Ethik, Sozialisation und Identität - Skript

February 9, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Philosophie, Ethik
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FaGE EB

Anforderungsbereich Gesellschaft Ethik & Sozialisation

Rudolf Odermatt

Allgemeine Ethik für Fachfrauen/Fachmänner Gesundheit

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Bildungsprojekte │ Validierung von Bildungsleistungen GIBZ, Baarerstrasse 100, 6300 Zug T 041 728 30 30 F 041 728 30 39 www.gibz.ch

GA Ethik

FaGe-EB

GA Ethik R. Odermatt

Pflegeethik: Ein ganz gewöhnlicher Tag Quelle: Ethik in der Pflegepraxis, 2003, SBK-ASI, Bern

Stationsleiterin Nathalie Martin verlässt den Morgenrapport. Nach einer kurzen Diskussion im Team hat sie entschieden, Herrn B. in das einzige noch verfügbare Einerzimmer zu verlegen, damit er seine letzten Lebenstage im Kreise seiner Familie erleben kann. Dieses Zimmer ist jedoch am folgenden Morgen für einen Privatpatienten reserviert. Gefühlsmässig schätzt Nathalie Martin diesen Entscheid als ethisch richtig ein; sie muss jedoch eine Argumentation gegenüber ihren Vorgesetzten aufbauen und vor allem eine Lösung für den aufgebotenen Patienten finden. Für den Moment beschäftigt sie jedoch ein anderer Gedanke: sie hatte während des Rapports nicht reagiert, als die Pflegefachfrau der Nachtschicht von den Zuckerwassertropfen anstelle eines Schlafmittels erzählte, die sie einer Patientin - verzweifelt über deren Verhalten - mit Erfolg verabreicht hatte. Warum habe ich geschwiegen? Eine Unterschätzung des Problems? Ein Mangel an Mut zur Intervention? Weil es nicht der richtige Moment schien? Nathalie Martin weiss, dass sie in diesem Fall ihre Führungsverantwortung ungenügend wahrgenommen hat. Deshalb wird sie dieses Problem mit dem gesamten Team an der nächsten Besprechung wieder aufnehmen. Dadurch hat sie Zeit gewonnen, um über die geeignetste Annäherung an dieses Thema nachzudenken. Zunächst aber fällt ihr ein, dass sie am Vortag bei der Planung Corinne Meyer für die Pflege von Frau A., einer gestern an einer Diskushernie operierten Patientin, eingeteilt hatte. Corinne Meyer, Pflegefachfrau in Ausbildung, benötigt weitere Pflegeerfahrung auf dem Gebiet, schien aber für die Übernahme von Verantwortung vorbereitet. Kommt sie wohl zurecht damit? Es ist erst 8 Uhr morgens ..., und dies ist ein ganz gewöhnlicher Tag! Während derselben Zeit ist auch Nicolas Brunner, Pflegefachmann Spitex, auf der Suche nach der bestmöglichen Lösung. Er ist auf dem Weg zu Frau Ch., einer Mutter von zwei Kindern, die erst vor zwei Wochen nach einem langen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik entlassen wurde. Nicolas Brunner besucht sie zweimal pro Woche, evaluiert ihre Fortschritte und vor allem das Erreichen des gemeinsam vereinbarten Zieles: die zunehmende Übernahme von Tätigkeiten im Rahmen der Familie. Seit kurzem begleitet Frau Ch. ihre Kinder alleine zur Schule. Gestern hatte ihn die über die Situation informierte Lehrerin angerufen: zwei andere Mütter hätten ihr anvertraut, dass sie sich Sorgen machten. Frau Ch. sei verschlossen, rede mit niemandem, reisse die Kinder unsanft aus dem Kreis der anderen weg. Sie vermuten Kindsmisshandlung. Die Lehrerin muss in dieser Situation handeln. Ausserdem machen sich die Klassenkameraden über Ch. und ihre Kinder lustig. Bildungsprojekte │ Validierung von Bildungsleistungen GIBZ, Baarerstrasse 100, 6300 Zug T 041 728 30 30 F 041 728 30 39 www.gibz.ch

Inhalt: Pflegeethik (PE)

1-7

Allgemeine Ethik: (AE) Begriffe-

8-21

Wert, Moral, Norm, Ethik AE: Ethische Theorien und Prinzipien

22-31 35-47

Leistungsnachweise

32-34 50-53

Milgram

48-49

Experiment AE/PE: Zivilcourage (Tugenden, Charakter)

54-57

AE/PE: Dilem- 58-72 madiskussion PE: Ethik Kodex für

73-75

PE: Die Grundwerte

76-79

PE: Prinzip Autonomie

81-88

PE: Prinzip Gutes tun

89-90

PE: Prinzip NichtSchaden

91-96

PE: Prinzip Gerechtigkeit

97-98

PE: Gewalt gegen „Alte“

99-101

Altenpflege

102107

PE: Glossar zur Pflegeethik

108110

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Ethik in der Pflegepraxis, 2003, SBK-ASI, Bern

Ein ganz gewöhnlicher Tag - Fallbeispiele

Seite 2

Nicolas Brunner schätzt, dass die Kinder nicht in Gefahr sind. Aber diese Situation könnte die Lage verschlimmern, und er denkt über einige mögliche Lösungen nach: • Mit den beiden Müttern sprechen und ihnen die Situation erläutern? Das würde die Verletzung der Vertraulichkeit bedeuten, die er der Patientin schuldet. • Auf die Fortsetzung der geplanten Schritte verzichten und die Kinder einer Nachbarin anvertrauen? Das wäre kontraproduktiv und schade, weil die Fortschritte und das wachsende Selbstvertrauen der Patientin offensichtlich sind... Andererseits sollten das Misstrauen der anderen Mütter und der Spott der Kinder keine weitere Krise heraufbeschwören. • Frau Ch. ermutigen, offener zu sein und mit den anderen Müttern zu sprechen? Gemessen an ihren Möglichkeiten ist das, was sie bis jetzt erreicht hat, bereits eine immense Anstrengung. • Frau Ch. um Erlaubnis bitten für eine Erklärung an die beiden besorgten Mütter? Dies würde das Problem nicht lösen, weil sich möglicherweise auch andere Personen Sorgen machen und in der Folge Gerüchte und verzerrte Wahrnehmungen über den Geisteszustand von Frau Ch. überhand nehmen könnten. • Eine Besprechung zwischen Frau Ch., ihrem Ehemann und der Lehrerin organisieren, um das Problem grundsätzlich zu besprechen und um für jede/n Betroffenen die Mittel zur Problembewältigung zu finden? Das Risiko ist, dass Frau Ch. dadurch ängstlich oder entmutigt wird; aber es ist auch eine Möglichkeit, wahrhaftig zu sein, die Autonomie zu verstärken und die Ressourcen aller Beteiligten zu nutzen. Auch im Pflegeheim am anderen Ende der Stadt wird an diesem Tag eine Lösung gesucht, die jedem Beteiligten erlaubt, im Einklang mit sich selbst und anderen zu sein. Die Familie von Herrn T. hat sein tage- und nächtelanges Schreien nicht mehr ausgehalten und hat um Verlegung ins Pflegeheim gebeten. Seit seiner Aufnahme schreit Herr T. auch hier Tag und Nacht. Er schläft in ein- bis zweistündigen Phasen. Die anderen Pflegeheimbewohner sind erschöpft, sogar die Nachbarn des Pflegeheims beklagen sich. Das Team ist sich nicht einig über die zu ergreifenden Massnahmen. An bestimmten Tagen wird Herr T. durch beruhigende Medikamente «stillgelegt», an anderen versucht man, ihn durch Präsenz, Zärtlichkeit, Süssigkeiten, oder durch Androhung von Entbehrungen zum Verstummen zu bringen. Die Resultate sind von wechselndem Erfolg und vor allem sehr fragwürdig. Jeder behauptet, seine Behandlung zeige die besten Ergebnisse und bezichtigt die anderen der «chemischen Zwangsbehandlung», der «Verwöhnung, die zur Gewöhnung führt», der Verwendung von «missbräuchlichen Rehabilitations-Methoden». In dieser Situation hat die Pflegeexpertin Sarah Baumann heute eine Besprechung am runden Tisch organisiert und moderiert, an der das gesamte Team und die Angehörigen von Herrn T. teilnehmen. Nachdem sich alle gegenseitig ihr Unvermögen und ihre Ratlosigkeit eingestanden haben, gehen die anwesenden Personen daran, • die möglichen Gründe zu suchen, welche das Verhalten von Herrn T. erklären und es dadurch verständlich machen könnten; • sich über die Werte zu einigen, die hinsichtlich der Pflege von Herrn T., aber auch der anderen Bewohnerinnen sowie für sich selbst zu respektieren sind; • sich für eine aufmerksame und dokumentierte Beobachtung des Verhaltens von Herrn T. zu entscheiden. Dadurch könnten die Schreie besser in einen Zusammenhang gestellt werden mit

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Ein ganz gewöhnlicher Tag - Fallbeispiele

Seite 3

dem zeitlichen Verlauf, mit den Personen usw.; • sich für eine gemeinsame Haltung gegenüber Herrn T. und den anderen Bewohnerinnen zu entscheiden. Wissen, Intuition, Reflexion, Handlung und Evaluation sind wichtige Schritte auf der Suche nach einer guten Praxis, wobei «gut» immer auch «moralisch verantwortbar» heisst. Diese schliesst Kenntnisse, Strategien, aber auch Zweifel und Unsicherheit hinsichtlich der gewählten Optionen mit ein. All diese Umstände sind prägende Merkmale des Pflegealltages. Zusammenfassung: Drei idealtypische Situationen werden benutzt, um das fortwährende ethische Hinterfragen in der Pflege aufzuzeigen. Sie illustrieren die Bedeutung einer reflektierten Praxis, die sich abstützt auf ein breites professionelles Wissen, auf das Vermögen der Pflegenden, ihr eigenes Handeln in Frage zu stellen, auf die Notwendigkeit der Diskussion im Team, auf den Willen zur Partnerschaft und auf die Fokussierung der Interessen der zu pflegenden Menschen. Orientierung in der Entscheidung zur moralisch verantwortbaren Handlung Schon immer haben Menschen über die moralische Dimension ihres Handelns im persönlichen, sozialen und beruflicher Kontext nachgedacht - auch in der Pflege . In diesem Sinne stellt Pflegeethik* keine Erfindung unserer Zeit dar, die in einem luftleeren Raum stünde. Sie reflektiert vielmehr die Tradition und Entwicklungen der ethischen Theorie und setzt sich in eine konstruktiven und kritischen Dialog mit ihnen. Als Angewandte Ethik* jedoch bemüht sie sich speziell um eine ethische Klärung der beruflichen Praxis. Um dies tun zu können, wird in diesem Kapitel eine Methode gewählt, die sich - berufsübergreifend - in der klinischen Ethik in den USA und in Europa weitgehend durchsetzen und bewähren konnte. Diese bedient sich im wesentlichen vier ethischer Prinzipien: Autonomie, Gutes tun, Nicht-Schaden sowie Gerechtigkeit. Dieser Wahl liegt die Einsicht zugrunde, dass • im Respekt vor Selbstbestimmung (Autonomie),

Kategorisches Prinzip

• in der Vermeidung von potentiellem Schaden (Nicht-Schaden),

Toleranzprinzip

• in der Bemühung, Wohlbefinden, Sicherheit, Lebensqualität usw. zu fördern (Gutes tun),

Nützlichkeitsprinzip • in der Suche nach einer gerechten Verteilung von Nutzen, Lasten und Aufwand (Gerechtigkeit) Gerechtigkeitsprinzip stets von neuem zentrale ethische Aspekte im alltäglichen medizinischen und pflegerischen Handeln zur Sprache kommen. Ethische Prinzipien tragen dazu bei, moralische Konflikte zu umschreiben, einzuordnen und zu klären. Keines dieser Prinzipien kann absolute Geltung für sich beanspruchen. Die Praxis zeigt vielmehr, dass sie sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen und die ethische Klärung nur in der Zusammenschau der Prinzipien aussagekräftig sein kann. Ein solcher rationaler Zugang zur ethischen Dimension hat sich in der Praxis bewährt. Damit ist aber gerade in der Pflege die ethische Dimension nicht ausgeschöpft: Emotionale und intuitive Entscheidungen spielen im Alltag eine wichtige Rolle. Der hier geschilderte rationale Zugang bietet sich als Einstieg in die Auseinandersetzung mit ethischen Konflikten und Dilemmata* an. Dadurch eignet er sich für die Aufarbeitung ethischer Fragen in Pflegeteams.

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Pflegeethik

Ein ganz gewöhnlicher Tag - Fallbeispiele

Seite 4

Solche Fragen führen konkret zu aktuellen und brisanten Dilemmata, die eine Entscheidung erfordern. Dabei sind es nicht nur ethische Prinzipien, an denen sich Pflegende orientieren. Diese müssen ergänzt werden mit dem Nachdenken über die moralischen Kompetenzen (Tugenden), über die sich Pflegende ausweisen müssen, wie etwa Vertrauenswürdigkeit, Treue. Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit. Unsere biografische, soziokulturelle und religiöse Prägung äussert sich immer in Form von Werten*, an denen wir unser Denken und Handeln bewusst oder unbewusst ausrichten. Solche Werte können moralische Relevanz haben, sie drücken zum Beispiel aus, wie wir unseren Beruf auffassen, was wir für gut erachten, was wir intuitiv ablehnen, wie wir unsere Mitmenschen wahrnehmen. Das Erkennen solcher Werte und die Verständigung über unterschiedliche Wertauffassungen ist gerade in der Pflege von grosser Bedeutung für die Klärung ethischer Konflikte. Diese umfassen nebst beruflichen und persönlichen Werten von Pflegenden und anderen Berufsgruppen auch Werthaltungen von Patienten wie z.B. Essgewohnheiten, Körperkontakt, Stellung und Umgang mit Angehörigen, Verhalten in Grenzsituationen wie beispielsweise Geburt, Sterben und Tod. Im Bemühen um die Klärung der Werte im Rahmen eines ethischen Konflikts oder Dilemmas leistet die Ethik, speziell auch die Pflegeethik, einen wichtigen Beitrag zur interkulturellen und interdisziplinären Verständigung. Werden Wertkonflikte erkannt, können im Rahmen einer «Güterabwägung» ethische Prinzipien nicht einfach abstrakt, sondern differenziert (auch bezogen auf Werte) angewendet werden. Beispielsweise weigert sich eine sterbende Patientin standhaft, trotz starker Schmerzen Schmerzmittel zu nehmen. Pflegende können ein solches Verhalten als «irrational» beurteilen, bis eine Wertanalyse ergibt, dass die Patientin den Moment des Sterbens «bewusst erleben» möchte. Dies stellt für weitere Massnahmen freilich eine ganz andere Ausgangslage dar. In diesem Fall könnte eine niedrigere Gewichtung des Prinzips NichtSchaden und eine höhere Gewichtung des Prinzips Autonomie angenommen werden. Dies würde zu einem klärenden Gespräch mit der Patientin führen, das deren Werten Rechnung trägt. _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________ _______________________________________________________________________

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Pflegeethik: Ein ganz gewöhnlicher Tag Seite 5

Fragen zu den Seiten: 1 bis 4 A)

Frau Martin hat Herrn B. in ein Einzelzimmer verlegt. Schreiben Sie in vier bis fünf ganzen Sätzen für Frau Martin eine ethische Argumentation für ihre Vorgesetzen auf!

B)

Wie hätten Sie als Stationsleiterin auf die eigenmächtige Verabreichung von Zuckerwassertropen anstelle eine Schlafmittels reagiert? Begründen Sie!

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Pflegeethik: Ein ganz gewöhnlicher Tag Seite 6

C)

Nicolas Brunner, Pflegefachmann Spitex, denkt über fünf (auf Seite: 2 beschrieben) Interventionen zur Lösung der Probleme mit Frau Ch. nach. Welcher der auf Seite: 2 skizzierten Lösungen würden Sie den Vorrang geben? Begründen Sie Ihren Entscheid bitte!

D)

Die Pflegeexpertin S. Baumann hat eine Besprechung mit dem gesamten Team und den Angehörigen von Herrn T. organisiert. Nennen Sie fünf mögliche Gründe für das Verhalten von Herrn T.! Welchen drei Werten würden Sie für die Pflege des Herrn T. den Vorrang einräumen? Begründen Sie Ihren Entscheid bitte!

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Pflegeethik: Ein ganz gewöhnlicher Tag -

Seite 7 E)

Die drei vorstehenden Situationen sollten Ihnen aufzeigen, wie wichtig eine ständig reflektierte Pflegepraxis ist. Eine solche Praxis stützt sich ab (bitte richtige Aussagen ankreuzen!) auf: Teamdiskussionen Beharren auf der persönlich für richtig befundenen Pflegehandlung Professionelles Wissen Kritisches Hinterfragen der eigenen Pflegehandlungen Einzelgängertum Wille zur Partnerschaft Miteinbezug des Pflegeempfängers Mehrheitsentscheide Suchen eines gemeinsamen Konsenses

F)

In der klinischen Ethik in der USA und Europa haben sich vier ethische Prinzipien weitgehend durchgesetzt. Ergänzen Sie bitte die folgenden Lücken! Gerechtigkeitsprinzip

=

_________________________

________________

=

Autonomie

________________

=

Nicht-Schaden

Nützlichkeitsprinzip G)

H)

=

_________________________

Keinem der unter F) erwähnten Prinzipien kommt absolute Geltung zu! Was heisst das für Sie, wenn Sie ein Pflegedilemma lösen wollen? Überlegen Sie! Neben dem rationalen Zugang zur ethischen Problemlösung spielen im Pflegealltag Intuitionen und Emotionen eine wichtige Rolle. Diese können Ihr Handeln innert Sekunden beeinflussen, ohne dass Sie die Möglichkeit haben, Ihre Handlung mit Ihrer Vernunft auf den moralischen Gehalt zu überprüfen. Ihre ganz persönlichen Tugenden und Werte stehen hinter solchem reaktionsschnellem intuitiven und emotionalem Handeln. Welche persönlichen Tugenden und Werte vermuten Sie hinter Ihren Emotionen/ Intuitionen zu erkennen? Überlegen Sie!

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Angewandte allgemeine Ethik

Begriffsklärung: Moral, Ethik, Wert, Norm Aufgabe 1:

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Zeit: 15 Minuten

Lesen Sie bitte den untenstehenden Text, und besprechen Sie dann die nachfolgenden Fragen mit Ihrem Banknachbarn. Lesetext: Karl Knall ist ein glücklicher Mensch, seine Arbeit bei der Bank macht ihm Spass, und seit neustem ist er Besitzer eines schönen, sportlichen Autos. Er hat sich fest vorgenommen, es in der Bank mindestens bis zum Vizedirektor zu bringen, und zwar möglichst schnell. Natürlich, so meint er, geht das nicht immer ohne Reibungsverluste, denn andere wollen leider auch befördert werden. Sein ehemaliger Freund Rafael Burri ist nicht mehr so gut auf ihn zu sprechen, seit er ihn mit einer kleinen Intrige an die Wand gespielt und sich beim Chef einen Bonus eingehandelt hat. Aber was soll's? Das Geschäftsleben ist hart, und so ein bisschen Ellbogen gehört dazu, wenn man vorwärts kommen will. Und überhaupt, was gehen ihn andere an. Hauptsache, er selbst ist glücklich! Immerhin konnte er sich dank der letztjährigen Lohnaufbesserung eine Cobra V8 Turbo mit getuntem Motor und tiefer gelegtem Sportfahrwerk kaufen. Die Kiste läuft tierisch. Wenn er nur nicht immer diese lahmen Enten vor der Haube hätte! Aber dank der 290 PS hat er die ja schnell überholt, und wenn's manchmal auch ein bisschen knapp wird, so fühlt er immer ein erregendes Kribbeln im Bauch. Letzte Woche hat er allerdings mächtig Schwein gehabt, da ist er auf nasser Strasse ein wenig ins Schleudern gekommen und hat beinahe eine Frau und ihre zwei kleinen Kinder erwischt. Dank seinen Fahrkünsten konnte er aber gerade noch mal ausweichen, nur das Hündchen der Familie stand am falschen Ort. Ist ja egal, ist doch sowieso nur ein Tier. Überhaupt, dieses ständige Gejammer der Ökos geht ihm langsam auf den Geist. Die Natur ist schliesslich da, damit es uns gut geht, und zudem ist ja nicht einmal wissenschaftlich klar bewiesen, dass das Auto wirklich umweltschädlich ist. Und wenn schon, für seine Generation sollte es ja noch reichen.

Fragen: (Halten Sie Ihre Antworten bitte schriftlich fest!) - Halten Sie Karl Knall für einen moralischen Menschen? Mit welcher Begründung? - Stört Sie etwas an seinem Verhalten? Begründen Sie bitte auch warum! - Welche „Werte“ (d.h. was ist ihm etwas wert, wichtig) vertritt Karl Knall? - Was würden Sie selbst für Anforderungen an ein gutes Leben stellen und welche Werte wären dann für Ihr gutes Leben für Sie wichtig?

GA Ethik

Begriffklärung: Moral, Ethik, Wert, Norm Gierige Norweger Norwegen droht moralisch zu verarmen. Oslos Regierungsvertreter haben unter ihren Landsleuten eine „Habgier-Kultur“ ausgemacht. Im reichen Ölland mache sich seit geraumer Zeit „wachsender Materialismus“ breit. Eine Wertekommission soll sich nun damit beschäftigen, auf welchen ethischen Grundlagen die künftige norwegische Gesellschaft aufbauen soll. (aus Frankfurter Rundschau, 7.2.1998)

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Moral (Beispiel: Mafiamoral; Trailer Europa - Italien) Bestehendes, einer kulturellen Tradition entstammendes Wertesystem. Praxis des moralisch Geltenden. Moral bezeichnet demnach die tatsächlich gelebten oder angestrebten verbindlichen Verhaltensweisen eines Individuums, einer Gruppe oder der Gesellschaft.

Ethik Sie hinterfragt, überdenkt und begründet Moralansprüche. Sie versucht die folgenden drei Grundfragen zu klären: Die Frage nach dem guten und glücklichen Leben, die Frage nach dem gerechten Zusammenleben und die Frage nach dem verantwortlichen Handeln. Somit ist Ethik die Lehre (Wissenschaft) von der Moral. Sie analysiert und bewertet moralische Normen und stellt ethische Prinzipien auf und begründet sie.

Wert (= allgemeine Zielorientierung) Beispiele: Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Leben, Hilfsbereitschaft, Freiheit, Wahrheit, Frieden, Gehorsam, Fleiss, Treue, Zivilcourage ... Ein Wert ist eine Sache, Grundüberzeugung oder Zielvorstellung, die für einzelne, für Gruppen oder für die ganze Gesellschaft als bedeutsam, wünschensund erstrebenswert angesehen wird. Die überlieferten Wertmassstäbe sind in unserem Denken und Verhalten so selbstverständlich vorausgesetzt, d.h., sie sind so verinnerlicht, dass sie in der Regel gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Sie beeinflussen jedoch sowohl unsere Wahrnehmung (unsere Interpretation der Aussenwelt) als auch unser Handeln. Nur wenn gewohnte Wertmassstäbe plötzlich nicht mehr mit den Alltagserfahrungen vereinbar sind, werden sie, am Anfang meistens nur von einer kritischen Minderheit, in Frage gestellt. Angesichts neuer Herausforderungen wie der Möglichkeit eines Umweltkollapses und des Nord-Süd-Konfliktes tun wir gut daran, bestehende Wertmassstäbe zu hinterfragen und wo nötig den neuen Anforderungen anzupassen. Ein erster Schritt in diese Richtung würde darin bestehen, sich seiner eigenen Werthaltungen bewusster zu werden und den Umgang mit Werten zu üben, was wir in diesem Ethikmodul miteinander versuchen. Wertmassstäbe sind nicht nur kulturabhängig, sondern auch situations- und personenabhängig. Was dem einen ein hoher Wert ist, kann für den anderen geringen oder gar keinen Wert haben. Es gibt Güterwerte (Auto ...), ethische (Gerechtigkeit ...), ästhetische Werte (Schönheit ...) und politische Werte (Freiheit ...).

Norm (= konkrete Handlungsorientierung) Beispiele: Du sollst jeden gleich behandeln, du sollst nicht lügen, du sollst nicht töten, du sollst helfen, niemand darf betrügen, niemand darf seine Versprechen brechen ...

GA Ethik

Normen und Werte Eine Norm ist eine Verhaltensregel. Während also Werte erstrebenswerte Ziele bzw. Orientierungspunkte menschlichen Handelns sind, dienen Normen als Mittel bzw. als „Sollensvorschrift“ (z.B. du sollst nicht töten) des Handelns der Verwirklichung dieser Werte (vgl. Köck P.: Handbuch des Ethikunterrichts, Auer Verlag, Donauwörth, 2002). Normen sind demnach Verhaltens- und Rollenerwartungen, die wir gegenseitig an uns stellen und deren Verletzung wir mit Strafen belegen. Sie haben die Funktion, Orientierungshilfe für die persönliche und gesellschaftliche Lebensführung zu geben. Man braucht dann nicht immer darüber nachzudenken, was „gut“ und „böse“ ist. Normen sind abhängig von sozialer Umwelt, Kultur, Bildung und Religion. Sie verändern sich im Laufe der Geschichte. Normen und Werte sind voneinander abhängig. Ein Wert kann mit verschiedenen Normen verbunden sein. Einzelne Normen können von verschiedenen Werten abgeleitet werden. Der Wert „Gleichheit“ für Eheleute kann für die Durchsetzung dieses Wertes zur Norm führen: „Es gibt in der Ehe keine Vorrechte des Mannes gegenüber der Frau und umgekehrt.“ Der gleiche Wert (Gleichheit) kann für Geschwister die Norm bedeuten: „Es gibt keine Vorrechte des Erstgeborenen.“ Die Norm „Ein Lehrer darf keine Lernenden bevorzugen.“ kann andererseits auf den folgenden Werten aufgebaut sein: Gleichheit, Gerechtigkeit, Achtung, Nützlichkeit.

Aufgabe 2: Welche Aussage will uns die oben stehende Zeichnung vermitteln?

Seite 10

Süddeutsche Zeitung 18.9.98

Klage über den Verfall der Moral Dpa. Mit deutlichen Worten hat Altbundeskanzler Schmidt einen fortschreitenden Verfall der öffentlichen Moral kritisiert. Nie zuvor habe es eine derartige Häufung von Skandalen bei Managern und Politikern gegeben. Viele wollten in der Politik in erster Linie Karriere machen, in der Wirtschaft vor allem Umsatz, Gewinn und viel Geld für sich selbst erzielen. Das Gemeinwohl stehe bei vielen weit unten in der Rangfolge ihrer Ziele.

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Goldene Regel und gerechtes Zusammenleben

Seite 11

Nachdem Sie wissen, was Werte und Normen sind, wollen wir auf das Beispiel von Karl Knall zurückkommen. Seine Werte sind offensichtlich „Karriere“ und „Auto“. Zu Karl Knalls Werten ist folgendes zu bemerken: Glück, das ganz an das Vorhandensein äusserer Umstände (Auto, Karriere) gebunden ist, ist immer in Gefahr verloren zu gehen. Karl Knall könnte z.B. sehr leicht zum unglücklichen Menschen werden, wenn sein Chef erfährt, wie er mit anderen umgeht, und ihn deswegen nicht befördert oder wenn ihm aufgrund eines Unfalls der Führerausweis entzogen wird. Das mag wohl der tiefere Grund dafür sein, dass sich weise Menschen mehr an inneren Werten orientieren und ihr Glück in seelischem Reichtum suchen. Auch wenn ihm dies vielleicht nicht bewusst ist, so gehören zu Karls Leben und Ansprüchen vermutlich auch Dinge, wie z.B. soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, ein gut ausgebautes Gesundheitssystem etc. Diese Werte werden von der Gemeinschaft geschaffen, wobei jeder einen gewissen Beitrag zu leisten hat, auch Karl Knall, egal ob er das will oder nicht. Karl versucht, sein gutes Leben durch egoistisches Verhalten zu optimieren. Er gefährdet aber damit andere Menschen und verletzt ihr Recht auf ein gutes Leben. Er setzt mit diesem Verhalten langfristig unter Umständen auch sein eigenes gutes Leben aufs Spiel. Wenn sich z.B. im Berufsleben und im Strassenverkehr alle so verhalten wie er, dann ist die Chance gross, dass er selbst durch Intrigen an die Wand gespielt oder bei einem Unfall invalid wird. Demzufolge hat Karl seine „Unwerte“ zu überprüfen und durch bessere Werte zu ersetzen. Wie macht man dies aber, wenn das eigene Gewissen sich nicht mehr vernehmen lässt? Als einfache Alltagsregel zur Überprüfung von Werten und der Güte des eigenen Gewissen eignet sich die in allen Kulturen und Religionen anzutreffende goldene Regel: „Verhalte dich andern gegenüber so, wie du wünschst, dass man sich dir gegenüber verhalten soll.“ (oder: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“) Karls Handeln widerspricht dieser goldenen Regel, denn er wird sich kaum ernsthaft wünschen, selbst überfahren oder durch eine Intrige an die Wand gestellt zu werden. Schlussfolgerungen: Eine egoistische Optimierung nur des eigenen guten Lebens kann das Recht der anderen Menschen auf ein gutes Leben verletzen, was nicht zulässig ist, denn jeder Mensch hat grundsätzlich das gleiche moralische Recht, ein gutes Leben führen zu können. Das Recht des einzelnen findet seine Grenze am gleichen Recht der andern! Werte sind über die goldene Regel hinaus also weiter danach zu beurteilen, inwiefern sie der wechselseitigen Achtung der Menschenwürde und der Sicherstellung eines guten Lebens für alle Rechnung tragen. Wir erkennen: die Forderung nach gerechtem Zusammenleben ist eine ethische Notwendigkeit, unter anderem deshalb, weil mir nur so gewährleistet bleibt, mein Leben führen zu können, vorausgesetzt dieses verletzte die gleichberechtigten Ansprüche der andern nicht. Unter Zusammenleben wird nun nicht nur das Zusammenleben der Menschen verstanden, sondern auch die Eingebundensein des Menschen in die Natur (Nachhaltigkeit) und die Rücksichtnahme auf das gleiche Recht der nach uns lebenden Menschen auf ein gutes Leben (wir haben die Welt nur leihweise von unseren Nachkommen zum Gebrauch bekommen).

Vgl. P. Ulrich (Hrsg.), M. Bücher, K. Matthiesen, Ch. Sarasin, Ethik in Wirtschaft und Gesellschaft, ISBN 3-7941-3927-5

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken—verstehen– anwenden; Auer Verlag Die wertvollste Sache der Welt GmbH, Donauwörth, 2003. S: 30

Die wertvollste Sache der Welt (WSdW)

Seite Seite 12 12

Es ist wieder die Zeit, in der die Nation mit angehaltenem Atem das Medienereignis des Jahrzehnts verfolgt. Die am höchsten geschätzten Dinge aus der ganzen Welt werden vorgestellt, und es beginnt der Kampf darum, wertvollste Sache der Welt zu werden! Sie sind gebeten worden, in der Jury Platz zu nehmen, welche diesen begehrten Preis vergibt: Es ist Ihre Aufgabe, aus jeder Gruppe 1-6 das auszuwählen, was Sie persönlich für das Wertvollste halten.

