Verstöße und Verstoßung Thilo Sarrazins. Zur Begrenzung

January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Sozialwissenschaften, Soziologie, Diskriminierung
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Neue Folge 46

Frankfurter MontagsVorlesungen

Politische Streitfragen in zeitgeschichtlicher Perspektive

Verstöße und Verstoßung Thilo Sarrazins. Zur Begrenzung politischer Meinungsfreiheit in Deutschland

Egbert Jahn

19. Oktober 2015

Adresse des Autors:

Prof. em. Dr. Egbert Jahn Goethe-Universität Frankfurt am Main Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften Institut für Politikwissenschaft Theodor W. Adorno-Platz 6 D-60323 Frankfurt Tel.: +49-69-798 36653 (Sekretariat) E-mail-Adresse: [email protected] http://www.fb03.uni-frankfurt.de/46500384/ejahn

© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

2 Zusammenfassung Im Abstand von wenigen Jahren reißt in Deutschland immer wieder eine tiefe Kluft zwischen der politischen korrekten Meinung, die von fast der gesamten politischen und gesellschaftlichen Führungsschicht und einem großen Teil der Bevölkerung öffentlich vertreten wird, und der Stammtischmeinung auf, die von einer starken Minderheit oder manchmal gar der Mehrheit der Bevölkerung nur halböffentlich geäußert wird. So hat Thilo Sarrazin Ende August 2010 mit einem Buch und mit wenigen Sätzen in Interviews gegen die herrschenden Normen der „Gemeinschaft der Demokraten“ verstoßen und sollte deshalb aus ihr verstoßen werden. Die tiefe Kluft zwischen politischer Klasse und Stammtisch, die durch die Ankunft von Millionen Flüchtlingen in diesen Jahren erneut aufbrechen wird, kann auf die Dauer gefährlich für die Demokratie in Deutschland werden und das bestehende Parteiensystem erschüttern. Sie könnte dadurch verringert werden, daß die politischen Ängste und Vorstellungen großer Teile der Gesellschaft in den Medien, in den Verbänden und Parteien ohne die üblichen rituellen Formeln der Ächtung („Rassismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Volksverhetzung“, „Faschismus“) öffentlich diskutiert und ihre jeweiligen Irrtümer und Gedankenfehler sachlich aufgezeigt werden, anstatt einem Thilo Sarrazin zu empfehlen, in die NPD überzutreten oder eine neue rechtsradikale Partei zu gründen, dies in der gefährlichen und eitlen Hoffnung, ihn damit politisch bedeutungslos zu machen. Die Sarrazin-Debatte könnte lediglich ein Vorspiel zur derzeit sich verschärfenden Flüchtlingsdebatte gewesen sein. Ein überzeugendes Konzept der Integration von türkischen und arabischen Muslimen und von sozialen Unterschichten wäre die einzig richtige Antwort auf Sarrazins Provokationen. Der Ausschluß von Außenseitern aus den etablierten Institutionen könnte auf die Dauer ein verhängnisvoller Weg sein. Von unsäglichen Herabwürdigungen sozialer und ethnisch-religiöser Gruppen abgesehen enthält das Buch zahlreiche wichtige politische Denkanstöße für einen Kurswechsel in der Einwanderungs-, Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik. Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, in dem der Anteil der muttersprachlich deutschen Bevölkerung in Zukunft drastisch abnehmen wird. Die „sprachliche Integration“ wird nur mäßige Erfolge bei der Deutschwerdung von Angehörigen eingebürgerter ethnischer Gruppen mit anderer Muttersprache zeitigen. Freiwillige sprachliche Assimilation und sprachliche Differenz sind gleichermaßen in einer liberalen Gesellschaft legitim. Aber das Migrationstempo ist heute wesentlich schneller als das Assimilationstempo. Die ethnischen Deutschen können nicht erwarten, daß Eltern anderer Ethnizität deutsche Kinder zeugen und erziehen. Sie müssen selbst ihre Geburtenenthaltung beenden, wollen sie nicht zur Minderheit in Deutschland werden. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

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Man wird ja doch wohl noch sagen dürfen

Seit dem Vorabdruck des Buches „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ von Thilo Sarrazin1 in „Der Spiegel“2 und in der „Bild“-Zeitung3 am 23. August 2010 beherrscht4 die Kontroverse um Sarrazins Thesen zu den demographischen und ethnoreligiösen Veränderungen in Deutschland, zur Fehlentwicklung des Sozialstaats, zur Senkung des Bildungsniveaus der Auszubildenden und Abiturienten, zur mangelhaften Integration von muslimischen Immigranten in Deutschland und Europa sowie insbesondere um einige seiner provokanten Formulierungen und Entgleisungen in Interviews wochenlang die Titelseiten der Zeitungen, der Meldungen in Rundfunk und Fernsehen und vor allem zahlreiche Talk-Shows. Wieder einmal öffnete sich in Deutschland rasch eine tiefe Kluft zwischen der politischen korrekten Meinung, die von fast der gesamten politischen und gesellschaftlichen Führungsschicht und einem Teil der Bevölkerung öffentlich vertreten wird, und der Stammtischmeinung, die von einer starken Minderheit oder manchmal gar der Mehrheit der Bevölkerung nur halböffentlich in Meinungsumfragen, Leser- bzw. Zuhörerbriefen und Anrufen geäußert wird. Die Verurteilung der Äußerungen Thilo Sarrazins in der politischen Klasse ist fast einhellig.5 Nach Ansicht zahlreicher Politiker aus allen Bundestagsparteien hat Thilo Sarrazin mit einigen Thesen zur Vererblichkeit von Intelligenz sowie mit wenigen Sätzen in Interviews gegen die herrschenden Normen der „Gemeinschaft der Demokraten“ verstoßen und sollte deshalb aus ihr verstoßen werden. Aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank, dem er auf Vorschlag des Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit seit Mai 2009 angehörte, wurde er bereits Anfang September 2010 mit Wirkung zum Ende desselben Monats verdrängt, aus der SPD soll er möglichst bald ausgeschlossen werden. Demgegenüber ist die Zustimmung zu Sarrazins Thesen überwältigend. Beispielsweise stimmten während der Sendung „hart aber fair“ Frank Plasbergs am 1. September 2010 84 Prozent der Zuschauer Sarrazins Thesen zu, nur 16 Prozent nicht. Dabei bleibt jedoch unklar, welche seiner Thesen denjenigen bekannt sind, die Partei für ihn ergreifen, und welche darunter tatsächlich Zustimmung finden. Viele Parteigänger Sarrazins traten auch nur dafür ein, daß das, was er sagt und schreibt, öffentlich gesagt werden darf, ohne daß es sogleich geächtet und in die Ecke verwerflichen Rassismus und Nationalsozialismus gestellt wird. Vermutlich spielen Sarrazins Ansichten über die soziale Verteilung und die Vererbung von Intelligenz bei seinen Parteigängern gar keine Rolle, entscheidend für sie ist seine scharfe Kritik an dem zu großzügigen Sozialstaat und an der als zu groß empfundenen Zahl unangepaßter, nicht integrierter oder integrierbarer muslimischer Zuwanderer. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

4 Zur Debatte steht nicht die Meinungsfreiheit in Deutschland schlechthin. Kein führender Politiker fordert eine strafrechtliche Ahndung der Äußerungen Sarrazins wie etwa im Falle einer Leugnung des millionenfachen Massenmordes an den Juden. Keine von den Regierenden gedungene Gewalttäter bedrohen Gesundheit oder Leben Sarrazins, womit Andersdenkende in manch anderen Ländern rechnen müssen. Niemand bestreitet das Recht Sarrazins, seine Ansichten öffentlich zu vertreten. Er hat auch einen renommierten Verlag für die Herausgabe seines Buches gefunden, der dafür nicht von anderen Autoren boykottiert wird. Wohl aber wurde durch die Medien und die rigiden politischen Verurteilungen eine politische Atmosphäre erzeugt, in der private Morddrohungen Polizeischutz für den Buchautor erforderlich machen, und in der zahlreiche private Strafanzeigen wegen Volksverhetzung gestellt werden, auch wenn sie vermutlich erfolglos bleiben werden. Worum es ging, war, ob Sarrazin und Gleichgesinnte aus dem Kreis der seriösen und etablierten „Gemeinschaft der Demokraten“ verbannt und in die Randgruppe rechtsextremer Publizisten und Politiker verdrängt werden sollen, die aus den Foren der öffentlichen Meinungsbildung in Deutschland, aus den beiden Volksparteien und den anderen etablierten Parteien, vor allem aber aus den Fernseh- und Hörfunkmedien und aus den Erwachsenenbildungseinrichtungen ausgeschlossen ist. Es entstand jedenfalls der Eindruck, daß Sarrazin zwei Wochen lang in allen Talksshows vorgeführt und an den Pranger gestellt, von prominenten Politikern und Publizisten scharf verurteilt und von jungen, attraktiven, intelligenten und perfekt deutsch sprechenden Musliminnen sicht- und hörbar widerlegt werden sollte, um ihn anschließend wie alle früheren politischen Tabubrecher in der Versenkung verschwinden zu lassen.6 Die vielfach wiederholte Aufforderung an Sarrazin, sich um eine Aufnahme in die NPD zu bewerben oder eine eigene, rechtspopulistische Partei zu gründen, von der man selbstgefällig und leichtfertig vermutete, daß sie rasch ins politische Abseits und in der Bedeutungslosigkeit versinken wird, war nichts anderes als ein Versuch, Sarrazins Auffassungen aus dem als demokratisch legitim angesehenen Meinungsspektrum zu verbannen. Fünf Jahre später, nach den recht großen Erfolgen rechtspopulistischer Parteien in vielen europäischen Ländern, würde man diese Empfehlung an Sarrazin nicht wiederholen. Insofern ging es 2010 um kein Verbot von Sarrazins Meinungen, wohl aber um eine drastische Begrenzung der Meinungsfreiheit in den etablierten demokratischen Parteien, Verbänden und staatlichen Verwaltungen. Damit ging es durchaus um das, was man sagen darf und was nicht, um in der etablierten Öffentlichkeit als ernst zu nehmender Gesprächspartner und politischer Konkurrent anerkannt zu werden oder nicht. Auch in vielen Einrichtungen war wohl eine Stellungnahme zugunsten von © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

