The Crisis and the Policy Response, London School of Economics, 13.1.2009. http://www.federalreserve.gov/newsevents/speech/bernanke20090113a.htm (Stand: 28.4.2011). 83 Conference Board. Hohe Spritpreise dämpfen US-Verbraucherstimmung, in: Handelsblatt v. 29.3.2011. 84 Alan Greenspan zit. in: Assessing Quantitative Easing, in: The Economist v. 13.8.2009. 85 Barack Obama zit. in: Neil Irwin: With Big Government Boost, U.S. Economy Grew in 3rd Quarter, in: Washington Post v. 30.10.2009.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Windräder in Kalifornien im Jahr 2009

fossiler Brennstoffe, ist auch aus energie-, umwelt- und sicherheitspolitischen Gründen geboten. Doch bei der Umsetzung dieses langfristigen Zieles wird es mittelfristig Anpassungsschwierigkeiten geben. Zwar ist politisches Handeln erforderlich, um Marktversagen im Energie- und Umweltbereich zu beheben. Doch die Politik hätte sich darauf beschränken können, Forschung in erneuerbare Energien und energiesparende Technologien zu fördern, anstatt sich und andere Marktteilnehmer direkt auf bestimmte Energieträger und Technologien festzulegen. Damit wird der Markt als Such- und Entdeckungsverfahren ausgehebelt. Zudem besteht die Gefahr einer spekulativen Blase bei Investitionen in erneuerbare Energien. Durch die Nullzinspolitik und Liquiditätsschwemme der Notenbanken werden Investoren wieder einmal dazu verleitet, weltweit Risiken einzugehen, die sie nicht verstehen und tragen können.

Politikblockade Mit den immensen Ausgaben von Notenbank und Politik wurde indes der künftige (politische) Handlungsspielraum ausgereizt. Beide, Präsident Bush ebenso wie Präsident Obama, hatten bereits große Schwierigkeiten, nicht zuletzt mit ihren Parteifreunden, ihre Gesetzesinitiativen durch den Kongress zu manövrieren. Bush scheiterte beim ersten Versuch mit dem 700-Milliarden-Dollar-Stabilisierungsprogramm (TARP) – an der Blockadehaltung „seiner“ republikanischen Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Erst als die Märkte panisch reagierten – der Dow-Jones-Index fiel nach der Abstimmungsniederlage vom 29. September 2008 innerhalb eines Handelstages um die Rekordmarke von über 700 Punkten86 –, gelang es Präsident Bush beim zweiten Anlauf, die erforderlichen Stimmen seiner Parteifreunde zu sichern.

86 The Bail-out Plan: A Shock from the House, in: The Economist v. 29.9.2008. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Nach dieser für viele staatskritische Republikaner politisch riskanten Stimmabgabe konnte sein Nachfolger Obama bei der nächsten Intervention – mit seinem 787 Milliarden Dollar schweren American Recovery and Reinvestment Act (ARRA) – dann nicht mehr mit parteiübergreifender Unterstützung rechnen und musste sich auf seine Parteifreunde im Kongress verlassen. Viele von ihnen, insbesondere fiskalkonservative („Blue-Dog“-)Demokraten, folgten ihm widerwillig oder widersetzten sich mit Verweis auf das aus dem Ruder laufende Haushaltsdefizit. Spätestens seit den Zwischenwahlen 2010 ist die Schuldenlast politisch brisant geworden. So wurden auch republikanische Mandatsträger, die für Bushs 700Milliarden-Rettungsplan stimmten, von den libertären Anhängern und Herausforderern der „Tea Party“Bewegung an den Pranger gestellt. In größerem Ausmaß wurden jedoch am Wahltag jene „Blue-Dog“Demokraten abgestraft, die in Wahlkreisen mit eher fiskalkonservativer Wählerklientel zur Wiederwahl antreten mussten, darunter selbst langjährige Abgeordnete wie der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Ike Skelton, und der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, John Spratt, deren 34- bzw. 28-jährige Amtszeiten jäh endeten. Es ist bezeichnend, dass Präsident Obama seinen letzten Deal noch in der alten Legislaturperiode einfädelte – bevor die durch die Zwischenwahlen etablierten neuen Machtverhältnisse im Januar 2011 greifen konnten. Gegen Jahresende 2010 erwirkte Obama noch einen 800 Milliarden teuren Kompromiss mit der Legislative, indem er die Steuererleichterungen seines Vorgängers um zwei weitere Jahre fortschrieb und diese mit der Verlängerung der maximalen Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe für weitere 13 Monate verband. Die neu hinzu gewählten republikanischen Mandatsträger (über 60 Abgeordnete und 6 Senatoren), von denen viele über die „Tea Party“-Bewegung in den Kongress katapultiert wurden, ebenso wie die seit den Wahlen umso mehr verunsicherten (fiskalkonservativen) Demokraten werden es Präsident Obama nunmehr erschweren, weitere nennenswerte Wirtschaftsförderprogramme auf den Weg zu bringen. Die Exekutive wird demnach in der Exportförderung ihr Heil für mehr Wirtschaftswachstum suchen müssen. Bereits im März 2010 hat Präsident Obama per Exekutivorder (das heißt ohne Mitwirken des Kongresses) die National Export Initiative (NEI) initiiert, wonach in-

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nerhalb der nächsten fünf Jahre die amerikanischen Exporte verdoppelt werden sollen. Dabei wird die Exekutive jedoch nicht auf die Unterstützung des Kongresses zählen können. Mit den Kongresswahlen vom November 2010 wurde auf der einen Seite des politischen Spektrums die freihandelsorientierte Fraktion der „Blue Dog“-Demokraten dezimiert. Ebenso wird der bei Handelsfragen wortführende Republikaner Kevin Brady große Schwierigkeiten haben, viele der eher protektionistisch gesinnten Abgeordneten, die über die libertäre „Tea Party“-Bewegung in den Kongress gelangt sind, auf Freihandelslinie zu bringen.

… für die amerikanische Außenpolitik Zwar argumentieren an den beiden Rändern des politischen Spektrums einerseits libertäre Republikaner und andererseits gewerkschaftsnahe Demokraten – aus unterschiedlichen Gründen – gegen das internationale Engagement der USA: Die einen, libertär gesinnten Republikaner, sind besorgt um die „innere kapitalistische Ordnung“ und das wachsende Haushaltsdefizit und stellen sich gegen kostspieliges militärisches Engagement und zunehmend auch gegen Freihandel. Die anderen, traditionellen, den Gewerkschaften nahen Demokraten (Old Liberals), verteidigen die „sozialen Interessen Amerikas“ und positionieren sich gegen Freihandel und kostspielige Interventionen. Insbesondere befürchten sie, dass Mittel für internationale bzw. militärische Zwecke verbraucht werden und somit für innere soziale Belange fehlen. Aber den Ton angebenden außenpolitischen Mainstream einigt nach wie vor ein liberal-hegemoniales Weltbild, wonach die USA die Welt nach ihren Wertvorstellungen und Interessen ordnen (vgl. die Typologie in Tabelle 3). Gleichwohl gibt es im pluralistischen politischen System der USA bei der Umsetzung dieser Leitidee immer wieder heftige Auseinandersetzungen zwischen Individuen, Organisationen und Institutionen, die je nach Politikfeld in unterschiedlichen Machtkonstellationen ausgefochten und entschieden werden. Handelspolitik Die Handelspolitik ist ein Beispiel par excellence für die Stärke des Kongresses im politischen Entscheidungsprozess: Ebenso wichtig wie die Haltung des Präsidenten in diesem Politikfeld ist die Zusammensetzung der Legislative: Internationale Handelsabkommen müssen vom Kongress ratifiziert werden.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Tabelle 3: Ideelle Grundorientierungen amerikanischer Außenpolitik Idealtypische Grundhaltungen87

internationalistisch orientiert

nach innen gerichtet

Spielarten

konservativ

liberal

konservativ

liberal

Hauptmotivation/ zentrales Interesse

Machtpolitisch garantierter zwischenstaatlicher Frieden; angesichts der Gefahr der Überdehnung eigener (politischer) Ressourcen jedoch Engagement mit Augenmaß (nur bei Bedrohung des „vitalen“ Sicherheitsinteresses, wenn Gefahr in Verzug ist)

Schaffung einer Weltordnung demokratischer Staaten; Förderung von Freihandel; auch Intervention aus „humanitärem“ bzw. „moralischem“ Interesse, wenn „Wertinteressen“ oder „moralische Werte“ wie Menschenrechte oder „Religionsfreiheit“ auf dem Spiel stehen

Verteidigung „grundlegender amerikanischer Interessen“, Handlungsfreiheit und strategische Unabhängigkeit; Sorge um die innere kapitalistische Ordnung und das Haushaltsdefizit; zwar für Freihandel,88 aber gegen kostspieliges militärisches Engagement

Verteidigung „sozialer Interessen Amerikas“, Befürchtung, dass Mittel für internationale/militärische Zwecke verbraucht werden und für innere soziale Belange fehlen; gegen kostspielige Interventionen und Freihandel

Idealtypische Vertreter

Pragmatische Realisten

Idealisten, darunter 1. Progressive/ „New Liberals“ (multi-

Libertäre

Traditionelle Liberale/„Old Liberals“

Republican Study Committee (RSC) im Kongress & „Tea Party“-Bewegung

Gewerkschaftsflügel der Demokraten

laterales Engagement) 2. Neokonservative und christlich Rechte (unilaterales Vorgehen) Protagonisten im politischen Diskurs

Brent Scowcroft, Henry Kissinger, Ex-Senator Chuck Hagel

zu 1.: Vizepräsident Joseph Biden zu 2.: Richard Perle bzw. Mike Huckabee

Institute for Policy Studies

Cato Institute

Freie Hand für freien Handel? Präsident Obama wird aufgrund der kritischen wirtschaftlichen Situation in den USA bis auf Weiteres große Schwierigkeiten haben, Freihandelspolitik durchzusetzen, sollte er es überhaupt wollen oder versuchen. Er wird es insbesondere schwer haben, vom Kongress die als Trade Promotion Authority (TPA) bezeichnete Handelsautorität zu erhalten, um auf der internationa-

len Bühne überhaupt ernst genommen, das heißt, als verhandlungsfähig wahrgenommen zu werden. Bereits in der Amtszeit George W. Bushs, im Juli 2007, endete die so genannte TPA, wonach der Kongress die vom amerikanischen Präsidenten vorgelegten internationalen Handelsabkommen nur noch als Ganzes, das heißt, ohne Änderungsanträge annehmen oder ablehnen kann. Damit wird auch die Verhandlungsmacht des Präsidenten auf inter-

87 Die Variablen der Typologie wurden entlehnt von Peter Rudolf: New Grand Strategy? Zur Entwicklung des außenpolitischen Diskurses in den USA, in: Monika Medick-Krakau (Hg.): Außenpolitischer Wandel in theoretischer und vergleichender Perspektive. Die USA und die Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1999, S. 61-95. 88 In dieser Denkrichtung gibt es weitere Abstufungen: Während „Nationalisten“ wie Senator Jon Kyl und der ehemalige Senator George Allen auch internationalem Handel zunehmend kritisch gegenüberstehen, hegen so genannte „Palaeo-Konservative“ wie Pat Buchanan darüber hinaus ein protektionistisches Gedankengut, das nicht frei von xenophoben Attitüden ist. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Der Frachter im Hafen von Miami trägt das Logo der südkoreanischen Unternehmensgruppe Hyundai, 2009.

nationaler Ebene – unter anderem im Rahmen der DohaRunde – berührt: nämlich Vereinbarungen ohne Wenn und Aber politisch durchsetzen zu können. Die TPA, die damals noch unter der Bezeichnung „Fast Track“ firmierte, blieb schon dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton vom demokratisch „kontrollierten“ Kongress versagt. Obama ist – auch aufgrund der Erfahrungen Bill Clintons – gut beraten, in der künftigen Auseinandersetzung mit dem Kongress sein politisches Kapital mit Augenmaß einzusetzen. Nationale Wirtschaftsprobleme haben Obama das Präsidentenamt beschert – jetzt wird er an ihrer Lösung gemessen werden. Vorrang hat deshalb die Wiederbelebung der nationalen Wirtschaft. Zum jetzigen Zeitpunkt würde Obama mit Freihandelsinitiativen seine Stammwählerschaft enttäuschen. Selbst jene drei bilateralen Freihandelsabkommen (mit Südkorea, Kolumbien und Panama), die bereits Obamas Vorgänger Bush der Legislative noch im Rahmen des so genannten „Schnellverfahrens“ (TPA) vorlegte und trotz massiver Bemühungen nicht abschließen konnte, wurden erst nach Jahren, im Oktober 2011, vom Kongress gebilligt. An darüber hinausgehende, umfangreichere Freihandelsinitiativen wie die Transpazifische Partnerschaft (TPP) ist gar nicht zu denken. 30

