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January 22, 2018 | Author: Anonymous | Category: Sozialwissenschaften, Anthropologie, Stammesgeschichte des Menschen
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Disziplinen der Anthropologie

Silke Meyer, Armin Owzar (Hgg.)

Disziplinen der Anthropologie

Waxmann 2011 Münster / New York / München / Berlin

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8309-2278-0 © Waxmann Verlag GmbH, Münster 2011 www.waxmann.com [email protected] Umschlaggestaltung: Christian Averbeck, Münster Satz: Stoddart Satz- und Layoutservice, Münster Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Inhalt

Silke Meyer und Armin Owzar Einleitung ..........................................................................................................7 Peter Schmid Einige Stationen der Menschwerdung ............................................................13 Eckart Voland Seine Kultur ist des Menschen Natur. Evolutionäre Perspektiven der Soziobiologie ................................................37 Klaus Müller Anthropologie als theologische Grammatik ...................................................57 Norbert Herold Unsere ganze Würde besteht im Denken ... Vom Glanz und Elend einer philosophischen Anthropologie ........................75 Frank Jablonka Sprachanthropologie. Was heißt Menschsein vom Standpunkt der Sprache? ................................101 Susanne Günthner Sprache und Sprechen im Kontext kultureller Praktiken. Facetten einer Anthropologischen Linguistik. ..............................................121 Jörg R. J. Schirra und Klaus Sachs-Hombach Anthropologie in der systematischen Bildwissenschaft: Auf der Spur des homo pictor ......................................................................145 Thomas Gutmann Rechtswissenschaften und Anthropologie ....................................................179 Silke Meyer und Guido Sprenger Der Blick der Kultur- und Sozialanthropologie. Sehen als Körpertechnik zwischen Wahrnehmung und Deutung ................203

Armin Owzar Menschen im Wandel. Historische Anthropologie ............................................................................229

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .....................................................257

Silke Meyer und Armin Owzar

Einleitung

Was ist Anthropologie? Womit beschäftigt sie sich? Was sind ihre Grundannahmen und Prämissen, was sind ihre Methoden? Ganz allgemein lässt sich Anthropologie als die Wissenschaft vom Menschen definieren. Sämtliche anthropologisch orientierten Wissenschaftler, seien sie Biologen, Historiker, Ethnologen, Soziologen, Theologen oder Philosophen, versuchen zu beschreiben, was Menschen fühlen, was sie denken, wie sie sich verhalten, handeln, und darüber hinaus, warum sie dies so tun. Sie suchen nach einer Erklärung für die sich in Geschichte und Gegenwart höchst unterschiedlich manifestierenden Gefühlshaushalte, Denkansätze, Verhaltensmuster und Handlungsweisen. Dabei geht es sowohl um den Umgang der Menschen mit Elementarerfahrungen als auch um die daraus abgeleiteten Grundbedürfnisse und die zu deren Befriedigung eingeschlagenen Wege. Besonderes Interesse gilt den Phänomenen Sexualität, Gewalt, Krankheit und Tod; grundsätzlich aber gerät alles Fühlen, Denken, Verhalten und Handeln in den Blick. Was hoffen die Menschen? Was fürchten sie? Worüber verzweifeln sie? Und woran glauben sie? Was denken sie über Freiheit und Gleichheit? Wie gehen sie mit Fremden um? Wie behandeln sie ihre Umwelt? Und welches Verhältnis entwickeln sie zu ihrem eigenen Körper bzw. den Körpern ihrer Mitmenschen?1 Die Antworten auf diese Fragen und die Erklärungen der Biologen, Mediziner und Psychologen, der Theologen und Philosophen, der Soziologen, Ethnologen und Historiker fallen höchst unterschiedlich aus. Die einen betonen den historischen Wandel, die anderen die Unveränderbarkeit der menschlichen Natur; die einen diagnostizieren eine Individualität der verschiedenen Kulturen, die anderen suchen nach übergreifenden Mustern, die allen Kulturen gemeinsam sind. Die Antworten fallen derart unterschiedlich aus, dass man von einer Anthropologie gar nicht sprechen kann. Die Biologie und die Geschichtswissenschaft – um nur zwei Disziplinen zu nennen, deren Positionen besonders weit voneinander entfernt sind – geben völlig unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Insgesamt lassen sich vier Hauptdisziplinen der Anthropologie unterscheiden: die Biologische Anthropologie, die Philosophische Anthropologie, die

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Für eine Darstellung relevanter Themenfelder der Anthropologie aus geisteswissenschaftlicher Perspektive und unter Berücksichtigung auch naturwissenschaftlicher Ergebnisse siehe den enzyklopädischen Überblick von Christoph WULF (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim / Basel 1997.

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Silke Meyer und Armin Owzar

Kultur- und Sozialanthropologie und die Historische Anthropologie.2 Daneben gibt es zahlreiche weitere Disziplinen, die wie die Theologie,3 die Rechtswissenschaft,4 die Bildwissenschaft5 und die Sprachwissenschaft6 einzelne Aspekte beleuchten und auf der Grundlage spezifischer Prämissen eigenständige Deutungen menschlichen Verhaltens entwickeln. Zunächst war Anthropologie nahezu gleichbedeutend mit Biologischer Anthropologie. Nur der wissenschaftshistorischen Vollständigkeit halber sei hier darauf verwiesen, dass es früher innerhalb der biologischen Disziplin auch eine Rassenanthropologie gab. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts trat diese pseudowissenschaftliche Disziplin mit dem Anspruch auf, Menschen verschiedener soziokultureller Milieus und aller geographischen Räume zu vermessen und zu kategorisieren. Die Kriterien für diese Kategorien waren rein physiologischer Art, wurden aber zu Determinanten menschlicher Charaktereigenschaften und Befindlichkeiten, menschlicher Fähigkeiten und menschlichen Verhaltens erklärt. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern Europas wurden die Menschen nach körperlichen Merkmalen klassifiziert und mit bestimmten charakterlichen Eigenschaften versehen. Je nach Hautfarbe, Schädel- und Nasenform, Körpergröße und Blutgruppe unterschied man zwischen höherwertigen und minderwertigen Rassen. Nicht nur die Instrumentalisierung solcher Thesen durch die Nationalsozialisten, sondern auch die vollständige Unhaltbarkeit der rassenanthropologischen Hypothesen hat diesen Zweig der Biologischen Anthropologie so sehr in Verruf gebracht, dass es heute keinen ernstzunehmenden Vertreter dieser Disziplin mehr gibt.7 Biologische Anthropologie bewegt sich heute auf einem ganz anderen Niveau und folgt ganz anderen Prämissen.8 So etwa die Soziobiologie, die an der Schnittstelle von Biologie, Soziologie und Psychologie angesiedelt ist.9 Eine revolutionäre Rolle für diese neue Form der Biologischen Anthropologie spielt vor allem die Genetik. Sie behauptet, dass der Mensch als Teil der Na2

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Für einen knappen Überblick über die verschiedenen Anthropologien siehe Gert DRESSEL: Historische Anthropologie. Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Michael MITTERAUER. Wien u.a. 1996, S. 29-62 und Christoph WULF: Anthropologie. Geschichte Kultur Philosophie. Reinbek 2004. Siehe dazu den Beitrag von Klaus MÜLLER im vorliegenden Band. Siehe dazu den Beitrag von Thomas GUTMANN im vorliegenden Band. Siehe dazu den Beitrag von Klaus SACHS-HOMBACH und Jörg R. J. SCHIRRA im vorliegenden Band. Siehe dazu die Beiträge von Susanne GÜNTHNER und Frank JABLONKA im vorliegenden Band. Siehe dazu auch Jakob TANNER: Historische Anthropologie zur Einführung. Hamburg 2004, S. 44-49. Für einen Überblick zu den Themenfeldern und Ergebnissen Biologischer Anthropologie siehe Craig STANFORD, John S. ALLEN, Susan C. ANTÓN: Exploring Biological Anthropology. The Essentials. Boston u.a. 22010. Siehe dazu den Beitrag von Eckart VOLAND im vorliegenden Band.

