Der Streit ums Kopftuch

February 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Religionswissenschaft, Islam
Share Embed Donate


Short Description

Download Der Streit ums Kopftuch...

Description

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

1

http://www.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-548/i.html

DOSSIER

Der Streit ums Kopftuch Die Kontroverse über das Tragen des Kopftuchs ist nicht nur in Deutschland allgegenwärtig. Auch in den Nachbarstaaten und in der islamischen Welt erhitzt das Thema zunehmend die Gemüter. Wir beleuchten die Aspekte, Hintergründe und gesellschaftlichen Realitäten der Kopftuchdebatte. Frankreich

Der „Kopftuchkrieg“ blieb aus Seit dem Schulbeginn müssen muslimische Mädchen in Frankreich ihr Kopftuch in der Schule ablegen. Doch angesichts der Geiselnahme zweier französischer Journalisten im Irak blieb es an den Schulen bislang ruhig, wie Bernhard Schmid berichtet. „Der Kopftuchkrieg blieb aus“, schrieben französische Medien übereinstimmend, als nach zwei Monaten Sommerferien der Unterricht für 12 Millionen Schülerinnen und Schüler in ganz Frankreich am letzten Donnerstag ohne größere Zwischenfälle begonnen hatte. Mit dem Anfang des Schuljahrs trat die heiß diskutierte Regelung in Kraft, wonach an Schulen auffällige religiöse Symbole verboten sind. Das bedeutet vor allem ein Kopftuchverbot für muslimische Schülerinnen. Das entsprechende Gesetz war am 15. März 2004 vom Parlament angenommen worden. Etwa 250 Mädchen erschienen zur Schule mit bedecktem Kopfhaar am Schultor. Die meisten von ihnen kamen dann aber der Aufforderung nach, ihre Kopfbedeckung im Klassenraum abzulegen. Leila, eine 19jährige Schülerin in Villeneuv-d'Ascq bei Lille, nahm ihr Tuch vor dem Schultor vom Kopf und erklärte: „Ich habe keine Wahl, ich kann es mir nicht leisten, meine Schulausbildung abzubrechen.“ Der Unterrichtsbeginn an dieser Schule im ehemaligen Industriegebiet an der belgischen Grenze wurde von den Medien besonders aufmerksam beobachtet. Im vergangenen Schuljahr waren dort 52 Kopftuchträgerinnen registriert worden.

Sonderfall Elsass Lediglich in der ostfranzösischen Region Elsass stellte sich die Situation in einigen Orten anders dar: Insgesamt wurden in der Region etwa 100 „widerspenstige“ Kopftuchträgerinnen gezählt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass im Elsass keine Trennung zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen besteht, wie im übrigen Frankreich. Nach der Wiederangliederung an die République Française 1918/19 wurde im Elsass das Konkordat aus der Zeit, als die Region zu Deutschland gehörte, beibehalten. Insofern kann der republikanisch-universalistische Anspruch des französischen Laizismus hier nicht gegenüber muslimischen Kopftuchträgerinnen geltend gemacht werden. Hinzu kommt, dass die Einwanderer im Elsass vorwiegend türkischer und marokkanischer Herkunft sind. Sie sind oft traditioneller orientiert, vor allem wenn sie in ihren Herkunftsländern ländlichen Bevölkerungsgruppen angehörten. Dort ist die Bindung an die Religion noch besonders hoch. Das ist bei den algerischen Immigranten, die im übrigen Frankreich die größte Einwanderergruppe bilden, so nicht der Fall. Bei ihnen war dies weniger traditionell bestimmt, sondern eher an die Konjunktur politischsozialer Bewegungen gekoppelt. Schließlich hat das Elsass von allen französischen Regionen neben der Côte d'Azur den höchsten rechtsextremen Wähleranteil. Deswegen sehen sich viele Einwanderer hier in der Defensive. In diesem Kontext spielt die „Identitätsbindung“ auch bei den Minderheiten eine verstärkte Rolle.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

2

Entführungsfall überschattet Koftuchdebatte Ins Extreme verschärft wurde die Spannung um das Kopftuch zum Beginn des Schulunterrichts zusätzlich durch die Geiselaffäre um die beiden seit dem 20. August im Irak entführten französischen Journalisten Christian Chesnot und Georges Malbrunot. Die Entführergruppe, die unter dem Namen 'Islamische Armee im Irak' auftritt, fordert seit dem 28. August von der französischen Regierung die Rücknahme dieses Gesetzes. Nach Ansicht der Gruppe, die mutmaßlich neben Irakern vor allem aus internationalen Jihad-Aktivisten besteht, für die das Land nur einer der Schauplätze eines internationalen Krieges darstellt, handelt es sich bei dem Gesetz nur um einen Eckstein in der internationalen Konfrontation zwischen Kulturen und Zivilisationen.

Muslime sehen Gesetz als französische Angelegenheit Das aber wiesen alle Kräfte, die die in Frankreich lebenden rund vier Millionen Muslime repräsentieren können, weit von sich. Sie beharrten darauf, dass es sich bei der Auseinandersetzung um das Gesetz, welche unterschiedlichen Standpunkte man auch immer dazu beziehen könne, um eine innerfranzösische gesellschaftliche Debatte handele. Auch die von Medien und Experten oft als „tendenziell fundamentalistisch“ bezeichnete, am internationalen Zusammenschluss der Muslimbrüder orientierte UOIF (Union des Organisations islamiques de France) betonte diese Position. Mit bewaffneten Splittergruppen im Irak, die einen recht willkürlichen Umgang mit Menschenleben pflegen, will man die eigene Sache nicht identifiziert sehen, zumal man sich davon nur einen schweren Rückschlag versprechen könnte. „Auch wir sind in gewisser Weise (in dieser Sache) als Geiseln genommen“, indem die Entführer sich zu vermeintlichen Fürsprechern der französischen Muslime aufschwingen, betonte etwa UOIF-Präsident Laj Thami Breze in einem Interview mit der französischen Boulevardzeitung 'Le Parisien'.

Bemühungen um Freilassung der Geiseln Der im Jahr 2003 in Absprache mit der Pariser Regierung eingerichtete Repräsentativrat der französischen Muslime (CFCM) entsandte am vorigen Mittwoch eine eigene Delegation in den Irak, die dort mit den unterschiedlichen politischen und religiösen Strömungen in Kontakt treten und für die Freilassung der beiden französischen Geiseln plädieren sollte. Ihr Vorgehen stimmte die Delegation dabei mit dem französischen Außenminister Michel Barnier ab, der am Abend des 29. August zu einer Rundreise durch die Region aufgebrochen war, die ihn nach Kairo, Amman und in die qatarische Hauptstadt Doha führte. In der jordanischen Hauptstadt Amman waren Michel Barnier und die drei CFCM-Gesandten vor ihrem Aufbruch nach Bagdad zusammengetroffen. Bei ihrer Rückkehr sandten die drei am Donnerstag und Freitag optimistische Signale aus. Die Freilassung der Geiseln durch ihre Entführer, mit denen ein Kontakt zweifellos nur indirekt über die Vermittlung mehrerer anderer Strukturen hergestellt werden konnte, verzögerte sich jedoch entgegen ursprünglicher Erwartungen am Wochenende weiter.

Zielscheibe Frankreich Frankreich ist nicht zum ersten Mal in seiner jüngeren Geschichte zur Zielscheibe von Anschlägen mit „nahöstlichem“ oder islamistischem Hintergrund geworden. So explodierten 1985 und 1986 in Paris eine Reihe von Bomben, während sich im damaligen Bürgerkriegsland Libanon mehrere französische Geiseln teilweise drei Jahre lang in Gewalt von Gruppen befanden, die der schiitischen Hizbollah nahe standen.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

3

Damals handelte es sich freilich um einen noch überwiegend parastaatlichen Terrorismus im Interesse Irans in gewisser Weise die Quittung dafür, dass Frankreich während der 70er und 80er Jahre zu bedeutenden Teilen hinter der Hochrüstung des irakischen Regimes unter Saddam Hussein gestanden hatte. In Frankreich selbst wurden die Attentate von palästinensischen und libanesischen Splittergruppen mit Anbindung an den Iran durchgeführt. Paris gab am Ende nach: Vier Tage, bevor der damalige Premierminister Jacques Chirac sich im Mai 1988 zum Präsidenten wählen lassen wollte was jedoch damals scheiterte - kamen die Geiseln im Libanon frei. Paris hatte Millionensummen bezahlt und zugesichert, dem Waffenfluss an den Irak ein Ende zu setzen; der achtjährige Krieg zwischen Iran und Irak stand damals ohnehin kurz vor dem Ende.

Gegengewicht zu den USA Die innenpolitische Folge war jedoch damals, zwischen 1985 und 1988, eine verbreitete und von politischen Kräften der Rechten offen angeheizte „Kopf ab!“- sowie „Araber Raus“-Stimmung. Ein ähnliches Klima hat sich bei der aktuellen Geiselaffäre nicht eingestellt. Dazu trug sicherlich das Verhalten französischer Muslime und arabischstämmiger Immigranten bei, die einen bedeutenden Teil der Teilnehmer an den Kundgebungen für die Freilassung der im Irak entführten französischen Journalisten stellten. Auch die derzeitige Schwäche der extremen Rechten unter Jean-Marie Le Pen, der (nach 30 Jahren an der Spitze des neofaschistischen Front National) aus Altersgründen jetzt seinen - schwierigen - Abgang aufs Altenteil einleiten muss, spielt dabei eine Rolle. Und auch das außenpolitische Interesse Frankreichs, das gern als Großmacht in den Angelegenheiten des Nahen Ostens ernst genommen werden möchte, spielt in der aktuellen Dialogpolitik eine Rolle. Dabei hat Frankreich derzeit sicherlich für seine außenpolitischen Ambitionen Pluspunkte sammeln können, da zahlreiche nahöstliche Kräfte von der palästinensischen Hamas bis zur iranischen Regierung sich bei ihrer Unterstützung für die Freilassung von Chesnot und Malbrunot auch explizit positiv auf Frankreichs Rolle als „Gegengewicht zu den USA in der Region“ bezogen haben. Schließlich hat das derzeitige bedächtige Verhalten beider Seiten in dieser Frage aber auch dazu geführt, dass eine Eskalation zu Beginn des Schuljahres vermieden wurde. Der Pariser Bildungsminister François Fillon betonte vor Öffnung der Schultore, in den ersten beiden Unterrichtswochen würden jedenfalls noch keine Schulausschlüsse ausgesprochen, da zuerst „alle Maßnahmen des Dialogs ausgeschöpft“ werden müssten. Bernhard Schmid © Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 05.09.2004 - Letzte Änderung: 15.09.2004

Kopftuch ist nicht gleich Kopftuch! Das Kopftuch wird im Westen oft als Symbol ewigen Rückschritts oder mangelnden Integrationswillens gedeutet - ein gängiges Klischee, hat sich doch die Rolle des „Hijab“ im Laufe der Zeit immer wieder stark gewandelt, wie Sabine Enderwitz meint. Der Frauenschleier hat im Vorderen Orient eine viel ältere Geschichte als der Islam, und gleichzeitig hat er sich in anderer Gestalt auch in Europa bis in die Moderne hinein gehalten. Dem Haar als Sitz der Lebenskraft wurden schon in ältesten Zeiten besondere Kräfte zugeschrieben, und zwar beileibe nicht nur dem Haar der Frauen. Die Überlieferung der biblischen Geschichte von Simson und Delila, die vielfach in der europäischen Malerei und Musik dargestellt und variiert wurde, zeigt es. Und doch war es in der Geschichte vor allem das Haar der Frauen, das ganz besonderen Vorsichtsmaßnahmen unterworfen werden sollte.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

4

Kopfbedeckung hat auch in Europa lange Tradition Von den zwanziger Jahren abgesehen, ging man bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts als gut bürgerliche Frau nicht ohne Hut in die Stadt, und erst allmählich aussterbende Redewendungen wie „unter die Haube kommen“ künden noch heute von den Domestikationsstrategien, denen eine Frau durch ihre Verheiratung unterworfen wurde. Der Islam stellte in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar, sondern nahm mit der Ganzkörperverschleierung und der Institution des Harems die von den Frauen ausgehende Gefahr noch etwas ernster als das Juden- und Christentum. Oder verfügte die mittelalterliche islamische Gesellschaft nur über die größeren ökonomischen Ressourcen, so dass sie, gewissermaßen als unerhörten Luxus, einen Großteil der Bevölkerung ganz auf die biologische Reproduktion beschränken konnte?

Verschleierung als Statussymbol Auch unter islamischen Vorzeichen trugen jedenfalls Bäuerinnen und Beduininnen weder Ganzkörperschleier, noch lebten sie abgeschlossen im Harem. Die volle Verschleierung war eine Prärogative der Städterinnen aus wohlhabenden Schichten, ein Standesmerkmal, das in eben dieser Eigenschaft den Neid der weniger Privilegierten auf sich zog. Zuallererst geschah es in Ägypten, dem am stärksten unter westlichem Einfluss stehenden, islamischen Land, dass dieser Luxus auf einmal als sträflich und selbstzerstörerisch betrachtet wurde. 1899 veröffentlichte der Reformer Qasim Amin sein Pamphlet über „Die Befreiung der Frau“, und zwei Jahre später ließ er ihm als Antwort auf die Proteste von Seiten konservativer Azhar-Scheichs seine Ansichten zu „Die neue Frau“ folgen.

Isolation der Frau belastet Wirtschaftskraft Zu groß schien die gesamtgesellschaftliche Verschwendung, die aus dem Verzicht auf wertvolle Arbeitskraft resultierte, und zu groß schien der Schaden für die künftigen Generationen, wenn sie von nicht einmal halbgebildeten Müttern erzogen wurden. In den folgenden zwei Jahrzehnten legten Frauen aus der Oberschicht ihre Schleier ab, nahmen an Demonstrationen teil und erkämpften sich den Zugang zur Universität. In den Jahrzehnten darauf - und besonders nach der Revolution von 1952, die Gamal Abdel Nasser als Präsident Ägyptens zum Held der gesamten arabischen, islamischen und so genannten „Dritten“ Welt machte - wurden Erziehungsprogramme für Mädchen aufgelegt und Bedingungen geschaffen, welche die Berufstätigkeit von Frauen erleichterten. In den sechziger Jahren sah Kairo wie eine moderne Stadt aus, in der sich eine herangewachsene Mittelschicht nach Kräften bemühte, ihren Vorbildern im Westen ähnlich zu werden. Das änderte sich gewaltig, als Nasser wenige Jahre nach seiner verheerenden Niederlage gegen Israel im Juni-Krieg von 1967 starb und sein Nachfolger Anwar Sadat eine Politik einschlug, welche die Religiösen begünstigte, um sie bei der Zurückdrängung der nasseristischen Linke einzuspannen, und zugleich ausländischen Investoren Tür und Tor öffnete.

Das Kopftuch als Reaktion auf das Scheitern der Moderne Die bestehende und die aufstrebende Mittelschicht, die angehenden Mediziner, Juristen und Ingenieure, sahen sich zunehmend um ihre Zukunft betrogen. Aus diesem Milieu heraus, nicht etwa aus den Kreisen der Religiösen, entwickelte sich die neue, „islamistische“ Bewegung, die in einer Rückkehr zu den Wurzeln, d.h. zu den Prinzipien und Vorschriften des Islam, die Lösung für die soziale Schieflage sah. Im Zuge dieser Entwicklung tauchte auch der Schleier wieder auf, nicht nur in Ägypten, sondern ebenso sehr in anderen islamischen Ländern, überall dort, wo die hoffnungsfroh begonnene Modernisierung in enttäuschte Hoffnungen gemündet war.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

5

Der Bürgerkrieg im Libanon, die Revolution im Iran, der Aufschub des Palästinaproblems, all das trug dazu bei, dass die Menschen zunehmend ihr Heil in einer Rückkehr zum Islam sahen; „der Islam ist die Lösung“ wurde zum Schlagwort.

Der Schleier als ein Phänomen der Moderne Der Islamismus (oder die Re-Islamisierung) war von Anfang an als Reaktion auf die Moderne ein Phänomen der Moderne, keine „Rückkehr ins Mittelalter“. Dasselbe gilt für den Schleier bzw. das Kopftuch, die schon äußerlich eine Neuerfindung sind und keine Präzedenz in der islamischen Geschichte haben (Früher war der Schleier regional unterschiedlich und sozial abgestuft, heute existiert er nur noch in einer einzigen, als „islamisch“ verstandenen Norm, die allerdings in unendlich vielen Graden existiert). Vor allem zeigt sich die Moderne in den modernen Funktionen von Schleier und Kopftuch, die sich so gar nicht in ein Schema der Rückwärtsgewandtheit einfügen wollen. Schleier und Kopftuch besitzen zusammen mit ihrer religiösen und vielleicht noch mehr als diese eine kulturelle, politische und soziale Relevanz. Nach außen hin, zum Westen und innerhalb der westlichen Gesellschaften symbolisieren sie eine Ablehnung der Alternative von Nichtintegration oder Assimilation, die selbstbewusste Suche nach einem „dritten“, authentischen Weg.

Kopftuch auch ein Instrument der Befreiung Nach innen, innerhalb der ägyptischen, syrischen oder türkischen Gesellschaft, symbolisieren sie den Anspruch auf Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit zwischen den Schichten ebenso wie den Geschlechtern, und diesen Aspekt übersieht man im Westen sehr leicht. Die „islamische Kleidung“ für Männer und Frauen befreit ihre TrägerInnen vom Zwang, durch teure Kleidung, Kosmetika und Schmuck mit ihresgleichen (hoffnungslos) zu konkurrieren, und gleichzeitig ermöglicht sie die schon äußerlich sichtbare Ablösung von der möglicherweise als drückend empfundenen sozialen Herkunft. Darüber hinaus verhilft sie Mädchen und Frauen in einer Öffentlichkeit, die nach wie vor von Männern dominiert wird, zu einem Nimbus sexueller Unangreifbarkeit und erleichtert es ihnen auf diese Weise, ihren Weg in Ausbildung und Beruf einzuschlagen. Unter funktionalen Gesichtspunkten ist es also sehr wohl möglich, das Kopftuch als genaues Gegenteil einer zur Schau getragenen Rückständigkeit, nämlich als Attribut von Modernität, zu verstehen. Gleichwohl bleibt das Kopftuch multifunktional, dient es ebenso sehr einem Vater als Instrument, seiner Tochter die höhere Bildung zu verwehren, wie es der Tochter als Instrument dienen kann, ihrem Vater die höhere Bildung abzutrotzen. Noch komplizierter wird es, wenn wir den islamistischen Diskurs betrachten, der den Schleier ins Zentrum seines Kampfes für Authentizität und gegen Verwestlichung stellt. Es ist ein absolutes Novum in der islamischen Geschichte, dass der weibliche Körper zum Austragungsort eines imaginierten Kulturkampfs zwischen „Islam“ und (heidnischem) „Westen“ geworden ist, wobei sich der letztere aus der Perspektive des ersteren vorrangig durch sein Fehlverhalten im Verhältnis der Geschlechter, der Generationen und von Familie und Öffentlichkeit negativ ins Bild setzt. Das Gegenbild ist dann ein authentischer Islam in „ursprünglicher“ Reinheit, der schon durch den idealen Charakter fest gefügter Rollenbestimmungen nicht anders kann, als repressive Züge zu tragen. Doch sind das weitergehende Erwägungen, die einem muslimischen Mädchen bei seiner Suche nach Identität in einem Labyrinth einander kreuzender Ansprüche von Elternhaus und Schule, Peer-Group und Lehrstelle oder Religionsgemeinschaft und Stadtteil herzlich egal sein dürften. Sabine Enderwitz © 2004 Qantara.de Veröffentlicht: 03.04.2004 - Letzte Änderung: 03.04.2004

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

6

„Wie ein Dach auf einem Haus“ In Nordrhein-Westfalen, wo die meisten Ausländer leben, ist bislang noch keine Entscheidung in Punkto Kopftuchverbot gefallen. Ungefähr zwanzig Lehrerinnen in NRW wären von einem Kopftuchverbot betroffen. Elena Ern hat eine von ihnen besucht. Hanife Yilmaz sitzt im Lehrerzimmer des Ricarda-Huch-Gymnasiums in Gelsenkirchen. Sie ist Referendarin - also im abschließenden berufsvorbereitenden Dienst - und bereitet sich auf den Unterricht vor. Ihre Fächer sind Englisch, Deutsch und Türkisch. Sie trägt einen roten Pullover und eine schwarze Hose - passend zu ihrem Kopftuch. Darauf, sagt Hanife Yilmaz, haben Schüler, Schulleiter und Kollegen bisher positiv reagiert: „Ich werde genauso behandelt wie alle anderen Referendare. Es herrscht auch eine freundschaftliche Atmosphäre. Manche haben das Gefühl, dass man durch das Kopftuch irgendwie eine Distanz zu den Schülern weckt, aber ich hatte nicht das Gefühl.“ Auf den ersten Blick ist das Ricarda-Huch-Gymnasium eine ganz normale Gelsenkirchener Schule. Der Ausländeranteil ist, wie in der ganzen Stadt auch, hoch. Aber die Schule sieht darin Chancen. Weil sie durch verschiedene Projekte das multikulturelle Miteinander förderte, erhielt sie den Status einer UNESCO-Schule.