5 Sarrazin mit beträchtlichen beruflichen oder gesellschaftlichen Nachteilen verbunden, so daß die Sorge, manches nicht öffentlich sagen zu dürfen, nicht völlig unberechtigt ist. Zweifellos muß eine demokratische, liberale Gesellschaft Regeln setzen, die nicht unter Strafe des Ausstoßes aus dem allgemein akzeptierten pluralistischen Meinungsspektrums verletzt werden dürfen. Die Streitfrage, die hier zu diskutieren ist, ist, ob Sarrazins Kernthesen in seinem Buch und seine verbalen Entgleisungen es rechtfertigten, ihn aus dem Kreis der öffentlich ernst zu nehmenden politischen Meinungsvertreter auszuschließen und ihn in die rechtsextreme Ecke zu stellen, damit indirekt auch die große Mehrheit seiner Fürsprecher. Bei der Kontroverse um Sarrazin lassen sich mindestens sechs recht verschiedene Streitpunkte und Fragen benennen: Erstens, ist ein prominenter Finanzexperte und Politiker wie Sarrazin mit seinen in einem Buch und in Interviews zugespitzten Äußerungen innerhalb der etablierten Institutionen (hier Deutsche Bundesbank und Sozialdemokratische Partei Deutschlands) trag- und tolerierbar oder nicht? Zweitens, ist die offensichtliche Kluft zwischen den vorherrschenden Meinungen in der politischen Klasse einerseits und in einem großen Teil, wenn nicht gar in der Mehrheit der Bevölkerung andererseits auf die Dauer eine Gefahr für die Demokratie in Deutschland? Drittens, verweist Sarrazin im wesentlichen sachgerecht bei aller Strittigkeit von manchen empirischen Daten und Befunden auf wesentliche, vor allem an ihnen selbst liegende Integrationsdefizite von Migranten, und zwar fast ausschließlich von türkischen und arabischen Muslimen, nicht von Migranten schlechthin? Viertens, sind seine Erklärungsweisen dieser Integrationsdefizite mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Vererbung von Intelligenz in sozialen Schichten, Ethnien und religiösen Kulturen vereinbar? Fünftens, sind seine Vorschläge zur Überwindung der Integrationsdefizite eine Bereicherung für die politische Debatte und Entscheidungsfindung? Sechstens, drohen die autochthonen Deutschen langfristig bereits nach wenigen Generationen zu einer Minderheit in der Bevölkerung zu werden und sollte dies durch eine veränderte deutsche Politik verhindert werden? Hier lassen sich nicht all die sozialen, ökonomischen, bildungspolitischen Argumente und die Intelligenzvererbungslehre Sarrazins diskutieren. Es sollen deshalb nur die Umgangsweise mit seiner Person und seinem Buch sowie die sprachlich-ethnopolitischen Aspekte von Sarrazins Befunden und Argumenten näher erörtert werden. Auf den heftigen öffentlichen Streit über die sozial und ethnisch unterschiedliche Vererbung von Intelligenz7 braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, weil selbst dann, wenn Intelligenz in allen Schichten und Ethnien gleich verteilt wäre, dies nicht viel an den stichhaltigen Argumenten Sarrazins über die ungleiche soziale und ethnische Verteilung von Bildungsanreizen und bildungshinderli© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

6 chen familiären Verhältnissen ändert, außerdem nichts an weiteren Verringerung des Anteils der muttersprachlichen Deutschen an der Bevölkerung. Außerdem kann an der Tatsache riesiger Begabungsreserven, die noch nicht für den ökonomischen und soziokulturellen Fortschritt genutzt werden, kein Zweifel bestehen, auch wenn Sarrazin sie als geringer ansieht als andere.

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Mutiger Tabubrecher oder rassistischer Demagoge?

Auf der einen Seite wird die etablierte öffentliche Meinung gern als bloß veröffentlichte denunziert, weil sie manchmal mit den in großen Teilen der Bevölkerung, hin und wieder auch einer starken Mehrheit, vertretenen Ansichten nicht übereinstimmt. Die demoskopisch ermittelte, in den Medien kaum vertretene Meinung eines großen Teils der Bevölkerung gibt dabei vor, das zu artikulieren, was die meisten Menschen, selbst im Establishment, wirklich denken, nicht das, was sie denken „müssen“. Dabei wird Deutschland wehleidig zur quasi totalitären Gesellschaft stilisiert, in der eine kleine Machtelite zynisch ein ideologisches Weltbild formuliert, das die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse verzerre und wahrheitswidrig schönrede und die selbst oft nicht glaube, was sie sage, ihre konforme Meinung aber der Masse der angepaßten Funktionsträger diktiere. Der im Geiste der derzeitigen political correctness Verfemte wird von Volkesstimme nicht selten als mutiger Tabubrecher gefeiert, der endlich einmal die Wahrheit über die mißlingende Integration und die zu große Zahl der Muslime gesagt habe. „Der Spiegel“ titelte am 6. September 2010 gar „Volksheld Sarrazin“,8 um ihn gleichzeitig im Untertitel als Provokateur abzuqualifizieren, dem viele Deutsche verfallen seien, was die Massen ja gemeinhin nur bei Demagogen und Diktatoren zu tun pflegen, nicht bei Demokraten. Sarrazin selbst hat „ein Heer von Integrationsbeauftragten, Islamforschern, Soziologen, Politologen, Verbandsvertretern und eine Schar von naiven Politikern“ im Visier9. Nebenbei: das klingt ganz nach Helmut Schmidt10-Schnauze, der seinerzeit gelegentlich verächtlich von den Soziologen, Politologen und anderen Ideologen sprach. Auf der anderen Seite wird geargwöhnt, daß an den Stammtischen dumpfe, ausländerfeindliche und rassistische Vorurteile aus der vom Nationalsozialismus mitgeprägten deutschen Vergangenheit gepflegt werden, die von einer Verunsicherung der deutschen Mittelschicht und Gesellschaft durch die Herausforderungen der Globalisierung zeugen und die neuerdings von Sarrazin bedient würden. Es spricht viel dafür, daß Thilo Sarrazin ein einziger Satz in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ vom 28. August, den er selbst wenige Tage später in der Sendung „Hart aber fair“ als Riesenunfug charakterisierte, ihm das politische Genick in der öffentlichen Meinung gebrochen hat: „Alle Juden haben ein bestimmtes Gen, Bas© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

7 ken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“11 Hätte er statt Juden Ostfriesen oder Isländer gesagt, so meinte Sarrazin nun, so hätte das kaum Aufsehen erregt. So aber geriet Sarrazin trotz seiner zahlreichen lobenden Passagen in seinem Buch über die Intelligenz der Juden und ihre kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle in Deutschland und der Welt in den Verdacht, dem Antisemitismus und Rassismus Vorschub zu leisten. Es rettete ihn nicht, daß er vehement für die Aufnahme von möglichst vielen osteuropäischen Juden in Deutschland plädierte, weil sie im Durchschnitt intelligenter seien als die Deutschen. Seine zahlreichen muslimophoben Äußerungen hatten zwar heftige Kritik an seinem Buch und seinen Interviews hervorgerufen, aber mit dem Satz über das jüdische Gen überschritt Sarrazin nach Ansicht führender Politiker in Regierung und in SPD „die rote Linie“, die seine Verdrängung aus der Deutschen Bundesbank und auch, so hofften viele, aus der SPD auslöste. Die fünf Kollegen Sarrazins im Vorstand der Deutschen Bundesbank erklärten zunächst, die politischen Äußerungen Sarrazins und sein Buch seien seine Privatangelegenheit. Dann meinten sie, er habe mit seinen Provokationen „das Gebot der politischen Mäßigung verletzt“ und den Betriebsfrieden in der Bank beeinträchtigt. Deshalb beantragten sie seine Amtsenthebung beim Bundespräsidenten Christian Wulff, nachdem dieser selbst und die Bundeskanzlerin Angela Merkel ihnen dies in öffentlichen Stellungnahmen nahegelegt hatten. Da aber eine Abberufung auf erhebliche rechtliche Bedenken stieß, vermittelte das Bundespräsidialamt. Die Bundesbank nahm ihre Vorwürfe an Sarrazin zurück, zog ihren Entlassungsantrag zurück und sagte ihm eine großzügige Pensionsregelung zu, woraufhin Sarrazin selbst den Bundespräsidenten um die Beendigung seiner Amtstätigkeit bei der Bundesbank bat. Bei diesem ganzen Vorgang der faktisch erzwungenen Amtsenthebung Sarrazins hinterließen der Vorstand der Deutschen Bundesbank, der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin ein äußerst bedenkliches Bild im Umgang mit der politischen Meinungsfreiheit von Amtsinhabern an herausgehobener Stelle. Zum Verlauf des Streits über Sarrazin hat die ehemalige Bundesbeauftragte für Ausländerfragen Cornelia Schmalz-Jacobsen in einem Leserbrief an die FAZ Überzeugendes geschrieben: „Was immer Sarrazin geschrieben hat – Wahres, Halbwahres, Unsinniges und vielleicht auch Unsägliches – die Reflexe der politischen Klasse sind vielfach erschreckender als Sarrazins Zitate. Kollektive Wut, Abscheu im Chor bis in die höchsten Spitzen unseres Staates – Augenmaß und Sinn für Balance bleiben auf der Strecke.“12 Zahllose Kommentatoren qualifizierten, ohne sich im einzelnen mit Sarrazins Thesen und ihren ausführlichen inhaltlichen Begründungen auseinanderzusetzen, pauschal oder anhand einiger Zitate diese als „rassistisch“, „nationalsozialistisch“, „rechtspopulistisch“, „rechtsex© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

8 trem“, „demagogisch“ im Geiste der „Rassenhygiene“ und „Eugenik“ und als „Verstöße gegen die Menschenwürde“, oft ohne eingestandenermaßen sein Buch gelesen zu haben. Auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte leiteten SPD-Gliederungen auf allen Ebenen bis zum Bundesvorstand mit unterschiedlichen Begründungen ein Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel ein, Sarrazin aus der Partei auszuschließen. Der Parteivorstand erklärte, Sarrazins Thesen stünden „diametral den sozialdemokratischen Überzeugungen entgegen“ und befänden sich teils in der „Nähe zu nationalsozialistischen Theorien.“ 13 Gegen die diskreditierenden Qualifizierungen des Buches von Sarrazin und gegen seine Ächtung traten aber auch einige wenige Publizisten und Wissenschaftler (etwa Necla Kelek, Ralph Giordano, Arnulf Baring, Peter Sloterdijk, Hans-Ulrich Wehler14) und Politiker auf, und in auffallender Weise vor allem auch prominente ehemalige Amtsträger der SPD wie Klaus von Dohnanyi,15 Peter Struck, Helmut Schmidt, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück, ohne daß sie sich zu den Inhalten von Sarrazins Buch näher äußerten, während die aktiven Amtsträger in den Chor der Verdammung Sarrazins und der Vernichtung seines Rufes als seriöser sozialdemokratischer Politiker und Autor einstimmten oder schwiegen. Als Entgegenkommen an die mehrheitliche Volksmeinung kann man ansehen, daß Sarrazin zugebilligt wurde, einige Integrationsschwierigkeiten von Muslimen deutlich aufgezeigt zu haben, wobei er aber die vielen sichtbaren Erfolge der Integration nicht recht würdige.