Einleitung

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tur einem genetisch bedingten Code unterliege. Dieser Code folge bestimmten Naturgesetzen, die auf Charles Darwins Selektions- und Evolutionsmodell zurückgeführt werden. Demnach setzen sich jeweils diejenigen Lebewesen mehrheitlich durch, die sich der Umwelt am besten angepasst haben. Vor allem der Reproduktionserfolg sei entscheidend: diejenigen Männer und Frauen, die über die besten und erfolgreichsten Strategien zwecks Fortpflanzung verfügten, seien die Stärksten. Deshalb müsse eigentlich jedem Menschen daran gelegen sein, solche Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die es ihm ermöglichen, einen Partner kennenzulernen und mit diesem möglichst viele Kinder zu zeugen. Nicht der Wandel, sondern ein allen Menschen zu allen Zeiten gleiches Grundmuster bildet also das Leitmotiv aller biologischen Erklärungen.10 Auf dieser Prämisse basieren auch andere biologisch ausgerichtete Teildisziplinen wie die Ethologie (Verhaltenswissenschaft).11 In diesem Zusammenhang erfüllt der Vergleich mit anderen Lebewesen, namentlich mit anderen Primaten wie den Hominiden und ausgestorbenen Spezies der Gattung Homo wie dem Neandertaler eine zentrale Rolle.12 Einerseits belehrt uns dieser Vergleich über die quantitativen wie qualitativen Unterschiede, die den Menschen vom Tier bzw. von anderen Primaten unterscheiden. Andererseits zeigt er die vielen Gemeinsamkeiten auf und weist dem Menschen dadurch im Gegensatz zu anthropozentrischen Menschenbildern einen Platz innerhalb der Natur zu. Ist der Mensch letztlich nur ein wenn auch besonders intelligentes Tier, dessen Denken und Verhalten durch naturwissenschaftlich erklärbare Prozesse gesteuert sind? Auch Vertreter anderer Sozial- und Lebenswissenschaften neigen dazu, diese Frage zu bejahen. Während zahlreiche Sozialpsychologen, die kollektives Gruppenverhalten untersuchen, immerhin die kulturspezifischen Unterschiede menschlichen Verhaltens betonen,13 verweisen Neurowissenschaftler auf die ausschlaggebende Funktion elektrochemischer Prozesse im Gehirn 10 Freilich gibt es auch unter den Biologen vermittelnde Positionen. So betont der amerikanische Entomologe Paul Ralph Ehrlich, dass uns unsere Gene keineswegs Befehle erteilten, sondern lediglich Vorschläge einflüsterten. Der Einfluss kultureller und umweltbedingter Faktoren sei nicht zu unterschätzen (siehe Paul R. EHRLICH: Human Natures. Genes, Cultures, and the Human Prospect. New York u.a. 2002 [2000]). 11 Siehe dazu Irenäus EIBL-EIBESFELDT: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. Vierkirchen-Pasenbach 52004 [1984] und Franz M. WUKETITS: Die Entdeckung der Verhaltens. Eine Geschichte der Verhaltensforschung. Darmstadt 1995. 12 Siehe dazu Michael TOMASELLO, Josep CALL: Primate Cognition. New York / Oxford 1997. Siehe dazu auch den Beitrag von Peter SCHMID im vorliegenden Band. 13 Siehe etwa Stanley MILGRAM: Nationality and Conformity. In: Scientific American 205 (1961), S. 45-51. Für einen Überblick siehe Klaus JONAS, Wolfgang STROEBE, Miles HEWSTONE (Hgg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung aus dem Englischen von Matthias Reiss. Berlin u.a. 52007.

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Silke Meyer und Armin Owzar

für die psychischen Eigenschaften und haben damit die Frage nach dem freien Willen des Menschen neu aufgeworfen.14 Gegen eine solche deterministische Sicht hat vor allem die Philosophische Anthropologie immer wieder angeschrieben. Es geht dabei um die Sonderposition, die der Mensch nach Ansicht philosophischer Anthropologen in der Welt einnimmt. Verwiesen sei hier nur auf Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner, die versucht haben, den Menschen vom Tier abzugrenzen und seine Sonderstellung zu beweisen. Natur und Kultur bilden hier eine sich gegenseitig ergänzende Einheit. Die Natur als verhaltensprägender Faktor wird zwar nicht in Frage gestellt. Aber der Mensch ist kein biologisch determiniertes Lebewesen, sondern hat von der Natur die Gabe mitbekommen, sich weiterzuentwickeln.15 Mit der offensichtlichen Unterschiedlichkeit der Kulturen stellt sich freilich auch die Frage nach einer Hierarchisierbarkeit: Gibt es Kulturen, die höher entwickelt sind als andere? Zahlreiche Wissenschaftler, die sich seit dem 19. Jahrhundert mit fremden Gesellschaften beschäftigen, haben versucht, solche Modelle zu entwerfen, mittels derer sich eine fortschreitende Kulturentwicklung beschreiben lässt.16 Gegen solche euro- bzw. ethnozentristischen Deutungen hat sich zusehends eine Sicht durchgesetzt, die auf eine Bewertung und Kategorisierung verzichtet und sich statt dessen darauf beschränkt, die jeweiligen fremden Kulturen zu beschreiben und deren Funktionsmechanismen zu verstehen. In der Kultur- und Sozialanthropologie lassen sich dabei zwei Strömungen unterscheiden: zum einen die sogenannten Strukturalisten, die die Strukturen und Funktionsweisen der eigenen wie die fremder Gesellschaften beschreiben. Einer geläufigen Prämisse zufolge haben alle Gesellschaften nur ein Ziel: ihre menschlichen Primärbedürfnisse zu stillen und das eigene soziale System zu erhalten. Andere wiederum betonen stärker die Individualität der einzelnen Kulturen. Demnach ist jede Kultur einzigartig und hat ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Ausdrucksformen.17 Von all diesen Formen der Anthropologie unterscheidet sich die Historische Anthropologie durch ihren diachronen Zugriff auf das Verhalten und die Verfasstheit sowohl einfacher namenloser Individuen als auch ausgewählter Kollektive. Jene Phänomene der Differenz, nach denen der Ethnologe in fer14 Zur ersten Lektüre seien dazu die Beiträge in Carsten KÖNNEKER (Hg.): Wer erklärt den Menschen? Hirnforscher, Psychologen und Philosophen im Dialog. Frankfurt am Main 2006 empfohlen. 15 Siehe dazu den Beitrag von Norbert HEROLD im vorliegenden Band. 16 So etwa Lewis Henry MORGAN: Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation. Stuttgart 1891 [London 1877]. 17 Siehe dazu den Beitrag von Silke MEYER und Guido SPRENGER im vorliegenden Band.