1. Runde

Halbfinale

Gruppen 1-6 Ein Computer Ein Klavier

1

Ihre Fotos 1000 Franken

Sehfähigkeit Gehör

2

Tastsinn Schmecken + Riechen

Freunde Lehrer

3

Familie

Berühmte Persönlichkeiten

Musik Kunst

4

Bücher Fernsehen

Unterkunft Gesundheit

5

Nahrung Kleidung

Gerechtigkeit Weltfrieden Besiegen des Hungers Freiheit für alle

6

Finale

WSdW

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Checkliste der eigenen Werte: „Mein höchster Wert ist …“

Seite 13

Meine höchsten Werte Solidarität

Fleiss

Abenteuer

Treue

Flexibilität

Ein flottes Leben

Gleichheit

Gehorsam

Spass, Heiterkeit

Selbstsicherheit

Anerkennung, Status

Heimat

Spontaneität

Kompetenz

Herausforderung

Aufrichtigkeit

Macht und Autorität

Körperliche Herausforde-

Verantwortung

Wissen

Stabilität

Anderen Menschen helfen

Zusammenarbeit

Angepasstheit, Konformität

Religion

Allein arbeiten

Unabhängigkeit

Reinheit

Sinnvolle, spannende Arbeit

Freude

Freiheit

Effektivität (die richtigen

Reichtum (Geld)

Demokratie

Effizienz (die Dinge richtig

Auto

Dienst an der Öffentlichkeit

Entschlusskraft

Sicherheit

Ehrlichkeit

Führung

Karriere

Enge Beziehungen

Kreativität

Stress

Engagement

Loyalität

Sex

Ethisches Verhalten

Intellekt

Leistung

Familie

Kompetenz

Marktstellung

Freundschaft

Guter Ruf

Finanzieller Gewinn

Gemeinschaft

Ruhm

Selbstrespekt

Ordnung (Ruhe, Stabilität)

Innere Harmonie

Vielfalt, Abwechslung

Integrität

Fester Standort

Kooperation

Freie Zeiteinteilung

Kunst Umweltbewusstsein Verantwortung

Buchmann, Wegmüller: Institut für Entwicklungsmanagement, ifo/iem; lisa. Wegmueller“info.ch.

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Werteanalyse

Seite 14

Aufgabe 3: Schreiben Sie aus der vorstehenden Liste von beruflichen, privaten, materiellen und immateriellen Werten die zehn in die letzte Spalte, die für Sie für ein gutes Leben am wichtigsten sind. Ergänzen Sie die Liste nach Belieben um eigene Werte. Nachdem Sie zehn Werte herausgeschrieben haben, stellen Sie sich jetzt vor, Sie dürften nur fünf haben. Welche fünf würden Sie aufgeben? Streichen Sie sie durch. Stellen Sie sich jetzt vor, Sie dürften nur vier haben. Welchen Wert würden Sie aufgeben? Streichen Sie ihn durch. Streichen Sie noch einen weiteren Wert. Und noch einen. Wählen Sie jetzt einen der beiden übrig gebliebenen Werte aus und streichen Sie den anderen. Welcher Punkt der Tabelle ist Ihnen am wichtigsten? Schauen Sie sich noch einmal die ersten drei Werte auf Ihrer Liste an: A)

Was bedeuten Sie ganz genau? Was erwarten Sie demnach von sich selbst, auch in schlechten Zeiten? Formulieren Sie für Ihre ersten drei Werte je eine Handlungsanweisung (Norm), die klar macht, zu welcher Handlung Sie Ihr Wert verpflichtet!

B)

Überprüfen Sie nun Ihre drei Werte mit der goldenen Regel. Verändern Sie Ihre drei Werte, wenn diese nicht mit der goldenen Regel vereinbar sind. Ersetzen Sie Ihre Werte falls nötig dann durch solche, die die goldene Regel nicht verletzen!

C)

Überprüfen Sie nun Ihre aktuellen drei Werte darauf, inwiefern sie der wechselseitigen Achtung der Menschenwürde und der Sicherstellung eines guten Lebens für alle Rechnung tragen? Nehmen Sie wieder Anpassungen vor, wenn Ihre Werte gegen den Grundsatz unter C) verstossen.

D)

Überprüfen Sie Ihre aktuellen drei Werte darauf, ob diese die Natur schützen, achten, bewahren und das Recht der nach uns lebenden Menschen auf ein gutes Leben (Nachhaltigkeit) gewährleisten? Wenn nein, bitte Werte verändern!

E)

Notieren Sie sich nun diese Werte an der Wandtafel und fügen Sie drei Normen hinzu (für jeden Wert eine Norm)! Sie werden der Klassendiskussion stand halten müssen! Um in dieser Diskussion bestehen zu können, sollen Sie sich auch noch mit den drei folgenden Fragen auseinandersetzen.

F)

Wie würde sich Ihr Leben verändern, wenn es von diesen Werten beherrscht wäre?

G)

Wie würde eine Gesellschaft/ Organisation/ Institution aussehen, die ihre Mitglieder ermutigen würde, nach diesen Werten zu leben? Sind Sie bereit, ein Leben in einer Gesellschaft/ Organisation/ Institution zu führen, in der diese Werte an erster Stelle stehen?

H)

Welche Werte stehen in der schweizerischen Gesellschaft an erster Stelle?

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken - verstehen– anwenden; Auer Verlag GmbH, Donauwörth, 2003. S: 67ff

Bist du ein Humanist?

Seite 15

Kreuze die Aussagen an, die deiner Sichtweise am nächsten kommen. (1) Existiert Gott? a Ich bin sicher, dass es einen Gott gibt, der über das Universum herrscht. b Ich weiß es nicht. c Es gibt keinen Beweis, dass irgendein Gott existiert, daher nehme ich an, dass es Gott nicht gibt. d Es kommt darauf an, was man mit Gott meint, aber ich denke schon. (2) Wenn ich sterbe ... a werde ich im Himmel belohnt, wenn ich gut war, und in der Hölle bestraft, wenn ich böse war. b wird das mein Ende sein. c lebe ich in der Erinnerung der Menschen weiter oder in der Arbeit, die ich getan habe, oder durch meine Kinder. d werde ich in irgendeiner Art Leben nach dem Tod weiterleben. (3) Wie nahm das Universum seinen Anfang? a Es wurde als Experiment von extrem intelligenten Wesen eines anderen Universums hergestellt. b Ich weiß es nicht. c Die besten verfügbaren Erklärungen sind die wissenschaftlichen - Götter hatten damit nichts zu tun. d Gott erschuf es. (4) Die Theorie, dass sich Leben auf der Erde stufenweise über Milliarden von Jahren hin entwickelt hat, ist ... a wahr; es sind genügend Beweise wie etwa Fossilien vorhanden, die bezeugen, dass es so gewesen ist. b vermutlich wahr, aber ich denke, dass Gott auch seinen Anteil daran hatte. c wahrscheinlich wahr, weil mein Biologielehrer sagt, es ist wahr. d nur eine Theorie. Meine Religion erzählt die wahre Geschichte. (5) Wenn ich Probleme habe oder unglücklich bin, hilft/helfen mir am besten ... a Hilfe und Ratschläge von Freunden und Familie. b einfach weiterzuleben - normalerweise schaffe ich es, Dinge in Ordnung zu bringen. c mit meinem Arzt zu sprechen. d zu beten.

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

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(6) Wenn ich einen schönen Ausblick habe, denke ich, dass ... a er von Gott gemacht worden sein muss. b dies alles ist, worum es im Leben geht - ich fühle mich gut. c dies ein schöner Ort für eine Autobahn wäre. d wir alles tun sollten, was möglich ist, um dies für zukünftige Generationen zu schützen. (7) Ich kann richtig von falsch unterscheiden, indem ich ... a ein heiliges Buch lese oder einem religiösen Führer zuhöre. b akzeptiere, was meine Eltern und Lehrer sagen. c gründlich über Konsequenzen von Handlungen und ihre Wirkung auf andere Menschen nachdenke. d Ich denke nicht wirklich viel darüber nach - die Leute sollten einfach tun, was sie wollen. (8) Über gut und böse denke ich, dass ... a es das Böse in der Welt gibt und Gott existiert, um uns zu helfen, es zu überwinden. b einige Menschen böse geboren werden. c es manchmal schwierig ist zu sagen, was gut und was böse ist. d es keine bösen Menschen gibt, sondern nur böse Taten. (9) Es ist am besten, ehrlich zu sein, weil... a die Leute einen mehr achten, wenn man vertrauenswürdig ist. b meine Religion es mir so vorschreibt. c es üblicherweise gegen das Gesetz oder die Regeln ist, unehrlich zu sein. d ich glücklicher bin und mich besser fühle, wenn ich ehrlich bin. (10) Wenn jemand unter einer unheilbaren und schmerzhaften Krankheit leidet, denke ich, dass ... a alles Menschenmögliche getan werden sollte, um ihn so lange wie möglich am Leben zu erhalten. b es an Gott ist zu entscheiden, wann er sterben soll. c es eine Verschwendung wertvoller Ressourcen ist, ihn am Leben zu erhalten,- Euthanasie ist mit Sicherheit eine gute Sache. d die Qualität des Lebens wichtig ist, sodass ihm ermöglicht werden sollte, so schmerzlos wie möglich zu sterben, wenn er das möchte. (11) Was Abtreibung betrifft, glaube ich, dass ... a das Leben heilig ist. Daher sollten Menschen, die für Abtreibung sind, als Anstifter zum Mord verurteilt werden. b Frauen auf Wunsch ein Recht auf eine Abtreibung haben. c wir nicht Gott spielen sollten, daher ist Abtreibung immer falsch. d Verhütung besser ist, doch Abtreibung ist einem ernsten Leiden oder Unglück von Mutter oder Kind vorzuziehen.

R. Odermatt

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(12) Andere Menschen sind wichtig und sollen mit Respekt behandelt werden, weil ... a Gott uns alle nach seinem Bild geschaffen hat. b wir alle glücklicher sein werden, wenn wir uns gegenseitig gut behandeln. c sie nützlich für mich sind. d sie genauso Menschen mit Gefühlen sind, wie ich es bin. (13) Wie sollen Tiere behandelt werden? a Wie auch immer: Tiere haben keine Seelen, und sie wurden geschaffen, damit wir sie benutzen können. b Gut, da sie süß sind und lieber als Menschen. c Mit Respekt, weil auch sie leiden können. d Mit Respekt, weil sie Teil von Gottes Schöpfung sind. (14) Ich denke, wir sollten in der Schule etwas über Religion lernen, weil ... a jeder Religion braucht, um ein besserer Mensch zu werden. b sie Teil der menschlichen Kultur ist und uns hilft, den Glauben anderer Menschen zu verstehen. c sie besser als Geschichte oder die Naturwissenschaften etwas darüber erzählt, wie die Welt ist. d Ich denke nicht, dass wir in der Schule etwas über Religion lernen sollten - das ist Privatangelegenheit, die in den Familien zu thematisieren ist. (15) Ich denke, das Heilige Buch meiner Religion ... a ist für das heutige Leben unwichtig. b enthält einiges an Wahrheit und ist manchmal inspirierend. c ist von Gott inspiriert und Wort für Wort wahr. d Ich habe kein Heiliges Buch, finde aber die Heiligen Bücher anderer Leute interessant. (16) Ich bilde mir meine Ansichten über Politik und Gesellschaft ... a durch die Lehren meiner Religion. b aus dem Fernsehen. c durch Freunde und Familie. d indem ich selbst nachdenke. (17) Wenn etwas falsch läuft in der Welt ... a diskutiere ich die Probleme mit meinen Freunden und meiner Familie. b bitte ich Gott, dafür zu sorgen, dass es besser wird. c denke ich, die Regierungen sollten etwas tun. d versuche ich auch selbst etwas zu tun, um die Zustände zu verbessern. (18) Die wichtigste Sache im Leben ist... a eine gute Beziehung zu Gott zu haben. b viel Geld zu machen. c die Erde für zukünftige Generationen zu bewahren. d das allgemeine Glück und das Wohlergehen aller Menschen zu erhöhen.

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Lösung

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R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA von Patrik Etschmayer / Quelle: news.ch / Montag, 24. Oktober 2005/10:22 h

Die wahren Werte

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Mit unserer Gesellschaft geht es bergab. Darüber sind sich die Meinungsmacher schon seit Jahrhunderten einig. Ebenso darüber, dass es noch nie so schlimm war, wie heute. Rechtskonservative Politiker sehen in einer liberalen, areligiösen Weltsicht die Quelle des Bösen. Auch Papst Benedikt XVI betont immer wieder, wie wichtig Religiosität und Werte für die Gesellschaft seien. Diese Ansichten werden so häufig und selbstverständlich vertreten, dass sogar liberal denkende Menschen nicht widersprechen, wenn Kriminalität und gesellschaftliche Probleme darauf zurückgeführt werden, dass das Volk nicht mehr an Gott glaube und ihn fürchte. Denn, wie schon Dostojewski meinte: „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt." Diese Ansicht wurde zum Allgemeingut -akzeptiert und kaum angezweifelt. Papst Johannes Paul II konnte, ohne Proteste zu gewärtigen, behaupten, dass dort, wo die Verhütungspolitik der Kirche missachtet würde, auch besonders viele Abtreibungen stattfänden und eine Kultur des Todes herrsche. Wenn diese Behauptungen stimmen würden, müsste in religiös stark durchtränkten Ländern wie den USA oder Portugal soziale Probleme minimal, Abtreibungen fast unbekannt, Teenagerschwangerschaften die grosse Ausnahme und Gewalt fast inexistent sein. Nichtreligiöse Länder hingegen - wie Japan, Schweden und Dänemark - Eiterbeulen der Gewalt, in denen das Leben wegen all der Probleme die Hölle sein müsste. Im 'Journal of Religion and Society', einem Online-Magazin, das sich mit Themen der Religion und Gesellschaft befasst, wurde vor kurzem genau eine Studie zu diesem Thema veröffentlicht. Der Autor der Studie hat allgemein akzeptierte Zahlen aus UN-Statistiken, gross angelegten Umfragen und aus KriminalStatistiken zusammen getragen. Sollte nun jemand erwartet haben, dass sich eine Bestätigung dafür finden lässt, dass Religiosität zu einer gesunden Gesellschaft führt, wird mindestens enttäuscht sein, womöglich sogar schockiert. Bei manchen Werten lässt sich kein Zusammenhang finden (z.B. bei Selbstmorden unter Jugendlichen und der Lebenserwartung). Bei anderen Werten hingegen schwingen die religiösen Gesellschaften eindeutig aus - auf die negative Seite. Seien es nun Morde, Teenagerschwangerschaften und -abtreibungen oder Säuglingssterblichkeit die religiösesten Länder schneiden hier schlecht ab, wobei das religiöseste all dieser Länder, die USA, eindeutig am schlechtesten da steht. Es ist ziemlich eindeutig, dass Religiosität eine Gesellschaft nicht von ihren Übeln heilen kann. A)

Eine säkulare (weltliche) Gesellschaft erlaubt es, Probleme offen anzugehen. Wer Kinder über die Sexualität aufklärt, verhindert Krankheiten, ungewollte Schwangerschaften und Tod durch Abtreibungen.

B)

Wer moderne gesellschaftliche Werte (Menschenrechte) akzeptiert, wird keine Morde nach dem Motto, 'Auge um Auge' begehen.

C)

Wer sich auf Grund seines Glaubens nicht über Andersgläubige stellt, wird keine Gewalttaten und Kriege gegen solche Menschen propagieren.

D)

Wir haben in unseren Demokratien die Freiheit zu glauben, und auch die Freiheit, nicht zu glauben. Diese Glaubensfreiheit hat uns mehr Sicherheit und grösseren Frieden gebracht als je zuvor. Die wahren Werte stehen in unseren Verfassungen und nirgends sonst. Alles andere ist verhängnisvolle Nostalgie (=sehnsuchtsvoll verklärende Rückwendung zur Vergangenheit).

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Wottreng S.: Handbuch Handlungskompetenz, Sauerländer, Aarau, 1999

Aufgaben: Werte, Normen

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Aufgabe 4: Benennen Sie die Werte, die auf dem nebenstehenden Gemälde von René Magritte (Titel: persönliche Werte, 1952) dargestellt sind? Mit welchen in dem Bild dargestellten Werten können Sie sich identifizieren? Welche Werte vermissen Sie? Welche der dargestellten und von Ihnen ergänzten Werte halten Sie für allgemein gültig?

Aufgabe 5a: Welche Normen gelten für diese Frau? Welche Werte vertritt sie vermutlich?

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Wottreng S.: Handbuch Handlungskompetenz, Sauerländer, Aarau, 1999

Aufgaben: Werte, Normen

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Aufgabe 5b: Welchen Normen und Werten folgt die Frau hier? Welche Ihrer Feststellungen über ihre Normen und Werte müssen Sie nun ändern?

(auf andere achten, Ethik 9/10, Moritz Diesterweg, Frankfurt, 1997) Kommentar:

Aufgabe 6: Worin beAus Standpunkt der Ethik, Oberstufe, Hrsg. Nink H., Ferdinand Schöningh, Paderborn, 2000

steht das Dilemma der Steckmücke Günther?

Die Frau scheint ihrem Mann zu gehorchen und seine Anweisungen zu befolgen, doch dadurch, dass sie seine Worte zu wörtlich nimmt, tut sie das Gegenteil von dem, was er möchte. Sie wahrt so scheinbar die Norm, tut aber das, was sie möchte. Was von vielen machohaften und bestimmenden Männern als Selbstberuhigung und Rechtfertigung angeführt wird: Meine Frau darf doch ihren eigenen Freundeskreis haben! wird hier gegen den Mann gekehrt zugunsten der Selbstbestimmung der Frau. Für die Frau im Cartoon gelten nun nicht mehr Treue und Gehorsam als oberste Werte, sondern für sie zählen jetzt Freiheit und Erfüllung des Lustprinzips. Scheinbar folgt sie immer noch dem Wunsch ihres Mannes, doch sie benutzt die Norm der Unterordnung zur Erfüllung genau des Gegenteils: um frei zu sein. Die Werte (Gehorsam, Treue), die die Frau vorher überstrapaziert hat, gelten ihr nun nur noch als Alibi und sind überhaupt nichts mehr „wert“.

(Lehrerbegleitband: auf andere achten, Ethik 9/10, Moritz Diesterweg, Frankfurt, 1997)

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Ethische Theorien und Prinzipien: Übersicht (Tabelle nach: Fridolin Stähli, Ingenieurethik)

Seite 22

Ethische Theorie

Ethisches Prinzip

Norm

Goldene Regel

Gleichheitsprinzip

Behandle deinen Mitmenschen so, wie du auch von ihm behandelt werden willst

Thales von Milet Altes/Neues Testament Konfuzius, Volksmund Utilitarismus

Vernunftethik

Diskursethik

Nützlichkeitsprinzip Handle so, dass unter möglichen Alternativen,

Adam Smith Bentham J. St. Mill

die gewählt wird, die am meisten Interessen befriedigt.

Kategorisches Prinzip

Handle nur nach solchen Normen, von denen du

Bezug zur Pflegeethik: Prinzip Autonomie

Konsensprinzip

Handle nur nach solchen Normen, mit denen alle von deiner Handlung Betroffenen einverstanden sind.

Gerechtigkeitsprinzip

Handle aus einer Position der Stärke nur nach

Rawls

Fernethik

wollen kannst, dass sie allgemein gelten.

I. Kant, 0. Höffe

J. Habermas K.O. Apel Gerechtigkeitsethik

Bezug zur Pflegeethik: Prinzip Gutes tun

Normen, die auch den Interessen der Schwächeren gerecht werden.

Bezug zur Pflegeethik: Prinzip Gerechtigkeit

Verantwortungsprinzip

Handle so, dass menschliches Leben auch für die

Toleranzprinzip

Handle so, dass du keinem andern Schaden zufügst, und hilf, so viel du kannst, allen

Zukunft nicht gefährdet wird.

H. Jonas Mitleidsethik

A. Schopenhauer

FAGE-EB Ethik

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Ethische Prinzipien: Übersicht (Auszug aus Aspekte der Allgemeinbildung, Verlag Fuchs, Rothenburg)

Werte mit ethischen Prinzipien überprüfen und ein vernünftiges Urteil fällen

FAGE-EB Ethik

Seite 23

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Ethische Prinzipien: Übersicht

Seite 24 Werte mit ethi-

FAGE-EB Ethik

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken—verstehen– anwenden; Auer Verlag GmbH, Donauwörth, 2003. S: 89

Gesundheit oder Wohlstand? Runde 1

Seite 25

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken—verstehen– anwenden; Auer Verlag GmbH, Donauwörth, 2003. S: 90

Gesundheit oder Wohlstand? Runde 2

Seite 26

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken—verstehen– anwenden; Auer Verlag GmbH, Donauwörth, 2003. S: 90

Gesundheit oder Wohlstand? Runde 3

Seite 27

R. Odermatt

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Ethische Theorie Utilitarismus

Seite 28

(Nützlichkeitsprinzip: Handle so, dass unter möglichen Alternativen, die gewählt wird, die am meisten Interessen befriedigt.)

Den Utilitarismus umschreibt man im Allgemeinen mit dem Nützlichkeits- und Maximierungsprinzip: Diejenigen Handlungen (Normen, Institutionen usw.) unter möglichen Alternativen sind moralisch geboten, die das „grösste Glück der grösste Zahl“ (Bentham, siehe nebenstehendes Bild) bewirken, oder moderner formuliert: die die meisten Interessen befriedigen. Das Maximierungsprinzip ist verlockend und fasziniert; jedem und jeder leuchtet bei einer Handlung ein, dass er oder sie die Folgen der Handlung abschätzen soll, dass also eine Güterabwägung notwendig ist. Ferner ist das Konzept auch im Gegensatz zu Kants Ansatz auf die leidensfähigen Tiere ausdehnbar. Ein Utilitarist muss die guten gegenüber den möglichen schlechten Folgen abschätzen. Die Nachteile dieses Konzepts sind: Minderheiten können unter Umständen unberücksichtigt bleiben; es fehlt ein klares Konzept der Gerechtigkeit; ebenso kann der Zweck moralisch bedenklich erscheinende Mittel heiligen, was verheerend ist, weil die Integrität Einzelner oder ganzer Gruppen verletzt werden kann. Ferner spielen bei einer Güterabwägung stets Wertfragen eine zentrale Rolle. Werden diese bei meiner Entscheidung mit einbezogen? Von grosser Bedeutung sind auch Wissensstand und Voraussagbarkeit. Kann ich die Folgen überhaupt abschätzen, wenn ich bestimmte Dinge und Abläufe auch mit den besten und schnellsten Computern nicht rechnen kann? Film: Peter Singer

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Filmprotokoll: P. Singer– gefährliche Gedanken Ein Film aus der Serie Kreuz und Quer -

Seite 29 P. Singer: Professor der Bioethik an der Universität Princeton in der USA und treibende Kraft der Tierbefreiungsbewegung. Er ist ein Philosoph aus Australien und sieht ausschliesslich im Nützlichen die Grundlage des sittlichen Verhaltens. Richtig ist, was so vielen Menschen wie möglich am meisten nützt. Singer glaubt die Moral einer Tat sein in erster Linie in ihren Konsequenzen begründet, nicht in der ihr inhärenten Qualität. Nach P. Singer darf unter gewissen Umständen schwerst behinderten Kindern das Leben genommen werden. Ist alles Leben gleich viel wert? Was macht ein Leben lebenswert und wer darf sich anmassen, darüber zu entscheiden? Tötung behinderter Säuglinge: Einen behinderten Säugling zu töten ist nicht immer Unrecht. Da dieser Säugling noch keine Person ist, ist es für Singer ethisch auch vertretbar, sein Leben nicht zu verlängern. Es hat kein Recht zu leben. Das heisst, Neugeborene haben nicht a priori ein Recht auf Leben. Das kommt erst, wenn sie verstehen, dass sie Wesen mit Zukunft sind und über ihre Geburtsstunde hinaus leben. Unter bestimmten Umständen soll es Eltern, die meinen, dass es besser für das Kind, sie selbst und die ganze Familie ist, erlaubt sein, diesen Entschluss schnell und human zu realisieren. Und wenn eine tödliche Injektion die beste Möglichkeit dazu ist, sollte auch diese fallweise erlaubt sein. Lebensunwertes Leben: Die Nazis verstanden unter „lebensunwertem Leben“ Leben, das die arische Rasse beschmutzte (Schandfleck). Singer befürwortet nicht die Tötung von Menschen, die weiterleben wollen. Er verteidigt nicht, was die Nazis Behinderten antaten, weil viele von diesen ein gutes Leben hatten und ihre Familie auch wollte, dass diese weiter lebten. P. Singer will bestimmt niemanden umbringen, der weiter leben will. Die Menschen sollen die Wahl haben, ihr eigenes Leben zu beenden, wenn sie genug haben oder dahin siechen. Eltern sollen über ihre schwer behinderten Säuglinge selbst entscheiden können. Darin liegt der wesentliche Unterschied zu den Nazis, die Singers Grosseltern umbrachten, obwohl diese gerne weiter gelebt hätten. Person: Ohne Bewusstsein fällt das menschliche Leben in ein Stadium zurück, das unter dem Leben eines Schimpansen oder Hundes liegt. Ohne Bewusstsein hat ein Leben alles verloren, was an einem Menschenleben von Wert ist. Gewisse Experimente sollte man mit Menschen machen können, die ihr Bewusstsein zur Gänze verloren haben und nie mehr wieder gewinnen werden.

R. Odermatt

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Filmprotokoll: P. Singer– gefährliche Gedanken

Seite 30 Unantastbarkeit menschlichen Lebens: Die traditionelle Ethik von der Unantastbarkeit allen menschlichen Lebens sollte nach Singer revidiert werden. Diese Ethik beruft sich ja nicht auf besondere Eigenschaften, die den Wert des Lebens definieren. Sie sagt einfach nur, dass es um menschliche Wesen geht. Allein die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies bewirkt einen riesigen Unterschied in der Bewertung des Lebens. Er hinterfragt die Unantastbarkeit menschlichen Lebens und den relativ geringen Wert der tierischem Leben zugemessen wird. Vernunft: Was für eine Rolle spielt die Vernunft in der modernen Gesellschaft? Wie kommt es, dass das „Blut“ bei den Nazis die Vernunft verdrängen konnte? Gott: Der Glaube an einen allmächtigen Gott und absolut gütigen Gott wurde durch die Nazierfahrung unmöglich. Singer akzeptiert die Glaubensbegründung nicht, dass Gott ein Mysterium sei, das wir nicht verstehen können, sonst könnten wir ja überall so argumentieren. Euthanasie: Singer unterstützt das Recht der Menschen auf Unterstützung bei ihrem Freitod, was in den meisten Ländern noch illegal ist. Singers Mutter war noch bei Bewusstsein, wenn auch ziemlich selbstvergessen. Wahrscheinlich war sie auch keine Person mehr, die sich als jemanden, über eine bestimmte Zeit existierend, wahrnehmen konnte. Spenden: Unsere Aufgabe (aus Sicht des Utilitarismus) ist es Glück zu maximieren, und Unglück, Leiden zu minimieren. Eigene Interessen darf man nicht wichtiger nehmen, als jene von Fremden. Wir verschwenden viel Geld für Luxusartikel (Bugatti). Beispiel: Zug umleiten, so dass dieser statt den Bugatti ein Kind überfährt. Wenn man nicht spendet, verhält man sich ähnlich. Einwände gegen P. Singers Argumentation: Selbsternannter Feind allgemeingültiger Menschenrechte. Menschen, die sich selber nicht verteidigen können, können seine Vorstellungen sehr viel Leid und Schmerz zufügen. Starke „Recht auf Leben Bewegung“ in der USA, konservativer als in Australien Ärzte, die Abtreibungen vornahmen, wurden in der USA von der Recht auf Leben Bewegung ermordet. Viele Proteste und viel Getue gegen Singer. Zur Zeit des zweiten Weltkrieges (1939-1945) tötete die deutsche Ärzteschaft 250000 Behinderte, darunter viele Kinder und geistig Zurückgebliebene. Die Ärzte taten das, weil sie darin eine Heilung, eine Behandlung sahen.

R. Odermatt

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Filmprotokoll: P. Singer– gefährliche Gedanken

Seite 31 Jedes Menschenleben ist etwas wert, oder keines (Wesley J. Smith). Die Bioethik entfernt uns immer mehr von einem System, in dem alle Menschen gleich sind. Fallbeispiele:

David Glass; Lungenentzündung, tödliche Dosis, die das Leben beenden sollte. Er

hat Augenkontakt, schwerbehindert, er leidet nicht, er hat keine Schmerzen, es macht den Eindruck, als ob er gerne leben würde. Seine Lebensfreude ist vielleicht eingeschränkt. Absolut falsch an der Weigerung David Leben zu retten war, dass die Ärzte Davids Mutter übergehen wollten, und sich anmassten, darüber zu richten, ob sein Leben es wert wäre, gerettet zu werden. Carol Glass glaubt die Ärzte hätten bei David nach der Frage entschieden: „Ein behindertes Kind, warum soviel Geld ausgeben“? Carol Glass will Ärzte verpflichten, künftig Eltern in ihre Entscheide mit einzubeziehen.

Nancy Crick: Sie möchte in Frieden sterben (Euthanasie). Ihr Söhne sind Daryle und Wayne Crick. Sie möchte nicht alleine sterben. Ethisch gesehen, meint Singer, ist das Verhalten des Sohnes nicht problematisch, aber rechtlich gesehen, ist Beihilfe zum Selbstmord verboten.

Unantastbarkeit menschlichen Lebens

Bedingte Antastbarkeit menschlichen Lebens

Alle Menschen sind gleich. Menschen sind Menschen mit Würde, wenn sie sich selbst bewusst sind, d.h. Jedes Menschenleben ist sich als Wesen in der etwas wert, oder keines. Zeit (mit Zukunft) wahrMenschenwürde nehmen. Kantianismus

Utilitarismus

Absicht

Folgen

Deontologisch

Teleologisch

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

LERNZIELKONTROLLE Seite 32 Name:

Punkte:

/25

Note:

Begriffserklärungen Inhalt der Lernzielkontrolle:

1) Kreuzen Sie die richtigen Aussagen zur „Moral“ bitte an! Moral hinterfragt, überdenkt und begründet ethische Ansprüche.

(Scriptseiten: 3,7,9, 10, 19, 22, 28)

Moral ist weder kulturabhängig noch personenabhängig. Unter Moral versteht man ein bestehendes, traditionelles Wertesystem. Moral bezeichnet die Praxis des moralisch Geltenden. Moral ist die Lehre von der Ethik. Die Moral analysiert und bewertet ethische Normen.

3

2) Erklären Sie bitte in einem oder zwei ganzen Sätzen, was ein „Wert“ ist!

1 3) Kreuzen Sie die richtigen Aussagen an! Wertmassstäbe sind weder kulturabhängig, noch situations- und personenabhängig. Überlieferte Wertmassstäbe werden jederzeit bewusst wahrgenommen. Was dem einen ein hoher Wert ist, kann für den anderen geringen oder gar keinen Wert haben. Es gibt Güterwerte, ethische, ästhetische und politische Werte Zwischentotal



Begriffsklärungen



Wert, Norm, Ethik, Norm



Utilitarismus



Religiosität



Pflegeethik



Goldene Regel



Prinzipien

Moral, Wert

32

Norm

33

Ethische Theorien

33

Utilitarismus

33

Nachteil Utilitarismus

34

Pflegeethik

34

Goldene Regel

34

2 6

Religiosität

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GA Ethik R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Seite 33

6

4) Erklären Sie den Begriff „Norm“!