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Die gefährliche gesellschaftliche Spaltung in politische Korrektheit und Stammtischwahrheit

Thilo Sarrazin (geb. 1945) war nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre kurze Zeit als Wissenschaftler tätig, dann seit 1975 als Finanzexperte im öffentlichen Dienst. So im Bundesfinanzministerium, im Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, im Finanzministerium Rheinland-Pfalz, in der Treuhandanstalt und im Internationalen Währungsfonds. Zeitweise war er auch bei der Deutschen Bahn AG beschäftigt, wo er gegen eine Kapitalprivatisierung opponierte und ein Volksaktienmodell entwickelte. Er ist seit 1973 Mitglied der SPD. Als Finanzsenator in Berlin verfolgte er von 2002 bis 2009 einen rigiden Sparkurs und sanierte erfolgreich den Landeshaushalt. In dieser Zeit erweckte Sarrazin bereits großes Aufsehen mit provokanten Äußerungen über angeblich weit verbreitete, schlechte Ernährungs- und Heizungsgewohnheiten von Empfängern des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV-Empfänger). Bald darauf wurde er vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit im Mai 2009 in den sechsköpfigen Vorstand der Deutschen Bundesbank weggelobt. Auch danach rief Sarrazin mit ei© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

9 nigen nebenbei gefallenen Äußerungen in einem Interview mit „Lettre International“ (Heft 86) über die wirtschaftliche Entwicklung Berlins im September 2009 Empörung hervor, worauf sich die anderen Vorstandsmitglieder der Bundesbank von seinen „diskriminierenden Äußerungen“ distanzierten und ihm eine wichtige Amtsaufgabe entzogen. Sarrazin sagte damals: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. … Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert. Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“16 Ein damals angestrengtes Ausschlußverfahren in der Berliner SPD gegen Sarrazin scheiterte. In den darauffolgenden Monaten schrieb dann Sarrazin das Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“, das am 30. August 2010 erschien und von dem eine Woche zuvor die erwähnten Auszüge erschienen. Letztere sowie wenige Sätze aus dem Buch und insbesondere aus Interviews riefen sogleich eine noch viel heftigere Empörung als die zitierte Passage aus dem Interview des Vorjahres hervor. Das Buch geriet aber nach seiner scharfen Verurteilung durch die Mehrheit der politischen Klasse sogleich an die Spitze der Bestsellerlisten. Bereits nach wenigen Wochen stieg die Auflage auf fast eine Million. Obwohl sich die meisten Politiker empört von Sarrazin distanzierten, übernahmen viele von ihnen einige seiner integrationspolitischen Forderungen. Plötzlich wurde die „Deutschenfeindlichkeit“ vieler Migranten ein Thema, nachdem zuvor nur ständig über die Fremden- und Ausländerfeindlichkeit bzw. die Islamophobie vieler Deutscher geklagt worden war. Die vehemente Verkündigung des Todes von Multikulti durch die Bundeskanzlerin und noch schärfer durch den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer sowie die Wiederbelebung der Parole der deutschen Leitkultur17 Mitte Oktober sowie der These, Deutschland sei kein Einwanderungsland, sind ein bloß rhetorischer Tribut an die zahlreichen Parteigänger Sarrazins. Nun wurden heftig die Integrationsunwilligkeit und die mangelhaften Deutschkenntnisse vieler Migranten angeprangert, die zu sanktionieren seien bis zum Hartz IV-Entzug. Bundespräsident Christian Wulff widmete sich in der zweiten Hälfte seiner Rede zum Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober ausführlich den Themen Sarrazins, ohne dessen Namen zu erwähnen, und schuf seinerseits mit der pauschalen, inhaltlich unausgeführten und vielfältig deutbaren Behauptung „Der Islam gehört zu Deutschland“18 einen neuen Stein des Anstoßes in großen Teilen der Bevölkerung und vor allem in seiner Herkunftspartei CDU und © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

10 in der CSU. Die Formulierung besagt ja wohl mehr als die triviale Tatsache: Viele Muslime sind mittlerweile deutsche Staatsbürger oder gehören zur Bevölkerung der Bundesrepublik. Niemand kann übersehen, daß in den vergangenen Jahrzehnten viele Millionen Ausländer eingewandert und zum Teil eingebürgert wurden; niemand kann die offensichtlichen Zeugnisse der muslimischen Alltagskultur im Lande übersehen. Die Gesetze zur Familienzusammenführung werden unvermeidlich weitere Einwanderung zur Folge haben und prominente Wirtschaftsvertreter verlangen im derzeitigen Konjunkturaufschwung Hunderttausende neuer, qualifizierter Einwanderer aus beliebigen Kulturen. Einwanderung und Multikulturalisierung sind unbezweifelbare und unabänderliche Realitäten in Deutschland; es läßt sich lediglich darüber sinnvoll streiten, wie beide Prozesse in Zukunft zu gestalten sind. Davon handelt auch der seriöse Kern des Buches Sarrazins, den er durch seine unsäglichen Ausfälle verdeckt.

EXKURS: Die Kernaussagen in Sarrazins Buch Im folgenden sei der Versuch unternommen, die Kernaussagen der 463 Seiten seines Buches zu erfassen, was ausnahmsweise zur Ausdehnung des Umfangs der Vorlesung führen wird. Das Buch befaßt sich mit der allgemeinen Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik in Deutschland, bei der Einwanderungs- oder Migrationspolitik und Integrationspolitik nur einen, wenn auch wichtigen Teil seiner Abhandlung ausmachen. Sarrazin geht von dem bevölkerungspolitischen Trend der letzten Jahrzehnte aus, daß die Bevölkerungszahl in Deutschland trotz wachsender Lebenserwartung infolge niedriger Geburtsraten drastisch sinken wird. Auch die Zuwanderung von Ausländern werde diesen Trend nicht aufhalten können, außerdem werfe die bisherige Einwanderungspolitik erhebliche wirtschaftliche, soziale und kulturelle Probleme auf, die bislang in ihren drastischen Ausmaßen nicht ins allgemeine öffentliche Bewußtsein gedrungen seien. Eine Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau gilt allgemein als Voraussetzung für einen Erhalt der bestehenden Bevölkerungszahl. Ausgehend von einer seit 45 Jahren unveränderlichen extrem niedrigen Geburtenrate von 1,4 Kindern pro deutscher Frau werde sich die Bevölkerungszahl in Deutschland, falls kein Umdenken in Politik und Gesellschaft stattfinde, in jeder Generation um ein Drittel verringern, also von derzeit 82 Millionen auf 25 Mio. in 100 Jahren, dann auf 8 Mio. in 200 Jahren und auf 3 Mio. in 300 Jahren19. Das soll keine Prognose sein; ganz im Gegenteil: Sarrazin will den vorhandenen Trend aufhalten. Dieser Rückgang der Geburtenzahl werde sich kaum durch Zuwanderung von qualifizierten Ausländern ausglei© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

11 chen lassen, allenfalls durch weitere Migranten ins sozialstaatliche System, das irgendwann zusammenbrechen müsse. Außerdem würden bereits in drei Generationen die autochthonen Deutschen (also die bodenständigen Deutschen, die Sarrazin „Einheimische“ im Unterschied zu denen „mit Migrationshintergrund“ oder „Migranten“ nennt) nur noch die Hälfte der Bevölkerung darstellen, so daß in wenigen Generationen die „Urdeutschen“, wie sie Frank Plasberg aus Ermangelung eines geeigneten Worts in seiner Sendung über Sarrazins Buch und Interviews am 1. September nannte, eine Minderheit im eigenen Land werden würden, wie das bereits heute in vielen deutschen Stadtteilen und manchen kleinen Städten der Fall ist. Mit anderen Worten: „Die Deutschen hätten sich damit quasi abgeschafft“.20 Und damit Deutschland als deutsches Land. Dies fände Sarrazin bedauerlich. Sein Buch richtet sich nicht so sehr gegen Ausländer und Migranten, insbesondere gegen muslimische Türken und Araber, wie vielfach angenommen wird, sondern vorrangig gegen die Bevölkerungs-, Sozial- und Bildungspolitik der Deutschen selbst, dann auch gegen ihre Einwanderungspolitik. Wahrscheinlich deshalb reagierte die politische Klasse so auffällig hektisch und empört. Da die „Migranten“ eine weit günstigere Altersstruktur besitzen als die „Einheimischen“21 und heute schon ein großer Teil der jungen Generation in der Gesamtbevölkerung, nämlich 30 Prozent der unter 15-Jährigen, Migranten seien, die kein oder nur wenig deutsch sprächen, werde sich die ethnisch-sprachliche Struktur Deutschlands stark verändern. Sarrazin benutzt nicht den politisch „unkorrekten“ Ausdruck der „Überfremdung“, meint ihn aber zweifelsohne nicht im biologisch-genetischen, sondern im kulturellen Sinne. Er bezeichnet es als „absolut realistisch, daß die muslimische Bevölkerung durch eine Kombination von hoher Geburtenrate und fortgesetzter Einwanderung bis 2100 auf 35 Millionen wachsen wird“, während bei gleichbleibend niedriger Nettoreproduktionsrate der deutschen autochthonen Bevölkerung deren Zahl auf 20 Mill. sinken werde,22 so daß Deutschland dann ein mehrheitlich muslimischer, türkisch-arabischer Staat geworden sei, der seine wirtschaftlich-technische und wissenschaftliche Weltgeltung und seinen Wohlstand wegen fortschreitender Alterung und Intelligenzminderung („Verdummung“) gänzlich eingebüßt haben werde. In seiner das Buch beschließenden Satire skizziert er seinen Alptraum eines tendenziellen kulturellen Untergangs der deutschen Sprache und Kultur und einer türkisch-arabischen und muslimischen Mehrheitskultur in Deutschland im 22. Jahrhundert. Durch eine entschiedene Politik der Förderung und Forderung der deutschen Sprache schon im frühkindlichen Alter und eine Steuerung der Einwanderungspolitik gemäß eigenem Bedarf an hochqualifizierten, integrationsfähigen Fachkräften hält er allerdings die kulturelle Selbstaufgabe Deutschlands für abwendbar. Des© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