„Eine Schule, viele Nationen“ An den Fenstern am Eingang kleben Flaggen verschiedener Länder. In der Mitte ein großes Transparent: „Eine Schule, viele Nationen.“ Hier besuchen Schüler den Türkisch-Leistungskurs oder lernen Türkisch als Fremdsprache. Hanife Yilmaz ist froh, dass sie an diese Schule gekommen ist. „Ich denke schon, dass ich Glück hatte, an eine solche Schule zu kommen, die schon als Grundlage diese multikulturelle Ausrichtung hat“, sagt sie. „Ich hoffe, dass das auch so weitergeht. Die aktuelle Schulleitung legt wirklich sehr viel Wert auf multikulturelle Erziehung, beziehungsweise interkulturelle Erziehung. Und das finde ich auch sehr wichtig. Da sollten auch andere Schulen ruhig offen für diese Konzepte sein. Wobei dieses Kopftuch immer eine Streitfrage war und ist. Manche sehen das ja nicht als Teilaspekt der multikulturellen Gesellschaft sondern als etwas ganz anderes.“

Kopftuch ist Zeichen der Religion Doch Hanife Yilmaz wehrt sich gegen den Vorwurf, sie könne Schüler mit ihrem Kopftuch missionieren oder indoktrinieren. Wie jede andere Lehrerin auch wolle sie einfach ihre Fächer gut vermitteln. Außerdem werde sie von niemandem dazu gezwungen, das Kopftuch zu tragen. Das Tuch sei lediglich ein Zeichen ihrer Religion. Die Entscheidung es aufzusetzen, habe sie selbst getroffen, nach dem Abitur. Doch vor allem seit dem so genannten „Kopftuchstreit“ werde sie häufig gefragt, warum sie das Kopftuch trage. Grundsätzlich gebe sie da gerne eine Antwort. Doch alles habe seine Grenzen: „Für mich wäre das kein Problem, das könnte man jederzeit thematisieren. Andererseits empfinde ich das als eine Belastung, wenn ich das jedes Mal noch mal problematisieren müsste. Und mich jedes Mal neu erklären, neu definieren, neu präsentieren müsste.“

Teil des Persönlichkeitsrechts Andreas Hüwe, Deutsch- und Geschichtslehrer am Ricarda-Huch-Gymnasium, hat dafür Verständnis: „Ich bin der Meinung, dass das Kopftuch nur Ausdruck ist einer persönlichen und auch glaubensmäßig begründeten Lebenseinstellung und insofern zum Persönlichkeitsrecht gehört. Genauso wie jemand in Diskussionen ständig zum Ausdruck bringen kann, dass er ein ganz, ganz gläubiger Christ ist.“ Den Unterricht von Andreas Hüwe besuchen auch Dillek und Türkan. Sie sind beste Freundinnen. Zusammen gehen sie in die achte Klasse. Dillek trägt ein Kopftuch, Türkan nicht. Ein Problem haben die beiden damit nicht. Auch die anderen Schüler sehen Kopftuch oder nicht als eine persönliche Entscheidung.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

7

Gleichwohl macht sich Dillek schon jetzt Gedanken darüber, welchen Beruf sie mit dem Kopftuch später ergreifen kann. Sie hofft, dass es dann in Nordrhein-Westfalen noch erlaubt sein wird, in der Schule ein Kopftuch zu tragen. „Ich möchte später auch Lehrerin werden“, erzählt sie, „und ich fände das schade, wenn das verboten würde. Wenn man keinen Einfluss auf die Kinder hat, dann könnte man ja ein Kopftuch tragen. Das Wichtige ist ja auch, den Kindern etwas beizubringen und nicht persönliche Dinge.“

„Es gehört zu mir“ Und was macht die Referendarin Hanife Yilmaz, wenn auch die Nordrhein-Westfälische Regierung Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht verbieten sollte. Darüber will sie noch gar nicht nachdenken. Nur eins weiß sie sicher: auf das Kopftuch verzichtet sie nicht: „Es gehört zu mir. Es ist ein Teil von mir ist. Es ist nicht nur ein Tuch, das man auf seinen Kopf bindet, sondern es ist etwas Verinnerlichtes. Es ist wie ein Dach auf einem Haus. Ohne Dach würde ich mich nicht wohl fühlen. „ Elena Ern © DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004 Veröffentlicht: 28.05.2004 - Letzte Änderung: 28.05.2004

Institut für Menschenrechte

Gesetzliche Regelung zum Kopftuch nicht zwingend Gegen ein generelles Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen hat sich das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin ausgesprochen. Sabine Ripperger berichtet. Wenn islamistische Kreise das Kopftuch politisch aufladen wollten, so sei das eine Sache - eine andere sei aber, dass sich Staat, Kirchen und andere gesellschaftliche Gruppierungen nicht von diesem Versuch beeindrucken lassen und stattdessen das Kopftuch entpolitisieren sollten, so der Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Heiner Bielefeldt. Das 2001 gegründete Institut für Menschenrechte wird aus Mitteln der Bundesministerien für Justiz und Entwicklungszusammenarbeit und des Auswärtigen Amtes finanziert. Das Institut befasst sich auch mit innenpolitischen Fragen wie dem so genannten Kopftuchurteil. Auch das Institut gibt zu, dass das Kopftuch einerseits für die Unterdrückung der Frau im Namen religiöser und kultureller Tradition stehen, aber gleichzeitig auch Ausdruck freier religiöser Selbstbestimmung sein kann. Deswegen möchte das Institut für gerichtlich überprüfbare Einzelfallentscheidungen im Konfliktfall plädieren und spricht sich gegen ein pauschales Kopftuchverbot für die Lehrerinnen.

Zwischen Religionsfreiheit und Menschenrechten Es gehe hier um eine sorgfältige Abwägung zwischen der Religionsfreiheit der Lehrerin und anderen menschenrechtlichen Ansprüchen wie zum Beispiel der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, so der Direktor Heiner Bielefeldt: „Wir glauben, dass es nicht sinnvoll ist, bereits im Vorfeld einen solchen Konflikt zu unterstellen. Nicht jedes Kopftuch steht für die Unterdrückung der Frau. Es kommt letzten Endes darauf an, was die entsprechende Person denkt, was sie praktiziert, wie sie sich insgesamt darstellt. Das heißt also, man muss der Person einer Lehrerin dann insgesamt gerecht werden und kann sich nicht allein am Kopftuch orientieren und von dorther Verbotsentscheidungen begründen.“

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

8

Konflikte nicht vorprogrammiert, aber möglich In diesem Zusammenhang verwies Bielefeldt darauf, dass es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen eine ganze Reihe von Kopftuch tragenden Lehrerinnen gebe, ohne dass dies zu Protesten von Eltern, Schulleitung oder Schulverwaltung geführt habe. Es müsse also gar nicht zu Konflikten kommen, sondern hänge vom Verhalten und der Kompetenz der entsprechenden Lehrerin ab. Als den schwierigsten Konflikt in diesem Zusammenhang bezeichnete Bielefeldt den zwischen der Religionsfreiheit der Lehrerin und der Religionsfreiheit von Schülerinnen und Schülern. Denn diese haben das Recht, im Rahmen der staatlichen Pflichtschule nicht gegen ihren Willen religiöser Einflussnahme ausgesetzt zu werden. Hinzu komme das elterliche Erziehungsrecht. Da könnten unterschiedliche Ansprüche aufeinanderprallen, auch bei der Einhaltung des Prinzips der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, wie Institutsdirektor Bielefeldt einräumt. Daher sei es denkbar, dass das Recht der Lehrerin auf Tragen des Kopftuchs in bestimmten Fällen zugunsten anderer Rechte zurücktreten müsse. Doch dass muss im Einzelfall entschieden werden. „Es wäre ja denkbar, dass die Lehrerin sich so verhält, dass Schülerinnen und Schüler tatsächlich religiöser Indoktrination ausgesetzt werden, dass möglicherweise Druck, den Schülerinnen aufgrund ihres Milieus sowieso erfahren, noch von der Schule verstärkt wird. All das ist ja denkbar“, so Heiner Bielefeld. „Es kann aber auch sein, dass sie als Kopftuch tragende Lehrerin das Gespräch mit Eltern sucht, auch mit muslimischen Eltern, um neue Freiheitschancen für Schülerinnen herauszuhandeln, vielleicht sich auch einsetzt für Teilnahme am Sport- und Schwimmunterricht unter bestimmten Bedingungen.“

Kontrolle an öffentlichen Schulen ausreichend Erst kürzlich hatte der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Mahrenholz davor gewarnt, Kopftuch tragenden Lehrerinnen pauschal Verfassungsuntreue zu unterstellen. Die Debatte dürfe nicht auf das Kopftuch eingeengt werden. Die Gefahren müssten vielmehr in Koranschulen oder in islamischen Privatschulen gesucht werden. An öffentlichen Schulen in Deutschland sei die öffentliche Kontrolle ausreichend, so der Jurist. Das Deutsche Institut für Menschenrechte rät ebenfalls, von pauschalen Kopftuchverboten abzusehen. Im Moment bewegen sich die Bundesländer laut Bielefeldt in unterschiedliche Richtungen. „Es gibt eine Tendenz, das Kopftuch zu verbieten, per Gesetz. Eine zweite Tendenz - dafür steht Berlin - ist, religiöse Symbole für Lehrerinnen und Lehrer möglichst ganz zu entfernen. Eine dritte Tendenz ist, Verbote mit Erlaubnisvorbehalt einzuführen. Da wird im Moment in Nordrhein-Westfalen experimentiert. Und eine vierte Tendenz geht dahin, gar keine Gesetze zu machen. Das ist ja auch möglich. Das ist nicht ausgeschlossen durch dieses Urteil - also Rheinland-Pfalz etwa. Das heißt, man wartet ab, ob es ein Problem gibt. Und wenn es Probleme geben sollte, hat man ja mit dem Disziplinarrecht immer noch Möglichkeiten, auch dringend notwendige schulische Belange zur Geltung zu bringen oder auf Ausgleich zu setzen. Also, es ist nicht zwingend, dass man hier etwas regelt.“ Sabine Ripperger © DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004 Veröffentlicht: 19.05.2004 - Letzte Änderung: 19.05.2004

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

9

Das Kreuz mit dem Kopftuch Das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat viele Fragen offen gelassen. Denn eine bundesweit einheitliche Regelung ist an deutschen Schulen auch Monate nach dem Richterspruch nicht in Sicht. Zu unterschiedlich gehen die Bundesländer bisher an ein Kopftuchverbot heran. Eine eindeutige Klärung des Streits durch Ländergesetze wird bezweifelt. Seit April 2004 ist es also amtlich: Als erstes deutsches Bundesland hat Baden-Württemberg ein KopftuchVerbot für Lehrerinnen beschlossen. Muslimischen Lehrkräften ist es danach künftig untersagt, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Die entsprechende Änderung des Schulgesetzes, die Mitte April in Kraft treten soll, wurde im Stuttgarter Landtag mit breiter Mehrheit verabschiedet: Neben den Regierungsfraktionen von CDU und FDP stimmte auch die oppositionelle SPD für den Gesetzentwurf von Kultusministerin Schavan (CDU). Doch viel wurde im Vorfeld über die Folgen eines Verbotes diskutiert - kein Wunder blieben doch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen September noch viele Fragen offen: Was ist ein Kopftuch, wofür steht es beziehungsweise wird es getragen, und welche Wirkung hat es auf Schüler und den Unterrichtsfrieden? Wo beginnt und wo endet die politische und religiöse Neutralität von Lehrern, zumal solchen muslimischen Glaubens? Und wie ist es in Deutschland um die Gleichbehandlung der Religionen und ihrer Angehörigen bestellt? All diese Fragen hat das so genannte „Kopftuch-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts mehr aufgeworfen als beantwortet.

Ein Urteil im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik Selten wurde ein Spruch der obersten Richter in Deutschland derart heftig kritisiert wie dieser. „Nicht gerade hilfreich“ nannte Ernst Gottfried Mahrenholtz, früher selber Vizepräsident des Verfassungsgerichts, die Entscheidung. Der Präsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse (SPD), bezeichnete sie sogar als „merkwürdig feige“. Und auch Bundespräsident Johannes Rau hat seine Ablehnung des Kopftuchverbots an deutschen Schulen im Februar 2004 erneut bekräftigt. „Unser Grundgesetz garantiert Religionsfreiheit für alle, nicht nur für Christen“, erklärte Rau. Da der Gesetzgeber kein Definitionsrecht über Zeichen einer Religion habe, müsse er es hinnehmen, wenn eine Muslimin das Kopftuch trägt, um ihren Glauben nach außen zu dokumentieren, so der Bundespräsident. Ganz ähnlich auch die Meinung der Präsidentin des Goethe-Instituts, Jutta Limbach. Sie lehnte ein Kopftuchverbot mit der Begründung ab, der moderne Verfassungsstaat müsse die kulturelle und religiöse Verschiedenheit zulassen, pflegen und verteidigen. Zur Toleranz gehörten auch wechselseitige Achtung und Verständigung, erklärte Limbach.

Aufruf gegen „Lex Kopftuch“ Doch damit nicht genug: Als Reaktion auf das Urteil bildete sich im vergangenen Dezember eine überparteiliche Frauen-Initiative gegen das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen heraus. Ihr Argument: Mit einem Verbot würde eine Ausgrenzungspolitik betrieben, die nur den Fundamentalisten in die Hände spiele. Zu den mehr als 70 prominenten Unterzeichnerinnen des Aufrufs gehören Politikerinnen aller Bundestagsfraktionen, Wissenschaftlerinnen, Vertreterinnen von Kirche, Kultur und Medien. Unterstützt wurde der Appell u.a. von der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, der Verbraucherschutzministerin Renate Künast, der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger und der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik, Claudia Roth. Auch prominente Schauspielerinnen wie Katja Riemann und Renan Demirkan gehörten zu den Unterzeichnern. Doch was hatte eigentlich genau den Stein des Anstoßes für die anhaltende Kopftuchdebatte in Deutschland gegeben?

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

10

Der Fall Ludin Wir erinnern uns: Ende September 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der Muslimin Fereshta Ludin angenommen. Die aus Afghanistan stammende Lehrerin war vom Land BadenWürttemberg nicht in den Schuldienst übernommen worden, weil sie im Unterricht das Kopftuch tragen wollte. Dadurch sah nicht nur Ludin das vom Grundgesetz geschützte Grundrecht auf Glaubensfreiheit verletzt. Auch die Karlsruher Richter pflichteten ihr bei – um freilich zugleich den Weg in die andere Richtung aufzuzeigen. Der Staat könne das Tragen des Kopftuchs im Unterricht durchaus verbieten. Dafür aber brauche es entsprechende Gesetze, und die fehlten bislang. Diese Lücke wollen mehrere Bundesländer nun schließen. Als erstes reagierte das in Karlsruhe unterlegene Baden-Württemberg. Mitte November 2003 verabschiedete die Landesregierung einen Gesetzesentwurf, demzufolge Lehrerinnen dort künftig kein Kopftuch in der Klasse tragen dürfen. Anfang Dezember nahm dann Bayern den Fingerzeig der Verfassungsrichter auf und brachte ebenfalls ein gesetzliches Verbot auf den Weg.

Mehr als nur ein religiöses Symbol? Die Begründung ist in beiden von CDU/CSU regierten Ländern nahezu identisch: Lehrkräfte dürften auch durch ihre Bekleidung keine Bekundungen abgeben, „die mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen nicht vereinbar sind oder den Schulfrieden stören könnten“, so Bayerns Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU). Die Landesregierungen in München und Stuttgart sehen das Kopftuch nicht alleine als religiöses Symbol an, sondern auch als Zeichen kultureller Abgrenzung. „Es steht für eine bestimmte Richtung im Islam, die sich an fundamentalistischen Grundsätzen orientiert“, sagt die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU), „zudem verbindet ein Teil seiner Befürworter damit eine mindere Stellung der Frau in der Gesellschaft.“

Keine einheitliche gesetzliche Regelung Fünf Monate nach dem Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben auch Hessen und das Saarland ein Kopftuchverbot auf den Weg gebracht. Nach der ersten Lesung in den Landtagen in Wiesbaden und Saarbrücken wurden die entsprechenden Gesetzentwürfe in beiden Ländern in die zuständigen Ausschüsse verwiesen. Während im Saarland nur Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs verboten werden soll, soll nach den Plänen der allein regierenden hessischen CDU für alle Beamtinnen ein solches Verbot gelten. Dabei erwägen nicht nur die CDU- sondern auch die SPD-geführten Bundesländer, das Tragen des Kopftuchs zu untersagen. So hat sich nach monatelangem Streit die rot-rote Koalition in Berlin auf einen Kompromiss im KopftuchStreit geeinigt. Danach würden in staatlichen Schulen, bei Justiz, Polizei und Feuerwehr alle religiösen Symbole verboten. Doch insgesamt gehen die Bundesländer sehr unterschiedlich an ein Kopftuchverbot heran. So soll in Bremen in öffentlichen Foren über eine mögliches Verbot diskutiert werden, bevor die große Koalition eine Entscheidung trifft. Keinen Handlungsbedarf sehen derzeit vor allem die ostdeutschen Länder. Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wollen zunächst abwarten. Auch Hamburg und Schleswig-Holstein halten eine gesetzliche Regelung momentan nicht für notwendig. Rheinland-Pfalz ist gegen ein gesetzliches Verbot und sieht die bestehende Neutralitätspflicht für Lehrerinnen als ausreichend an.

Entscheidend ist, was im und nicht was auf dem Kopf ist! Die vorliegenden Gesetzesentwürfe für ein Verbot, wie in Bayern und Baden-Württemberg, werden bereits heftig kritisiert. Auf Ablehnung stößt etwa, dass das Kopftuch vor allem als „fundamentalistisches Symbol“

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

11

betrachtet wird. „Es gibt sehr wohl Frauen, die das Kopftuch tragen, ohne gleich Fundamentalistinnen zu sein oder sich unterdrückt zu fühlen“, sagt der Islam-Experte und Jurist Mathias Rohe von der Universität Nürnberg-Erlangen. Und die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, kommt zu der Ansicht, dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zunehmend eine emotional geführte Debatte um das Kopftuch entbrannt ist. Sachlichkeit und Rationalität rückten dabei in den Hintergrund, eine differenzierte Betrachtung ginge verloren, so Beck. Die ersten Gesetzesinitiativen, hätten das verfassungsrechtliche Gebot des Urteils, das ganz eindeutig formuliert sei, missachtet: Nämlich, dass es um eine Gleichbehandlung aller Religionen gehen müsse, erklärte die Migrationsbeauftragte. „Wir meinen, dass das Entscheidende um das Kopftuch nicht die Frage ist, was AUF dem Kopf ist, sondern die Frage, was IM Kopf ist.“

Klärung durch Ländergesetze zweifelhaft Auch die deutschen Bischöfe hielten eine eindeutige Klärung des Konflikts durch neue Ländergesetze für unwahrscheinlich. Auf der Deutschen Bischofskonferenz im März 2004 äußerte Kardinal Karl Lehmann Bedenken zum juristischen Streit über das Kopftuchtragen von muslimischen Lehrerinnen. Er deutete dabei an, dass das Thema möglicherweise durch bereits bestehende Disziplinarmaßnahmen hätte geregelt werden können. Im persönlich sei der Kopftuchstreit „zu hoch gehängt“. Der gewichtigste Einwand ist jedoch ein anderer: Nach Ansicht vieler Juristen, wie des ExVerfassungsrichters Mahrenholtz, verstoßen die Gesetzesentwürfe selber gegen den Gleichheitsgrundsatz und gegen das Karlsruher Urteil, weil sie die Angehörigen und die Symbole der muslimischen Religionsgemeinschaft schlechter stellen, als die der christlichen und jüdischen. Tatsächlich hatten die Karlsruher Richter in ihrem Urteil von der Politik verlangt, alle Religionen und religiösen Symbole gleich zu behandeln. Demnach müsste nicht nur muslimischen Lehrerinnen verboten werden, mit Kopftuch zu unterrichten – sondern etwa auch katholischen Schwestern, in ihrer Ordenstracht vor die Schüler zu treten. Eben das ist in Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bayern aber nicht geplant. Beide Länder nehmen „die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ ausdrücklich von einem Verbot aus. Sie stehe nicht im Gegensatz zu den verfassungsrechtlichen Grundwerten. © Goethe-Institut/Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 10.03.2004 - Letzte Änderung: 03.04.2004

Integrationspolitik

Das Kopftuch als Ersatzdiskurs Ist die deutsche Gesellschaft bereit für die Integration der Muslime? Raida Chbib, Doktorandin und Referentin für politische Bildung am Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e.V. in Köln, bezweifelt dies und fordert die Politiker zum Umdenken auf. Mit dem Kopftuch wird aktuell all das verbunden, was in Anbetracht der Sicherheitsbedrohung durch global agierende Terroristen oder durch negative Entwicklungen in der islamischen Welt bzw. das allgemein negative Stimmungsbild über Muslime in den Islam hineinprojiziert wird. Wenn früher mit dem Kopftuch die Unterdrückung der Frau, ihre Unmündigkeit, Rückständigkeit und Schwäche assoziiert wurden, so sind heute Terrorismus, Extremismus, Anti-Moderne und Ablehnung demokratischer Werte hinzugekommen.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

12

Dies wird auch im Rahmen der Überlegungen zur Integration von Muslimen deutlich. Diese wird immer mehr unter sicherheitspolitischen Aspekten geführt, im Lichte innenpolitischer Maßnahmen zu „Konfliktprävention“ und Schadensabwendung.