1

5) Normen und Werte sind voneinander abhängig. Leiten Sie nun von den nachfolgenden Werten jeweils eine (kurze) Pflegenorm ab! Gleichheit:

½

Gerechtigkeit:

½

Freiheit:

½

Achtung:

½

6) Ordnen Sie bitte den folgenden ethischen Theorien das passende ethische Prinzip zu! Vernunftethik Mitleidsethik Fernethik Gerechtigkeitsethik Goldene Regel Diskursethik

3

7) Erläutern Sie nun in einem Satz die moralische Norm des Utilitarismus: Utilitarismus:

1

13

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GA Ethik R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Seite 34

13

8) Zählen Sie stichwortartig vier Nachteile des utilitaristischen Konzepts auf:

2 9) Ordnen Sie die folgenden theoretischen ethischen Prinzipien den pflegeethischen Prinzipien zu! Theoretische Prinzipien: A Kateogrisches Prinzip

B Toleranzprinzip

C Nützlichkeitsprinzip

Pflegeethische Prinzipien: Autonomie ________________________

Gutes tun_________________________________1

Gerechtigkeit______________________

Nicht-Schaden_____________________________1

10) Kreuzen Sie nachfolgend bitte nur die richtigen Aussagen an ! (aus dem Text: Ein ganz gewöhnlicher Tag) Eine angewandte Ethik bemüht sich speziell um die ethische Klärung der beruflichen Praxis. Gutes tun in der Pflege kann heissen, Wohlbefinden, Sicherheit und Lebensqualität zu fördern. Ethische Prinzipien tragen dazu bei, moralische Konflikte zu umschreiben, einzuordnen und zu klären. Jedes der pflegeethischen Prinzipien kann absolute Geltung für sich beanspruchen. Die ethische Klärung kann nur in der Zusammenschau der pflegeethischen Prinzipien aussagekräftig sein. Emotionale und intuitive Entscheidungen spielen im Pflegealltag keine wichtige Rolle. Pflegende, die moralische Kompetenzen haben, sollten sich nicht mehr an ethischen Prinzipien orientieren. Werte haben keine moralische Relevanz. Die Pflegeethik leistet einen wichtigen Beitrag zur interkulturellen Verständigung. Im Rahmen einer „Güterabwägung“ können ethische Prinzipien differenziert angewendet werden. 5 11) Wie lautet die „Goldene Regel“?

1 12) Religiosität heilt eine Gesellschaft nicht von ihren Übeln. Nennen Sie zwei Gründe aus dem Text: „Die wahren Werte“, weshalb eine den Religionen weniger verbundene Gesellschaft, die moderne gesellschaftliche Werte anerkennt, den Menschen besser bekommen kann.

2

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Deontologische und teleologische Ethik (Folgen- und pflichtorientierte Argumentation) (Huppenbauer M; De Bernardi J: Kompetenz Ethik. Versus Verlag. Zürich. 2003. S: 25-26)

Seite 35

Deontologische (pflichenorientierte) Ethiken orientieren sich an der „an sich“ richtigen Handlung. Konsequenzialistische (folgenorientierte) Ethiken orientieren sich an dem, was zu den bestmöglichen Folgen führt.

Wir sprechen von zwei grundlegend verschiedenen Ethikkonzeptionen: Es gibt eine an den Folgen orientierte Argumentation, abgeleitet vom griechischen Wort telos, Ziel: Hier wird das Handeln am Ziel, am Ergebnis, das zu erwarten ist, gemessen. Es sind die guten gegenüber gegenüber den möglichen schlechten Folgen abzuschätzen und eine Handlung ist nur dann ausführen, wenn sie bzw. die Regel, unter die sie fällt, ein grösseres Übergewicht von guten gegenüber schlechten Folgen hervorbringt als jede andere ausführbare Handlungsalternative. Der Utilitarismus ist eine solche folgenorientierte Theorie.



Beispiel: Utilitaristische Ethik. Die Richtigkeit von Handlungen wird hier bemessen an ihren Folgen - hinsichtlich der grösstmöglichen Glücks der Menschen oder - der Erfüllung der Interessen und Präferenzen von Betroffenen oder - der Vermeidung von Leiden möglichst vieler Menschen.

Die prinzipienorientierte Argumentation betrifft die Pflicht, das Erforderliche, das Geforderte und folgt der Leitfrage: Was wird gesollt? Was ist moralisch richtig? Sie kümmert sich dabei jedoch nicht um die Folgen. Diese Argumentation behauptet, dass eine Handlung oder Handlungsregel moralisch richtig oder pflichtgemäss sein kann, selbst wenn sie nicht das grösstmögliche Übergewicht von guten gegenüber schlechten Folgen für den Handelnden, seine Gesellschaft oder das Universum herbeiführt. Das berühmteste Beispiel einer solchen Ethikkonzeption ist die Theorie Kants.



Beispiele: das Respektieren der Menschenwürde, das Einstehen für Gerechtigkeit oder dann Gebote wie, nicht zu lügen und Versprechen zu halten.

Kantianismus

Utilitarismus

deontologisch

teleologisch

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Ethische Theorie Kantianismus

Seite 36

(Kategorisches Prinzip: Handle nur nach solchen Normen, von denen du wollen kannst, dass sie allgemein gelten.) Der wichtigste Vertreter einer prinzipienorientierten Ethik, einer Ethik

also, die sich an der „an sich“ richtigen Handlung orientiert, ist Kant. Wer sind an Prinzipien orientiert, beachtet die Folgen seiner Handlung nicht, weil er allein seinen Prinzipien folgt. Kants Ethik kommt ohne einen Glauben an Gott aus und rückt stattdessen die Vernunft und die Pflicht in den Vordergrund. Eine gute Handlung ergibt sich durch das richtige Motiv, den richtigen Beweggrund für die Handlung und nicht durch deren gute Folgen. Der einzige richtige Beweggrund für eine gute Tat ist, diese aus Pflichtbewusstsein zu tun, aus Einsehen in seine moralische Verpflichtungen. Verpflichtungen sind Handlungen, von denen wir behaupten können, jeder an meiner Stelle hätte diese tun sollen. Das Richtige zu tun heisst also, mit dem Anspruch zu handeln, dass jeder andere in ähnlicher Lage dasselbe tun würde, um das „Gute“ zu erreichen. Eine Handlung, die als allgemeingültige Norm Unheil anrichten würde, kann demnach nicht moralisch gut sein. Eine moralische Regel, die nicht für alle gültig ist bzw. die sich nicht verallgemeinern lässt, ist nicht moralisch. Demnach lautet Kants kategorisches Prinzip: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du auch zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» Eine moralische Regel, die nicht für alle Gültigkeit besitzt, oder mit andern Worten, die sich nicht universalisieren (verallgemeinern) lässt, entbehrt der Moralität. Ebenso wichtig ist für Kant ein zweites Prinzip, das die Menschenwürde unabhängig von einer Religion festlegt: «Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest». Dieser Satz Kants ist als „Zweckformel“ bekannt und meint: Instrumentalisiere niemanden! Berücksichtige immer auch den Willen und die Interessen des andern, nimm Rücksicht auf seine Zwecke, d.h. moderner ausgedrückt, schaffe eine «win-win-Situation», bei der beide profitieren, du durch ihn und er durch dich. Wechselseitiger Respekt und Achtung ist allen Menschen geboten, die Menschenwürde steht nicht zur Verhandlung. Die Nachteile des Kantianismus sind: sein strenger Pflichtgedanke, der Ausschluss von Neigungen und Gefühlen; die Nichtberücksichtigung der Folgen bei einer Entscheidung und die absolut strenge Unterscheidung zwischen Personen und Sachen, wobei nur die Personen moralfähig sind. Tiere gehören nach Kant zu den Sachen. Neben Kant ist als Vertreter der prinzipienorientierten Theorie noch der englische Ethiker und Altphilologe David Ross (1877-1971) zu nennen, der Kants Theorie um einen Katalog von prima-faciePflichten, das sind unmittelbar einleuchtende Forderungen, erweitert hat. Diese Pflichten, z. B. Wahrheitspflicht, Dankbarkeitspflicht, Gerechtigkeitspflicht, sind selbst einleuchtend, sie drängen sich beim ersten Blick, prima facie, als vernünftig auf und lassen es im Gegensatz zu Kant zu, ein Versprechen zu brechen, wenn gleichzeitig dem Handelnden geboten ist z. B. dringend Hilfe zu leisten. ©FAGE-EB. Odermatt GIB Zug

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken—verstehen– anwenden; Auer Verlag GmbH, Donauwörth, 2003. S: 80 und 81

Die Frage nach der Allgemeingültigkeit

Seite 37

Entscheide, was in jeder der folgenden Situationen das moralisch richtige Handeln wäre. Richte Dich dabei allein nach Kants ethischer Theorie. 1. Du versprichst deinem Neffen Jonas, ihn am Samstag zum Spielen in den Park mitzunehmen. Doch am Mittwoch ruft dein Freund an: Er hat zwei Karten für ein Pop-Konzert eurer Lieblings-Band ergattert. Jonas ist bis Samstag morgen im Zeltlager. -Brichst du dein Versprechen? Versprechen brechen Versprechen halten 2. Du hilfst deiner Freundin Anne ihre Zeitungen auszutragen, damit ihr beide euch ein Feuerwerk ansehen könnt. Plötzlich fängt eine der Zeitungen, die Anne in Händen hält, bei dem Feuerwerk Flammen. Anne verbrennt sich, aber es ist kein Wasser verfügbar, nur zwei Flaschen kalte Milch auf der Türschwelle des nächsten Hauses. -Stiehlst du die Milch? Milch stehlen Milch stehen lassen 3. Deine Freundin, die zuletzt Ess-Probleme entwickelt hat, fragt dich, ob ihr Hintern in ihrer neuen Hose pummelig aussieht. Das ist tatsächlich so, aber du kennst ihr Problem und machst dir sorgen. - Lügst Du? Lügen Nicht Lügen 4. Du stehst auf dem Dach eines Hauses und ziehst bei einem Umzug ein Klavier am Lastenzug in den dritten Stock hinauf. Plötzlich hörst du Schüsse. Auf der Straße direkt unter dir schießt ein Mann auf eine vorbeiziehende Parade lokaler Würdenträger. Lässt du das Klavier fallen und tötest den Mann um die anderen zu retten? Klavier fallen lassen Klavier festhalten 5. Dein Partner bzw. deine Partnerin ist für eine zweijährige Arbeit in Afrika. Dein/e sehr attraktive/r, aber tödlich erkrankte/r Nachbar/in gesteht dir seine/ihre Liebe und bittet dich um eine gemeinsame romantische Nacht, bevor die Krankheit letztlich zum Tod führt. Du kannst Deine/n Partner/in nicht erreichen. Wirst du für eine Nacht untreu sein? Treu sein untreu sein

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Ethische Theorie Die Diskursethik

Seite 38

(Konsensprinzip: Handle nur nach solchen Normen, mit denen alle von deiner Handlung Betroffenen einverstanden sind.) Jürgen Habermas (1929) Die Diskursethik weist sowohl folgenethische als auch prinzipienethische Elemente auf und erhebt einen universellen Anspruch. Voraussetzung dieses Ansatzes ist die vernünftige Argumentation, und das setzt mündige Gesprächspartner voraus, die sich wechselseitig anerkennen. Die Grundlage bilden die Menschenrechte, die nie zur Diskussion stehen. Der Diskurs hält sich sodann an bestimmte Regeln, er fordert, dass alle Betroffenen partizipieren und erfordert die Zustimmung aller Betroffenen zu einer Norm. Die Diskursethik wird heute weltweit diskutiert und erhebt den Anspruch, in allen öffentlichen Verfahren, mit denen Entscheidungen über strittige soziale und politische Fragen getroffen werden, angewandt zu werden. Konflikte sollen in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft gelöst werden, wobei alle Betroffenen am Diskurs teilhaben, der seinerseits frei von Gewalt und mit vernünftigen Argumenten geführt wird und letztlich die Zustimmung aller erfordert. Die Theorie hat einen universalistischen Anspruch und ist insofern mit Kants Ethik verwandt, als sie die Glücks- und Nutzerwartungen der Einzelnen zurückdämmt und das Gemeinwohl im Auge hat.

Gegen die Diskursethik kann man einwenden, dass sie alle Konflikte mit der Vernunft für lösbar hält und keine moralischen Dilemmata anerkennt. Ferner kommt dazu, dass die an einem realen Diskurs Beteiligten und also Betroffenen wohl oft nicht aus moralischen Gründen, sondern geleitet durch egoistische Motive und Klugheitsüberlegungen handeln. Weiter kann die Forderung nach der Zustimmung aller Beteiligten zur Folge haben, dass z.B. Gesetze verwässert und zahnlos werden.

Die Diskursethik fordert also kommunikatives Handeln und sucht den Diskurs mit allen Betroffenen in einem Konfliktfall. Die Basis bilden die Regeln des rationalen Argumentierens. Die Leitbilder sind die Menschenrechte. Das Ziel ist Lebensqualität und Gerechtigkeit. Wichtig im Diskurs sind: dass sich die Gesprächspartner wechselseitig als mündige Subjekte anerkennen, dass alle Betroffenen am realen Diskurs partizipieren dürfen und dass die Zustimmung aller Betroffenen gefordert ist. Anwendung: Du sollst nicht töten (Letztbegründung der Diskursethik). In Nink H. (Hrsg.).Standpunkte der Ethik. Verlag Schöningh. 2000. S. 113ff

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Ethische Theorie Verantwortungs– und Zukunftsethik v. H. Jonas

Seite 39

(Verantwortungsprinzip: Handle so, dass menschliches Leben auch für die Zukunft nicht gefährdet wird.) Jonas meint, dass es die Welt «in alle Zukunft» geben und dass sie menschenwürdig bewohnbar bleiben soll. Das ist die «praktische Verpflichtung gegenüber der Nachwelt einer entfernten Zukunft». Im Anschluss an diesen Gedankengang stellt der Philosoph dem alten kategorischen Imperativ Kants seinen neuen Imperativ entgegen und formuliert sein Prinzip, die viel zitierte Verantwortungs-, Folgen-, Fern- oder Zukunftsethik.

A. Kants Gegenwartsethik: «Handle so, dass du auch wollen kannst, dass deine Maxime allgemeines Gesetz werde. »

B. Jonas' Zukunftsethik: «Handle so, dass die Wirkung deiner Handlungen verträglich sind mit der Dauerhaftigkeit echten menschlichen Lebens auf Erden.» «Handle so, dass die Wirkungen nicht zerstörerisch sind für die zukünftige Möglichkeit solchen Lebens.» «Gefährde nicht die Bedingungen für den unbestimmten Fortbestand der Menschheit auf Erden.» Eine ethische Haltung könnte auch die sein, dass ich im Wissen des Nicht-Wissens für Vorsicht eintrete oder bestimmte Handlungen nicht ausführe.

Jonas begründet seine Ethik letztlich mit der Lehre vom Sein: Sein ist mehr als Nicht-Sein. Wichtiger allerdings als seine Begründung ist ihm, dass sich die neuen Befehle an die öffentliche Politik richten, an eine Gemeinschaft, weniger an privates Verhalten. Die neue Ethik der Verantwortlichkeit sollte mit der Tragweite unserer Macht vergleichbar sein.

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Ethische Theorie Tugendethik

Seite 40

Tugend ist das Ideal der (Selbst-) Erziehung zu einer sittlich vorbildlichen Persönlichkeit. In der Tugendethik geht es um die Bewertung der handelnden Person. Die Tugendethik stellt fest, was eine Tugend und was ein moralisch guter Charakter ist. Es geht also nicht, wie in der Prinzipienethik oder im Utilitarismus, um die Gesinnung, die einer Handlung zugrunde liegt noch um eine Beurteilung der Handlungsfolgen. Bei den Tugenden handelt es sich um erworbene Charaktereigenschaften. Erziehung und Selbst-Bildung spielen dabei die wesentliche Rolle. Aristoteles (384-322 v. Chr.)

Mit dem Begriff der Tugend werden bestimmte Eigenschaften ausgezeichnet, derentwegen ein Mensch als ein moralisch guter Mensch gilt. Diese Eigenschaften beziehen sich auf Bereiche menschlichen Könnens und menschlicher Erfahrung. Sie drücken aus, dass sich eine Person in dem jeweiligen Bereich vortrefflich und vorzüglich zu verhalten pflegt. Die Betonung liegt dabei darauf, dass eine Person nicht von Zeit zu Zeit und nicht nur zufällig richtig handelt, sondern dass sie eine Veranlagung hat, das Richtige zu wählen. Tugendhaftigkeit zeigt sich nicht nur darin, dass richtige Handlungen gewählt werden, vielmehr bestimmt die Tugend insgesamt das Urteilen und auch die emotionale Einstellung der tugendhaften Person. Diese Haltung bzw. das Vermögen des Tugendhaften wird zunehmend mit dem Begriff des Charakters in Verbindung gebracht. Tugenden bezeichnen demnach Charaktereigenschaften; und die Diskussion darüber, was als Tugend zählen soll, geht darum, welchen Charakter ein Mensch ausbilden sollte. Mut, Klugheit, Loyalität, Besonnenheit, Mäßigung oder Geduld bezeichnen jene Charaktereigenschaften, die positiv zu bewerten sind. Wer sie besitzt, hat die Veranlagung, in bestimmten moralischen Zusammenhängen moralisch richtig zu handeln und zu urteilen, nämlich mutig, klug, loyal, besonnen, gemäßigt oder geduldig. Tugenden beziehen sich im Wesentlichen auf erworbene Eigenschaften. Charaktereigenschaften sind solche, die der Einzelne selbst entwickelt hat und die zu entwickeln, Hauptaufgabe jeder moralischen Erziehung ist. Wenn man fragt, warum bestimmte Charaktereigenschaften moralisch lobenswert sind, kann man darauf verweisen, dass diese Charaktereigenschaften eine wesentliche Rolle für das menschliche Wohlergehen spielen. Tugendethik basiert dann auf einer bestimmten Theorie des guten Lebens. Aber diese enge Verbindung von gutem Leben und Tugend ist kein zwingendes Element einer tugendethischen Position. Man kann sagen, die Entwicklung von Tugenden sei selbst etwas in sich Gutes, auch wenn diese weder zum richtig verstandenen Glück des Menschen noch zum guten Leben beitragen.

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Pflegeethik: Die Tugenden - Haltung hinter Handlung

Seite 41

Die Tugenden: die Haltung hinter der Handlung Die pflegerische Handlung ist genau so gut, wie die Haltung gut ist, durch die sie hervorgebracht wird. Ethisches Nachdenken lässt sich deshalb nicht auf einen Prinzipien- und Regelkatalog beschränken. Die Frage nach unseren handlungsleitenden Grundsätzen (Handeln wir gerecht? Tragen wir zur Verwirklichung von Autonomie bei? Wann schaden wir? Wann tun wir Gutes?) muss deshalb ergänzt werden durch die Frage nach dem moralischen Charakter oder den Tugenden3: Diese drücken menschliche Eigenschaften aus, durch die wir freiwillig gut handeln, also ohne einen äusseren Druck (Belohnung oder Strafe). Tugenden sind Haltungen, die es uns ermöglichen, aus innerer Überzeugung gut zu handeln und zu denken, Prinzipien und Regeln in die Tat umzusetzen, diese gegebenenfalls auch kritisch zu hinterfragen oder gegeneinander abzuwägen. Handeln aus Überzeugung darf aber nicht heissen, dass andere Überzeugungen keinen Platz haben: Toleranz gegenüber anderen Meinungen, Weltanschauungen, Intuitionen usw. ist von elementarer Bedeutung in der Pflege. Solche Toleranz darf aber nicht zu Gleichgültigkeit führen: überall dort, wo grundlegende Rechte und Pflichten gegenüber Patienten, Angehörigen, Berufskolleginnen verletzt werden, muss Toleranz der Kritik weichen. Im Rahmen der Pflege sind Tugenden sowohl Ausdruck des eigenen Berufsverständnisses als auch gesellschaftlicher Erwartungen. In der heutigen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem moralischen Charakter seien hier vier für die Pflege besonders wichtige Tugenden formuliert: Vertrauenswürdigkeit, Treue, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit Die Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten ist von gegenseitigem Vertrauen geprägt: in die Kompetenz der Pflegenden, aber auch in die Kooperation des Patienten. Durch seine gesundheitliche Situation ist der pflegebedürftige Patient besonders verletzlich. Vertrauenswürdigkeit bedingt, dass Pflegende dieser Verletzlichkeit unter allen Umständen Rechnung tragen, indem sie die Rechte des Patienten erkennen und sich für sie einsetzen: Achtung der Würde, Schutz der körperlichen, geistigen und sozialen Intimsphäre, vertraulicher Umgang mit persönlichen Daten (sowohl im Team als auch gegenüber Drittpersonen), sichere Systeme der Verarbeitung von Daten, Recht auf korrekte Information usw. Treue steht für die Überzeugung, dass im- und explizite Versprechen (Verträge) einzuhalten sind. Wenn beispielsweise Patienten immer wieder «vertröstet» werden, so werden ihre Anliegen zwar wahrgenommen, aber nicht ernstgenommen. Dadurch besteht die Gefahr, dass mit diesem Treuebruch ein Bruch des Vertrauens in die ganze Pflege einhergeht. Solche Patienten sind dann oft nicht mehr willens, mit der Pflege zu kooperieren. Treue erweist sich somit als wichtiges ethisches Qualifikationsmerkmal, das den Beziehungsaspekt der Pflege hervorhebt. In der Pflege entstehen immer wieder Situationen, in denen ein vordergründiges «Recht» ein Unrecht oder eine nicht weiter hinterfragte «Wahrheit» eine Lüge verbirgt. Wahrhaftigkeit besagt in solchen Situationen, dass Pflegende diese Konflikte wahrnehmen und benennen. Dies kann von einem zufällig beobachteten unprofessionellen Verhalten einer Kollegin (z.B. grobe Fahrlässigkeit), Loyalitätskonflikte mit fachlich oder vorgesetzten Personen (Kompetenzprobleme, Personalbestand, Lohn, Streikfragen, Verweigerung aus Gewissensgründen) bis zum

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Pflegeethik: Die Tugenden - Haltung hinter Handlung

Seite 42

Thema «Wahrheit am Krankenbett» gehen. Wahrhaftigkeit ist dann «echt», wenn sie im Dialog mit allen Beteiligten gesucht wird. Dadurch ist sie immer auch ein Ausdruck der Verantwortlichkeit von Pflegenden dem eigenen Gewissen, aber auch dem eigenen Beruf gegenüber. In Ergänzung zur Wahrhaftigkeit wird hier unter Aufrichtigkeit eine Charaktereigenschaft verstanden, die die Professionalität in der unmittelbaren Ausübung der Pflege ethisch qualifizieren will: Geht es bei der Wahrhaftigkeit um die Alternative «wahr» oder «unwahr», so drückt Aufrichtigkeit die Alternative «(fachlich) richtig» oder «(fachlich) falsch» aus. Eine langjährige Pflegefachfrau Onkologie, die in einem ambulanten Kontext mit einer komplexen Schmerzproblematik sich weder fachlich weiterbildet (neue Möglichkeiten) noch professionelle Hilfe von Drittpersonen holt, handelt in diesem Sinne unaufrichtig. Aufrichtigkeit drückt sich schliesslich auch in der sprachlichen Kommunikation mit den Patienten aus und ist dadurch auch ein Phänomen der Sprache: Pflegende haben in der Bemühung um eine patientengerechte Sprache die besondere Aufgabe des Übersetzens der pflegerschen und medizinischen Fachsprache. Fachbegriffe und für den therapeutischen Prozess relevante Zusammenhänge können dadurch in einer Sprache vermittelt werden, die dem Patienten und seiner Erlebniswelt gerecht werden.

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Ethische Theorie Reale Vertragstheorie der Moral

Seite 43

Vertragstheorien der Moral machen moralische Prinzipien oder Regeln an der Übereinkunft vernünftiger Personen fest. Dabei kann man den Ausdruck „vernünftiger Personen“ auf unterschiedliche Weisen verstehen: Zum einen lassen sich darunter Personen verstehen, die ihr Eigeninteresse optimal verfolgen, zum anderen kann man damit Personen meinen, die unparteilich sind und entsprechend den Interessen anderer Personen ein gleiches Gewicht zuschreiben wie den eigenen Interessen. Aus diesen zwei Interpretationen von „vernünftig“ ergeben sich auch zwei Typen der Vertragstheorien der Moral: eine reale und eine ideale Vertragstheorie.

(Thomas Hobbes 1588—1679) Hobbes vertrat die reale Vertragstheorie und ging davon aus, dass im Naturzustand Krieg aller gegen alle herrsche. Die Ursachen sind Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht. Alle haben eine Interesse aus dem Natur- in den Friedenszustand zu gelangen. Die Zustimmung zu moralischen Normen ist deshalb im Eigeninteresse des einzelnen. Die Befolgung moralischer Normen ist nur dann vernünftig, wenn auch die anderen dazu bereit sind. Die Befolgung moralischer Normen ist aber nur dann vernünftigerweise erwartbar, wenn von der Norm abweichendes Verhalten (z.B. durch den Staat) bestraft wird.

Aus Hobbes Vertragstheorie lässt sich ableiten, welches die Gründe sind, warum Sie oder andere moralisch handeln sollten: Moralisches Verhalten kann für die Gemeinschaft vorteilhafter sein als Egoismus. So wird in der Folge die Gesellschaft Egoisten zu moralischem Verhalten sozialisieren, da die Gesellschaft davon profitiert. Es liegt aber auch im Interesse der Egoisten in Verträgen moralische Normen mit andern zu beschliessen und alle dazu zu zwingen, diese einzuhalten, weil für jeden daraus z.B. insgesamt mehr Sicherheit resultiert.

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Ethische Theorie Reale Vertragstheorie der Moral

Seite 44

Das Dilemma des Gefangenen Warum sollte ich oder irgendjemand überhaupt moralisch handeln? Die Klasse wird in Gruppen eingeteilt. Jede Lernende erhält zwei verschiedenfarbige Spielkarten. Die Lernenden spielen innerhalb ihrer Gruppen so lange eins zu eins gegeneinander, bis sie gegen alle angetreten sind. Dabei nehmen sie je eine ihrer Karten und legen sie mir der farbigen Seite nach unten auf das Pult, ohne dass die Gegenspielerin die Farbe sehen kann. Die Gegenspielerin macht dasselbe. Dann decken beide die Karten auf, notieren je die erzielte Punktzahl (siehe Punktetabelle) und sammeln ihre Karten wieder ein. Diesen Vorgang wiederholen sie pro Gegenspieler fünfmal. Danach zählen die Spielerinnen ihre Punkte zusammen und spielen gegen die nächste Person ihrer Gruppe. Nachdem jede gegen jede ihrer Gruppe gespielt hat, rechnen die Lernenden ihre Gesamtpunktzahlen zusammen.

Punktetabelle:

Alternativ-Version: Mit EWE spielen: 15x Anzahl Gruppenmitglieder (-1)x Klassenzahlx100EWE

Du spielst:

Dein Gegenüber spielt:

Du punktest:

Schwarz

Schwarz

+3

Schwarz

Rot

-2

Rot

Schwarz

+5

Rot

Rot

0

Meine Punkteliste: Namen meiner Gegenspieler:

1 Spiel

2

3

4

5

Total

1

2

3

4

5

Total

1

2

3

A B C D E F G H Gesamtpunktzahl

Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken—verstehen– anwenden; Auer Verlag GmbH, Donauwörth, 2003. S: 71 bis 76

4

5

Total

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Ethische Theorie Ideale Vertragstheorie der Moral (John Rawls)

Seite 45

(Gerechtigkeitsprinzip: Handle aus einer Position der Stärke nur nach Normen, die auch den Interessen der Schwächeren gerecht werden.) Rawls ist der Meinung, dass moralische Regeln dem gegenseitigen Vorteil der Mitglieder einer Gesellschaft dienen sollen. Dabei beschäftigt sich Rawls mit den Prinzipien der Gerechtigkeit. Seiner Ansicht nach lassen sich diese über das, was freie und vernünftige Personen als gerecht annehmen können, bestimmen. Er geht er davon aus, daß vernünftige Personen ihr Eigeninteresse verfolgen, ohne notwendigerweise sich um die Anliegen anderer zu kümmern. Die Gerechtigkeitsprinzipien sollen nach Rawls das Ergebnis einer fairen Übereinkunft eigeninteressierter Personen sein. Und fair ist die Übereinkunft, wenn die einzelnen sich hinter einem Schleier des Nichtwissens entscheiden müssen. Rawls denkt in diesem Zusammenhang an einen erfundenen Urzustand, in dem die Personen, die über die Gerechtigkeitsgrundsätze zu entscheiden haben, nicht wissen, welche Position sie in der Gesellschaft einnehmen und welche Eigenschaften sie haben werden. Dieser Schleier des Nichtwissens soll sicherstellen, daß sich einzelne nicht für diskriminierende Prinzipien entscheiden. Wer z. B. weiß, daß er eine weiße Hautfarbe haben wird, könnte Grundsätze befürworten, die Weiße privilegieren. Hinter dem Schleier des Nichtwissens wird er dies aber nach Rawls nicht tun, da er nicht ausschließen kann, selbst durch den entsprechenden Grundsatz benachteiligt zu werden. „John Rawls hat ein interessantes Gedankenspiel vorgeschlagen: Stell dir vor, du wärst Mitglied eines Hohen Rates, der alle Gesetze einer zukünftigen Gesellschaft machen soll… Sie müssen an absolut alles denken, denn sowie sie sich geeinigt haben - und also die Gesetze unterschrieben haben, fallen sie tot um… Und Sekunden später werden sie in genau der Gesellschaft wieder wach, deren Gesetze sie gemacht haben. Der Trick ist nur: Sie haben keine Ahnung, wo in dieser Gesellschaft sie erwachen, das heisst, was ihre Rolle (Mann oder Frau, Arzt oder Bettler,…) darin sein wird… „(vgl: Jostein Gaarder: Sofies Welt 1993, S. 474 f)

Generell gilt: In einer Situation der Unsicherheit, wie sie der Urzustand darstellt, ist es vernünftig nach der sog. Maximinregel zu entscheiden, und Gerechtigkeitsprinzipien zu befürworten, die den Schlechtestgestellten das bestmögliche Ergebnis garantiert. Im erfundenen Urzustand verhalten sich Personen aus Eigeninteresse unparteilich. Dazu kommt, dass - so Rawls - die Personen im Urzustand gleich sind: jede Person hat dieselben Rechte, Gerechtigkeitsgrundsätze zu wählen und vorzuschlagen.