12 halb spielen bildungspolitische neben sozialpolitischen Forderungen, durchaus in der Tradition der Sozialdemokratie, eine zentrale Rolle in Sarrazins Buch. Die zweite These Sarrazins besagt, daß bei vorherrschendem demographischem Trend Deutschland seinen wirtschaftlich-technologischen hohen Standard nicht halten könne, da mit der Verringerung der Bevölkerungszahl in Deutschland vor allem die drastische, absolute und relative Verringerung der für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt verantwortlichen Absolventen der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) an den deutschen Hochschulen und der sich im produktiv-innovativen Alter befindlichen berufstätigen Hochschulabsolventen einhergehe. Und dies bei gleichzeitigem drastischem Wachstum von MINT-Absolventen in Ostasien, Indien und anderen Teilen der Welt. Als Folge davon werde Deutschland schon in wenigen Jahrzehnten seinen heutigen Lebensstandard einbüßen und seine sozialstaatlichen und kulturellen Leistungen drastisch verringern müssen. Diese Entwicklung werde durch die weitere Alterung und „Verdummung“ der Gesellschaft noch potenziert. Auch hier könne eine Umkehr in der Bildungspolitik einiges bewirken, aber den Rückgang der deutschen Positionen in der Weltwirtschaft nicht mehr gänzlich abwenden. Mit „Verdummung“ meint Sarrazin einen Rückgang des durchschnittlichen IntelligenzQuotienten in der Bevölkerung, den er zum Teil auf sozialkulturelle Faktoren (Bildungsferne der Familie oder mangelhaften Schulunterricht) zurückführt, zum erheblichen Teil aber auch auf genetische Faktoren. Eine Standardformel in seinem Buch ist die Behauptung, daß Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent vererbt sei.23 Dabei bezieht sich „50 bis 80“ nicht auf die unterschiedliche Wirkung von Genen und damit umgekehrt von 20 bis 50 Prozent Umweltfaktoren auf die Intelligenz des einen oder des anderen Individuums, sondern auf den Dissens innerhalb der von Sarrazin für autoritativ gehaltenen Forschergemeinde über den hohen Einfluß von Erbfaktoren bei der Entstehung menschlicher Intelligenz. Die „Verdummung“ Deutschlands belegt Sarrazin mit zahlreichen Studien über die sinkende Leistungsfähigkeit von Auszubildenden in den Industrieunternehmen und über sinkende Leistungsanforderungen an Schulen und Universitäten, durch die erst der politisch erwünscht hohe Output an Abiturienten und Hochschulabsolventen erreicht werden könne. Er erklärt diese Befunde durch dreierlei Faktoren. Die moderne Gesellschaft habe die soziale Chancengleichheit beträchtlich erhöht und bewirke dadurch eine soziale und dabei auch genetische Selektion von Begabten und weniger Begabten in den Unter-, Mittel- und Oberschichten, so daß die Unterschicht tendenziell ihr Reservoir an Intelligenten verloren habe, das mittlerweile in die Mittel- und Oberschichten durch Leistung aufgestiegen sei. Da intelligentere Frauen © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

13 auch meist intelligentere Männer bevorzugten, würde die soziale Schichtung der Begabungen durch die heutige freiwillige Partnerschaftswahl verstärkt. Da aber die intelligenteren Mittelund Oberschichten im heutigen Deutschland weit weniger fruchtbar seien als die weniger begabten Unterschichten, senke sich notgedrungen das Intelligenz- und Begabtenpotential der Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte.24 Die Gesamtzahl der Kinder je Frau sei um so niedriger, je höher der Bildungsgrad ist. „Von den Frauen mit niedriger Bildung hatten (Stand 2008) 39 Prozent drei und mehr Kinder, bei Frauen mit mittlerer Bildung waren es 21 Prozent und bei jenen mit hoher Bildung 19 Prozent“.25 (Man könnte also sagen: Bildung ist indirekt das wirksamste empfängnisverhütende Mittel. Es ist in den Entwicklungsländern willkommen, in den hochentwickelten Industrieund Dienstleistungsländern hat sie in einem höchst komplexen Verursachungskontext bislang eher eine unerwünschte demographische Wirkung.) Als dritten Faktor für die gesellschaftliche Intelligenzminderung in Deutschland macht Sarrazin die Zuwanderung von Türken und Arabern aus den bildungsfernen Unterschichten aus, die sich zudem überdurchschnittlich stärker vermehren als die Deutschen. (Eigentlich müßten die muslimischen Zuwandererunterschichten in der Logik Sarrazins ein noch höheres Begabtenpotential haben als die deutschen, weil sie nicht in einer durchlässigen Gesellschaft aufwuchsen, die den sozialen Aufstieg der Intelligenten ermöglicht hatte. Nach Sarrazin spricht aber großfamiliäre Inzucht gegen eine solche Hypothese großer ungenutzter Intelligenzreservoire der Muslime.) Vor allem die türkischen und arabischen Hartz IV-Empfänger, denen die deutsche Grundsicherung ein höheres Einkommen verschaffe als das durchschnittliche Einkommen von Erwerbstätigen in ihrer Heimat, würden sich überdurchschnittlich vermehren. So behauptet Sarrazin brutal: „Insbesondere unter den Arabern in Deutschland ist die Neigung weit verbreitet, Kinder zu zeugen, um mehr Sozialtransfers zu bekommen, und die in der Familie oft eingesperrten Frauen haben im Grunde ja kaum etwas anderes zu tun“.26 Allgemein gelte, also auch für Deutsche: „Nicht Kinder produzieren Armut, sondern Transferempfänger produzieren Kinder“.27 Eine solche These läßt sich wohl kaum durch empirisch sozialwissenschaftliche Methoden belegen oder widerlegen; vor allem aber fehlen anscheinend die sozialstatistischen Daten hierzu und schon gar sozialpsychologische Motivationsanalysen für eine höhere Geburtenfreudigkeit im Hartz IV-Status. Sarrazin erklärt seine Trendaussagen nicht zu Prognosen, was oft fälschlich behauptet wird, da er eine Umkehr von derzeitigen Trends mittels einer drastischen Umkehr der Politik und der Einstellung der Deutschen zu sich selbst für möglich hält und dafür wirbt. Er argumentiert © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

14 alles andere als genetisch-deterministisch und fatalistisch, sondern vehement bildungspolitisch im Sinne der Steigerung von Leistungsfähigkeit und vor allem von Leistungswillen, auch mittels einer drastischen Kürzung der sozialen Transferleistungen, die er für Ausländer nach US-amerikanischen Vorbild ganz streichen will. Allerdings sieht er skeptisch Grenzen in der Erzieh- und Bildbarkeit von wenig begabten Unterschichten und Einwanderern aus den Unterschichten der Türkei und Arabiens. Aus diesem Grund will er besondere finanzielle Anreize für Akademikerinnen und allgemein für die Mittel- und Oberschichten schaffen, selbst vermehrt Kinder in die Welt zu setzen, ihr Bildungspotential auch familiär, nicht nur beruflich zu nutzen und nicht alle sozialen Hoffnungen auf die Erziehung von Unterschichten- und Ausländerkindern zu setzen, die ihnen eines Tages ihre Renten, Pensionen und Zinsansprüche erarbeiten sollen. Diese vorherrschende gesellschaftliche Verhaltensweise und die sie fördernde Politik hält Sarrazin längerfristig erstens für illusionär und zweitens für die Zukunft des Lebensstandards und der Kultur der Deutschen wie auch Deutschlands verhängnisvoll.

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Selektive Einwanderungsbeschränkung oder internationale Freizügigkeit

Die tiefe Kluft zwischen politischer Klasse und Stammtisch kann auf die Dauer gefährlich für die Demokratie in Deutschland werden und das bestehende Parteiensystem erschüttern. Das steht vorerst nicht in Aussicht, inzwischen aber doch das Auftreten einer neuen „rechtspopulistischen“ Partei, der AfD, wie in fast allen anderen EU-Ländern. In einer länger währenden, tiefen Krise, nicht in einer so glimpflich verlaufenden wie in den vergangenen Monaten, kann sich der Vertrauensverlust in die bestehende politische Klasse und in die traditionellen Parteien verheerend auswirken, wenn Demokratie als eine stammtisch-, also letztlich volksfeindliche Herrschaftsform im Interesse einer intellektuell und moralisch verkommenen Minderheit wahrgenommen wird. Den Prozeß der Selbstdiskreditierung der Demokraten, der zur erneuten autokratischen Formierung der Gesellschaft beiträgt, konnte man jüngst wieder in Osteuropa studieren. Auch die Deutschen könnten eines Tages die Angst hinter sich lassen, als Nazis denunziert zu werden, ohne es zu sein und vor allem sein zu wollen, und sich einer neuen ethnonationalen und antiislamischen Partei wie der eines Geert Wilders von der Partei für die Freiheit (Partij voor de Vrijheid) in den Niederlanden anschließen, nicht morgen, aber übermorgen, wenn einige politisch begabte Intellektuelle darin eine Aufstiegschance wittern.28 Internationale Freizügigkeit als Recht des Weltbürgers, in jedem beliebigen Land zu wohnen, zu arbeiten und sich dort einbürgern zu lassen, ist in der heutigen Welt und auch in den Demokratien nicht zu verwirklichen. Die USA, Kanada und Australien haben als lange Zeit © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

15 weltoffene Länder schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einwanderungsbeschränkungen eingeführt und die Zahl der willkommen geheißenen, legalen Einwanderer beschränkt und zwar nicht nur für Menschen schlechthin, sondern für bestimmte soziale Gruppen (nach Bildungsstand und Wohlstand) und auch für Ethnien bzw. für Bürger bestimmter Staaten. Es liegt an den etablierten Parteien selbst, ob sie den unvermeidlichen Streit über Form und Grenzen der Einwanderungsbeschränkung innerparteilich führen wollen oder die Gründung neuer ethnonationaler Parteien begünstigen, um ihn dann zwischenparteilich austragen zu müssen. Wenn sie das nicht wollen, müssen alle etablierten Parteien „rechtspopulistisch“ werden, die einen mehr, die anderen weniger. Faktisch sind sie es in ihrer bisherigen Politik sowieso schon fast alle in einem uneingestandenen Ausmaße, da keine Regierungspartei es zuläßt, das jeder Ausländer einwandern darf, der dies will, von Not gedrungen oder ohne Not.

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Fundierte Widerlegung statt politisch-soziale Ächtung Sarrazins

Was war in Sachen Sarrazin zu empfehlen? Auf die zahlreichen Seiten der SarrazinKontroverse sollte es ganz unterschiedliche Antworten geben. Man konnte durchaus der Ansicht sein, daß ein Bundesbanker, der sich derart engagiert und zeitaufwendig wie Sarrazin in eine allgemeine Debatte über Bevölkerungs- und Integrationspolitik begab, auf sein Amt von sich aus oder auf diskrete Empfehlung anderer verzichten sollte, da er nur noch wenige Zeit und Aufmerksamkeit seiner eigentlichen Amtstätigkeit widmen konnte. Aber er hätte nicht zum „freiwilligen“ Amtsverzicht faktisch gezwungen werden dürfen. Von einem Ausschluß Sarrazins aus der SPD konnte 2010 nur abgeraten werden, nicht nur deshalb, weil es schädlich für die SPD und ihre Wahlaussichten gewesen wäre, sondern weil längerfristig durch derartige Ausschlüsse das gesamte etablierte Parteiensystem in Deutschland gefährdet wird. Es war eine ausgesprochene politische Dummheit, einem Thilo Sarrazin zu empfehlen, in die NPD überzutreten oder eine neue rechtsradikale Partei zu gründen, dies in der gefährlichen und eitlen Hoffnung, sie damit politisch bedeutungslos zu machen. Ein überzeugendes Konzept der Integration von türkischen und arabischen Muslimen und von sozialen Unterschichten wäre die einzig richtige Antwort auf Sarrazins Provokationen. Die brutalen, verbalen Entgleisungen Sarrazins sollte man scharf kritisieren und zurückweisen. Aber im Vergleich zu zahlreichen anderen Politikern und ihrem menschenverachtenden Beschimpfungsrepertoire ist Sarrazin ein Waisenknabe. Man erinnere sich nur an Franz Josef Strauß, der viele Mitbürger zu Ratten und Schmeißfliegen erklärte.29 Statt den Parteiausschluß © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