Wie viel Religion verträgt die Gesellschaft? Doch in der Politik bleibt die Frage nach der Integration von Muslimen und dem Umgang mit muslimischen Frauen mit Kopftuch in erster Linie eine migrationspolitische Debatte, da der Islam als eine fremde Religion betrachtet wird, die mit der Gastarbeitergeneration nach Deutschland hineingetragen wurde. Die wachsende Zahl deutschstämmiger und eingebürgerter Muslime wird dabei zu wenig berücksichtigt. Das Kopftuch ist somit zum Gegenstand eines Ersatzdiskurses geworden, der eine längst überfällige sachliche und zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Umgang der Gesellschaft mit Muslimen im Besonderen und zugewanderten Menschen im Allgemeinen beiseite schiebt. Sie hat aber auch ganz andere bisher nicht hinreichend reflektierte Fragen aufgeworfen, nämlich: Wie viel Religion vertragen Staat und Gesellschaft? Wie viel kulturelle und religiöse Vielfalt will man hier zulassen?

Das Kopftuch als Ersatzdiskurs In dieses Netz hat sich die Debatte um das Thema kopftuchtragende Musliminnen in Deutschland verfangen. Die Positionen der meisten Abgeordneten in den Landtagen, die Stellungnahmen unterschiedlicher Politiker und Meinungsumfragen unter Deutschen offenbaren, dass am Thema Kopftuch im öffentlichen Dienst diese Fragen unterbewusst aufgearbeitet werden. Die Art und Weise aber lässt zu Wünschen übrig. Davor ist zu warnen, denn diese Themen sind viel zu bedeutsam für die Zukunft Deutschlands und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, als dass sie in dieser Unsensibilität, Einseitigkeit und Fahrlässigkeit weitergeführt werden dürfen. Eine solche Debatte verwirkt langfristig das Vertrauen der muslimischen Mitbürger und insbesondere der integrationswilligen muslimischen Frauen mit Kopftuch. Viele von ihnen haben sich aus überkommenen Traditionen befreit und bemühen sich in der Regel um eine Harmonisierung von islamischer Glaubenspraxis und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

„Sind die Deutschen bereit für die Integration?“ Gerade diese Gruppe gerät immer wieder unter die Räder einer noch nicht erfolgten Anpassung der Gesellschaft an veränderte Realitäten. Die wachsende Vielfalt an Kulturen und Religionen und eine veränderte Bevölkerungsstruktur mit einem zunehmenden Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund sind zu einer Realität geworden, die manche verdrängen und andere als Provokation empfinden. Die Frage ist: Sind die Deutschen ihrerseits bereit für die Integration? Denn, so formuliert es ein Positionspapier der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung: „Man kann nicht einseitig über die Integrationswilligkeit von Migranten und Migrantinnen reden, ohne zugleich die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft einzufordern.“ Da die besondere Herausforderung bei der Integration gerade in der Anerkennung von Unterschieden liegt, lässt sich besonders am Beispiel des nach Außen deutlich wahrnehmbaren Schleiers der wahre Wille von Politik und Mehrheitsgesellschaft zu Integration, Toleranz und Akzeptanz artikulierter Andersartigkeit messen. Wird den praktizierenden muslimischen Frauen, die aus freien Stücken an ihrer Bekleidung, welche – wie viele betonen – Ausdruck ihrer individuellen Auffassung von Würde und Sittsamkeit ist, der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert und zum öffentlichen Dienst verwehrt, so ist das eine deutliche Absage an eine Integrationspolitik unter Respektierung kultureller und religiöser Vielfalt.

Kopftuchdebatte verhindert Integration Eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, welche als grundlegendes Ziel einer modernen Integrationspolitik gilt, wird bisweilen vielen praktizierenden Musliminnen verwehrt. Ihre

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

13

Probleme auf dem Arbeitsmarkt werden durch die gegenwärtige öffentliche Debatte – ihren eigenen Aussagen zufolge -erheblich verstärkt. Kulturelle und religiöse Heterogenität aber muss von der Gesellschaft als Bereicherung und Selbstverständlichkeit in einer globalisierten Welt begriffen werden.

Symbol des Islamismus? Den muslimischen Frauen, die auf dem Kopftuch bestehen, wird generell ein Unvermögen oder Unwillen zur Wahrung der staatlichen Neutralitätspflicht in ihrem Beruf unterstellt. Gern bezieht man sich einseitig auf Aussagen einiger „liberal denkender“ Muslime, die behaupten, die Kopfbedeckung sei keine religiöse Pflicht. Eine Frau, die trotzdem darauf besteht, kann nach deren Auffassung nur durch eine „islamistische“ bzw. fundamentalistische Auslegungspraxis verblendet worden sein. Die Menschen unter dem Tuch werden demnach nicht mehr als Individuen mit eigener Persönlichkeit und einer ihnen spezifischen Haltung zu Gesellschaft und Verfassung wahrgenommen, stattdessen wird eine objektive Auseinandersetzung mit Einzelfällen durch Klischeevorstellungen verklärt, welche die betroffenen muslimischen Frauen zum Sündenbock für ein ungeklärtes Verhältnis der Gesellschaft und Politik zum Islam und den muslimischen Verbänden macht. Bevor Integration von der Gesellschaft verlangt werden kann, muss interkulturelle und religiöse Kompetenz bei einigen Politikern entwickelt werden. Unvoreingenommene Sachlichkeit – auch in Bezug auf Meinungen und Einstellungen, die nicht in das eigene Denkschemata passen -, muss in Anbetracht ihrer besonderen Verantwortung für die gesamte Gesellschaft von ihnen in besonderem Maße eingefordert werden.

Den Frauen eine Chance geben Muslimische Frauen, die mit Kopftuch an Schulen unterrichten, als Juristinnen oder als Politikerinnen arbeiten wollen und sich klar und deutlich zu den in der Verfassung formulierten Wertvorstellungen bekennen, müssen ihre Chance erhalten, im Staatsdienst die Realitäten der heutigen deutschen Gesellschaft, widerzuspiegeln. Eine Missionierungsambition oder Demokratiefeindlichkeit darf ihnen nicht von vornhinein unterstellt werden. Die angebliche „Signalwirkung“ ihrer religiösen Bekleidung muss nicht automatisch als Verletzung der negativen Glaubensfreiheit anderer verstanden werden. Vielmehr könnte eine Frau in öffentlichen Berufen die verzerrten Wahrnehmungsmuster und Vorurteile in Bezug auf fromme muslimische Frauen mit der Zeit aufbrechen. Sie müsste sich jedoch als Beamtin im Staatsdienst, wie andere auch, in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral verhalten. Raida Chbib © Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 13.05.2004 - Letzte Änderung: 17.05.2004

Meinung

Kopftuchfrage unerheblich für Reformprozess Die Frage des Kopftuchs ist für die Entwicklung der islamischen Gemeinschaft nicht entscheidend. Deshalb sollte ihr keine Priorität zugemessen werden, schreibt der in Bahrain ansässige Publizist Muhammad Djabir al-Ansari. Unter Arabern und Muslimen tobt der Streit um den Schleier, und dies in einer Zeit, in der die arabischen Länder teilweise besetzt sind, die Rechtslage dort kritisch ist, sie in ihrem Fortbestehen bedroht sind und sich um ihre Kultur und Unabhängigkeit sorgen sollten.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

14

Kann dieser Streit diese Länder dem eigentlichen Kern des Islam näher bringen, kann er als Botschaft der Befreiung, der Restauration verstanden werden? Ist er geeignet, sie aus der strategischen und zivilisatorischen Schwäche heraus zu bringen, die sie vor den tonangebenden Weltmächten bekennen müssen?

Schleier als Protestsymbol Um die Situation der Muslime zu verändern, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass eine Äußerlichkeiten betreffende Frage, ob die Verschleierung zu befürworten oder abzulehnen sei, angesichts unseres Dilemmas keine Priorität für die Umsetzung islamischer Werte besitzt. Der Schleier war und ist ein politisches Symbol. Stets diente er der Opposition zum Protest, sei es gegen den französischen Kolonialismus in Algerien oder das Schah-System in Iran. Abgesehen von seiner Rolle als Protestsymbol, wird dem Schleier in keiner islamischen Gesellschaft eine Funktion beim Reformprozess zukommen. In der islamischen Rechtsprechung geht es bei der Verschleierung um das Prinzip der Keuschheit, nicht um Kleidungsvorschriften, daher wird auch hier keine eindeutige Entscheidung für oder gegen die Verschleierung getroffen werden. Erstaunlich, oder sogar verwerflich, ist, dass wir immer wieder betonen, der Islam habe das Ansehen der Frau gehoben und für die Wahrung ihrer Rechte gesorgt – was unbestritten ist –, gleichzeitig aber die modernen Musliminnen doppelt zu leiden haben. Zum einen stehen Frauen vor enormen Schwierigkeiten, wenn sie bei einem islamischen Gericht die Scheidung einreichen, zum anderen erfahren sie durch die Richter häufig Benachteiligungen bei der Alimentierung und dem Fürsorgerecht (…). Wie lässt sich dieser eklatante Widerspruch im Leben der Muslime erklären? Und warum entsetzen wir uns über den Schleier der Frauen und nicht über das wirkliche Elend, dem sie in ihrer menschlichen, rechtlichen und seelischen Isolierung ausgesetzt sind? (…)

Überzeugung des Menschen ist entscheidend Es geht nicht um eine Entscheidung für oder gegen den Schleier, doch genau darüber wird besonders unter den Intellektuellen in den arabischen Gesellschaften seit Beginn der „nahda“, des Wiedererwachens eines arabisch-islamischen Selbstbewusstseins im 19. Jahrhundert ununterbrochen diskutiert. Das Ganze ist nichts als tugendhaftes Gebaren, wobei diese so genannte Tugendhaftigkeit lediglich mit sich bringt, dass heute einige Frauen in den islamischen Gesellschaften im Schutze des Schleiers Orte aufsuchen können, an denen sich der Aufenthalt für eine anständige Frau nicht ziemt. War also der Schleier für diese Frauen ein Hindernis, oder öffnete er ihnen nicht vielmehr eine Tür? Legt die Frau hingegen ihr Kopftuch ab und verhält sich zugleich weiterhin, wie es sich geziemt, so kann sie tatsächlich als Persönlichkeit auftreten und als solche Anerkennung finden. Entscheidend sind letztlich die persönlichen und religiösen Überzeugungen eines Menschen, ob Mann oder Frau. Alles andere ist Augenwischerei. (…) Würde die Botschaft des Islam allein auf Äußerlichkeiten beruhen, würde sie nicht vor allem ins Innerste der Seele vordringen, wie hätte sie je die Grenzen der arabischen Halbinsel überwinden können? (…) Im Koran beziehungsweise durch den Prophet Muhammad wurde immer wieder gefordert, den äußeren Schein zu überwinden und zur Kernaussage durchzudringen, sowohl bei den religiösen Pflichten, als auch in Fragen der Moral und des Verhaltens ganz allgemein (…).

Rückständigkeit bedroht Fortbestehen In diesen schweren Zeiten müssen wir Muslime abwägen zwischen den oft gegensätzlichen Ansprüchen auf zwei unterschiedlichen Diskussionsebenen. Einerseits geht es um religiöse Sanktionen, andererseits um Fortschritt oder Rückständigkeit. Wie oft haben wir doch gesagt, und tun es noch: Die kulturelle Rückständigkeit, in der wir uns befinden, widerspricht eindeutig den islamischen Vorstellungen von einer angemessenen Lebensführung, denn sie bedroht unser Fortbestehen. Sobald die Muslime sich von dieser existentiellen Bedrohung befreit haben, können sie ihr Leben in seinen unterschiedlichen Aspekten gemäß ihren islamischen Überzeugungen regeln. Wenn sie aber aufhören, als Muslime zu existieren, was nützt ihnen dann das Festhalten an Äußerlichkeiten?

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

15

Das Dilemma der arabischen Universitäten In einigen Gesellschaften der islamischen Länder streitet man darüber, dass an den Universitäten Studenten nicht gemeinsam mit Studentinnen unterrichtet werden sollten. Ganz aus dem Blickfeld gerät dabei die wissenschaftliche und pädagogische Qualität der Lehre, die zu garantieren die Universität doch einst gegründet wurde. Keinem liegt das wissenschaftliche Niveau, auf dem die Lehre der fraglichen Universität steht, am Herzen, stattdessen fordert man: „Koedukation!“, respektive „Geschlechtertrennung!“ Nachdem man womöglich die Koedukation oder aber die Geschlechtertrennung durchgesetzt hat an einer Universität, die als Zeugnisbrutstätte vor sich hin vegetiert – was kann man dann, angesichts der wissenschaftlichen Dekadenz und dem niedrigen wissenschaftlichen Ausbildungsniveau für den Islam erhoffen – ob die Studierenden nun nach Geschlechtern getrennt sind oder nicht?! (…)

Auch Demokratien sind nicht wertneutral Es steht außer Zweifel, dass ein Schleier-Verbot für muslimische Frauen in einem liberalen demokratischen Staat in krassem Gegensatz zum Prinzip der persönlichen Freiheit des Individuums steht. Der Mensch muss sein Leben gemäß seinen persönlichen Überzeugungen leben können. Es wäre jedoch falsch, hielte man liberale demokratische Systeme per se für wertneutral. Wie alle politisch und gesellschaftlich relevanten Systeme auf dieser Welt spiegeln sie die Interessen und Überzeugungen der Kräfte wider, die sie verkörpern. Ganz besonders gilt das für die jeweilige säkulare Doktrin, für die sie eintreten. Zählt man die Freiheit zu den Grundprinzipien einer Demokratie, muss man erkennen, dass sie dem Prinzip der staatlichen Souveränität mindestens ebenso große Wichtigkeit beimisst. Auch wir beharren auf dieser Souveränität, warum also können wir sie bei anderen nicht anerkennen? Demokratien können nur denjenigen tolerieren, der die Spielregeln eines säkularen demokratischen Systems akzeptiert. Denn durch die Auseinandersetzung mit ihren historischen Gegnern, d.h. mit den Feudalherren, den Klerikern, den Faschisten und den Kommunisten, lernte man, dass niemandem die Missachtung dieser Spielregeln gestattet werden darf.

Freiheit ist relativ Neuerdings empfindet man in den meisten Ländern mit einer liberalen Demokratie den Islam als etwas Wesensfremdes und begegnet ihm mit einer instinktiven Angst. Vor Jahren tolerierte man beispielsweise in London oder Paris noch islamische Prediger, die in unüberlegter Naivität das islamische Kalifat proklamierten. Heute lässt man dort keine eingebürgerten Studentinnen in die staatlichen Institute, wenn sie einen islamischen Schleier tragen. Dabei dürfen wir uns über diese Beschränkung der persönlichen Freiheitsrechte nicht wundern, denn in der Philosophie des Liberalismus ist alles „relativ“, auch die Freiheit. Man muss anerkennen, dass diese werteund interessenbezogene Relativität bereits seit langem und noch stets die Grundlage bildet, auf der alle Staaten dieser Welt, welcher Ideologie sie auch anhängen, miteinander Umgang pflegen. Unter Wahrung unserer absoluten Prinzipien müssen diejenigen von uns, die mit den liberalen Demokratien kooperieren wollen, die „relativen“ Regeln dieses Spiels anerkennen. Muhammad Djabir al-Ansari Der Beitrag erschien am 7. Januar 2004 in der arabischen Tageszeitung Al-Hayat. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Muhammad Djabir al-Ansari ist Publizist aus Bahrain und kultureller Berater des Königs von Bahrain.

Veröffentlicht: 26.04.2004 - Letzte Änderung: 26.04.2004

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

16

Das Kopftuch im intellektuellen Diskurs Kopftuchverbote an europäischen Schulen und öffentlichen Ämtern haben einen Sturm von Protesten unter Muslimen in Frankreich und in der islamischen Welt ausgelöst. Qantara.de hat sich mit muslimischen Intellektuellen über die Bedeutung und Folgen des Gesetzentwurfs in Frankreich und die aktuelle Diskussion in Deutschland unterhalten. Nasr Hamid Abu Zeid Der im Exil lebende ägyptische Professor Nasr Hamid Abu Zeid, Ordinarius des Lehrstuhls für Ibn RushdStudien an der Universität Utrecht, kritisiert den französischen Gesetzesentwurf als wahlkampfpolitisches Mittel: „Zweifellos entspringt dieser Gesetzentwurf dem laizistischen Verständnis in Frankreich, und es wird versucht, niemanden, weder auf religiöser noch ethnischer oder einer anderen Ebene, zu diskriminieren. Was die Bürger miteinander verbindet, ist ihr Anspruch auf die Bürgerrechte. Andererseits fragt sich, ob ein Gesetz das Problem lösen kann - vorausgesetzt, es gibt überhaupt ein Problem. Oder steht dieses Gesetz eher im Widerspruch zu dem „offenen, dem aufgeschlossenen Laizismus“? Es gibt zwei Arten von Laizismus, den offenen und den ausschließenden Laizismus. Für den offenen, oder den aufgeschlossenen Laizismus sind religiöse Symbole individuelle Symbole, die nur die Gemeinschaft, die Gruppe oder die Individuen betreffen. Deshalb glaube ich, hätte man das Problem - wenn es ein Problem gibt - anders lösen können. Dieses Gesetz rief viele Reaktionen bei Muslimen in der französischen Gesellschaft und in der islamischen Welt hervor, was zu zusätzlichen Spannungen der Beziehungen untereinander führte.“ Nasr Hamid Abu Zeid befürchtet, dass sich das Gefühl der Diskriminierung unter den Muslimen durch ein solches Gesetz vertiefe. Wenn es Muslimen nur in eigenen Schulen gestattet sei, so Abu Zeid, Kopftücher zu tragen, könnte es zur Isolierung der Bürger führen. Auf diese Weise wäre das Gesetz eher kontraproduktiv. „Ich glaube, es ist ein politisches Problem. Es entsteht Druck von den politisch rechts gerichteten Kräften in der französischen Gesellschaft. Bald wird es in Frankreich Kommunalwahlen geben. Vielleicht ist dieses Gesetz Teil des Wahlkampfs. Das wäre sehr bedenklich, denn es würde bedeuten, dass der Laizismus, der behauptet, zwischen Religion und Politik zu trennen, in der Tat das Religiöse zu politischen Zwecken missbraucht. Ich hätte mir von dem Gesetzgeber gewünscht, dass er das Problem ernster nimmt und nicht nur als wahlkampfpolitisches Mittel einsetzt.“

Safaa Fathy Die in Frankreich lebende ägyptische Regisseurin Safaa Fathy unterstützt den französischen Gesetzentwurf. „Das Kopftuch ist in Frankreich ein ziemlich neues Phänomen, das sich nach dem 11. September zuspitzte. Es ist verbunden mit der Wiederbelebung einer radikalen politisch-religiösen Bewegung in der arabischen Welt. So ist es nur ein Echo für alles, was außerhalb Frankreichs und auch außerhalb der arabischen Welt, nämlich in Pakistan und Afghanistan, geschieht. Die französische Regierung versucht, eine zunehmende Radikalisierung in den Vororten, in denen die arabischen oder türkischen Muslime leben, zu verhindern. Dort müssen jetzt schon junge Mädchen im Alter von acht Jahren ein Kopftuch tragen. Wir haben es hier also mit einer religiös-politischen Bewegung zu tun, die ich selbst in Ägypten Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre habe entstehen und wachsen sehen. Die französische Regierung hat also hier mit einem ihr fremden Phänomen zu tun. Sie ist bekanntlich die einzige Regierung, die tatsächlich Politik und Religion voneinender trennt. Und es gibt in Frankreich eine wirkliche Diskriminierung gegen Araber, selbst wenn sie nicht mehr so heftig ist wie früher. Aber das Kopftuchverbot ist nicht Teil dieser Diskriminierung, da es sich nur auf Schulen auswirkt, nicht auf die Universitäten oder den Arbeitsplatz.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

17

Ich bin dafür, dass es ein Gesetz gibt, das Mädchen vor dem Druck der muslimischen Gemeinschaft schützt, denn es geht hier um eine Gemeinschaft, in der die Frauen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Das Kopftuch ist ein Merkmal ihrer Zugehörigkeit zu der arabisch-islamischen Gemeinschaft.“

Navid Kermani Der Islamwissenschaftler und Publizist Navid Kermani sieht einen deutlichen Unterschied zwischen den Ursprüngen und Folgen des französischen Gesetzentwurfs und der aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland. „Man muss feststellen, dass das Gesetz in Frankreich zwar sehr radikal ist, aber es bedeutet keine ungleiche Behandlung der Religionen. Es werden ja sämtliche Symbole der Religionen aus den Schulen verbannt, und insofern gilt es auch für die jüdische Kippa oder auch ein demonstratives Kreuz und Ähnliches. Deshalb unterscheidet sich der Gesetzentwurf in Frankreich von dem, was in einigen Bundesländern in Deutschland geplant ist. Hier geht es ja ganz explizit darum, nur die religiösen Symbole des Islam im Unterricht auszuschließen. Da liegt meiner Meinung nach eine Diskriminierung vor, denn man kann nicht das Kopftuch per se als Symbol des Fundamentalismus oder der Verfassungsfeindlichkeit deklarieren. Wer das tut, setzt eine fundamentalistische Auslegung des Islam als solchem voraus und schließt andere Deutungen dieses religiösen Symbols aus.“ Auf die Frage, ob dies das Gefühl der Unterdrückung der Muslime in Deutschland verstärke, antwortet Kermani: „Natürlich, denn das fördert nicht nur das Gefühl, nicht dazu zu gehören in dieser Gesellschaft, sondern führt auch dazu, dass die Muslime glauben, dies sei nicht ihr Land, nicht ihr Staat und nicht ihr Gemeinwesen. Dies ist nicht gut für die Integration der Muslime, besonders bei der zweiten Generation der Türken, die in den Großstädten leben. Viele von ihnen leben in ihrer eigenen Welt, sie sprechen kein Deutsch. Dieses Problem muss ernst genommen werden.“