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Seite 46

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Seite 47

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: http://www.ethik-info.de/inhaltsverzeichnis/Pflegeethik_2/ethik_in_der_pflege.html

Die Rolle der Ethik in der Pflege (Milgramexperiment)

Seite 48

Karen Dontz war zum Zeitpunkt des vorgeblich lernpsychologischen Experiments, an dem sie teilgenommen hat, 40 Jahre alt. Sie beschrieb sich selbst als Hausfrau, die seit sechs Jahren halbtags als staatlich anerkannte Krankenschwester gearbeitet hat. Die Versuchsleiter erklärte ihr, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, der untersucht, wie sich Strafe auf das Lernen auswirkt. Zuerst sollte Frau Dontz dem Teilnehmer eine Liste nicht zusammenhängender Wörter vorlesen und anschliessend sollte sie den Lernenden abfragen. Bei jeder falschen Antwort sollte der Lernende mit einem Stromschlag bestraft werden. Der Versuchsleiter wies sie an, bei jeder falschen Antwort die Stromstärke um 15 Volt zu erhöhen bis die höchst Stärke von 450 Volt erreicht ist. Frau Dontz hatte wie die anderen Versuchsteilnehmer keinen Sichtkontakt zum "Lernenden", aber sie konnte ihn seine Schmerzensschreie und schliesslich sein Verstummen hören. Frau Dontz, wie viele andere Teilnehmer an dem Experiment, führten ihre Aufgabe bis zum Ende durch. Obwohl sie weder bedroht wurden noch Konsequenzen zu fürchten hatten, "bestraften" sie die Lernenden schliesslich mit Stromstössen, von denen sie annehmen mussten, dass sie äusserst schmerzhaft oder sogar tödlich sind. Alle Versuchspersonen, die die "Strafen" vergaben, glaubten, dass die Verantwortung beim Versuchsleiter liegt, nicht bei ihnen. (In Wahrheit gab es natürlich gar keine "Lernenden", die mit Stromstössen bestraft wurden.) Dieses Experiment des amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram ist berühmt geworden, weil es drastisch zeigte, dass Menschen auch unter "demokratischen" Bedingungen sich nicht auf ihr eigenes moralisches Urteil verlassen, sondern der Macht des Versuchsleiters vertrauen, der sie immer wieder aufforderte "Machen Sie weiter!". An keiner Stelle wurden die Teilnehmer gezwungen weiterzumachen, der gesamte Druck, der auf sie ausgeübt wurde, bestand aus der stur wiederholten Aufforderung. Auch wenn dieses Experiment keine wirkliche Gewaltanwendung beinhaltet, deckt es Strukturen und Gefährdungen unserer Bewertung von Gewalt auf. Zwei Bedingungen sind es, die auch extreme und direkte Gewaltanwendung in den Augen der Versuchsteilnehmer gerechtfertigt erscheinen lassen: - Sie glauben, alleVerantwortung für ihr Tun an die unmittelbar beteiligten wissenschaftlichenExperten abgeben zu können. - Sie glauben an eine ungemein weitgespannte Nützlichkeit ihres an sich unzulässigen Tuns. Es kommt hier der gleiche Bewertungsmechanismus zum Zuge, der auch die schlimmsten Verbrechen mitprägt: Wenn jungen SS-Männern befohlen wurde, jüdische Kinder zu töten, so haben das nicht alle ohne Bedenken getan. Ausschlaggebend waren aber die unbedingte Autorität des Systems (des Führers) und die Überzeugung, der Menschheit durch die Ausrottung der Juden von höchstem Nutzen zu sein. Weder das persönliche Gewissen noch das universelle Tötungsverbot hatten dagegen eine Chance. Diese beiden Beispiele zeigen: Gehorsam und Nutzenüberlegungen können nicht zur Rechtfertigung von Gewalt führen. Verantwortlicher Gehorsam setzt immer das eigene Urteil voraus und kann es keineswegs ersetzen. Auch an Autoritäten oder Experten kann diese Urteilspflicht nicht abgetreten werden. Dieses Experiment kann die Situation von Menschen in moralisch problematischen Situationen gut verdeutlichen. Ein anscheinend legitimer Machtapparat - hier in Gestalt des ärztlich-

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: http://www.ethik-info.de/inhaltsverzeichnis/Pflegeethik_2/ethik_in_der_pflege.html

Die Rolle der Ethik in der Pflege (Milgramexperiment)

Seite 49

psychologischen Versuchsleiters und einer entsprechenden Institution - erzeugt einen Erwartungsdruck an einen Teilnehmer und dieser gehorcht diesem Druck - entgegen der besseren Einsicht. Die Grundfrage der Ethik lautet: Was soll ich tun? und sie entsteht in einer konkreten Situation, die zunächst als diese bestimmte Situation gar nicht aus der Welt zu schaffen ist, obwohl es klar angebbare Ursachen gibt, die diese Situation erst geschaffen haben. Ethik erwächst also aus einer Situation, in der bestimmte Erwartungen an das Verhalten kontrastieren mit den Einstellungen des Handelnden. Der holländische Pflegeethiker J.G. van der Arend nennt diese Erfahrungen daher zutreffend "Kontrasterfahrungen". Wie Milgram beschreibt, führt dieser Kontrast zu erheblichen intrapsychischen Spannungen und Stress. Viele Teilnehmer begannen zu zittern, zu schwitzen oder ängstlich-hysterisch zu lachen. Auch Pflegende machen immer wieder die Erfahrung, dass zwischen den an sie gestellten Erwartungen und ihren eigenen Vorstellungen eine Lücke klafft. Und solange Pflegende nicht aus ihrem Beruf aussteigen, den sie nun einmal unter den vorerst gegebenen Bedingungen ausüben müssen, müssen sie sich als Handelnde auch immer wieder zu diesem Kontrast verhalten und sich für oder gegen die eine Seite entscheiden. Diesen Bereich kann man daher wohl mit Recht als den Bereich der beruflichen Praxis ansehen, indem wir erwarten können, dass die Reflexion auf die ethischen Grundlagen des Handelns Orientierung bietet und das Verantwortungsgefühl des einzelnen stärkt. Pflegeethik Die beschriebene Erfahrung und die Reaktion darauf erfordern ein praktisches Wissen. In jede Entscheidung gehen Gründe ein, die gegenüber anderen vertreten werden können und müssen; wenn es diese Gründe nicht gibt, ist eine Handlung nicht gerechtfertigt und wir sehen uns als berechtigt, denjenigen, der ohne gute Gründe handelt, zu kritisieren. Der Ausdruck "praktische Wissen" soll daher beschreiben, dass jeder Handelnde beim Ausführen einer Handlung implizit eine Theorie, d.h. bestimmte Vorstellungen der Situation, der relevanten Muster des Handelns und dessen, was richtig und falsch ist, immer schon hat (im anderen Fall könnte sie oder er die Situation gar nicht verstehen). Aber dieses Wissen ist meist widersprüchlich, unausgesprochen und wenig kohärent. Deshalb haben sich Philosophen immer wieder darum bemüht, dieses implizite praktische Wissen in einer Theorie zu systematisieren und im Lichte begründeter und begründbarer Vorstellungen ("Prinzipien") zu begründen oder zu kritisieren. In gewisser Weise handelt es sich also um eine Theorie des praktischen Wissens, die für sich in Anspruch nimmt, die Fehler und Irrtümer dieses praktischen Wissens deutlich machen zu können.

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Lernzielkontrolle: Ethische Theorien Seite 50 1) Milgram Experiment: Das Experiment hat bei den Versuchsteilnehmern, die die Strafe verfügen mussten, einen Konflikt zwischen verschiedenen Werten ausgelöst. Welches sind die zwei sich im „Innern“ der Strafenden hauptsächlich widersprechenden Werte?

Inhalt der Lernzielkontrolle:

1 1 2) Bezeichnen Sie alle Aussagen und Begriffe zur deontologischen Ethik mit dem Buchstaben A und alle zur teleologischen Ethik mit dem Buchstaben B. Bitte schreiben Sie den richtigen Buchstaben in die Klammer ( ) . Pflichtenorientierte Ethik ( ), prinzipienorientierte Ethik ( ), utilitaristische Ethik ( ), kategorischer Imperativ ( ), konsequenzialistische Ethik ( ), folgenorientierte Ethik ( ), was wird gesollt? ( ), das Respektieren der Menschenwürde ( ). 4

Seiten: 22, 28, 35, 36, 38, 39, 40, 43, 45, 48

 Milgramexperiment  Ethische Theorien  Zusatzaufgabe zum Gefangenendilemma

3) Welche ethische Theorie beinhaltet das Maximierungsprinzip?

1 4) Erklären Sie das Maximierungsprinzip!

1 Zwischentotal

8

Inhaltsverzeichnis Milgram Experiment

50

Maximierungsprinzip

50

Utilitarismus, Kantianismus

51

Diskursethik, Vertragstheorie

51

Ideale Vertragstheorie

52

Tugendethik

52

Zusatzaufgabe:

53

Gefangenendilemma als Begründung der Moral

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Lernzielkontrolle: Ethische Theorien 

Seite 51 5) Kreuzen Sie die richtigen Aussagen zum „Kantianismus“ an.  Dieses Ethikkonzept hat als Grundlage den Glauben an Gott.  Dieses Ethikkonzept rückt die Vernunft und die Pflicht in den Vordergrund.  Der Kantianismus soll aus Zuneigung, Liebe, Freundschaft und Mitleid angewandt werden.  Der kategorische Imperativ Kants muss als praktisches Gesetz aufgefasst werden, das absolut von jedem Einzelnen einzuhalten ist.  Eine moralische Regel, die sich verallgemeinern lässt, ist ethisch.  Die Zweckformel besagt auf die kürzeste Weise ausgedrückt: Instrumentalisiere niemand! 3

6) Umschreiben Sie in einem Satz das Konsensprinzip: _____ ______1 7) Kreuzen Sie bitte die richtigen Antworten zur Diskursethik an!  Die Diskursethik weist sowohl folgenethische als auch prinzipienethische Elemente auf.  Die Diskursethik setzt mündige Gesprächspartner voraus, die sich wechselseitig anerkennen.  Die Diskursethik anerkennt moralische Dilemmata.  Die Grundlage der Diskursethik bilden die Menschenrechte.  Die Diskursethik hat nichts mit dem Kantianismus zu tun.  Entscheide in der Diskursethik werden mit Mehrheitsentscheid gefunden.  Die Diskursethik hat das Gemeinwohl im Auge.  Die Diskursethik fordert die Zustimmung aller Betroffenen zu einer Norm.  Die Grundlage der Diskursethik liefern die Menschenrechte.  Die Diskursethik will Konflikte in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft lösen.  Die Regeln des vernünftigen Argumentierens bilden die Basis des Diskurses.  Wichtig im Diskurs ist unter anderem, dass sich die Gesprächspartner wechselseitig als mündige Personen anerkennen. 6 8) Zu welchem ethischen Prinzip gehört der folgende Satz?

„[…] dass ich im Wissen des Nicht-Wissens für Vorsicht eintrete oder bestimmte Handlungen nicht ausführe.“ 1

9) Aus zwei Interpretationen von „vernünftig“ ergeben sich die zwei Vertragstheorien der Moral. Welche Interpretationen von „vernünftig“ führt zur realen, welche zur idealen Vertragstheorie? Reale Vertragstheorie: 1 Ideale Vertragstheorie:

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Lernzielkontrolle: Ethische Theorien 10) Erklären Sie bitte die sogenannte „Maximinregel“ (ideale Vertragstheorie)!

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1

11) „Im erfundenen Urzustand (hinter einem Schleier des Nichtwissens) verhalten sich Personen aus Eigeninteresse unparteilich.“ Bitte erklären Sie kurz weshalb!

1

12) Kreuzen Sie die richtigen Aussagen zur Tugendethik bitte an!  Tugend ist das Ideal der (Selbst-) Erziehung zu einer sittlich vorbildlichen Persönlichkeit.  In der Tugendethik geht es um die Gesinnung, die einer Handlung zugrunde liegt.  In der Tugendethik geht es um eine Beurteilung der Handlungsfolgen.  Die Tugendethik stellt fest, was eine Tugend und was ein moralisch guter Charakter ist.  In der Tugendethik geht es um die Bewertung der handelnden Person.  Tugenden sind erworbene Charaktereigenschaften.  Tugendhafte Menschen haben eine Veranlagung, das Richtige zu wählen.  Tugenden sind solche, die der Einzelne selbst entwickelt hat und die zu entwickeln, Hauptaufgabe jeder moralischen Erziehung ist.  Die enge Verbindung von gutem Leben und Tugend ist zwingendes Element einer tugendethischen Position.  Tugenden sind in der Pflege nicht relevant. 5

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Lernzielkontrolle: Ethische Theorien 

Seite 53 Zusatzaufgabe: Mit dieser Aufgaben können Sie zusätzliche 4 Punkte erwerben. Diese 4 Punkte können Fehler, die Ihnen allenfalls bislang passiert sind, ungeschehen machen. Sollten Sie bislang also 4 Punkte verloren haben, diese Aufgabe nun aber richtig lösen, erreichen Sie immer noch die volle Punktzahl!

13) Ethik muss ihren Ursprung nicht in Gott oder Gesetzen haben, sondern darin, dass moralisches

Verhalten vorteilhafter für die Gemeinschaft sein kann als Egoismus.

A) Erklären Sie diese Aussage am Beispiel des „Gefangenendilemmas“-Spiels, indem Sie die Funktion der roten und schwarzen Karten im Spiel mit der oben erwähnten Aussage verknüpfen.

1

B) Welche ethische Theorie lässt sich aus dem Spiel „Gefangenendilemma“ ableiten? 1

C) Zeigen Sie die vier wesentlichen Schritte des Gedankenganges auf, mit dem Thomas Hobbes seine ethische Theorie, die mit dem „Gefangenendilemma“ erklärt werden kann, begründet hat!

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Tagesanzeiger-Magazin, 33—2005 Text von Miklos Gimes

Zivilcourage: Bitte einmischen !

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Warum wehrt sich keiner, wenn auf dem Rütli Rechtsextreme pöbeln? Oder wenn Fussballfans „Scheiss-Jugos“ brüllen? Bitte mehr Zivilcourage! Nach einem Spiel des FC Zürich sass ich mit meiner kleinen Tochter im voll gedrängten Tram, Körper an Körper mit halbwüchsigen Fans, die «Scheiss-GC» und «Scheiss-Basel» sangen. Bei «Scheiss-Jugos» begann ich mich unwohl zu fühlen. Sollte ich den Winkelried spielen und mit der grölenden Übermacht zu diskutieren beginnen, die es darauf abgesehen hatte, scheissbürgerliche Erwachsene wie mich zu provozieren? Oder sollte ich die Provokation wortlos aussitzen? «Scheiss-Jugos rufen blöde Jungs, die zu viel Bier getrunken haben», sagte ich leise zur Kleinen. Ich schämte mich vor ihr, aber ich hatte nicht den Mut, die Fans zurechtzuweisen. Später habe ich bereut, dass ich nichts gesagt habe. Diese Geschichte kommt mir in den Sinn, als ich Regierungsrat Alois Christen anrufe, Militär- und Polizeidepartement des Kantons Schwyz. Der FDP-Politiker hatte im «Zischtigs-Club» bei SF DRS von seinen Erlebnissen auf dem Rütli berichtet, wo am 1. August ein paar Hundert junge Rechtsextreme den Bundespräsidenten beleidigt und klein gemacht hatten, während über Zweitausend Zuschauer und das Zentralschweizer Polizeikorps zuschauten. Ich fragte mich, was im Kopf der Festbesucher abgelaufen ist. Warum ist niemand aufgestanden und hat den Schreihälsen das Maul gestopft? Wie steht es mit der Zivilcourage in diesem Land? Regierungsrat Christen ist gelernter Maurer, ein breitschultriger Mann Mitte fünfzig. Er sagt von sich, er sei ein zupackender Typ. Ich frage ihn, warum sich niemand für Samuel Schmid gewehrt habe. Und dann erzählt Christen, wie er zum ersten Mal in seinem Leben diese Lähmung gespürt habe: «Ich war wie blockiert», sagt er, «als ob ich vom Ufer zugesehen hätte, wie jemand ertrinkt.» Böser Traum Anfänglich hätten die Festbesucher nach jedem Satz des Bundespräsidenten geklatscht, sagt Christen, doch dann sei es nach und nach stiller geworden, aus Angst wohl, die Gegenseite würde den Applaus für sich verbuchen. Resignation habe sich breit gemacht. Später seien Festgemeinde und Neonazis mit den selben Schiffen weggefahren, erzählte ein Journalist. «Aber die Leute gingen den Skinheads aus dem Weg, sie wollten den Anlass rasch hinter sich bringen.» Auch Alois Christen schaute, dass er mit dem ersten Schiff wegkam. «Ich war benommen, als wäre ich aus einem bösen Traum erwacht», sagt er, «während einer halben Stunde konnte ich mit niemandem reden.» Da habe er verstanden, was in Menschen vorgeht, die bei einem Verkehrsunfall am Strassenrand stehen, ohne etwas zu unternehmen. «Gopfertekel, wieso helfen die Leute nicht?», habe er früher jeweils gedacht. «Und jetzt hat es mich selber erwischt.» «Was Regierungsrat Christen beschreibt, ist eine Art Scheintod», sagt der renommierte Zürcher Psychiater Berthold Rothschild. «Man stellt sich tot, wenn einen ein Ereignis überfordert, das ist völlig normal. In der Schweiz ist es ausserdem nicht üblich, sich einzumischen, wenn jemand angegriffen wird, der nicht zur eigenen hierarchischen Stufe gehört.» Das sei das typisch schweizerische Abseitsstehen, nicht aus mangelnder Solidarität, sondern weil der Abstand nach oben zu gross ist: „Für einen Bundesrat wehrt man sich nicht“. 2001 wurde im Rahmen einer Kampagne gegen Gewalt ein erschreckendes Video mit versteckten Kameras auf dem Zürcher Paradeplatz gedreht. Man sieht, wie ein junger athletischer Typ einen älteren Herrn zusammenschlägt, während Passanten unbeteiligt zuschauen. «Der Täter ist ein Schauspieler. Das Opfer auch. Alle andern sind echt», stand auf der letzten Einstellung. Die Szene wurde mehrmals zu verschiedenen Tageszeiten wiederholt, aber nur einmal ist eine ältere Frau mit der Handtasche auf den Angreifer losgegangen, während sich eine andere über die Gleichgültigkeit der Passanten aufregte. Selbst als der Schläger ins Tram stieg und sein Opfer hilflos auf dem Boden lag, hat ihm niemand auf die Beine geholfen. «Den Zuschauern mangelt es nicht an Mitgefühl. Sie haben Angst», sagt der Zürcher Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Strassberg, «Angst, sich vor den anderen zu blamieren. Es geht immer um den Blick der anderen. Wer einem Schwachen hilft, der auf dem Boden liegt, zeigt, dass er sich mit ihm identifi-

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Zivilcourage: Bitte einmischen !

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ziert. Er fürchtet, in den Augen der anderen zum Schwachen zu werden, zum Verlierer.» Die beiden alten Frauen, die mutig eingeschritten sind, haben sich, laut Strassberg, «vielleicht schon abgefunden, Verlierer zu sein». Die Scham-Angst Grundsätzlich, sagt Daniel Strassberg, geht es bei der fehlenden Zivilcourage um eine Scham-Angst. Man will sich nicht exponieren. Man kennt das von Kindern, denen es peinlich ist, wenn sich Erwachsene nicht regelkonform verhalten. «Meine Kinder schämen sich, wenn ich im Restaurant reklamiere. Und wer hat nicht schon das peinliche Schweigen erlebt, wenn in einer grossen Gruppe eine Diskussion beginnen soll? Niemand getraut sich anzufangen, niemand will sich entblössen. Die Scham scheint eine anthropologische Konstante zu sein.» Die klassische Vorarbeit zur Erforschung der Zivilcourage leistete in den Sechzigerjahren der amerikanische Sozialpsychologe Stanley Milgram mit seinen Experimenten an der Universität Yale. Er war der Frage nachgegangen, warum sich so wenig Deutsche gegen den Nationalsozialismus aufgelehnt hatten. Milgram wies nach, dass Menschen bereit sind, andere zu foltern, um einen Auftrag pflichtgetreu zu erfüllen. Nur wenige Versuchspersonen hatten während des Experiments den Mut, sich zu weigern, ihren Mitmenschen Stromstösse zu verabreichen, weil sie nicht schnell genug eine Aufgabe lösten. Milgrams Experimente wurden damals kritisiert, unter anderem weil sie die Deutschen entlasteten und zeigten, dass fehlende Zivilcourage offenbar eine allgemein menschliche Eigenschaft ist. Anderseits scheint es tatsächlich «nationale Rahmenbedingungen» für Zivilcourage zu geben. Man weiss zum Beispiel, dass sich Dänen und Norweger geschlossener gegen die deutsche Besatzung gewehrt haben als andere Nationen. «Um Zivilcourage zu zeigen, muss man sich als Teil eines sozialen Zusammenhangs begreifen, als Teil einer Bewegung», sagt Strassberg. «Wenn ein Jude den Mut aufbringt, auf der Strasse einen Skinhead zu verprügeln, schafft er das, weil er sich vorstellt, für das gesamte Judentum zu kämpfen. Zivilcourage ist auch eine Frage der Fantasie.» Aber warum haben sich dann die Leute auf dem Rütli gegen die Neonazis nicht gewehrt? Auf dieser Wiese hatte General Guisan im Juli 1940 seine Offiziere versammelt, um sie gegen Hitler einzuschwören: Auch Alois Christen hatte das Gefühl, ein heiliger Ort werde entehrt. «Vielleicht fühlten sich die Festbesucher verunsichert, weil der Protest von Rechts ihren Patriotismus in Frage stellte», vermutet Strassberg, «wären die Schreihälse Linke gewesen, so wären sie sicher zusammengehauen worden. Doch die Leute hatten das Gefühl, die Dreinrufer seien die besseren Schweizer, was die Scham noch vergrössert hat.» Dann fügt Strassberg noch an: «Aber vielleicht hätte es nur einen gebraucht, der aufsteht, und die Stimmung hätte gekehrt.» So sah es auch der Kollege auf dem Rütli: «Die Neonazis hatten ihre Anführer, die Parolen vorgaben. Solche Leute fehlten auf der anderen Seite.» Kein Winkelried in Sicht. «Aber vergessen wir nicht hinter allem die urschweizerische Angst aufzufallen, sich aufzuspielen, sich einzumischen», sagt Strassberg zum Schluss. Ja, «mischt euch nicht in Fremde Händel», mit dem Satz ist die Schweiz bisher nicht schlecht gefahren. Wie lange noch?

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Die Welle

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Videofilm: "Die Welle" nach dem gleichnamigen Buch von M. Rhue. Auftragszeit: 75 Minuten (Filmdauer: 45 Minuten.) Ziel: Als Lernende(r) erfahren, mit welchen Mitteln gerade auch die Schule Faschismus ermöglichen kann. Symbole des Faschismus aufzeigen können. Spüren, dass andauernd waches und kritisches Denken sowie Selbständigkeit "Faschismus“ verhindern kann. Der Film beruht auf einer tatsächlichen Begebenheit an einer amerikanischen High School. Den Schülern einer Klasse bleibt es im Geschichtsunterricht unbegreiflich, wie in Deutschland zwischen 1933 und 1945 die nationalsozialistische Minderheit die Mehrheit der Bevölkerung so beeinflussen und beherrschen konnte, dass diese deren verbrecherische Politik ohne nennenswerten Widerstand hinnahm und zur willenlosen Gefolgschaft wurde. Der Geschichtslehrer Dr. Ross beginnt daraufhin mit der Klasse ein Experiment, das ihr den Vorgang veranschaulichen soll… Aufträge zum Videofilm, Rede und Feindbild: A) Ordnen Sie im Verlauf des Videos Robert (Symbolfigur für jene, die für den "Faschismus" anfälliger als andere sind) und Lauri (Symbol für Leute, die eher gegen den "Faschismus" gefeit sind) die folgenden Begriffe zu:

Einzelgänger, uninteressiert, klug, kritisch, überlegt, nachdenklich, tollpatschig, leichtgläubig, faul, manipulierbar, selbstbewusst, intelligent, eigenständig, psychisch nicht gefestigt, haltlos, folgsam, sensibel, problembeladen, gleichgültig, engagiert, keine eigene Meinung, selbstverantwortlich, nicht akzeptiert, unreif, Mitläufer/in, pflichterfüllend.... B) Ergänzen Sie Ihre Liste mit mindestens je 5 weiteren Begriffen, die Lauri und Robert zugeordnet werden können. C) Bereiten Sie dann die Rede zum freien Vortrag vor der Klasse vor. Es ist einzig eine Karteikarte mit Stichworten (keine ganzen Sätze!) als Hilfe für den Vortrag erlaubt. Die Rede halten Sie in Schriftsprache. D) Schliesslich nehmen Sie das "Feindbild". Versetzen Sie sich in Lauri und schreiben Sie in IchForm (aus der Sicht Lauris) auf einer halben A4-Seite auf, was Lauri durch den Kopf gegangen sein muss, als sie ihr Kästchen so verschmiert vorfand.

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Die Welle: Rede

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Seht ihr denn nicht, was aus euch geworden ist? Seht ihr nicht, in welche Richtung ihr treibt? Wie weit wärt ihr gegangen? Seht euch einmal eure Zukunft an. Ihr habt euch für etwas Besonderes gehalten! Ihr kamt euch besser vor als alle anderen außerhalb von dieser Aula. Ihr habt eure Freiheit gegen das verschachert, was man euch als Gleichheit vorgesetzt hat. Aber ihr habt die Gleichheit in Vorherrschaft über Nicht-Mitglieder verwandelt. Ihr habt den Willen der Gruppe über eure eigenen Überzeugungen gestellt, auch wenn ihr dadurch andere verletzen mußtet. Natürlich haben manche von euch geglaubt, sie könnten ja jederzeit wieder aussteigen. Aber hat es denn jemand wirklich versucht? Ja, ja, ihr wärt alle gute Nazis gewesen. Ihr hättet die Uniform angezogen, hättet euch den Kopf verdrehen lassen, und ihr hättet zugelassen, daß man eure Freunde und Nachbarn verfolgt und vernichtet. Ihr habt gesagt, so etwas könne nie wieder geschehen. Aber denkt doch einmal darüber nach, wie nahe ihr selbst schon diesem Zustand gekommen seid. Ihr habt diejenigen bedroht, die nicht zu euch gehören wollten. Ihr habt Nicht-Mitglieder daran gehindert, beim Football neben euch zu sitzen. Faschismus, das ist nicht etwas, das nur andere Menschen betrifft. Faschismus ist hier mitten unter uns und in jedem von uns. Ihr habt gefragt, warum das deutsche Volk nichts getan habe, als Millionen unschuldiger Menschen ermordet wurden. Wie hätten sie behaupten können, wolltet ihr wissen, sie hätten von alledem nichts gewußt? Ihr wolltet wissen, was ein Volk dazu bringen kann, seine eigene Geschichte zu verleugnen. Wenn die Geschichte sich wiederholt, dann werdet ihr alle bestreiten wollen, was sich durch die Welle in euch abgespielt hat. Aber wenn unser Experiment erfolgreich war, und das hoffe ich, dann werdet ihr gelernt haben, daß wir alle für unsere eigenen Taten verantwortlich sind und daß ihr immer fragen müßt, was besser ist, als einem Führer blind zu folgen. Für den Rest eures Lebens werdet ihr niemals mehr zulassen, daß der Wille einer Gruppe die Oberhand über eure Rechte als Einzelmenschen gewinnt. Und jetzt hört mir bitte zu. Ich muß mich bei euch entschuldigen. Ich weiß, daß es schmerzlich für euch ist, aber in gewisser Hinsicht könnte man sagen, daß keiner von euch wirklich schuldig ist, denn ich habe euch zu alledem gebracht. Ich habe gehofft, die Welle würde zu einer großen Lektion für euch, und vielleicht ist mir das nur zu gut gelungen. Ich bin sicher viel mehr zum Führer geworden, als ich es wollte. Hoffentlich glaubt ihr mir, wenn ich sage, daß es auch für mich eine schmerzliche Lektion war. Ich kann nur noch hinzufügen, daß wir hoffentlich alle diese Lektion für den Rest unseres Lebens beherzigen werden. Wenn wir klug sind, dann werden wir nicht wagen, sie zu vergessen.

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Wottreng S.: Handbuch Handlungskompetenz, Sauerländer, Aarau, 1999

Dilemmadiskussion (Werte hinter Argumenten erkennen)

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Aufgabe: Lesen Sie bitte den untenstehenden Text und lösen Sie anschliessend die nachfolgenden Fragen mit Ihrem Banknachbarn.

Zeit: 45 Minuten

Lesetext: Herr Müller ist technischer Leiter der Hightec AG, die sich auf die Projektierung von Anlagen zur Herstellung von chemischen Produkten spezialisiert hat. Momentan ist er gerade mit der Erstellung der Unterlagen für ein Projekt in Fernland beschäftigt. Es geht um den Bau eines Chemiewerkes zur Herstellung von Insektiziden. Fernland, eine Militärdiktatur, ist schon seit längerer Zeit in den Schlagzeilen, da es Verbindungen zum internationalen Terrorismus zu haben scheint und gravierende Menschenrechtsverletzungen festgestellt wurden. Aufständische religiöse Minderheiten im eigenen Land werden mit oft menschenverachtenden Methoden unterdrückt. Es ist auch bekannt, dass Fernland religiösfundamentalistische Oppositionsbewegungen in Nachbarländern finanziell unterstützt und deren radikale Anhänger militärisch ausbildet und ausrüstet. Herr Müller geht mit gemischten Gefühlen an seine Arbeit. Er kommt gerade von einer Besprechung in Fernland zurück. Er hat dort einen ersten Entwurf präsentiert und die Kunden auf die Rechtslage in der Schweiz aufmerksam gemacht: Es gibt gewisse Güter, die in ein Land wie Fernland nur mit einer Ausfuhrgenehmigung des Bundes exportiert werden dürfen. In der von Herr Müller konzipierten Anlage sind Komponenten enthalten, die unter diese Regelung fallen. Zur Herstellung von Insektiziden wird die Ausfuhrgenehmigung in der Regel erteilt. Trotzdem hatten seine Gesprächspartner auf den Hinweis ungehalten reagiert. Er soll jetzt in einem zweiten Entwurf diese Komponenten durch möglichst ähnliche ersetzen, die keine Ausfuhrgenehmigung benötigen. Auch sein Vorschlag, die Hightec AG mit der Überwachung der Installation und der Endabnahme der Anlage zu betrauen, wurde von seinen Gesprächspartnern abgelehnt. Die Kunden in Fernland haben also offensichtlich etwas zu verbergen, und Herr Müller ist ziemlich sicher, dass an dem Geschäft etwas faul ist. Er vermutet, dass die von ihm entworfene Anlage zur Produktion von Giftgas für chemische Waffen vorgesehen ist. Einmal abgesehen von den schrecklichen Folgen für die Betroffenen sind chemische Waffen laut Genfer Konvention verboten, und Herr Müller möchte nicht zu deren Verbreitung beitragen. Er bittet den Geschäftsführer, Herrn Häfliger, um eine Unterredung. Herr Häfliger, gleichzeitig auch der Inhaber der Firma, hört den Ausführungen von Herrn Müller geduldig zu. Er fühlt sich unbehaglich. Einerseits möchte er nicht in eine internationale Affäre hineingezogen werden, auf der anderen Seite wäre dieser Auftrag ein Lichtblick, denn der Hightec AG geht es nicht gut. Sie schreibt schon seit drei Jahren rote Zahlen, und wenn es dieses Jahr nicht gelingt, die Firma aus der Verlustzone zu führen, werden ihn Liquiditätsengpässe wohl noch vor Ende Jahr zum Konkurs zwingen. Das möchte Herr Häfliger möglichst vermeiden, denn er hat die Firma in 20 Jahren mit vielen persönlichen Opfern aufgebaut und einen grossen Teil seines Privatkapitals darin investiert. Er macht Herrn Müller auf die Lage des Unternehmens aufmerksam und stellt klar, dass nicht nur seine eigene Existenz, sondern auch die Arbeitsplätze von 50 hochqualifizierten Ingenieuren und Facharbeitern gefährdet sind. Herr Müller wolle doch sicher nicht die Verantwortung für alle diese Entlassungen übernehmen. Einmal abgesehen vom schönen Haus, das er, Herr Müller, sich nur dank eines günstigen Kredits seines Arbeitgebers habe leisten können, wisse er ja, wie schwierig es für einen 52jährigen heutzutage sei, eine neue Stelle zu finden.