16 Sarrazins aus der SPD zu betreiben, hätte die Friedrich-Ebert-Stiftung vielmehr zahlreiche Seminare über sein Buch organisieren sollen, um die Auseinandersetzung mit seinen teils abwegigen Thesen und den sie unterstützenden Stimmungen in der Bevölkerung zu suchen. Die Ansichten Sarrazins über die von ihm propagierte maßgebliche Rolle der staatlichen Erziehung im Vorschul- und Schulalter, damit über eine weitreichende Entrechtung der Eltern, stehen zudem viel eher in der „linken“ Tradition der Sozialdemokratie, ja der Sozialisten, als in der der CDU/CSU. Sarrazin selbst bemerkte in einem Interview selbstkritisch auf die Frage von WELT ONLINE „Aber können die Schule und der Staat wirklich alles richten“?“: „Daß ich mit meinem bürgerlichen Hintergrund sage, mit drei in die Kita, danach Ganztagsschule, zack zack, das ist ein purer Schrei der Hilflosigkeit. …Ein ganz großer Teil der deutschen Unterschicht und ein großer Teil der Migranten – Ausnahmen Kinder aus Osteuropa und Fernost – machen in der Schule nicht ausreichend mit, und das Elternhaus fällt als Stütze weitgehend aus. Der einzige Weg, diese Probleme anzugehen, ist, für diese Kinder den negativen Einfluß des Elternhauses und des übrigen sozialen Umfeldes weitgehend zu kompensieren, um den umweltbedingten Anteil des Begabungspotentials möglichst zu optimieren.“30 Bei seinem Buch handelt es sich im wesentlichen um eine sachliche politische Abhandlung, deren Grundauffassungen von zahlreichen SPD-Mitgliedern und vor allem SPD-Wählern geteilt werden. Es wäre für die Entwicklung der deutschen Demokratie sicherlich nützlicher, wenn politische Positionen wie die von Sarrazin innerhalb der bestehenden deutschen Parteien, insbesondere der beiden sogenannten Volksparteien, zur Geltung kommen würden. Statt stammtischhörig zu werden, sollten diejenigen, die Sarrazins Ansichten nicht teilen, durch politische Aufklärungsarbeit dazu beitragen, daß diese in der politischen Minderheit nicht nur in den Parlamenten bleiben, sondern es auch an den Stammtischen werden, sowohl bei der SPD als auch in der ganzen Gesellschaft. Im Verlaufe der öffentlichen und innerparteilichen Debatte werden Sarrazins Thesen sowieso modifiziert werden, und sie werden ja auch Minderheitsmeinung im Laufe des demokratischen Prozesses bleiben, wenn sie stichhaltig widerlegt und politisch angemessen bekämpft werden. Dazu ist es erforderlich, Alternativen zur bisherigen Laissez-aller-Politik im Umgang mit demographischen und Integrationsfragen nicht nur vorzuschlagen, sondern auch zu praktizieren. Dabei sind die üblichen politischen Denunziationen (Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus usw.) kontraproduktiv. Der Vorwurf des „Rassismus“ gegen Sarrazins politische Vorstellungen ist völlig abwegig. Weder hält er Völker für genetisch voneinander geschiedene „Rassen“ trotz seines unsinnigen Interview-Satzes über ein jüdisches Gen und baskische Gene, den er selbst nachträglich zu © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

17 einem „Riesenunfug“ erklärte, noch wendet er sich gegen die sprachliche Assimilation von Ausländern jeglicher Herkunft. Im Gegenteil: genauso wie alle deutschen Regierungen und Parteien fordert er die „sprachliche Integration“ in deutschsprachigen Ganztagskitas ab dem 3. Lebensjahr. Das vorherrschende integrationspolitische Ziel aller Parteien wie auch Sarrazins benannte Plasberg „ganz präzise“, wie er sagte, durch eine kurze Einblendung am Ende seiner zweiten Sarrazin-Sendung am 15. September 2010. Vor dem Hintergrund einer russischen und türkischen Flagge sagt ein kleiner Junge mit deutscher Flagge im Vordergrund im akzentfreien Deutsch: meine Mama ist Russe (sic!), mein Papa ist Türke und ich bin Deutscher. Gemeint ist damit nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern auch die sprachliche und kulturelle Identität. Für den Vorgang der sprachlichen Assimilation analog zur Anglisierung haben die Deutschen keinen politisch korrekten Ausdruck: Germanisierung und Eindeutschung sind historisch belastet, nicht nur durch die nationalsozialistische, sondern auch durch die wilhelminische Vergangenheit und Gewaltpolitik. Das in der Regel gemeinte politische Ziel, das auch Sarrazin teilt, ist zweifellos die sprachlich-kulturelle Deutschwerdung der eingebürgerten Ausländer und die Verhinderung des Entstehens dauerhafter ethnischer oder gar nationaler Minderheiten. Da man die Muslime nicht christianisieren kann und will, will man die Entstehung eines säkularisierten, deutscheuropäischen Islam fördern, den es bislang kaum in bescheidenen Ansätzen gibt. Allerdings gibt es bereits massenhaft Muslime, die wie die meisten Christen Gotteshäuser allenfalls noch aus touristischen Motiven besuchen oder noch nie in einer Moschee waren. Dennoch könnte die Zahl der muslimischen Moscheegänger schon in wenigen Jahrzehnten bald größer sein als die der protestantischen Kirchgänger. Selbst wenn sehr viele Türken und Araber der zweiten und dritten Generation deutsche Staatsbürger mit deutscher Muttersprache würden, wird die muslimische Minderheit in Deutschlands aufgrund der demographischen Struktur unvermeidlich in den kommenden Jahrzehnten absolut und vor allem relativ größer werden, die nominell christliche Mehrheit drastisch schrumpfen. Dies ist einfach Fakt, wie man gemeinhin sagt. Ausgesprochenes oder unausgesprochenes Vorbild für die sprachliche Assimilation sind zweifellos die Anglisierung der meisten Einwanderer in den USA – Sarrazin beruft sich ausdrücklich auf den anglisierenden Schmelztiegel (melting pot) – und die Deutschwerdung der Hugenotten und Ruhrpolen in vergangenen Jahrhunderten. Dem Ziel der sprachlichen und damit längerfristig ethnischen Assimilation soll die wohl weitgehend aussichtslose Aufforderung à la Alexander dem Großen von einigen deutschen Politikern dienen, die Einwanderer sollten sich mit autochthonen Deutschen verheiraten, vor © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

18 allem nicht so oft mit Türkinnen (Sarrazins Brutalsprache: „Importbräuten“) und Türken aus der Türkei, um keine weitere muslimische Einwanderung per Familienzusammenführung zu veranlassen und sich nicht in einer türkischen „Parallelgesellschaft“ einzurichten. Zwar rufen mittlerweile der türkische Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan die Türkdeutschen und die Türken in Deutschland ebenfalls dazu auf, Deutsch fließend und akzentfrei zu sprechen, meinen damit aber etwas ganz anderes als die deutschen Politiker einschließlich Sarrazin, nämlich, daß sie Türkisch als Muttersprache behalten sollen, Deutsch nur als Zweitsprache erwerben und sich weiterhin als Türken empfinden und auch politisch verhalten sollen, gleichgültig, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen oder nicht. Noch vor wenigen Jahren hatte Erdoğan Assimilation als ein völkerrechtliches Verbrechen bezeichnet, womit er Recht gehabt hätte, wenn er damit nur die Zwangsassimilation gemeint haben sollte. Es könnte keine bessere Propaganda für Sarrazins Sorge und für Erdoğans Politik geben als das Fußballspiel Deutschland-Türkei in Berlin am 8. Oktober 2010, als die deutsche Nationalmannschaft ein „Auswärtsspiel“ zu bestreiten hatte, bei dem nicht nur die vielen ausländischen Türken (was normal ist) sondern auch sehr viele Türkdeutsche Fahnen des Staates Türkei schwenkten, und wo der Deutsche Mesut Özil von Türken und offenbar auch von zahllosen Türkdeutschen ausgepfiffen und ausgebuht wurde, nicht weil er schlecht, sondern für die deutsche Nationalmannschaft spielte. Erfreulich war lediglich, daß es keine ethnische Randale zwischen autochthonen Deutschen und Türken plus Türkdeutschen in Berlin gab und daß viele Türken und Türkdeutsche anerkannten, daß die bessere Mannschaft auf dem Platz das Spiel gewonnen hatte. Wo aber werden in den USA Sportler des eigenen Landes von USAmerikanern ausgepfiffen und ausgebuht, weil sie für die USA in den Wettkampf gehen? Solche Phänomene wie in Berlin liegen nicht nur daran, daß viele Türken allenfalls beim Ordnungsamt angekommen sind, wo sie sich einen deutschen Paß (oft nur als zweiten neben ihrem türkischen) abholen, aber längst noch nicht politisch-emotional und geistig in der deutschen Staatsnation. Es liegt aber auch daran, daß viele „Urdeutsche“ Mesut Özil und alle Türkdeutschen mit ihm nicht als (Staats-)Deutsche begreifen und anerkennen, außerdem daran, daß die Deutschen meist keinerlei Wert auf deutsch-bundesrepublikanisches Gemeinbewußtsein legen, sondern nur auf die Beachtung der Straßenverkehrsordnung, der Steuergesetze und einiger sonstiger Gesetze und „Werte“. Die Nichtbeachtung von verfassungsmäßigen Grundrechten durch manche Einwanderer in deren Familien waren ihnen lange egal, meist auch ohne dies im Namen eines undurchdachten Multikulturalismus zu rechtfertigen, der die © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

19 Notwendigkeit einer gemeinsamen staatlichen politischen Kultur verkennt. In anderen westlichen Ländern nennt man politisches Gemeinbewußtsein demokratischen Patriotismus und Nationalbewußtsein, ohne dabei ein post-nationalsozialistisches schlechtes Gewissen zu haben. In Deutschland demonstrierten Zehntausende Deutsche für „Nie wieder Deutschland“. Die Deutschen können auch nicht mit der historisch entstandenen Mehrdeutigkeit der Wörter deutsch und Deutschland umgehen und nicht die Unterschiede zwischen Staatsangehörigkeit, Nationalität und Ethnizität sehen, wie übrigens auch viele andere aus Ländern nicht, die den Namen einer Ethnie tragen oder deren Landesname eine ethnische Bedeutung erlangt hat. In Frankreich etwa gelten erst einmal alle Bürger Frankreichs als Franzosen. Gleichwohl kann man von arabischen Franzosen sprechen. Was aber sind alle die Franzosen (französische Staatsbürger), die keine Araber, Basken, Bretonen, Elsässer oder Afrikaner sind? Die hilflose Antwort ist entweder humoristisch „Gallier“ (obwohl es realiter eher germanisch-römische Gallier sind) oder fragwürdig: echte Franzosen, französische Franzosen usw. Manche Wissenschaftler nennen sie ethnische Franzosen.