Şebnem Bahadir Şebnem Bahadir, Forscherin im Bereich Interkulturelle Kommunikation an der Johannes-GutenbergUniversität Mainz, vergleicht den französischen Gesetzentwurf mit dem Kopftuchverbot an Universitäten und öffentlichen Ämtern in der Türkei. „Ich möchte prinzipiell sagen, dass das französische Gesetz eine Beschränkung der persönlichen Freiheitsrechte der Frau darstellt. Manche glauben, dass das Kopftuchverbot der Ausbreitung islamischer Symbole eine Grenze setzt, aber es handelt sich in erster Linie um die Frau. Das laizistische System in Frankreich ist ein bisschen überholt. Es ist nicht mehr ganz aktuell und da kann man natürlich einen Vergleich mit der Türkei ziehen. In der Türkei hat man es zur Zeit der Republikgründung ähnlich gemacht, und dies war von Frankreich übernommen. Man muss aber bedenken, dass man sich in der Türkei vor einem ganz anderen historischen Hintergrund und in einer ganz anderen Zeit befand. Das ist jetzt siebzig oder achtzig Jahre her. Damals hat man gegen ein 500 Jahre altes religiös dominiertes Osmanisches Reich gekämpft, um eine Republik zu gründen, um Staat und Religion voneinander zu trennen. Man kann diese beiden Systeme vergleichen, aber man kann nicht sagen, dass so ein Schritt von Frankreich irgendwie erklärbar oder verständlich ist. Ich hätte einen solchen Schritt von Frankreich jetzt nicht erwartet. In der Türkei versuchen die Menschen seit etwa zehn Jahren nicht auf juristischer, sondern auf politischer und gesellschaftlicher Ebene diese starre Haltung zu ändern, und mit der Zeit gibt es in diesem laizistischen System immer mehr Schlupflöcher. Ich selber unterrichte im Sommersemester an einer Universität in Istanbul, und obwohl es verboten ist, mit Kopftuch an der Universität zu erscheinen, tendieren die Dozenten und die Studentenvereine dazu, hier eine Änderung herbei zu führen. Ich kann zum Beispiel das Tragen von Kopftüchern in meinen Vorlesungen erlauben. Daran sieht man, dass der Staat sich nicht mehr so sehr einmischen kann wie früher.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

18

Das Kopftuch ist nicht nur ein religiöses Symbol, sondern auch ein kulturelles Phänomen wie viele andere auch. Als Forscherin für interkulturelle Kommunikation möchte ich, dass allem Raum gegeben wird, denn das Verbotene ist immer reizvoll für die Jugend. Man sollte das Kopftuch als Kleidungsstück betrachten, genau wie eine Mütze oder Feder oder eine wie Punkfrisur. Für Deutschland glaube ich, dass Lehrerinnen mit Kopftüchern eine heilsame Erscheinung wären. Wenn ich sehe, dass das Fremde, also das Andere, was ich sonst absondere und ausgrenze, wenn das jetzt in meiner Schule einen Platz gefunden hat, dann ist es ja gar nicht mehr so fremd. Dann wird die Lehrerin mit Kopftuch eine unter vielen sein. Ich glaube nicht, dass das Kopftuchverbot die so genannten rückständigen muslimischen Familien und Frauen modernisiert, im Gegenteil.“

Tahar Ben Jelloun Der in Paris lebende marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun verteidigt im Kopftuchstreit die laizistische Gesetzgebung Frankreichs, kritisiert aber zugleich die mangelhafte Integrationspolitik des Staates. „Dafür, dass Musliminnen in Frankreich überhaupt Kopftuchtragen, gibt es verschiedene Gründe. Einmal aufgrund des Drucks des Vaters oder des Bruders - das sind die häufigsten Fälle. Andere Frauen tragen das Kopftuch auch im Namen der Freiheit des Individuums, das zu tun was es möchte. Manche jungen Frauen wollen durch das Kopftuch auch ihre eigene Identität behaupten. Dabei geht es in der Debatte in Frankreich gar nicht darum, dass Musliminnen das Recht abgesprochen werden soll, sich so zu kleiden, wie sie möchten. Nein, es geht um die Bekleidung in öffentlichen Räumen. Das Kopftuch in der Schule ist eine bewusste Verweigerung, an bestimmten Unterrichtseinheiten, wie dem Schwimm- und dem Biologieunterricht, teilzunehmen. Das Kopftuch ist für mich der Triumph der Unwissenheit, der Ignoranz. Das Gesetz des Laizismus, der Trennung von Staat und Religion, finde ich sehr wichtig. Generationen von Franzosen haben dafür gekämpft, dass es 1905 schließlich umgesetzt wurde. Ich bin dagegen fast 100 Jahre später wieder einen Rückschritt zu machen.“

Lies Marcoes-Natsir Lies Marcoes-Natsir ist Program Officer der „Asia Foundation“ und Rechtsanwältin in Jakarta für reproduktive Rechte islamischer Frauen. Sie warnt vor einer möglichen Stigmatisierung von Kopftuchträgerinnen in Europa und zieht diesbezüglich Parallelen zu ihrer Heimat: „Das Kopftuch-Thema wird unterschiedlich und abhängig vom jeweiligen Land behandelt. In Indonesien wird die Debatte anders geführt als in Europa. Daher gibt es meiner Meinung nach für keine Regierung das Recht, das Tragen eines Kopftuchs zu reglementieren oder gar zu verbieten. Ich denke, es sollte eine persönliche Entscheidung sein. Ich habe versucht, zu verstehen, was in Frankreich vor sich ging, als das Kopftuch über die Religion hinaus zu einer staatspolitischen Angelegenheit wurde. Man sollte auch erwähnen, dass z.B. ebenso christliche Nonnen kein Kopftuch in öffentlichen Schulen tragen dürfen. Das ist sehr wichtig zu wissen. Meiner Meinung nach führen Restriktionen zu nichts. Vielmehr muss den Frauen die Möglichkeit gegeben werden, selbst zu entscheiden, ob sie das Kopftuch tragen wollen oder nicht! Andernfalls werden die Konservativen und Radikalen versuchen, daraus politisches Kapital zu schlagen, so wie es bereits in Indonesien geschehen ist.“ © Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 05.02.2004 - Letzte Änderung: 03.04.2004

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

19

Frankreich

Kopftuchdebatte à la française Das Kopftuchverbot an Frankreichs öffentlichen Schulen ist nach dem Beschluss der Nationalversammlung beschlossene Sache. Doch der Streit um das Tragen des Kopftuchs hält an. Bernhard Schmid über Hintergründe und Geschichte der Kopftuchdebatte in Frankreich. Kopftuch, Kippa, Turban und große Kreuze soll es an Frankreichs öffentlichen Schulen nicht mehr geben. Das hatte die französische Nationalversammlung im Februar 2004 mit parteiübergreifender Mehrheit beschlossen und damit den Gesetzentwurf Chiracs bestätigt. Bereits im vergangenen Dezember hatte der Staatspräsident in seiner Grundsatzrede an die Fundamente des republikanischen Selbstverständnisses in Frankreich appelliert: Der Staat sei zur Neutralität in Bekenntnisfragen verpflichtet. Indem Chirac zudem eine unabhängige Behörde zur Bekämpfung von Diskriminierung und zur Durchsetzung der Chancengleichheit ankündigte, versuchte er den Laizismus-Gedanken zu bekräftigen – und damit absehbare Vorwürfe der französischen Muslime oder Juden zu entkräften. Diese hatten bereits im Vorfeld den Staatschef vor einem Verbot gewarnt. So hatte der französische Islamrat in einem Offenen Brief geschrieben, es dürfe nicht zu einem die Muslime diskriminierenden Gesetz kommen. Der französische Oberrabbiner Joseph Sitruk hatte kritisiert, dass ein Verbot eine erfolgreiche Integration aller Religionen verhindere.

Kopftuchstreit mit langer Tradition Seit dem Verbot ist der Kopftuchstreit jedoch nicht vom Tisch, sondern erhitzt weiterhin die Gemüter. Dabei ist das Thema nicht neu, denn seit mittlerweile 14 Jahren sorgt es für innenpolitische Streitereien. Angefangen hatte alles mit der so genannten „affaire du voile“ von 1989: Wegen Kopftuchtragens wurden an einer Oberschule in der Provinzstadt Creil elf Schülerinnen maghrebinischer Herkunft aus dem Unterricht ausgeschlossen. Das sorgte damals für eine heftige und teilweise sehr ideologisch geführte „Kulturkampfdebatte“, an deren Ende das oberste französische Gericht des öffentlichen Rechts (Conseil d`Etat) seine juristischen Richtlinien verkündete. Doch diese bleiben bis heute sehr interpretationsbedürftig.

Kopftuchverbot im Falle missionarischer Tätigkeiten Der Conseil d`Etat entschied im November 1989 gegen ein generelles Kopftuchverbot und erntete damit entschiedenen Protest von den gesellschaftlichen Gruppen, die im „Namen des Laizismus“ eine Trennung von Religion und Schulunterricht gefordert hatten. Das Gericht entschied, dass an öffentlichen Schulen Einzelfallprüfungen vorgenommen werden sollten. Ein Verbot könne nur dann erfolgen, wenn das Tragen religiöser Symbole, wie Kopftuch, Kreuz oder Kipa, mit missionarischen Tätigkeiten verbunden wäre. Oder aber wenn sich herausstellen sollte, dass dadurch andere Mitglieder derselben Religionsgemeinschaft unter moralischen Druck gerieten. Die Entscheidung im Einzelfall blieb den jeweiligen Schulleitungen überlassen. Auf dieser juristischen Kompromissformel beruhte ein labiler innenpolitischer Frieden, der bis 2003 anhielt. Brüchig wurde er erstmals im April 2003, als der konservative Innenminister Nicolas Sarkozy, seinen Auftritt auf dem Kongress der UOIF („Union des Organisations Islamiques de France“) hatte. Die Organisation ist der französische Ableger des internationalen Netzwerks der Muslimbrüder, die ihren Hauptsitz in der Pariser Trabantenstadt La Courneuve hat. Einige Monate zuvor avancierte die UOIF zum wichtigen strategischen Ansprechpartner der Pariser Regierung. Bereits seit Herbst 2002 bemühte sich die Regierung, den „französischen Islam“ in organisatorische Strukturen einzubinden, da sie endlich über einen verlässlichen Ansprechpartner verfügen wollte.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

20

Dieser fehlte bisher, da es im sunnitischen Islam keinen Klerus - vergleichbar dem in der katholischen Kirche - gibt. In einem neu gewählten „französischen Rat des muslimischen Kultus“ („Conseil Francais du Culte Musulman“) wurde - neben einer an Marokko orientierten Fraktion - die UOIF zur stärksten Gruppierung.

Ein offenes Wort unter Freunden… Aufgrund ihrer Aufwertung und Anerkennung durch die amtierende Regierung empfing die UOIF Innenminister Sarkozy daher zu ihrem jährlichen Kongress in der Pariser Vorstadt Le Bourget zunächst noch mit offenen Armen. Sarkozy erhielt mehrfach donnernden Applaus, bis er dann – „unter Freunden soll man ja auch ein offenes Wort sagen“ – einen Satz aussprach, mit dem er den Autoritätsanspruch des Staates unterstreichen wollte: Auf Passbildern hätten muslimische Frauen ohne Kopftuch und mit offenen Haaren zu posieren, so der Minister. Daraufhin buhte ihn das Publikum spontan aus, auch wenn die UOIF-Funktionäre versuchten abzuwiegeln. Schließlich gingen die Bilder von Sarkozys Auftritt durch alle Medien, Frankreich hatte einen neuen Skandal. Wieder mal war eine Debatte über Muslime in Frankreich und die Rolle des Kopftuchs entbrannt. Eine Folge des neuerlichen Streits war die Einsetzung der so genannten „Stasi-Kommission“ im Juli 2003. Diese trägt ihren Namen nicht etwa nach dem ehemaligen DDR-Staatssicherheitsdienst, sondern nach dem Politiker und ehemaligen hohen Chirac-Berater Bernard Stasi, der Kommissionsvorsitzender ist. Sie hört diversen politischen und gesellschaftlichen Stimmen an - vom sozialdemokratischen Oppositionspolitiker Francois Hollande über den Rektor der Pariser Zentralmoschee, Dalil Boubekeur, von einigen französischen Bischöfen, bis hin zum Neofaschisten und Generalsekretär der Partei von Jean-Marie Le Pen, Bruno Gollnisch. Zuletzt gehörte ihr der jüdische Großrabbiner Frankreichs, Joseph Sitruk, an. Im November 2003 stellte die Kommission ihre Anhörungen ein und bereitete sich auf ihren Abschlussbericht vor.

Die Affäre Aubervilliers Neue Brisanz erhielt die Arbeit der Stasi-Kommission durch die „Affäre von Aubervilliers“. In dieser Pariser Trabantenstadt wurde in der ersten Oktoberwoche 2003 der sehr medienwirksame Fall eines Schulausschlusses gegen Kopftuch tragende Mädchen ausgesprochen. Es ist in insofern ein untypischer Fall, da die Mädchen aus einer atheistischen Familie stammen. Ihr Vater ist jüdischer Herkunft, ihre Mutter eine Algerierin christlicher Konfession, beide erklärten, sie seien Atheisten. Die Mädchen handelten offenkundig aus eigenem Antrieb – anscheinend eine Mischung aus jugendlicher Identitätssuche, Protest und islamistischen Einflüssen. Im Gegensatz zur „affaire du voile“ von 1989, wo die konservative Schulverwaltung den Schulausschluss veranlaßt hatte, waren es in diesem Fall vor allem linke Lehrer, die – besorgt über das „Anwachsen von Kommunitarismus“ – den Schulausschluss von Anfang an befürworteten. Aufgeladen wurde die „Kopftuch-Frage“ ferner durch Jean-Claude Imbert, Chefredakteur des konservativen Wochenmagazins „Le Point“ und Mitglied der Stasi-Kommission. Er selbst erklärte sich als „islamophob“, was in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung auslöste.

Polemik ungebremst Und polemisiert wird im Kopftuchstreit zur Genüge, vor allem im rechten politischen Lager – auch wenn Jean-Marie Le Pen mit seinen Äußerungen für einige Überraschung gesorgt hat. Während er sich noch Ende der 80er Jahre für repressive Maßnahmen ausgesprochen hatte, wandte er sich inzwischen gegen ein Gesetz zum Verbot von Kopftüchern in Schulen. Seine Begründung zeigt jedoch, dass er sich nicht gewandelt hat. Man solle doch ruhig erkennen, dass „diese Leute uns nicht ähnlich sind und es nicht sein wollen“, meinte der alternde Faschist. Eine spätere Trennung der Bevölkerung, durch Abschiebung aller Immigranten, sieht er dadurch erleichtert.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

21

Bernhard Schmid, © Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 01.03.2004 - Letzte Änderung: 01.03.2004

Großbritannien

Das Recht auf den Schleier schützen Während Frankreich das Tragen von Kopftüchern in Schulen verbietet, dürfen in Großbritannien selbst Polizistinnen den Hijab im Dienst tragen. Die britische Regierung spricht dabei von Integration statt Assimilation. Tareq Al-Arab informiert aus London. Frankreichs Initiative, den Hijab und andere „auffällige“ religiöse Symbole in staatlichen Schulen zu verbieten, stieß in Großbritannien auf heftigen Protest. Menschenrechtsaktivisten und Politiker bezeichneten den Bann als völlig unmoralisch. Die Stellungnahme von Londons Bürgermeister Ken Livingstone fiel besonders harsch aus. Er warf Frankreichs politischer Elite vor, faschistischen Ideologen in die Hände zu spielen. „Präsident Jacques Chirac treibt ein schrecklich gefährliches Spiel, wie es schon viele Politiker in den 20er Jahren getan haben, als sie glaubten, mit Hitler anbändeln zu können“, sagte Livingstone kürzlich auf einem Protestmarsch gegen den Kopftuchbann. „Das Verbot sei eine anti-muslimische Maßnahme, die den Druck auf Muslime erhöhen würde, so Livingstone. Mike O‘Brien, Minister im britischen Außenministerium, sagte, die britische Regierung unterstütze das Recht aller, religiöse Symbole zu tragen. „In Großbritannien haben wir kein Problem mit dem Ausdruck von Religion. Integration ist ohne Assimilation möglich.“

Verschiedene Kopftuchmodelle für die Polizei Dieses interkulturelle Verständnis ist zumindest bei der Kleiderordnung der Londoner Polizei erkennbar. Die englische Tageszeitung „The Guardian“ berichtet, dass als Teil der Initiative „Protect and Respect: Everybody Benefits“ („Schütze und respektiere: Jeder profitiert davon“) muslimische Frauen die Möglichkeit haben, im Polizeidienst ein Kopftuch zu tragen. Dabei stehen vier verschiedene KopftuchModelle in den Farben der Londoner Polizei zur Auswahl. „Wir wissen, dass viele muslimische Frauen, die gerne Polizistinnen geworden wären, durch den Gedanken abgeschreckt wurden, im Dienst den Hijab nicht tragen zu dürfen“, zitiert die Zeitung Mahammad Mahroof von der „Association of Muslim Police“. „Wir erhoffen uns von dieser Regelung, dass sich mehr Musliminnen dadurch ermutigt fühlen, in den Polizeidienst einzutreten.“ Das französische Kopftuchverbot wird in Großbritannien von vielen missbilligt - und das nicht nur von muslimischen Aktivisten. Anaf Altikriti, Präsident der „Muslim Association“, beschreibt, dass eine Vielzahl religiöser Glaubensgruppen in Großbritannien von der französischen Politik beunruhigt sind. „Wenn dieser Bann zu etwas führt, dann vor allem dazu, dass sich Gemeinschaften im Untergrund bilden, die sich entrechtet, isoliert, verärgert und bedrückt fühlen,“ sagt Altikriti. „Der Bann wird dazu führen, dass Frauen nicht zur Schule gehen, somit keine Ausbildung erfahren und in 20 oder 30 Jahren dazu gezwungen sind, Nebenjobs auszuüben und sich in ihrer Rolle nicht wohl fühlen. Das kann nur zu Problemen in der Gesellschaft führen.“

Angst vor Übergriffen auf Muslime Abeer Pharaon, Präsidentin der „Muslim Women Society“, sagt: „Trotz der ermutigenden Stellungnahmen der Regierung sind wir immer noch sehr besorgt, dass die rapide Ausbreitung einer solchen Gesetzgebung in Europa dazu führen könnte, dass in Großbritannien Extremisten und Faschisten muslimische Frauen zunehmend beleidigen und angreifen.“ Dabei ist der Hijab „unser Recht, unsere Freiheit und unsere Wahl“, so Pharaon.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

22

Doch Großbritannien beschäftigt nicht nur die Frage, nach der Legitimität eines solchen Banns. Britische Anwälte halten das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst zudem für illegal. Rechtsanwalt Ahmad Thomson, stellvertretender Vorsitzender der britischen „Association of Muslim Lawyers“ sagt, dass die Franzosen mit dem Verbot gegen eigene Gesetze verstoßen. Grund: Als Unterzeichner der Europäischen Menschenrechtskonvention habe sich Frankreich dazu verpflichtet, Religionsfreiheit zu gewährleisten, bzw. zu garantieren, dass jede Religion frei praktiziert und gelehrt werden darf.

Verbot widerspricht Menschenrechten „Niemand, der einen Hijab trägt, bedroht dadurch andere oder schränkt damit Rechte und Freiheiten anderer ein“, sagte Thomson. „Es macht in einer demokratischen Gesellschaft keinen Sinn, das Tragen von Kopftüchern zu verbieten - weder im Interesse der öffentlichen Sicherheit, zum Schutze der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder zum Schutze der Freiheitsrechte anderer.“ Ein Verbot sei ebenso wenig vereinbar mit den Protokollen des Europäischen Rates für Menschenrechte (ECHR): Dort wird garantiert, das jeder das Recht hat, dass seine Kinder eine Ausbildung genießen, die im Einklang mit dem eigenen religiösen Glauben stehen, erklärt Thomson.