1. Schritt: Sachlage und Gefühlslage 1. Wo liegt hier das Problem? Beschreiben Sie dieses aus Sicht von Herrn Müller und auch aus Sicht von Herrn Häfliger. 2. Was hätte der Export der Anlage insgesamt für Vor- und Nachteile? Halbieren Sie ein leeres A4-Blatt längs und erstellen Sie eine Liste mit Argumenten für den Export und gegen den Export. 3. Notieren Sie hinter jedem Pro- und Contra-Argument den ihm zugrunde liegenden Wert!

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Wottreng S.: Handbuch Handlungskompetenz, Sauerländer, Aarau, 1999

Lösungweg zur ethischen Auflösung eines Dilemmas

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Es zeigt sich, dass alle Entscheidungsmöglichkeiten gravierende Nachteile haben und somit nur das kleinere Übel gewählt werden kann. Es liegt eine typische Dilemmasituation vor.

In der Alltagssprache bezeichnet ein Dilemma (griechisch: zweigliedrige Annahme) eine schwierige oder ausweglose Situation, in der man sich befindet. Es gibt zwei Wahlmöglichkeiten, von denen eine ergriffen werden muss, beide aber zu einem unerwünschten Resultat führen.

Wer sich in einem Dilemma befindet, muss einen Entscheid fällen: Entweder so, oder anders. Wichtig dabei ist, dass diese Entscheidung begründet werden kann. Wie aber kommen wir zu einer solchen Begründung? Studieren Sie die folgende Vorgehensweise.

(Diese Situation ist ein Dilemma!)

Sachlage, Gefühlslage

1. Schritt sehen – Konflikt erkennen

(Diese Werte stehen miteinander im Konflikt!)

Werteanalyse

2. Schritt Werte bestimmen (Argumente suchen mit Werten, die ihnen zugrunde liegen)

(Ich entscheide mich für den Wert..., weil... !) 3. Schritt Werte abwägen - Urteil fällen (begründen mit Prinzipien, goldener Regel, Menschenwürde, Verallgemeinerung)

Entscheidung

4. Schritt Handeln und handeln überprüfen (kritischer Rückblick, Reflexion)

(Ich handle so, dass der Wert aus Schritt 3 nicht verletzt wird.)

Reflexion

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Wottreng S.: Handbuch Handlungskompetenz, Sauerländer, Aarau, 1999

Werteanalyse PRO - Ja - Argumente

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Wert

CONTRA - Nein -

1. Herr Müller, die Hightec AG und auch die Schweiz sind nur für sich selbst verantwortlich und müssen in erster Linie ihre eigenen Probleme lösen.

9. Es ist wichtiger, dass man sein eigenes gutes Gewissen behalten kann, als seiner Familie einen guten Lebensstandard zu sichern oder auf die Wirtschaft der Region Rücksicht zu nehmen.

2. Was die Leute in Fernland machen, geht uns nichts an, wir leben schliesslich nicht dort.

10. Wenn alle Länder wie Fernland die Möglichkeit haben, C-Waffen zu produzieren, so kann das auch für uns gefährlich werden. Wir wären deshalb dumm, denen auch noch zu helfen.

3. Wenn Herr Müller nicht mitmacht, verliert er seine Stelle, muss sein Haus verkaufen und wird grosse Mühe haben, wieder eine neue Stelle zu finden.

11. Die Welt wird in Zukunft so aussehen, wie wir sie heute schaffen. Exportieren wir schädliche Produkte und zerstören wir Gesellschaften und Umwelt, so werden wir in Zukunft mit den Folgen konfrontiert.

4. Wenn die Hightec AG die Anlage nicht liefert, dann wird Fernland einen anderen Lieferanten finden. Herr Müller kann nicht verhindern, dass Fernland eine Fabrik für CWaffen baut.

12. C-Waffen sind gemäss GenferKonvention verboten. Man muss deshalb ein Land daran hindern, sie dennoch herzustellen.

5. Solange der Staat solche Geschäfte nicht verbietet, sind sie nicht illegal und können somit ohne weiteres getätigt werden.

13. Es kommt nicht darauf an, was die anderen tun, sondern was man selbst verantworten kann.

6. Wenn die Hightec AG Konkurs macht, dann gehen in der Region 50 Arbeitsplätze verloren, die nicht ohne weiteres ersetzt werden können.

14. Der Einsatz von C-Waffen hat für die Betroffenen schreckliche Folgen. Einem Land die Herstellung dieser Waffen zu ermöglichen, ist deshalb ein Verbrechen gegen die Menschheit.

7. Einem anderen Land vorzuschreiben, was es bei uns kaufen darf und was nicht, ist eine entwürdigende Bevormundung.

15. Reichtum, der auf dem (potentiellen) Leiden anderer beruht, ist unbefriedigend und unmoralisch. Lieber ärmer bleiben und dabei ein gutes Gefühl haben.

8. Es ist nicht ganz sicher, dass Fernland mit der Anlage wirklich Giftgas herstellen will. Wenn wir Geschäfte bloss auf Verdacht hin ablehnen, verletzen wir die Würde unseres Handelspartners, der sich nicht ernstgenommen fühlt. Diese beiden Werte widersprechen sich und lösen das Dilemma aus:

Wert

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Wottreng S.: Handbuch Handlungskompetenz, Sauerländer, Aarau, 1999

Werteanalyse: Argumente/Gegenargumente mit Werten

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2. Schritt (Werteanalyse) Die folgenden Argumente sprechen für den Export 1. Herr Müller, die Hightec AG und auch die Schweiz sind nur für sich selbst verantwortlich und müssen in erster Linie ihre eigenen Probleme lösen.

Werte: Materielle Selbstverantwortung, Selbstbehauptung 2. Was die Leute in Fernland machen, geht uns nichts an, wir leben schliesslich nicht dort.

Wert: Nichteinmischung 3. Wenn Herr Müller nicht mitmacht, verliert er seine Stelle, muss sein Haus verkaufen und wird grosse Mühe haben, wieder eine neue Stelle zu finden.

Wert: Materielle Existenzsicherung 4. Wenn die Hightec AG die Anlage nicht liefert, dann wird Fernland einen anderen Lieferanten finden. Herr Müller kann nicht verhindern, dass Fernland eine Fabrik für C-Waffen baut. Aussage eines Vertreters des Unternehmerverbandes: «Wenn wir das Geschäft nicht machen, dann macht es die Konkurrenz. So schaden wir nur uns selbst und machen uns lächerlich.»

Wert: Wirtschaftlicher Erfolg 5. Solange der Staat solche Geschäfte nicht verbietet, sind sie nicht illegal und können somit ohne weiteres getätigt werden.

Wert: Gesetze einhalten (Legalität) 6. Wenn die Hightec AG Konkurs macht, dann gehen in der Region 50 Arbeitsplätze verloren, die nicht ohne weiteres ersetzt werden können.

Wert: Soziale Verantwortung 7. Einem anderen Land vorzuschreiben, was es bei uns kaufen darf und was nicht, ist eine entwürdigende Bevormundung.

Wert: Respekt vor der Autonomie anderer Länder 8. Es ist nicht ganz sicher, dass Fernland mit der Anlage wirklich Giftgas herstellen will. Wenn wir Geschäfte bloss auf Verdacht hin ablehnen, verletzen wir die Würde unseres Handelspartners, der sich nicht ernstgenommen fühlt.

Wert: Respekt gegenüber dem Geschäftspartner

Die folgenden Argumente sprechen gegen den Export 9. Es ist wichtiger, dass man sein eigenes gutes Gewissen behalten kann, als seiner Familie einen guten Lebensstandard zu sichern oder auf die Wirtschaft der Region Rücksicht zu nehmen.

Wert: Selbstachtung 10. Wenn alle Länder wie Fernland die Möglichkeit haben, C-Waffen zu produzieren, so kann das auch für uns gefährlich werden. Wir wären deshalb dumm, denen auch noch zu helfen.

Wert:Vernunft

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Wottreng S.: Handbuch Handlungskompetenz, Sauerländer, Aarau, 1999

Ethischer Grundsatzentscheid

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11. Die Welt wird in Zukunft so aussehen, wie wir sie heute schaffen. Exportieren wir schädliche Produkte und zerstören wir Gesellschaften und Umwelt, so werden wir in Zukunft mit den Folgen konfrontiert.

Wert: Zukunftsverantwortung 12. C-Waffen sind gemäss Genfer-Konvention verboten. Man muss deshalb ein Land daran hindern, sie dennoch herzustellen.

Wert: Gesetze einhalten (Legalität) 13. Es kommt nicht darauf an, was die anderen tun, sondern was man selbst verantworten kann.

Wert: Verantwortliches Handeln nach moralischen Prinzipien 14. Der Einsatz von C-Waffen hat für die Betroffenen schreckliche Folgen. Einem Land die Herstellung dieser Waffen zu ermöglichen, ist deshalb ein Verbrechen gegen die Menschheit.

Werte: Humanitäre Grundwerte, Menschlichkeit, Mitgefühl 15. Reichtum, der auf dem (potentiellen) Leiden anderer beruht, ist unbefriedigend und unmoralisch. Lieber ärmer bleiben und dabei ein gutes Gefühl haben.

Werte: Selbstachtung, Vorrang ethischer Werte vor materiellen Interessen Nun wird noch geklärt, welche Werte miteinander in Konflikt stehen. Grob gesagt, stehen sich “Existenzsicherung”, “materieller Wohlstand” und “Respekt vor den Entscheiden anderer” auf der einen und “Verantwortungsgefühl” sowie “Mitgefühl” auf der anderen Seite gegenüber.

3. Schritt (Entscheidung) Wie kommt man jetzt zu einem ethisch fundierten Grundsatzentscheid? Um zu einem ethisch fundierten Grundsatzentscheid zu kommen, muss beurteilt werden, inwiefern ein Export der Anlage ethische Prinzipien (werden später erklärt), die goldene Regel, die Menschenwürde, die Sicherstellung eines guten Lebens für alle Menschen, den Schutz der Natur und den Schutz des Lebens unserer Nachkommen verletzt. Als Orientierungshilfe beim Grundsatzentscheid sind letztlich zwei Fragen zentral : 1. Ist die Menschenwürde bzw. sind von der Menschenwürde abgeleitete menschliche Grundrechte bedroht, wie etwa das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit (z.B. Berufswahl, Arbeitsplatzwahl, Meinungsäusserungsfreiheit) etc.? Wenn ja, muss ein Ausweg aus dieser Situation gefunden werden. 2. Sind bessere Lösungen denkbar, die sowohl den eigenen als auch den berechtigten Interessen anderer sowie der Natur auch langfristig Rechnung tragen? Wenn ja, sind solche zu suchen! Wie ist aufgrund dieser Fragen der vorliegende Fall zu beurteilen? Der Einsatz von C-Waffen ist mit der Achtung vor den Mitmenschen und deren Würde nicht zu vereinbaren. Falls man also davon ausgehen muss, dass mit der Anlage Giftgas hergestellt und dieses in Konfliktsituationen auch tatsächlich eingesetzt wird, sind menschliche Grundrechte akut bedroht. Vom ethischen Standpunkt aus ist deshalb der Export der Anlage klar abzulehnen.

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Entscheiden heisst Handlungsalternativen prüfen

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Das gilt auch dann, wenn dieser Entscheid mit wirtschaftlichen Nachteilen für die Betroffenen verbunden ist, denn menschliche Grundrechte lassen sich aus ethischer Sicht

nicht gegen wirtschaft-

liche oder politische Vorteile aufrechnen. (Die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft.) Sollte Herr Müller zum Schluss kommen, dass er das Geschäft mit Fernland aus Gewissensgründen nicht mittragen kann, so hat er grundsätzlich die folgenden Möglichkeiten der Bewältigung des Problems: A) Bedingungen stellen. Herr Müller könnte versuchen, Bedingungen zu stellen. Er könnte z.B. versuchen, von diesem Auftrag freigestellt zu werden.

Vorteil:

Er wäre nicht mehr direkt betroffen. Er könnte seinen Lebensstandard halten, ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen.

Nachteil:

Er profitiert indirekt immer noch von dem Geschäft und würde sich weiterhin mitschuldig fühlen, wenn etwas passiert. B) Nicht mitmachen. Herr Müller könnte eine neue Stelle suchen und dann bei der Hightec AG kündigen.

Vorteil:

Herr Müller hat seine Möglichkeiten, das Geschäft zu verhindern, mit den Diskussionen in Fremdland und mit dem Gespräch mit Herrn Häfliger fast ausgeschöpft.

Nachteile:

Einmal abgesehen davon, dass Herr Müller mit seinen 52 Jahren vermutlich grosse Probleme hätte, Oberhaupt eine neue Stelle zu finden, würde er möglicherweise nicht mehr so gut verdienen und müsste vermutlich sein Haus verkaufen. Seine Frau und die drei in Ausbildung stehenden Kinder wären davon kaum begeistert. Er müsste sich und seiner Familie materielle Opfer zumuten, um seine moralische Verantwortung wahrzunehmen. Die Anlage würde aber auch ohne ihn gebaut. C) Öffentlich Alarm schlagen. Herr Müller könnte mit dem Problem an die Öffentlichkeit treten, indem er z.B. eine Zeitung oder Amnesty International informiert oder gar selbst eine Pressekonferenz einberuft.

Vorteile:

Herr Müller schöpft seine persönlichen Möglichkeiten, das Geschäft zu verhindern, voll aus. Er nimmt damit seine moralische Verantwortung so weit wie nur möglich wahr.

Nachteile:

Die Hightec AG würde stark in Misskredit geraten und wäre möglicherweise zum Konkurs gezwungen, was 50 Arbeitsplätze kosten würde. Auch in diesem Fall würde die Anlage trotzdem gebaut. Zudem würde Herr Müller mit grosser Wahrscheinlichkeit fristlos entlassen und hätte dann grosse Mühe, eine andere Stelle zu finden.

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Reflexion-

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4. Schritt: Handeln und kritischer Rückblick (Reflexion) Der kritische Rückblick auf früher getroffene Entscheide soll helfen, die aktuellen Entscheide zu verbessern. Der Fortgang der Geschichte könnte folgendermassen aussehen: Herr Müller macht schliesslich bei der Projektierung der Anlage mit, und das Projekt wird ein geschäftlicher Erfolg. Drei Jahre später kommt Fernland in die Schlagzeilen, weil es einen Giftgaseinsatz gegen einige Dörfer einer religiösen Minderheit geführt hat. Eine Untersuchung der UNO ergibt, dass das Giftgas u.a. in der von der Hightec AG gebauten Anlage hergestellt wurde. Gegen die Hightec AG wird ein Verfahren eingeleitet, das jedoch eingestellt wird, da Herr Häfliger glaubhaft nachweisen kann, dass die Anlage nur für die Herstellung von Insektiziden ausgelegt war und die Hightec AG nicht hat wissen können, wie die Anlage später wirklich eingesetzt wird. Herr Müller ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Untersuchung wegen eines Nervenzusammenbruchs gerade in Kur. Er ist gesundheitlich so angeschlagen, dass er nur noch teilzeitlich arbeiten kann. Vgl. P. Ulrich (Hrsg.), M. Bücher, K. Matthiesen, Ch. Sarasin, Ethik in Wirtschaft und Gesellschaft, ISBN 3-7941-3927-5

Folgen eines Giftgasangriffes auf die Zivilbevölkerung im Irak

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Psychologie heute, März 2004 Seite: 48

Ein Selbsttest in Empathie (1.Schritt-Gefühlslage)

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Weitere Übung: Perspektivenwechsel - Schritt-voran-Spiel (1. Schritt - Gefühlslage)

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Ein Selbsttest in Empathie 2

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„Kratz mir den Rücken, dann kratz ich deinen.“

Tauschmoral: „Wie du mir, so ich dir.“

Das Motiv, Vorteile und Belohnungen zu erlangen, auch wenn dabei gelegentlich Nachteil in Kauf genommen werden müssen.

(Goldene Regel)

„Was du nicht willst, was man dir tut, das füg auch keinem andern zu.“

„Mein grosser Bruder wird mir beistehen.“

Das Motiv, Missbilligungen durch andere zu vermeiden bzw. ihre Anerkennung zu erreichen.

„Ich bin im Recht.“

„Jeder ist vor dem Gesetz gleich.“

In diese Moralstufe übernimmt „man“ den Standpunkt des Systems.

Das Motiv, die Gesetze und die Ordnung der Gesellschaft zu achten und zu ihrer Aufrechterhaltung beizutragen.

Bezugsg: Konkrete Freunde bzw. Gesellschaft

„Das wäre die gerechteste Lösung für alle Beteiligten.“

Das Motiv, die Würde jedes einzelnen Menschen zu achten und sein Handeln an den universellen Prinzipien der Gerechtigkeit, Vernunft und Logik zu messen.

(Gewissen)

Stufenschnitt von 3,5.) schaft: für die gesamte (Schweizerdurchschnitt Gesellschaft: Stufenschnitt von 3,5.)

Jahren 20 20 undund 16 16 zwischen Jugendlicher *= Anteil zwischen Jugendlicher *= Anteil Jahren (Schweizerdurchschnitt für die gesamte Gesell-

Das Motiv, die Regeln freier, demokratischer Willensbildung (Mehrheitsprinzip etc.) zu beachten und die auf ihnen gründenden Verträge einzuhalten. Pflicht definiert als Vertrag zum Schutz der Rechte aller Menschen.

Sozialvertrag

Prinzipienmoral

Bezugsgruppe: Die ideale Gesellschaft

Dilemmadiskussion: Moralische Stufe von Argumenten

.Stufenmodell des moralischen Bewusstseins (n. Piaget, Kohlberg, Oser. Skizze: P. Spescha)

Eigennütziger Respekt vor überlegener Macht oder Prestigestellung bzw. Vermeidung von Schwierigkeiten. Orientierung an Bestrafung und Gehorsam unter dem Aspekt körperlicher Konsequenzen (z.B. Körper-

Das Motiv, eigene körperliche Schäden und Verletzungen (Strafe) zu vermeiden.

Bezugsgruppe: Konkrete Andere (Ich und Du)

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

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R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Kohlbergs Stufen der moralischen Entwicklung: Typische Argumentationsmuster

Seite 68 Stufe 1 Ich habe Lust, das zu tun, also darf ich es auch machen. Wenn man nicht erwischt wird, darf man es auch tun. Ich habe mich falsch verhalten, denn ich bin sehr hart bestraft woden. Ich sollte das nicht tun, denn sonst wird meine Mutter/mein Vater traurig und dann fühle ich mich nicht wohl. Das ist richtig und gut so, denn meine Eltern (mein großer Bruder/mein Freund/meine nette Lehrerin) sehen das so. Wenn eine Sache nicht so wertvoll ist, dann ist Klauen auch nicht so schlimm. Man sollte ihn hart bestrafen, denn er hat etwas Verbotenes getan. Stufe 2 Jeder sollte sich um die eigenen Angelegenheiten kümmern. Wenn ich was davon habe, kann ich es auch tun. Es ist mir egal, was meine Eltern dazu sagen; Hauptsache, ich werde nicht erwischt. Es ist wichtig für sie, dann darf sie es auch machen. Ich muss das nur machen, wenn er auch das Gleiche für mich machen würde. Bekomme ich genauso viel wie sie? Wenn ich das nicht mache, dann macht es ein anderer, und dann hat der den Nutzen. Lügen hat sich hier gelohnt, denn ich habe doch machen können, wozu ich Lust hatte. Ich habe etwas davon und meine Freundin auch; dann ist es in Ordnung. Ich muss meinen Eltern helfen, weil sie auch viel für mich tun. Wenn das jemand mit mir machen würde, fände ich das ja auch nicht gut. Das ist unfair, weil es auf Kosten von dem anderen geht. Stufe 3 Was denken die anderen darüber? Wenn ich das mache, dient es meiner Clique. Man muss auch sehen, aus welchen Motiven jemand gehandelt hat. Wenn er es gut gemeint hat, darf man ihn nicht tadeln. Man tut das nicht! Es ist nur natürlich, so zu handeln. Das machen doch alle so; alle erwarten das von mir. Es ist egoistisch, nur an sich zu denken. Wenn du das machst, fühlt sich der andere unwohl, deshalb wäre es falsch, so zu handeln. Wenn ich das tue, werde ich besser angesehen. Stufe 4 Wenn das alle täten, würde unser Gemeinwesen nicht mehr funktionieren. Das ist illegal, dann darf man es auch nicht machen. Diese Entscheidung überlasse ich den Gerichten. Wenn der Gesetzgeber das so entschieden hat, dann ist das auch richtig so. Man hat schließlich eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Du darfst nicht nur an dich oder eure Gruppeninteressen denken. Wenn ich das tun würde, würde ich Recht und Ordnung untergraben. Ich habe diese Pflicht übernommen, dann muss ich sie auch so gut wie möglich erfüllen. Stufe 5/6 Schützt diese Regelung auch die Rechte dieses einzelnen? Dieses legale Verfahren missachtet in diesem Fall ein Menschenrecht; Rechtsbruch ist hier legitim und geboten. Was "normal" ist, ist damit noch lange nicht richtig. Dem könnten nicht alle zustimmen. Der Zweck heiligt nicht die Mittel; individuelle Ansprüche und Interessen müssen mit dem Interesse aller ( dem größten Wohl aller) vereinbart werden - und umgekehrt. Könnte mein Handeln verallgemeinert werden? Wäre es vertretbar, wenn in diesem Fall alle so handeln würden? Meine Überzeugungen, die sowohl religiös wie auch auf Vernunft begründet sind, gebieten mir hier, so zu handeln, auch wenn die gesetzlichen Regelungen dem entgegenstehen. Es ist nicht akzeptierbar, wenn Menschen zu Mitteln zum Zweck missbraucht werden.

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Kohlbergs Stufen der moralischen Entwicklung: Heinz Dilemma

Seite 69 In einer fernen Stadt liegt eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt ist, im Sterben. Es gibt eine Medizin, von der die Ärzte glauben, sie könne die Frau retten. Es handelt sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hat. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangt zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hat. Er hat 2000 Franken für das Radium bezahlt und verlangt 20'000 Franken für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, sucht alle seine Bekannten auf, um sich Geld auszuleihen, und er bemüht sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekommt nur 10'000

Quelle der Bilder: Gruppe Strategie AB, spirale 1/01, Reflexionen zum RLP Ethik

Franken zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählt dem Apotheker, dass

seine Frau im Sterben liegt, und bittet, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagt: «Nein, ich habe das Mittel entdeckt und ich will damit viel Geld verdienen.» Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll. Aus: Oser/Althof, Moralische Selbstbestimmung, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 171 f.

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: J. Hayward, G. Jones, M. Mason: Ethik entdecken—verstehen– anwenden; Auer Verlag GmbH, Donauwörth, 2003. S: 63ff

Übungen zu moralischen Dilemmata

Seite 70

Gib für jeden unten aufgeführten Fall Gründe für deine Meinung an und versuche alle Auswirkungen deiner Entscheidung zu bedenken. Falls deine Antworten zu einem „Es hängt davon ab" tendieren, diskutiere, wovon sie abhängen und warum. (1) Du bist Arzt/Ärztin in einem Krankenhaus. Eines Tages kommt ein junger, gesunder Mann zu dir und erzählt, dass mehrere Angehörige seiner Familie in Lebensgefahr schweben, weil sie Organtransplantationen benötigen. Einer braucht ein Herz, ein anderer eine Lunge, zwei brauchen Nieren und ein weiterer eine Leber. Der Mann möchte, dass du ihm eine schmerzlose, aber tödliche Injektion verabreichst, seine Organe entnimmst und verwendest, um seine Verwandten zu retten. Falls du das nicht tust, ginge er zu einem nicht zugelassenen Arzt, der zugestimmt hat, für einen geringen Preis diese Operationen durchzuführen. Sollst du diesem jungen Menschen erlauben, sein Leben zu opfern, um seine Familie zu retten?

(2) Auf seinem Sterbebett bittet dich dein Vater zu versprechen, dass du nach seinem Tod seine Asche auf dem „heiligen Rasen" von Schalke 04 zerstreuen wirst, wenn er gestorben ist. Er war lebenslang ein Fan,- du weißt, wie viel es ihm bedeutet, sodass du es ihm versprichst. Er stirbt als glücklicher Mann und hinterlässt dir in seinem Testament 10 000 Euro. Du holst Erkundigungen auf Schalke ein, und der Verein stimmt zu, dich den Wunsch Deines Vaters ausführen zu lassen -doch der Verein verlangt für diese Erlaubnis 10 000 Euro. Hältst du dein Versprechen? (3) Ein leerer Zug nähert sich rasend einer Abzweigung. Du stehst an der Weiche. Wenn du nichts tust, wird der Zug geradeaus weiterfahren und ein Baby überfahren, das auf die Schienen gekrabbelt ist. Wenn du die Weiche umstellst, wird der Zug zwar umgeleitet, aber einen betrunkenen alten Landstreicher überfahren, der auf der Strecke liegt. Leitest du den Zug um?

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Übungen zu Moralischen Dilemmata

Seite 71

(4) Du befindest dich auf einer Geschäftsreise im Ausland. Als Teil deines Reiseprogramms führen dich deine Gastgeber durch ein lokales Gefängnis. Du bist schockiert mitzubekommen, dass die Wärter gerade dabei sind, sechs politische Gefangene hinzurichten. Der Gefängnisdirektor erklärt, da heute ein Fest sei, hättest du die Gelegenheit, das Leben von fünf der Inhaftierten zu retten: Als Geste des guten Willens gegenüber dir als wichtigem Gast würde er fünf der Gefangenen verschonen, wenn du einen der Gefangenen erschießt. Bist du bereit, einen der Gefangenen eigenhändig zu töten? (5) Du nimmst den Telefonhörer ab, um einen Anruf zu tätigen, hast aber plötzlich ein anderes Gespräch in der Leitung. Du hörst ein Gespräch zwischen zwei Mitarbeitern einer Wohlfahrtsorganisation mit. Aus ihrem Gespräch schließt du, dass sie sich entschieden haben, in einer letzten Verzweiflungstat das Gesetz zu brechen, um Geldmittel für verarmte Menschen aufzutreiben. Sie planen einen bewaffneten Raubüberfall auf eine große Bank und wollen das Bargeld anonym zur Linderung der Not an die Betroffenen verteilen. Rufst du die Polizei an?

(6) Dein Nachbar gewinnt einen lebenslangen Vorrat deines Lieblingsbieres (etwa 10 000 Dosen) beim Preisausschreiben eines Kreuzworträtsels. Da er Anti-Alkoholiker ist, benutzt er das Bier, um seinen Garten zu „wässern" (10 Dosen am Tag): Er ist überzeugt, dass es seinen Pflanzen gut tun wird. Du weißt, dass das völliger Unsinn ist und es in Wirklichkeit den Pflanzen eher schaden wird. Eines Tages schaut er vorbei und erzählt, dass er für zwei Monate in den Urlaub fährt. Er fragt, ob du in dieser Zeit seine Pflanzen mit den 600 Dosen Bier gießen würdest, die er dir dalassen will. Du versprichst glaubwürdig, es zu tun, doch was machst du wirklich, wenn er aufbricht? Hältst du dein Versprechen?

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Übungen zu Moralischen Dilemmata

Seite 72

(7) Ein Irrer hat eine Gruppe von Menschen gekidnappt - darunter auch dich - und euch in eine große, nicht mehr genutzte Scheune verschleppt. Entlang einer Wand der Scheune stehen Kisten mit Sprengstoff. Du bist ein weltberühmter Tennis-Spieler. Der Kidnapper fesselt eines deiner Beine an einen Pfosten vor dem Sprengstoff. Zu deiner Rechten bindet er eine Gruppe von vier beliebten Komikern an. Zu deiner Linken fesselt er vier Frauen, die sich in verschiedenen Schwangerschaftsphasen befinden. Dir direkt gegenüber kettet er vier der weltweit führenden Aids- und Krebsforscher an. Jeder ist geknebelt. Vor dir steht eine automatische Ballwurfmaschine. Bevor er geht, gibt der Kidnapper dir einen Tennisschläger und sagt: „In einer halben Stunde wird die Ballwurfmaschine einen Ball heraus befördern: Der Ball enthält eine Granate! Wenn du den Ball nicht wegschlägst, wird er den Sprengstoff hinter dir treffen, und ALLE werden sterben. Wenn du ihn wegschlägst, musst du entscheiden, wohin du den Ball schlagen wirst - und somit, wer gerettet und wer getötet wird!" Es gibt nur vier Möglichkeiten. Was tust du? (a)

Du schlägst den Ball nach rechts und tötest die Komiker!

(b)

Du schlägst den Ball nach links und tötest die werdenden Mütter!

(c)

Du schlägst den Ball geradeaus und tötest die Wissenschaftler!

(d)

Du lässt die Granate in den Sprengstoff fliegen und tötest damit auch dich!

(8) Auf einer Grillparty nimmt sich deine Nachbarin, die strenge Vegetarierin ist, eine große Schüssel von deinem Eintopf mit Schweinefleisch, Bohnen und Speck. Nicht wissend, was sie da alles isst, genießt sie es sichtlich: „Das beste Essen, das ich gehabt habe, seitdem ich in New York im Urlaub war - kann ich das Rezept haben?" Sie ist mit ihrer Schüssel schon halbfertig. Sagst du ihr, was sie da isst? (9) Dicker Nebel senkt sich auf die Pfadfinderexpedition, die du leitest. Das Wetter zwingt euch, ein Lager aufzuschlagen, was auch gut ist, weil eine Stunde später ein Schneesturm beginnt. Nach zwei Tagen im Sturm, ohne absehbare Aussicht auf Rettung, geht euer Vorrat zu Ende. Vier Stunden später entdeckst du eine Tafel Schokolade. Auf acht Leute verteilt, macht die Schokolade niemanden satt; außerdem bist du die hungrigste Person. Isst du die Schokolade allein auf?

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Pflegeethik: Ethik Kodex für Pflegende http://www.pflegewiki.de/wiki/Ethik_Kodex_f%C3%BCr_Pflegende (Abruf: 13. 11. 05)

Seite 73

Der Kodex Der ICN (Weltbund von Pflegenden = International Council of Nurses) Ethik Kodex für Pflegende hat 4 Grundelemente, die den Standard ethischer Verhaltensweise bestimmen.

