Tumorinduzierte Stoffwechselveränderungen und Tumorkachexie
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Kompendium Heimparenterale Ernährung (HPE)
Jann Arends
Tumorinduzierte Stoffwechselveränderungen und Tumorkachexie Ursachen und Wirkungen sowie Diagnostik und Therapiekonzepte
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Tumorassoziierte Mangelernährung Eine Mangelernährung ist eine wesentliche Ursache für Morbidität und Mortalität bei Tumorpatienten (1). Als praktikable Definition für Mangelernährung kann ein Nährstoffdefizit gelten, das messbar negative Auswirkungen hat auf: Gewebe- und Körperstruktur, Organfunktionen und den klinischen Verlauf (2). Mehr als 30% und abhängig von der Diagnose bis zu 80% aller Tumorpatienten haben bereits bei Diagnosestellung Gewicht verloren (1). Besonders ausgeprägt ist dieser initiale Gewichtsverlust bei Patienten mit Pankreas-, Magen-, Ösophagus- und Kopf-Hals-Tumoren: bei 30% dieser Patienten findet sich bereits bei Diagnose ein schwerer Gewichtsverlust von über 10% des gesunden Gewichts (1). Im Verlauf der Tumorerkrankung entwickelt sich bei der Mehrzahl aller Tumorpatienten eine Mangelernährung. Wenn die Toxizität antitumoraler Behandlungen die Auswirkungen auf den Tumor übersteigen, führt dies zu weiterer Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust. Die Tumorkachexie ist eine spezielle metabolische Form der tumorassoziierten Mangelernährung, die v. a. bei fortgeschrittenen Tumorsituationen auftritt (3). Kriterien für eine Tumorkachexie sind die Kombination aus Mangelernährung und systemischer Entzündungsreaktion: 1) Mangelernährung: Gewichtsverlust von mind. 10 % des gesunden Ausgangsgewichts 2) Inflammation: Nachweis systemischer Entzündungsmarker, z. B. Anstieg von CRP und Abfall von Albumin Eine Mangelernähung hat ungünstige Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Prognose des Tumorpatienten und beeinflusst sowohl das Ansprechen auf antitumorale Therapien als auch die Überlebenszeit (4). Darüberhinaus ergibt sich oft eine deutliche ökonomische Belastung durch häufigere und längere Krankenhausaufenthalte und höhere Therapiekosten.
Ursachen der tumorassoziierten Mangelernährung Eine Vielzahl von Mechanismen fördern die Entstehung einer Mangelernährung bei Tumorpatienten. Die folgende Grafik soll die Abläufe übersichtlich veranschaulichen:
Das Tumor-Anorexie-Kachexie-Syndrom Tumorassoziierte Faktoren
Antwort der Wirtsgewebe
Antitumorale Therapie
• Zytokine
• Zytokine
• Chemotherapie
• PIF (Proteolysis
• Akutphasenreaktion
• Kombinierte Radio-/
Inducing Factor)
• Katabole Hormone
• LMF (Lipid Mobilising Factor)
• Regulatorische Peptide
Angst
• Appetitverlust, verminderte Nahrungsaufnahme
Unsicherheit
• Gastrointestinale Erosion und Obstipation
Chemotherapie • Strahlentherapie
• Behinderung von Absorption und Verstoffwechselung von Metaboliten • Ödeme, Ergüsse, Leakage-Syndrom
Depression
• Eingeschränkte Leistungs-/Konzentrationsfähigkeit
Schmerz Schmerztherapie
• Einschränkung von Organfunktionen – insbes. des Immunsystems
Gewichtsverlust Lebensqualität
Mangelernährung
Ansprechen auf Tumortherapie
Überlebenszeit
Verlust an Körpermagermasse und Muskelgewebe
Prognose
2
Tumorstroma Tumoren führen zu einer lokalen Gewebsschädigung und induzieren so die Anflutung und Infiltration durch Immunzellen aus der systemischen Zirkulation. Es entwickelt sich ein Tumorstroma aus Bindegewebszellen, Makrophagen und Lymphozyten, d.h. aus nicht-malignen Wirtszellen, die den Tumor umgeben und durchsetzen (5; 6). Diese Immunzellen setzen eine Reihe von Gewebshormonen frei, die auf die Zusammensetzung des Tumorstromas, auf Tumorzellwachstum und auf die lokale Gefäßneubildung wirken. Diese entzündungsfördernden – proinflammatorischen – Komponenten wurden evolutionär für die Sanierung von Gewebsdefekten optimiert (5; 6). Ein Teil dieser Mediatoren, so die Zytokine IL-1, IL-6 und TNF-alpha, verläßt den lokalen Bereich und vermittelt entzündungstypische systemische Wirkungen. Zellen bestimmter Tumoren setzen selbst proinflammatorische Zytokine frei. Andere Tumoren produzieren spezifische katabole Substanzen, wie LMF (Lipid-mobilisierender Faktor, ein Fragment des Zink-alpha2-Glykopeptids) und PIF (Proteolyse-induzierender Faktor) (7).
