Von wegen mein Bauch gehört mir

January 9, 2018 | Author: Anonymous | Category: Wissenschaft, Gesundheitswissenschaften, Endokrinologie
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INNENANSICHTEN

Von wegen mein Bauch gehört mir – in Wahrheit ist es andersrum

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eine Freundin ist Flugbegleiterin, seit mehr als 20 Jahren schon. Eine Routinereisende, für die Zeitzonen-Hopping so alltäglich ist wie für unsereins U-Bahn-Fahren. Sie packt ihre Koffer schneller als ich meine Handtasche, sie kennt alle Flughäfen und einige der schönsten Hotels der Welt. Ihr Bauch allerdings bleibt in der Regel zu Hause. Er kennt die stillen Orte des Münchner ­Heimatflughafens dafür umso besser. Dort erwacht er meist wieder zum Leben. Unterwegs stellt er sich gern tot. Der weibliche Bauch muss ein Spießer sein. Er mag Neues nicht, er geht nicht gern auf Reisen, fremde Länder verschrecken ihn, Klimawechsel findet er doof und exotische Speisen tendenziell unzumutbar. Zu seiner pathologischen

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Fremdenangst gesellt sich eine störrische Introvertiertheit. Unterwegs behält er ­alles für sich. Er rückt nichts raus. Tagelang, wenn es sein muss. Auch daheim geriert sich der weibliche Verdauungsapparat gern als Mimose. Bisweilen reagiert er empfindlich auf kalte und kohlensäurehaltige Getränke, manchmal nerven ihn Früchte oder Gewürze, dann wieder ist er unwillig im Umgang mit Salat, Eis oder ­einem ­Milchkaffee. Oft verhält sich der weibliche Bauch wie eine echte Memme. Vielleicht nimmt er sich das raus, weil er weiß, dass partnerschaftserprobte Frauen mit Memmen ganz gut umgehen können. Sie horchen in sie hinein, fragen, was sie ihnen Gutes tun können, betüteln sie mit Kräutertees und heißen Bädern, führen ihnen reizarme Kost zu, streicheln und massieren sie. Aber ins-

geheim sind sie doch unsäglich genervt, mit so einem Hypochonder unter einem Kopf leben zu müssen. Warum ist das so? Sind Frauen, auch wenn sie gottlob nicht mehr unter pauschalem Hysterieverdacht stehen, am Ende doch etwas sensibler als all die männlichen Saumägen und Schwerköstler? Oder ist das alles nur Einbildung? Natürlich hat meine Freundin diverse Ärzte konsultiert. Unverträglichkeiten wie Laktose- oder Glukose-Intoleranz hat sie ausgeschlossen. Am Ende hieß es, sie leide unter einem Reizdarmsyndrom. Syndrom klinge sehr danach, als wisse man Genaues nicht, ätzte sie daraufhin. Und Reizdarm, nun ja, irgendwie doch nach weiblicher Überreiztheit. Medizinisch subsumiert man darunter allerlei Sperrigkeiten, Sperenzien und Schmerzen im Bauchraum. Und tatsächlich FOCUS-GESUNDHEIT

Illustration: Daniel Stolle/FOCUS-Magazin

Hinter dem weiblichen Nabel tut sich ein Rätselreich auf. Obwohl umhegt, neigt der Frauenbauch zum Mimosentum

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eider ist auch die Obstipation – vulgo Verstopfung – eher ein feminines Problem. Und wie so oft, spielen dabei die Hormone eine Rolle. „Wir wissen, dass sich etwa ein absinkender Östrogenspiegel bremsend auf die Verdauungstätigkeit auswirken kann“, erklärt Viola Andresen, Internistin am Israelitischen Krankenhaus in Hamburg.

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matische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen untersuchte die Zusammenhänge zwischen seelischen Befindlichkeiten und Magen-Darm-Problemen. Dass Kopf- und Bauchhirn (s. S. 26) in Gefühlsfragen eng kommunizieren, ist bekannt. Auch Psychologe Enck konstatiert „eine erstaunliche Komorbidität“ in diesem Bereich. „Viele Patienten mit Reizdarm haben Depressionen – und umgekehrt.“