Protektionismus auf dem Kapitol-Hügel Viele der auf dem Capitol Hill Ton angebenden Demokraten, nicht zuletzt auch einige Vorsitzende federführender Ausschüsse, sind protektionistisch eingestellt. Um ihre Wiederwahl nicht zu gefährden, nehmen sie Rücksicht auf die spezifischen Interessen der Wähler bzw. Wahlkampffinanciers in ihren Wahlkreisen und Bundesstaaten. Die Stimmen der Freihandelskritiker finden durch die Organisation verschiedener Interessengruppen politisches Gehör. An vorderster Front kämpfen die Gewerkschaften: Sie wollen sicherstellen, dass die Lebensgrundlage amerikanischer Arbeitnehmer nicht durch die Niedriglohnkonkurrenz anderer Länder bedroht werden. Indem sie sich gegen die „Ausbeutung“ in anderen Ländern und für internationale Arbeitnehmerrechte als „Menschenrechte“ einsetzen, sind sie auch politisch teilkompatibel mit der Menschenrechtslobby. Ebenso kritisieren Umweltverbände Schädigungen der Umwelt in anderen Ländern und fordern internationale Standards in Handelsvereinbarungen. Die Agrarlobby ist zwar der natürliche politische Gegner der Ökobewegung, wenn es um wirtschaftliche Interessen auf Kosten des amerikanischen Umweltschutzes geht. Anders als die exportEinsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Abbildung 7: US-Energieverbrauch nach Energieträgern, 1950–2010 (in Quads89)

120,0

100,0

80,0

Andere Kohle Gas Öl

60,0

40,0

20,0

0,0 1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Quelle: Energy Information Administration (EIA), Annual Energy Review 2010, Tabelle 1.3, S. 9

orientierte Agrarindustrie sieht der importbedrohte Teil der US-Landwirte jedoch im Freihandel eine Herausforderung anderer Natur: die Konkurrenz der Entwicklungsländer, die vor allem über die Doha-Runde zum Beispiel mit Baumwolle, Zucker oder Textilien auf den Weltmarkt drängen. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, so verfolgt diese häufig auch als „sonderbare Bettgenossen“ (strange bedfellows) bezeichnete Tendenzkoalition verschiedenster Interessengruppen ein gemeinsames Ziel: die Vereitelung der Freihandelspolitik. „Politik“ des schwachen Dollars Angesichts der fiskal- und handelspolitischen Beschränkungen bleibt aus amerikanischer Sicht die US-Notenbank die einzige handlungsfähige Institution, um aus der Wirtschaftskrise herauszuführen: US-Notenbankchef Ben Bernanke wird bereits als „Helikopter-Ben“ karikiert, der

immer wieder im Noteinsatz Geld abwirft, um mit zusätzlicher Liquidität für die Banken der amerikanischen Wirtschaft aus der Misere zu helfen. Doch indem die Federal Reserve weiter Geld druckt – Stichwort: quantitative easing –, setzt sie die amerikanische Währung noch mehr unter Druck. Ein schwacher Dollar bietet den USA Vorteile: Er verringert nicht nur die vom Ausland finanzierte Schuldenlast, sondern hilft dem in handelspolitischen Fragen innenpolitisch eingeschränkten Präsidenten Obama, seine ehrgeizige Exportstrategie umzusetzen. Zwar werden die expansive Geldpolitik und der damit geschwächte Dollar amerikanische Exportchancen kurzfristig fördern, doch langfristig bleibt ein Strukturproblem der US-Wirtschaft bestehen: Die amerikanische Industrie hat innerhalb weniger Dekaden spürbar an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Die Obama-Regierung hat das Problem erkannt und versucht im Zuge eines „Green New

89 Die Bezeichnung „Quads“ bedeutet „Quadrillion Btu’s per Year“. „British Thermal Unit (Btu)“ ist eine gängige Maßeinheit, um verschiedene Energietypen zu verrechnen. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Die Trans-Alaska-Pipeline im Jahr 2010

Deal“ in den USA erneuerbare Energien zu fördern und Umwelttechnologien weiter zu entwickeln, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.

gem Verbrauch fossiler Brennstoffe, erfordert. In erster Linie geht es in den USA darum, alternative Kraftstoffe und effiziente Technologien für den Transportsektor zu entwickeln.

Energie(außen)politisches Umsteuern Amerikas Sucht nach importiertem Öl Die von ihrer „Ölsucht“ verursachten Versorgungssicherheits-, Wirtschafts- und Umweltkosten ihrer gegenwärtigen Energie(außen)politik werden die USA zum Kurswechsel, insbesondere im Verkehrssektor, veranlassen. Mit dem Fachbegriff der „Energiesicherheit“ (energy security) wurde im angelsächsischen Raum ein neues, mehrere Politikfelder umspannendes Forschungsfeld etabliert.90 Ebenso reift in der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit die Einsicht, dass die Optimierung des Zieldreiecks von Energieversorgungssicherheit, wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz eine Umstellung auf eine so genannte low carbon economy, also Wirtschaften mit möglichst niedri-

Mit knapp fünf Prozent der Erdbevölkerung beanspruchen die Vereinigten Staaten von Amerika mehr als ein Fünftel (21 Prozent) des globalen Energiekonsums.91 In den letzten sechs Jahrzehnten hat sich der Energieverbrauch der USA beinahe verdreifacht (siehe Abbildung 7, S. 31).92 Der erhöhte Energiebedarf wurde in erster Linie durch Öl gedeckt: 2010 betrug der Anteil des Mineralöls knapp 40 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs. Zwar ist in den siebziger Jahren der Verbrauch der Energiequellen Gas und Kohle ebenso angestiegen. Aber seit den achtziger Jahren blieb ihr Anteil an der Deckung des Gesamtenergieverbrauchs mit etwa einem Viertel bzw. einem Fünftel

90 Für einen Überblick siehe: Jan H. Kalicki/David L. Goldwyn (Hg.): Energy and Security. Toward a New Foreign Policy Strategy, Washington, D.C., 2005. 91 U.S. Department of Energy: Energy Information Administration (EIA): Annual Energy Review 2009, Washington, D.C., August 2010, Abbildung 11.3, S. 310. 92 Ebd., Tabelle 1.3, S. 9.

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Abbildung 8: US-Mineralöleigenproduktion und -import, 1950–2010 (in Tsd. Fässern pro Tag) 25000

20000

15000 Import

10000

5000

0 1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Quelle: EIA, Annual Energy Review 2010, Tabelle 5.1b, S. 135

Tabelle 4: US-Hauptimportländer von Mineralöl, 1965 vs. 2010 1965

Kanada Mexiko Golf-Staaten Nigeria Venezuela

inTsd. Fässern proTag 323 48 345 15 994

2010 in % der Gesamtimporte 13,1 1,9 14,0 0,6 40,3

inTsd. Fässern proTag 2532 1280 1708 1025 987

in % der Gesamtimporte 21,5 10,9 14,5 8,7 8,4

Quelle: Energy Information Administration (EIA);93 eigene Berechnung und Darstellung

relativ konstant. Nuklear- und erneuerbare Energie tragen mit neun bzw. acht Prozent nur wenig zur Deckung des Gesamtenergiebedarfs bei. Ökonomisch betrachtet wurden alternative Energien benachteiligt, indem die Regierung seit den achtziger Jahren Nuklearenergie und insbesondere fossile Brennstoffe subventioniert hat.94 Sollte die US-Regierung diesen Wettbewerbsvorteil fossiler Kraftstoffe nicht ausgleichen, sprich nicht massiv in die Forschung und Entwicklung alternativer Energien investieren, würde sich am derzeitigen

Energiemix in den USA auch künftig wenig ändern und sich die Abhängigkeit von importiertem Öl weiter verstärken. Der gestiegene Ölbedarf konnte auch bisher nicht durch eigene Produktion gedeckt werden. Zwischen 1950 und 2010 erhöhte sich zwar die Gewinnung amerikanischen Mineralöls von 5,9 auf 7,5 Millionen Fässer pro Tag.95 Doch angesichts der insgesamt 19 Millionen Fässer, die heute in den USA täglich benötigt werden, nimmt sich dieser Anstieg geringfügig aus. Allein der – fast ausschließlich durch Flugbenzin, Benzin und Diesel angetriebene – amerikani-

93 EIA: Annual Energie Review 2010, Washington, D.C., Oktober 2011, S. 141 (Tabelle 5.4). 94 Vgl. Nader Elhefnawy: Toward a Long-Range Energy Security Policy, in: Parameters, Frühjahr 2006, S. 101-114. 95 Ein Fass entspricht 159 Litern; EIA: Annual Energy Review 2010 (wie Anm. 93), S. 133 (Abb. 5.1b). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

sche Transportsektor verbrauchte 2010 knapp 14 Millionen Fässer Erdöl pro Tag. Der Verkehrssektor beansprucht mittlerweile über 70 Prozent des gesamten Ölkonsums.96 Aufgrund der hohen Abhängigkeit des amerikanischen Transportsektors von fossilen Kraftstoffen – und wegen der Zeitspanne, die zur Entwicklung neuer markttauglicher Technologien benötigt würde – werden die Vereinigten Staaten mindestens noch für mehrere Dekaden auf den Import von Öl angewiesen sein.97 Die internationale Abhängigkeit der Weltmacht USA vom Erdöl hat – anders als beim Energieträger Gas98 – deutlich zugenommen: Deckten die USA 1950 ihren Bedarf noch überwiegend durch die Gewinnung eigener Ressourcen, so stammten 2010 über 60 Prozent des Gesamtölverbrauchs aus Importen (siehe Abbildung 8, S. 33), insbesondere von den Nachbarstaaten der so genannten westlichen Hemisphäre und von Ländern am Persischen Golf (siehe Tabelle 4, S. 33).99 Das amerikanische Energieministerium prognostiziert, dass die derzeitige Importmenge bis 2035 nur wenig, von zehn auf neun Millionen Fässer pro Tag, sinken wird, selbst wenn dabei angenommen wird, dass die inländische Biokraftstoffproduktion bis dahin merklich, auf 2,5 Millionen Fässer pro Tag, steigen sollte.100 Demnach wird die massive Importabhängigkeit bis auf Weiteres bestehen bleiben, insbesondere von den Staaten am Persischen Golf. Mit der Instabilität in der Golfregion wird dieses Problem der amerikanischen Öffentlichkeit immer deutlicher vor Augen geführt; Amerikas Abhängigkeit von importiertem Öl ist zum (sicherheits-)politisch relevanten Thema geworden.

Kühle Begegnung: Barack Obama und Hugo Chávez auf dem Amerika-Gipfel in Trinidad und Tobago im April 2009

Strategische Energieressourcen-Unsicherheit

expandierenden China ein weiterer Konkurrent um knappe Ressourcen auf den Plan getreten, sowohl im Nahen und Mittleren Osten als auch in hot spots, das heißt, in entwicklungsfähigen Regionen wie Westafrika oder Zentralasien.

Sollten die Vereinigten Staaten ihre übermäßige Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen beibehalten, bleiben sie verwundbar. Zwar können die USA weiterhin auf ihre wichtigen Öllieferanten Kanada und Mexiko zählen. Doch die angespannten Beziehungen mit Venezuela verdeutlichen, dass es für die USA schwieriger wird, selbst in ihrer geografischen Nachbarschaft ihre Energieressourcen zu sichern. Der Persische Golf erweist sich sicherheitspolitisch als prekär und unzuverlässig im Hinblick auf preiswerte Lieferung von Energieressourcen. Zudem ist mit dem wirtschaftlich

Bislang konnten sich die USA auf gute Beziehungen zu Venezuela, ihrem viertwichtigsten Öllieferanten, verlassen. Aber das Verhältnis mit Staatsführer Hugo Chávez ist angespannt, insbesondere seitdem Venezuela 2005 die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde aufkündigte und ein bilaterales Militäraustauschprogramm beendete. Im Inneren verstaatlichte die Regierung die Förderung der Ressourcen, und sie droht gelegentlich, wie im April 2004, die Öllieferungen in die USA zu stoppen. Venezuela versucht zudem, etwa mit Offerten gegenüber China, seine Kundschaft zu diversifizieren.

96 Ebd., Tabelle 5.13c, S. 162; Abb. F1, S. 361. 97 Council on Foreign Relations: National Security Consequences of U.S. Oil Dependency, Independent Task Force Report No. 58, New York 2006, S. 14. 98 Die USA beziehen netto derzeit nur etwa zehn Prozent ihres Gasverbrauchs von außerhalb; EIA: Annual Energy Review 2010 (wie Anm. 95, Abb. 6.1, S. 192). 99 Ebd., Tabelle 6.1, S. 187. 100 Vgl. Energy Information Administration (EIA), Annual Energy Outlook 2011, Executive Summary (Daten: Figure 1. U.S. liquids fuel consumption, 1970-2035), Washington, D.C., 26.4.2011.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Aufständische setzten die Pipeline in der Nähe von Falludscha in Brand, Irak im Jahr 2004.