Kein Gesetz gegen Diskriminierung von Religionen Interessanterweise gibt es in Großbritannien Gesetze gegen verschiedenste Formen von Diskriminierung – ausgenommen: die Diskriminierung einer Religion. Der sogenannte „Race Relations Act“ von 1976 verbietet bestimmte Formen der Diskriminierung im Job, bei der Ausbildung und in Bezug auf die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. Im Arbeitsalltag deckt dieses Gesetz Diskriminierung auf Grundlage von Rasse, Hautfarbe, Nationalität bzw. ethnischer oder nationaler Herkunft ab. Es schützt auch einige religiöse Gruppen, nicht aber alle Religionen per se. Zurzeit haben also weder England, Wales noch Schottland eine klare Gesetzeslage, auf deren Grundlage sich religiöse Diskriminierung verbieten ließe. In Nordirland sind allerdings religiöse Diskriminierungen am Arbeitsplatz seit 1976 gesetzlich verboten. Diese Gesetzgebung wurde vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen Katholiken und Protestanten speziell zum Schutze direkter und indirekter Diskriminierung aus religiösen und/oder politischen Überzeugungen eingeführt. Der „Race Relations Act“ von 1976 wurde auch schon genutzt, um Angestellte und Bewerber religiöser Minderheitengruppen, die aufgrund ihrer Religion direkt oder indirekt diskriminiert wurden, zu schützen. Aus gerichtlichen Präzedenzfällen abgeleitet, gelten bestimmte religiöse Gruppen zugleich auch als „ethnische Gruppen“. Sie fallen damit unter die Definition des „Race Relations Act“ und genießen somit Schutz vor Diskriminierung. Zu diesen religiösen Gruppen gehören z.B. Juden und Sikhs. Angehörige dieser Gruppen können Beschwerden gegen rassistische Diskriminierung vorbringen, wenn sie nachweisen können, dass die von ihnen erfahrene Benachteiligung mittelbar oder unmittelbar mit der Zugehörigkeit zu ihrer Religion zusammenhängt.

Muslime ungeschützt Es gibt allerdings religiöse Gruppen, die laut britischem Gesetz nicht als Rasse definiert werden und nicht automatisch durch den „Race Relations Act“ geschützt sind. Dazu gehören Rastafaris und Muslime. Im Juni 2003 hat ein Ausschuss des britischen Oberhauses („The House of Lords Select Committee on Religious Offences“) eine detaillierte Analyse der Gesetzeslage zur religiösen Diskriminierung vorgelegt. Der Vorsitzende des Ausschusses, Viscount Colville von Culross, kam dabei zu folgendem Schluss: „Nach ausgiebigen umfassenden Konsultationen haben wir die Vorzüge aller Optionen analysiert, denken aber, dass letztendlich das Parlament als Ganzes über den weiteren Fortgang entscheiden sollte.“

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

23

„Religionen spielen in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle und daher sollte jeder Glauben zu einem gewissen Grade Schutz genießen“, so Culross weiter. „Allerdings sind wir uns nicht darüber einig, wie dieser Schutz im Speziellen aussehen könnte. Zwar gibt es Handlungsbedarf bezüglich der Anstiftung zu religiösem Hass. Aber ein Gesetz zur Behandlung dieses Themas würde wohl zu tiefgreifenden Kontroversen führen.“

„Deine Religion ist ein Witz…!“ Allerdings könnte ein solches Gesetz nötig sein. Großbritannien scheint Frankreichs Kopftuchverbot gegenüber zwar größtenteils abgeneigt zu sein. Dennoch erleben die Briten möglicherweise zurzeit ein extremes Beispiel „erzwungener Assimilation“ im eigenen Land. Hazel Dick, 43, eine Lehrerin aus Peterborough, Cambridgeshire, muss sich vor Gericht gegen den Vorwurf verantworten, einer 15jährigen muslimischen Schülerin „mit Gewalt“ das Kopftuch vom Kopf gerissen zu haben und zugleich „Feindseligkeit gegen die Religion“ der Schülerin demonstriert zu haben. Nach Zeugenaussagen soll die Lehrerin dem Mädchen dabei eine „zwei Zentimeter“ tiefe Kratzwunde am Hals zugefügt haben. Der Jury wurde mitgeteilt, dass der mutmaßliche Angriff vom März letzten Jahres an der „Bretton Woods“Gemeinschaftsschule erfolgte, nachdem die Schülerin aufgefordert worden war, das Kopftuch abzulegen, da dieses Kleidungsstück nicht der korrekten Schuluniform entspräche. Laut Staatsanwalt wurde Hazel Dick wütend und riss „das Kopftuch mit Gewalt vom Kopf der Schülerin“. Die Nadeln hätten sich daraufhin gelöst und die Kratzwunde am Hals verursacht. Obwohl die Wunde nicht gravierend wäre, würde es sich dennoch um Körperverletzung handeln. Die Lehrerin habe daraufhin in beleidigender und feindseliger Weise über die Religion des Mädchens gesprochen. Der Staatsanwalt zitierte einen Schüler, der angab, gesehen zu haben, wie die Lehrerin wütend wurde und gesagt habe: „Nun, deine Religion ist ein Witz...meine Schuhsole hat mehr Bedeutung als Allah!“ Hazel Dick bestreitet dagegen, die Schülerin vorsätzlich aus religiösen Gründen angegriffen zu haben. Sie teilte der Polizei mit, sie habe weder das Kopftuch vom Kopf des Mädchens gerissen, noch beleidigende Äußerungen über den Islam gemacht. Das Urteil in diesem Prozess wird in Großbritannien mit Spannung erwartet. Tareq Al-Arab © Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 16.03.2004 - Letzte Änderung: 05.04.2004

Türkei

Gesellschaftliche Zerreißprobe Nicht nur in Deutschland und Frankreich wird eine zunehmend ideologische Debatte über das Kopftuch geführt. Auch in der Türkei droht der Streit die Öffentlichkeit immer mehr zu entzweien, wie Dilek Zaptcioglu aus Istanbul berichtet. Ein alltägliches Bild in Istanbul: Im Bus sitzen sich Kopftuch tragende und schick frisierte Frauen gegenüber. Niemand stört sich am Anblick der Anderen. Keine schaut die Andere vorwurfsvoll an. In großen Einkaufszentren, die nach amerikanischem Vorbild erbaut wurden, spazieren verhüllte neben unverhüllten Frauen. Sie stehen nebeneinander am Wühltisch - die eine trägt das, was sie kauft, offen herum, während die andere es unter einem knöchellangen Mantel versteckt. Sogar beim Friseur begegnen sie sich, denn auch unter dem Kopftuch wollen viele gut aussehen - vor allem junge Frauen.

Vom schönen Schein der Harmonie Aber die friedliche Atmosphäre täuscht: Kein anderes Thema erhitzt die Gemüter in der Türkei so wie das Kopftuch. Für die einen ist es das Symbol des religiösen Fanatismus und der Unterdrückung der Frau, das

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

24

letztlich aus dem öffentlichen Leben verbannt werden muss. Eine verhüllte Frau löst bei diesen westlich lebenden Frauen fast ein physisches Unbehagen aus. Dagegen sind die anderen der Überzeugung, die Verhüllung der Frau sei ein Gebot des Korans und ihr Verbot verstoße gegen die Glaubensfreiheit - eines der obersten Prinzipien der demokratischen Verfassung. Eine unverhüllte Frau ist demnach zumindest eine Sünderin, wenn nicht sogar eine Ungläubige. Auch sie bleiben lieber unter sich, wenn sie die Wahl haben. Bis hierher liest sich die Beschreibung der türkischen Zustände nicht anders als die in Deutschland oder Frankreich. Tatsächlich ähneln sich die Argumente beider Seiten und auch was die höchst medienwirksame Debatte betrifft, wird sie hier wie dort zunehmend intensiver und leidenschaftlicher geführt.

Frankreichs laizistische Tradition als Vorbild Mit einem kleinen Unterschied: Im Gegensatz zu den westeuropäischen Ländern ist die Türkei ein vorwiegend von Muslimen bewohntes Land. Also in einem „islamischen Land“, in dem alle Einwohner praktizierende Muslime sind? Mitnichten. Denn die Türkei definiert sich seit ihrer Gründung vor 80 Jahren als einen „laizistischen Staat“, wo Religion und Politik strikt getrennt werden müssen. Der Staat kontrolliert zwar die Ausübung der Religion. Eine Einflussnahme seitens der Religion auf das politische Geschehen soll aber unbedingt unterbunden werden. Was den Laizismus betrifft, nahmen sich die türkischen Republikgründer Frankreich zum Vorbild. So wundert es heute niemanden, dass die Franzosen das Kopftuch nun auch aus den Schulen entfernen wollen ein Thema, das in der Türkei seit Jahrzehnten für große Aufregung sorgt, da Türkinnen von der Grundschule an unverhüllt erscheinen müssen. Schulen und Universitäten sind so etwas wie die Kampfzone des KopftuchStreits.

Universitäten als Plattform des Kopftuchstreits „Die Menschheit hat den Islam zuerst verloren und dann wieder gefunden. Wir sind alle in den 80er und 90er Jahren groß geworden. Wir sind Zeugen des Niedergangs der westlichen Zivilisation! Das religiöse Erwachen geht immer stärker voran!“ Das sind Schlagworte verhüllter junger Frauen an der Istanbuler Universität. Frauen die aus ihrer islamistischen Weltsicht keinen Hehl machen. Der Islam ist für die meisten dieser städtischen, gebildeten Studentinnen zu einer Ideologie geworden, die ihnen die Gegenwart deutet und sie in die Zukunft weist. Das Kopftuch ist schon längst das Symbol für eine „islamische Ideologie“ geworden, die den Glauben nicht im privaten Bereich „einsperren“ will, da er in jedem Bereich „gelebt“ werden will. Diese Frauen interessieren sich auch für den „Widerstand“ im Irak oder den Kampf der Tschetschenen gegen die Russen. Sie sind häufig in politischen Vereinen aktiv und lesen zumeist islamistisch-politische Literatur.

Das Kopftuch als andersartige göttliche Koordinate So unterscheidet sich das heutige, am Nacken gekreuzte und deshalb im Türkischen als „türban“ bezeichnete Kopftuch von dem traditionellen, unterm Kinn locker zusammen gebundenen Kopftuch der ländlichen Türkinnen, das stets auch ein paar Haarsträhnen freiließ, ohne dass sich jemand daran störte. Wie es die bekannte islamistische Juristin Sibel Eraslan jüngst in einem Kommentar über das geplante französische Kopftuchverbot ausdrückt, ist das Kopftuch das Symbol einer „andersartigen, göttlichen Koordinate, die den Grundlagen der westlichen Moderne völlig entgegengesetzt“ verläuft. Eraslan sieht den Westen angesichts der „Kopftuch-Attacke“ in Verteidigungsnot und sagt, die Verbote wären mit bestehendem Rechtssystem dieser Länder nicht zu vereinbaren. Der Hass auf das Kopftuch würde auf ein System hinweisen, das „jede Verbindung zum Göttlichen ablehnt“. Wie für viele Islamisten ist das Kopftuch auch für Eraslan zum wichtigsten Hebel der Re-Islamisierung geworden.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

25

Mal mit, mal ohne Tuch – ein Rückblick Tatsächlich geht die „moderne Verhüllung“ der Türkinnen mit einer stärkeren Rolle des Islam in der Gesellschaft einher. Kopftücher verschwinden aus türkischen Städten in den 30er und 40er Jahren und tauchen dann verstärkt in den 60er Jahren auf. Davor existiere das Einparteiensystem. Die Republikanische Volkspartei CHP wachte nach streng laizistischer Art sehr genau über die Anwendung der kemalistischen Kleiderreformen: Turbane, Fes oder Kaftane wurden bei Männern verboten. Bei Frauen ist es das schwarze Tuch, „Tscharschaf“ (Laken) genannt, das nur das Gesicht oder die Augen offen lässt. Bis heute kann zuhause oder auf der Straße ein Kopftuch getragen werden. Nicht dagegen im staatlichen Bereich: Weder in Schulen und Universitäten noch in Krankenhäusern, Gerichtssälen oder öffentlichen Ämtern ist Verhüllung zugelassen. „Aufgeklärte Türkinnen“ zu erziehen, so lautet das offizielle Ziel. Wenn diese Frauen zu Ärztinnen, Anwältinnen, Ingenieurinnen oder Lehrerinnen heranreifen, müssen sie ebenso dem westlichen, aufgeklärten Frauenimage entsprechen. Das kemalistische Weltbild sieht in der westlichen Zivilisation, genau genommen in den Errungenschaften der Französischen Revolution, den richtigen Weg in die Zukunft. Auf diesem Wege gilt es immer voranzuschreiten. Der Rückschritt (auf Türkisch:“irtica“), der sich z.B. in einem Kopftuch oder in tiefer Religiosität ausdrückt, wird mit der Zeit besiegt werden. Oder mit den Worten der Politikprofessorin Nur Vergin ausgedrückt: „Der Glaube als solcher ist den Republikgründern suspekt“, denn sie führen den traumatischen Niedergang des Osmanischen Reiches vor allem auf die tiefkonservative Interpretation des Islam zurück, der seit Jahrhunderten unter Muslimen dominant ist. „Der Westen hat gesiegt, weil wir Muslime stagnierten“, heißt die Devise der Kemalisten und das Kopftuch der Frau ist das deutlichste Beispiel dieser Stagnation. Von der positivistischen Moderne übernehmen türkische Republikgründer den Glauben an die Wissenschaft, der den Glauben an Gott ersetzen soll.

Furcht vorm Comeback des Kopftuchs Wie die Soziologin Nilüfer Göle in ihrem viel beachteten Werk „Die verschleierte Republik“ (Modern Mahrem) aufzeigt, will die türkische Moderne gerade die Frau befreien - von dem vorherrschenden Patriarchat, von den äußeren und inneren Zwängen, die sie zuhause einsperren und ihr die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verbieten. Tatsächlich tritt die Türkin erst durch die Republikgründung aus dem Schatten des Mannes und damit selbstbewusst auf die öffentliche Bühne. Das sind auch die Gründe, weshalb heute viele, vor allem städtische Türkinnen, Angst vor dem Kopftuch haben. Für sie bedeutet das Tuch schlicht die Gegenrevolution, die ihnen ihre von Atatürk nominell verliehenen und später hart erkämpften sozialen Rechte und Freiheiten wegnehmen will. Die zwangsweise Verhüllung der Frauen im nachrevolutionären Iran dient als abschreckendes Beispiel. Aber ist das wirklich das Ziel der „Kopftuch-Bewegung“? Dann müsste sie eigentlich einen großen Etappensieg errungen haben, denn heute wird die Türkei von einem Kabinett regiert, wo fast jede Ehefrau ein Kopftuch trägt und ihren Körper weitgehend verhüllt. Im vergangenen Sommer verheiratete der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan seinen Sohn mit einer knapp siebzehnjährigen Schülerin, die in einem Brautkleid getraut wurde, das nur ihr Gesicht und ihre Hände freiließ - ein Bild, das bei nicht verhüllten Frauen starke Aversionen hervorrief: „Ich weigere mich zu akzeptieren, dass diese Frauen mich als Türkin nach außen hin repräsentieren“, sagt die Hausfrau Ayla S. und gesteht, dass sie einen Militärputsch akzeptieren würde, wenn nur „diese Kopftücher“ aus dem öffentlichen Bereich verbannt würden.

Fragwürdiges Verbot Aber die meisten der verhüllten jungen Frauen in türkischen Großstädten sind zugleich Töchter Atatürks und der Moderne. Sie wollen nicht zuhause sitzen und auf ihren Mann warten. Sie wollen rausgehen, arbeiten, Geld verdienen und nicht vom Mann unterdrückt werden. Das Kopftuchverbot bewirkt in solchen Fällen gerade das Gegenteil.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

26

Nilüfer Pehlivan musste nach einem vierjährigen Medizinstudium ihren Traum, Ärztin zu werden, aufgeben, weil sie nicht zum Praktikum zugelassen wurde. Von ihrer entscheidenden Begegnung mit ihrem Professor erzählt sie: „Er verglich das mit einer Waage. In eine Schale sollte ich das Kopftuch, in die andere das Studium werfen. Er fragte mich, welche Seite für mich schwerer wog. Dass ich mich zwischen meinem Glauben und meinem Studium entscheiden musste, war ein übler Streich, den man mir spielte. Er sagte, ich solle mich unbedingt für eine Seite entscheiden.“ Weil ihre Positionen unvereinbar waren, verließ Nilüfer das Zimmer und letztendlich die Universität. Wie geht es weiter? Das Kopftuchverbot an den Universitäten ist mittlerweile etwas gelockert, aber nicht aufgehoben. Es gibt Universitäten und Hochschulen, die es „lockerer“ sehen als andere, wo Studentinnen entweder am Tor ihr Kopftuch ablegen müssen oder zu tragikomischen Methoden greifen, wie eine Perücke überzuziehen.

Drohende gesellschaftliche Polarisierung Jeder Versuch der regierenden moderat-islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP oder AK-Partei), das Verbot aufzuheben, ist bisher gescheitert. So arbeiten sich die Befürworter der Verhüllung der Frauen peu à peu voran. Nach einer weiteren Auflockerung des Kopftuchverbots an den Hochschulen wäre das Parlament dran: Bisher leistete der türkische Staat einen großen Widerstand gegen die Präsenz von verhüllten Abgeordneten im Plenarsaal. Auch diesbezüglich ist die Gesellschaft geteilter Meinung. Fest steht heute in jedem Fall eines: Dass der Streit um die Verhüllung der Frau und um die politischen Entwicklungen, die er symbolisiert, auch in der Türkei an Schärfe zunehmen wird. Dieser Streit ist schon längst nicht mehr zu trennen von den Geschehnissen in Westeuropa, im Irak, in Afghanistan, kurzum in der ganzen Welt. Darin sind sich nämlich alle Seiten einig: Es geht um mehr, als nur um das Tuch selbst - nicht zuletzt um Politik. Dilek Zaptcioglu, © Qantara.de 2003 Veröffentlicht: 22.12.2003 - Letzte Änderung: 01.03.2004

Ägypten

Kampf der Fernsehmoderatorinnen Nicht nur im Westen, sondern auch in der arabisch-islamischen Welt gibt es Verbote oder Kampagnen gegen das Tragen des Kopftuchs, das häufig ein Politikum darstellt. So beispielsweise auch in der Medienwelt, wie Nelly Yussef aus Kairo berichtet. Die Anti-Kopftuch-Initiativen gegen Musliminnen beschränken sich nicht auf die westliche Welt, inzwischen richten sie sich auch gegen Kopftuchträgerinnen in der arabisch-islamischen Welt. Der ägyptische Minister für Bildung und Unterrichtswesen, Dr. Hussein Kamil Baha ad Din, äußerte vor kurzem sein Missfallen darüber, dass die Anzahl der Studentinnen mit Kopftuch stark zugenommen habe. Dies fiel ihm bei einem Besuch einiger Bildungseinrichtungen in Alexandria auf, woraufhin er dringend eine Studie über „das Phänomen der zunehmenden Verschleierung muslimischer Studentinnen“ forderte. Auch verlangte er, dieser Entwicklung sofort entschlossen entgegen zu treten. Außerbehördliche Organisationen und Einrichtungen reagierten daraufhin empört: Ihrer Meinung nach drückte der Minister offen das aus, was die Regierung aus Furcht vor der Verbreitung des Kopftuchs unter Musliminnen jeden Alters in Schulen, Universitäten und auch in Regierungs- und Verwaltungsbehörden nicht ausspricht. Sie befürchtet nämlich, dass die öffentliche Verbreitung islamischer Symbole den islamischen Eiferern in die Hände spielen könnte, die die Einhaltung der Sharia in allen Lebensbereichen anstreben.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

27

Das Kopftuch als rein persönliche Angelegenheit? Ein Regierungsmitglied, das namentlich nicht genannt werden möchte, versicherte in einem Interview, der ägyptischen Regierung läge es fern, den Musliminnen das Kopftuchtragen zu verbieten. Vielmehr respektiere man dies und betrachte es als persönliche Angelegenheit jeder Frau. Tatsächlich habe sich aber der Eindruck gefestigt, man habe es mit einer „Bedrohung“ zu tun, die sich gerade in jüngster Zeit in der zunehmenden Verbreitung des Kopftuches manifestiert. Es wird befürchtet, dass sich die religiösen Strömungen weiter ausbreiten und islamische Gruppierungen die Gesellschaft kontrollieren könnten. Weiterhin gebe es Grund zur Sorge, dass die USA die ägyptische Gesellschaft als unbeweglich und undemokratisch einstuften. Der Informant bestätigte, dass der Standpunkt des Ministers für Bildung und Unterrichtswesen die Befürchtungen der Regierung verkörpere, insbesondere da die USA Millionen Dollar zur Unterstützung ägyptischer Bildungsprojekte zahlt.

Kein Kopftuch für Moderatorinnen In der Öffentlichkeit wird eine heftige Diskussion über den Kopftuch geführt, die durch folgenden Beschluss verschärft wird: Eine Gruppe ägyptischer Fernsehsprecherinnen wurde mit einem Auftrittsverbot belegt, nachdem sie mit Kopftuch vor die Kamera getreten waren. Inzwischen haben einige von ihnen Beschwerde gegen die staatliche Fernsehanstalt eingelegt. Die bekannteste unter ihnen, Maha Midhat, begann ihre Arbeit vor über zehn Jahren auf Kanal Zwei und hat vor kurzem beschlossen, das Kopftuch zu tragen. Daraufhin durfte sie nicht mehr auf der Bildfläche erscheinen, sondern sollte stattdessen als OFF-Sprecherin eingesetzt werden - nicht sichtbar also, sondern nur noch hörbar sein. Sie strengte daraufhin einen Prozess an und hofft seitdem, dass die Richter ihr wieder zu ihrer Arbeit verhelfen. Nichts in ihrem Vertrag, so sagt sie, weist darauf hin, dass ihr das Tragen eines Kopftuchs während der Arbeit untersagt sei. Der Konflikt zwischen Maha Midhat und dem ägyptischen Fernsehen spitzte sich nach einem heftigen Streit zwischen ihr und der Präsidentin der Anstalt, Zaynab Swidan, noch zu. Midhat bat den Informationsminister, Safwat Sharif, um Unterstützung, konnte jedoch bislang mit ihrer Bitte nicht zum Minister vordringen. Auch beim ägyptischen Präsidialamt hat sie Beschwerde eingelegt. Was ihr passiere, sei eine Beschneidung des Rechts auf freie Religionsausübung.