Hat man schon mal einen gesunden Mann mit Wärmflasche auf dem Sofa sitzen sehen? Frauen tun das Dabei ernähren sich Frauen gemeinhin gesünder und ballaststoffreicher als Männer. Brav kauen sie an Salat und Gemüse, während sich die Kerle bauchschmerzfrei T-Bone-Steak und Bratwurst reinziehen. Sie verkneifen sich Croissants und Weißmehlbackzeug zu Gunsten von Müsli und Vollkornbrot und ziehen als vernunftbegabte Wesen den Apfel einem Schokosnack vor. Der fleischarme Ernährungsstil der Frauen kommt sogar dem Klima zugute, sagen die Forscher. Würden sich die Herren der Schöpfung so klug ernähren wie die Damenwelt, ließe sich allein in Deutschland der jährliche Treibhausgasausstoß um unfassbare 15 Millionen Tonnen reduzieren. Allein: Dem inneren Klima und seinem Treibbauchgasausstoß nützt das augenscheinlich wenig. Warum? „Meist sind eben nicht bestimmte Nahrungsmittel schuld, sondern die Verdauung an sich“, sagt Internistin Andresen. Eine angegriffene Darmflora, eine Entzündung, Dauermedikation oder funktionelle Stö-

rungen können für Beschwerden verantwortlich sein. „Weil die Ursachen von Darmbeschwerden so vielfältig sind, dauert es oft eine Weile, bis man die richtigen Gegenmaßnahmen gefunden hat“, so die Ärztin. Dass ihre leicht zu irritierende Verdauung kein hausgemachtes Problem ist, haben Frauen jetzt sogar amtlich. In ihren neuen Leitlinien, die im Sommer erscheinen, weist die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) ausdrücklich darauf hin, dass Obstipation nur selten die Folge falscher Ernährung ist. Bei vielen Ärzten herrsche diese Meinung allerdings immer noch vor, bemerkt Viola Andresen. Auch würden Abführmittel von manchen Kollegen noch zu res­ triktiv verschrieben. Nach wie vor glauben viele, auch Apotheker, dass eine längere Einnahme von Laxanzien schädlich sei. Für Patientinnen, die die Abführmittel zum Abnehmen einsetzen, trifft das zu. „Aber für verstopfte Menschen ist es ein Segen“, so Andresen. „Es ist zu wenig bekannt, dass man Laxanzien dauerhaft nehmen kann und manchmal auch muss, wenn man unter Obstipation leidet.“ Zwei Drittel der in Deutschland verkauften Laxanzien werden von Frauen konsumiert, schätzt der Tübinger Neurogastroenterologe Paul Enck. Der Forschungsleiter der Abteilung PsychosoFOCUS-GESUNDHEIT

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haben eher Frauen damit zu kämpfen. Traut man den Statistiken, machen sie zwei Drittel der Betroffenen aus. Frauen und ihr Bauch, das ist eine wunderliche Beziehung. Vielleicht auch weil wir von Teenagerbeinen an etwas anders konditioniert sind: Schon der Eintritt in das Monatszyklus-Gedöns ist häufig von atemraubenden Regelschmerzen flankiert. Das prägt. Schwangere Frauen können nur staunend zusehen, wie sich in ihrem Innersten eine neue Welt auftut, die sich ihrer Kontrolle vollends entzieht. Der Bauch wächst ungebremst, er schafft Raum für neues Leben und verschiebt wundersamerweise sämtliche Verdauungsorgane in verborgene Randzonen, ohne dass man das im Geringsten beeinflussen könnte. Von den Wehenschmerzen, die aus dem Nichts über einen hinwegwalzen und den Bauch in eine atommeilerharte Betonkuppel verwandeln, nicht zu reden. Mein Bauch gehört mir – das war mal ein feministischer Befreiungsschrei. Dabei ist es oft eher andersrum: Frauen gehören ihrem Bauch. Wenn es sein muss bis zur Hörigkeit. Hat schon mal jemand einen gesunden Mann mit Wärmflasche auf dem Sofa sitzen sehen? Frauen tun so was. Viele verreisen grundsätzlich nur mit Heizkissen, wollenen Bettsocken und allerlei anderen Memmen-Mittelchen. Ingwerknollen, Verdauungstees, Magentropfen, Heilerde und Flohsamen. Meine Vielfliegerfreundin geht nie ohne Leinsamen an Bord, für härtere Fälle hat sie Abführdragees und für Ballonattacken Buscopan im Gepäck.