Schließlich ist Venezuela – wie die meisten anderen ölproduzierenden Länder, von denen die USA abhängen – Mitglied eines mächtigen Clubs, der Organisation Erdölexportierender Staaten (OPEC), in dem Venezuelas engster Partner Iran bereits kooperative Beziehungen zu China entwickelt. Nach den Informationen des Congressional Research Service (CRS), eines der wissenschaftlichen Hilfsdienste des Kongresses, wurden Mitarbeiter der staatlichen Ölfirma Venezuelas von iranischen Experten beraten, um asiatische Interessenten für Energielieferungen aus Venezuela zu gewinnen.101 Beim Besuch von Präsident Chávez in Peking im Dezember 2004 und der Gegenvisite des chinesischen Vizepräsidenten Zeng Qinghong in Venezuela im Januar 2005 unterzeichneten die beiden Staaten Abkommen, die die China Petroleum Corporation dazu verpflichteten, 410 Millionen Dollar zur Gewinnung der Öl- und Gasressourcen Venezuelas zu investieren. Indem er seine Ressourcen dem „großen chinesischen Vaterland“ zur

Verfügung stellt, will Präsident Chávez Venezuela von der „100-jährigen Vorherrschaft der USA“ befreien.102 Während seines Besuchs in der Volksrepublik China erläuterte Chávez Pläne, wonach eine Pipeline in Panama umkonstruiert werden sollte, um Öl zum Pazifik zu leiten, und den möglichen Bau einer Pipeline von Venezuela an die Pazifikhäfen Kolumbiens. In der Folge wurde das Government Accountability Office (GAO) vom Auswärtigen Ausschuss des amerikanischen Senats beauftragt, einen Krisenplan für den Fall auszuarbeiten, dass Venezuela die Öllieferungen in die USA stoppt.103 Angesichts der Schwierigkeiten, Energieressourcen in der eigenen, so genannten westlichen Hemisphäre zu sichern, kommt der Golfregion umso mehr Bedeutung zu. Des Weiteren kann man aus der weltweiten Verteilung des Rohstoffs Öl die zunehmende Abhängigkeit der USA von dieser Problemregion ersehen: Knapp 60 Prozent der heute bekannten Erdölreserven befinden sich im Mittleren Osten, vor allem in Saudi-Arabien, im Iran, im Irak, in Kuwait und

101 Vgl. Kerry Dumbaugh/Mark P. Sullivan: China’s Growing Interest in Latin America, CRS-Report, Washington, D.C., 20.4.2005, S. 4. 102 Juan Forero: China’s Oil Diplomacy Lures Latin America, in: New York Times v. 2.3.2005. 103 Vgl. Andy Webb-Vidal: US to Look into Venezuela Oil Supply Reliance, in: Financial Times v. 13.1.2005. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

in den Vereinigten Arabischen Emiraten.104 Eine unabhängige Expertengruppe des Council on Foreign Relations prognostizierte, dass der Persische Golf mindestens noch für die nächsten zwei Jahrzehnte von „vitalem Interesse hinsichtlich zuverlässiger Öllieferungen“ sein wird. Die in der Golfregion stationierten US-Militärtruppen hätten einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Energiesicherheit geleistet, und solche Anstrengungen seien auch künftig notwendig. Laut Einschätzung der Expertengruppe sei dafür eine „starke militärische Präsenz“, die ein schnelles Eingreifen in der Region ermögliche, unabdingbar.105 Indem jedoch die USA 2003 Saddam Husseins Tyrannenregime beseitigten, aber bislang darin versagten, die Lage im Irak zu kontrollieren, schwächte die Weltmacht nicht nur ihren Einfluss in der Region, sondern sie schadete sich auch wirtschaftlich: Instabilität verhindert die Förderung der weltweit ergiebigsten und ertragreichsten Ölquellen, was nicht nur dem Wiederaufbau Iraks, sondern auch zur Stabilisierung eines deutlich niedrigeren Ölpreises hätte beitragen können. Marktinterventionen der Öl-Monarchie SaudiArabien, nach Kanada und Mexiko der drittwichtigste Öllieferant der USA, haben den USA bislang geholfen, den Ölpreis stabil zu halten. Mitte der achtziger Jahre bis 2003 konnten sich Konsumenten auf relativ stabile und niedrige Preise verlassen. Da die Ölproduktion mit der steigenden Nachfrage, insbesondere aus den USA und China, nicht Schritt halten konnte, ist in den letzten Jahren der Ölpreis merklich gestiegen. Im April 2005 wurde US-Präsident Bush bei einem Treffen mit dem damaligen Kronprinzen Abdullah mitgeteilt, dass Saudi-Arabien nur begrenzte Überschusskapazitäten zur Verfügung habe und dass künftig Angebot und Nachfrage im Rahmen eines langfristigen Plans verhandelt werden müssten.106 Mit Blick auf die Schwierigkeiten in der Persischen Golfregion und die Entwicklungschancen in anderen Regionen suchen die USA nach Alternativen. Die Bush-Regierung machte kein Hehl aus ihrem Kalkül, wonach Ölimporte aus Afrika das Potential hätten, einen Großteil der gegenwärtigen Lieferungen aus dem Mittleren Osten zu ersetzen. Bereits im Mai 2001 verdeutlichte eine von Präsident

Bush per Exekutivorder eingesetzte und vom Vizepräsidenten Richard Cheney geleitete Task-Force die Bedeutung Afrikas, vor allem seiner Ressourcen am Golf von Guinea: „Westafrika wird voraussichtlich eine der ergiebigsten Ölund Gasquellen für den amerikanischen Markt werden.“107 2002 unterstrich das Weiße Haus mit der Nationalen Sicherheitsstrategie dieses Vorhaben.108 US-Präsident Bush beauftragte seinen Verteidigungsminister, in Afrika eine regionale Kommandozentrale für US-Streitkräfte aufzubauen. Africa Command (AFRICOM), das nach wie vor in Stuttgart beheimatet ist, solle als weitere Basis im „Globalen Krieg gegen den Terror“ dienen und dabei auch den Zugang zu afrikanischen Öl- und Gasressourcen vor Terroristen schützen.109 Während George W. Bushs Regierungszeit bezog die Weltmacht 15 Prozent ihrer Ölimporte aus Afrika südlich der Sahara, den Großteil aus Nigeria, und beabsichtigte, bis 2015 ein Viertel seiner Importe aus Afrika zu beziehen. Die Prognosen des amerikanischen Energieministeriums ließen dieses ehrgeizige Ziel durchaus realisierbar erscheinen. Demnach werden künftig Nicht-OPEC-Ländern in Afrika und im Mittleren Osten die größten Potentiale zugeschrieben, ihre Produktion zu erhöhen, nämlich von sechs Prozent 2005 auf einen Anteil von elf Prozent der weltweiten Erdölförderung 2030.110 Doch andere, wirtschaftlich wachsende Mächte mit globalen Energieinteressen, sind ebenso auf dieses Potential aufmerksam geworden. China ist besonders bemüht, mittels bilateraler Verträge seine Öllieferung exklusiv zu sichern. Während Chinas Konkurrenten sich schwerer tun, moralische und rechtsstaatliche Erwägungen hintan zu stellen, ist Pekings Engagement mit afrikanischen Führern in Nigeria und dem Sudan aufgrund seiner rigorosen Politik der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten dieser Staaten frei von menschenrechtlichen Erwägungen oder Auflagen guten Regierens.111 Zentralasien, während der Ost-West-Konfrontation noch integraler Bestandteil der Sowjetunion, ist eine weitere Region von strategischen Energieinteressen geworden. Mit einem Anteil von zwei Prozent der weltweiten Erdölproduktion ist die Kaspische Region kein bedeutender, aber

104 EIA: Annual Energy Review 2009 (wie Anm. 91), Tabelle 11.4, S. 313. 105 Vgl. Council on Foreign Relations (wie Anm. 97), S. 30. 106 Vgl. Alfred B. Prados/Christopher M. Blanchard: Saudi Arabia. Current Issues and U.S. Relations, CRS Report, Washington, D.C., 11.7.2006, S. 15-17. 107 Die unter dem Namen „Cheney Energy Task Force“ bekannte Gruppe erarbeitete einen Bericht: National Energy Policy Report of the National Energy Policy Development Group, Washington, D.C., Mai 2001, Zitat siehe 8. Kapitel, S. 11. 108 Vgl. White House: The National Security Strategy of the United States of America, Washington, D.C., September 2002, S. 19-20. 109 Vgl. John C. K. Daly: Questioning AFRICOM’s intentions, in: ISN Security Watch v. 2.7.2007. 110 Vgl. EIA, Annual Energy Outlook 2007, Washington, D.C., Februar 2007, S. 71. 111 Vgl. Denis M. Tull: Die Afrikapolitik der Volksrepublik China, SWP-Studie 2005/S 20, Berlin 2005.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Überflutetes Ölfeld in Kasachstan

angesichts der weltweit endlichen Ressourcen dennoch wichtiger Energielieferant.112 Seit Ende der neunziger Jahre konnte insbesondere Kasachstan seine Erdölförderung erheblich steigern. Um das erdölneureiche Kasachstan aus der politischen und infrastrukturbedingten Abhängigkeit Russlands zu lösen und um den Iran zu umgehen, haben die USA den Bau der Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline unterstützt, die seit 2005 Öl aus dem Kaspischen Raum durch Aserbaidschan und Georgien in den NATO-Staat Türkei pumpt. Während seines Besuches im Mai 2006 lobte US-Vizepräsident Cheney die politischen und wirtschaftlichen Fortschritte des Gastlandes, betonte seine persönliche Freundschaft mit Präsident Nursultan Nasarbajew, bestätigte die „engen Beziehungen zwischen Kasachstan und den Vereinigten Staaten“ und erklärte schließlich den Stolz Amerikas, Kasachstans „strategischer Partner“ zu sein.113 Die Partnerschaft sollte gefestigt werden durch amerikanische Militärbasen in Kasachstan, die für die Welt-

macht umso wichtiger geworden sind, zumal nach dem Rausschmiss der US-Streitkräfte aus Usbekistan im Sommer 2005, als der usbekische Präsident Islam Karimow den USA eine Frist von 180 Tagen gesetzt hatte, um ihre Soldaten, Ausrüstung und Flugzeuge vom Stützpunkt KarshiChanabad abzuziehen. Auch die Führung Kirgisistans spielt hin und wieder mit dem Gedanken, dem Drängen Russlands nachzugeben, das heißt, die Amerikaner zur Räumung ihres Luftwaffenstützpunkts in Manas zu bewegen und die USA damit aus der Region abzukoppeln. Einige Beobachter dieses Wettstreits um fossile Energieressourcen, der so genannten petropolitics, haben bereits eine „Achse des Öls“ identifiziert, wonach Russland, China und möglicherweise der Iran als „Gegengewicht zur amerikanischen Hegemonie“ agieren und den USA ihre Ölversorgung und strategischen Interessen streitig machen könnten.114 Bereits heute werden die USA mit den Machtressourcen der Organisation Erdölexportierender Länder

112 Vgl. BP Statistical Review of World Energy, Juni 2006; EIA, Juli 2006; zit. in: Bernard A. Gelb: Caspian Oil and Gas. Production and Prospects, CRS Report, Washington, D.C., 8.9.2006, S. 1-2. 113 Office of the Vice President: Vice President’s Remarks in a Press Availability with President Nursultan Nazarbayev of the Republic of Kazakhstan in the Presidential Palace, Astana, Kazakhstan, 5.5.2006. 114 Flynt Leverett/Pierre Noel: The New Axis of Oil, in: National Interest, Sommer 2006, S. 62-70. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Ölverschmutztes Wasser im Golf von Mexiko nach der Explosion der Plattform Deep Water Horizon im Jahr 2010

(OPEC) konfrontiert. Die OPEC kann aufgrund der Kapazitätsgrenzen anderer Ölproduzenten seit Ende der neunziger Jahre wieder ihre Kartellpolitik betreiben, damit den Ölpreis hochhalten und in wirtschaftlichen und politischen Einfluss ummünzen.115 Energetische Wirtschafts- und Handelsrisiken Die durch die Ölpreiserhöhungen verteuerten Energieimporte haben die seit mehreren Jahren ohnehin schon Besorgnis erregende amerikanische Außenhandelsbilanz weiter belastet: im Vorfeld der Wirtschafts- und Finanzkrise, 2005, um zusätzliche 70 Milliarden Dollar, 2006 um weitere 50 Milliarden Dollar.116 Das US-Außenhandelsdefizit wurde zu etwa einem Drittel auf Energieimporte zurückgeführt.117

Als 2007/08 die Finanz- und spätere Wirtschaftskrise mit der sinkenden Energienachfrage auch die Ölpreise drückte, von über 140 Dollar pro Fass im Juli 2008 auf unter 40 Dollar pro Fass im Januar 2009, wurde zwischenzeitlich auch die Außenhandelsbilanz wieder etwas besser. Doch mit der wirtschaftlichen Erholung und der wachsenden Energienachfrage stieg das Außenhandelsdefizit wieder. Nach Schätzungen des Congressional Research Service, eines der wissenschaftlichen Dienste des Kongresses, haben Energieimporte 2010 bereits wieder über 40 Prozent des Handelsdefizits verursacht.118 Die zu Jahresbeginn 2011 von den Unruhen im Nahen und Mittleren Osten beförderten Ölpreissteigerungen könnten die Außenhandelsbilanz um weitere 100 Milliarden Dollar belastet haben.119 Die USA sind wegen ihres Außenhandelsdefizits verwundbar. Anzeichen einer noch schwächer werdenden

115 Friedemann Müller: Energie-Außenpolitik. Anforderungen veränderter Weltmarktkonstellationen an die internationale Politik, SWPStudie S33, Berlin 2006, S. 28. 116 James K. Jackson: U.S. Trade Deficit and the Impact of Rising Oil Prices, CRS Report, Washington, D.C., 13.4.2007, S. 1. 117 Ebd., S. 4. 118 James K. Jackson: U.S. Trade Deficit and the Impact of Rising Oil Prices, CRS Report for Congress, Washington, D.C., 28.2.2011, S. 6. 119 Ebd., Summary.

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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Der Generalsekretär der UNO, Ban Ki-Moon, eröffnet die Klimakonferenz in Bali im Dezember 2007.