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Zur Legitimität ethnischer Differenz

Wenn es legitim ist, daß ethnische Türken, Kurden, Araber, Juden, Polen und andere trotz der Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit ethnische Türken usw. bleiben oder aber sich nach Gutdünken an die Deutschen assimilieren wollen, dann sollte es auch legitim sein, daß „Urdeutsche“ ethnische Deutsche bleiben wollen und eine entsprechende sprachlich-ethnische Politik betreiben, die nicht ständig unter Rassismus- und Faschismusverdacht gestellt wird. Deutsch war durch Jahrhunderte eine Bezeichnung für alle Menschen mit deutscher Muttersprache, gleichgültig ob fränkischer, sächsischer, alemannischer, keltischer, römischer, slawischer, jüdischer oder sonstiger Herkunft. Deutsche lebten in Hunderten deutscher Länder und auch in vielen nichtdeutschen Staaten. Sprachlich wurde dann im Zeitalter des aufkommenden Nationalbewußtseins aus den deutschen Ländern Deutschland. Dieses sprachlich-ethnische Deutschland war demzufolge viel umfangreicher und größer als etwa das Deutsche Reich von 1871 und reichte bekanntlich von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, existierte aber auch in kleinen Sprachinseln Rußlands, Amerikas, Asiens und Afrikas. Erst seit 1949 ist Deutschland auch ein Staatsname, so daß seither die Bezeichnung deutsches Volk manchmal ausschließlich für die deutschen Staatsangehörigen (in der staatsrechtlichen, politischen Sprache, so auch im Grundgesetz), oft aber auch noch im ursprünglichen sprachlich© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

20 ethnischen Sinne gebraucht wird. In der Übergangsphase von 1871 bis 1949 unterschied man deshalb noch zwischen Reichs-, d.h. Staatsdeutschen und Volksdeutschen, d. h. Deutschen in anderen Ländern mit deren Staatsangehörigkeit. Rußlanddeutsche waren demzufolge nicht deutsche Russen, Ungarndeutsche nicht deutsche Ungarn oder Madjaren usw. Umgekehrt leben seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des heutigen Schleswig-Holsteins Dänen, Brandenburgs und Sachsens Sorben, also nicht Deutsche dänischer und sorbischer Herkunft. Viele von ihnen wollen auch in fünfhundert Jahren noch Dänen oder Sorben als ihre Nachfahren sehen, obwohl sie heute fast alle überzeugte deutsche Staatsbürger geworden sind. Sie wollen nicht nur eine sprachlich-kulturell-ethnische Herkunft haben, sondern auch eine Zukunft. Warum sollen nicht auch Türken und Araber in Deutschland einen solchen legitimen Wunsch haben? Und warum soll nicht auch die unvermeidlich abnehmende Zahl der ethnischen Deutschen in Deutschland gleichwohl ein legitimes Interesse und den politischen Wunsch haben, sprachlich-ethnische Mehrheit zu bleiben? Der politisch-korrekte Ausdruck für die Mesut Özils als „Deutsche türkischer Herkunft“ ist ein verräterisches Zeichen für den traditionellen westlichen assimilatorischen Sprachnationalismus, der im 19. Jahrhundert den Bretonen und Iren recht häufig buchstäblich mit dem Stock die bretonische und irisch-gälische Muttersprache ausgeprügelt hat, ihnen aber gleichzeitig den sozialen und kulturellen Aufstieg in der französischen bzw. englischen Sprache und Gesellschaft anbot. Preußen-Deutschland versuchte dasselbe historisch verspätet noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg in seinen polnisch-sprachigen Ostgebieten und scheiterte mit seiner brutalen Eindeutschungs- oder Germanisierungspolitik. Eine liberale Gesellschaft sollte sowohl die freiwillige sprachlich-ethnische Assimilation wie die Dissoziation erlauben und lediglich die Kenntnis der Landessprache als Zweitsprache fördern und fordern. Jede moderne Gesellschaft gliedert sich in Hunderte oder gar Tausende „Parallelgesellschaften“ mit geringer oder fast keiner Kommunikation untereinander. Nach 1685 waren zwanzig Prozent der Berliner Bevölkerung Franzosen mit einer anderen religiösen Konfession (Calvinisten, die später sogenannten Hugenotten) als die Deutschen. Der Französische Dom im Zentrum der Stadt zeugt noch heute von ihnen, ebenso wie noch viele Familiennamen wie de Maizière, deren Träger in jüngster Zeit deutsche Ministerpräsidenten und Innenminister wurden. Die Franzosen lebten in eigenen Stadtvierteln, anderswo sogar in eigenen Kleinstädten und Dörfern, sprachen über mehr als ein Jahrhundert noch Französisch untereinander, heirateten lange Zeit kaum Deutsche und wurden von diesen auch als Ehepartner abgelehnt. Bis die in Deutschland eingewanderten 40.000 Franzosen Deutsch als Muttersprache übernahmen, © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

21 also sich sprachlich assimilierten (in heutiger politisch korrekter Sprache: „integrierten“), die Kirchengemeinschaft mit Lutheranern akzeptierten und sich auch ohne weiteres mit Deutschen verheirateten, vergingen mehr als hundert Jahre. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß heute 4 Millionen oder morgen weit mehr Türken, Araber und andere Muslime, die in wenigen Stunden die Länder ihrer Vorfahren besuchen können, oftmals nur die Fernsehprogramme dieser Länder sehen, die in ihren Stadtvierteln und Schulen in Deutschland kaum einen Deutschen näher kennenlernen, so rasch „sprachlich integriert“ werden wie seinerzeit die wenigen Franzosen, die kaum noch eine Gelegenheit hatten, Kontakt mit Frankreich zu halten. Soziale Aufsteiger haben sich zu allen Zeiten bereitwillig sprachlich-kulturell assimiliert, aber diese Vorzeige-Integrierten in den Talkshows stellen nicht die Masse der Türken, Araber und aller sonstigen ethnischen Gruppen dar, die so groß sind, daß sie auch ohne Kontakte zu den ethnischen Deutschen auskommen. Sie werden vermutlich eines Tages die Forderung nach türkischen und anderen Quoten an den Universitäten, in den Behörden und Parteien erheben. Auch hierzulande werden Quotenforderungen der Frauenbewegung Vorläufer von denen ethnischer Bewegungen sein. In jedem Falle ist das Assimilationstempo wesentlich langsamer als das Migrationstempo. Aus dem US-amerikanischen Schmelztiegel ist schon längst weitgehend eine Salatschüssel geworden, in dem die Einwanderer ihre Ethnizität behalten, sich nicht anglisieren, auch wenn sie Englisch als Zweitsprache lernen. Auch die Deutschen werden sich daran gewöhnen müssen, daß große ethnische Minderheiten in Deutschland entstanden sind und daß es noch größere geben wird. Ein Teil ihrer Angehörigen wird sich assimilieren, Deutsch als Muttersprache übernehmen und sich mit Deutschen verheiraten, der größere Teil wird es aber mindestens in den nächsten hundert bis zweihundert Jahren nicht tun. Das schließt nicht aus, wie schon gesagt, daß man nicht erfolgreich Deutsch als Verkehrssprache fördern und fordern könnte und auch sollte, vor allem bei allen deutschen Staatsbürgern. Aber das macht noch lange nicht aus Einwanderern und Eingebürgerten muttersprachliche, ethnische Deutsche wie die de Maizières. Zwischen bürokratischer Integration (als Paßbesitzer), politischer Integration (als Teilnehmer an der deutschen politischen Kultur), sozialer Integration (als Erwerbstätiger), aufgeklärt-religiöser Integration (evtl. als reformierter oder gemeinatheistischer Moslem), verkehrssprachlicher Integration (um in deutscher Sprache kommunizieren zu können) und muttersprachlicher Assimilation und Deutschwerdung gibt es zahlreiche Übergangsstufen. Immer mehr Menschen sind zudem nicht einsprachig und monoethnisch, sondern wachsen, weil sie bi-ethnisch sind, mit zwei Muttersprachen auf, z. B. der der Mutter und der des Vaters oder auch der der Großmutter oder der Umwelt. Manche haben © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

22 einen „Migrationshintergrund“, aber gleichzeitig einen „autochthonen, alteingesessenen Hintergrund“. Manche sind sogar polyethnisch wie Eldrick „Tiger“ Woods mit afroamerikanischen, indianischen, chinesischen, thailändischen und niederländischen Vorfahren. Er kann sicher nicht alle Sprachen seiner weiteren Verwandtschaft sprechen. Die sogenannte ethnokulturelle Identität ist zwar mit Abstammung verknüpft, letztlich aber eine Sache der subjektiven Entscheidung von Eltern und Kindern für eine bestimmte Muttersprache und die in ihr aufgehobene und mit ihr vermittelte Sprachkultur. Genetisch können wir „Wurzeln“ in einer unbegrenzten Zahl von Völkern haben, obwohl die Zahl unserer Eltern auf zwei und die unserer Großeltern auf vier begrenzt ist und wir meist nicht wissen, aus wie vielen und welchen Völkern wir tatsächlich abstammen. Sprachlich-kulturell aber sind wir immer noch meist muttersprachlich monolingual, eher noch selten bi- oder trilingual, auch wenn wir weitere Fremdsprachenkenntnisse erwerben können, in denen wir aber kaum ein Gefühl der sicheren psychischen Geborgenheit gewinnen, auch wenn wir hin und wieder in der Fremdsprache träumen. Nationale Etatisten wollen das Verständnis von „deutsch“ allein auf die Staatsangehörigkeit beschränken. Der Spiegel schrieb einmal (Zitat aus dem Gedächtnis): „Ein Deutscher ist der Inhaber eines deutschen Passes, basta!“. Dieser bürokratisch-rechtliche Deutschenbegriff hat eine gute und sinnvolle Berechtigung, aber er ist unzureichend. Staaten mögen lange Zeit als „Nationalstaaten“ funktionieren, solange seine Bürger die Straßenverkehrsordnung und die anderen Gesetze, und sei es nur aus Furcht vor der Polizei, befolgen. Haben die Bürger kein staatsbezogenes Nationalbewußtsein, so brechen solche Staaten oft unvermittelt oder in Krisen wie Kartenhäuser zusammen, wie einstmals Österreich-Ungarn, jüngst die DDR, die Sowjetunion und Jugoslawien. Ohne ein staatsbezogenes Nationalbewußtsein, mag man es auch Gemeinbewußtsein, Patriotismus oder anders nennen, kann vor allem keine Demokratie auf Dauer existieren. Insofern ist die Entstehung und Pflege einer politischen Gemeinkultur, eines Bürgerbewußtseins aller Staatsangehörigen, unabhängig von ihrer sprachlich-ethnischkulturellen „Identität“ unerläßlich. Ziel einer darauf gerichteten politischen Erziehung ist, daß aus Einwanderern, sofern sie sich zur Einbürgerung entschlossen haben – der gängige Begriff „Migrant“ vernebelt nur den politisch extrem wichtigen Unterschied zwischen ausländischen und eingebürgerten Einwanderern – Deutsche werden, die sich als zur deutschen (Staats-) Nation zugehörig denken und fühlen, also deutsches Nationalbewußtsein entwickeln, auch wenn sie anderer Ethnizität als die „Urdeutschen“ bleiben und ihre Kinder in einer nichtdeutschen Muttersprache aufziehen wollen. Im politischen Sprachgebrauch sollte man sie türkische Deutsche oder Türkdeutsche, nicht deutsche Türken oder gar nur Türken in Deutschland © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