Elemente des Ethik Kodex 1. Pflegende und ihre Mitmenschen Die grundlegende berufliche Verantwortung der Pflegenden gilt dem pflegebedürftigen Menschen. Bei ihrer beruflichen Tätigkeit fördert die Pflegende ein Umfeld, in dem die Menschenrechte, die Wertvorstellungen, die Sitten und Gewohnheiten sowie der Glaube des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft respektiert werden. Die Pflegende gewährleistet, dass der Pflegebedürftige ausreichende Informationen erhält, auf die er seine Zustimmung zu seiner pflegerischen Versorgung und Behandlung gründen kann. Die Pflegende behandelt jede persönliche Information vertraulich und geht verantwortungsvoll mit der Informationsweitergabe um. Die Pflegende teilt mit der Gesellschaft die Verantwortung, Maßnahmen zugunsten der gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung, besonders der von benachteiligten Gruppen, zu veranlassen und zu unterstützen. Die Pflegende ist auch mitverantwortlich für die Erhaltung und den Schutz der natürlichen Umwelt vor Ausbeutung, Verschmutzung, Abwertung und Zerstörung.

Frau B., 92, weigert sich zu essen und zu trinken; ich habe eben eine Kollegin beobachtet, die versuchte, sie zum Trinken zu zwingen, und ihr drohte, eine Nasensonde einzuführen. Wegen Personalmangels müssen wir in der Nacht Zwangsmassnahmen einführen, um die Sicherheit der Patienten gewährleisten zu können. Zwei Kolleginnen vermeiden systematisch, sich um Wöchnerinnen aus anderen Kulturen zu kümmern. Sie schlagen vor, dass man sie «zum eigenen Wohl» gemeinsam im gleichen Zimmer unterbringt.

2. Pflegende und die Berufsausübung Die Pflegenden sind persönlich verantwortlich und rechenschaftspflichtig für die Ausübung der Pflege, sowie für die Wahrung ihrer fachlichen Kompetenz durch kontinuierliche Fortbildung. Die Pflegende achtet auf ihre eigene Gesundheit, um ihre Fähigkeit zur Berufsausübung zu erhalten und sie nicht zu beeinträchtigen. Die Pflegenden beurteilen die individuellen Fachkompetenzen, wenn sie Verantwortung übernimmt oder delegiert.

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Ethik Kodex für Pflegende http://www.pflegewiki.de/wiki/Ethik_Kodex_f%C3%BCr_Pflegende (Abruf: 13. 11. 05)

Seite 74

Die Pflegenden sollen in ihrem beruflichen Handeln jederzeit auf ein persönliches Verhalten achten, das dem Ansehen der Profession dient und das Vertrauen der Bevölkerung in sie stärkt. Die Pflegenden gewährleisten bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit, dass der Einsatz von Technologie und die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse vereinbar sind mit der Sicherheit, der Würde und den Rechten der Menschen.

Die Leiterin des Pflegedienstes erklärt, dass es gegen die Berufsethik verstösst, wenn jemand sich weigert, an einer internen Weiterbildung teilzunehmen. In einer öffentlichen Veranstaltung zur Rolle der Gesundheitszentren in den Gemeinden ergreift eine Pflegefachfrau das Wort, um die Bevölkerung vor der schlechten Pflegequalität in den Spitälern zu warnen.

3. Pflegende und die Profession Die Pflegende übernimmt die Hauptrolle bei der Festlegung und Umsetzung von Standards für die Pflegepraxis, das Pflegemanagement, die Pflegeforschung und Pflegebildung. Die Pflegende wirkt aktiv an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Grundlagen der Profession mit. Durch ihren Berufsverband setzt sich die Pflegende dafür ein, dass gerechte soziale und wirtschaftliche Arbeitsbedingungen in der Pflege geschaffen und erhalten werden.

4. Pflegende und ihre Kollegen Die Pflegende sorgt für eine gute Zusammenarbeit mit den Kollegen aus der Pflege und anderen Professionen. Die Pflegende greift zum Schutz des Patienten ein, wenn sein Wohl durch einen Kollegen oder eine andere Person gefährdet ist.

Ich beobachte, wie meine Kollegin Beruhigungsmittel aus der Dienstapotheke nimmt. Ich weiss, dass sie grosse private Schwierigkeiten hat. Die Zeit fehlt oft, um alle vorgeschriebenen Schutzmassnahmen gegen übertragbare Krankheiten wie Aids oder Hepatitis zu ergreifen. Wir haben schon darüber gesprochen, doch meine Kolleginnen sagen, die Patienten kommen zuerst.

Das weiße Herz wurde 1999 als SYMBOL FÜR DIE PFLEGE eingeführt

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Ethik Kodex für Pflegende (ICN): Zusammenfassung

Seite 75

2. Pflegende und die Berufsausübung Kompetenzwahrung durch stetige Fortbildung Schutz der eigenen Gesundheit Verantwortung und Rechenschaftspflicht für ihre Pflegearbeit Fachkompetenz einschätzen, dann umsetzen bzw. delegieren Imagepflege des Pflegeberufs Neue Technologien mit Menschenwürde verbinden

1.

Pflegende und ihre Mitmenschen

Menschenrechte, Wertvorstellungen, Sitten, Gewohnheiten, Glaube respektieren Ausreichende Informationen als Entscheidungsgrundlage für den Klienten Informationen sind vertraulich = Verantwortung = wohl überlegte Weitergabe Umwelt erhalten und schützen Soziales Engagement

4. Pflegende und ihre Kollegen Mit Kolleginnen aus der Pflege + anderen Patientenschutz: Bewahrung vor Übergriffen durch Kolleginnen und /oder andere

3. Pflegende und die Profession (Berufsbild) Festlegung und Umsetzung von Standards in Pflegepraxis, -management, -forschung, -bildung) Aktive Weiterentwicklung der wissenschaftl. Grundlagen des Berufes Im Berufsverband für gerechte, soziale und wirtschaftliche Arbeitsbedingungen in der Pflege einsetzen

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Pflegeethik: Die Grundwerte

Seite 76

Vom Umgang mit den ethischen Prinzipien Eine Entscheidung, die andere Menschen betrifft - in der Pflege gibt es kaum andere - hat ethische Dimensionen. Ethische Dilemmata und/oder ethische Konflikte prägen das Handeln im Pflegealltag und verlangen eine sorgfältige Abwägung aller Argumente, um letztlich einen professionellen Entscheid für eine Handlungsoption ethisch kompetent begründen zu können. Es geht darum in Kenntnis aller Fakten und Umstände und aufgrund des Verstehens der bestehenden Situation, des Umfeldes und der zugrundeliegenden Werte gemeinsam mit allen Beteiligten - auch mit Patienten und Bezugspersonen - nach Lösungen zu suchen, diese zu prüfen und gegeneinander abzuwägen, die Konsequenzen für die betroffenen Personen zu bedenken, um sich schliesslich für eine Handlungsoption, die im gegebenen Falle als die beste erscheint, zu entscheiden und diese umzusetzen. Die Suche nach Lösungen darf jedoch kein isolierter Schritt bleiben. Sowohl Pflegende als auch alle Mitglieder des multidisziplinären Teams sind verantwortlich für eine gemeinsame Debatte. Diese stellt Reichhaltigkeit und Objektivität der Diskussion sicher. Die Schritte im Entscheidungsfindungsprozess (Situation verstehen, Umfeld verstehen, Werte verstehen, Suche nach Lösungen, Prüfung der vorgeschlagenen Lösungen, Entscheidung und Ausführung) können als Möglichkeit zur persönlichen Reflexion, aber auch als Instrument zur Diskussion im Team verwendet werden, um eine moralisch begründete Argumentation für Auswahlmöglichkeiten, Entscheidungen und Handlungen zu finden, für die ethische Verantwortung übernommen werden muss. Dabei sind ethische Prinzipien, moralische Kompetenzen (Tugenden) und grundlegende Werte in jedem Schritt von Bedeutung. Ethische Prinzipien können, als normative Zielvorgaben, die Pflege in eine bestimmte Richtung lenken. Der Diskurs über die Tugenden kann uns vor einer Prinzipienlastigkeit bewahren, indem diese die Entwicklung eines «moralischen Charakters» fordern und fördern. Prinzipien und Tugenden sind somit wichtige Instrumente ethischer Urteilsbildung. Doch was letztendlich eine Handlung zu einer guten Handlung macht, ist nicht ihre Kategorisierbarkeit unter bestimmte Prinzipien oder Tugenden, sondern allein die Frage, ob diese Handlung grundlegende Werte realisiert, die das menschliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft gestalten sollen.

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Pflegeethik: Die Grundwerte

Seite 77

Begriffe wie Würde, Leben, Freiheit, Humanität, Individualität und Gemeinschaftlichkeit repräsentieren heute solche Werthaltungen. Nicht nur die Politik, die Ökonomie oder die Rechtsprechung teilen dieses Bemühen, sondern auch die Pflege. Deshalb kann pflegerisches Denken und Handeln nur in dem Masse gut sein, als darin diese fundamentalen Werte übersetzt und realisiert werden. Als oberster Grundsatz steht nach wie vor die Aussage: «Die Würde des Menschen und die Einzigartigkeit des Lebens stehen im Zentrum allen pflegerischen Handelns» Dadurch lebt Ethik nachweislich im Kern der Pflege - also in unserem Denken, in unseren Worten, in unseren Entscheidungen und in unseren Handlungen. Dies bedeutet, übersetzt in die professionelle Pflegepraxis: • Partnerschaft mit den zu pflegenden Personen und ihrem gewohnten Umfeld in einer professionellen Beziehung, die aus Hilfe, Unterstützung und Aufmerksamkeit besteht, und die Autonomie und Entscheidungsfreiheit begünstigt; • Pflege, die in einer globalen Gesundheitsvision verankert ist, deren zentraler Aspekt die Hilfe im Alltag ist, und welche die Bedürfnisse und die Ressourcen der Betroffenen und ihrer Umgebung berücksichtigt; • Interdisziplinäre Zusammenarbeit, welche Synergien zugunsten einer bestmöglichen Pflege und Behandlung ermöglicht; • Verantwortung für das eigene Handeln; dies schliesst Weiterbildung, Suche nach Qualität und eine kritische Haltung ein; • Verteidiguna der Interessen der Patienten. Zugang zu den bestmöglichen Pflegeleistungen, angemessene Verteilung der Ressourcen. Beispiel: Eine Frau, die allein im Zimmer liegt, läutet ständig. Sie beklagt sich bei allen, die hereinkommen, dass man sie warten lasse, dass sich niemand für sie Zeit nähme, dass man sie absichtlich lange auf dem Topf sitzen lasse, so dass es sie nun am Steissbein brenne. 1.

Nicht-Schaden: Fügt die Pflege in unserem Beispiel Schaden zu?

2.

Gutes tun: Tut die Pflege hier Gutes? Wenn ja, was?

3.

Achtung: Wird die Frau von den Pflegenden geachtet? Wenn ja, wie? Wenn nein, wie?

4.

Autonomie: In welchem Ausmass bestimmt die Frau ihren Tag und was mit ihr passiert?

5.

Gerechtigkeit: Geht es hier um die Verteilung knapper Ressourcen? Wenn ja, welcher Ressourcen?

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Pflegeethik: Die Grundwerte Wegweisende Prinzipien:

Nicht schaden

Verantwortlich für das, was wir uns vertraut machen...

Seite 78

(Quelle: Krankenpflege 9/2000 Soins Infirmiers von Annemarie Kesselring, Professorin am pflegewissenschaftlichen Institut der Universität Basel)

Was ist in unserem Beispiel unter Schaden zu verstehen? Wer definiert, was Schaden ist? Die Frau, die Pflegenden, andere an der Situation Beteiligte? Klar scheint, dass eine Druck- oder offene Stelle am Steissbein ein Schaden ist, der durch die Hospitalisation erworben wurde. Eigentlich wird als selbstverständlich angenommen, dass man durch die Pflege nicht geschädigt wird. Ist es schädlich, lange auf einem Topf zu sitzen? Ist es schädlich, wenn die Frau sich nicht aussprechen kann und das Gefühl hat, niemand nehme sich ihrer an? Aus Sicht überlasteter Pflegender mag langes Warten und wenig Ansprache Teil einer harschen, unter Kostendruck entstandenen Realität sein, mit der sich Patientinnen und Patienten wohl oder übel abfinden müssen. Gutes tun Was ist gut? Was ist für wen gut? Diese Frage steht am Anfang und am Ende jeder ethischen Auseinandersetzung. Sie ist in jeder Situation wieder neu zu beantworten. Aus den Klagen der Frau lässt sich nichts vernehmen, was darauf hinweist, dass ihr Gutes getan würde. Es braucht dringend ein Gespräch mit ihr. Dieses könnte das erste (allerdings selbstverständliche) Gute sein, was hier getan werden kann. Ein erster Schritt in Richtung Gutes tun ist das Stoppen von schädigenden Einflüssen und das bewusste Vermeiden von weiterem schädigendem Zufügen durch Vorsorge. Achtung Wird die Frau von den Pflegenden geachtet? Was heisst es, geachtet zu werden? Welches Verständnis von Achtung bringen die hier Beteiligten mit? Wie wird Achtung gelebt, ausgedrückt? Wann fühlt sich ein Mensch geachtet? Auch hier geht es nicht ohne ein Gespräch mit der Frau. Wir ahnen, dass ihr Gefühl, dass sich niemand um sie kümmert und sie viel warten müsse, von ihr als Nichtbeachtung oder gar Verachtung interpretiert werden könnte. Ein Gefühl, das noch zunimmt, wenn man fragt, inwieweit die Patientin bei der Gestaltung ihres

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Moralische Handlungen in der Pflege Seite 79

Tages mitreden, mitbestimmen kann. Sie scheint wenig Einfluss auf den Verlauf der Dinge in ihrem Sinne zu haben, hat jedoch aus der Perspektive der Pflegenden durch ihr ständiges Läuten einen unerwünscht grossen Einfluss auf den Arbeitsablauf der Abteilung. Verteilung knapper Ressourcen Unter knappen Ressourcen versteht die Ethik, dass von einem spezifischen Gut nicht genug für alle da ist, damit alle davon profitieren könnten. In unserem Beispiel der Frau scheinen zwei solche knappen Ressourcen, die sich wahrscheinlich gegenseitig beeinflussen, mit im Spiel zu sein: erstens Zeit und zweitens professionelles Know-how. Wie soll die knappe Pflegezeit auf einer überbelegten akuten Abteilung auf die vielen bedürftigen Kranken verteilt werden? Sollen alle gleich viel Pflege-Zeit erhalten? Oder soll Zeit denen zugute kommen, die es am nötigsten haben? Wie wird «Nötiges» definiert und wer entscheidet über Not und Notwendigkeit? Und: Welche Patienten werden durch die kompetentesten, begabtesten Pflegenden gepflegt? Wie «gerecht» wird pflegerische Kompetenz zugeteilt? Gibt es da Entscheidungskriterien oder ist Kompetenzzuteilung etwas Zufälliges? Wie hängen Zeit- und Kompetenzzuteilung mit der Pflegeteam-Dynamik zusammen? Aus den Klagen der Frau mag man folgern, dass sie glaubt, bei der Ressourcenverteilung keinen fairen Anteil erhalten zu haben. Ein Pflegeteam, welches eine solche Analyse macht, bevor jemand mit der Frau spricht, hat bereits so viele Einsichten gewonnen, dass Entscheide getroffen werden können, wie der Kreislauf des Schadens gebrochen und die Pflege dieser Frau für alle befriedigender gestaltet werden kann.

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Gruppenauftrag: Organisation Pflegeethik: Die Grundwerte

Auftrag:

Seite 80

Glossar Seiten 108-110 beachten!

A. Prinzip Autonomie 81-88

Zusatztexte: Patientenverfügung 83,84 Gewissensnöte in Gottes Namen 85-86 Selbstbestimmung steht im Vordergrund 87-88

B. Prinzip Gutes Tun 89-90 C. Prinzip Nicht-Schaden 91-96 D. Prinzip Gerechtigkeit 97-98

Beobachtertext „Tabuthema: Gewalt gegen Alte“ S: 99-101 zusammenfassend vorstellen Versagte die Heimleitung? 94-96 zusammenfassend vorstellen. Eindrücklichste zwei bis drei Fallbeispiele Seiten 102-103 mit ihren Lösungen Seiten 104-107 zusammenfassend vorstellen

1. Prinzip in einem 5 Punkteprogramm (auf Folie) so erläutern, dass sich für die Pflegenden eine nützliche Gebrauchsanweisung für die richtige Umsetzung des Prinzips im Alltag ergibt! Zeigen Sie, wie die zum Prinzip passende ethische Theorie inhaltlich in Ihr 5 Punkteprogramm eingearbeitet wurde. 2. Zeichnen Sie drei Risiken Ihres Prinzips! 3. Stellen Sie die Ihnen zugewiesenen Zusatztexte mit den Kernaussagen zusammenfassend der Klasse vor! Zusatzaufgabe: 3. Alle Gruppen, die fertig sind, bearbeiten die Fallbeispiele Nr. 1-9 auf S: 102 und 103: Wie würden Sie entscheiden? Vergleichen Sie Ihre Entscheidungen mit den Lösungen auf den Seiten 104107!

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Pflegeethik: Prinzip Autonomie

Seite 81

Im Allgemeinen versteht man unter Autonomie die Fähigkeit des Menschen, seine persönlichen Ziele frei zu bestimmen und im Wissen um die Konsequenzen zu handeln. Sie umfasst: • die persönliche Freiheit • die Selbstbestimmung • das Recht, dem eigenen Handeln spezifischen Inhalt zu geben • das Recht, der eigenen Meinung und den eigenen Werten Ausdruck zu verleihen. Menschen als Individuen zu respektieren, bedeutet in der Pflege, dass ihre Entscheidungen das Resultat ihrer persönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen sind, selbst wenn ihre Fähigkeiten vorübergehend oder dauerhaft aus Alters- oder Krankheitsgründen beeinträchtigt sind (moralische Autonomie, physische Autonomie). Die Förderung der Autonomie führt zur Individualisierung der Pflege. Konkret beinhaltet das Autonomieprinzip das Recht des Menschen, • unabhängig vom physischen oder geistigen Zustand respektiert und geachtet zu werden, • ausreichend über seine Diagnose, über Behandlungs- und Pflegemöglichkeiten und die vorhersehbare Krankheitsentwicklung oder über die Teilnahme an einem Forschungsprojekt informiert zu werden, um frei von Zwang eine Entscheidung treffen zu können (informed consent*), • sich an den Pflegeentscheidungen beteiligen zu können, • zu wissen, dass Privatsphäre und Bewegungsfreiheit respektiert sind, • seine Neigungen, Gefühle. Wertvorstellungen äussern zu können, • sich an der eigenen Pflege zu beteiligen, oder diese abzulehnen. Was begünstigt die Ausübung von Autonomie? Der Autonomie kommt in der westlichen Gesellschaft eine ständig wachsende Bedeutung zu, sowohl in den Bereichen Erziehung, Gesundheit, Berufstätigkeit, im Familienkreis, als auch im Kontext von Gesellschaft und Staat. Hinsichtlich der Pflege kann die Suche nach Autonomie als eine gesunde Reaktion auf bekannte paternalistische Verhaltensweisen betrachtet werden. Bestimmte pflegerische Tätigkeiten tragen zur Beachtung, Unterstützung oder sogar zur Stärkung der Selbstbestimmung bei. Dies ist der Fall, wenn beispielsweise • die Kommunikation und die Beziehung auf Wahrhaftigkeit, Treue, Vertraulichkeit gründet, • wenn Informationen deutlich und auf verständliche Weise gegeben werden, • spezifische Wünsche angehört und im Rahmen der Möglichkeiten der Pflegenden oder der Institution respektiert werden, • die Patienten und ihre Bezugspersonen damit einverstanden sind, als Partner bei der Planung der Pflege mitzuwirken, und versucht wird, deren Meinung herauszufinden und sie zu respektieren, • der Verletzlichkeit des Patienten Rechnung getragen wird, • keinerlei freiheitsbeschränkenden Massnahmen angewendet werden, es sei denn, es bestehe eine klar definierte sicherheitsorientierte Notwendigkeit. Diese muss ständig neu evaluiert werden.

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Pflegeethik: Prinzip Autonomie

Seite 82

Risiken der Abweichung bei der Anwendung des Autonomieprinzips Der Begriff der Autonomie ist komplex, eine Fehlinterpretation kann sowohl für die Patienten als auch für die Pflegenden negative Folgen haben. Leider wird das Grundrecht auf Autonomie häufig mit der Fähigkeit verwechselt, die Verrichtungen des täglichen Lebens selbstständig und ohne Hilfe anderer ausführen zu können. Die Gefahr, Autonomie zum obersten Ziel der Pflege erklären zu wollen, kann dazu führen, dass Patienten aus ideologischen, praktischen oder wirtschaftlichen Gründen gezwungen werden, Entscheidungen zu treffen oder Aufgaben zu übernehmen, auf die sie nicht vorbereitet oder derer sie (noch) nicht fähig sind. Eine andere Abweichung könnte sein, im Namen des Autonomieprinzips auf moralisch unannehmbare oder geradezu unrealistische Wünsche einzugehen (Sex, Drogen, Tod...) und dabei zu vergessen, dass in einer von gegenseitigem Respekt geprägten Beziehung sowohl Patient als auch Pflegeperson Rechte und Pflichten haben. Probleme und Dilemmata hinsichtlich des Autonomieprinzips Wie kann das Bedürfnis nach Freiheit und nach Sicherheit respektiert werden, wenn Menschen so handeln, dass ihre eigenen Interessen gefährdet scheinen: gesundheitsschädigendes Verhalten, Suizidversuche, Missbrauch schädigender Substanzen (Medikamente, Alkohol, Drogen), Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung (Dialyse oder Insulintherapie), Verweigerung von anerkannten Präventionsmassnahmen (Kinderschutzimpfung, Ernährung von Säuglingen) oder von notwendigen Eingriffen (lebensrettende Operationen, Bluttransfusionen)?

Autonomie/Gutes tun/Nicht-Schaden Wie sind der fürsorgliche Freiheitsentzug oder eine Zwangsbehandlung bei einem psychotischen Patienten zu handhaben, der sich selbst oder andere gefährdet?

Autonomie/Nicht-Schaden/Gutes tun Wie kann man seine Aufgabe als Pflegeperson und seine Wertvorstellungen gegenüber einer urteilsfähigen Person vertreten, die Beihilfe zum Selbstmord oder aktive Sterbehilfe verlangt?

Autonomie/Gutes tun/Nicht-Schaden Welche Rolle werden künftig Patientenverfügungen bei den Entscheidungen über medizinische und pflegerische Massnahmen spielen?

Autonomie/Nicht-Schaden/Gerechtigkeit Wie sind die Risiken einzuschätzen, die verwirrte Personen eingehen (z.B. vom Bett oder Stuhl fallen, Umherirren, Verletzungen, Erkältungen)? Welche Massnahmen können ergriffen werden ohne ihre Würde zu verletzen?

Autonomie/Nicht-Schaden/Gutes tun

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Tagesanzeiger 10. November 2005 S: 57

Patientenverfügung - eine Notfallvorsorge

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Die heutige Medizin erlaubt eine Behandlung auch bei hoffnungsloser Situation. Entscheiden Sie frühzeitig über das Vorgehen im Notfall. Unvermittelt stellt sich die Frage nach dem Sinn lebensverlängernder Massnahmen, nach Transplantation und Obduktion. Wer diese Fragen für sich selber nicht rechtzeitig beantwortet, bringt die Angehörigen unter Umständen in eine sehr schwierige Lage. Denn Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, das Menschenmögliche zu unternehmen, um Leben zu erhalten. Sie können die Herz-Lungen-Maschine nicht auf Drängen der Angehörigen hin abschalten, auch wenn die Überlebenschance der betroffenen Person ohne Technik gleich null ist. Das müssen Sie bedenken, wenn Sie selber über Ihre Behandlung im Notfall bestimmen wollen: • Falls Sie nichts geregelt haben, werden Sie im Falle einer plötzlichen lebensbedrohlichen Situation automatisch wiederbelebt und auf der Intensivstation behandelt. Und zwar auch dann, wenn keine Chance mehr besteht auf Genesung. • Die Patientenverfügung richtet sich in erster Linie an das medizinische Personal und in zweiter Linie an die nächststehen-de(n) Person(en) respektive Familienangehörigen. Sie präzisiert, wie weit die medizinische Behandlung im Extremfall gehen soll. • Wer eine Patientenverfügung abfassen will, sollte die darin zu regelnden Fragen mit seinen Angehörigen und nach Möglichkeit auch mit einer medizinischen Fachperson besprechen. Wenn die Nahestehenden in diesen Entscheid mit einbezogen werden, sind sie für den Ernstfall vorbereitet. • Viele Organisationen bieten vorgedruckte Patientenverfügungen und zusätzliche Informationen an. Bei einigen Institutionen kann man das Dokument hinterlegen, oft verbunden mit der Möglichkeit, die Verfügung automatisch jährlich aufzudatieren. Sie können die Verfügung aber auch ganz persönlich abfassen. Wichtig ist in jedem Falle, dass sie datiert und eigenhändig unterschrieben ist. Die Patientenverfügung ist grundsätzlich nur dann von Bedeutung, wenn die betroffene Person aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, ihre Wünsche selber zu äussern. Eine solche Verfügung ist für die Ärzte verbindlich, ausser Sie verlangen darin Ungesetzliches, zum Beispiel eine aktive Sterbehilfe, und auch dann nicht, wenn Anzeichen bestehen, dass die sterbende Person in der Zwischenzeit ihre Einstellung geändert hat. • Sie können die Verfügung - wie ein Testament - jederzeit abändern oder auch ganz widerrufen. • Die Einstellung zum Sterben und zur gewünschten Behandlung im Extremfall ändert sich meist im Laufe der Jahre, je nach Lebensgeschichte und persönlichen Erfahrungen. Wer einmal eine Verfügung geschrieben hat, sollte deshalb daran denken, diese auf dem neusten Stand zu halten. Sie sollte auf je den Fall nicht älter als zwei Jahre sein. Liegt das Datum weiter zurück, entstehen leicht Zweifel, ob der im Text geäusserte Wille noch Ihren Wünsche entspricht. • Lassen Sie die Verfügung von eine Bezugsperson, vom Arzt oder einer dazu befähigten Organisation aufbewahret und geben Sie Ihren Angehörigen ein Kopie. Tragen Sie im Alltag, am besten im Portemonnaie, einen Hinweis, woraus hervorgeht, wo Ihre Verfügung deponiert ist.

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Patientenverfügung

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• In der Patientenverfügung können Sie auch bestimmen, ob Sie im Notfall mit einer Transplantation, also der Entnahme eines Ihrer Organe, und/oder mit eine Obduktion einverstanden sind und ob und welche religiöse Begleitung Sie beim Sterben wünschen. • Vergessen Sie nicht, die Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden, damit sie im Notfall die Situation mit Ihren Angehörigen eingehend besprechen können. • Geben Sie zusätzlich zur Patientenverfügung einer oder mehreren Bezugspersonen eine Vollmacht, damit diese im Fall Ihres Ablebens das Nötige unternehmen können.

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Tagesanzeiger, Do. 8. April 2004

Gewissensnöte in Gottes Namen

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Von Gabriela Baumgartner Das unfassbare Schicksal der jungen Frau bewegte seinerzeit das ganze Land: Im Oktober 1991 brachte die 20-jährige Petra P. (Name geändert) in einem Berner Spital ein gesundes Mädchen zur Welt. Eine Stunde nach der Entbindung traten unerwartete Komplikationen auf. Die Patientin, eine überzeugte Anhängerin der Zeugen Jehovas, lehnte aus Glaubensgründen eine lebensrettende Bluttransfusion ab. Sie verblutete fünf Stunden nach der Entbindung, «im festen Glauben an die Auferstehung», wie ihr Vater erklärte. Der scheinbar sinnlose Tod der jungen Frau löste eine Welle der Entrüstung aus: Eine breite Öffentlichkeit wollte den behandelnden Arzt sowie den Ehemann und den Väter der Verstorbenen für ihren Tod verantwortlich machen. Eine strafrechtliche Untersuchung wurde allerdings vier Jahre später eingestellt: Weder dem Ehemann noch dem Vater der Verstorbenen konnte nachgewiesen werden, dass sie die Entscheidung der jungen Frau in unzulässiger Weise beeinflusst hatten. Und der Arzt hätte der Patientin in dieser Situation trotz aller Gewissensbisse nicht gegen deren ausdrücklichen Willen Blutpräparate verabreichen dürfen. Glaube löst Konflikte aus Die Schweizerische Bundesverfassung schützt in Artikel 15 die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese Bestimmung gibt jeder natürlichen Person in der Schweiz das Recht, sich eine religiöse Überzeugung frei von jeglicher staatlichen Beeinflussung zu bilden, sie zu praktizieren und nach den daraus gewonnenen Glaubenseinsichten zu handeln, und zwar unabhängig davon, ob die Person einer Religionsgemeinschaft angehört oder nicht. Unter dem Schutz der Verfassung stehen übrigens nicht nur die anerkannten Weltreligionen, sondern sämtliche Glaubensgruppen und Sekten, sofern sie einen philosophischen Anspruch haben. Auf den Inhalt oder die Herkunft einer Glaubensrichtung kommt es nicht an: geschützt sind sämtliche religiösen Überzeugungen, von der esoterischen Weltanschauung über den christlichen Glauben bis hin zum Atheismus. Auch die Zeugen Jehovas unterstehen als Glaubensgemeinschaft dem verfassungsmässigen Schutz der Religionsfreiheit. Mit Verweis auf verschiedene alttestamentarische Bibelstellen lehnen die ursprünglich aus den Vereinigten Staaten stammende Wachtturmgesellschaft und ihre Anhänger die Behandlung mit Blut, Blutpräparaten und aus Blut hergestellten Heilmitteln ab. Damit treffen die Zeugen Jehovas eine - juristisch gesprochen - «geschützte Glaubens- und Gewissensentscheidung»; und bringen damit Ärzteschaft, Pflegepersonal und oftmals auch die eigenen Angehörigen regelmässig in grosse Gewissenskonflikte. Nach Schweizer Recht und nach seinen Standesregeln muss der Arzt nämlich das Leben als höchstes menschliches Gut grundsätzlich schützen und erhalten. Auf der anderen Seite darf er einen urteilsfähigen Patienten nicht ohne dessen ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung behandeln. Tut er es trotzdem, macht er sich unter Umständen wegen Körperverletzung strafbar. Unserer Rechtsprechung schwebt der volljährige, informierte und einwilligungsfähige Patient vor. Er darf eigenständig über seinen Körper verfügen, auch wenn sein Entscheid, sei er nun religiös oder weltanschaulich motiviert, den Arzt in schwere Gewissensnöte bringt oder von den Angehörigen nicht mitgetragen wird. Damit wird klar: Das Recht des Patienten auf Selbstbestimmung steht über der sittlichen Pflicht des Arztes, Leben zu retten.