US-Wirtschaft könnten die Handelspartner dazu bewegen, ihre Verkaufserlöse nicht mehr in den USA zu reinvestieren, sondern sie in anderen Finanzmärkten zu sichern. Teure Energieimporte belasten die US-Wirtschaft ohnehin. Bereits im Sommer 2005 gab der damalige Notenbankchef Alan Greenspan der US-Legislative zu bedenken, dass allein die seit Ende 2003 erhöhten Energiepreise das amerikanische Wirtschaftswachstum 2004 und 2005 jeweils um einen halben bzw. Drei-Viertel-Prozentpunkt vermindert hätten.120 Während die dann folgende Wirtschafts- und Finanzkrise auch einen positiven Effekt zeitigte, indem die gesunkene Nachfrage die Preise zwischenzeitlich auf einem niedrigeren Niveau hielt, sind im Zuge der wirtschaftlichen Erholung die Energiepreise nunmehr wieder spürbar angestiegen, nicht zuletzt auch aufgrund der Nuklearkatastrophe in Japan und den Unruhen im Nahen und Mittleren Osten. Analysten von Goldman Sachs rechnen damit, dass der höhere Benzinpreis (im Juni 2011 kostete das Fass der

Sorte Brent 110 Dollar) das Wachstum im zweiten Quartal 2011 zwischen 0,5 und 0,75 Prozent vermindert haben dürfte.121 Auch künftig ist keine Entspannung zu erwarten: Der Ölpreis soll nach Einschätzung von Goldman Sachs bis zum Jahresende 2012 auf 140 Dollar (für ein Fass Brentöl) steigen.122 Hohe Energiepreise belasten in erster Linie energieintensive Wirtschaftssektoren, und sie verursachen damit indirekt zusätzliche Kosten für andere Wirtschaftszweige. Konsumenten spüren den Anstieg der (Energie-)Preise, und sie sehen sich angesichts ihrer geschrumpften Kaufkraft veranlasst, an anderen Ausgaben zu sparen. Sollten der Konsum merklich zurückgehen und Unternehmen aufgrund gestiegener Energiekosten und der allgemein sinkenden Kaufkraft zurückhaltender investieren, könnten die USA erneut in eine Rezession abrutschen, was die Arbeitslosigkeit erhöhen, den Konsum noch stärker vermindern und die Abwärtsspirale beschleunigen würde.

120 Jeannine Aversa : Oil Prices Said to Slow U.S. Economy a Bit, in: Associated Press v. 18.7.2005. 121 So der Chefökonom von Goldman Sachs im Interview: Jan Hatzius: „Der Ölpreis steigt auf 140 Dollar“, in: Handelsblatt v. 27.6.2011, S. 38-39. 122 Ebd. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Dank ihrer – auch in der Vergangenheit bewiesenen – Innovationskraft könnten sich amerikanische Märkte auf lange Sicht jedoch den neuen Gegebenheiten anpassen. Höhere Energiepreise geben starke Anreize, alternative Energieträger zu finden, neue Technologien zu entwickeln und die Energieeffizienz zu verbessern. Dahingehend wirkt eine zusätzlich treibende Kraft, nämlich das nicht erst seit der Explosion der Ölplattform im Golf von Mexiko im April 2010 gewachsene öffentliche Bewusstsein um die von fossilen Energien verursachten Umweltschäden, Gesundheits- und Sicherheitsrisiken. Wahrnehmung von Umwelt- und Sicherheitsgefahren Mittlerweile ist auch in den USA die allgemeine Überzeugung gereift, dass Umweltthemen mehr politische Aufmerksamkeit verdienen. Nicht nur internationale Umweltorganisationen, sondern auch renommierte US-Sicherheitsexperten warnen öffentlichkeitswirksam vor (sicherheitspolitischen) Risiken von Umweltbelastungen und -katastrophen.123 Amerikaner sind seit längerem bereit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und diese gegebenenfalls aus der eigenen Tasche zu finanzieren. Zudem erwarten die US-Bürger auch von ihrer Regierung Problemlösungen. Eine beträchtliche Mehrheit von ca. 80 Prozent befürwortete bereits 2007, während der Amtszeit George W. Bushs, Steuergelder zur Entwicklung alternativer Kraftstoffe für Autos auszugeben, mehr Geld in die Entwicklung von Solar- und Windenergie zu investieren, strengere Emissionswerte für Kraftfahrzeuge und Pflichtkontrollen für Kohlendioxidemissionen und andere Treibhausgase einzuführen.124 Reformunfähigkeit der US-Regierung unter George W. Bush Interessanterweise waren in der Amtszeit George W. Bushs diese Vorschläge und Sorgen der amerikanischen Bevölkerung weniger stark auf der politischen Agenda vertreten als andere, die nicht in der Gunst der öffentlichen Meinung standen, wie das Bohren nach Öl im Nationalen Arktischen Naturschutzgebiet (57 Prozent waren dagegen) oder der Ausbau der nuklearen Energiegewinnung (46 Prozent waren dagegen).125 123 124 125 126 127 128

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Bush torpedierte immer wieder internationale Bemühungen – unter anderem 2007 beim G8-Gipfel in Heiligendamm und bei der UN-Klimakonferenz auf Bali –, verbindliche Ziele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen festzulegen, und setzte stattdessen auf technologische Entwicklung. Ebenso verhinderte Präsident Bush in der legislativen Auseinandersetzung mit dem seit 2006 von den Demokraten kontrollierten Kongress (unter anderem durch Vetodrohungen) nachhaltige Reforminitiativen. Der von Bush am 19. Dezember 2007 unterzeichnete Energy Independence and Security Act 2007 erforderte zwar die Verbesserung der Verbrauchswerte bei Kraftfahrzeugen und eine Erhöhung des Produktionsanteils von Biokraftstoffen. Aber aufgrund des Drucks des Weißen Hauses sahen die Gesetzgeber letztlich davon ab, Stromerzeuger zu verpflichten, den Anteil erneuerbarer Energiequellen zu erhöhen und Steuererleichterungen für die Ölindustrie um rund 13 Milliarden Dollar zu kürzen – Steuermittel, die zur Forschung und Entwicklung alternativer Kraftstoffe investiert worden wären. Anlässlich der Unterzeichnung des Gesetzes forderte Präsident Bush hingegen den Kongress einmal mehr dazu auf, nicht weiter die Förderung einheimischer Öl- und Gasquellen (im arktischen Naturschutzgebiet) zu behindern. Chancen eines Kurswechsels unter Obamas Führung In den USA herrscht zwar immer noch die Experten- und Lehrmeinung vor, wonach „die Aussichten für eine ernsthafte Reform der Energiesicherheitspolitik schlecht sind, sofern nicht ein gravierender Schock des internationalen Systems eintritt“ – etwa der Zusammenbruch der saudi-arabischen Monarchie.126 Doch die gegebenen Energieversorgungssicherheits-, Wirtschafts- und Umweltkosten erhöhen den innenpolitischen Druck auf amerikanische Entscheidungsträger, einen Kurswechsel ihrer Energieaußenpolitik einzuleiten.127 Bereits im Wahlkampf 2008 wurde deutlich, dass unternehmerisch denkende Politiker mit dem Thema umweltverträglicher Energieinnovationen punkten und die künftige politische Agenda abstecken können.128 George W. Bushs Nachfolger und politische Entscheidungsträger im Kongress, die aufgrund der gestiegenen wirtschaftlichen, sicherheits- und umweltpolitischen Probleme mit zunehmender Kritik ihrer Bevölkerung und nicht zuletzt auch den

So bereits die CNA Corporation: National Security and the Threat of Climate Change, Alexandria, V.A. 2007. Lydia Saad: Most Americans Back Curbs on Auto Emissions, Other Environmental Proposals, Gallup, Washington, D.C., 5.4.2007. Ebd. Siehe zum Beispiel Kalicki/Goldwyn (wie Anm. 90), S. 7. Ausführlicher: Josef Braml: Amerikas alternativer Antrieb. Erneuerbare Energieaußenpolitik der USA, DGAP-Analyse, Berlin 2007. Laut Meinungsumfragen war das Umweltthema für 35 Prozent der Amerikaner wahlentscheidend für die Präsidentschaftswahl; siehe Americans’ View on the Environment, in: New York Times v. 26.4.2007. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Vorstößen der Einzelstaaten konfrontiert werden, sind angehalten, ihren politischen Führungsbeitrag zu leisten, um die Abhängigkeit von traditionellen fossilen Kraftstoffen zu verringern. Der von den amerikanischen Einzelstaaten ausgehende Reformdruck und die – nach der Entscheidung des Obersten Gerichts vom April 2007129 – generierten nationalen Auflagen für CO2-Emissionen haben umsichtige Unternehmer dazu bewegt, sich an die Speerspitze der Reformbewegung zu setzen, um deren Richtung in ihrem Sinne zu beeinflussen. In der U.S. Climate Action Partnership (USCAP) versuchen zum Beispiel Automobilhersteller wie General Motors in Kooperation mit Umweltverbänden ihren Gesetzgebern pro-aktiv zu helfen, um innovationsund technologieorientierte Lösungen durchzusetzen.

Barack Obama mit Chinas Staatspräsident Hu Jintao im Jahr 2009

Das weltweite Interesse an erneuerbaren Energien schafft eine Gelegenheit für die Vereinigten Staaten, sich wieder als Führungsmacht zu etablieren, indem sie die internationale Zusammenarbeit koordinieren, um das globale Energie- und Umweltproblem zu lösen. Während seine technologischen und politischen Fähigkeiten – sprich Smart Power – vielversprechende Alternativen für Amerikas Zukunft bieten, stößt die von Geostrategen häufig ins Feld geführte konventionelle Hard Power Amerikas an die Grenzen seiner Fähigkeiten, die nationale Energieversorgungs- und wirtschaftliche Sicherheit zu gewährleisten.130 Sicherheitspolitische „Neuorientierung“ nach Asien Aus amerikanischer Perspektive ist Europa seit dem Ende des Kalten Krieges in weite Ferne gerückt. Abgesehen von den wichtigen transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen ist der europäische Kontinent keine strategisch relevante Region mehr, sondern sicherheitspolitisch nur noch interessant, wenn die Europäer zur Lösung anstehender Probleme in anderen Weltregionen beitragen können. Nach dem Untergang der Sowjetunion sehen amerikanische Sicherheitsexperten aufsteigende asiatische Mächte, allen voran China und Indien, als künftige strategische Herausforderungen. US-Außenministerin Hillary Clinton will zwar jene „Bündnisse stärken, die sich über die Zeit bewährt haben“, und denkt dabei an die „NATO-Partner“; sie hat aber insbesondere die „Verbündeten in Asien“

im strategischen Visier. Das auf „gemeinsamen Werten und Interessen“ gründende Bündnis mit Japan sei „ein Eckpfeiler amerikanischer Politik in Asien“, um Frieden und Wohlstand in der asiatisch-pazifischen Region aufrechtzuerhalten. Zudem sollte die wirtschaftliche und politische Partnerschaft mit Indien, „der bevölkerungsstärksten Demokratie der Welt“ und einer „Nation mit wachsendem internationalem Einfluss“, ausgebaut werden.131 Aus rein sicherheitspolitischer Perspektive müsste sich China ausgegrenzt, ja im schlimmsten Fall im Brennpunkt jener Bemühungen sehen, die die so genannten liberalen Demokratien zur Verständigung bewegen sollten. Aber die westlichen Staaten, allen voran ihre Führungsmacht USA, sind von der Finanzkraft Chinas abhängig und wirtschafts- und handelspolitisch mit dem Reich der Mitte verflochten. „Congagement“ mit China Amerikas Umgang mit China ist ambivalent. Die US-Strategie ist eine Mischung aus Eindämmung (containment) und Einbindung (engagement), also eine Doppelstrategie des so genannten congagement.132 Zum einen stellt China mittelbis langfristig eine sicherheits- und energieaußenpolitische Herausforderung für die USA dar, die es einzudämmen gilt. Zum anderen sind die USA in der Wirtschafts- und Handelspolitik bereits heute verwundbar und auf die finanzpo-