lso doch eine typisch weibliche Seelchen-Sensibili­ tät? Ganz so einfach ist es nicht. „Frauen empfinden und bewerten Bauchschmerzen anders als Männer“, sagt Sigrid Elsenbruch, die am Universitätsklinikum Essen den Zusammenhang zwischen Emotionen, Kognitionen und der Schmerzverarbeitung analysiert. Für ihre wegweisenden Forschungen über den Einfluss des Nervensystems auf Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich wurde sie vergangenes Jahr mit dem Oskar Medizin-Preis, einem der höchstdotierten deutschen Medizinpreise, ausgezeichnet. „Für die Chronifizierung des Leidens spielt auch das Schmerzgedächtnis eine große Rolle“, so die Professorin für Experimentelle Psychobiologie. Aus Angst vor Bauchschmerzen verordneten sich viele Frauen strenge Ausschlussdiäten und nähmen dafür erhebliche Einbußen der Lebensqualität in Kauf. Dabei kasteien sie sich oft unnötig, glaubt die Psychologin: „Es gibt auch bei dem Reizdarmsyndrom neue, Erfolg versprechende Ansätze, die dem etablierten Expositionsprinzip der Verhaltenstherapie folgen.“ Nach dem Motto „Face your fears“ isst man auch die als Übelbauchtäter verdächtigten Nahrungsmittel und stellt – im Idealfall und sofern organische

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Defizite ausgeschlossen sind – fest, dass „die Schmerzen irgendwann aufhören“, so Elsenbruch. Die Forschungen stehen hier noch am Anfang, aber Elsenbruch ist zuversichtlich, dass sich viele Bauchwehpaniken irgendwann ebenso abtrainieren lassen wie Höhen- oder Platzangst. An der Medizinischen Universität Wien geschieht das in Teilen schon, wenngleich mit anderen Mitteln. Dort lassen sich Patientinnen mit Reizdarmsyndrom in Hypnose versetzen. Unter der An­leitung eines Therapeuten üben sie sich in der Vorstellung von einer normalen und schmerzfreien Verdauung und bekommen zum häuslichen Üben eine CD mit. „Nach spätestens zwölf Wochen stellt sich bei dem Gros der Patientinnen eine deutliche Besserung mit Verminderung aller Symptome ein, dieser Erfolg hält meist über Jahre an“, sagt die Internistin und Psychotherapeutin Gabriele Moser, die die „Bauch­ hypnose“ in Wien etablierte.

Zwei Drittel der Abführmittel werden von Frauen konsumiert

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Hypnotherapie? Expositionstherapie? Davon ist meine Freundin noch ein gutes Stück entfernt. Vor nicht mal einer Stunde hat sie sich meinem Schaumsüppchen exponiert und dieses – nicht ganz angstfrei, aber doch mit großem Genuss – in sich hineingelöffelt. Nun muss sie zusehen, wie sich ihr Bauch ballonartig unter der Bluse aufbläht. Waren es die Schalotten? Oder die Crème fraîche? Zu viel frische Petersilie? Egal. Der Abend ist gelaufen. Kein Wein mehr, kein Bissen von der Hauptspeise und um Gottes willen kein Dessert. Forscher wie Enck gehen inzwischen davon aus, dass auch der weibliche ­Serotoninstoffwechsel für den diven­ haften Damenbauch mitverantwortlich ist. Verglichen mit Männern, haben Frauen einen höheren Bedarf an dem auch als „Glücksbotenstoff“ apostrophierten Neurotransmitter. „Wenn die Serotoninproduktion oder -aufnahme gebremst ist, geht das oft mit MagenDarm-Problemen einher“, erklärt Enck. Studien belegten, dass sich Medikamente zur Verbesserung der Serotonin­ aufnahme positiv auf die psychische Verfassung auswirkten – und auf die der Verdauungsorgane. Meine Freundin medikamentiert sich jetzt selbst. Sie hat ein neues Mittelchen entdeckt. Macrogol heißt der Wirkstoff. In hoher Dosierung kommt er vor Endoskopien zum Einsatz, als „schonendes Abführmittel“ gibt es ihn auch im Drogeriemarkt. Das schneeweiße Pulver ist inzwischen ihr unentbehrlicher Reisebegleiter. Sie hofft, dass er nie in die Hände eines skeptischen Zollbeamten fällt. Wie soll man einem wildfremden Menschen die eigenen Bauchbefindlichkeiten erklären, wenn man sie doch selbst nie ganz verstehen wird?  BARBARA ESSER

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