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Gewissensnöte in Gottes Namen

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Dem Gynäkologen von Petra P. ist aus rechtlicher Sicht nichts vorzuwerfen. Seine Patientin war bei vollem Bewusstsein und über die schwer wiegenden Folgen informiert, als sie die Verabreichung von Blutkonserven ablehnte. Trotzdem leidet der Mediziner noch heute unter der seelischen Belastung dieses Erlebnisses. Seither mag er sich solchen Situationen nicht mehr aussetzen und lehnt die Behandlung von Patientinnen ab, wenn sie wie die Verstorbene vor dem Spitaleintritt eine entsprechende Verfügung abgeben. Wie aber wäre zu entscheiden, wenn die Patientin nicht bei der Entbindung, sondern bereits während der Schwangerschaft die Behandlung mit lebenserhaltenden Blutpräparaten ablehnen würde? In diesem Fall stünden sich zwei durch die Verfassung geschützte Rechte gegenüber: die religiöse Selbstbestimmung der werdenden Mutter und das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes. Zwar gilt das Recht auf Leben als höheres und deshalb schützenswerteres Interesse. Das Strafgesetzbuch lässt aber einen Schwangerschaftsabbruch auch nach der zwölften Woche noch zu, wenn sich die Mutter in einer seelischen Notlage befindet. Nach dieser Bestimmung und weil der Schutz des Lebens erst nach der vollendeten Geburt beginnt, dürfte die Schwangere nicht zu einer Behandlung gezwungen werden. Nach der Geburt allerdings dürfen Eltern das Leben ihrer Kinder nicht aufs Spiel setzen. Die Bundesverfassung garantiert Kindern und Jugendlichen den «Schutz ihrer Unversehrtheit und die Förderung ihrer Entwicklung». Dieser Anspruch geniesst zusammen mit dem Recht auf Leben gegenüber der Religionsfreiheit der Eltern den Vorrang. Das wird auch in anderen Staaten so gehandhabt: In Kanada ordnete beispielsweise unlängst ein Gericht eine Zwangsbehandlung einer 16-jährigen Patientin an: Das leukämiekranke Mädchen und seine Mutter hatten aus Glaubensgründen eine rettende Bluttransfusion abgelehnt, worauf sich die Ärzte an das Vormundschaftsgericht wandten und schliesslich grünes Licht für die nötige Behandlung bekamen.

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA TA, 22. Juni 2006 von Ruth Eigenmann

Selbstbestimmung steht im Vordergrund

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Der Patient entscheidet alleine über seinen Körper. Die Ärzte müssen die Persönlichkeitsrechte ausnahmslos wahren. Im Kanton Zürich haben alle Patientinnen und alle Patienten in allen öffentlichen und privaten Spitälern die gleichen Rechte und Pflichten. Diese sind im Patientinnen- und Patientengesetz und der entsprechenden Verordnung geregelt- Ganz wichtig ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Damit er dieses aber auch wahrnehmen kann, braucht er genügend Aufklärung. Erst wenn der Patient weiss, was ihm fehlt und welche Therapien oder Medikamente helfen oder lindern könnten, kann er selber bestimmen. Dazu gehört auch das Recht, eine Therapieform oder einen Eingriff ganz abzulehnen. Verweigert der Krebspatient eine Strahlentherapie, so darf diese auch nicht gegen seinen eigenen Willen vorgenommen werden. Auch sein Wunsch, das Leben nicht künstlich zu verlängern, muss respektiert werden. 1. Wer behandelt mich? Das Recht auf Behandlung gilt in öffentlichen Spitälern uneingeschränkt. In Notfällen gilt das auch für private Ärzte. Patienten haben das Recht auf sorgfältige Betreuung. Im öffentlichen Spital werden sie von fest angestellten Ärzten betreut. Die Verantwortung für die Behandlung trägt die Chefärztin oder der Chefarzt. Spitalzusatzversicherungen decken nicht nur die Kosten für ein Zweibett- oder Einzelzimmer, sondern erlauben auch die freie Arztwahl; je nach Versicherungsschutz kann dies auf die leitenden Fachärzte eingeschränkt werden. Privatpatienten werden oft auch vom Chefarzt persönlich behandelt. Entsprechend hoch sind die monatlichen Prämien. 2. Wer bezahlt die Behandlung? Selbstbestimmung heisst nicht, dass für die gewählten Leistungen automatisch die Krankenkasse aufkommt. Die Grundversicherung übernimmt bei einem Spitalaufenthalt lediglich die Kosten (Aufenthalt und Behandlung) in der allgemeinen Abteilung eines Spitals, das auf der Spitalliste des Wohnkantons des Patienten steht. Wenn Sie von einem bestimmten Arzt operiert werden möchten und er Sie dafür in ein Spital einweist, sollten Sie unbedingt vor Spitaleintritt bei Ihrer Krankenkasse abklären, welche Kosten diese übernimmt. Am besten Sie bringen die Kostengutsprache direkt beim Eintritt in die Klinik mit, wenn die Klinik diese nicht bereit selber eingefordert hat. 3. Wer hilft mir beim Sterben? Direkte Sterbehilfe ist die gezielte Tötung eines schwer kranken Patienten durch den Arzt oder durch eine Drittperson. Sie ist in der Schweiz verboten. Das gilt auch, wenn die Tötung auf eindringliches Verlangen des Patienten selber geschieht. Patienten können aber bestimmen, dass auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet wird oder dass diese abgebrochen werden. Diese passive Sterbehilfe ist aus juristischer Sicht erlaubt. Beihilfe zum Suizid (zum Beispiel: Beschaffung des tödlichen Medikaments) ist gemäss Art. 115 Strafgesetzbuch straflos, wenn sie ohne selbstsüchtige Gründe erfolgt. Der Wille des urteilsfähigen Patienten ist grundsätzlich zu respektieren. 4. Organentnahme, Obduktion Organentnahme nach demTod? Wer entscheidet über den Körper nach dem Tod? Das Patientengesetz des Kantons Zürich regelt auch die Obduktion und die Transplantation. Eine Obduktion darf dann durchgeführt werden, wenn eine Einwilligung der verstorbenen Person vor ihrem Tod im Zustand der Urteilsfähigkeit vorliegt. Fehlt diese Zustimmung, sind die Bezugspersonen nach einer allfälligen Einwilligung oder Ablehnung zu befragen. Stimmen die Bezugspersonen oder bei Unmündigen oder Entmündigten der gesetzliche Vertreter zu, ist eine Obduktion erlaubt. Eine ähnliche Regelung gilt bei der Organentnahme. Am besten Sie regeln diese Frage im Voraus 5. Wer gibt Auskunft? Patienten können ihr Selbstbestimmungsrecht nur dann wahrnehmen, wenn sie umfassend und ehrlich auf-

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Selbstbestimmung steht im Vordergrund

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geklärt werden. Und diese Aufgabe muss grundsätzlich der Arzt selber übernehmen, und zwar mündlich und in einer Sprache, die der Patient oder die Patientin auch versteht. Medizinische Fachbegriffe soll er erklären. Fragen Sie nach, wenn Sie etwas nicht verstehen oder unsicher sind. Lesen Sie jedes Formular, welches Sie unterschreiben sollen, zuerst sorgfältig durch. Schadet die genaue Aufklärung dem Patienten, darf der Arzt davon absehen. Informationen an Dritte dürfen nur mit der Einwilligung des Patienten oder der Patientin erteilt werden. 6. Einsicht in die Krankenakte Patientinnen und Patienten haben das Recht jederzeit Einsicht in ihre vollständige Patientendokumentation (= Krankengeschichte) zu erhalten. Darin sind sämtliche ärztliche Daten und alle Pflegedaten enthalten. Sie haben somit das Recht, jeden Laborbefund oder die Operationsgeschichte einzusehen. Nur in gang wenigen Fällen (zum Beispiel überwiegendes öffentliches Interesse) darf das Einsichtsrecht begrenzt werden. Spitäler müssen die Akten 10 Jahre lang aufbewahren. Während dieser Zeit bleibt die Dokumentation im Eigentum des Spitals. Deshalb dürfen Patienten nur Kopien der Unterlagen gegen eine kostendeckende Gebühr verlangen. 7. Wer erhält Auskunft? Das gesamte Spitalpersonal untersteht der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber Dritten. Ausser der Patient erteilt ausdrücklich die Einwilligung, dass die Angehörigen informiert werden. Meistens geht man aber bei den nächsten Angehörigen davon aus, dass eine solche vorliegt. Wenn Sie also möchten, dass jemand von Ihrer nächsten Familie nicht Auskunft über Sie erhält, sollten Sie dies dem Arzt mitteilen. Die zürcherische Patientenverordnung hält fest, dass Partner, die mit dem Patienten in einer Lebensgemeinschaft stehen, Auskunft erhalten. Wohnen die beiden an derselben Wohnadresse, geht man von einer Lebensgemeinschaft aus. 8. Patientenverfügung Wer sichergehen möchte, dass seine Wünsche auch dann respektiert werden, wenn er nicht mehr in der Lage ist, diese selber mitzuteilen, sollte eine Patientenverfügung ausfüllen. Damit halten Sie schriftlich fest, dass Sie in diesem Fall auf Massnahmen verzichten, die lediglich eine Sterbens- oder Leidensverlängerung bedeuten würden. Verschiedene Organisationen bieten solche Dokumente an. Eine Patientenverfügung ist nur nützlich, wenn Sie den Ärzten und Ihren engsten Familienangehörigen mitteilen, dass eine solche existiert, und das Dokument rasch gefunden wird. Tragen Sie deshalb diesen Ausweis immer auf sich. 9. Pflichten und Rechte Damit Patientinnen und Patienten ihre Rechte und Pflichten überhaupt wahrnehmen können, müssen sie diese kennen. Sie oder Ihre Bezugspersonen müssen daher m verständlicher Weise darüber informiert werden. So dürfen Sie zum Beispiel Besuche empfangen. Allerdings kann aus medizinischen oder betrieblichen Gründen das Besuchsrecht eingeschränkt werden. Patienten haben das Recht auf Wahrung ihrer Intimsphäre, auch wenn sie in einem Mehrbettzimmer liegen, und sie dürfen das Spital jederzeit verlassen. Erfolgt dies entgegen dem ärztlichen Rat und nach erfolgter Aufklärung über die Risiken, müssen Sie dies mit Ihrer Unterschrift bestätigen. 10. Medikamente gegen den Willen Unter gesetzlich genau bestimmten Voraussetzungen - wenn eine unmittelbare und ernsthafte Gefahr für die Gesundheit und das Leben des Patienten oder von Dritten nicht anders abgewendet werden kann - dürfen auch gegen den Willen des Patienten Medikamente abgegeben werden. Zwangsmassnahmen sind nur dann erlaubt, wenn sie unumgänglich sind. In den anderen Fällen hat der Patient das Recht, die vorgeschlagene Behandlung abzulehnen, denn der Wille von urteilsfähigen Patienten ist zu respektieren. Auch HIVTests dürfen nicht gegen den Willen des Patienten durchgeführt werden. Der Patient bestimmt, ob er eine Strahlen- oder Chemotherapie möchte.

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Pflegeethik: Prinzip Gutes tun / Beneficience

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Im Allgemeinen beinhaltet das Prinzip, Gutes zu tun, die Verpflichtung, dem anderen das zu gewähren, was ihm «gut tut», was ihm nützt. Ferner drückt es die Verpflichtung aus, die Interessen des anderen, sein Leben, seine Sicherheit, seine Gesundheit zu schützen und zu verteidigen. In der Pflege bedeutet die Pflicht, Gutes zu tun, den Zugang zu einer bestmöglichen Pflege für alle zu ermöglichen. Das «Gute» ergibt sich jeweils aus einer gemeinsamen Anstrengung der Patienten und ihrer Bezugspersonen, der Pflegenden sowie der Institutionen, aber auch aus dem Abwägen der Risiken und des Nutzens, der Kosten und der Zweckmässigkeit. Aus dem Prinzip, Gutes zu tun, leitet sich konkret das Recht des Menschen ab auf • die zum Schutz seiner Gesundheit erforderliche Hilfe, • die Pflege und die Behandlung, die sein Zustand erfordert. • das Ernstnehmen seiner Symptome, • die Sicherheit und das Aufgehobensein in der Pflege. • das Respektieren seiner Entscheidungen. Was fördert die Beachtung des Prinzips Gutes tun? Der Begriff Gutes tun hat in der Pflege eine lange Tradition. Heutzutage ist es allgemein anerkannt, dass «das Gute» in der Pflege nur aus einer gemeinsamen Anstrengung zwischen allen anwesenden Betroffenen hervorgehen kann. Diese gemeinsame Anstrengung drückt sich durch eine Pflegepraxis aus, • in der die Kommunikation und die Beziehung auf Aufrichtigkeit, Treue und Vertrauenswürdigkeit und Wahrhaftigkeit baut; • die Patienten/Bezugspersonen/Partner auf klare und der jeweiligen Situation angepasste Weise über die direkten und indirekten Folgen der Krankheit sowie die verfügbaren Behandlungs- und Pflegemethoden informiert werden; • die Entscheidungen über die Pflege und ihre Planung weitmöglichst mit den Patienten und ihren Bezugspersonen abgesprochen werden, das derzeitige und künftige familiäre, soziale und kulturelle Umfeld berücksichtigt wird, und versucht wird, den Willen des Patienten herauszufinden und zu respektieren; • die Wahl der Behandlung und Pflege den grösstmöglichen Nutzen und den geringstmöglichen Schaden mit sich bringt, und dabei die neuesten Erkenntnisse der Forschung berücksichtigt werden; • die Pflege durch fachlich kompetente Personen ausgeübt wird; • der Patient in seiner verletzlichen Position vor jedem Missbrauch geschützt ist; • keine physischen oder psychischen freiheitsbeschränkenden Massnahmen angewandt werden, es sei denn, es bestehe eine klar definierte sicherheitsorientierte Notwendigkeit; in diesem Fall muss diese ständig neu evaluiert werden. Risiken der Abweichung bei der Anwendung des Prinzips Gutes tun Gutes tun ist ein fester Bestandteil der Pflegetradition. Wird dieses Prinzip jedoch absolut und

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Pflegeethik: Prinzip Gutes tun / Beneficience

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ohne Berücksichtigung der jeweiligen Situation angewandt, kann das Ziel, Gutes zu tun, dazu führen, dass man sich zu sehr auf das «theoretisch» Gute konzentriert, ohne auf die Situation oder die Perspektive des Begünstigten Rücksicht zu nehmen. Dabei besteht die Gefahr, dass sich Pflegende eine paternalistische Verhaltensweise aneignen, nach der allein sie wissen, was für den Patienten gut ist. Somit wird dieser jeglicher Verantwortung enthoben, erleidet oder akzeptiert Massnahmen, weil sie «für ihn gut sind» oder aus Angst, nicht mehr gepflegt zu werden - oder eine Chance zur Genesung zu versäumen. Wird das Prinzip Gutes tun isoliert betrachtet, ohne Berücksichtigung weiterer Prinzipien oder der konkreten Situation, kann ein verwirrendes Nebeneinander der Ziele und Interessen von Patient, Umfeld und Pflegenden entstehen, das zu einem Machtmissbrauch führen kann. In der Praxis kann es schwierig sein, klar zwischen dem Prinzip Gutes tun (dem was nützt, das Wohlbefinden steigert) und dem Prinzip Nicht-Schaden (dem, was die Risiken mindert, Schaden abwendet) zu unterscheiden. Häufig ist es erforderlich, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Prinzipien zu finden und das Prinzip Gutes tun durch die Prinzipien Gerechtigkeit und Autonomie zu ergänzen. Probleme und Dilemmata hinsichtlich des Prinzips Gutes tun Wie ist in einer Pflegesituation vorzugehen, in der zwischen dem Prinzip Gutes tun und dem Prinzip Nicht-Schaden abgewogen werden muss? Etwa bei einem Vorgang, der aus der Sicht des Patienten nützlich ist - sich ohne Hilfe bewegen können, ohne Begleitung entlassen werden, selbstständig Medikamente einnehmen - aber aus der Sicht der Pflegenden ein Risiko beinhaltet?

Gutes tun/ Nicht-Schaden Beim Vorliegen einer geistigen Behinderung oder eines Verwirrungszustandes: wie kann man Schutzmassnahmen ergreifen, die durch die Betroffenen aus mangelnder Einsicht in Nutzen und Risiken abgelehnt werden (therapeutische Massnahmen, Schwangerschaftsverhütung, Diätvorschriften...)?

Gutes tun/Autonomie Beim Nachdenken über die Verteilung von Ressourcen: wie werden jene Personen berücksichtigt, die elementare und notwendige gesundheitserhaltende Massnahmen sowie bestehende Strukturen verweigern (Randgruppen, Drogenabhängige...)?

Gutes tun/Gerechtigkeit Welche ethische Argumentation ist Ignoranz, alten Gewohnheiten oder wirtschaftlichen Restriktionen entgegenzusetzen, um allen den Zugang zur wirksamsten Therapie, beispielsweise einer optimalen Schmerztherapie zu gewährleisten?

Gutes tun/Gerechtigkeit/Nicht-Schaden Wie ist in jeder einzelnen Situation Nutzen oder Nutzlosigkeit der Pflege zu beurteilen?

Gutes tun/Gerechtigkeit

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Pflegeethik: Prinzip Nicht-Schaden /Non maleficence

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Im Allgemeinen bedeutet Nicht-Schaden die Fähigkeit, im Einklang mit den neuesten Entwicklungen der Forschung und im gesellschaftlichen Bereich mögliche Risiken zu erkennen, zu mindern oder zu vermeiden. Es geht darum, bei anderen -absichtlich oder unabsichtlich - physischen oder psychischen Schaden weder zu verursachen noch zuzufügen; Schaden zu verhindern, und das was Schaden verursacht, auszuschalten. In der Pflege führt das Prinzip des Nicht-Schadens dazu, dem Patienten oder der Gemeinschaft nicht zu schaden (nihil nocere). Konkret bezieht sich Nicht-Schaden auf das Recht des Menschen, • in einer so weit wie möglich sicheren Umgebung zu leben, • als Person respektiert, nicht verletzt zu werden, • die seinem Zustand entsprechende Pflege und Behandlung zu erhalten, • keinem physischen oder moralischen Zwang ausgesetzt zu sein, • keinen physischen, psychischen oder moralischen Schaden zu erleiden, • nicht getötet zu werden, • gegenüber einem Schaden, der auf Grund eines Fehlverhaltens oder einer falschen Einschätzung entstanden ist, geschützt zu sein. auf die Pflicht der Pflegenden, • potentielle Gefahren zu erkennen; • die Risiken eines physischen oder psychischen Schadens, der bei der Ausübung der Pflege oder im Zusammenhang mit der Forschung, der Institution oder der Umwelt entstehen könnte, so gering wie möglich zu halten; • einzugreifen, wenn eine Gefahr erkannt wird. auf die Pflicht jedes Einzelnen, • nicht absichtlich seiner Gesundheit zu schaden, sich gegen das, was der Gesundheit schaden kann, zu schützen. Wie kann Schaden vermieden werden? Das Anliegen, nicht zu schaden - nihil nocere - gehört in gleicher Weise zur Pflegetradition wie das Anliegen, Gutes zu tun. Will man versuchen, jeden physischen oder moralischen Schaden zu vermeiden, ist ständige Aufmerksamkeit nötig ebenso wie eine Ausübung der Pflege, bei der • die Kommunikation und Beziehung auf Wahrhaftigkeit, Treue und Vertrauenswürdigkeit gründen. Dies erlaubt eine Evaluation der Pflege aus Sicht der Patienten und der Pflegenden, • die Pflegenden fähig sind, abzuwägen, wo die moralisch richtige Grenze zwischen Gutes tun und Nicht-Schaden ist, • die Behandlungs- und Pflegemethoden so gewählt werden, dass sie maximalen Nutzen und minimale Risiken mit sich bringen und dabei die neuesten Ergebnisse der Forschung mit einbezogen werden, • die Pflege auf die Person des Patienten zugeschnitten ist und durch kompetentes Personal und

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Pflegeethik: Prinzip Nicht-Schaden /Non maleficence

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im Einklang mit dem «State of the art* » ausgeübt wird, • der Prävention und der Behandlung von vermeidbarem Schmerz und Leiden besondere Beachtung geschenkt wird, • die Umgebung so sicher wie möglich ist, Vorbeugemassnahmen gegen Nebenwirkungen und Komplikationen getroffen werden, • alle zur Verfügung stehenden Mittel zur Schadenbegrenzung oder –vermeidung eingesetzt werden, einschliesslich eines Überwachungs- und Meldesystems zum Schutz des Patienten gegen Irrtümer; • der Patient und die Bezugspersonen Partner bei der Pflege sind, ihre Meinung gesucht und ihre Entscheidungen respektiert werden; • der Patient in seiner verletzlichen Position vor jedem Missbrauch geschützt ist, • keine freiheitsbeschränkenden Massnahmen angewandt werden, es sei denn, es bestehe eine klar definierte sicherheitsorientierte Notwendigkeit; in diesem Fall ist diese ständig neu zu evaluieren. Risiken der Abweichung bei der Anwendung des Prinzips Nicht-Schaden Ist man ständig darauf bedacht, nicht zu schaden, kann es vorkommen, dass dieses Prinzip ohne jede Einschränkung angewandt oder schlecht verstanden und zum obersten Ziel der Pflege wird und somit jede Handlung lähmt. Ohne Risiko gibt es keine Entwicklung, selbst wenn der Schaden manchmal schwer zu erkennen und zu verhindern ist. Eine massive Zunahme der Anzahl Patientenklagen im Gesundheitsbereich könnte dazu führen, dass Pflegende in bestimmten Situationen untätig bleiben, um ein Risiko auszuschliessen... was jedoch nicht notwendigerweise verhindert, dass ein Schaden verursacht wird. Das Anliegen des Nicht-Schadens kann zur routinemässigen Anwendung von freiheitsbeschränkenden Massnahmen führen (Gitter, Fixationssysteme, Medikamente usw). Dies geschieht insbesondere in Stresssituationen, wo Personal- und Zeitmangel das Besprechen von Massnahmen verunmöglichen, oder wo Wissen und Know-how nicht dem neuesten Stand der Erkenntnisse entsprechen (s. auch State of the art). Es kann vorkommen, dass eine Pflegeperson das Anliegen, nicht zu schaden, nicht in den Zusammenhang mit vertieften und aktualisierten Kenntnissen stellen kann. Dadurch kann diese im Namen des Prinzips des NichtSchadens zurückschrecken vor Pflegemassnahmen, die schmerzhaft oder risikoreich sind, aber langfristig nützen können (Mobilisation, Medikamente, freiheitsbeschränkende Massnahmen, Stimulation...). Dieselbe Haltung kann dazu führen, persönliche Ressourcen und Fähigkeiten des Patienten falsch einzuschätzen. Wissen Pflegende nicht, wie sie ihm helfen können, werden möglicherweise bestimmte Chancen vorenthalten. Soll bei dem Versuch, dem Patienten nicht zu schaden, ein Schaden oder Risiko für andere (Pflegeteam, Familie, andere Bezugspersonen) vermieden werden, muss zwischen mehreren Möglichkeiten abgewogen werden. Probleme und Dilemmata hinsichtlich des Prinzips Nicht-Schaden Wie soll man eine Person schützen, die nicht oder nicht mehr fähig ist, ihre Autonomie auszuüben, da ihre Urteilsfähigkeit durch Alter oder Krankheit beeinträchtigt ist, ohne ihr den Willen der Pflegenden aufzuzwingen? Es kann sich beispielsweise um eine ältere, geschwächte und

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Pflegeethik: Prinzip Nicht-Schaden /Non maleficence

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teilweise verwirrte Person handeln, die sich weigert, ihre Wohnung zu verlassen - oder um eine verwirrte Person, die der Gefahr von Stürzen ausgesetzt ist oder die elementare Massnahmen der Körperhygiene ablehnt.

Gutes tun/Nicht-Schaden/Autonomie Wie kann man vermeiden, dass das Anliegen, nicht zu schaden zu einer Ausrede dafür wird, untätig zu bleiben oder zur Verschleierung der eigenen Ängste oder Interessen dient? Dies geschieht dann, wenn man Risiken und Nebenwirkungen bagatellisiert, um den Patienten nicht zu beunruhigen.

Gutes tun/Nicht-Schaden/Autonomie Wie kann man reagieren, wenn man mit Eltern konfrontiert ist, die auf wirksame, aber schmerzhafte oder emotional belastende Pflegemassnahmen für ihre Kinder verzichten wollen (Bettruhe, Mundpflege, Isolierung). Dieselbe Frage stellt sich auch bei Patienten, die für die eigene non-compliance* im Therapieprozess bei Pflegenden eine Bestätigung suchen.

Nicht-Schaden/Gutes tun Wie soll man sich bei kulturellen Bräuchen oder familiären Gewohnheiten verhalten, die schädlich für den Gesundheitszustand erwachsener Personen sind, wie soll man sich verhalten, wenn es sich um Kinder handelt?

Autonomie/Nicht-Schaden Wie ist vorzugehen, wenn man die Sicherheit der Patienten mit der Notwendigkeit des Lernens der Pflegenden, oder die Sicherheit der Patienten mit der Notwendigkeit der Forschung vereinbaren muss?

Gutes tun/Nicht-Schaden Wie ist die Angemessenheit von therapeutischer und palliativer Pflege zu gewährleisten (das Ziel, letztlich mehr zu nützen als zu schaden)? Wie weit sind die Wertvorstellungen jedes Einzelnen zu respektieren, wenn Pflegemassnahmen unverhältnismässig erscheinen, weil sie mehr schaden als nützen? Wie ist das Gute für Patient und Gesellschaft (Nutzen/ Kosten) sicherzustellen? Wie ist jedes unnötige Festhalten an einer einmal begonnenen Behandlung, aber auch jeder nicht zu rechtfertigende Abbruch einer Behandlung zu vermeiden?

Gutes tun/Nicht-Schaden/Gerechtigkeit Wie sollen sich Pflegende verhalten, wenn sie feststellen, dass ein anderes Mitglied des Pflegeteams (unabhängig von seinem Rang oder seiner Position) einen Fehler begangen hat?

Nicht-Schaden/Gerechtigkeit

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: Beobachter 23/2005, S: 15ff

Versagte die Heimleitung?

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Der Luzerner Todespfleger Roger A. brachte mindestens 22 betagte Menschen um. Das Personal schöpfte zwar schon früh Verdacht, aber niemand schritt ein. Der Sohn des letzten Opfers will wissen, warum. VON GIAN SIGNORELL Marie Anzi wollte nicht sterben. Nach Leibeskräften wehrte sie sich gegen ihren Mörder. Aber gegen die Körperkraft von Krankenpfleger Roger A. hatte die 76-jährige Frau - ihr Geburtstag lag nur gerade eine Woche zurück - nicht den Hauch einer Chance. Der 36-Jährige presst der Rentnerin einen zusammengefalteten Plastiksack auf Mund und Nase und schneidet ihr dadurch die Luftzufuhr ab. Marie Anzi erstickt nachts in ihrem Zimmer im Pflegeheim Eichhof in Luzern - nach einem grauenvollen Todeskampf. «Ich weiss, dass meine Mutter in ihrer Todesstunde durch die Hölle ging», sagt Charles Anzi, einer der drei Söhne von Marie Anzi. Roger A. fuhr nach vollbrachter Tat nach Hause und schaute sich nit seiner Freundin einen Film an. Seit dem Mord an seiner Mutter im Juni 2001 findet Charles Anzi keine Ruhe. Die immergleiche Frage ist es, die ihn umtreibt: «Könnte die Mutter noch leben?» Zu Hause in seinem Wohnzimmer stapeln sich neben dem Esstisch in einem extra eingerichteten Gestell die Ordner, in denen das Treiben von Roger A. minuziös festgehalten ist. Stundenlang hat sich Charles Anzi schon in diese traurige Lektüre vertieft; je mehr er erfuhr, desto drängender wurde das Bedürfnis, grösstmögliche Gewissheit zu haben über die genauen Todesumstände seiner Mutter. Und Anzi reichte gegen die Leitung des städtischen Pflegeheims Strafanzeige ein. «Intervention auf gut Glück» Roger A. wird schon am Morgen nach dem Mord an Marie Anzi verhaftet. Er lässt sich widerstandslos festnehmen und gesteht bei der ersten Befragung. Die Polizei war mit einem Grossaufgebot ausgerückt, als sie die Meldung erhalten hatte, im «Eichhof» sei erneut jemand zu Tode gekommen. Es habe sich um eine «Intervention auf gut Glück» gehandelt, sagte der Chef der Luzerner Kriminalpolizei, Daniel Bussmann, später an einer Medienkonferenz - die Verdachtslage gegen Roger A. sei sehr vage gewesen. Und der Luzerner Sozialdirektor Ruedi Meier führte aus, die «den üblichen Rahmen übersteigende Sterbehäufigkeit» habe «die Aufmerksamkeit des erfahrenen Geriaters und Heimarztes Dr. W*» geweckt. Charles Anzi hingegen hat nach seinem Aktenstudium ein anderes Bild der Ereignisse gewonnen. Roger A. tritt seine Stelle als diplomierter Krankenpfleger im Betagtenzentrum Eichhof im Dezember 2000 an. Er arbeitet auf der Pflegestation A. auf der die ruhelosen und altersdementen Heimbewohnerinnen betreut werden. Niemand ahnt, dass ein mehrfacher Mörder eingestellt wurde. Mehr als zehnmal hatte Roger A. zuvor schon getötet: auf der Geriatrieabteilung des Obwaldner Kantonsspitals in Sarnen, im Betagtenheim Am Schärme in Sarnen, im Pflegezentrum Seematt in Küssnacht SZ. Wenige Tage nach seinem Stellenantritt, es ist kurz vor Weihnachten, beginnt das Sterben auch auf der Pflegestation A.

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Versagte die Heimleitung?

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Die plötzliche Häufung der Todesfälle wird entgegen der offiziellen Darstellung schon früh registriert. Angestellte werden stutzig, einzelne stellen bereits im Januar eine Verbindung her zwischen der Häufung der Todesfälle und der Person von Roger A. Denn das Verhalten des neuen Mitarbeiters ist mehr als merkwürdig. Der Pfleger soll die Todeszeitpunkte einzelner Bewohnerinnen vorausgesagt und sich damit gebrüstet haben. Er soll Leichen ungebührlich behandelt haben, indem er sie wie eine Puppe manipulierte. Das Pflegepersonal bemerkt bei einzelnen Heimbewohnerinnen blaue Flecken, deren Ursache es sich nicht erklären kann. «Meine Mutter wurde von Roger A. in den Monaten vor ihrer Ermordung aus persönlicher Antipathie schikaniert, vielleicht sogar geschlagen», sagt Anzi. Zumindest eine, vermutlich aber mehrere Krankenschwestern melden ihre Beobachtungen den Vorgesetzten. Auch Pflegedienstleiter F., im «Eichhof» für den gesamten Pflegebereich zuständig, wird aufmerksam: Zu allen Todesfällen - es sind mittlerweile schon vier - kommt es, wenn Roger A. im Dienst ist. Der Pflegedienstleiter holt bei früheren Arbeitgebern von A. Referenzen ein, seine Nachforschungen können den Verdacht aber nicht bestätigen. Kein Wunder: Wichtige Informationen erhält F. nicht. Denn zumindest im Pflegeheim Am Schärme ist das Personal auch auf Roger A. aufmerksam geworden und stellt eine Verbindung her zwischen ihm und der Häufung der Todesfälle. Edith Schuler, Leiterin Pflegedienste «Am Schärme», will dies aber nicht bestätigen: «Niemand vom Pflegepersonal hat zu mir einen Verdacht gegen Roger A. geäussert.» Und Heimdirektor Zdenek Madera sagt: «Keiner hatte damals einen Verdacht. Im Nachhinein kann jeder etwas behaupten. Wir haben aber aus den Ereignissen gelernt, die Weiterbildung verstärkt und die Sicherheit verbessert. Heute sind wir viel sensibilisierter.» Die Öffentlichkeit erfuhr nichts Pflegedienstleiter F. wechselte im März 2001 die Stelle. Zuvor hatte er seine Bedenken dem Heimarzt W. und dem Heimleiter Z.* mitgeteilt. «Der Pflegedienstleiter forderte den Heimarzt W. nach seinen eigenen Angaben explizit auf, ein Auge auf Roger A. zu haben - besonders im Fall von weiteren überraschenden Todesfällen», sagt Charles Anzi. Doch die Befürchtungen von F. scheinen bei der Heimleitung nicht auf die gebührende Beachtung gestossen zu sein. Diesen Schluss lässt zumindest die Tatsache zu, dass die Polizei von den unheimlichen Vorgängen im «Eichhof» erst am 11. Juni 2001 erfuhr - rund sechs Monate nachdem ein Teil des Personals Verdacht geschöpft und knapp vier Monate nachdem der Pflegedienstleiter auf die Problematik um die Person von Roger Ä. hingewiesen hatte. Der frühe Verdacht des Pflegepersonals, die ungeklärten blauen Flecken bei einem Teil der Heimbewohnerinnen, der ungebührliche Umgang mit den Leichen, die Warnung des Pflegedienstleiters F.: Von all diesen Dingen erfuhr die Öffentlichkeit an der Medienkonferenz im Anschluss an die Verhaftung von Roger A. nichts. «Ich habe den damaligen Kenntnis-Stand referiert, wie er mir bekannt war. Aus dieser Sicht war die Kausalkette zwischen dem Verhalten des Täters und den Todesfällen nicht erkennbar und nicht so klar wie heute», sagt Stadtrat Ruedi Meier. Der mittlerweile pensionierte Heimarzt W. und der damalige Heimleiter Z. wollen sich mit Hinweis auf das laufende Strafverfahren nicht äussern.