129 Mit ihrem Urteil im Fall Commonwealth of Massachusetts et al. v. Environmental Protection Agency et al. widersprach am 2.4.2007 die Richtermehrheit des Supreme Court der Rechtsauslegung der staatlichen Umweltbehörde (Environmental Protection Agency, EPA), die sich weigerte, den CO2-Ausstoß zu regulieren. 130 Josef Braml: Can the United States Shed Its Oil Addiction?, in: Washington Quarterly, 30 (Herbst 2007) H. 4, S. 117-130. 131 Erklärung der designierten Außenministerin Hillary Clinton vor dem Auswärtigen Ausschuss des Senats vom 13.1.2009. 132 Zum Begriff des „congagement“ siehe: Zalmay Khalilzad/Abram N. Shulsky/Daniel Byman/Roger Cliff/David T. Orletsky/David A. Shlapak/Ashley J. Tellis: The United States and a Rising China. Strategic and Military Implications, Santa Monica, CA., 1999. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Militärparade in Peking im Jahr 2009

litische Kooperation mit China angewiesen. Wirtschaftsund Sicherheitsthemen bilden auch den Kern des auf hoher Ebene angesetzten U.S.-China Strategic and Economic Dialogue (S&ED), der Anfang April 2009 am Rande des G-20Finanzgipfels in London von den Präsidenten Obama und Hu Jintao initiiert wurde. China ist Hauptfinanzier der amerikanischen Staatsschulden.133 Ohne Pekings Unterstützung wären die kreditfinanzierte Stabilisierung des US-Banken- und Finanzsystems sowie die Ankurbelung der US-Wirtschaft nicht möglich gewesen. Das Verhältnis ist symbiotischer Natur, da auch das Wohlergehen Chinas von der amerikanischen Kaufkraft abhängt. Die exportorientierte chinesische Wirtschaft ist vom (kreditfinanzierten) Konsumverhalten in den USA abhängig. Gleichwohl sind die sino-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen nicht konfliktfrei: Die Führung in Peking befürchtet, dass sich die USA eines Teils ihrer – vor allem von China und Japan finanzierten – Schuldenlast entledigen, indem sie durch die lockere Geldpolitik der USNotenbank eine Abwertung des Dollars bewirken. Zumal

ein niedriger Dollar auch amerikanische Exporte begünstigen und das Außenhandelsdefizit begrenzen helfen würde. Insbesondere mit China ist die Handelsbilanz negativ: Das Defizit mit China wird für das Jahr 2010 auf 273 Milliarden Dollar geschätzt.134 Damit hat sich der Fehlbetrag in der letzten Dekade (2000: 84 Milliarden Dollar) mehr als verdreifacht. Permanente Auseinandersetzungen um so genannte Währungsmanipulation, unfaire Subventionen, Produktqualität und geistige Eigentumsrechte sind Indizien für die seit längerem bestehende und sich verstärkende Unausgewogenheit der Handelsbeziehungen mit der Volksrepublik, deren wachsende Wirtschaft übermäßig vom Export abhängig ist. Mit dem wirtschaftlich expandierenden China ist zudem ein weiterer Konkurrent um knappe fossile Energieressourcen auf den Plan getreten, sowohl im Mittleren Osten als auch in hot spots, das heißt in entwicklungsfähigen Regionen wie Westafrika oder Zentralasien. Mit Argusaugen wird beobachtet, dass Saudi-Arabien neben den USA auch andere strategische Partnerschaften sucht, insbesondere mit Russland und China. Chinas bilaterales Ressourcen-

133 Laut Angaben des US-Finanzministeriums hat China derzeit (Stand: Oktober 2011) 1.134 Milliarden Dollar in amerikanischen Staatsanleihen investiert. Das entspricht einem Viertel (24 Prozent) aller ausländischen Forderungen. Siehe U.S. Department of the Treasury: Major Foreign Holders of Treasury Securities, Washington, D.C., 15.12.2011, http://www.treasury.gov/resource-center/datachart-center/tic/ Documents/mfh.txt (Stand: 15.12.2011). 134 Wayne M. Morrison: China-U.S. Trade Relations, CRS Report, Washington, D.C., 7.1.2011, S. 2.

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management mit den Ländern der Region und vor allem in Afrika unterminiert die von den USA geförderten multilateralen Regeln für den Energiehandel: China ist besonders bemüht, seine Öllieferungen mittels bilateraler Verträge exklusiv zu sichern. Chinas und Russlands pragmatisches Engagement eröffnet den Ländern des Mittleren Ostens und Afrikas – auch jenen, die amerikanischen Interessen entgegenstehen – neue wirtschaftliche und militärische Optionen. So haben China und Russland im wirtschaftlichen Eigeninteresse bislang die Bemühungen der USA unterlaufen, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen spürbare Sanktionen gegen das iranische Regime zu verhängen, um den Iran von der Atomwaffenproduktion abzuhalten. Neben wirtschaftlichen Interessen teilen Russland und China auch das strategische Interesse, die USA aus Zentralasien zu verdrängen oder zumindest den amerikanischen Einfluss zu begrenzen. Seit 2003 versucht Moskau, seine Machtstellung in der Region wieder zu errichten, unter anderem indem es mit autokratischen Regimen – auf Kosten amerikanischer Demokratisierungsbemühungen und Interessen – zusammenarbeitet. Auch China will die Einkreisung durch amerikanische Militärbasen verhindern, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im Zuge des „Globalen Krieges gegen den Terror“ errichtet wurden. Peking ist der größte Abnehmer russischer Militärgüter und zunehmend abhängig von russischen Energieressourcen. Zudem verfolgt China Energieinteressen, die auf Kosten amerikanischer gehen. Die Volksrepublik hat damit begonnen, eine Pipeline zu errichten, um das 2000 entdeckte Kashagan-Öl- und -Gasfeld am Kaspischen Meer für sich zu nutzen. Um unter anderem auch die Energiequellen Zentralasiens zu sichern, hat China die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit ausgebaut, der neben der Volksrepublik China auch Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan angehören.135

Chinas regionales und weltweites Engagement geht einher mit steigenden Rüstungsausgaben. Die Volksrepublik China kündigte im März 2011 an, das Militärbudget im laufenden Jahr auf umgerechnet 91 Milliarden Dollar, also um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu steigern.136 Demnach wurde der chinesische Verteidigungshaushalt seit mehr als zwei Jahrzehnten – mit Ausnahme von 2003 (9,6 Prozent) und 2010 (7,5 Prozent) – jährlich jeweils um einen zweistelligen Prozentbetrag erhöht. Das Pentagon geht ohnehin davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen mehr als doppelt so hoch sind wie die von Peking veröffentlichten Zahlen: Chinas Militärausgaben für 2009 wurden auf über 150 Milliarden Dollar geschätzt.137 Bereits 2009 verdeutlichte das Pentagon in seinem Jahresbericht über die Militärmacht der Volksrepublik China, dass Tempo und Umfang der militärischen Modernisierung in China in den vergangenen Jahren zugenommen hätten.138 Damit sehen US-Strategen die eigene Militärpräsenz und amerikanische Sicherheitsgarantien in der Region insbesondere gegenüber Taiwan langfristig gefährdet.139 Engagement mit Japan Japan, dessen Sicherheit insbesondere gegenüber China und Nordkorea140 vom nuklearen Schutzschild Amerikas und den stationierten 53.000 US-Soldaten gewährleistet wird,141 beobachtet diese Veränderungen mit großer Aufmerksamkeit. Um jegliche Unsicherheit seitens des asiatischen Alliierten auszuräumen, unterstrich Präsident Obama gleich zu Beginn seiner Amtszeit die besondere Bedeutung der USjapanischen Beziehungen als „Grundpfeiler der Sicherheit in Ostasien“.142 Premierminister Taro Aso wurde als erster ausländischer Gast im Weißen Haus empfangen. Das Land der aufgehenden Sonne war das erste Besuchsziel von Außenministerin Clinton.

135 Vgl. Heinrich Kreft: Neomerkantilistische Energie-Diplomatie. China auf der Suche nach neuen Energiequellen, in: Internationale Politik, Februar 2006, S. 57. 136 Jason Dean: China Defense Budget To Increase By 17,7%, in: Wall Street Journal v. 4.3.2011, S. 7. 137 Office of the Secretary of Defense: Annual Report to Congress. Military and Security Developments Involving the People’s Republic of China 2010, August 2010, S. 42-43, http://www.defense.gov/pubs/pdfs/2010_CMPR_Final.pdf (Stand: 16.6.2011). 138 U.S. Department of Defense: Annual Report to Congress, Military Power of the People’s Republic of China 2009, Washington, D.C., 25.3.2009. 139 Um Amerikas Entschlossenheit deutlich zu machen, hat Präsident Obama, ebenso wie schon sein Vorgänger Bush, im Januar 2010 den für Peking sensiblen Verkauf von Waffen an Taiwan angeordnet. Vgl. Jim Wolf/Paul Eckert: Obama proposes his first arms sales to Taiwan, in: Reuters v. 29.1.2010, http://www.reuters.com/article/2010/01/30/us-taiwan-arms-usa-idUSTRE60S4X420100130 (Stand: 16.6.2011). 140 Die wiederholten Atom- und Raketentests Nordkoreas haben die politischen und diplomatischen Fronten in Japan verhärtet. Zudem hat es Tokio der Bush-Regierung verübelt, dass sie im Rahmen der Sechs-Parteien-Gespräche (mit den beiden Koreas, den USA, China, Japan und Russland) über das nordkoreanische Kernwaffenprogramm Pjöngjang einseitig Zugeständnisse gemacht hat, indem Washington das Regime von der schwarzen Liste jener Staaten nahm, die Terrorismus unterstützen, ohne dabei das japanische Reizthema der Entführung japanischer Staatsbürger mit zu berücksichtigen. 141 Zudem ermunterte die US-Regierung unter Obama Japan, sich in der Nordkorea-Frage besser mit Südkorea zu verständigen, für dessen Schutz vor möglichen Aggressionen aus dem Norden etwa 30.000 stationierte US-Soldaten sorgen. 142 Barack Obama zit. in: Glenn Kessler, Japan Premier Cautions on N. Korea, in: Washington Post, 25.2.2009. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Amerikanische F-15 Kampfjets des Stützpunkts auf Okinawa während der Sonnenfinsternis am 22. Juli 2009

Während dieser Begegnungen wurden zwar die noch mit der Bush-Regierung vereinbarten Eckpunkte der 2+2Gespräche bekräftigt, wonach die Allianz erweitert und Japan eine aktivere Rolle bei der weltweiten Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität zugedacht wurde.143 Doch die von Premierminister Yukio Hatoyama geführte japanische Regierung bekräftigte ihren Anspruch, künftig auf Augenhöhe („a close and equal alliance“) mit den USA zu verhandeln und unabhängig davon eigenständige außenpolitische Initiativen in der Region zu verfolgen. Diese werden einerseits von den USA befürwortet: Japan und Indien trennt keine problematische Geschichte; vielmehr teilen die beiden Wirtschaftsmächte mit den USA gemeinsame regionale Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen. Amerikanische Sicherheitsexperten waren aber andererseits über den diplomatischen Versuch Hatoyamas be-

sorgt, eine so genannte East Asian Community unter anderem mit China und Südkorea zu bilden, die die Vereinigten Staaten ausgeschlossen hätte. Indem sie mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit und teilweise auch finanzielle Beiträge für internationale Stabilisierungsmissionen übernahm,144 wollte die japanische Regierung die Grundkosten für die amerikanische Sicherheitsgarantie vermindern. Vor allem galt es, die amerikanische Truppenpräsenz, insbesondere auf dem problematischen Luftwaffenstützpunkt in Okinawa, zu reduzieren. Japan hätte angeblich 26 Milliarden Dollar für die noch mit der Bush-Regierung vereinbarte Umsiedlung amerikanischer Truppen zahlen sollen. Ohnehin hatte Tokio mit etwa vier Milliarden Dollar jährlich drei Viertel der Kosten der auf der Insel stationierten US-Truppen übernommen.145 Nicht zuletzt wegen seiner anhaltenden wirt-

143 Ferner soll neben dem erweiterten Austausch nachrichtendienstlicher Informationen ein – offiziell gegen Nordkorea gerichtetes – Raketenabwehrsystem etabliert werden. 144 So unterstützte die Vorgängerregierung bereits logistisch und finanziell den Kriegseinsatz der USA im Irak und die von den USA geführte Operation Enduring Freedom in Afghanistan. Es bleibt abzuwarten, in welcher Form sich Tokio künftig an internationalen Friedenseinsätzen beteiligen wird, nachdem das Mandat im Indischen Ozean für die Betankung alliierter Truppen in Afghanistan im Januar 2010 ausgelaufen ist. 145 Vgl. Emma Chanlett-Avery/William H. Cooper/Mark E. Manyin: Japan-U.S. Relations: Issues for Congress, CRS Report, Washington, D.C., 3.6.2009, S. 1, 8, 10, 11.

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schaftlichen Schwierigkeiten wollte Japan die Kosten für die amerikanische Sicherheitsgarantie neu verhandeln. Seit dem Rücktritt Hatoyamas im Juni 2010 haben sich die angespannten Beziehungen zwischen den USA und Japan unter Premierminister Naoto Kan und auch unter dessen Nachfolger Yoshikiko Noda wieder etwas verbessert – unter anderem auch, weil Chinas und Nordkoreas Drohgebaren den Strategen in Tokio den Wert der amerikanischen Sicherheitsgarantien in Erinnerung gerufen haben. Bereits im November 2010, am Rande des APEC-Gipfels in Yokohama, verständigten sich US-Präsident Obama und der damalige Premierminister Kan, die japanischen Zahlungen für die USMilitärpräsenz bis 2016 auf jährlich 188 Milliarden Yen festzuschreiben.146 Diese Vereinbarung trägt auch der anhaltend prekären wirtschaftlichen Lage Japans Rechnung. Mit der bereits in den neunziger Jahren einsetzenden Wirtschaftskrise, die durch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise 2007 verstärkt wurde, erscheint Japan in den Augen der Amerikaner als weniger bedrohlich. Die amerikanische Elite und Öffentlichkeit sind vielmehr besorgt um Chinas Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht und um die eigene Abhängigkeit von Pekings Finanzkraft. Gleichwohl ist Japan nach China der zweitwichtigste Investor bei amerikanischen Staatsanleihen. Ebenso fällt die Handelsbilanz mit Japan weiterhin negativ aus. Aber das Defizit hat sich seit dem Rekordjahr 2006 (88 Milliarden Dollar) merklich verringert: 2007: 83 Milliarden Dollar, 2008: 72 Milliarden Dollar, 2009: 45 Milliarden Dollar und 2010 (nur Januar bis Oktober): 48 Milliarden Dollar.147 Außerdem bewirkt der im Vergleich zum Dollar starke Yen, dass die japanischen Exporte in die USA teurer werden und damit amerikanische Hersteller einen kompetitiven Vorteil haben. Aufwertung Indiens Auch das Verhältnis zu Indien ist für amerikanische Sicherheits- und Wirtschaftsberater wichtig geworden. Trotz seiner sozio-ökonomischen Probleme ist das Land wegen seines mittel- bis langfristigen Potentials für amerikanische Investoren und Exporteure bedeutend.