Einleitung

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nen, meist außerwestlichen Kulturen fahndet, sucht der anthropologisch orientierte Historiker in unserer Vergangenheit. So geht er zum einen davon aus, dass sämtliche menschlichen Lebensformen historischem Wandel unterliegen. Zum anderen bezweifelt er, dass anonyme Strukturen oder allmächtige Diskurse menschliches Handeln einseitig determinieren.18 Angesichts der höchst unterschiedlichen Antworten, die die Vertreter der einzelnen Disziplinen über die Bedeutung von Natur und Kultur für das Fühlen, Denken und Verhalten der Menschen geben, ist es erstaunlich, dass sie so selten ins Gespräch miteinander kommen. So besteht zwischen vielen Disziplinen noch immer ein immenser Verständigungsbedarf. Ungeachtet des zunehmenden transdisziplinären Austausches zwischen Kulturwissenschaftlern und Ethnologen sind sich vor allem Biologen und Historiker einander fremd geblieben. Zu unterschiedlich sind beider Grundannahmen über anthropologische Konstanten. Oftmals begegnen sie sich, wie Fremde dies manchmal (nicht immer) zu tun pflegen: sie gehen sich aus dem Weg. Sie rümpfen die Nase und ziehen es vor, die Ergebnisse der jeweils anderen Disziplin zu ignorieren. Auch dafür mag es aus anthropologischer Sicht verschiedene Erklärungen geben. Freilich sollten wir versuchen, uns von solchen Ressentiments frei zu machen und die Perspektiven des Anderen, des jeweils Fremden, auf ihre Nutzbarkeit für unsere Arbeit zu prüfen. Angesichts der Rolle einer Leitwissenschaft, die die Soziobiologie, die Genetik und auch die Neurowissenschaften für sich in den letzten Jahren reklamiert und von weiten Teilen der interessierten Öffentlichkeit auch zugebilligt bekommen haben, wäre es für die Kulturwissenschaftler fatal, sich dieser Herausforderung und dem Dialog nicht zu stellen. Bevor wir uns allerdings auf interdisziplinäre oder gar transdisziplinäre Projekte verständigen, sollten wir den Anderen erst einmal zu Wort kommen lassen. Dieser Reader will Vertretern verschiedener natur- und geisteswissenschaftlicher Fächer die Gelegenheit geben, das eigene Fach vorzustellen und in die jeweilige Anthropologie einzuführen. Das Spektrum reicht von der Soziobiologie und Primatologie über die Rechtswissenschaften, die Bild- und Sprachwissenschaften, die Theologie und die Philosophie bis zur Geschichtswissenschaft und zur Kultur- und Sozialanthropologie. Jeder einzelne Artikel soll eine Einführung in die Geschichte des Faches mit seinen jeweiligen Forschungsfeldern, -fragen und -ergebnissen geben, über die zentralen Grundannahmen und Prämissen anthropologischen Denkens informieren sowie fachspezifische Begriffe und Methoden vorstellen. Den Herausgebern ist klar, dass der hier vorgelegte Band nur eine Auswahl anthropologischer Ansätze bietet. Er versteht sich denn auch nur als Auftakt 18 Siehe dazu den Beitrag von Armin OWZAR im vorliegenden Band.

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Silke Meyer und Armin Owzar

zu einem größeren Unternehmen, an dem u.a. auch Sozialpsychologen und Hirnforscher beteiligt sein sollen. Die hier versammelten Beiträge dokumentieren nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Abschluss einer Ringvorlesung, die von den Herausgebern im Wintersemester 2006/07 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster durchgeführt wurde. Den Referentinnen und Referenten dieser Veranstaltung sei hier noch einmal ausdrücklich gedankt, ebenso den Hörerinnen und Hörern unterschiedlichster Fachrichtungen, die in den sich jeweils anschließenden Diskussionen die allenthalben erhobene Forderung nach einem inter- und transdisziplinären Dialog Wirklichkeit werden ließen. Unser Dank geht darüber hinaus an das Rektorat der Universität Münster, namentlich an Herrn Heribert Woestmann, der uns mit Rat und Tat zur Seite stand, sowie an das Historische Seminar und das Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie, die beide durch ihre finanzielle Unterstützung die Durchführung der Ringvorlesung erst möglich machten. Für den vorliegenden Band wurden die Vorträge überarbeitet; außerdem konnten weitere Autoren gewonnen werden. Ihnen allen sei dafür auf diesem Wege noch einmal herzlich gedankt. Bei der Redaktion und der Korrektur der Druckfahnen unterstützte uns Herr Niklas Lenhard-Schramm, dem wir dafür unseren Dank aussprechen möchten. Für die Erstellung der Druckfahnen bedanken wir uns beim Waxmann-Verlag, namentlich bei Frau Beate Plugge. Frau Karin Krabbe hat uns bei der Abwicklung organisatorischer Fragen tatkräftig unterstützt, dafür unseren herzlichen Dank. Unser Dank geht auch an den mentis Verlag, der die Erlaubnis zum Wiederabdruck des Beitrages von Herrn Eckart Voland gegeben hat. Besonderer Dank gebührt all denjenigen, ohne deren großzügige Spenden und finanzielle Zuschüsse dieser Band nicht hätte erscheinen können: dem Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Universität Münster, der Gesellschaft für Volkskunde Münster e.V., der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen WilhelmsUniversität zu Münster e.V., der Kleist Versicherungsmakler GmbH sowie der cronos billing consulting GmbH.

Innsbruck und San Diego im September 2010

Peter Schmid

Einige Stationen der Menschwerdung

Naturforscher des 17. und 18. Jahrhunderts glaubten daran, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Gleichzeitig stellten sie jedoch fest, dass der Mensch denselben Naturgesetzen gehorchte, wie sie auch für die Tiere galten.1 Obwohl sie ihn immer noch auf die oberste Stufe der natürlichen Stufenleiter, der Scala naturae,2 stellten, bröckelte diese Position in der Folge immer weiter ab. Im Weiteren verwischte sich die Grenze zwischen ,Mensch‘ und ,Tier‘ immer mehr und gipfelte in der Feststellung, dass sich das menschliche Erbgut lediglich um 1,64 % von demjenigen des Schimpansen unterscheiden lasse.3 Der nackte, aufrecht gehende Menschenaffe war geboren. Die Verhaltensforschung trug ihren Teil dazu bei, indem Intelligenzleistungen wie assoziative Sprachfähigkeit und Kultur zusätzlich den Unterschied zum Affen immer geringer ausfallen ließen. Damit wird uns bewusst, dass wir ein Teil der Natur sind und aus diesem Grunde eine enorme Verantwortung tragen. So klein der biologische Unterschied auch sein mag, wir sind aufgrund unserer explosionsartigen Kulturentwicklung fähig, unsere Umwelt entscheidend zu verändern. Wir können sie in einen Rucksack packen und sogar auf den Mond fliegen. Allerdings führt diese Fähigkeit vielleicht auch zur Katastrophe, wie die Klimabeeinflussung bereits andeutet. In der Folge soll der Werdegang des Menschen anhand von Zeugen aus der Vergangenheit skizziert werden, wobei der Übergang vom Vierbeiner zum Zweibeiner als wesentlicher Markstein besondere Beachtung findet. Heutzutage vermögen wir, mit dem Computer so genannte Entwicklungsvorgänge zu simulieren. Mittels dreidimensionalem ,Morphing‘ kann man ein Schimpansenhirn in ein Menschenhirn verwandeln. Die Idee, dass sich der Menschenaffe allmählich zum Menschen entwickelte und man lediglich die Zwischenstufen finden müsste, ist uralt. Wir wissen jedoch, dass der Schimpanse nicht unser Vorfahre ist und nur in Ansätzen dem Vorfahrenmodell gerecht wird. Trotzdem wird tüchtig weiter ,gemorpht‘, was schöne, publikumswirksame Bilder ergibt. Am Beispiel der Fortbewegung wird deutlich, dass dieser allmähliche Übergang sehr zweifelhaft ist. Noch heute belächelt man 1 2 3

Jean-Baptiste P. A. LAMARCK: Philosophie Zoologique, Bd. 1 [1830]. Charles BONNET: La Palingénésie Philosophique, ou Idées sur l’état passé et sur l’état futur des Etres Vivans [1770]. Charles G. SIBLEY, Jon E. AHLQUIST: DNA hybridization evidence of hominoid phylogeny. Results from an expanded data set. In: Journal of Molecular Evolution 16 (1987), S. 99-121.