23 nennen, um die politische Priorität der Staatsangehörigkeit und auch des Nationalbewußtseins gegenüber dem ethnischen Bewußtsein zu betonen. 65 Jahre nach der Ermordung der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten und ihre Parteigänger in anderen Ländern sollten wir auch behutsam dafür werben, daß selbst Juden sich nicht als länger bloß als Juden in Deutschland oder nur als deutsche Juden empfinden, sondern wieder als jüdische Deutsche. Im ethnologischen Diskurs mag man dennoch ohne politisch-korrigierende Zensuren weiter von Türken, Deutschen, Juden usw. in Deutschland und in aller Welt sprechen. Eine Alternative zu diesem Sprachgebrauch wäre, daß man Wörter wie deutsch, französisch, türkisch (im Unterschied zu kurdisch) allein sprachlich-ethnisch besetzt, dann aber neue Namen für die sprachlich-ethnisch indifferente Staatsangehörigkeit einführen müßte, und zwar analog zur Unterscheidung zwischen finnischen und schwedischen Finnländern, russischen und tatarischen Rußländern, slowakischen und madjarischen Ungarländern, schottischen und englischen Briten, flämischen und wallonischen Belgiern, griechischen und türkischen Zyprern. In der deutschen Sprache ist das leichter als in manch anderen Sprachen. Man könnte dann von türkischen und deutschen Deutschländern (Staats- und Nationsangehörigen) sprechen, von französischen und arabischen Frankreichern, müßte also nicht länger von französischen, echten Franzosen und arabischen Franzosen, von ethnischen, autochthonen oder Urdeutschen sprechen. Selbstverständlich klingen neue Wörter wie Frankreicher im Anklang zu Österreicher oder Deutschländer im Anklang zu Engländer und Isländer erst einmal höchst seltsam. Sie würden aber die Legitimität eigener Ethnizität im Rahmen umfassender, staatsbezogener Nationalität und Staatsangehörigkeit auch sprachlich betonen ohne Furcht, daß die sprachliche Anerkennung ethnischer Differenz dem „Rassismus“, dem Bürgerkrieg und dem Staatszerfall Vorschub leistet. Eine solche Alternative hätte den immensen Vorteil, leichter vom alten etatistischen Sprach- und Ethnonationalismus Abschied nehmen zu können, der aus allen Bürgern Frankreichs muttersprachliche und ethnisch „eingeschmolzene“ Franzosen, aus den Bürgern des Vereinigten Königreiches faktisch „Engländer“ machen wollte, aus allen Bürgern Deutschlands sprachlich-ethnische Deutsche. Die Gegner innerstaatlicher ethnischer Differenz merken meist gar nicht, daß sie ausdrücklich oder stillschweigend die sprachlichethnische Homogenisierung aller Staatsangehörigen im Sinne der ethnischen Mehrheit betreiben wollen, wenn auch nicht mehr mit dem Prügel in der Hand wie im 19. Jahrhundert, wohl aber mit administrativem Zwang. So hofft auch Sarrazin, durch eine rigorose staatliche Ganztageskindergarten- und -schulpolitik das ethnopolitische Ruder noch herumreißen zu können, um aus Zuwanderern anderer Ethnizität deutsche Muttersprachler machen zu können. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

24 Sicher wird ein Teil der Nachkommen eingebürgerter Zuwanderer muttersprachlich und kulturell deutsche Kinder und Enkel hervorbringen. Wegen der größeren Emanzipationschancen, die Deutschland gegenüber vielen Herkunftsländern den Frauen bietet, dürften zugewanderte Frauen eher häufiger als zugewanderte Männer deutsch werden und ihre Kinder zu Deutschen erziehen, so daß emanzipationsfeindliche Männer sich ihre Ehefrauen lieber weiterhin aus dem traditionalistischen Ausland holen. Aber insgesamt dürften die politische Klasse in Deutschland wie auch Sarrazin einer modernen, gebärmutterkolonialistischen Illusion anhängen, daß die Zuwanderer den Deutschen die deutschen Kinder zeugen und erziehen, die sie selbst nicht zeugen und erziehen wollen, und die ihnen das Altwerden im Rentnerwohlstand ermöglichen sollen. Vermutlich wird man in der Ära nach dem Sarrazin-Buch verstärkt das Ruder von der Arbeitslosen- oder Hartz IV-Einwanderungspolitik zu einer verstärkten Fachkräfte-, „Inder“- (hier als Synonym für ausländische Informatiker, Mathematiker, Ingenieure und Techniker gemeint) oder MINT-Einwanderungspolitik herumreißen. Dies hat aber die fatale Folge, den Entwicklungsländern ihre besten Fachkräfte zu rauben. Wenn es aber nach Sarrazin auf dem Weltmarkt immer weniger disponible Fachkräfte geben wird, die nach Deutschland gehen wollen, wo sie unter Umständen auch noch Deutschkenntnisse mitbringen oder erwerben sollen, dann ist auch die Strategie der Wirtschaftsfachleute, daß Zuwanderer die Güter und Dienstleistungen für die Einlösung der Rentenansprüche der Deutschen erarbeiten sollen, zum Scheitern verurteilt. Die Deutschen ziehen sich dann, zugespitzt gesagt, immer mehr in gated communities für Senioren, quasi Reservate für die indigenen Deutschen, mit billigen Pflegekräften aus anderen Ländern und anderer Ethnizität (heute Polen, morgen Ukrainer, schließlich Thais) zurück. Das Wirtschaftswachstum, die Arbeitsproduktivität, der Wohlstand und die Bevölkerungszahl Deutschlands müßten dann tatsächlich sinken. Die eigentliche Alternative, die Sarrazin anspricht, wird merkwürdigerweise oder vielleicht aus dem naheliegenden Grund, weil sie auch den Beifallsspendern von Sarrazin unangenehm ist, öffentlich fast nicht diskutiert. Die Zuwanderungs- und Integrationsthematik ist eigentlich nur ein Nebenschauplatz der bevölkerungspolitischen Thematik. Eine Bevölkerungsschrumpfungspolitik, die ja nicht grundsätzlich unakzeptabel sein muß, ist offenbar ökonomisch nicht möglich ohne Inkaufnahme einer erheblichen Senkung des allgemeinen Wohlstands. Somit ist das eigentliche Problem Deutschlands die selbst im Vergleich zu den meisten anderen Industrie- und Dienstleistungsstaaten äußerst niedrige Geburtenrate. Die Deutschen müßten also ihre Geburtenenthaltung aufgeben, wollen sie zumindest ihren heutigen Lebensstandard in Zukunft wahren und zusätzlich nicht längerfristig zur muttersprachlich-ethnischen Minderheit © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

25 in Deutschland werden. Aus Deutschland würde sicher nicht Türkland, aber wohl eine Art habsburgischer Staat, wo es keine sprachlich-ethnische Mehrheit gibt, sondern eine Fülle solcher Minderheiten, in der nicht, wie in Sarrazins satirischem Alptraum eines Tages die deutsche Verkehrssprache durch die türkische abgelöst würde, sondern vermutlich eher durch die englische. Denn vermutlich wird man den MINT-Immigranten, also den tatsächlichen und virtuellen „Indern“ schon bald erlauben, nur Englisch zu sprechen und die Pflicht, Deutsch zu lernen, ersparen, so daß die Deutschen zumindest in der Mittel- und Oberschicht sich den „Indern“ anpassen müssen. Aus Deutschland würde längerfristig eher ein ethnisch kunterbuntes anglophones Euromusterland, dem sich noch manch anderes europäische Land angleichen würde. Bereits heute beginnt man schon, an deutschen Universitäten manches Wissen nur noch in englischer Sprache zu vermitteln, anstatt gleichzeitig die Englischkenntnisse bei den Studenten und die Entwicklung der deutschen Fachsprachen zu fördern. Die Erwartung, daß Ausländer und deutsche Bürger nichtdeutscher Ethnizität deutsche Kinder zeugen und erziehen, ist nicht nur illusionär, sondern sie ist auch politisch-moralisch eine höchst fragwürdige ethnische Leihmutter- und Leihelternpolitik. Die richtige Antwort auf dieses Problem kann nur lauten: die Deutschen müssen ihre deutschen Kinder vorwiegend selbst zeugen und erziehen, also von ihrer bisherigen „Inder“-statt-Kinder-Politik abgehen. Eine liberale Gesellschaft muß zweifellos freiwillige oder unfreiwillige Kinderlosigkeit und Kinderarmut von Individuen, Mönchen und Schwulen, Nonnen und Lesben, an sich Fruchtbaren und nicht Fruchtbaren nicht nur dulden, sondern auch achten und anerkennen. Dann kann sie aber nicht die Ein- und Zweikinderfamilie als Normalfamilie darstellen und damit indirekt propagieren, im täglichen Fernsehen, in populären Filmen, in der Demonstration sozialstatistischer Musterfamilien, in der alltäglichen Erziehung in den Medien und anderswo. Vielmehr muß sie die Drei- bis Vierkinderfamilie als Normalfamilie propagieren und institutionelle Grundlagen für sie schaffen, z. B. in Form von als familienfreundlich ausgewiesenen Betrieben, um gesamtgesellschaftlich eine durchschnittliche Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau zu erreichen. Eltern mit vier oder mehr Kindern dürfen nicht als Karnickel oder als Aspiranten auf das nationalsozialistische Mutterkreuz denunziert werden. (Die Vermutung wurde schon seit Jahren nicht zu Unrecht geäußert, daß die geringe deutsche Geburtenzahl auch eine postund nachholende antinationalsozialistische Reaktionsweise in der politischen Psyche der Deutschen darstellt.) Darüber hinaus gilt es nach Sarrazin, auf die selbst in Deutschland überdurchschnittlich hohe Geburtenenthaltung der Mittel- und Oberschichten durch ein progressives Kindergeld zu reagieren, wie es im einzelnen auch immer rechtlich organisiert wird, das © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