Trauerfeier für die Opfer der Anschläge in Mumbai im November 2008

Ausländische Direktinvestitionen in Indien sind seit 1990 rasant gestiegen: von 100 Millionen Dollar im Haushaltsjahr 1990/91, 3 Milliarden Dollar (2000/01), auf 27 Milliarden Dollar (2008/09). Seit 2000 wurden 7,5 Prozent davon von amerikanischen Firmen getätigt.148 Zwar bewegen sich die derzeitigen Handelsbeziehungen noch auf einem relativ niedrigen Niveau. Aber die Tendenz steigt. Das Gesamtvolumen des bilateralen Handels hat sich seit 2001 verdoppelt. Amerikanische Importe bezifferten sich 2008 auf einen Wert von 26 Milliarden Dollar – das ist eine Steigerung um neun Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2009 fielen die Importe wieder etwas, auf 21 Milliarden Dollar. Die US-Exporte nach Indien stiegen 2008 ebenso (um neun Prozent im Vergleich zu 2007) auf 19 Milliarden Dollar und betrugen 2009 17 Milliarden Dollar.149

146 Masami Ito: Host-nation Support to stand at ¥188 Billion Until 2016, in: The Japan Times v. 14.12.2010. 147 U.S. Commerce Department, Census Bureau; zit. in: Emma Chanlett-Avery/William H. Cooper/Mark E. Manyin: Japan-U.S. Relations: Issues for Congress, CRS Report, Washington, D.C., 24.3.2011, S. 13. 148 Gemäß den Daten des indischen Handels- und Industrieministeriums; zit. in: Alan Kronstadt/Paul K. Kerr/Michael F. Martin/Bruce Vaughn: India-U.S. Relations, CRS Report, Washington, D.C., 27.10.2010, S. 46. 149 U.S. Commerce Department, Census Bureau; zit. in: ebd., S. 46; Alan Kronstadt: India-U.S. Relations, CRS Report, Washington, D.C., 30.1.2009, S. 56. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Amerika sieht insbesondere wirtschaftliches und sicherheitspolitisches Entwicklungspotential im Energiebereich. Mit der Unterzeichnung des Abkommens über die zivile Nutzung der Atomenergie vom März 2006 haben die USA Indien de facto als Atommacht anerkannt. Die vom amerikanischen Kongress erst nach längerem Ringen im Oktober 2008 gebilligte Initiative drehte drei Dekaden nuklearer Nichtverbreitungspolitik ins Gegenteil.150 Für die diplomatische Aufwertung soll Neu-Delhi einen hohen Preis zahlen: nunmehr seine eigenständige und unabhängige Außenpolitik aufgeben und sich als strategischer Partner der USA als Gegengewicht zu China im asiatisch-pazifischen Raum positionieren.151 Es bleibt abzuwarten, in welcher Form Indien künftig seine westlich orientierten sicherheits- und energiepolitischen Ambitionen mit seinen wirtschaftlichen Abhängigkeiten von der Volksrepublik austariert. Auch die USA, deren finanzielle Verwundbarkeit mit der Wirtschafts- und Finanzkrise umso deutlicher wurde, werden sich davor hüten, den Hauptfinanzier China weiter zu provozieren. Vielmehr hat das gemeinsame Statement Obamas und Hu Jintaos vom 17. November 2009 in Peking, in dem China eine wichtige Vermittlerrolle in Südasien – unter anderem auch zwischen Indien und Pakistan – zugedacht wurde, in Neu-Delhi Empörung und Verunsicherung darüber ausgelöst, ob Amerika unter seiner neuen Führung am Energieund Sicherheitspakt mit Indien festhalten wird.152 Sicherheitshalber sucht Indien weitere Partner in der Region. Neu-Delhi hat bereits im Oktober 2008 ein bilaterales Sicherheitsabkommen mit Japan abgeschlossen. Der Vertrag wurde analog zu einer ähnlichen Vereinbarung formuliert, die Tokio schon im März 2007 mit Australien unterzeichnet hatte. Diese wertebasierte Diplomatie im pazifischen Raum ist durchaus im Interesse Amerikas, das seinerseits eine Allianz der Demokratien zu schmieden sucht, um damit dem Aufstieg Chinas in Asien zu begegnen. Im September 2007 partizipierte Indien mit den USA, Japan, Australien und Singapur in einer multinationalen militärischen Seeübung an der strategisch wichtigen Straße von Malakka.153 Bislang sind diese militärischen Ad-hoc-Beziehungen noch nicht institutionalisiert. Doch eine derartige Verbindung, die es in den Augen einiger Beobachter bereits in Form einer globalen NATO gibt, könnte Amerika dabei helfen, seine Präsenz in Asien zu festigen und die Kosten seines weltweiten Engagements mit Gleichgesinnten zu teilen. 150 151 152 153 154

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Indien leistet seit jeher einen hohen Beitrag an Blauhelmsoldaten für UN-Friedenseinsätze. Neu-Delhi hat auch die USA mit Infrastrukturaufbau und Polizeiausbildung in Afghanistan unterstützt. Im Gegenzug erhält Indien von den USA Militärhilfe, die die amerikanische Unterstützung für Pakistan übersteigt. Washington versucht das seit den Anschlägen in Mumbai vom November 2008 besonders angespannte Verhältnis der beiden Erzrivalen – auch durch Vermittlungsbemühungen der Sicherheitsdienste – auszugleichen. Eine Entspannung zwischen Indien und Pakistan wäre auch im Interesse der USA. Damit könnte Pakistan seine auf eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung mit Indien fixierten Grenztruppen lösen und im Kampf gegen den Terror, sprich gegen asymmetrische Gefahren durch nichtstaatliche Akteure einsetzen, die den pakistanischen Staat im Inneren terrorisieren und zu zersetzen drohen. „Af-Pak“-Krieg Aus amerikanischer Sicht ist der Krieg in Afghanistan längst eine regionale Angelegenheit. Die US-Regierung unter Obama versucht auch Russland und China als eigeninteressierte Akteure, als so genannte stakeholder einzubinden, um Afghanistan und Pakistan zu stabilisieren. Die Nordatlantische Allianz wird zwar rhetorisch weiterhin an ihrem Credo festhalten, wonach die Staaten des euroatlantischen Raums frei, das heißt ohne Vetomöglichkeit Russlands, über ihre Bündniszugehörigkeit entscheiden können. Doch ein für zentrale Anliegen wie die Stabilisierung Afghanistans und auch Verhinderung der militärischen Nuklearoption Irans notwendiges Einvernehmen mit Russland erfordert den doppelten Preis: zum einen, dass die USA die Stationierung von Komponenten des US-Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien bis auf Weiteres verschieben, und zum anderen, dass die USA ihre NATO-Erweiterungsagenda im Hinblick auf Georgien und die Ukraine auch weiterhin weniger intensiv verfolgen. Das NATO-Außenministertreffen am 5. März 2009 in Brüssel zeitigte denn auch erste Anknüpfungspunkte. USAußenministerin Hillary Clinton befürwortete mit Nachdruck die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Moskau, die nach dem Georgien-Krieg auf Drängen der BushRegierung auf Eis gelegt wurde.154 Die Außenminister der 26 NATO-Staaten beschlossen demnach, die formellen

Vgl. Kronstadt/Kerr/Martin/Vaughn (wie Anm. 148), siehe „Summary“. Vgl. Christian Wagner: Indien als strategischer Partner der USA, SWP-Aktuell Nr. 13, Berlin, März 2006. Vgl. David Brewster: The US-India Strategic Partnership: A Fair Weather Friendship?, in: East Asia Forum v. 12.12.2009. Die Meerenge ist eine wichtige Durchfahrt für die Handelsschifffahrt von Indien nach China. Vgl. Robert Burns: Allies Find Agreement on Ties with Russians, in: Associated Press v. 5.3.2009. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Pakistanische Soldaten im Einsatz gegen militante Islamisten in der unzugänglichen Region Waziristan, 2008

Sitzungen des NATO-Russland-Rats wieder aufzunehmen. Das sei nach Einschätzung der US-Außenministerin eine „Plattform für Zusammenarbeit“ bei Themen, die im Interesse der NATO-Staaten sind, wie etwa der Zugang zu Afghanistan.155 Auch China, das gute Beziehungen zu Pakistan unterhält, soll in die Konfliktlösung eingebunden werden. China teilt mit Amerika das strategische Interesse, die destabilisierende Wirkung islamistischer Extremisten insbesondere in Pakistan einzudämmen. Spätestens seit Osama bin Laden von amerikanischen Eliteeinheiten in Sichtweite von Pakistans wichtigster Militärausbildungsstätte ausfindig gemacht und getötet wurde, ist Pakistan ins Zentrum amerikanischer Terrorbekämpfung gerückt. Bruce Riedel, der

vom damaligen Nationalen Sicherheitsberater James Jones mit der Ausarbeitung einer umfassenden Strategie für Afghanistan und Pakistan beauftragte ehemalige Sicherheitsberater des CIA, verdeutlichte bereits im Oktober 2008 sein Schreckensszenario, nämlich die Möglichkeit, dass islamische Radikale nach Afghanistan zum Verfall eines weiteren Staates beitragen: „Ein gescheiterter Staat in Pakistan ist der schlimmste Alptraum, den sich Amerika im 21. Jahrhundert vorstellen kann.“156 US-Präsident Obama ordnete für Afghanistan denn auch eine „strategische Überprüfung“ an. Demnach sollen eine „umfassende“, auch Pakistan mit einbeziehende Strategie erarbeitet und die zivilen und militärischen Ressourcen auf solidarische Weise genutzt werden.

155 Erklärung von US-Außenministerin Hillary Clinton auf der Pressekonferenz beim Treffen der NATO-Außenminister am 5.3.2009. 156 Bruce Riedel zit. in: James Kitfield: „Af-Pak“ Presents a Daunting Challenge, in: National Journal v. 21.2.2009. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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– eine Arbeitsteilung verfestigen, gemäß derer die USA und weitere Staaten mit entsprechenden militärischen Fähigkeiten und politischem Willen für Kampfeinsätze zuständig sind, und die anderen NATO-Bündnispartner, die meisten Europäer, für die länger andauernden Aufgaben der Stabilisierung und des Wiederaufbaus verantwortlich zeichnen.159 Demnach forderte Will Marshall vom Democratic Leadership Council (DLC) in seinem Memo an Präsident Obama, dass er die NATO von einem nordamerikanischeuropäischen Pakt in eine globale Allianz freier Nationen umwandeln solle. Demokratien wie Japan, Australien und Indien in die NATO einzubinden, würde nicht nur die Legitimität globaler Einsätze, sondern auch die dafür notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen des Bündnisses erhöhen.160 Diese in ihren Grundzügen von der ClintonRegierung inspirierte Idee wird schon seit längerem von Demokraten und insbesondere auch von Barack Obama nahestehenden Experten in Think-Tanks befürwortet.161 Eine Allianz der Demokratien, die es in den Augen einiger Befürworter bereits in Form der globalen NATO gibt, könnte mit den Vereinten Nationen konkurrieren oder als Alternative bereitstehen,162 wenn es künftig darum geht, Effizienz, Legitimation und damit auch Lastenteilung zu verbinden.163 Der prominenteste Verfechter dieser Idee, Ivo Daalder, wurde mit Amtsantritt der Regierung Obama zum neuen NATO-Botschafter der USA ernannt. Barack Obama vor der Berliner Siegessäule bei seiner Rede im Juli 2008

Amerikanische Ideen für eine neue Weltordnung

Globale NATO als „Allianz der Demokratien“ Aus amerikanischer Perspektive haben die Europäer die Solidarität innerhalb der NATO schon seit längerem strapaziert.157 Insbesondere die beschränkten militärischen Kapazitäten der meisten europäischen Bündnispartner, bedingt durch ihre niedrigen Verteidigungsbudgets und mangelnde Koordination, würden der Erosion des Bündnisses Vorschub leisten.158 Über kurz oder lang würde sich demnach – wie im Militäreinsatz gegen Libyen deutlich wurde

Demnach müsse sich die „großartigste Allianz, die je gebildet wurde, um unsere gemeinsame Sicherheit zu verteidigen“ – wie US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama die NATO an der Siegessäule in Berlin pries – an die neuen geopolitischen Rahmenbedingungen und die strategischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anpassen.164 In seiner Berliner Rede betonte Obama, dass sich Amerika und Europa nicht von der Welt abwenden sollten, um der „Last globaler Staatsangehörigkeit“ und Verantwortung zu entge-