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Peter Schmid

die lamarcksche Halsverlängerung bei den Giraffen als naive Idee des 19. Jahrhunderts. Ebenso lächerlich erscheint das Dreibeiner-Stadium als Übergang vom Vierbeiner zum Zweibeiner. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die Menschenaffen oft aufrecht stehend dargestellt. Man war sich allerdings bewusst, dass diese Formen nicht perfekt aufrecht gehen konnten und hat ihnen jeweils einen Stock als ,drittes Bein‘ beigefügt. Diese Unzulänglichkeit des Übergangsstadiums mag zum Schmunzeln veranlassen. In der moderneren Zeit hat sich eine ebenso lächerliche Vorstellung breit gemacht. Es handelt sich dabei um die populären Darstellungen einer halb aufgerichteten, gebückten Körperhaltung. Es ist erstaunlich, dass selbst in der Wissenschaft dieser halb aufgerichtete Übergang immer wieder vorgestellt wird, obwohl er biomechanisch und energetisch völlig unhaltbar ist. Kein Tier kann in einer halb aufgerichteten Körperhaltung über längere Zeit stehen oder gehen. Die Menschenartigen haben sich vor mindestens 4 bis 5 Millionen Jahren die zweibeinige Fortbewegungsweise angeeignet – das Wie und Weshalb bleibt nach wie vor ein großes Rätsel und eine Herausforderung an die Wissenschaft. Viele Vierbeiner richten sich von Zeit zu Zeit auf ihren Hinterbeinen auf (Murmeltiere, Bären usw.). Dabei handelt es sich jedoch nie um eine ,halbe‘ Aufrichtung, sondern um ein eindeutiges Senkrechtstellen der Wirbelsäule. Für die zweibeinige Körperhaltung braucht es allerdings viel Energie, da, bedingt durch die ungünstige Lage des Körperschwerpunktes, die Gelenke der Hinterextremität mit Muskelkraft stabilisiert werden müssen. Manche Vierbeiner brauchen selbst im Stehen auf vier Beinen zu viel Energie, was ein lang anhaltendes Stehen schwierig macht (Hunde, Katzen, Affen). Sie erholen sich am besten in sitzender oder liegender Haltung. Für den Menschen hingegen bedeutet langes Stehen kein Problem. Feine Muskelkontraktionen und ein spezieller Bänderapparat vermögen den aufrechten Körper über einer relativ kleinen Standfläche im Gleichgewicht zu halten. Dabei müssen die wichtigsten Körpersegmente an ihren verbindenden Gelenken stabilisiert, das heißt, im Gleichgewicht gehalten werden: • Der Schwerpunkt des Kopfes liegt leicht vor dem Kopfgelenk. Der leichte Zug der Nackenmuskeln verhindert ein Absinken des Kopfes nach vorne. Überkommt einen die Müdigkeit, fällt bei einschlafenden Personen in der aufrechten Haltung zuerst das Kinn auf die Brust. • Über dem Hüftgelenk bewegt sich der Oberkörper vor- und rückwärts. In einer bequemen Standhaltung würde der Oberkörper nach hinten kippen. Dies wird durch einen Bandkomplex (Ligamentum iliofemorale) verhindert, der ein Überdehnen im Hüftgelenk verhindert. Die Standbeinhüfte wird nach vorne geschoben und wir hängen uns in diese Bänderkapsel hinein, welche vom Becken über Gelenkspfanne und Femurkopf zum Oberschenkel zieht.

Einige Stationen der Menschwerdung

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• Das gestreckte Kniegelenk liegt hinter der Schwerpunktsachse. Das Körpergewicht würde zu einem Überstrecken in diesem Gelenk führen. Auch hier muss keine Muskelkraft aufgewendet werden, um das Gelenk zu fixieren. Die Seiten- und Kreuzbänder blockieren das Scharnier ohne Kraftaufwand. • Das Sprunggelenk, der Übergang vom Unterschenkel auf den Fuß, benötigt hingegen Muskelaktivität. Feine Muskelbewegungen kontrollieren das Fußgelenk. Werden diese feinen Koordinationsbewegungen gestört, zum Beispiel durch Alkoholkonsum, geraten wir ins Schwanken. Die aufrechte Körperhaltung des Menschen ist durch diese besonderen Gelenkskonstruktionen ausgesprochen Energie sparend und benötigt nur geringe Muskelarbeit beim Stehen. Anhand dieser Veränderungen im Haltungsapparat kann man an fossilen Knochenfunden erkennen, ob eine energiesparende, aufrechte Körperhaltung möglich war. Die wichtigsten Hinweise entstammen den geologischen Schichten des ostafrikanischen Grabenbruchsystems. Durch das Auseinanderweichen der eingebrochenen Erdkruste wurden Fluss- und Seeufersedimente freigelegt, in welchen Fressreste von Raubtieren erhalten geblieben sind. Periodische Vulkanausbrüche dienen als wichtige Datierungsgrundlagen, indem in den dazwischen gelagerten Basalten und Tuffen Isotopen vorhanden sind, die aufgrund ihres radioaktiven Zerfalls wichtige Zeitangaben ermöglichen. Die frühesten Zeugen für eine Veränderung des Haltungsapparates sind 5,8 bis 4,4 Millionen Jahre alt. Sie gehören zu affenähnlichen Gebissen aus der Fundstelle Aramis in Äthiopien.4 Die relativ massiven Eckzähne scheinen eher gegen eine Menschenähnlichkeit zu sprechen, deshalb ist die Zugehörigkeit dieser Reste des Ardipithecus noch umstritten. Das Typusexemplar, ein Unterkieferstück mit einem Backenzahn des Milchgebisses, zeigt nur eine einzige Spitze (= unicuspid) und eine Ausweitung der Zahnkrone, wie sie für das Schärfen eines großen Oberkiefereckzahns typisch ist. Bei einem entsprechenden Zahn eines Menschenkindes fehlt diese Schlifffläche und der Zahn hat mehrere Höcker, er ist multicuspid. Zwei Elemente der Schädelbasis sprechen anscheinend eine andere Sprache. Die Kopfgelenke dieses Ardipithecus ramidus sind nach vorne verlagert. Sie kommen dabei auf die Höhe der Verbindungslinie zwischen den Eintrittsstellen der Halsschlagader zu liegen. Dies wird als Indiz für die verbesser4

Yohannes HAILE-SELASSIE: Late Miocene hominids from the Middle Awash, Ethiopia. In: Nature 412 (2001), S. 178-181; Tim D. WHITE, Gen SUWA, Berhane ASFAW: Australopithecus ramidus, a new species of early hominid from Aramis, Ethiopia. In: Nature, London 371 (1994), S. 306-312; DIES.: Corrigendum. Australopithecus ramidus, a new species of early hominid from Aramis, Ethiopia. In: Nature, London 375 (1995), S. 88.