Tumorwachstum > lokale Gewebsdefekte > Einwandern von Immunzellen > Freisetzung von lokal und systemisch wirksamen Kachexiemodulatoren
Kachexiemediatoren Zentrale proinflammatorische Mediatoren werden durch tumorassoziierte Makrophagen freigesetzt: u. a. TNF-alpha, Interleukin 1 und Interleukin 6. Diese Substanzen modellieren das Tumorstroma, stimulieren z. T. das lokale Tumorwachstum und induzieren fern vom Tumorort Lipolyse und Proteolyse. Interleukin 6 induziert die Synthese von Akutphasenproteinen in der Leber. V. a. das Arachidonsäureprodukt Prostaglandin E2 hat lokal stimulierende Wirkung auf das Wachstum von Tumorzellen. Sekundär wird durch die Inflammationsprozesse die Sekretion kataboler Hormone induziert. So finden sich bei kachektischen Tumorpatienten erhöhte Spiegel für Glukagon, Cortisol und Katecholamine. Die Tumorprodukte PIF und LMF verschieben das Gleichgewicht in Richtung Fett- und Muskelabbau (7). Ausgewählte Effekte
Mediatorgruppe
Substanz
Ursprung
• Eicosanoide
PGE2
Makrophagen
• pro-inflammatorische TNFa Zytokine IL-1 IL-6
Makrophagen Makrophagen Makrophagen
Proteolyse, Induktion CRP
• Hormone
Glukagon Cortisol Katecholamine
Pankreas Nebennierenrinde Nebennierenmark
Proteolyse Proteolyse Lipolyse
• Tumorprodukte
PIF LMF ~ Zn-a2-GP
Tumor Tumor
Muskelproteolyse Lipolyse
PGE=Prostaglandin E, TNF=Tumornekrosefaktor, IL=Interleukin, LMF=Lipid-mobilisierender Faktor, PIF=Proteolyse-induzierender Faktor, Zn-a2-GP = Zink-alpha2-Glykopeptid
3
Metabolische Effekte Aus Sicht der zentralen Gewebskompartimente werden im Rahmen einer typischen systemischen Entzündungsreaktion Ressourcen aus der Skelettmuskulatur und aus den Fettgewebsspeichern in Organe verschoben, die der Gewebsreparatur dienen. Interleukin 6, Kortikosteroide und der Tumorfaktor PIF steigern den Muskelabbau und führen zum Glutaminverlust der Muskelzellen. Katecholamine, Steroide und der Tumorfaktor LMF führen zum Überwiegen des Fettabbaus. Katecholamine und Steroide induzieren die Umwandlung der aus dem Muskelabbau kommenden Aminosäuren in Glukose für den Stoffwechsel der immunaktiven Gewebe. Interleukin 6 fördert die hepatische Synthese typischer Entzündungseiweiße wie z.B. CRP (C-reaktives Protein), die eine zentrale Rolle in der Abwehr bakterieller Infekte spielen. Organ
Effekt
Auslöser
• Muskel
Proteolyse Glutaminverlust
IL-6, Steroide, PIF
• Fettgewebe
Lipolyse
Katecholamine Steroide LMF
• Leber
Glukoneogenese Synthese von Akutphasenproteinen
Katecholamine, Steroide IL-6
Klinische Zeichen einer Kachexie Der krankheitsassoziierte Gewichtsverlust der Kachexie unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten vom Gewichtsverlust beim Hungerzustand, der auf eine Minimierung des Verlusts von Muskeleiweiß zielt. Das Kachexiesyndrom ist charakterisiert durch eine entzündungstypische inflammatorische Stoffwechselreaktion mit rascher Bereitstellung von Muskeleiweiß (dadurch Bewegungs- und mittelfristig durch Glutaminverlust Immunschwäche) sowie aktivierter Akutphasenreaktion (dadurch Appetitverlust, Müdigkeit und Fieber) (8; 9). Antitumorale Therapien tragen bei zur weiteren Beeinträchtigung des Allgemeinzustands. Übelkeit und Erbrechen werden ausgelöst durch Zytostatika, Morphinpräparate und nicht-steroidale Antirheumatika; aber auch durch Mukosainfekte, tumorbedingte Magen-Darmstenosen oder durch Hirnmetastasen. Lokale Tumoren oder Tumortherapien können Kau- und Schluckstörungen auslösen und zu abdominellem Völlegefühl und quälender Obstipation oder zu Diarrhoen führen. Zeichen
Ursache
• Anorexie = Appetitverlust
Akutphasenreaktion
• Gewichtsverlust
Proteolyse, Lipolyse
• Muskelverlust
Proteolyse
• Verlust von Fettgewebe
Lipolyse
• Anämie (Tumoranämie)
Akutphasenreaktion
• Immunschwäche
Glutaminverarmung
• Apathie, Müdigkeit
Akutphasenreaktion, Anämie, Muskelverlust
• Fieber, Schweißneigung
Akutphasenreaktion, Infekt
• Übelkeit, Erbrechen