26 allen Kindern nicht einen egalitären finanziellen Anspruch gewährt, sondern einen, der dem Lebensstandard der jeweiligen Schicht entspricht. Dies heißt anzuerkennen, daß hart arbeitende Mittel- und Oberschichtangehörige andere Personen anstellen müssen, die einen großen Teil der Kindererziehung übernehmen, weitgehend durch den Staat, indirekt also durch die Kinderlosen und Kinderarmen, im Interesse des Gemeinwohls und der eigenen Altersversorgung finanziell entlastet werden – abzüglich einer gewissen „Vergnügungssteuer“, da Kinder nicht nur Arbeitslast, sondern auch Freude bedeuten. Wenn in oberen Schichten Männer wie Frauen sechzig bis achtzig Stunden pro Woche arbeiten wollen und müssen, sonst könnten sie sich ja gar nicht in dieser sozialen Position halten, und sie viel beruflich unterwegs sind, dann können sie nur dann vier Kinder aufziehen, wenn sie hierfür erheblich mehr Kosten aufbringen, als die, die bei Arbeitslosen oder 38-Stunden-Erwerbstätigen oder Halbtagsbeschäftigten anfallen. Die Kinderlosigkeit und -armut der Mittel- und Oberschichten ist, auch ohne die sozialen Vererbungsthesen Sarrazins, eine enorme Vergeudung von Bildungsressourcen. Die denkbare Alternative: den Vielarbeitern in den Mittel- und Oberschichten eine 38-StundenArbeitszeitbegrenzung aufzwingen, dürfte völlig unrealistisch sein, weil sie nicht nur politisch und psychosozial undurchsetzbar, sondern vor allem auch unökonomisch ist. Kurzum, die letzten Endes tatsächlich tabubrechenden kultur- und ethnopolitischen Untersuchungen Sarrazins über die Selbstabschaffung Deutschlands, d. h. die längerfristig quantitative Schrumpfung der Deutschen bis auf eine ethnische Minderheit in Deutschland, haben mit Rassismus, Rassenhygiene, Populismus (d.h. fundamentaler Ablehnung parlamentarischer Demokratie und volkstribunenartiger Massenmobilisierung gegen Recht und Gesetz), Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit und ethnischer Ausgrenzung absolut nichts zu tun, obwohl das Buch auch hier und da fatale ethnische bzw. religiös-kulturelle und übrigens auch geschlechtsspezifische Vorurteile und bösartige Herabwürdigungen ethno-religiöser Personengruppen enthält. Mehr als fragwürdig ist zweifellos Sarrazins ständig wiederholte These, daß Intelligenz zu „50 bis 80 Prozent“ vererbt sei.31 Die Intelligenz-Vererbungsthese Sarrazins ist wissenschaftlich falsch oder richtig, oder sie enthält ein oder zwei Körnchen Wahrheit; aber sie hat nichts mit irgendwelchen Wertvorstellungen, Welt- und Menschenbildern zu tun, die es zu bekennen und durch Parteiausschlüsse zu retten gilt.

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Sarrazins Erfolgschancen

Wie geht es weiter mit der Kontroverse um Sarrazin und sein Buch? Sarrazins Vorstoß, die mit dem drastischen Geburtenrückgang der Deutschen und der massiven Zuwanderung von © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

27 vornehmlich türkischen und arabischen, sicher auch kurdischen Muslimen verbundenen Probleme deutlicher zur Kenntnis zu nehmen und nach politischen Antworten zu suchen, war bisher ungewöhnlich erfolgreich. Zwar wird er weiterhin verfemt, aber viele seiner Argumente wurden von manchen seiner Kritiker übernommen, auch die eine oder andere Politikänderung im Sinne Sarrazins angekündigt. In den Medien ist bereits eine tendenzielle Themenumkehr (Paradigmenwechsel nennt man das im akademischen Jargon) zu beobachten: Berichte über die „Deutschenfeindlichkeit“ und die „Integrationsunwilligkeit“ von türkischen und arabischen Einwanderern drängen die über die „Fremdenfeindlichkeit“ der alteingesessenen Deutschen in den Hintergrund. Wenig sprach schon 2010 dafür, daß es sich bei der Sarrazin-Kontroverse um eines der üblichen medialen Strohfeuer handelte, weil die von ihm angerissenen Probleme nicht von der Tagesordnung verschwinden werden. Vermutlich hat sich der Name Sarrazin bereits jetzt schon in das kollektive politische Gedächtnis eingenistet, anders als etwa der Name Herbert Gruhls, der mit seinem Buch „Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik“ von 1975 einen wichtigen Anstoß nicht nur für die Entstehung der Partei Die Grünen gegeben hat, sondern für die heutige ökologische Politik sämtlicher Parteien. Gruhl gab damals die Parole aus: „Weder links, noch rechts, sondern vorn“. Diese Parole dürfte auch für eine von Sarrazin angeregte Einwanderungs- und Integrationspolitik gültig werden, die derzeit durch die massenhafte Zuflucht nach Deutschland erneut zur Debatte steht. Nun aber wird sie verstärkt auch innerhalb der Parteien geführt, vor allem in der CDU/CSU, aber auch in der SPD und wohl bald auch bei den Grünen und in der Linken. Auffällig ist jedoch, daß über Sarrazins Überlegungen zum deutschen Geburtenrückgang kaum öffentlich diskutiert wird, obwohl der eigentlich das zentrale, von ihm angesprochene Problem ist, nicht die Zuwanderung von Nichtdeutschen. Aber dies liegt wohl eher daran, daß es leichter ist, über den Splitter in den Augen anderer zu reden, als den Balken des beklagten Übels an seinen eigenen, deutschen Wurzeln anzupacken. Das große Deutschensterben unter den Alteingesessenen beginnt erst in zwanzig und dann verstärkt in dreißig bis vierzig Jahren, wenn, grob geschätzt, auf zwei Geburten sechs Beerdigungen (und nebenbei gesagt: eine Taufe) fallen dürften. Dieser Trend ist bereits unabwendbar, allenfalls leicht korrigierbar. Auch die deutsch sozialisierten Neubürger und ihre muttersprachlich deutschen Kinder und Enkel und die bi-ethnischen Deutschen werden diesen Verlust an „urdeutscher“ Bevölkerung nur zum Teil kompensieren können, da sie dieselbe Geburtenarmut bevorzugen wie die Alteingesessenen. © 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

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Sarrazin, Thilo 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München: DVA. Sarrazin, Thilo 2010: Was tun?, in: Der Spiegel Nr. 34 vom 23. August, S. 136-140. 3 Sarrazin, Thilo 2010: Deutschland wird immer ärmer und dümmer!, in: Bild vom 23. August. 4 Der vorliegende Text wurde im Oktober 2010 geschrieben. Seine sprachliche Form des Bezugs auf die damalige Gegenwart wurde bei der Bearbeitung nicht geändert. Nachträgliche Entwicklungen wurden nur in den Fußnoten vermerkt. 5 Siehe die meisten Stellungnahmen in: Deutschlandstiftung Integration (Hg.) 2010: Sarrazin. Eine deutsche Debatte, München: Piper 2010. 6 Tatsächlich war Sarrazin nach einigen Monaten fast gar nicht mehr im Fernsehen zu sehen und kaum noch im Rundfunk zu hören, obwohl er mit neuen Büchern auf sich aufmerksam zu machen sucht: Sarrazin, Thilo 2012: Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat, München: DVA. Eine Auseinandersetzung mit der Medienreaktion auf seinen Bestseller stellt dar: Sarrazin, Thilo 2014: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, München: DVA. 7 Mit Sarrazins Thesen hierzu setzt sich kritisch auseinander Krell, Gert 2013: Schafft Deutschland sich ab? Ein Essay über Demographie, Intelligenz, Armut und Einwanderung, Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 35-51. 8 Volksheld Sarrazin. Warum so viele Deutsche einem Provokateur verfallen, Der Spiegel Nr. 36 vom 6. September 2010. 9 Sarrazin 2010 (Anm. 1), S. 279. 10 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland von 1974-1982. 11 Sarrazin, Thilo 2010: ‚Ich bin kein Rassist’. Welt online vom 28. August. 12 Schmalz-Jacobsen, Cornelia 2010: Viel erschreckender als Sarrazin-Zitate, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. September, S. 9. 13 Almstedt, Jan 2010: Parteiausschlußverfahren gegen Thilo Sarrazin, http://www.spd.de/aktuelles/666/parteiausschlussverfahren_gegen_thilo_sarrazin.html. 14 Wehler, Hans-Ulrich 2010: Ein Buch trifft ins Schwarze. Anstatt über Sarrazins Thesen zu diskutieren, erteilt die regierende Klasse dem Autor ein politisches Berufsverbot, in: Die ZEIT vom 7. Oktober, S. 55. 15 Dohnanyi, Klaus von 2010: Feigheit vor dem Wort, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. September. 16 Thilo Sarrazin im Gespräch, in: Lettre International Nr. 86, http://lettre.de/archiv/86-Sarrazin.html (abgerufen am 9.9.2010). 17 Siehe hierzu die Vorlesung „Multikulturalismus“ oder deutsche „Leitkultur“ als Maximen der „Integration“ von Ausländern, in: Jahn, Egbert 2012: Politische Streitfragen, Bd. 4. Deutsche Innen- und Außenpolitik, Wiesbaden, S. 58-75. 18 Wulff, Christian 2010: Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2010/10/20101003_Rede.html. 19 Sarrazin 2010 (Anm. 1), S. 18. 20 Ebenda, S. 8. 21 Ebenda, S. 61. 22 Ebenda, S. 317. 23 Ebenda, z. B. S. 93, 98, 226. 24 Ebenda, S. 98f. 25 Ebenda, S. 90. 26 Ebenda, S.150. 27 Ebenda, S. 149. 28 Diese Prognose scheint sich rascher als erwartet zu bestätigen, insofern die im Februar 2013 an sich gegen die Euro-Währungspolitik gegründete Partei „Alternative für Deutschland“ Züge einer solchen rechtspopulistischen Partei angenommen hat. Sie zeigt teilweise starke Sympathien für die im Oktober 2014 in Dresden entstandene Bewegung PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). 29 Das deutsche Wort 1980: Was veranlaßt Strauß, Gegner als "Ratten" zu diffamieren?, in: Der Spiegel, Nr. 9 vom 25. Februar, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14327657.html. 30 Sarrazin, Thilo 2010: ‚Ich bin kein Rassist’, in: Welt online vom 28. August. 31 Die Psychologin Elsbeth Stern, auf deren Arbeiten sich Sarrazin beruft, wirft ihm eine nicht korrekte Wiedergabe ihrer Aussagen und betont: „…bei der Ausbildung und Entwicklung von Intelligenz (wirken) sehr viele über alle Chromosomen verteilte Gene zusammen…Eltern und Kindern zeigen nur eine mittelhohe Übereinstimmung im Intelligenzquotienten. Unterdurchschnittlich intelligente Eltern können überdurchschnittlich intelligente Kinder haben und umgekehrt,“ in: Geyer, Christian 2010: Jeder kann das große Los ziehen, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. September, S. 29. 2

© 2015 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle

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