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Peter Schmid

te Balance des Kopfes auf einer möglicherweise aufrechten Wirbelsäule aufgefasst. Bei den Menschenaffen liegen die Kopfgelenke viel weiter hinten, da das Hinterhauptsloch, und damit der Austritt des Rückenmarks, nach hinten und nicht nach unten geöffnet ist. Der Gesichtsschädel mit dem kräftigen Gebiss, das durch die massiven Eckzähne geprägt ist, zieht den Schädel nach unten. Entsprechend ist das Nackenmuskelfeld groß und nach hinten gerichtet. Damit ziehen die massiven Nackenmuskeln gegen die Fortsätze der Halswirbelsäule und heben den Schädel derart, dass die Blickrichtung nach vorne gewährleistet ist. Beim Menschen liegen die Kopfgelenke weiter vorne, zentral unter dem Schädel. Damit ist der Kopf beinahe ausbalanciert, und es braucht wenig Kraft der Halsmuskeln, um nach vorne zu blicken. Entsprechend ist das Nackenmuskelfeld eingeschränkter und zeigt nach unten. Es ist umstritten, ob die Nähe des Kopfgelenks zum Austritt der Halsschlagader bei dem erwähnten Fragment eine zentrale Lage des Drehpunkts beweist, da der Abstand der beiden Strukturen eine gewisse Variabilität bei heutigen Formen zeigt.5 Über die Ausgestaltung der Muskelursprünge kann nur spekuliert werden, da dieser Teil des Hinterhaupts von Ardipithecus fehlt. Von den Tugen Hills (Lake Baringo, Kenia) wurde ein weiterer Zweibeiner postuliert: Orrorin tugenensis.6 Aufgrund dreier Oberschenkelfragmente entwickelte sich ebenfalls eine Diskussion, welche noch nicht zu Ende geführt ist. Ein wichtiges Merkmal, eine markante Rauheit, welche den Ansatz des Ligamentum iliofemorale (siehe oben) nachweist, fehlt und zeigt, dass die Hüftstabilisierung nicht menschenähnlich war. Die restlichen Argumente werden noch diskutiert.7 Auch hier erscheint eine menschliche Fortbewegungsweise als zweifelhaft. Die dritte und wohl älteste Form (7 Millionen Jahre) stellt Sahelanthropus tchadensis dar.8 Obwohl keine Elemente des Bewegungsapparates vorhanden sind, wurde mit den gleichen Argumenten wie bei Ardipithecus (Lage des 5 6 7 8

Melissa S. SCHAEFER: Foramen Magnum-Carotid Foramina Relationship. Is It Useful for Species Designation? In: American Journal of Physical Anthropology 110 (1999), S. 467-471. Brigitte SENUT: First hominid from the Miocene (Lukeino Formation, Kenya). In: C.R. Acad. Sci. Paris 332 (2001), S. 137-144. Tim D. WHITE: Early hominid femora. The inside story. In: C. R. Palevol. 5 (2006). Michel BRUNET, Franck GUY, David PILBEAM, Hassane T. MACKAYE, Andossa LIKIUS, Djimdoumaibaye AHOUNTA, Alain BEAUVILAIN, Cécile BLONDEL, Hervé BOCHERENS, Jean-Renaud BOISSERIE, Louis DE BONIS, Yves COPPENS, Jean DEJAX, Christiane DENYS, Philippe DURINGER, Vera EISENMANN, Gongdibé FANONE, Pierre FRONTY, Denis GERAADS, Thomas LEHMANN, Fabrice LIHOREAU, Antoine LOUCHART, Adoum MAHAMAT, Gildas MERCERON, Guy MOUCHELIN, Olga OTERO, Pablo P. CAMPOMANES, Marcia P. D. LEON, Jean-Claude RAGE, Michel SAPANET, Mathieu SCHUSTER, Jean SUDRE, Pascal TASSY, Xavier VALENTIN, Patrick VIGNAUD, Laurent VIRIOT, Antoine ZAZZO, Christoph ZOLLIKOFER: A new hominid from the Upper Miocene of Chad, Central Africa. In: Nature 418 (2002), S. 145-151.

Einige Stationen der Menschwerdung

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Kopfgelenks) auf eine Zweibeinigkeit geschlossen. Allerdings spricht die Ausrichtung des Nackenmuskelfeldes eine eindeutige Sprache. Sind die Augenhöhlen nach vorne gerichtet, und nicht wie in der Originalpublikation nach oben, ist die Ausrichtung des Nackenmuskelansatzes mit Vierbeinern vergleichbar (Abb. 1). Für die Ausrichtung eines Schädels verwenden die Anthropologen die sogenannte Frankfurter Horizontale, eine Ebene die durch die untersten Punkte der Augenhöhle und den Oberrändern der Ohröffnung definiert ist. Bei den Menschenartigen liegt der höchste Punkt des Nackenmuskelfeldes, Inion genannt, auf der Ebene der Frankfurter Horizontalen. Bei den Menschenaffen befindet sich dieser Punkt jeweils weit über dieser Ebene. Der Schädel von Sahelanthropus ist stark deformiert, was die Interpretation der Formmerkmale wesentlich beeinflusst. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wurde eine virtuelle Schädelrekonstruktion vorgenommen.9 Es zeigt sich, dass das Nackenmuskelfeld etwas nach unten gerutscht ist. Allerdings bleibt das Inion immer noch in einer höheren Position. Der Winkel zwischen der Augenöffnung und dem Hinterhauptsloch rückt den Schädel in die Nähe des Menschen, wobei die beiden Schenkel des Winkels durch die Entwicklung des Überaugenwulstes einerseits und durch die Rekonstruktion der erwähnten Schädelöffnung andererseits beeinflusst werden.10 Die Scheitellinie wirkt ausnehmend flach und man fragt sich, wie sich die Lage des Hinterhauptsloches oder des Inions verändern würde, wenn eine ,normale‘ Wölbung der Hirnkapsel im Computer eingegeben würde. Somit reiht sich auch dieses Fossil in die Gruppe der fraglichen Hominiden ein. Ein eindeutiger Nachweis einer menschenartigen Körperhaltung ist nach wie vor nicht gegeben. Am Turkana-See in Kenia existierten Formen mit einem Alter von 4,1 Millionen Jahren.11 Dieser Australopithecus anamensis (anam = See) ist ebenfalls durch ein äffisches Gebiss ausgezeichnet. Die Frontzähne sind zwar noch affenähnlich groß, werden jedoch in menschenähnlicher Weise flach abgekaut, während bei den Menschenaffen die Eckzähne immer spitz bleiben und über 9

Christoph P. E ZOLLIKOFER, Marcia S. PONCE DE LEON, Daniel E. LIEBERMAN, Franck GUY, David PILBEAM, Andossa LIKIUS, Hassane T. MACKAYE, Patrick VIGNAUD, Michel BRUNET: Virtual cranial reconstruction of Sahelanthropus tchadensis. In: Nature 434 (2005), S. 755-759. 10 Milford H. WOLPOFF, John HAWKS, Brigitte SENUT, Martin PICKFORD, James AHERN: An Ape or the Ape. Is the Toumaï Cranium TM 266 a Hominid? In: PaleoAnthropology 2006, S. 36−50. 11 Meare G. LEAKEY, Craig S. FEIBEL, Ian MCDOUGALL, Alan WALKER: New four-million-year-old hominid species from Kanapoi and Allia Bay, Kenya. In: Nature, London 376 (1995), S. 565-571; Carol WARD, Meare LEAKEY, Alan WALKER: The New Hominid Species Australopithecus anamensis. In: Evolutionary Anthropology 7 (1999), S. 197-205.