Arbeitsverbot trotz Ratsbschluss Die Moderatorin Hala al-Maliki arbeitete bei einem Regionalsender des ägyptischen Fernsehens und wurde mit einigen ihrer Kolleginnen von der Programmpräsentation ausgeschlossen, nachdem sie sich für das Kopftuch entschieden hatte. In einem Interview bestätigte sie, dass sie mit ihren Kolleginnen Ghada at-Tawil und Maha Adil gerichtlich Beschwerde gegen die Fernsehanstalt eingelegt habe. Außerdem hätten sie sich beim Schlichtungskomitee der Anstalt beschwert. Der Rat beschloss, dass ihnen die Rückkehr zur Arbeit erlaubt werden müsse. Das Tragen des Kopftuchs sei weder ein gesetzlicher Hinderungsgrund noch eine Behinderung bei der Ausübung der Arbeit und daher kein Grund für ein Auftrittsverbot für die Moderatorin. Trotzdem erlaubt die Sendeanstalt ihnen nicht, an ihre Arbeit vor den Kameras zurückzukehren. Andere Moderatorinnen haben sich mit den Umständen abgefunden und die Arbeit hinter der Kamera akzeptiert. So etwa Amal Subhi, die sagt, ihr sei klar, dass ihre Verbannung vom Bildschirm mit ihrem Entschluss, das Kopftuch zu tragen, zusammenhänge. Aber obwohl sie seitdem ihr Programm nicht mehr präsentieren darf, weigert sie sich, ihn wieder abzulegen.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

28

Kampagnen ohne rechtliche Grundlagen Subhi betont, dass sie die Politik des ägyptischen Fernsehens für falsch hält. Sie sei verwundert darüber, dass es anderen Ägypterinnen erlaubt sei, während der Arbeit das Kopftuch zu tragen, den Moderatorinnen hingegen nicht. Die Moderatorin Dalia Khattab hält es für ihr Recht, auch mit Kopftuch weiter arbeiten zu dürfen. Man solle jedoch nicht so einen Aufstand daraus machen, wie die Rechtsbeschwerde der Moderatorinnen, sondern das Ganze mit weiser Gelassenheit angehen. Seit dem Tragen des Kopftuchs hat Dalia einige Beschränkungen hinnehmen müssen. So wurde ihre Stimme einer Prüfung unterzogen, obwohl der englischsprachige Sender ihre hervorragende Stimme ausdrücklich gelobt hatte. Andere Moderatorinnen kündigten an, sich eine andere Stelle zu suchen. Einige gingen zu arabischen Privatsendern, die ihnen erlauben, mit Kopftuch zu moderieren. So auch Amal Saad, die bei einem der ägyptischen TV-Sender gearbeitet hatte. Sie erzählt, sie habe sich gleich nachdem sie das Kopftuch anzog, offiziell bei der Sendeleitung entschuldigt und das Arbeitsverhältnis beendet. Es sei ihr klar gewesen, dass sie angesichts der Hindernisse dort längstens als Moderatorin gearbeitet hatte. Anders sähe die Sache aus, bemerkte sie ferner, wäre sie nicht mit einem Zeitvertrag, sondern in Festanstellung beschäftigt gewesen. Dann hätte sie die Klage ihrer Kolleginnen unterstützt.

Angst vor falscher Wahrnehmung durch den Westen Zurückzuführen ist diese Politik des ägyptischen Informationsministeriums, so glaubt Saad, auf die Furcht, dass Ägypten im Westen negativ wahrgenommen werden könne, da die Medien als Repräsentationsforum der Landespolitik im Ausland funktionieren. Bissig kommentiert sie, eine Moderatorin müsse sich nicht als Schaufensterpuppe zur Verfügung stellen oder sich nach Gusto des Senders kleiden. Fatima Fuad, Direktorin einer regionalen TV-Sendeanstalt betont, dass im Fernsehen Moderatorinnen ohne Kopftuch üblich seien. Diese Norm könne sie nicht missachten. Zwar respektiere das Fernsehen den Entschluss der Moderatorinnen als persönliche Entscheidung, aber wegen der Norm könne man diese Frauen nicht mehr vor der Kamera einsetzen. Fatima Fuad versichert, sie habe sich für die Moderatorinnen bei den Entscheidungsträgern der Anstalt eingesetzt. Sie schlug vor, diese Moderatorinnen auf besonderen Sendeplätzen zu zeigen, in religiösen oder Familienprogrammen, wie es auch bei einigen Privatsendern üblich ist. Man wird den Vorschlag prüfen. Nelly Yussef, © Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 03.04.2004 - Letzte Änderung: 03.04.2004

Indonesien

Protestsymbol oder Zeichen der Loyalität? Das Kopftuch erfreut sich seit den 80er Jahren auch in Indonesien wachsender Popularität. Doch obwohl der Inselstaat die größte muslimische Bevölkerung der Welt hat, liegt die Deutungsmacht über den Hijab vor allem in der Sphäre der Politik, wie Lies Marcoes-Natsir berichtet. Lies Marcoes-Natsir ist Program Officer der Asia Foundation und Rechtsanwältin in Jakarta für reproduktive Rechte islamischer Frauen. Der Text ist ein Auszug aus ihrem Essay „Staatliche Politik und die theologische Debatte zur Rolle der Frauen in Indonesien“.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

29

Die Frage, ob der Hijab (das auch „Jilbab“ genannte Kopftuch muslimischer Frauen) getragen werden muss oder nicht, breitet sich in Indonesien allerorten geradezu aus wie eine Epidemie. Ein eklatantes Beispiel dafür bot eine Meldung in der überregionalen Presse, nach der einige - der „Befreiungsfront Aceh“ (LSM) angehörende Frauen - angeblich belästigt wurden, weil sie den Hijab in der Öffentlichkeit nicht trugen.

Echo der iranischen Revolution in Indonesien In den frühen 80er Jahren war es eine mehr oder weniger direkte Folge der erfolgreichen islamischen Revolution im Iran, dass das Tragen des Hijab immer beliebter wurde. Davor sah man andächtige Frauen in einer Vielzahl unterschiedlicher Outfits, manchmal stark religiös geprägt, manchmal aber auch nur mit oder ohne irgendeine Art von Schleier. Ein solcher Schleier war oft ein langes, meist dunkel gefärbtes Stück Stoff (kerudung genannt), häufig getragen von den weiblichen Studenten der islamischen Perguruan (Pädagogische Hochschulen). Doch allmählich wurde es auch bei Frauen anderer Universitäten zur Mode, den Hijab zu tragen, wobei sie sich auf die häufig zitierte 24. Sure des Koran (An-nur, das Licht, 30-32) beriefen, in der der Hijab explizit erwähnt wird.

Politischer Kampf um ein Stück Stoff Seit den dramatischen Entwicklungen im Iran aber wurde der Hijab von Seiten des indonesischen Staates zunehmend als Symbol des Protestes, als Zeichen der Herausforderung der Macht angesehen, da er auf gewisse Weise ein klassisches Muster islamischer Kultur, das des Widerstandes gegen das Establishment, wieder aufnimmt. Gewöhnliche religiöse Zusammenkünfte, wie die regelmäßig donnerstags stattfindenden Treffen von Studenten, zu denen sehr viele Frauen im Hijab kamen, wurden zuweilen von der Geheimpolizei überwacht. Dabei waren die Diskussionen auf diesen Treffen tatsächlich von recht toleranter Natur, ging es doch auch um Fragen gerechterer Verteilung der Macht im Staate. Andererseits diente das Tragen des Hijab aber als starker Ausdruck der persönlichen Identität, auch der eigenen Entscheidungsfreiheit. Nur allzu häufig waren deshalb diskriminierende oder gar repressive Maßnahmen gegen junge Frauen zu beklagen. Ein berüchtigtes Beispiel ist der vor Gericht verhandelte Fall einer das Kopftuch tragenden Gymnasiastin (in Bogor, 50 km südlich von Djakarta), deren Direktor sie vor die Wahl stellte, auf den Hijab zu verzichten oder aber die Schule zu verlassen. Auch auf privater Ebene sorgte das Tragen des Kopftuches für Konflikte, insbesondere in Familien von Beamten oder Armeeangehörigen. Denn selbst wenn die meisten Familien durchaus stolz auf ihre Tochter sein mochten, dass diese ihrer Frömmigkeit und ihrem Glauben derart Ausdruck verlieh, blieb der Hijab zu allererst ein Symbol der Auflehnung. Selbst wenn sie also aus einer Familie von Staatsbediensteten kamen, wurde den Frauen unterstellt, sich mit dem Tragen des Kopftuches offen gegen den Staat zu stellen.

Suhartos religiöser Wandel All dies änderte sich schlagartig, als der frühere Präsident Suharto damit begann, Einfluss zu nehmen auf die religiösen Symbole, Formen und Zeremonien des Islam. Kritische Stimmen waren laut geworden, und einige der aufrechteren Politiker und Ökonomen deuteten an, dass Suharto und seine Familie in Korruptionsskandale verwickelt seien. Zur Lösung des Problems einer einerseits schmaler werdenden politischen Basis und einer andererseits kritischeren Öffentlichkeit, begann Suharto damit, sich den moderateren unter den religiösen Führern anzunähern und machte Gebrauch von zahlreichen islamischen Symbolen. Immer mehr präsentierte er sich und seine Angehörigen so, wie sie gesehen werden sollten – nämlich als fromme islamische Familie. Und immer häufiger nahm auch seine Frau, Tien Suharto, an islamischen Feiern und Staatsakten teil, wie dem Maulid Nabi (Geburtstag Mohammeds), Isra-Mi’raj oder an den Festlichkeiten im Vorfeld des Lebaran (dem Ende des Fastenmonats). Schließlich begab sich die gesamte Familie sogar auf die Hadj (Wallfahrt nach Mekka), einschließlich des Besuchs der Kaaba.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

30

Damit nicht genug: Auch in der Bevölkerung wurde es in der Folge immer populärer, diese Wallfahrt zu unternehmen und damit die Pflicht der „fünften Säule des Islam“ zu erfüllen. Zahlreiche Finanzierungsangebote wurden nun aufgelegt, spezielle Sparpläne entworfen, die es tatsächlich zahlreichen Indonesiern selbst aus der unteren Mittelschicht ermöglichten, Kredite zu bekommen, um sich auf den Weg nach Mekka zu machen.

Tututs Kopftuchmode begeistert die Nation Trotzdem ist die allgemeine Begeisterung, die praktisch das gesamte Land ergriff, vor allem auf Tutut, die älteste Tochter des Präsidenten, zurückzuführen und ihre besondere Art, wie sie den Hijab trug. Indonesische Modedesigner und die Textilindustrie vermochten kaum Schritt zu halten mit der Nachfrage, und das Land wurde Zeuge des Entstehens einer islamischen Mode. Einige der Schnitte und Muster waren sehr teuer und nur für die Oberschicht erschwinglich. Doch wurden ähnliche Modelle auch in preiswerteren Geschäften, Outlet-Stores sowie als relativ leicht nach zu schneidende Schnittmuster angeboten. Auch geschäftstüchtige Marketingstrategen spielten natürlich eine Rolle bei der Popularisierung dieser neuen islamischen Mode. Die für Frauen zuständigen Stellen bei Regierungsorganisationen gaben sogar Broschüren mit Ratschlägen für einen solchen Kleidungsstil heraus. Der Hijab entwickelte sich zu einem unverzichtbaren Bestandteil dieser islamischen Mode. Sein Gebrauch beeinflusste sogar andere Arten weiblicher Kleidung, die gar keinen Verschleierung vorsahen, wie etwa einige der regionalen und traditionellen indonesischen Kostüme.

Kopftuch im Streit: Hijab versus Jubah Das konservativere Pendant zum Hijab, das als Jubah bekannt ist, wurde hingegen niemals so beliebt. Jemand, der ein Jubah trug, brachte zum Ausdruck, dass er die Autorität des Staates ablehnte und eine Lebensweise gewählt hatte, in der die Lehren des Islam so genau und so rein wie nur möglich befolgt werden. Die Gründe für die mangelnde Popularität dieser Art der Kopfbedeckung sind in der mangelnden Popularität des fundamentalistischen Islam selbst sowie seiner militanten und kompromisslosen Natur zu suchen. Zudem wurde der Jubah mit weiblichen Gastarbeitern (Tenaga Kerka Wanita) in Verbindung gebracht, die ihr Geld in einem anderen islamischen Land in Übersee verdienten - vor allem Saudi-Arabien. Daher ließ er sich also nicht ohne Weiteres in die indonesische Gesellschaft integrieren.

Der Islam als „schmückendes Beiwerk“ Suhartos Teilnahme an islamischen Feiern und seine aktive Unterstützung bestimmter religiöser Gruppen führte zu einem Aufschwung islamischer Identität. Regierungsagenturen erleichterten und beförderten die Gründung und den Aufbau islamischer Institutionen und Organisationen. Islamische Banken, eine rege islamische Presse sowie neue Organisationen wurden ins Leben gerufen, während überall im Land Moscheen und religiöse Bildungszentren entstanden. Da viele dieser Unternehmungen aber eng mit dem Regime Suhartos verknüpft waren, das schon bald deutliche Risse und Brüche aufzuweisen begann, wurden sie von der Öffentlichkeit immer misstrauischer beäugt. Denn die staatliche Politik stand mit den islamischen Lehren und Moralvorstellungen häufig im offenem Widerspruch. So z.B. wenn es um den Ausbau einer gerechten Gesellschaft, Chancengleichheit für alle und den Schutz der Armen ging. Die Machthabenden zeigten sehr deutlich, dass es ihnen in erster Linie nur vordergründig um ihr Image als fromme Muslime ging, und für sie daher nur oberflächliche, äußere Symbole des Islams zählten. © Lies Marcoes-Natsir, Qantara.de 2004 Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

31

Veröffentlicht: 04.03.2004 - Letzte Änderung: 05.03.2004

Hintergrund

Zwei Gesichter unterm Tuch Kopftuchgegner sehen in dem verhüllenden Stoff vor allem ein Symbol der Unterdrückung von Frauen. Für junge Neomusliminnen kann ihr Kopftuch aber auch Freiheit, Würde und Identität bedeuten. Von Heide Oestreich „Stecks dir doch inn Arsch!“, gellt es über die Straße in Berlin-Kreuzberg. Man möchte gar nicht so genau wissen, was der arme Junge sich wohin stecken soll. Eher fragt man sich, wie dieses sittsam mit einem Kopftuch verhüllte Mädchen dazu kommt, derart explizite Aufforderungen von sich zu geben. Aber sie ist schon kichernd mit ihrer Freundin von dannen gezogen. Hm. Nicht nur in Berlin-Kreuzberg kommt einem der Verdacht, dass mit den jungen Musliminnen nicht mehr alles so ist wie früher. Da klimpern fliegenbeindicke Wimpern, heben sich lasziv schwer blau getönte Augenlider, und das Kopftuch flattert über einem Strickjäckchen, das an entscheidenden Stellen bedenklich spannt. Am Hinterkopf frisiert sich die Muslimin noch einen Extrabürzel, das macht die Kopfform unterm Tuch edler. Wer diese Mädchen vor Augen hat, der wundert sich ein bisschen, wenn die Politik steif und fest behauptet, das Kopftuch sei ein Instrument der Unterdrückung und widerspreche dem Grundgesetz.

Von der Moschee geschickt? Aber vielleicht lassen wir uns ja täuschen von dem pubertären Auftreten der jungen Damen. Vielleicht ist der Lidschatten nur noch das letzte Aufbäumen, bevor das Gesetz des Patriarchats zuschlägt und Strickjäckchen, Wimperntusche und Augenaufschlag unter der Haube der Zwangsheirat verschwinden. Diese Mädchen, die jetzt auf Demos „Mein Kopf gehört mir“ skandieren, vielleicht sind die von ihrer Moschee geschickt worden, wie von einer Partei. Um den Islam zu verteidigen, gegen die Ungläubigen. Das scheint nicht ganz abwegig. Bei öffentlichen Diskussionen um das Kopftuch sind regelmäßig betuchte Abordnungen von Milli Görüs da. Die Organisation wird vom Verfassungsschutz unter „Islamismus“ eingereiht. Sie ist Nachfolgepartei der AMGT, die es sich zum Ziel gemacht hatte, türkische Immigranten gegen alle kulturellen und politischen Einflüsse Deutschlands abzuschirmen. Doch für Politik interessieren sich ohnehin nicht viele Jugendliche, für politische Organisationen noch weniger, und in die Moschee gehen die jungen Muslime auch nicht gerade besonders häufig. Gerade mal drei Prozent, ergab eine Telefonumfrage des Zentrums für Türkeistudien, engagierten sich in den Moscheen von Milli Görüs. Das beantwortet aber noch nicht die Frage, ob das Kopftuch nicht doch der Ausdruck eines unterdrückten Mädchenlebens ist, das nur zaghafte Ansätze macht, das patriarchale Gesetz durch Lidschatten zu unterlaufen.

Neue Musliminnen Schon seit einigen Jahren hat auch die Sozialforschung junge Frauen entdeckt, die „neue Formen muslimischer Lebensführung“ ausprobieren, so der Titel einer Studie von Gritt Klinkhammer. „NeoMusliminnen“ nennt die Soziologin Sigrid Nökel sie. Und Yasemin Karakasoglu hat explizit Lehramtsstudentinnen mit Tuch zu ihrem Glaubensverständnis befragt. Aus den Ergebnissen ihrer Interviews lässt sich ein Mosaik der neuen Muslimin zusammensetzen.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

32

Verschiedene Beweggründe Wer oder was bewegt die Heranwachsenden, ein Tuch zu tragen? Manchen Mädchen wird das Tuch tatsächlich von der Familie nahe gelegt. Sie sträuben sich eine Weile, weil sie nicht anders aussehen wollen als die anderen. Aber viele eignen sich das Tuch dann regelrecht an, als Zeichen ihrer Religion. Nökel zitiert ein Mädchen, das in der sechsten Klasse zum ersten Mal mit dem Tuch in der Schule erscheint: „Natürlich waren alle erst mal erstaunt. Dann hieß es natürlich, du Arme, deine Eltern. Ja, dann wird man erst mal bemitleidet, als ob das ein Zwang wär, dann tu ich denen Leid. Dass meine Eltern mich gezwungen haben, denken die Leute. Das ist immer dieses Vorurteil, das die meisten haben.“

„Wie ne Bombe“ Die Reaktionen? „Ja am Anfang, das war wie ne Bombe, weil man von allen Leuten so auf einmal gefragt wird und bemitleidet wird. Da bin ich auf einmal nur in Tränen ausgebrochen. Aber am zweiten, dritten Tag, da habe ich denen alles erklärt, warum ich das Kopftuch trage, aus religiösen Gründen, weil ich möchte, dass man auf meine inneren Werte achtet und nicht auf mein Äußeres. Und dann habe ich denen erklärt, dass ich das natürlich aus freien Stücken tue, weil ich davon überzeugt bin. Und dann war das für die Leute kein Problem. ,Ob du jetzt ein Tuch aufhast oder nicht, solang du die Alte bleibst, ist das kein Problem.' „ Andere Mädchen setzen ihre neue Bedeckung gegen den Willen der Eltern durch, die wissen, wie stigmatisierend ein Kopftuch in der deutschen Gesellschaft wirkt. Eine marokkanischstämmige Studentin beschreibt, wie sie in der zwölften Klasse durch den Kontakt mit einer Moschee-Jugendgruppe zum Tuchtragen kam. Parallel habe sie lange Debatten mit dem Philosophielehrer geführt, einem Atheisten. Allah hat den Kampf in diesem Fall gewonnen: „Ich habe gemerkt, ich habe eine tolle Religion eigentlich“, resümiert sie.

Die neu gefundene Religion Angst vor den Reaktionen der Umwelt kann diese jungen Frauen nicht mehr davon abhalten, der neu gefundenen Religion zu folgen. Es ist eher andersherum: Karakasoglu hört einige Male von Lehramtsanwärterinnen, die gerade zeigen wollen, dass auch Musliminnen mit Tuch selbstständig und emanzipiert sein können. Mit dem Tuch signalisieren sie, dass sie die Geschlechtersegregation des Islam grundsätzlich anerkennen. Frauen sind anders als Männer. Eine Muslimin geht nach dieser Vorstellung mit ihrer sexuellen Anziehungskraft verantwortlich um, wenn sie sie verhüllt. „Das Kopftuch ist für mich ein Befehl Gottes, die Frau soll ihre Körperformen verhüllen. Ich sehe es auch als Mittel, wodurch Frauen, wenn sie mit Männern sprechen, nicht durch ihre Weiblichkeit wirken. Ihre Persönlichkeit kommt zum Vorschein, und ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum Gott das befohlen hat“, zitiert Karakasoglu eine 23-jährige Lehramtsstudentin.

