Tumorinduzierte Stoffwechselveränderungen und Tumorkachexie

January 10, 2018 | Author: Anonymous | Category: Wissenschaft, Gesundheitswissenschaften, Endokrinologie
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Kompendium Heimparenterale Ernährung (HPE)

Jann Arends

Tumorinduzierte Stoffwechselveränderungen und Tumorkachexie Ursachen und Wirkungen sowie Diagnostik und Therapiekonzepte

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Tumorassoziierte Mangelernährung Eine Mangelernährung ist eine wesentliche Ursache für Morbidität und Mortalität bei Tumorpatienten (1). Als praktikable Definition für Mangelernährung kann ein Nährstoffdefizit gelten, das messbar negative Auswirkungen hat auf: Gewebe- und Körperstruktur, Organfunktionen und den klinischen Verlauf (2). Mehr als 30% und abhängig von der Diagnose bis zu 80% aller Tumorpatienten haben bereits bei Diagnosestellung Gewicht verloren (1). Besonders ausgeprägt ist dieser initiale Gewichtsverlust bei Patienten mit Pankreas-, Magen-, Ösophagus- und Kopf-Hals-Tumoren: bei 30% dieser Patienten findet sich bereits bei Diagnose ein schwerer Gewichtsverlust von über 10% des gesunden Gewichts (1). Im Verlauf der Tumorerkrankung entwickelt sich bei der Mehrzahl aller Tumorpatienten eine Mangelernährung. Wenn die Toxizität antitumoraler Behandlungen die Auswirkungen auf den Tumor übersteigen, führt dies zu weiterer Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust. Die Tumorkachexie ist eine spezielle metabolische Form der tumorassoziierten Mangelernährung, die v. a. bei fortgeschrittenen Tumorsituationen auftritt (3). Kriterien für eine Tumorkachexie sind die Kombination aus Mangelernährung und systemischer Entzündungsreaktion: 1) Mangelernährung: Gewichtsverlust von mind. 10 % des gesunden Ausgangsgewichts 2) Inflammation: Nachweis systemischer Entzündungsmarker, z. B. Anstieg von CRP und Abfall von Albumin Eine Mangelernähung hat ungünstige Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Prognose des Tumorpatienten und beeinflusst sowohl das Ansprechen auf antitumorale Therapien als auch die Überlebenszeit (4). Darüberhinaus ergibt sich oft eine deutliche ökonomische Belastung durch häufigere und längere Krankenhausaufenthalte und höhere Therapiekosten.

Ursachen der tumorassoziierten Mangelernährung Eine Vielzahl von Mechanismen fördern die Entstehung einer Mangelernährung bei Tumorpatienten. Die folgende Grafik soll die Abläufe übersichtlich veranschaulichen:

Das Tumor-Anorexie-Kachexie-Syndrom Tumorassoziierte Faktoren

Antwort der Wirtsgewebe

Antitumorale Therapie

• Zytokine

• Zytokine

• Chemotherapie

• PIF (Proteolysis

• Akutphasenreaktion

• Kombinierte Radio-/

Inducing Factor)

• Katabole Hormone

• LMF (Lipid Mobilising Factor)

• Regulatorische Peptide

Angst

• Appetitverlust, verminderte Nahrungsaufnahme

Unsicherheit

• Gastrointestinale Erosion und Obstipation

Chemotherapie • Strahlentherapie

• Behinderung von Absorption und Verstoffwechselung von Metaboliten • Ödeme, Ergüsse, Leakage-Syndrom

Depression

• Eingeschränkte Leistungs-/Konzentrationsfähigkeit

Schmerz Schmerztherapie

• Einschränkung von Organfunktionen – insbes. des Immunsystems

Gewichtsverlust Lebensqualität

Mangelernährung

Ansprechen auf Tumortherapie

Überlebenszeit

Verlust an Körpermagermasse und Muskelgewebe

Prognose

2

Tumorstroma Tumoren führen zu einer lokalen Gewebsschädigung und induzieren so die Anflutung und Infiltration durch Immunzellen aus der systemischen Zirkulation. Es entwickelt sich ein Tumorstroma aus Bindegewebszellen, Makrophagen und Lymphozyten, d.h. aus nicht-malignen Wirtszellen, die den Tumor umgeben und durchsetzen (5; 6). Diese Immunzellen setzen eine Reihe von Gewebshormonen frei, die auf die Zusammensetzung des Tumorstromas, auf Tumorzellwachstum und auf die lokale Gefäßneubildung wirken. Diese entzündungsfördernden – proinflammatorischen – Komponenten wurden evolutionär für die Sanierung von Gewebsdefekten optimiert (5; 6). Ein Teil dieser Mediatoren, so die Zytokine IL-1, IL-6 und TNF-alpha, verläßt den lokalen Bereich und vermittelt entzündungstypische systemische Wirkungen. Zellen bestimmter Tumoren setzen selbst proinflammatorische Zytokine frei. Andere Tumoren produzieren spezifische katabole Substanzen, wie LMF (Lipid-mobilisierender Faktor, ein Fragment des Zink-alpha2-Glykopeptids) und PIF (Proteolyse-induzierender Faktor) (7).