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Peter Schmid

Abb. 1: Lateralansicht der Schädel von Homo sapiens (a), Australopithecus africanus (b), Pan troglodytes (c) und Sahelanthropus tchadensis (d), verändert nach Zollikofer et al.: reconstruction 2005. Die Schädel sind auf die Franfurter Horizontal (FH) ausgerichtet. Die Pfeile zeigen den höchsten Punkt des Nackenmuskelfelds. Die graue Fläche unterstreicht die Aufwölbung des Hirnschädels über der Augenöffnung. 1 = Umrisslinie von S. tchadensis nach Brunet et al.: hominid 2002. 2 = dieselbe Unrisslinie auf die FH orientiert. Man beachte die Ausrichtung des Nackenmuskelfeldes!

die Kauebene hinausragen. Vergleicht man die Kieferkonstruktion mit Formen, die zurzeit als mögliche Vorformen der Gattung Homo gelten wie zum Beispiel Australopithecus afarensis, so entspricht deren Morphologie ihrer Zeitstellung. Der affenähnliche Zahnbogen ist mit den heutigen Menschenaffen vergleichbar. Er ist U-förmig, da das Frontgebiss von den massiven Eckzähnen dominiert wird. Beim Menschen, dessen Eckzähne sich in die Schneidezahnreihen einfügen, wird von einem parabolischen Zahnbogen gesprochen. Die Verbindung der beiden Unterkieferäste ist durch eine, nach hinten gezogene knöcherne Verstärkung (,Affenplatte‘) charakterisiert. Dies steht im Gegensatz zu einer vertikalen Unterkiefersymphyse, wie sie für die späteren Formen beschrieben wird. Der Bewegungsapparat spricht jedoch eine deutlich andere Sprache. Schon 1968 hat man an dieser Fundstelle ein Oberarmfragment gefunden, das er-

Einige Stationen der Menschwerdung

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staunlich menschliche Züge zeigte. Die Fragmente eines Schienbeins gehören eindeutig zu einem menschlichen Funktionsmuster. Der Schaft unterhalb des Kniegelenks ist im Gegensatz zu den vierbeinigen Menschenaffen verstärkt, da offenbar das Körpergewicht vermehrt durch die Beine getragen wurde. Ein weiterer Unterschied betrifft die Ausrichtung der Sprunggelenksachse (Abb. 2). Bei kletternden Formen ist der Fuß einwärts gedreht und der Unterschenkel ist nach außen gerichtet. Zusammen mit dem Oberschenkel führt dies zu einer physiologischen O-Beinstellung. Der Winkel zwischen der Längsachse der Tibia und der Achse der Sprunggelenksrolle beträgt bei den kletternden Menschenaffen daher immer über 100°. Richten sich diese Tiere auf, stehen sie sehr breitbeinig. Wenn sie zweibeinig gehen, verlagern sie das Körpergewicht auf das Standbein, wobei sie den Rumpf über das Knie bringen. Dann wird der Köper in einer Rotationsbewegung nach vorne gedreht und auf das neue Standbein geneigt. Dies führt zu einem stetigen Hin- und Herwanken des Oberkörpers (Abb. 2a). Beim Menschen sehen wir eine physiologische X-Beinstellung, das heißt, der Oberschenkelschaft verläuft vom Hüftgelenk nach unten zur Körpermitte hin. Das Kniegelenk liegt entsprechend nahe am Schwerelot des Körpers, der ohne Schwierigkeit im Einbeinstand abgestützt wird. Der Unterschenkel steht zudem senkrecht auf dem Fuß und der Schaft bildet einen rechten Winkel mit der Gelenksrolle des Sprunggelenks. Damit liegt im Einbeinstand das Knie in der Schwerpunktachse, was beim zweibeinigen Gehen ein Hin- und Herwanken des Oberkörpers reduziert (Abb. 2b). Bei A. anamensis steht der Unterschenkel ebenfalls senkrecht auf dem Sprunggelenk (Abb. 2c). Diese Stellung bildet zusammen mit dem nach aussen gerichteten Oberschenkel die typisch menschliche X-Beinstellung. Somit ist eine Körperhaltung gewährleistet, die auf eine menschliche Fortbewegungsweise schließen lässt. Die Australopithecinen vom Turkana-See stellen deshalb die ältesten eindeutigen Zweibeiner dar. Dieselbe X-Beinstellung zeigt auch eine etwas jüngere Form von Australopithecus (A. afarensis13) aus Hadar in Äthiopien. Diese Fossilform ist durch ein aussergewöhnlich gut erhaltenes Skelett mit dem Namen „Lucy“ bekannt. Durch spiegelbildliche Ergänzung der Elemente ergeben die 40 % des Teilske-

12 Bryan PATTERSON, W. W. HOWELLS: Hominid humeral fragment from early Pleistocene of northwestern Kenya. In: Science 156 (1967), S. 64-66; Brigitte SENUT: Comparaison des hominidés de Gomboré 1B et de Kanapoi. Deux pièces du genre Homo? In: Bulletin et Mémoires de la Société d’Anthropologie, Paris 6 (1979), S. 111-117. 13 Donald C. JOHANSON, Owen C. LOVEJOY, William H. KIMBEL, Tim D. WHITE, Steven C. WARD, Michael E. BUSH, Bruce M. LATIMER, Yves COPPENS: Morphology of the pliocene partial hominid skeleton (A.L. 288-1) from the Hadar formation, Ethiopia. In: American Journal of Physical Anthropology 57 (1982), S. 403-451.

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Abb. 2: Stellung des Unterschenkels; (a) Verlagerung des Rumpfes beim Schimpansen; (b) Stabile Körperhaltung beim Menschen, ermöglicht durch die X-Beinstellung; (c) Ausrichtung des rechten Schienbein-Schafts in Bezug auf die Sprunggelenksachse. (KP-29285 = A. anamensis).

letts ein ideales Bild vom Körperbaus des Australopithecus afarensis.14 Ein Vergleich mit einem Schimpansen, der den kletternden Vierbeiner repräsentiert, und dem zweibeinigen Menschen lässt Rückschlüsse auf die Fortbewegung dieser möglichen Vorfahren zu. In den ersten Monaten nach der Entdeckung sprach man von einem rein menschlichen Körper auf dessen Schultern ein Menschenaffenkopf getragen wurde. Man sah Lucy in der Savanne umherziehen, wo sie sich nach der „Vertreibung aus dem Paradies“ behaupten musste. Mit zunehmenden Funden und wissenschaftlichen Analysen wurde jedoch allmählich klar, dass dieser Mythos nicht haltbar war. Zum einen stellt der Ur14 Peter SCHMID: Eine Rekonstruktion des Skelettes von A.L. 288-1 (Hadar) und deren Konsequenzen. In: Folia Primatologica 40 (1983), S. 283-306.

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Abb. 3: Aufrechte Haltung bei Schimpanse und Mensch; (a) Nackenmuskulatur verantwortlich für eine normale Kopfhaltung; (b) Lendenwirbelsäule, beim Menschen als Hohlkreuz (Lordose); (c) Stabilisation des Beckens (Mm. gluteai); (d) Körperschwerpunkt mit Schwerelot.

wald kein Paradies dar, denn die Nahrung ist nicht im Überfluss vorhanden und die Feinde haben ein leichtes Spiel, denn sie können oft nur erst spät entdeckt werden. Zum anderen stellte man fest, dass die Begleitfunde nicht einer Savannenumgebung entsprachen, sondern zu anderen Waldbewohnern wie Affen und blätterfressenden Huftieren gehörten. Was aber lehrt uns „Lucy“? Ein wichtiger Aspekt der Aufrichtung liegt in der Wirbelsäule. Die Rückenprobleme sind der Ausdruck dieses Phänomens. Oft wird behauptet, dass diese Schmerzen auf die unvollständige Neuerung der Zweibeinigkeit zurückzuführen seien. Unser Haltungsapparat stellt jedoch eine optimale Anpassung dar, wobei man allerdings berücksichtigen muss, dass er nur zu einem kleinen Teil aus der Hartsubstanz Knochen besteht. Ein Skelett kann nicht alleine stehen! Es braucht Bänder, Sehnen und vor allem trainierte Muskeln, um den Körper zu stützen und zu bewegen. Der Fehler liegt nicht in der Konstruktion,