157 Andrea Szukala/Thomas Jäger: Neue Konzepte für neue Konflikte. Deutsche Außenpolitik und internationales Krisenmanagement, in: Vorgänge, Nr. 1/2002, S. 70-80. 158 Siehe zum Beispiel: Ted Galen Carpenter: NATO’s Welfare Bums, in: National Interest Online v. 19.2.2009, http://www.nationalinterest. org/Article.aspx?id=20880 (Stand: 26.4.2011). Von offizieller Seite kritisierte der scheidende US-Außenminister Robert Gates die Unfähigkeit der Europäer, für (ihre eigene) Sicherheit zu sorgen; vgl. Greg Jaffe/Michael Birnbaum: Gates Rebukes European Allies in Farewell Speech, in: Washington Post v. 10.6.2011. 159 Zum Beispiel Henry A. Kissinger: A Strategy for Afghanistan, in: Washington Post v. 26.2.2009, S. A19. 160 Will Marshall: Taking NATO Global, Memo to the New President, Democratic Leadership Council, Washington, D.C., 15.1.2009. 161 Ausführlicher zu amerikanischen NATO-Perspektiven: Josef Braml: Der weltweite Westen: Perspektiven amerikanischer NATO-Politik unter Präsident Obama, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZfAS), Nr. 2/2009, S. 364-378. 162 Vgl. auch G. John Ikenberry/Anne-Marie Slaughter: Forging a World of Liberty Under Law, Princeton University (The Princeton Project Papers), September 2006, S. 7, 23-26, 61. 163 Siehe Ivo Daalder/James Lindsay: An Alliance of Democracies. Our Way or the Highway, in: Financial Times, 6.11.2004. 164 Übersetzt aus dem Transkript der Rede von Barack Obama in Berlin, in: New York Times v. 24.7.2008.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Barack Obama und Dmitri Medwedew auf dem APEC-Gipfel in Singapur im November 2009

hen. „Ein Wechsel der politischen Führung in Washington wird diese Last nicht beseitigen“, gab Obama insbesondere auch den Verbündeten Amerikas zu bedenken. Es sei nunmehr an der Zeit, „neue, global übergreifende Brücken“ zu bauen, die genauso stark sein sollten wie die transatlantische Verbindung, um die größer werdenden Belastungen zu tragen.165 Dass diese beiden Blöcke, der europäische und der asiatische, miteinander verbunden werden können, verdeutlichen die Blaupausen der ehemaligen Leiterin des Planungsstabes im US-Außenministerium, Anne-Marie Slaughter. Nach ihrer Ideensammlung soll die NATO Partnerschaften mit liberalen Demokratien in Asien festigen. Eine derart globalisierte NATO wäre eines von vielen, formellen und informellen, multilateralen Foren, die zur Schaffung einer neuen vernetzten liberalen Weltordnung beitragen.166 Sollten die Europäer nicht bereit oder fähig sein, die ihnen zugedachten Lasten zu schultern, hätten sie weniger stichhaltige Argumente gegen eine Globalisierung der

NATO. Aber auch ohne das Instrument der NATO werden die USA versuchen, neue Mittel und Wege zu finden, um neben den transatlantischen Verbündeten auch Demokratien in Asien stärker in die Pflicht zu nehmen. Der auf Hawaii geborene Barack Obama stellte sich im November 2009 in Tokio als „erster pazifischer Präsident“ der USA vor.167 Ebenso machte Außenministerin Clinton mit ihrem Ausspruch „Amerika ist zurück!“ bereits im Juli 2009 in Bangkok deutlich, dass die USA die Zukunft der asiatischen Region mitgestalten wollen.168 Mit der Hinwendung nach Asien trägt Amerika nicht nur seiner neuen sicherheitspolitischen Bedrohungswahrnehmung und wirtschaftlichen Abhängigkeit Rechnung, sondern will auch seine „Lasten weltweiter Verantwortung“169 neu verteilen. Amerika will Institutionen in Asien, etwa das Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsforum (APEC) oder den Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN), für die eigenen Ordnungs-

165 Übersetzt aus ebd. 166 Ikenberry/Slaughter (wie Anm. 162), S. 27-28. 167 Barack Obama: Remarks by President Barack Obama at Suntory Hall, Tokyo, Japan, http://www.whitehouse.gov/the-press-office/ remarks-president-barack-obama-suntory-hall (Stand: 15.6.2011). 168 Hillary Clinton zit. in: Clinton Declares U.S. ‘is Back’ in Asia, in: Associated Press v. 22.7.2009. 169 Barack Obama in Berlin (wie Anm. 164). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Barack Obama und Vizepräsident Joseph Biden (li.) verfolgen mit Regierungsmitgliedern und Angehörigen des Nationalen Sicherheitsrats den Einsatz gegen Osama bin Laden am 2. Mai 2011.

vorstellungen in der Region nutzbar machen. Um die USA als pazifische Macht zu stärken, nahm US-Präsident Obama während seines Asienbesuches im November 2009 am APEC-Gipfeltreffen teil, wo er auch Gelegenheit hatte, sich mit den zehn Staats- und Regierungschefs der ASEANStaaten zu beraten. Neben der künftigen, von Washington dominierten APEC-Agenda wurde dabei auch die Intensivierung der Beziehungen zwischen den USA und der ASEAN diskutiert. Für Amerika ist die ASEAN-Integration höchst interessant: Bis 2015 sollen eine gemeinsame Freihandelszone und eine Sicherheits-, Wirtschafts- und soziokulturelle Gemeinschaft etabliert werden.170 Seit Obamas Amtsantritt haben die USA bereits erhöhte diplomatische Anstrengungen unternommen, um schließlich am 22. Juli 2009 mit Außenministerin Clintons Unterzeichnung dem Vertrag für Freundschaft und Zusammenarbeit (TAC), eines der Hauptdokumente der ASEAN, beizutreten. Damit wurde

auch der Grundstein für Amerikas möglichen Beitritt zum Ostasiengipfel (EAS) gelegt:171 Im November 2011 hat Barack Obama als erster amerikanischer Präsident am Gipfel teilgenommen. Das Engagement der USA in der Region wird von den ASEAN-Staaten begrüßt, weil Amerikas Interessen auch ihre Handlungsspielräume, nicht zuletzt gegenüber China, erweitern. Im Sinne eines kompetitiven Multi-Multilateralismus werden die verschiedenen multilateralen Organisationen und Institutionen künftig dazu angehalten, um die Aufmerksamkeit der USA zu konkurrieren. Damit kann Amerika je nach Bedarf aus einem breiteren, regional und funktional ausdifferenzierten Angebot an multilateralen Dienstleistungen für die jeweilige Aufgabe das am besten geeignete Instrument auswählen, um seine Interessen und liberalen Weltordnungsvorstellungen durchzusetzen.

170 Ferner versuchen die USA im Rahmen des Trans-Pacific Partnership Agreement (TPP), die Liberalisierung und Marktintegration in der transpazifischen Region voranzutreiben. Fraglich bleibt indes, ob die US-Administration das dafür nötige innenpolitische Kapital einsetzen wird, dem protektionistisch eingestellten Kongress dieses Freihandelsabkommen abzuringen. 171 Im Rahmen des Ostasiengipfels treffen sich seit 2005 die 16 Staats- und Regierungschefs der zehn ASEAN-Staaten sowie Chinas, Japans, Südkoreas, Australiens, Neuseelands und Indiens.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Schlussfolgerungen für Deutschland und die Welt Nach den Alleingängen der Bush-Regierung beabsichtigen die USA unter Präsident Obama, wieder auf den Pfad multilateraler Tugenden zurückzukehren. Während insbesondere die erste Amtszeit Bushs noch unter dem Mantra „unilateral, soweit möglich, multilateral, wenn nötig“ stand, kündigte die Regierung Obama eine umgekehrte Handlungslogik an: „Wir handeln in Partnerschaft, wo wir können, und im Alleingang nur, wenn wir müssen.“ Obamas Regierung befürchtet also nicht, dass internationale Bündnisse und Organisationen die Macht der Vereinigten Staaten verringern. Im Gegenteil: „Wir glauben“, so US-Vizepräsident Joseph Biden, „sie helfen, unsere kollektive Sicherheit, unsere gemeinsamen Wirtschaftsinteressen und Werte zu stärken.“172 Gleichwohl sollten die Europäer daran denken, dass „multilateral“ in den USA seit jeher anders verstanden wird, nämlich instrumentell. Multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die NATO wurden geschaffen, um amerikanische Interessen und Weltordnungsvorstellungen durchzusetzen und die dabei anfallenden Lasten mit den Nutznießern zu teilen und Trittbrettfahrer abzuhalten. Der innen- und fiskalpolitische Druck in den USA wird eine kontroverse transatlantische Lastenteilungsdebatte forcieren. Die sich zuspitzende Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise verschaffte dem Demokraten Obama einen großen Vorteil bei den Präsidentschaftswahlen – aber auch ein umso größeres Problem als Präsident: Einem demokratischen Präsidenten fällt es in der Auseinandersetzung – selbst mit einem ebenso demokratisch kontrollierten Kongress – um einiges schwerer, die eigene Wählerbasis und seine Landsleute vom nachhaltigen außenpolitischen Engagement Amerikas zu überzeugen. Denn Barack Obamas Wahlerfolg ist in erster Linie der erfolgreichen Mobilisierung von Minderheiten gutzuschreiben. Diese sind weniger daran interessiert, dass Amerika weltweit Demokratien errichtet (Stichworte: regime change und nation building), sondern wollen vielmehr die knappen Ressourcen dafür einsetzen, um die sozioökonomische Lage im eigenen Land

zu verbessern. Unter Obamas Führung wird Amerika vielmehr versuchen, einen größeren Teil der „Last globaler Staatsangehörigkeit“ auf die Alliierten zu verteilen. Mittlerweile, nach der in den USA parteiübergreifend gefeierten Tötung Osama bin Ladens und trotz der allgemeinen Einschätzung, dass damit die Terrorgefahr keineswegs beseitigt worden sei, erklärte die Hälfte der USBevölkerung, Amerika solle seine Truppen „so schnell wie möglich“ aus Afghanistan zurückziehen.173 Nach Auffassung des scheidenden US-Verteidigungsministers Robert Gates seien die amerikanischen Bürger und nicht zuletzt auch die für die Finanzierung von Auslandseinsätzen ausschlaggebenden Abgeordneten und Senatoren im Kongress müde, amerikanische Steuergelder zu verwenden, um über die NATO die Sicherheit trittbrettfahrender europäischer Länder zu gewährleisten.174 Den europäischen Alliierten wird weiterhin Gelegenheit geboten, ihr „effektives multilaterales“ Engagement unter Beweis zu stellen, sei es mit einem umfangreicheren Truppenkontingent in Afghanistan, mit weniger Auflagen bei Kampfeinsätzen, mit einem stärkeren finanziellen Engagement beim Wiederaufbau im Irak, in Afghanistan und Libyen oder bei Wirtschaftshilfen für Pakistan. Die USRegierung unter Obama wird sich an die diplomatische Arbeit machen, aus George W. Bushs viel gescholtener coalition of the willing eine Koalition der Zahlungswilligen zu schmieden. Aber auch in der Wirtschafts- und Handelspolitik werden die USA Mittel und Wege finden, um Lasten auf die Alliierten in Europa und Asien abzuwälzen. Selbst wenn man die positiven Einschätzungen amerikanischer Regierungsverantwortlicher teilt, wonach sich die Lage stabilisiert habe und bereits wieder nachhaltiges Wachstum erwartet werden könne, ist weiterhin mit hohen Arbeitslosenzahlen zu rechnen, weil die Lage auf dem Arbeitsmarkt immer erst zeitverzögert die wirtschaftliche Lage widerspiegelt. Arbeitslosigkeit oder die Sorge, den Job zu verlieren, werden die Konsumbereitschaft hemmen und den Wiederaufschwung bremsen; sie könnten sogar eine weitere Rezession verursachen. Entsprechend stark bleibt der Druck auf die sozialen Sicherungssysteme. Erhöhte Kosten für Sozialausgaben, in Verbindung mit den enormen Summen, die bereits für die Rettung des Banken- und Finanzsektors und für die Wiederbelebung der Wirtschaft inve-