Tumorwachstum > lokale Gewebsdefekte > Einwandern von Immunzellen > Freisetzung von lokal und systemisch wirksamen Kachexiemodulatoren

Kachexiemediatoren Zentrale proinflammatorische Mediatoren werden durch tumorassoziierte Makrophagen freigesetzt: u. a. TNF-alpha, Interleukin 1 und Interleukin 6. Diese Substanzen modellieren das Tumorstroma, stimulieren z. T. das lokale Tumorwachstum und induzieren fern vom Tumorort Lipolyse und Proteolyse. Interleukin 6 induziert die Synthese von Akutphasenproteinen in der Leber. V. a. das Arachidonsäureprodukt Prostaglandin E2 hat lokal stimulierende Wirkung auf das Wachstum von Tumorzellen. Sekundär wird durch die Inflammationsprozesse die Sekretion kataboler Hormone induziert. So finden sich bei kachektischen Tumorpatienten erhöhte Spiegel für Glukagon, Cortisol und Katecholamine. Die Tumorprodukte PIF und LMF verschieben das Gleichgewicht in Richtung Fett- und Muskelabbau (7). Ausgewählte Effekte

Mediatorgruppe

Substanz

Ursprung

• Eicosanoide

PGE2

Makrophagen

• pro-inflammatorische TNFa Zytokine IL-1 IL-6

Makrophagen Makrophagen Makrophagen

Proteolyse, Induktion CRP

• Hormone

Glukagon Cortisol Katecholamine

Pankreas Nebennierenrinde Nebennierenmark

Proteolyse Proteolyse Lipolyse

• Tumorprodukte

PIF LMF ~ Zn-a2-GP

Tumor Tumor

Muskelproteolyse Lipolyse

PGE=Prostaglandin E, TNF=Tumornekrosefaktor, IL=Interleukin, LMF=Lipid-mobilisierender Faktor, PIF=Proteolyse-induzierender Faktor, Zn-a2-GP = Zink-alpha2-Glykopeptid

3

Metabolische Effekte Aus Sicht der zentralen Gewebskompartimente werden im Rahmen einer typischen systemischen Entzündungsreaktion Ressourcen aus der Skelettmuskulatur und aus den Fettgewebsspeichern in Organe verschoben, die der Gewebsreparatur dienen. Interleukin 6, Kortikosteroide und der Tumorfaktor PIF steigern den Muskelabbau und führen zum Glutaminverlust der Muskelzellen. Katecholamine, Steroide und der Tumorfaktor LMF führen zum Überwiegen des Fettabbaus. Katecholamine und Steroide induzieren die Umwandlung der aus dem Muskelabbau kommenden Aminosäuren in Glukose für den Stoffwechsel der immunaktiven Gewebe. Interleukin 6 fördert die hepatische Synthese typischer Entzündungseiweiße wie z.B. CRP (C-reaktives Protein), die eine zentrale Rolle in der Abwehr bakterieller Infekte spielen. Organ

Effekt

Auslöser

• Muskel

Proteolyse Glutaminverlust

IL-6, Steroide, PIF

• Fettgewebe

Lipolyse

Katecholamine Steroide LMF

• Leber

Glukoneogenese Synthese von Akutphasenproteinen

Katecholamine, Steroide IL-6

Klinische Zeichen einer Kachexie Der krankheitsassoziierte Gewichtsverlust der Kachexie unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten vom Gewichtsverlust beim Hungerzustand, der auf eine Minimierung des Verlusts von Muskeleiweiß zielt. Das Kachexiesyndrom ist charakterisiert durch eine entzündungstypische inflammatorische Stoffwechselreaktion mit rascher Bereitstellung von Muskeleiweiß (dadurch Bewegungs- und mittelfristig durch Glutaminverlust Immunschwäche) sowie aktivierter Akutphasenreaktion (dadurch Appetitverlust, Müdigkeit und Fieber) (8; 9). Antitumorale Therapien tragen bei zur weiteren Beeinträchtigung des Allgemeinzustands. Übelkeit und Erbrechen werden ausgelöst durch Zytostatika, Morphinpräparate und nicht-steroidale Antirheumatika; aber auch durch Mukosainfekte, tumorbedingte Magen-Darmstenosen oder durch Hirnmetastasen. Lokale Tumoren oder Tumortherapien können Kau- und Schluckstörungen auslösen und zu abdominellem Völlegefühl und quälender Obstipation oder zu Diarrhoen führen. Zeichen

Ursache

• Anorexie = Appetitverlust

Akutphasenreaktion

• Gewichtsverlust

Proteolyse, Lipolyse

• Muskelverlust

Proteolyse

• Verlust von Fettgewebe

Lipolyse

• Anämie (Tumoranämie)

Akutphasenreaktion

• Immunschwäche

Glutaminverarmung

• Apathie, Müdigkeit

Akutphasenreaktion, Anämie, Muskelverlust

• Fieber, Schweißneigung

Akutphasenreaktion, Infekt

• Übelkeit, Erbrechen

Chemotherapie, Opioidanalgetika Magen-Darmulzera, Soorösophagitis GI-Stenose, Elektrolytstörung, Hirnmetastasen