Chemotherapie, Opioidanalgetika Magen-Darmulzera, Soorösophagitis GI-Stenose, Elektrolytstörung, Hirnmetastasen
• Kau-/Schluckbeschwerden
Mukositis durch Chemotherapie, Bestrahlung oder Infektion
• Völlegefühl, Obstipation
GI-Motilitätsstörung durch Tumor oder Opioidanalgetika
• Diarrhoe
Mukositis durch Chemotherapie oder Infektion 4
Sinnvolle Diagnostik zur Erfassung einer (beginnenden) Kachexie Um den Beginn einer Kachexieentwicklung möglichst früh zu erfassen, sollte regelmäßig eine Basisdiagnostik der Ernährungssituation erfolgen (10). Dazu gehört die standardisierte Erfassung des Körpergewichts, sowie die Dokumentation des Gewichtsverlaufs. Das Monitoring typischer Akutphaseneiweiße erlaubt das frühzeitige Erkennen einer Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse. Appetit und Nahrungsaufnahme lassen sich kategorisch abschätzen. Mit akzeptablem Aufwand sind zusätzliche Untersuchungen sinnvoll zur Abschätzung der verbliebenen Muskelreserve (Muskelumfang) (11), bzw. des Zustands der Gewebshydratation (Bioimpedanz). Eine genauere Erfassung der Kalorienaufnahme ist möglich über ein mehrtägiges Essprotokoll und PC-basierte Auswertung. Aus therapeutischer Sicht sollten regelmäßig psychologische Aspekte, die Schmerzsituation und Probleme des Magen-Darmtraktes optimal betreut werden. Basisverfahren
Kommentar
• Körpergewicht alle 1–2 Wochen
Körperreserven und Katabolieaktivität
• CRP und Albumin im Serum alle 4 Wochen
erfasst inflammatorische Aktivität
• Appetit via VAS (visuelle Analogskala)
rasches, einfaches Verfahren
• geschätzte Nahrungsaufnahme
normal – 75% – 50% – 25% – nichts
Zusatzuntersuchungen • Armmuskelfläche via Oberarmumfang und Trizepshautfaltendicke
OAU
Knochen
AMU
Muskel Fett
• Phasenwinkel bei 50 kHz (BIA): erfaßt Zellvolumen • 3-Tage Ernährungsprotokoll • psychologische Situation
Mark
OAU AMU AMF AMA
= = = =
Oberarmumfang, Armmuskelumfang Armmuskelfläche arm muscle area
Heymsfield SB et al. Am J Clin Nutr 1982
AMU = OAU – (p x TSF) AMA = AMF = AMU2/ 4 p
• Schmerzsituation • Gastrointestinale Integrität Spezifischere Zusatzuntersuchungen bleiben eher spezialisierten Zentren vorbehalten. So lassen sich zusätzliche Parameter der Muskelfunktion oder Muskelmasse durch Funktionsprüfungen oder die Kreatininausscheidung im Urin gewinnen. Die Flüssigkeitsbelastung der Gewebe kann mit speziellen Bioimpedanz-Analysen erfaßt und die Immunlage des Körpers über standardisierte Hautteste geprüft werden. Der individuelle Energieumsatz kann im Ruhezustand über die CO2-Produktion und den O2-Verbrauch mittels indirekter Kalorimetrie gemessen oder anhand validierter Formeln geschätzt werden (12). Weitere Verfahren
erfasst
• Handdruckkraft mittels Dynamometer
Muskelfunktion
• Kreatininexkretion im 24h-Urin
Muskelmasse
• ECF/TBW (BIA)
Flüssigkeitsbelastung
• Trizepshautfaltendicke mittels Kaliper
Fettreserven
• Antigen-Recall-Test (Merieux-Hauttest)
Immunlage
• Indirekte Kalorimetrie
Ruheenergieumsatz in kcal/Tag
• Gesamtenergiebedarf
Berechnung nach WHO in kcal/Tag
BIA=Bioimpedanzanalyse, ECF=Extrazellulärwasser, TBW=Gesamtkörperwasser, WHO=World Health Organization
5
Sinnvolle Diagnostik: Normwerte Diagnostisches Verfahren
Normwerte
• Gewichtsverlust (% vom gesunden Gewicht)
< 2%
• C-reaktives Protein (CRP)
< 5 mg/l
• Albumin im Serum
> 38 g/l
• Armmuskelfläche
> 25 cm2
• Phasenwinkel via BIA bei 50 kHz
> 5°
• 3-Tage Ernährungsprotokoll
> 20 kcal/kg/Tag
Indikationen und Ziele für eine Ernährungstherapie Prinzipiell sind die Indikationen für eine Ernährungsbehandlung bei Tumorpatienten identisch mit den Indikationen bei Patienten mit gutartigen Erkrankungen (13). Auch wenn kontrollierte Daten nicht vorliegen, lässt sich als Empfehlung formulieren, dass eine Ernährungstherapie indiziert ist, wenn die normale Nahrungsaufnahme für mindestens 7 Tage weitgehend (
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