Die Ausstrahlung unter dem Tuch verbergen Das Bedecken ihrer „weiblichen Reize“ wird als Moment der Askese gedeutet, der zeitweiligen Absage an körperliche Bedürfnisse. Der Aspekt der Geschlechterungleichheit, der dadurch entsteht, dass nur die Mädchen diesen asketischen Schritt gehen, wird zu ihren Gunsten ausgelegt: Sie haben - im Gegensatz zu den Männern - eine so starke Ausstrahlung, dass sie diese unter einem Tuch verbergen müssen. „Eine Frau, die Schleier trägt, muss respektvoll aussehen. Wie zum Beispiel in königlichen Familien“, erklärt eine. „Das ist genauso wie in alten Gesellschaften, auch hier ein Europa; ein Gentleman zu sein oder eine richtige Lady.“

Suche nach Identität Hier schimmert die uralte Bedeutung des Schleiers als Privileg der Aristokratin auf: Unter diesem Tuch steckt eine Frau, die ist so sexy, dass sie sich verbirgt. So geht sie verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität um, soll das Tuch signalisieren.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

33

„Das Kopftuch gibt mir meine Identität wieder als muslimische Frau. Ich fühle mich darunter sehr wohl. Nicht, wie einige sagen, irgendwie eingeengt. Es steigert mein Gefühl, eine Frau zu sein, erinnert mich daran, dass ich eine Frau bin, und daran, dass ich eine Bindung an etwas habe, dass ich einen festen Bezug habe“, erklärt eine Studentin Karakasoglu. Sie verstehen das Kopftuch demnach als sichtbares Zeichen, Grundsätze des Islam verinnerlicht zu haben. Das hat einen weiteren angenehmen Nebenaspekt. Einem traditionell eingestellten muslimischen Vater kann man leichter beibringen, dass man nun auf die Uni gehen will, wenn man ihm mittels Kopftuch zeigt, dass man die Sittlichkeit, um die er fürchtet, längst internalisiert hat. Ob eine solche Fixierung auf die Sexualität, dieses Hervorheben durch Bedecken, aus psychologischer Perspektive irgendwie geglückter oder weniger geglückt ist als die im Westen verbreitete Praxis, die Sexualität entweder zu verleugnen oder zwanghaft zu zeigen, ist eine spannende Frage.

Keine Nachteile durch Geschlechtertrennung Einen „unbefangenen“ Umgang mit dem Geschlechterunterschied üben jedenfalls noch ziemlich viele Gesellschaften. Die Neomusliminnen aber haben sich vorerst entschieden, der alten islamischen Methode der Segregation treu zu bleiben - mit einer entscheidenden Einschränkung: Sie darf ihnen keine Nachteile bereiten. Das Kopftuch wird extra streng getragen. Aber es soll nicht die Unterordnung unter den Mann symbolisieren, sondern die unter den Glauben. Und es ist nicht der traditionelle Islam, dem die Neumusliminnen folgen. Alle Befragten hatten Jugend- oder Frauengruppen in den Moscheen besucht. Und dort haben sie die Regeln genauestens unter die Lupe genommen. Es ist eine eigene Koranlektüre, die sie ihren traditionelleren Eltern entgegenhalten. Ein echter Muslim, schließen sie daraus, würde zwar die Unterschiedlichkeit der Geschlechter anerkennen, aber niemals eine Hierarchie zwischen ihnen. So erklärt eine von ihnen der Soziologin Nökel: „Tradition und Islam sind ganz verschiedene Sachen. Im Islam ist es so: Was die Frau nicht darf, das darf der Mann auch nicht.“

Feministische Koranlektüre Aus den Befragungen ergibt sich der Eindruck, dass eine feministische Koranlektüre unter den Musliminnen weiter verbreitet ist, als die orthodoxen männlichen Wortführer glauben machen. Letztere beherrschen allerdings die öffentlichen Diskurse und verteidigen dort wortreich die ungleichen Rechte von Männern und Frauen. Eine in dieser Richtung aktive Frauenorganisation ist das Netzwerk „Huda“. In ihrer Zeitschrift wird nicht nur über die Rolle der Frau in der Moschee oder über Islam und Gewalt reflektiert, hier finden auch Fachleute deutliche Worte: Ein Psychotherapeut schreibt aus seiner Praxis über die Angst traditioneller Männer, die Kontrolle über ihre Frau zu verlieren, die sich in Gewalt, Eifersucht und im Einsperren äußert. Über den Masochismus muslimischer Frauen, die meinen, Allah würde ihnen ihre Duldsamkeit schon lohnen, und die vielleicht noch stolz darauf sind, dass ihr Mann so „stark“ ist. Über das Problem der Konvertitinnen, die ihren Freundeskreis durch die Konversion verloren haben und nun jede Tyrannei des Ehemanns mitmachen, aus Angst, mit ihm ihren letzten Halt zu verlieren.

Das Recht auf Polygamie Das ist anderer Stoff als der, den orthodoxe oder fundamentalistische Organisationen über „die Frau im Islam“ gerne veröffentlichen. Die Islamische Gemeinschaft Deutschlands etwa, die im Zentralrat der Muslime organisiert ist, verteidigt auf ihrer Homepage alle Vorrechte des Mannes, inklusive Polygamie. Aber auch in solchen eher fundamentalistischen Organisationen gibt es Stress: Die Frauen von Milli Görüs sollen den früheren Chef Ali Yüksel zum Rücktritt gezwungen haben, als dieser seine dritte Frau ehelichte. Feminismus findet also auch dort statt, wo man ihn am wenigsten vermutet: bei den Islamisten von Milli Görüs.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

34

Neue Wege der Interpretation Personell verflochten mit Milli Görüs ist das Zentrum für muslimische Frauenforschung und Frauenförderung (ZIF). Sein „Hermeneutischer Arbeitskreis“ betreibt wohlgemut feministische Theologie. So würdigt er, dass Mohammed der Frau erstmals in der arabischen Geschichte den Status eines Rechtssubjekts einräumte. Doch gerade deshalb könne man die von ihm eingeführten Regeln wie das ungleiche Erbrecht oder die Polygamie nicht in die heutige Zeit übertragen. Im Lichte der im Koran grundsätzlich vertretenen gleichen Würde von Mann und Frau müssten solche Regeln selbstverständlich der Zeit angepasst werden: Es gehe doch, etwa beim Erben, nicht um Prozentzahlen, sondern um „eine sozialverträgliche gerechte Lösung aufgrund der vorliegenden Bedingungen“, so schließen die Hermeneutikerinnen. Sie gehen so weit, dass sie den Gottesnamen Arrahman übersetzen als „die Gottheit ist der Mutterschoß, in dem der Mensch geborgen ist“: Allah ist eine Frau.

Nicht alle Kopftuchträgerinnen unterdrückt Nicht alle jungen Musliminnen, die nach der neuesten Mode ein Kopftuch tragen, werden sich derart weitreichende Gedanken machen. Doch für die These, diese Mädchen seien durchweg unglücklich und unterdrückt, gibt es keine Anhaltspunkte. Das Klischee nivelliert die Vielzahl der Lebensweisen muslimischer Mädchen in Deutschland, betonen alle, die sich das „unterdrückte“ türkische Mädchen genauer angesehen haben. So sind nach einer Studie von Karakasoglu dreimal so viele junge Mädchen türkischer Herkunft wie deutsche sehr zufrieden mit sich. Aber auch sehr unzufrieden sind mehr türkischstämmige als deutsche Mädchen. „Heterogen“ nennt die Soziologie diese unübersichtliche Lage: Es gibt Mädchen, die sind arm dran. Es gibt aber noch mehr, denen geht es sogar besser als den deutschen Mädchen.

Westliche Sicht auf die Dinge Kaum zu glauben? Es wird einfacher vorstellbar, wenn man berücksichtigt, dass die traditionelle Geschlechterrollenverteilung des Islam nur aus westlicher Perspektive gänzlich negativ erscheint und abgelehnt wird. Daraus entsteht das Bild, dass die muslimische Frau todunglücklich sein muss und dementsprechend vor Freude jubelt, wenn sie endlich ihre Hüllen fallen lassen darf und das Haar im Wind flattert. Dem ist aber in vielen Fällen nicht so. Den Patriarchalismus möchten viele muslimische Frauen wohl hinter sich lassen, aber ihren Glauben und die koranischen Regeln nicht. Deshalb ist für sie weder die islamische Orientierung der Frau auf die Familie noch die Geschlechtersegregation, die durch das Tuch ausgedrückt wird, prinzipiell negativ konnotiert. Was sie dagegen entschieden ablehnen, sind die Dominanzansprüche, die altmodische muslimische Männer damit verbinden. Viele Gegnerinnen des Kopftuchs meinen, solche Ansätze seien „naiv“. Diese Frauen seien zu schwach, um der Macht des islamischen Patriarchats zu trotzen. Man gibt eine Weile die islamische Feministin und landet dann doch in einer unglücklichen Ehe, suggerieren sie. Das könnte stimmen - wenn diese Frauen in einem homogenen Umfeld lebten, das sie mit Macht in eine traditionelle Rolle zurückdrängen will.

Kopftuchverbot versus frauenfreundlicher Islam Aber in Deutschland leben sie in einer Gesellschaft, die sich mit wechselndem Erfolg darum bemüht, dass Frauen selbstbestimmt leben können. Ein Bekenntnis muslimischer Frauen zum Islam, der auch konservativ verstanden werden kann, ist ein geringes Risiko, wenn durch das Tragen des Kopftuchs der Frau „ExitOptionen“ offen stehen. Also Möglichkeiten, aus einer unglücklichen Ehe oder vor uneinsichtigen Eltern zu fliehen. Und die Gelegenheit, sich zu bilden, selbst Geld zu verdienen, von Männern unabhängig zu sein.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

35

Wer ihr Tuch diskreditiert, verbaut den Frauen diese Möglichkeiten. Wer soll private Arbeitgeber noch dazu bringen, Mädchen mit Kopftuch einzustellen, wenn schon der Staat sie für zu bedenklich hält? Es könnte gut sein, dass man damit aussperrt, was man auf der anderen Seite so vehement einfordert: Agentinnen eines moderneren, frauenfreundlichen Islam. Heide Oestreich © die tageszeitung, 27. März 2004 HEIDE OESTREICH, 35, ist Redakteurin für Geschlechter- und Gesellschaftspolitik im Inlandsressort der taz. Mit dem Thema „Kopftuch“ beschäftigt sie sich seit längerem intensiv. Jetzt hat sie ihre Recherchen in einem Buch zusammengefasst. „Der Kopftuch-Streit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam“, 200 Seiten, 15,95 Euro, Verlag Brandes und Apsel, Frankfurt 2004.

Eine fahrlässige Debatte Außerparlamentarisch wird das Kopftuchverbot bereits umgesetzt. Die Vertreibung kopftuchtragender Musliminnen aus der Berufswelt ist längst in vollem Gange. Barbara John berichtet Vor einigen Wochen, die Kopftuchdebatte machte bereits Schlagzeilen, bewarb sich eine junge, kopftuchtragende Berlinerin als Küchenhilfe bei McDonalds. Sie wurde abgelehnt - mit der Begründung, kopftuchtragende Mitarbeiterinnen seien für viele Kunden eine Provokation. Ähnliches hören Frauen, die sich um Rechtsanwaltsgehilfinnen bewerben, täglich.

prestigeträchtigere

Arbeitsplätze

als

Ärztinnen

oder

Ortswechsel: Eine kopftuchtragende Studentin steigt in einen Berliner Bus und muss anhören, wie ein Fahrgast bei ihrem Anblick laut von „Scheißterroristen“ spricht. Als sie ihn zur Rede stellt, gibt es keine Unterstützung für sie von anderen Mitfahrenden. Noch nie, so ist von Frauen mit Tüchern zu hören, war Ablehnung so deutlich zu spüren wie derzeit; nicht einmal nach dem 11. September. Damals gab es neben der offenen Distanzierung auch viele Versuche zur Kontaktaufnahme, um zu erfahren, wie Muslime auf das entsetzliche Ereignis reagieren.

Ressentiments und Ausgrenzungen in der Berufswelt Das ist heute ganz anders: Frauen mit Kopftüchern erleben fast überall Ausgrenzung und Missbilligung, und zwar unverhohlen und direkt, so als gäbe es dazu eine öffentliche Aufforderung. Viele sehen sich behandelt, als sei ein Kopftuchverbot, das sich derzeit in Baden-Württemberg, im Saarland, in Niedersachsen und in Hessen noch in der parlamentarischen Beratung befindet, außerparlamentarisch bereits umgesetzt. Betroffen sind auch Frauen mit Berufswünschen außerhalb pädagogischer Tätigkeiten. Das sind schon jetzt weitaus mehr Musliminnen, als es Bewerberinnen mit Kopftuch für ein Lehramt gibt. Die Vertreibung kopftuchtragender Musliminnen aus der Berufswelt ist in vollem Gange. Spreche ich die Befürworter eines staatlichen Kopftuchverbots auf diese Folgen an, dann höre ich: „Das war nicht beabsichtigt. Es geht nur um ein Verbot für den öffentlichen Dienst.“ Dass es nun alle Kopftuchträgerinnen trifft, liegt aber in der Logik der vorgetragenen Gründe. Im Mittelpunkt der Angriffe stand die Kopftuchträgerin. Sie wurde in geradezu klassischer Manier zum Feindbild aufgebaut. Kopftücher sind eine „militante Kampfansage an die Gesellschaft“, lautet die verbreitete politische Botschaft. Im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes aus Baden-Württemberg heißt es: „Insbesondere ist ein äußeres Verhalten“ - gemeint ist das Kopftuch - „unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt.“

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

36

Feindbild Kopftuch Mit diesen Charakterisierungen werden alle Merkmale einer Feindbildstilisierung erfüllt: die Brandmarkung, die moralische Disqualifizierung und die Diffamierung: Musliminnen, die Kopftücher tragen, sind dieser Gruppe zuzuordnen. Musliminnen ohne Kopftücher gehören nicht dazu. So hat das Eintreten für das Kopftuchverbot „die Bedrohung erzeugt, die es wehren will“, wie M. Siemons am 11. 11. 2003 in der FAZ schrieb. Das mag nicht von allen beabsichtigt gewesen sein. Gehört nicht aber die Abschätzung von Risiken und Nebenwirkungen zum politischen Handwerkszeug? Warum sollte das Kopftuch, das von der Sprechstundenhilfe oder der Krankenhausärztin oder der Verkäuferin getragen wird, einen anderen Inhalt transportieren als das einer Lehrerin? Die dem Kopftuch zugeschriebene politische Symbolik bleibt im Auge vieler Betrachter gleich, egal wo sie den Frauen begegnen. Die Verbotsdiskussion befindet sich in einer Falle. Selbst dort, wo das Tuch nicht verboten werden kann oder darf, behält es seinen anstößigen Charakter. Genau das bekommen mehr und mehr Frauen zu spüren. Schon suchen sie nach Auswegen und diskutieren, welches Studium oder welche Ausbildung überhaupt noch begonnen werden sollte, wenn Anstellungschancen im begehrten pädagogischen Arbeitsfeld nicht mehr realistisch sind. Sie witzeln, dass noch gute Einstellungsaussichten bei Call-Centers bestehen; schließlich gibt es noch keine Bildübertragung vom Telefonarbeitsplatz. Wer sich ebenfalls auf gut qualifizierten Nachwuchs freuen kann, sind muslimische Organisationen: Schulen, Vereine und Eltern-Kindergärten. Bravo, kopftuchverbietende Knitzelsbacher: So tragt ihr dazu bei, dass die so genannte Parallelgesellschaft, vor der ihr permanent warnt, sich noch weiter abschotten kann. Musliminnen mit beruflichen Ambitionen außerhalb ihrer religiösen Milieus werden zurück zu Kindern, Küche und Moscheeverein verwiesen. Lässt sich die allumfassende Diffamierung wieder beseitigen? Wohl kaum, denn wer sollte die Kehrtwende einläuten? Die politischen Verlautbarer verlören ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie erklärten, dass die Mohrrüben schabende Kopftuchträgerin beim Küchenjob keinesfalls die Unterdrückung ihres Geschlechts im Sinn habe und die Demokratie auch nicht beseitigen wolle, wie es ihre arrivierteren „Schwestern“ vorhaben, die unbedingt in den Schuldienst wollen.

Das Schweigen der Musliminnen Und die Musliminnen selbst? Könnten sie das leisten? Sie haben sich in der Debatte bisher kaum zu Wort gemeldet. Das hat viele Gründe: Sie sind nicht organisiert, haben eben keine Netzwerke geknüpft - obwohl dies oft vermutet wird. Die wenigen, die über eine gute Ausbildung verfügen, halten sich im Hintergrund. Zu oft haben sie die Erfahrung gemacht, dass ihre sparsamen öffentlichen Einlassungen verzerrt dargestellt oder gar ins Gegenteil verkehrt werden. Verteidigen sie ihr Kopftuch als religiöses Kleidungsstück, wird ihnen vorgeworfen, dass sie sich im Koran gar nicht auskennen; schließlich sei dort eine Kopfbedeckung gar nicht erwähnt, sie gehöre also gar nicht zur Religionsausübung. Erklären Frauen, dass sie sich selbstbestimmt für das Kopftuch entschieden haben, werden sie wieder belehrt: Das sei Einbildung, sie seien nur ferngesteuerte Marionetten der Islamisten. So bleibt nur die Hoffnung auf weitere Entscheidungen höherer Gerichte, die feststellen, dass Artikel 4 der Grundrechte unserer Verfassung, die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, auch für Frauen mit Kopftüchern gilt. Sie werden dieses Rechts nicht dadurch würdig, dass sie das Kopftuch ablegen. Sie besitzen das Grundrecht bereits; es ist keine Belohnung für gelungene Assimilation. Mit der Kopftuchdiskussion ist mir klar geworden, wie sich viele in Deutschland die Integration wünschen: Integriert ist eine muslimische Frau erst dann, wenn sie nicht mehr so aussieht wie eine Muslimin und auch nicht dafür gehalten werden kann.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

37

Wer sich diese bornierte Wunschvorstellung auf „unterhaltsame“ Art vor Augen führen will, der sollte Lessings Einakter „Die Juden“ lesen, geschrieben 1754. Übrigens. Der Autor hat dieses Trauerspiel ein Lustspiel genannt. I was not amused reading it. Barbara John © taz, 27.2.2004 Prof. Barbara John, 65, wurde 1981 vom Berliner Senat zur ersten Ausländerbeauftragten der Bundesrepublik berufen. Dieses Amt versah die CDU-Politikerin bis ins vergangene Jahr - auch unter der rot-grünen und rot-roten Koalition.

Veröffentlicht: 03.04.2004 - Letzte Änderung: 03.04.2004

Moderne Frauen tragen Kopftuch Nicht-Muslime sehen oft im Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Erniedrigung und Unterdrückung muslimischer Frauen. Doch statt eines Stigmas ist das Kopftuch für Muslime verstärkt zum Zeichen eines positiven Bekenntnisses zu ihrer religiösen Identität geworden, meint die türkische Soziologin Nilüfer Göle. Der Grund, weshalb der Islam in der Sicht des Westens als eine „ganz andere“ Religion erscheint, beruht darin, dass der Westen eine systematische Entinstitutionalisierung der Religion erlebt hat. Die Religion ist natürlich nicht aus dem modernen westlichen Leben verschwunden, vielmehr ist es der Anspruch, den religiöse Institutionen auf das Verhalten des Einzelnen erheben. Religion ist in der modernen Welt eine viel persönlichere und spirituellere Erfahrung als je zuvor. Doch auch innerhalb des Islam findet schon ein Prozess der Entinstitutionalisierung religiöser Erfahrungen statt. Wie im Westen wird die religiöse Erfahrung im Islam persönlicher. Ein Ergebnis ist die Deutung religiöser Texte durch den einzelnen Muslim, auch seitens der politischen Kämpfer, der Intellektuellen und Frauen. Ein anderes ist die Vergröberung der religiösen Kenntnisse, wobei die Lehre des Korans missbraucht und aus dem Zusammenhang gerissen wird, um politische Ziele zu unterstützen. Wer entscheidet jetzt, was im Islam erlaubt ist und was verboten? Wer besitzt die Autorität, religiöse Texte zu interpretieren? Wer kann eine Fatwa ausrufen oder einen Dshihad erklären? Heute bieten Aktivismus und Terrorismus eine neue Quelle der Legitimität. Somit entscheiden Laien, was Islam bedeutet oder nicht bedeutet, ohne die Autorität religiöser Schulen und einer Spezialausbildung.

Die Entinstitutionalisierung des Islams eint ungleiche Partner Tatsächlich wird der Islam heute in erster Linie von politischen Akteuren und kulturellen Bewegungen und nicht von religiösen Institutionen gedeutet. Diese Entinstitutionalisierung ermöglichte dem Islam, statt weiterhin ein lokales und nationales gesellschaftliches Band zu sein, eine imaginäre Verbindung zwischen allen Moslems überall dort zu schmieden, wo sie sich unterdrückt und bedrängt fühlen. Daher kann der Islamismus Menschen, die früher tief zerstritten waren, vereinen: spirituelle Sufi und gesetzestreue Sharia-Moslems; Schiiten und Sunniten; das konservative Saudi-Arabien und den revolutionären Iran. Als die Gläubigen die ländlichen Gebiete verließen und in die Städte, auch in die des Westens zogen, ist auch der Islam in Bewegung geraten. Natürlich erleben Muslime infolge der Wanderung ein Gefühl der Distanz von oder gar einen Bruch mit ihrer gesellschaftlichen Herkunft. Daher sind ihre religiösen Erfahrungen von einer neuen Art und aller theologischen, gemeindlichen und staatlichen Institutionen beraubt. Die religiöse Erfahrung wird stattdessen zu einer Form der Sinnstiftung in der Fremde. Nicht die Distanzierung vom modernen Leben, sondern die Annäherung an dieses löst die Rückbesinnung auf die religiöse Identität aus. Tatsächlich entsteht der Radikalismus meistens in Gruppen, die, weil sie Mobilität

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

38

und Vertreibung erfahren haben, mit den weltlichen Formen des politischen Denkens und städtischen Lebens im Westen vertraut sind. Durch die ungewohnte Umgebung verunsichert, finden sie im Islam ihren Rückhalt. Doch damit sich dieser Rückhalt bewähren kann, muss sich der Islam angesichts der Modernität von seiner traditionell unterwürfigen, passiven und sanftmütigen Haltung befreien. Indem sie einen Schleier oder einen Bart tragen, das Recht auf Räume für ihr Gebet am Arbeitsplatz oder in der Schule einfordern und besondere Nahrungsmittel beanspruchen, geben sich Muslime offen als solche zu erkennen.