• Kau-/Schluckbeschwerden

Mukositis durch Chemotherapie, Bestrahlung oder Infektion

• Völlegefühl, Obstipation

GI-Motilitätsstörung durch Tumor oder Opioidanalgetika

• Diarrhoe

Mukositis durch Chemotherapie oder Infektion 4

Sinnvolle Diagnostik zur Erfassung einer (beginnenden) Kachexie Um den Beginn einer Kachexieentwicklung möglichst früh zu erfassen, sollte regelmäßig eine Basisdiagnostik der Ernährungssituation erfolgen (10). Dazu gehört die standardisierte Erfassung des Körpergewichts, sowie die Dokumentation des Gewichtsverlaufs. Das Monitoring typischer Akutphaseneiweiße erlaubt das frühzeitige Erkennen einer Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse. Appetit und Nahrungsaufnahme lassen sich kategorisch abschätzen. Mit akzeptablem Aufwand sind zusätzliche Untersuchungen sinnvoll zur Abschätzung der verbliebenen Muskelreserve (Muskelumfang) (11), bzw. des Zustands der Gewebshydratation (Bioimpedanz). Eine genauere Erfassung der Kalorienaufnahme ist möglich über ein mehrtägiges Essprotokoll und PC-basierte Auswertung. Aus therapeutischer Sicht sollten regelmäßig psychologische Aspekte, die Schmerzsituation und Probleme des Magen-Darmtraktes optimal betreut werden. Basisverfahren

Kommentar

• Körpergewicht alle 1–2 Wochen

Körperreserven und Katabolieaktivität

• CRP und Albumin im Serum alle 4 Wochen

erfasst inflammatorische Aktivität

• Appetit via VAS (visuelle Analogskala)

rasches, einfaches Verfahren

• geschätzte Nahrungsaufnahme

normal – 75% – 50% – 25% – nichts

Zusatzuntersuchungen • Armmuskelfläche via Oberarmumfang und Trizepshautfaltendicke

OAU

Knochen

AMU

Muskel Fett

• Phasenwinkel bei 50 kHz (BIA): erfaßt Zellvolumen • 3-Tage Ernährungsprotokoll • psychologische Situation

Mark

OAU AMU AMF AMA

= = = =

Oberarmumfang, Armmuskelumfang Armmuskelfläche arm muscle area

Heymsfield SB et al. Am J Clin Nutr 1982

AMU = OAU – (p x TSF) AMA = AMF = AMU2/ 4 p

• Schmerzsituation • Gastrointestinale Integrität Spezifischere Zusatzuntersuchungen bleiben eher spezialisierten Zentren vorbehalten. So lassen sich zusätzliche Parameter der Muskelfunktion oder Muskelmasse durch Funktionsprüfungen oder die Kreatininausscheidung im Urin gewinnen. Die Flüssigkeitsbelastung der Gewebe kann mit speziellen Bioimpedanz-Analysen erfaßt und die Immunlage des Körpers über standardisierte Hautteste geprüft werden. Der individuelle Energieumsatz kann im Ruhezustand über die CO2-Produktion und den O2-Verbrauch mittels indirekter Kalorimetrie gemessen oder anhand validierter Formeln geschätzt werden (12). Weitere Verfahren

erfasst

• Handdruckkraft mittels Dynamometer

Muskelfunktion

• Kreatininexkretion im 24h-Urin

Muskelmasse

• ECF/TBW (BIA)

Flüssigkeitsbelastung

• Trizepshautfaltendicke mittels Kaliper

Fettreserven

• Antigen-Recall-Test (Merieux-Hauttest)

Immunlage

• Indirekte Kalorimetrie

Ruheenergieumsatz in kcal/Tag

• Gesamtenergiebedarf

Berechnung nach WHO in kcal/Tag

BIA=Bioimpedanzanalyse, ECF=Extrazellulärwasser, TBW=Gesamtkörperwasser, WHO=World Health Organization

5

Sinnvolle Diagnostik: Normwerte Diagnostisches Verfahren

Normwerte

• Gewichtsverlust (% vom gesunden Gewicht)

< 2%

• C-reaktives Protein (CRP)

< 5 mg/l

• Albumin im Serum

> 38 g/l

• Armmuskelfläche

> 25 cm2

• Phasenwinkel via BIA bei 50 kHz

> 5°

• 3-Tage Ernährungsprotokoll

> 20 kcal/kg/Tag

Indikationen und Ziele für eine Ernährungstherapie Prinzipiell sind die Indikationen für eine Ernährungsbehandlung bei Tumorpatienten identisch mit den Indikationen bei Patienten mit gutartigen Erkrankungen (13). Auch wenn kontrollierte Daten nicht vorliegen, lässt sich als Empfehlung formulieren, dass eine Ernährungstherapie indiziert ist, wenn die normale Nahrungsaufnahme für mindestens 7 Tage weitgehend (
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