172 US-Vizepräsident Joseph Biden bei der 45. Münchner Sicherheitskonferenz vom 7.2.2009. 173 Laut Umfrage der Washington Post und des Pew Research Center vom 2.5.2011, zit. in: Jon Cohen/Peyton M. Craighill: More See Success in Afghanistan; Half Still Want U.S. Troops Home, in: Washington Post v. 3.5.2011. 174 „The blunt reality is that there will be dwindling appetite and patience in the U.S. Congress – and in the American body politic writ large – to expend increasingly precious funds on behalf of nations that are apparently unwilling to devote the necessary resources or make the necessary changes to be serious and capable partners in their own defense,“ lautete Robert Gates Warnung an seine Kollegen während eines Treffens der NATO-Verteidigungsminister am 10.6.2011 in Brüssel. Robert Gates zit. in: Jonathan Broder: Bearing the Burden of NATO, in: CQ Weekly v. 18.6.2011, http://public.cq.com/docs/weeklyreport/weeklyreport-000003891515.html#src=db (Stand: 30.6.2011). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Sinkendes Vertrauen in die Währung? Bündel von EinDollar-Noten

stiert wurden, belasten den US-Haushalt und treiben die Staatsverschuldung in die Höhe. Auf Seiten der USA besteht die Versuchung, dass sie sich mit ihrer lockeren Geldpolitik eines Teils ihrer – zum Großteil vom Ausland finanzierten – Schuldenlast entledigen, indem sie eine Abwertung des Dollars und auch ein gewisses Maß an Inflation in Kauf nehmen. Ein niedriger Dollar würde zudem amerikanische Exporte begünstigen und das Außenhandelsdefizit begrenzen helfen. Die Unausgewogenheit der Außenhandelsbilanz ist neben der hohen Staatsverschuldung ein strukturelles Problem der US-Wirtschaft (twin deficit). Das in den letzten Jahren angestiegene Handelsdefizit stellte die USA zunächst vor keine größeren Schwierigkeiten, solange die Lieferanten ihre Erlöse in den USA reinvestierten. Sollten Investoren jedoch Zweifel an der Produktivität, Wirtschaftskraft und Geldwertstabilität der USA hegen und ihre Erlöse für Waren und Dienstleistungen auf anderen internationalen Finanzmärkten sichern, würden der Dollar und die US-Wirtschaft noch massiver unter Druck geraten. Indem die USA eine Schwächung des Dollars in Kauf nehmen, riskieren sie nicht nur Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten, sondern schwächen auch das Vertrauen in den Dollar. Insbesondere sind die Schwellenländer davon betroffen: Die US-„Politik“ des billigen Geldes und die daraus resultierende Dollarschwemme führten zu großen Kapitalflüssen in die Schwellenländer. Dabei hatte Brasilien aufgrund seines relativ offenen Kapital-

marktes 2009 und 2010 den höchsten Kapitalzufluss zu verzeichnen. Dieser Geldsegen dürfte Brasilien mehr schaden als nutzen: Bereits zu Jahresbeginn 2010 hat die nun über 70 Prozent aufgewertete brasilianische Währung dazu geführt, dass die Ausfuhren drastisch einbrachen. Da im Gegenzug auch die Importe anstiegen, musste Brasilien sogar ein Leistungsbilanzdefizit verzeichnen.175 Um zu verhindern, dass seine Währung weiterhin spekulativ aufgewertet und seine Exportkraft geschwächt wird, verschärfte Brasilien bereits seine Kapitalverkehrskontrollen. Damit soll auch verhindert werden, dass die Wirtschaft durch einen schnellen Kapitalentzug destabilisiert wird, wie das viele Volkswirtschaften im Laufe der Asienkrise 1997 schmerzlich erfahren mussten. Möglicherweise ziehen andere Schwellenländer wie Indonesien und Südkorea nach. Weltbankpräsident Robert Zoellick warnte bereits im Sommer 2009 seine Landsleute, dass „die USA einem großen Irrtum auflägen, wenn sie weiterhin die Rolle des Dollars als weltweit vorherrschende Währung als ehernes Gesetz annähmen“. Ebenso besorgt zeigten sich Abgeordnete und Senatoren im Kongress, dass das Grundvertrauen der Märkte in den Dollar als „sicherer Hafen in stürmischen Krisenzeiten“ mit zunehmender Schuldenlast künftig in Zweifel gezogen werden könnte und Investoren zurückhaltender werden, „riskante“ US-Staatsanleihen zu kaufen.176 „Ob wir mehr US-Staatsanleihen kaufen werden und, wenn ja, wie viele – wir sollten diese Entscheidung gemäß Chinas eigenen Bedürfnissen und entsprechend unse-

175 Alexander Busch: Brasilien ist einer der globalen Krisengewinnler, in: WirtschaftsWoche (wiwo.de), online unter: http://www.wiwo.de/ politik-weltwirtschaft/brasilien-ist-einer-der-globalen-krisengewinnler-417382/ (Stand: 30.6.2011). 176 Alexander Bolton: Lawmakers Show Worry over U.S. Dollar’s Dwindling Status, in: The Hill v. 10.8.2009.

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Abbildung 9: US-Handel mit dem Euro-Raum: US-Exporte und Importe (Güter und Dienstleistungen) 1999–2010 in Mrd. Dollar

Abbildung 10: US-Handel mit Deutschland: US-Exporte und Importe (Güter und Dienstleistungen) 1999–2010 in Mrd. Dollar Quelle: U.S. Department of Commerce, Bureau of Economic Analysis, 16.3.2011

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

res Zieles treffen, die Sicherheit und den Wert unserer Anlagen und Devisenreserven zu gewährleisten“.177 Mit dieser Äußerung vom Januar 2009 in London gab Premierminister Wen Jiabao den USA ein deutliches Warnsignal, dass Amerika nicht unbegrenzt mit Chinas Ankäufen von Staatsanleihen rechnen könne. Im November 2010 sorgte eine chinesische Ratingagentur für Aufsehen auf den internationalen Finanzmärkten, indem sie die Kreditwürdigkeit der USA herabstufte. Etwas später, im April 2011, beunruhigte Standard & Poor’s (S&P) die Finanzwelt, als sie als erste amerikanische Ratingagentur wirtschaftspolitische Realitäten zur Kenntnis nahm und die künftige Kreditwürdigkeit der USA infrage stellte. Zudem erschütterte dann im Juni 2011 die Warnung von Moody‘s, der zweiten der prominenten drei amerikanischen Ratingagenturen, das Vertrauen in die US-Wirtschaft noch weiter.178 Nach der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Anhebung der Schuldenobergrenze machte S&P dann im August 2011 seine Drohung wahr und stufte die Kreditwürdigkeit der USA von AAA auf AA+ herab. Dass Amerika seine internationale Führungsrolle einbüßen könnte, wurde bereits auf dem G20-Gipfel in Südkorea im November 2010 offensichtlich. Die USA scheiterten mit ihrem Vorstoß, exportlastige Volkswirtschaften wie China und Deutschland unter Druck zu setzen und Begrenzungen der Leistungsbilanzüberschüsse (auf 4 Prozent des BIP) festzulegen. Vielmehr wurde deutlich, dass die Staatengemeinschaft Amerikas Geldpolitik der so genannten quantitativen Lockerung scharf kritisierte. Denn wirtschaftliche Probleme der „Neuen Welt“ haben zwangsläufig Auswirkungen auf den Rest der Welt. Neben Asien sind auch Europa und insbesondere die exportabhängige Bundesrepublik Deutschland massiv betroffen, wenn Wirtschafts- und Kaufkraft in den USA einbrechen. Bereits heute wird deutlich, dass sich Europa nicht mehr auf die Konsumlokomotive USA verlassen kann. Amerikanische Importe von Gütern und Dienstleistungen aus dem EuroRaum sind 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent zurückgegangen. Ebenso sind im selben Zeitraum die Importe aus Deutschland um ein Fünftel von 132 auf 105 Milliarden Dollar geschrumpft. Damit wurde eine jahrzehntewährende Erfolgsgeschichte mit kontinuierlichen Zuwächsen abrupt unterbrochen (siehe Abbildungen 9 und 10).179

Zwar sind die (vorläufigen) Zahlen 2010 wieder etwas besser; doch die Kaufkraft der Amerikaner könnte künftig auch noch über den Währungshebel reduziert werden: Sollte mittel- bis langfristig der Wert des Dollars merklich nachgeben und der Euro entsprechend stärker werden, würden sich europäische Exporte verteuern. Deutsche Unternehmer stellen sich bereits heute auf diesen möglichen Wettbewerbsnachteil ein, indem sie Teile ihrer Produktion in die USA verlagern. Für Standortverlegungen spricht ein weiterer Grund: Mit der Wirtschaftskrise und dem härter werdenden globalen Wettbewerb wachsen auch in den USA die Sorgen um den Verlust von Arbeitsplätzen. Im Wahljahr 2012 wird der Druck auf Abgeordnete und Senatoren im US-Kongress steigen, protektionistische Maßnahmen zu ergreifen. Die von amerikanischen Wettbewerbern großzügig zu ihren Gunsten interpretierbaren „Buy-American“-Bestimmungen im US-Konjunkturpaket sind nur ein erstes Anzeichen bevorstehender Probleme. Die durch die Wirtschaftsprobleme verunsicherte Öffentlichkeit und ihre Vertreter im Kongress sowie etablierte Interessengruppen werden es US-Präsident Obama erschweren, Freihandelspolitik voranzutreiben. Jenen Staaten und Regierungen, die angesichts eigener, nicht minder problematischer struktureller Schwierigkeiten von Obama erwarten, in der Wirtschafts- und Handelspolitik alsbald wieder eine globale Führungsrolle zu übernehmen, sollte klar werden: No, he can’t. Gleichwohl bestünde transatlantisches Kooperationspotential: Die (noch) führenden westlichen Industrienationen sollten schnell handeln, um weltweite Standards in den Bereichen Energie- und Umwelttechnologien zu entwickeln. Das bereits bestehende Forum des Transatlantic Economic Council (TEC) sollte auf diesen Kernbereich fokussiert werden. Eine transatlantische Umwelt- und Energiepartnerschaft sollte Forschung und Investitionen für neue Technologien und den freien Handel alternativer Kraftstoffe im multilateralen Rahmen fördern. Die wachsende Sensibilität der Amerikaner für die von Umweltverschmutzung und Klimawandel verursachten gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Probleme erhöht den politischen Druck auf ihre Regierung, Abhilfe zu schaffen. Angesichts der Abhängigkeit Amerikas von Öllieferungen aus instabilen Regionen der Welt gilt es insbesondere Biokraftstoffe zu entwickeln und Alternativen zu veralteten, auf fossile Brennstoffe angewiesene Wirtschaftszweige zu finden.

177 Vgl. D. Ku, Treasuries Purchases Will Depend on Risk: China’s Wen, in: Reuters v. 31.1.2009. 178 Moody’s-Warnung erschüttert das Vertauen in die US-Wirtschaft, in: Handelsblatt v. 2.6.2011. 179 U.S. Department of Commerce, Bureau of Economic Analysis: U.S. International Transactions Account Data, Washington, D.C., 16.3.2011, http://www.bea.gov/ (Stand: 28.4.2011).

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Wechseljahre: Amerika zwischen den Wa hlen

Der US-Regierung wird eine wichtige Rolle bei der Innovationsförderung zugeschrieben.180 Neue Technologien erfordern hohe Entwicklungskosten, die Privatunternehmen nicht leisten können. Um das – allen öffentlichen Gütern wie Innovation – inhärente Marktversagen zu beheben, könnte die US-Regierung verstärkt die Forschung und Entwicklung von energieeffizienzsteigernden Techniken und erneuerbaren Energien fördern. Technische Fortschritte stellen die gängige Nullsummenrechnung zwischen Umweltschutz und wirtschaftlichen Interessen bzw. die Rhetorik von Staat versus Markt infrage. Immer mehr politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger und potentielle Wähler in den USA sehen die Lösung ihrer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus problematischen Weltregionen in der Entwicklung erneuerbarer Energien. Demnach schaffen neue Technologien nicht nur Arbeitsplätze, sondern sie erhöhen auch die Attraktivität des Finanzstandortes USA. Technische Innovationsvorsprünge im Bereich erneuerbarer Energien hierzulande geben deutschen und europäischen Politikern gute Argumente, um bei amerikanischen Meinungsführern und Entscheidungsträgern für eine transatlantische Energie- und Umweltpartnerschaft zu werben, die als Generator einer multilateralen umweltverträglichen Energiesicherheitspolitik funktionieren könnte. Die weltweite Nachfrage nach erneuerbaren Energien und die Möglichkeit, dass andere Nationen die von Vorreitern im nationalen oder bilateralen181 Alleingang betriebenen Forschungsanstrengungen früher oder später ebenso nutzen können (Stichwort: Trittbrettfahrer-Problematik), sollte ein weltweites Interesse an kollektiven Anstrengungen zur Weiterentwicklung und Vermarktung erneuerbarer Energien begründen.

Forschung zu Photovoltaik im National Renewable Energy Laboratory in Golden, Colorado, 2007

Zum Schutz gegen die Interessen der OPEC könnten innovationsorientierte Regierungen antizyklische Steuern auf fossile Kraftstoffe erheben, deren Höhe an den Marktpreis für Öl gekoppelt ist. Damit wären Investitionen in erneuerbare Energien vor plötzlichen – von der OPEC initiierten – Preiseinbrüchen geschützt. Die Steuereinnahmen könnten wiederum zur Forschung und Entwicklung erneuerbarer Energien verwendet werden. Anstatt in einen Wettbewerb mit aufstrebenden Mächten um knapper werdende fossile Energieressourcen zu treten, könnte sich Amerika in eine stärkere Lage als

Anbieter begehrter Ressourcen positionieren: Wegweisend wären kooperative und lukrative Arrangements, um die steigende internationale Nachfrage nach erneuerbaren Energien und neuen Technologien zu bedienen. In einem multilateralen Rahmen sollte Europa gemeinsam mit den USA für den freien Handel von Biokraftstoffen, Technologien und anderen „Umweltgütern“ sorgen, um die (Energie-)Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts weltverträglicher zu gestalten. ❙

180 Vgl. Council on Foreign Relations (wie Anm. 97), S. 8. 181 Im März 2007 vereinbarten die USA bereits mit Brasilien eine bilaterale Energiepartnerschaft, um bei der Entwicklung von Biokraftstoffen zusammenzuarbeiten. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 12

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Weitere Themenhefte von Einsichten und Perspektiven

Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Themenheft 1.05

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50 Jahre Berliner Mauer und die Teilung Deutschlands

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Schlesier, Ostpreußen und

Zum Nachdruck der national-

50 Jahre Berliner Mauer und

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