Kopftuch als Zeichen islamischer Identität Nicht-Muslime sehen üblicherweise im Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Erniedrigung und Unterdrückung der muslimischen Frauen. Statt eines Stigmas ist das Kopftuch für Moslems nun zum Zeichen des positiven Bekenntnisses zu ihrer islamischen Identität geworden. Mädchen, die in französischen und deutschen Schulen das Kopftuch tragen, stehen in vieler Hinsicht (etwa in Bezug auf die Jugendkultur, ihr Modebewusstseins und ihre Sprache) ihren Mitschülern näher als ihren an die Wohnung gefesselten, ungebildeten Müttern. Indem sie in Europa das Kopftuch in der Öffentlichkeit tragen, verändern diese Mädchen unbeabsichtigt das Symbol und die Rolle der muslimischen Frauen. Diese Tendenz reicht weit über das Kopftuch hinaus. Alle Moslems im Westen besitzen ein doppeltes Zugehörigkeitsempfinden, ein doppeltes kulturelles Kapital. Sie definieren sich durch ihre Religiosität, aber sie haben auch ein umfassendes, weltliches Wissen erworben. So können sie sich auch relativ frei zwischen verschiedenen Aktivitäten und Räumen bewegen - zwischen dem Zuhause, der Schule, der Jugendorganisation und den städtischen Freizeitangeboten. Was wir heute erleben, ist die Umwandlung der islamischen Identität in eine islamistische. Das religiöse Selbst des einzelnen Muslims verlagert sich vom privaten in den öffentlichen Bereich. Die Frage, die sich einem jeden stellt, ist die, ob der Suche nach Identität mit Kopftüchern und einer öffentlichen Akzeptanz der religiösen Praktiken des Islam entsprochen werden kann oder ob das positive Bekenntnis zum Islam eine grundsätzlichere Ablehnung der Modernität verlangt. Nilüfer Göle, © Project Syndicate/Institut für die Wissenschaften vom Menschen, 2003. Die Autorin ist Studiendirektor an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales“ in Paris.

Veröffentlicht: 21.10.2003 - Letzte Änderung: 05.03.2004

Wider die Kulturalisierung des Kopftuch-Diskurses! Die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün kritisiert die politische Instrumentalisierung des Kopftuchs in Deutschland durch islamistische Verbände, die demokratische Grundrechte einer religiös-kulturellen Differenz nachordnen würden. Appelle - politische oder sozial-gesellschaftskritische - können zur Klärung und zu einer umfassenden Diskussion beitragen. Sie können aber auch das Gegenteil bewirken. Dies gilt vor allem für Sachverhalte, in denen Emotionen angesprochen werden, und ebenso für die Sorgfaltspflicht von Politikern, die eine besondere Verantwortung in Religions- und Migrationsfragen haben. In der Diskussion um das Kopftuch wiegt die Gefahr der Polarisierung doppelt. Zu leicht wird die Grenze zwischen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.09.2003, d.h. der Frage, ob eine Lehrerin an einer öffentlichen Schule ein Kopftuch tragen darf, und den „Angsthinweisen“, bald könnte ein Verbot auch andere Musliminnen treffen, überschritten. Häufig wird Kritikern des Kopftuchs bei Lehrerinnen unterstellt, sie wollten statt religiöser Vielfalt „Zwangsemanzipation“ durchsetzen und gleichzeitig verhindern, dass muslimische Frauen „einen selbstbewussten, frei gewählten Lebensentwurf verfolgen“ können.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

39

Die Argumentation gipfelt häufig im Vorwurf, es gehe eigentlich um eine Diskriminierung der Muslime an sich, um verdeckten Antiislamismus. Vertreter einiger konservativ-islamischer Verbände gehen gar so weit, Parallelen zum Antisemitismus oder zur Judenverfolgung im Dritten Reich zu ziehen.

Zusammenführen statt spalten! Dabei ist das Ziel ein ganz anderes: Zusammenführen statt spalten, und zwar zusammenführen in der gesamten Gesellschaft. Die Anerkennung des Anderen, d.h. sorgsame Meinungsfindung, Werbung für unsere grundgesetzlich verankerten Rechte und Pflichten sowie eigenverantwortliche Lebensweisen aller Bürgerinnen und Bürger. Dieses Ziel bedeutet eben nicht die Diskriminierung einer Religion, sondern gerade die gleichberechtigte Anerkennung des Islam als eine der auch in Deutschland bedeutenden Weltreligionen. Diese gleichberechtigte Anerkennung bedeutet aber eine Gleichbehandlung der Religionen in Bezug auf die Akzeptanz und die Mitwirkung an den im Grundgesetz festgeschriebenen Grundsätzen und Zielen unserer Gesellschaft. Ansprüche und Wünsche einzelner Gruppen sind legitim. Sie sind aber dort zu hinterfragen, wo sie medienwirksam als Fragen gegen oder für sie „in die Mitte der Gesellschaft“ platziert werden.

Unverarbeitete Konflikte Das nach einem langjährigen Rechtsstreit zwischen der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin und dem Land Baden Württemberg ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot des Kopftuchs in der Schule legt den Finger in eine gesellschaftliche Wunde: Es geht nicht nur um ein Kopftuch. Hier wird der unverarbeitete Konflikt unseres Landes offen gelegt, das sich mit wachsendem religiösem und kulturellem Pluralismus konfrontiert sieht. Diesen Konflikt haben wir bisher nur teilweise aufgegriffen – je nach zwingender Aktualität. Dazu gehören auch die kontroversen Entscheidungen darüber, was Macht- und was Religionsfragen sind und wie viel Religion ein säkularer Staat verträgt.

Religiöser Klärungsbedarf Das Tragen des Kopftuchs ist auch nach Meinung vieler Islamgelehrter kein obligatorischer Bestandteil der Religionsausübung von Musliminnen. Trotzdem tragen viele Frauen das Kopftuch. Wenn es freiwillig - aus kulturellen oder persönlich-religiösen Motiven - geschieht, ist es auch durchaus legitim. Es ist dann ein Problem, wenn es aus patriarchalischen Traditionen und unter dem Verweis auf einseitige Koran- und Hadith-Interpretationen aufgezwungen wird. Die religiöse Pflicht zum Kopftuch, die von organisierten Protagonisten propagiert wird, demonstriert eine Zugehörigkeit zu einer religiös-politischen Weltanschauung, die sich von der Konsensgesellschaft abgrenzen möchte.

Ursprung des Kopftuchs nicht religiös Muslimische Frauen haben - wie alle Frauen in allen Gesellschaften - im Laufe der Jahrhunderte ihre Köpfe mit einer Vielzahl von Trachten bedeckt. Diese trugen unter anderem Namen wie Lachak, Chador, Rusari, Rubandeh, Chaqchur, Maqne'a und Picheh. Sie hatten allesamt stammesgesellschaftliche, ethnische oder anderweitig folkloristische Ursprünge, nie aber religiöse. Es ist eine Tatsache, dass die Politisierung des Kopftuchdiskurses die Geschlechtertrennung begünstigt. Der islamische „Hijab“ symbolisiert soviel vom Islam, wie Maos Uniform von der chinesischen Zivilisation. Amir Taheri, Chefredakteur der iranischen Tageszeitung „Kayhan“ in den 70er Jahren, bringt das Problem der Debatte auf den Punkt:

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

40

„Wenn sich in Deutschland die politische Öffentlichkeit eine Meinung in Bekleidungsfragen bildet, stehen nach wie vor kulturalistische Interpretationen im Vordergrund. Die Konstruktion autochthoner Kulturen ist nicht nur eine historisch fragwürdige Exotisierung. Sie ist zudem ein Akt der Ausübung repressiver Normalität. Die aktuelle Kopftuchdebatte wird durch die Brille des deutschen Kulturalismus als theologische Frage einer seit Karl May romantisierten Religion wahrgenommen. Der Blick auf die Geschlechter normierende Wirkung dieser Uniformierung ist bedenklich unterrepräsentiert.“ Von außen jedenfalls betrachtet und – viel wichtiger noch – von einer großen Zahl der Musliminnen wird es als Symbol für die Unterdrückung der Frau in einer spezifischen Auslegungsart des Islam wahrgenommen. Ebenso steht es für die Reduzierung der Frau auf ihre Sexualität.

Abwägen der Grundrechte notwendig Zudem muss daran erinnert werden, dass das Tragen des Kopftuches in der Öffentlichkeit durch Art. 4 GG (Religionsfreiheit) garantiert ist. Dies will niemand im Privaten und in der Öffentlichkeit in Frage stellen. Allerdings findet die Religionsfreiheit ihre Grenze da, wo die Grundrechte Dritter (etwa in der öffentlichen Schule die der Schüler und Eltern), Güter von Verfassungsrang sowie der neutrale Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates berührt sind. Das religiös motivierte Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin im Unterricht berührt unterschiedliche Diskussionsebenen: die politische, religiöse und juristische. Die Diskussion hierüber ist auch von Ängsten und Vorurteilen bestimmt. Die Frage ist, ob der Staat, als Dienstherr einer öffentlichen Grund- oder Hauptschule, eine Lehrerin verpflichten kann, in Schule und Unterricht auf Erkennungszeichen ihrer Religionszugehörigkeit zu verzichten. Der weltanschaulich neutrale, aber Wert gebundene Staat ist zur Verteidigung und Förderung von Menschen- und Bürgerrechten verpflichtet. Dazu gehört die Religionsfreiheit ebenso wie das Verbot einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Hier sind - im Sinne des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechts-Charta - Interessen abzuwägen.

Der Fall Ludin Im aktuellen Fall betrachtet eine Muslimin das Kopftuch als eine religiöse Pflicht. Sie will als Lehrerin das Kopftuch in der Schule tragen und beruft sich auf die Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG). Sie erhebt den Anspruch, dass ihre individuelle (positive) Religionsfreiheit gegenüber dem Grundrecht von Schülern und Eltern auf (negative) Religionsfreiheit, dem elterlichen Erziehungsrecht sowie dem Verfassungsgebot der staatlichen Neutralität als vorrangig anerkannt wird. Genau hier kommt die Pflicht des Staates zur „Abwägung“ zum Tragen. Die Vorbildfunktion für Schülerinnen sollte ebenfalls berücksichtigt werden. Das Tragen des Kopftuches kann, selbst wenn es nur als Ausdruck individueller religiöser Überzeugung ausgelegt wird, in seiner Wirkung die negative Religionsfreiheit von Eltern und Schülern beeinträchtigen, indem es sehr spezifische Vorstellungen und Bilder vom Islam hervorruft. Der Staat muss jedoch weltanschaulich neutral sein. Religiöse Symbole in Schule und Behörden beeinträchtigen die negative Religionsfreiheit von Schülern und Eltern. Und die Eignung einer Amtsträgerin ist dann in Frage zu stellen, wenn sie die gebotene Neutralität verweigert. Der Vorwurf des Berufsverbotes ist daher so falsch wie ungerecht. Keine Muslimin wird daran gehindert, einen Beruf auszuüben, wenn sie die Grundregeln des Dienstverhältnisses einzuhalten bereit ist.

Hegemonialstrategie islamistischer Verbände Das Problem ist die Politik derjenigen islamischen Verbände, die über einen Rechtsstreit den Staat zwingen wollen, ihr Verständnis von religiös-kultureller Differenz zu übernehmen und anderen Grundrechten nachzuordnen.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

41

Es wäre in höchstem Maße gefährlich, eine solche Hegemonialstrategie islamistischer Verbände im Namen der Toleranz staatlich zu befördern. Denn gerade dann, wenn man zulässt, dass die kleinen, lautstarken und islamistischen Verbände als „der Islam“ in Deutschland wahrgenommen und öffentlich anerkannt werden, schafft man ein Klima der Ablehnung und Ausgrenzung von Muslimen. Dies wäre eine Entwicklung, die unsere Gesellschaft nicht einschlagen kann, da sie nur den islamistischen Verbänden bei ihrem Bestreben helfen würde, sich als Vertreter einer „ausgegrenzten kulturellen Minderheit“ unverzichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang müssen auch die Gesetzesentwürfe einiger CDU-regierter Bundesländer kritisiert werden. Sie verbieten das Kopftuch der Lehrerin und bejahen gleichzeitig christlich-religiöse Symbole ausdrücklich aus historisch-kulturellen Gründen. Solch ausdrückliche Differenzierung steht in eklatantem Widerspruch zur grundgesetzlich verbrieften und im Urteil des Bundesverfassungsgerichts eindeutig geforderten Gleichbehandlung der Religionen. Sie spalten daher nicht nur unnötig unsere Gesellschaft, sondern würden auch einer erneuten verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalten. Somit hätten die klagenden islamistischen Verbände genau den juristischen und gesellschaftlichen Triumph erhalten, den sich Demokraten nicht wünschen können.

Intergration ernst nehmen Wer hingegen wirklich Emanzipation im Sinne der Aufklärung und des Humanismus will, der schaut kritisch auf einen Kopftuchdiskurs, bei dem es nicht um die einzelne muslimische Frau geht, sondern um die religiös-kulturelle Deutungsmacht innerhalb des Islam. Er setzt sich auch dafür ein, dass im Konflikt mit besonderen „kulturellen Identitäten“ die universalen Menschen- und Bürgerrechte Vorrang haben. Wer wirkliche Integration der Muslime in Deutschland will, erreicht dies nicht durch eine Integrationspolitik der Anbiederung an kulturalistisch–religiöse Interessenverbände. Hier ist eine Integrationspolitik vonnöten, die die gleichberechtigte Teilhabe aller an unserer durch die Werte des Grundgesetzes und der Menschenrechte geprägten Gesellschaft anstrebt. Genau dies sollte auch durch Lehrerinnen und Lehrer vermittelt werden. Wer Integration ernst nimmt, nimmt vor allem auch die Meinung der muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande auf. Wie eine Vielzahl von ihnen – insbesondere den betroffenen Frauen denkt, hat ein offener Brief türkischstämmiger Musliminnen an Marie Luise Beck formuliert: „Wer würde sich innerhalb der muslimischen Bevölkerung durch die Untersagung des Kopftuchs in den Schulen ausgegrenzt fühlen? Alle, für die die Religion eine private Angelegenheit ist, und alle, die gegenüber religiösen Vorschriften indifferent sind, kennen und akzeptieren problemlos das Verfassungsprinzip von der Neutralität der Schule. Nur diejenigen, die unter dem Einfluss der Islamisten stehen und für die das Kopftuchtragen nicht nur im Privatleben, sondern auch im öffentlichen Dienst als unverzichtbar gilt, würden dieses Verbot als Ausgrenzung verstehen.“ Lale Akgün © Qantara.de 2004 Die Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Dr. Lale Akgün ist heute Kölner Bundestagsabgeordnete der SPD. Darüber hinaus leitet sie seit Februar 1997 das dem nordrhein-westfälischen Sozialministerium unterstellte Landeszentrum für Zuwanderung (LzZ).

Website von Lale Akgün: http://www.lale-akguen.de/ Veröffentlicht: 05.03.2004 - Letzte Änderung: 03.04.2004

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

42

Kreative Variationen zum Thema Verschleierung Die Modedesignerin Susanne Kümper hat den Fachbereich Mode an der Helwan Universität in Kairo aufgebaut. Die gewagtesten Entwürfe kommen nicht selten von ihren streng gläubigen Mitstudentinnen, sagt sie. Ute Meinel berichtet. Das Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenwelt ist das Thema, das eine deutsche Mode-Designerin in immer neuen Variationen mit ihren ägyptischen Studenten bearbeitet. „Wir befassen uns mit Verhüllung, und das führte automatisch zum Thema Verschleierung muslimischer Frauen“, sagt Susanne Kümper. Die engagierte Dozentin hat den Fachbereich Mode an der Fakultät der angewandten Künste der Helwan Universität in Kairo aufgebaut. Die meisten ihrer Studentinnen kommen aus der Mittelschicht, und mittlerweile sind sie fast alle verschleiert.

Was zählen äußere Werte? Mit der klassischen Fragestellung „Wer bin ich in meinen Augen, und wie präsentiere ich mich nach Außen?“, wollte Kümper ihre Studenten dazu motivieren, zu einer eigenen künstlerischen Aussage zu finden. Das ist ihr gelungen, und die Ergebnisse sind erstaunlich. „Gerade die Studentinnen, die am strengsten verschleiert sind, machen oft die gewagtesten Entwürfe und erschaffen wahre Farbenexplosionen“, betont sie. Die Diskrepanz zwischen Innen und Außen könnte kaum größer sein. Vielleicht, so Kümper, reflektieren sich darin die Kontraste der Nil-Metropole, die orientalisch ist und doch verwestlicht, und in der bittere Armut und protzigster Reichtum Seite an Seite leben. „Der Kreativunterricht war zuerst eine Katastrophe“, erzählt die 37-Jährige lachend. Die Studenten seien vom ägyptischen Erziehungssystem darauf getrimmt worden, die Erwartungen des Lehrpersonals zu erfüllen.

„Alles, was von Innen kommt, ist gut…“ „Ich habe gesagt, dass alles, was aus ihnen rauskommt gut ist, aber da hatten wir Verständigungsprobleme.“ Erst ein internationaler Workshop mit freien Künstlern, bei dem mit verschiedensten Materialien experimentiert wurde, brachte den Durchbruch. Viele Studenten waren danach in der Lage, auf die innere Aussagekraft zu vertrauen. Einige von Kümpers ehemaligen Schülern arbeiten heute erfolgreich als Mode-Designer in Ägypten. Kümpers Stelle wird vom Centrum für Internationale Migration und Einwicklung (CIM) bezuschusst. Damit wird das Ziel verfolgt, den ägyptischen Markt mit neuen Talenten für die heimische Textilindustrie zu versorgen, damit diese auf dem globalen Markt besser bestehen kann. Darüber hinaus hat Kümper Sponsoren gefunden, so dass sie in den vergangenen fünf Jahren zahlreiche Workshops organisieren konnte, die in Ausstellungen oder Kostümpräsentationen mündeten. Die jungen Modeschöpfer sollten so die Gelegenheit bekommen, ihre Kreationen öffentlich zu präsentieren und ihre Vorstellungen ohne Gedanken an Kommerz in künstlerischer Form nach außen zu kehren. Die letzte Modenschau wurde am 10. Juni unter dem Titel „cover & uncover“ zu orientalischer Jazzmusik im Garten des Goethe Instituts Kairo präsentiert. Die fast ironischen Kreationen zum Thema Schleier erinnerten an Schutzmasken von Imkern. Ebenso spielerisch wurden hauchdünne schwarze Umhänge eingesetzt, unter denen figurbetonte Kleider zum Vorschein kamen, die dazu einluden unter die Röcke zu schielen, die von Innen mit Pailletten bestickt waren. Schleier wurden jedoch bald in originelle Körper-Drapierungen umgewandelt, bis auch jene zugunsten von sexy Abendmode fallen gelassen wurden. Alle Kleider, mitsamt Details und Accessoires, wurden von den Studenten selbst gemacht.

„Unsere Kleidung ist unsere zweite Haut“ „Kleidung ist eine universelle Sprache, unsere zweite Haut, mit der wir Signale an unsere Umwelt senden, und um damit zu einer kreativen Aussage zu finden, muss man Farbe bekennen“, sagt Kümper.

Quantara.de / Dossier 2004 – Der Streit ums Kopftuch

43

Sie findet es beklagenswert, dass der soziale Druck auf junge Frauen in Ägypten in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Unverschleierte Studentinnen seien in der Universität häufig von ihren Kommilitonen angefeindet und verbal bedroht worden, erzählt sie. „Viele halten das nicht aus, und wenn sie sich dann verschleiern, kann man zugucken wie schnell sie sich verändern.“ Die verschleierten Studentinnen seien passiver, verschlossener und verlören an Spontaneität. Das Streben nach Anerkennung als „fromme Frau“ ersetze oft jugendliche Opposition und beruflichen Ehrgeiz. Kümper dazu: „Das treibt mir die Tränen in die Augen.“ Die Schau, bei der auch Entwürfe gezeigt werden, soll im September zum Stadtkirchentag in Bremen zu sehen sein. Studenten, die an Workshops in Kairo teilgenommen haben, werden in die Hansestadt reisen und hoffen darauf, mit jungen deutschen Mode-Designern ins Gespräch zu kommen. Eine von Auswärtigem Amt und CIM finanzierte Dokumentation des Gesamtprojekts soll zur Frankfurter Buchmesse bei der Arnoldschen Verlagsgesellschaft als Kunstbuch erscheinen. Ute Meinel © Qantara.de 2004 Veröffentlicht: 22.06.2004 - Letzte Änderung: 08.07.2004

View more...

Comments

Copyright � 2017 NANOPDF Inc.
SUPPORT NANOPDF