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sondern in der zunehmenden Bewegungsarmut, unterstützt durch eine Überernährung. Die sitzende Lebensweise entspricht nicht unserer biologischen Struktur. Richtet sich ein Vierbeiner auf, geschieht dies hauptsächlich durch ein Strecken des Hüftgelenks und ein Beugen im Kniegelenk. Die Eingeweide und die schweren, stützenden Vorderbeine legen den Körperschwerpunkt auch bei optimal gestreckter Wirbelsäule nach vorne. Deshalb können die Knie nicht durchgestreckt werden, was einen wesentlichen Energieaufwand zur Stabilisation der Gelenke erfordert (Abb. 3). Der Mensch grenzt sich durch eine spezielle, ein Hohlkreuz bildende, Lendenwirbelsäule von den Vierbeinern ab. Die großen Menschenaffen zeigen eine Verkürzung und eine Versteifung der Lendenregion. Diese extreme Stabilisation des Rumpfes unter Reduktion der Lendenwirbelzahl impliziert, dass ein Vorfahre der Menschenartigen niemals von einem derart spezialisierten Bewegungsapparat, wie ihn die heutigen Menschenaffen zeigen, abgeleitet werden kann. Die Australopithecinen haben die Lendenwirbelzahl nicht reduziert und die Form der kleinen Wirbelgelenke unterscheidet sich von der starren Konstruktion der Schimpansen.15 Die Beweglichkeit erlaubt ein Hohlkreuz, eine sogenannte Lendenlordose. Dies schiebt den Oberkörper nach hinten, und der Körperschwerpunkt kommt innerhalb des Beckens zu liegen, was ein Durchstrecken der Hüft- und Kniegelenke erlaubt. Eine Vorbedingung für die aufrechte Körperhaltung. Beim Menschen ist die Form der Beckenschaufel durch eine Biegung verändert, die den Beckenkamm nach vorne dreht. Damit entsteht seitlich an der Hüfte eine breite Ursprungsfläche für eine Gruppe von Muskeln, die zum Oberschenkelknorren (Trochanter major) zieht. Dieses kräftige Muskelpaket (= Mm. glutaei) stabilisiert das Becken im Einbeinstand in der Horizontalen. Damit erlaubt es ein freies Vorschwingen des Schwungbeines im zweibeinigen Gang. Die äffische Schaufelform bei den Australopithecinen bedeutet einen unterschiedlichen Bewegungsablauf im Gehen. Dies mag sich in einem mehr watschelnden Gang äußern, denn das Becken dürfte nicht optimal stabilisiert worden sein, da das Darmbein nicht nach vorne, sondern nach außen verbreitert ist. Damit wird der Ursprung des großen Rückenmuskels (M. latissimus dorsii) verbreitert, ein wichtiger Klettermuskel, der den Hinterrand der Achselhöhle bildet. Er wird durch den großen Brustmuskel (M. pectoralis major) unterstützt, der die vordere Wand der Achselhöhle darstellt. Beide ziehen die Oberarme nach hinten, oder anders ausgedrückt, heben den Rumpf beim Hangeln an. 15 Sandra A. MARTELLI, Peter SCHMID: Functional Morphology of the Lumbar Spine in Hominoids. In: Courier Forschungsinstitut Senckenberg 243 (2003), S. 61-69.

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Beim Menschen sind die Ursprünge dieser Muskeln reduziert. Dafür erhalten die Beckenstabilisatoren eine große Ursprungsfläche. Zudem erhöht sich die Wirkung der seitlichen Bauchwandmuskeln, die vom vorderen Teil des Beckenkamms zum Brustkorb ziehen. Sie bewirken eine Drehung des Rumpfes in sich (Rumpftorsion). Dies mag dem Laien als unbedeutende Bewegung erscheinen, ist aber ein wichtiges Element beim Laufen, was relativ spät in der Trainingslehre erkannt wurde. Zweibeiniges Gehen und Rennen ist durch ein einbeiniges, exzentrisches Abstossen dominiert. Dabei droht der Körper, sich um die Längsachse zu drehen. Um dies zu verhindern, erfolgt im Oberkörper eine Gegenbewegung, die von einem aktiven Armschwung begleitet ist. Dieses gegengleiche Armschwingen ist umso kräftiger, je schneller gelaufen wird. Diese Schwünge werden zudem durch eine Rumpfverdrehung unterstützt, wobei sich die Schulterachse gegenüber der Beckenachse um ± 20° verdreht (Abb. 4a). Aufgrund der Rumpfkonstruktion müssen wir annehmen, dass die Australopithecinen unfähig waren, extreme Torsionsbewegungen durchzuführen.16 Die untersten Rippen waren lang und widerspiegeln die Krümmung der Beckenschaufeln. Letztere ist mit derjenigen der Menschenaffen vergleichbar und hat zur Folge, dass die seitlichen Bauchmuskeln nur ungenügend eine Rumpfdrehung veranlassen können. Zusätzlich verunmöglichen die langen Arme eine hohe Schwungkadenz, was bedeutet, dass diese Zwischenformen nicht rennen konnten. Ihr Körperbau ließe zwar einen effektiven zweibeinigen Gang zu, jedoch zeigen sich Unterschiede zum menschlichen Bewegungsrepertoire. Ihre Fortbewegungsweise ist mit aufrecht gehenden Menschenaffen vergleichbar, wobei der Körper um das Standbein rotiert. Ein Rennen wird durch die langen Arme und vor allem durch die fehlende Rumpftorsion verunmöglicht. Die Art und Weise, wie sich die Australopithecinen auf dem Boden bewegten, kann man heute auch an Indizien untersuchen, die nicht vom versteinerten Skelett abzuleiten sind. 1978 fand man am Rande eines ausgetrockneten Flussbettes in Laetoli (Tanzania) versteinerte Tierspuren, die vor mehr als 3 Millionen Jahren in einer feuchten Ascheschicht eines Vulkanausbruchs hinterlassen worden waren.17 Unter Hunderten von Abdrücken fanden sich die Wege von drei menschenartigen Fußpaaren, die über mehr als 20 Meter erhalten geblieben sind. Zwei der ungefähr 1,20 Meter hohen Individuen sind unmittelbar hintereinander gegangen, wobei sich die Abdrücke überlagerten. Im 16 Peter SCHMID: The trunk of the australopithecines. In: Yves COPPENS, Brigitte SENUT (Hgg.): Origine(s) de la Bipédie chez les Hominidés. Cahier de Paléoanthropologie. Paris 1991, S. 225-234. 17 Mary D. LEAKEY, Richard L. HAY: Pliocene footprints in the Laetolil Beds at Laetoli, northern Tanzania. In: Nature, London 278 (1979), S. 317-323.

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Gleichschritt daneben ging eine einzelne Person, bei der man eindeutig ein menschliches Längs- und Quergewölbe im Fuß ausmachen kann. Keiner der Abdrücke lässt eine abgespreizte Großzehe erkennen, wie sie für den Greiffuß eines Menschenaffen typisch ist. Im Geäst gibt ein affenartiger Greiffuß einen festen Halt, wobei die Großzehe mit einem Sattelgelenk ausgestattet ist, wie wir es an der Basis des menschlichen Daumens finden. In der Greifhaltung belastet der Affe den Außenrand des Fußes. Steht er auf dem Boden, senkt sich der Fuß ab und entspricht einem menschlichen ,Plattfuß‘. Es wurde weiter oben darauf hingewiesen, dass die ausgleichenden Torsionsbewegungen im Rumpf als Spezialmerkmal des menschlichen Ganges zu werten sind. Kinesiologische Analysen des zweibeinigen Ganges bei kleinen Menschenaffen (Hylobates lar) haben gezeigt, dass die Menschenaffen keine Verwindung im Rumpf durchführen können.18 Sie bewegen sich in passgangähnlichen Rotationsbewegungen fort, wobei sich die Schulterachse gegenüber der Beckenachse nicht verdreht. Damit wird klar, dass sich die menschliche Fortbewegungsweise von derjenigen der Menschenaffen wesentlich unterscheidet, indem das Rennen einen charakteristischen Teil darstellt, der bei letzteren fehlt. Im Bewegungsapparat äußert sich dies in einer starken Beweglichkeit im Rumpf sowie im aktiven Gegenschwung der Arme, welche durch das Anwinkeln die Pendellänge verkürzen und entsprechend höhere Kadenzen erlauben. Die Australopithecinen waren mit ihrer Beinstellung, bestimmten Hebelverhältnissen im Becken und einer menschlichen Lendenlordose perfekte Zweibeiner. Sie waren jedoch unfähig zu rennen, und bewegten sich wahrscheinlich in affenähnlichen Rotationsbewegungen. Eine Rumpftorsion wurde durch den starren Rumpf behindert. Dies wird durch die fossilen Fußspuren aus Laetoli in gewisser Weise bestätigt. Obwohl der menschliche Fuß praktisch sämtliche Muskeln bewahrt hat, welche den Affen das Klammern und Greifen erlauben, ist der Knochen- und Bandapparat dergestalt, dass er zu einer federnden Plattform wurde.19 Einerseits trägt der Außenrand das Gewicht wie bei einem äffischen Greiffuß. Andererseits ist ein Teil der Fußwurzel über den Außenfuß gelagert. Das dadurch entstandene Längs- und Quergewölbe vermag beim Gehen nicht nur Stöße zu dämpfen, sondern zugleich als eigentliche Blattfeder Energie zu speichern, die uns beim Abstoßen zugute kommt. Der Fuß stellt eine Bogen-Sehnenkonstruktion dar. Das Fußgewölbe wir durch eine Sehnenplatte verspannt, die von der Basis der Zehen zur Ferse zieht. Ein wichtigstes Element dieser Bogenkonstruktion stellt die Großzehe dar. Diese funktionelle Achse wird in der 18 Peter SCHMID, A. PIAGET: Three-dimensional kinematics of bipedal locomotion. In: Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 80 (1994), S. 79-87. 19 Herbert ELFTMAN, John MANTER: Chimpanzee and human feet in bipedal walking. In: American Journal of Physical Anthropology 20 (1935), S. 69-79.

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letzten Phase des Schrittzyklus beim Abstoßen gebraucht. Affen haben ,Plattfüße‘ und stoßen mit allen Zehen gleichzeitig ab. Beim menschlichen Gehen wird durch das Auftreten der Ferse die Bewegung gebremst. Anschließend wird das Körpergewicht über die Außenkante auf den Fußballen übertragen. Danach verlagert sich die Reaktionskraft auf die funktionelle Achse, das heißt auf die Großzehe. Dabei erfolgt während dem Abstoßen ein Kräftemaximum im Endbereich des ersten Mittelfußknochens. Auf Einladung des Getty Conservation Trust hatten wir die Gelegenheit, die Originalfußspuren zu untersuchen und uns Gedanken zur Funktionsmorphologie zu machen.20 Betrachtet man die Eintiefung eines Fußabdrucks als Dokument der Kraftübertragung im Fuß, stellt man bei den fossilen Spuren aus Laetoli eine Besonderheit fest. Im Unterschied zum normalen menschlichen Fuß, wo wir die tiefsten Eindrücke in der Ferse (Aufsetzen) sowie an der Basis der Großzehe (Abstoßen) finden, zeigen die Fossilspuren zwar eine starke Vertiefung in der Fersenregion, jedoch liegt das zweite Maximum am Endgelenk des fünften Strahls an der Außenkante (Abb. 4c). Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, diese Besonderheit experimentell zu analysieren.21 In einem Experiment mussten Vorschulkinder mit einer ungefähr gleich großen Fußlänge wie die Abdrücke aus Laetoli über eine Druckmessplatte gehen. Gleichzeitig wurde ein Fußabdruck genommen und die sich bewegenden Körpersegmente mit acht synchronen Kameras gefilmt. Ein Computer generierte zum einen eine Kraftübertragungslinie auf dem Fußabdruck. Zum anderen konnte die anguläre Abweichung der Körpersegmente aufgezeichnet werden, wobei ein spezieller Schwerpunkt auf die Verdrehung von Schulter zur Beckenachse gelegt wurde. Abbildung 4a zeigt die Kraftübertragung bei normalem Gang, wobei sich der Rumpf durchschnittlich um ±20° verdrehte. In einer zweiten Serie mussten die Kinder einen großen Gymnastikball vor sich her tragen, wobei eine normale Rumpfverdrehung und die pendelnde Ausgleichsbewegung der Arme verhindert wurde. Daraus resultierte ein affenähnlicher ,Passgang‘. Erstaunlicherweise veränderte sich das Bild der Kraftübertragung im Fuß auf charakteristische Art und Weise (Abb. 4b). Neben dem Fersenmaximum erfolgte ein starker Druck auf der Außenseite des Fußes.

20 Craig S. FEIBEL, Neville AGNEW, Bruce LATIMER, Martha DEMAS, Fiona MARSHALL, Simon A. C. WAANE, Peter SCHMID: The Laetoli Hominid Footprints. A Preliminary Report on the Conservation and Scientific Restudy. In: Evolutionary Anthropology 4 (1996), S. 149-154. 21 Peter SCHMID : Functional Interpretation of the Laetoli Footprints. In: D. Jeffery MELDRUM, Charles E. HILTON (Hgg.): From Biped to Strider. The Emergence of Modern Human Walking, Running, and Resource Transport. New York 2004, S. 49-62.

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Abb. 4: Kraftübertragung im Fuss bei unterschiedlichen Gangarten und in den fossilen Fussabdrücken von Laetoli, Tanzania.

Dies widerspiegelt exakt die Verhältnisse, welche bei den 3,7 Millionen Jahre alten Fußspuren angetroffenen wurden (Abb. 4c). Das Skelett der Australopithecinen zeigt deutlich, dass es sich im Bewegungsapparat nicht um ein rein menschliches Muster handelt. Bereits der erste Fund eines fossilen Beckens dieser Gruppe gab zu Diskussionen Anlass.22 So sind die Beckenschaufeln der Australopithecinen, ähnlich wie bei den großen Menschenaffen, nach der Seite weit ausladend (siehe oben). Das Bewegungsspektrum dieser Formen enthielt sicher einen Anteil an menschenähnlicher, zweibeiniger Fortbewegungsweise. Das Klettern bildete aber einen wesentlichen Bereich, der beim Menschen extrem reduziert ist. Diese Bewegungskomponente wird durch zahlreiche affenähnliche Besonderheiten in Händen, Armen, Schulter und Rumpf erkennbar.23 22 John T. ROBINSON: Early hominid posture and locomotion. Chicago / London 1972. 23 John G. FLEAGLE: Primate Adaptation and Evolution. San Diego 21999; Henry M. MCHENRY: First steps? Analyses of the postcranium of early hominids. In: Yves COPPENS, Brigitte SENUT (Hgg.): Origine(s) de la Bipédie chez les Hominidés. Cahier de Paléoanthropologie. Paris 1991, S. 133-141; Randall L. SUSMAN, Jack T. STERN JR., William L. JUNGERS: Locomotor adaptations in the Hadar hominids. In: Eric DELSON (Hg.): Ancestors. The Hard Evidence. New York 1985, S. 184-192.

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