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Versagte die Heimleitung?

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Roger A. wurde im Januar 2005 vom Luzerner Kriminalgericht wegen 22fachen Mordes und mehrfachen Mordversuchs zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. «Ich habe Gott gespielt», sagte der Todespfleger vor Gericht. Der Staatsanwalt qualifizierte ihn als geltungssüchtigen und überforderten beruflichen Versager. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Roger A. hat Berufung eingelegt. Die Strafuntersuchung gegen die Heimleitung soll noch in diesem Jahr zum Abschluss kommen. Dann entscheidet der mit der Untersuchung beauftragte Amtsstatthalter, ob Anklage erhoben wird. Charles Anzi fragt sich: «Wie hätte sich die Heimleitung wohl verhalten, wenn in der Zeit, als sich die Todesfälle häuften, ein eigenes Familienmitglied im gewesen wäre? Wären Massnahmen zum Schutz der bedrohten Heimbewohnerinnen auch unter diesen Umständen unterblieben?» •

* Initial geändert Beobachtertext: 23/05 Versagte die Heimleitung? 1.

Begründen Sie mit dem Milgram-Experiment, wieso Roger A. , beinahe unbehelligt von seinen Mitpflegenden, 22 betagte Menschen umbringen konnte?

2.

Welchen Prinzipien der Pflegeethik (im Mittelpunkt dieses Konzepts steht der Klient/die Klientin) widerspricht das Verhalten Anton A‘s?

3.

Welchen Forderungen des Ethik Kodex für Pflegende ( im Mittelpunkt dieses Konzepts steht die/der Pflegende) verletzt Roger A. mit seinem Verhalten?

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Pflegeethik: Prinzip Gerechtigkeit

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Im Allgemeinen bedeutet Gerechtigkeit die Anerkennung und die Achtung der Rechte, der Interessen, des Verdienstes einer Person oder einer Gruppe sowie die Anerkennung und die Achtung der Stellung, die ihm bzw. ihnen zusteht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den Bedeutungsgehalt von Gerechtigkeit festzuhalten: einerseits ist Gerechtigkeit eine subjektive Haltung von Individuen, die sich in Rechten und Pflichten gegenüber ihren Mitmenschen äussert. Andererseits stellt sie in objektivem Sinne ein Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens in Institutionen dar. Sie beschreibt, was in Recht, Staat, Politik usw. als gerecht gelten soll. Als Gleichheit verstanden formuliert sich Gerechtigkeit in demokratischen Gesellschaften als ein Recht, dessen Umsetzung nicht immer einfach ist. Das Gerechtigkeitsprinzip in der Pflege beinhaltet die Pflicht, die Ressourcen gerecht zu verteilen (austeilende Gerechtigkeit) und jeden gemäss seinen Bedürfnissen angemessen zu behandeln (ausgleichende Gerechtigkeit). Dies beinhaltet das Recht auf Pflege für alle (decent minimum*),die Chancengleichheit hinsichtlich des Zugangs zu den Ressourcen, das Abwägen zwischen Gleichheit und Bedürfnis (Individuen und Kollektive sind angesichts ihrer Gesundheitssituation nicht gleich) und die Ergänzung durch die Verantwortlichkeit (jeder hat die Pflicht, die Ressourcen angemessen zu verteilen). Die Umsetzung in die Praxis ist ausserordentlich komplex, denn die verteilende Gerechtigkeit kann auf unterschiedlichen politischen, ökonomischen oder sozialen Theorien beruhen (Utilitaris -mus, Liberalismus, Sozialismus usw.), die Auffassung von Bedürfnis kann auf die vielfältigste Weise interpretiert werden, und der Begriff des «decent minimum» in der Pflege kann je nach dem verfügbaren Angebot, dem Lebensstil und den finanziellen Mitteln des Einzelnen oder der Gemeinschaft variieren. Weltweit ebenso wie auf nationaler oder lokaler Ebene wird die Frage der Ressourcenverteilung eines der grössten Probleme des 3. Jahrtausends werden. Sollen Machtmissbrauch oder unüberlegte und schlecht geplante Zuteilungen vermieden werden, müsste jede Entscheidung über Zuteilung oder Rationierung von Ressourcen an ethischen Kriterien gemessen werden. Was fördert die Gerechtigkeit in der Pflege? Auf die Pflege angewandt bedeutet das Prinzip Gerechtigkeit, dass die Pflegende jeder Person, die Pflege benötigt, diese auf kompetente Weise zukommen lässt, und zwar unabhängig von deren Alter, Hautfarbe, Glauben, Kultur, Invalidität, Geschlecht, Nationalität, Politik, Rasse oder sozialem Status. Im Einklang mit dem Gerechtigkeitsprinzip teilen die Pflegenden mit der Gesellschaft die Verantwortung, Initiativen ins Leben zu rufen und zu unterstützen, deren Ziel es ist, die sozialen und gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung und insbesondere der verletzlichen Bevölkerungsgruppen zu befriedigen (ICN-Kodex, Fassung 2000). Das Prinzip Gerechtigkeit wird durch eine Pflege verwirklicht, die sich auf folgende Elemente stützt: • eine uneingeschränkte Achtung der Grundrechte und Würde des Menschen; • eine auf Wahrhaftigkeit, Treue und Vertrauenswürdigkeit ausgerichtete Kommunikation und Beziehung hat Vorrang. Die Information des Patienten und seiner Bezugspersonen über seine Rechte und Pflichten, über die zur Verfügung stehenden Mittel und die damit im Zusammenhang stehenden Bedingungen ist gewährleistet;

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Pflegeethik: Prinzip Gerechtigkeit

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• ein Eingehen auf Wünsche des Patienten im Rahmen dessen, was Pflegende oder die Pflegeeinrichtung vernünftigerweise bieten können; • eine Klarstellung, welche gegenseitigen Verantwortlichkeiten zwischen Patient und Pflegeperson bestehen; • eine Bereitschaft, die Entscheidung über die Zuteilung der Ressourcen zu begründen, denn jede «Ungerechtigkeit» muss durch ein vorrangigeres Prinzip begründet werden können; • ein Einüben der Güterabwägung, falls bei kritischen Situationen, die offensichtlich gleich schwer wiegen, eine Wahl getroffen werden muss; • eine Struktur, die es dem Patienten ermöglicht, Gerechtigkeit zu fordern (Ombudsstelle). Risiken der Abweichung bei der Anwendung des Prinzips Gerechtigkeit Das Prinzip Gerechtigkeit weist derart zahlreiche Dimensionen auf, dass das Risiko einer nicht angemessenen Umsetzung gross ist. Das liegt häufig an der Schwierigkeit, die Grundbegriffe richtig zu interpretieren; am Einfluss persönlicher Ideologien oder Wertvorstellungen oder am Druck finanzieller, politischer oder sozialer Natur. Die Verwechslung von «Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit» mit «Gerechtigkeit im Sinne von angemessener Verteilung» kann dazu führen, dass im Namen der Gleichheit die Individualisierung der Pflege verloren geht, oder dass die Ressourcen für einen einzigen Patienten, und zwar auf Kosten der anderen, verwendet werden. Die Erhöhung des «decent minimum» kann zur Aufblähung des Gesundheitssystems führen. Je nach verwendeter Theorie können bestimmte Arten von Diskriminierung (beispielsweise Alter oder Verdienst) im Namen der Gerechtigkeit begründet werden. Gleichermassen können bestimmte Interventionen auf Grund einer Benachteiligung (Schwierigkeit zu sprechen, Unkenntnis der Sprache, der eigenen Rechte, der geltenden Sitten) vorenthalten werden. So kann es vorkommen, dass gewisse Kriterien, beispielsweise Bedürfnis, Gleichheit, Nutzen, Verantwortlichkeit oder Verhältnismässigkeit nicht genügend gegeneinander abgewogen werden. Probleme und Dilemmata hinsichtlich des Prinzips Gerechtigkeit Wie soll man angesichts der Erhöhung der Ausgaben im Gesundheitsbereich die Entscheidungsfreiheit des Patienten respektieren, der eine Behandlung verlangt, deren Wirksamkeit in seinem bestimmten Fall nicht bewiesen ist, beispielsweise die Verabreichung von Antibiotika?

Gerechtigkeit/Autonomie

Wie kann man vorgehen bei einer begrenzten Anzahl von kompetenten Pflegepersonen, wenn zum Beispiel ein einziger Patient ständige Pflege benötigt und dies nur auf Kosten der Begrenzung der Pflege auf ein striktes Minimum (zur Gewährleistung der Sicherheit) der anderen Patienten der Station erreicht werden kann?

Gerechtigkeit/Gutes tun Wie ist zu reagieren, wenn ein an einer ansteckenden Krankheit (Tuberkulose, Aids usw.) leidender Patient sich weigert, auf die Rechte und Interessen seiner Bezugspersonen und der Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen, indem er Vorbeugemassnahmen und eine Behandlung ablehnt und seinen Partner oder seine Partnerin nicht informiert?

Gerechtigkeit/Autonomie/Nicht-Schaden

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Quelle: BEOBACHTER 13/2007 Seite: 73ff, Edith Lier

Pflegeethik: Tabuthema „Gewalt gegen Alte“

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Täglich werden Betagte von Angehörigen oder vom Pflegepersonal misshandelt. Das Leiden der Opfer - und der Täter - findet in aller Stille statt. Es ist höchste Zeit, das Tabu zu brechen. Misshandlung von Betagten hinter verschlossener Tür kommt in den besten Familien vor. Ein typisches Beispiel: Dreimal wurde die 79-jährige Albertine Nauer (Name geändert) von ihrer Schwiegertochter während einer Auseinandersetzung spitalreif geschlagen. Beim dritten Klinikaufenthalt weigerte sich die Witwe aus Angst vor weiteren Übergriffen, in ihre Wohnung auf dem Bauernhof ihres Sohnes zurückzukehren. Das Spitalpersonal schaltete die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter (UBA) ein. Dank deren Netzwerkarbeit konnte die Betroffene nach dem Spitalaufenthalt umgehend ein neues Zuhause beziehen. Und ein pensionierter Jurist der Beschwerdestelle verpflichtete den Sohn, für die Miete aufzukommen, zumal der Mutter ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Hof zustand. «Die Problemsituationen und Misshandlungen von Betagten zu Hause im Familienkreis sind immer noch mit einem Tabu belegt», so Anja Bremi, seit zehn Jahren Präsidentin der UBA Zürich und Schaffhausen. Fachleute und Behörden gehen von einer riesigen Dunkelziffer aus. Auffallend wenig, nämlich nur gerade zehn Prozent aller Beschwerden, die an die UBA gelangen, kommen aus dem direkten familiären Umfeld. In Frankreich beispielsweise sind es hingegen 70 Prozent. Dort ist die Problematik offenbar weniger tabubehaftet als hierzulande. Expertin Anja Bremi zieht eine Parallele zur anfänglichen Verdrängung häuslicher Gewalt gegen Kinder. Lange Zeit wurde diese Problematik totgeschwiegen. Heute sind Eltern, Betreuerinnen und Lehrerschaft sensibilisiert und reagieren entsprechend. Beratungs- und Kriseninterventionsstellen bieten professionelle Hilfe an. Anja Bremi hofft, dass auch die Gewalt im Alter verstärkt thematisiert und offen diskutiert wird. Die Hoffnung ist berechtigt. Während sich vor zehn Jahren bei der Beschwerdestelle 70 Prozent der Vorwürfe gegen Heime richteten, waren es letztes Jahr noch 50 Prozent. Bremi: «Die Heime zeigen sich heute aufgeschlossener gegenüber der Problematik.» Zudem würden professionelle Freiwillige ihrer Organisation die Angehörigen von Betagten frühzeitig beraten und könnten so einen schwelenden Konflikt entschärfen oder lösen, bevor die Heimleitung intervenieren müsse. Vermehrt wenden sich heute die Verantwortlichen der Heime in Konfliktsituationen an die UBA, um kompetente Unterstützung von aussen zu erhalten. Die restlichen Beschwerden betreffen Behörden, Sozialversicherungsämter oder Krankenkassen. Die Stadtzürcher Altersheime setzen gezielt auf Prävention und Weiterbildung und haben für ihre Institutionen ethische Richtlinien im Umgang mit Betagten festgelegt. Kernsätze dabei sind: Würde und Selbstbestimmung achten, Freiheit garantieren, Zusammenleben ermöglichen, Sicherheit optimieren, Lebensqualität verbessern. Regelmässig organisiert der Ethikprofessor Klaus Peter Rippe für die Mitarbeitenden der Zürcher Alters- und Pflegeheime sogenannte Ethik-Cafes. Anhand von Fallbeispielen diskutieren die Teilnehmenden den würdevollen Umgang mit Betagten und reflektieren ihr eigenes Verhalten auch gegenüber aggressiven Pflegefällen. Verwahrlosung und Isolation Betagte, die Gewalt in den eigenen vier Wänden erdulden, vertrauen sich hingegen nur selten Dritten an. Die Opfer befürchten, von den Angehörigen zu Hause noch mehr gepeinigt zu werden, und lassen die entwürdigenden Behandlungen schweigend über sich ergehen. «Vor Gewalt im Alter verschliesst die Gesellschaft immer noch die Augen», erklärt Albert Wettstein, Leiter

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Pflegeethik: Tabuthema „Gewalt gegen Alte“

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des Stadtärztlichen Dienstes Zürich. Auf der anderen Seite räumt er wissenschaftlich untermauert mit dem Mythos auf, Vernachlässigungen von Betagten gingen in erster Linie auf das Konto von geldgierigen Erben oder sadistischem Pflegepersonal. Vielmehr lehne der Grossteil der Betroffenen jegliche Unterstützung ab. Gemäss texanischen Untersuchungen gleiten 71 Prozent der Betagten über 75 Jahre in Verwahrlosung und Isolation ab, weil sie keine Hilfe annehmen wollen. Aus Scham lassen sie niemanden in ihre Wohnung und leben im Unrat. 17 Prozent leiden unter Vernachlässigung durch Dritte, fünf Prozent erdulden körperliche, psychische oder sexuelle Misshandlungen, sieben Prozent werden finanziell ausgebeutet. „Gewalt hat viele Gesichten“, sagt Anja Bremi. «sie kann sehr subtil sein» (siehe «Von kleinen Gemeinheiten bis zur Misshandlung»). Sie plädiert für Wachsamkeit: «Alle haben eine soziale Verpflichtung, ihr Umfeld aufmerksam zu beobachten und Auffälligkeiten nötigenfalls zu melden.» Auch Hausärzte, Sozialämter. Vormundschaftsbehörden oder Polizeistellen müssen sensibilisiert werden. «Das Tabuthema muss vom Kopf in den Bauch», sagt Guido Capecchi. Er hat mit dem Interaktiven Theater Knotenpunkt authentische Situationen aus dem Leben alter Menschen zusammengetragen und zum Bühnenstück «Wie im Himmel» verdichtet. Es richtet sich vor allem an Leute, die in der Betagtenbelreuung arbeiten. Die gezeigten Gewaltszenen spiegeln auf fundierte, provokative Art die Ohnmacht, Hilflosigkeit und Überforderung aller Betroffenen wider. In einem anschliessenden interaktiven Teil wird das Publikum motiviert, aktiv in die Handlung auf der Bühne einzugreifen und selber nach ethischen, menschlichen Lösungsansätzen zu suchen. «Die Szenen sind authentisch und gehen unter die Haut», sagt UBA-Präsiden-lin Anja Bremi anerkennend. Die Betroffenheit bekommt ein Gesicht. • • Weitere Infos Adresse -> Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter, Zürich und Schaffhausen Malzstrasse 10, 8045 Zürich Telefon 058 450 60 60, Fax 058 450 60 61 www.uba.ch, [email protected] Internet -> www.knotenpunkt.ch ->www.patientenstelle.ch -> www.spitex.ch -> www.pro-senectute.ch

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Pflegeethik: Tabuthema „Gewalt gegen Alte“

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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gewalt gegenüber Betagten in all ihren Facetten. Psychische Misshandlung -> offene oder versteckte Vorwürfe, Kritik, Sticheleien, Schuldzuweisung -> Demütigungen, vor Dritten blossstellen -> mit Alters- oder Pflegeheim drohen -> Liebesentzug, die Enkelkinder fernhalten, nicht an Familienfeste einladen -> Freiheitsberaubung durch übermässige Fürsorge Physische Misshandlung -> unsorgfältiger Umgang bei der Pflege, Haare reissen beim Kämmen, hastige Verpflegung -> am Bett festbinden -> schütteln und schlagen Finanzielle Misshandlung -> das Taschengeld streichen -> Wertsachen verschwinden lassen, Testament abändern -> Geld erschleichen, Häuser kaufen oder verkaufen Passive Versäumnisse -> mangelnde Hygiene -> unzuverlässige Verpflegung -> Verletzung der Intimsphäre, zum Beispiel ungefragt Schränke öffnen, Pflege bei geöffneter Tür, ohne anzuklopfen ins WC eintreten -> Informationen und Erklärungen zurückhalten Aktive Versäumnisse -> Essen und Trinken einschränken -> ärztliche Hilfe vorenthalten -> religiöse Rituale verhindern Verletzung der Menschenrechte -> Post, Rechnungen oder Bankauszüge geheimhalten -> Stimmzettel unterschlagen Medikamentöse Misshandlungen -> notwendige Medikamente entziehen -> ohne Rücksicht auf Schädigung zu viele Medikamente verabreichen

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA Fünf Arbeitsschritte zur Lösung ethischer Probleme. Quelle: K. Stanjek (Hrsg.), Sozialwissenschaften: Altenpflege konkret,

Altenpflege: 5 Schritte zur Lösung ethischer Probleme 1. Herr Seiler lebt in einem Altenheim. Die Altenpflegerin Anne Schulte bemerkt, dass er seine Unterwäsche nur einmal pro Woche wechselt. Vorsichtig weist sie ihn auf die Hygiene hin und versucht herauszufinden, ob er dem Wäschedienst misstraut, aber der Grund ist einfach: Das habe er schon immer so gemacht. Als Beschwerden über Gerüche kommen, wird Herrn Seiler angeboten, ihn täglich zu waschen und die Wäsche zu wechseln. Nach langer Diskussion erklärt er sich bereit, alle zwei Tage seine Wäsche zu wechseln. 2. Frau Menning liegt im Sterben. Ihr Hausarzt schaut täglich im Heim vorbei, er will sie für die letzten Tage nicht mehr aus ihrer Umgebung reißen. Als sie bewusstlos wird, fordern die Angehörigen, dass sie ins Krankenhaus gebracht wird, damit sie medizinisch besser versorgt werden kann. Der Konflikt dreht sich um die Frage, welchen Wunsch Frau Menning gehabt hätte: Dass sie in Frieden in der ihr bekannten Umgebung sterben kann oder dass jeder Versuch zur Lebensrettung unternommen wird. 3. Die Altenpflegerin Frau Keller pflegt seit einigen Tagen Herrn Sieber. Gleich bei ihrem ersten Einsatz erzählt er ihr ausführlich seine Lebensgeschichte, von seinen Erinnerungen an die Nazizeit und seinen Kriegserlebnissen. Bald stellt Frau Keller fest, dass Herr Sieber Mitglied der NSDAP war und bis heute mit faschistischen Ideen sympathisiert, er macht ständig ausländerfeindliche Bemerkungen. Frau Keller denkt, bei so einer menschenverachtenden Haltung verdient Herr Sieber keine Pflege und Zuwendung. 4. Im Pflegeheim St. Anna wird es in der Spätschicht mal wieder eng. Normalerweise sind zwei examinierte Altenpflegerinnen und eine Pflegehelferln für die Pflege der 19 Bewohnerinnen eingeteilt. Eine Altenpflegerin hat sich am Nachmittag krank gemeldet, sodass die Altenpflegerin Sabine Blume während des Abendbrots für die Medikamentenausgabe allein verantwortlich ist. An diesem Abend sind die Bewohnerinnen sehr unruhig. Die noch unerfahrene Pflegehelferin fühlt sich überfordert und ruft Frau Blume des Öfteren zu Hilfe. Diese muss ständig Arbeits-

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Altenpflege: 5 Schritte zur Lösung ethischer Probleme

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vorgänge unterbrechen. Das Essen steht schon auf dem Tisch. Jetzt noch schnell die Medikamente verteilen und ausgeben. Nachdem auch die verwirrten Bewohnerinnen für die Nacht zurechtgemacht sind, fährt Frau Blume beim Übergabegespräch der Schreck in die Glieder. Sie hat die unterschiedlichen Medikamente von Frau Meyer und Frau Müller in der Hektik vertauscht. 5. Seit Tagen tut sich Frau Krämer schwer mit dem Essen. Sie lebt bei ihrer berufstätigen Tochter und wird morgens und mittags von Mitarbeiterinnen des ambulanten Pflegedienstes versorgt. Weder ihnen noch der Tochter gelingt es, Frau Krämer ein wenig Nahrung zuzuführen. Bei allen Versuchen presst sie die Lippen aufeinander oder dreht den Kopf zur Seite. Die Tochter macht sich Sorgen und der Pflegedienst befürchtet, seine Aufgaben nicht umfassend erfüllen zu können. Alle wissen: Falls Frau Krämer sich weiter weigert Nahrung, und vor allem Getränke aufzunehmen, wird ihre Gesundheit stark gefährdet. Geduld und Zeit sind jedoch nicht endlos vorhanden, sodass bereits an eine Zwangsernährung gedacht wird. 6. Frau Peters ist herrisch und redet immer in einem Befehlston. Sie ist sehr schwer und sitzt die meiste Zeit des Tages im Rollstuhl. Seit sie Entwässerungsmedikamente bekommt, klingelt sie häufig, um sich beim Toilettengang helfen zu lassen. Die Altenpflegerin Astrid Berger glaubt, dass Frau Peters nur klingelt, um sie zu schikanieren. Eigentlich will sie Frau Peters helfen, aber die Situation wird für sie immer unerträglicher, sie ist unfreundlich und manchmal grob. Ihre Kollegin beobachtet, wie sie immer häufiger auch berechtigte Wünsche von Frau Peters ignoriert und sich stattdessen verstärkt der Zimmernachbarin zuwendet. Dadurch ist Frau Peters noch mehr gekränkt. Astrid weicht dem Thema aus. 7. Nach dem Tod seiner Frau vor einigen Monaten erlitt Herr Hoffmann einen Schlaganfall und ist bettlägerig. Bis heute hat er sich nicht an die für ihn neuen Lebensbedingungen im Pflegeheim gewöhnt. Nur zu der Altenpflegerin Gerda Meier hat er Vertrauen gefunden. Sie ist die Einzige, von der er sich waschen lässt und die überhaupt in seine Nähe darf. Alle sind erleichtert, wenn Frau Meier ihre Schicht hat und sich um Herrn Hoffmann kümmern kann. Zunächst fühlte sie sich dadurch bestätigt, aber seit einigen Tagen fällt es ihr immer schwerer, das Zimmer von Herrn Hoffmann zu betreten. Anfangs erschien es nur zufällig, aber mit der Zeit versucht Herr Hoffmann immer direkter, Frau Meiers Brüste zu berühren. Dabei atmet er lauter, auch wenn sie sich schnell abwendet. Sic hat in gewisser Weise Verständnis für ihn, aber sie möchte sich nicht begrapschen lassen. 8. Die Altenpflegeschülerin Sarah Berg geht mit großem Idealismus in ihr erstes Praktikum. Der Altenpfleger Peter Wüst zeigt ihr die Station und stellt die Bewohner vor. „Das ist der Theo. Wir duzen hier alle, das ist bei uns so üblich", erklärt er. Frau Berg erschrickt. 9. Frau Schäfer ist bewusstlos. Der Pflegeschülerin Gabi Carstens fällt auf, dass die Altenpflegerinnen sie als bequeme Patientin links liegen lassen. Einige sagen sogar: „Bei der kommt sowieso nichts mehr an." Gabi Carstens überlegt, ob nicht auch bei Bewusstlosen bestimmte Wahrnehmungen vorhanden sind und ein Bedürfnis nach Zuwendung besteht. Sie denkt dabei an ihren dreimonatigen Sohn, dem sie ihre ganze Liebe und Zuwendung schenkt. Sie weiß aus dem Unterricht, dass diese Zuwendung ein grundlegendes Vertrauen schafft.

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Altenpflege konkret: Lösungen Fallbeispiele Seite 104

Quelle: Karl Stanjek (Hrsg.): Sozialwissenschaften: Altenpflege konkret, Urban & Fischer, 3. Auflage)

1. Bei vielen Problemen gibt es die Möglichkeit, einen Kompromiss zu finden oder eine Annäherung an ein Ziel in kleinen Schritten zu erreichen. So kann eine Lösung gefunden werden, mit der alle mehr oder weniger einverstanden sind. Dadurch können Gesichtsverluste weitgehend vermieden werden. Auch verringert sich die Gefahr, dass der alte Mensch als schwächerer Beteiligter des Konflikts übergangen wird. Wo immer möglich, sollte der Weg des Kompromisses gesucht werden. 2. In manchen Fällen stehen sich verschiedene, in etwa gleichgewichtige Werte gegenüber, die sich gegenseitig ausschließen. Hinter jeder der beiden Möglichkeiten stehen ernst zu nehmende Gründe und vor allem intensive Gefühle. Hier gibt es keinen Kompromiss, hier muss es zu einer Entweder-Oder-Entscheidung kommen. Um die Akzeptanz einer Entweder-Oder-Entscheidung zu erleichtern, sollten Gesichtsverluste so gering wie möglich gehalten werden, indem:  Die Gefühle und inneren Widerstände des anderen respektiert und verbalisiert werden.  Die Entscheidungsgründe und die eigenen Gefühle offen gelegt werden.  Kleine Spielräume oder Entgegenkommen in einem anderen Punkt Wertschätzung signalisieren. 3. Es gibt einen Unterschied zwischen persönlichem und professionellem Handeln. Persönlich würde Frau Keller nicht mehr zu Herrn Sieber gehen wollen, weil sie seine Äußerungen abstoßend findet. Von einer professionellen Altenpflegerin wird jedoch erwartet, dass sie ihre Arbeit unabhängig von Nationalität, Glaube und politischer Überzeugung verrichtet. Das fällt manchmal schwer. Wenn eine Äußerung als Ich-Botschaft formuliert wird („Ich teile Ihre Einstellung ganz und gar nicht, Herr Sieber"), verletzt Frau Keller nicht ihre Aufgabe, aber sie fällt ihr leichter, weil sie ihren Standpunkt deutlich gemacht hat. 4. Nachdem Frau Blume die Situation klar ist, befindet sie sich in einem Konflikt: • Soll sie den Nachtdienst über ihren Irrtum informieren und eine Ärztin herbeirufen? In diesem Fall geht Frau Blume das Risiko ein, Ärger zu bekommen oder in Zukunft mit Misstrauen der Bewohnerinnen und Kolleginnen rechnen zu müssen. • Soll sie ihren Fehler für sich behalten? Diese Entscheidung betrifft das Wohl und die Gesundheit der beiden Bewohnerinnen. Es besteht die Gefahr, dass sie Schaden nehmen und der Nachtdienst möglicherweise auftretende Krankheitssymptome nicht einschätzen kann. Welche persönlichen Werte spielen für Frau Blume eine Rolle? Zum Beispiel: Sie möchte eine gute und verantwortungsvolle Altenpflegerin sein. Diesen Anspruch hat sie gegen sich selbst. Sie möchte aber auch, dass ihre Vorgesetzten und ihre Kolleginnen diese Eigenschaft an ihr schätzen und sie nicht wegen eines Fehlers in eine „Schublade" stecken. Wer ist an diesem Konflikt noch mit welchen Interessen beteiligt? • Die Bewohnerinnen mit ihren Ängsten und mit ihrem Vertrauen auf eine zuverlässige Versorgung einerseits und ihrem Recht auf Information andererseits.

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Altenpflege konkret: Lösungen Fallbeispiele Seite 105

• Das Pflegeheim, das entsprechende Arbeitsbedingungen für das Personal gewährleisten muss. • Die Kolleginnen, die mit den Folgen der falschen Medikation umgehen müssen. 5. Freiheit und Zwang verursachen in der Altenpflege häufig ethische Konflikte. Meist erfolgt die Zwangsanwendung aus der Sorge um das Wohl des zu Pflegenden. Wo aber liegt das Wohl? Wenn sich Frau Krämer einer Ernährung von außen entzieht, tut sie das aus einem bestimmten Grund: • Welches sind die Gründe und Ursachen für die Verweigerung? Liegen sie vielleicht nur an bestimmten Speisen, den Personen oder der Art und Weise der Nahrungsaufnahme? • Wird eine Verweigerung vielleicht nur in ihr Verhalten hineingedeutet? • Ist ein Verzicht auf weitere Ernährung zu rechtfertigen? Sollen die Altenpflegerinnen nun • Der unbedingten Forderung nach dem Erhalt des Lebens und ihrer Fürsorgepflicht nachkommen und die Nahrungsaufnahme erzwingen? • Die Persönlichkeitsrechte von Frau Krämer respektieren und auf Zwang und Gewalt und eine vielleicht sinnlose Lebensverlängerung verzichten? 6. Im Umgang mit alten und pflegebedürftigen Menschen entstehen bei Altenpflegerinnen Gefühle, beschützen und helfen zu wollen oder aber, wenn die alten Menschen nicht „funktionieren", wie es erwartet wird, das Bedürfnis, ihre Interessen auch gegen den Willen der zu Pflegenden durchzusetzen. Für viele Altenpflegerinnen entstehen dadurch Probleme im Umgang mit Macht, Abgrenzung und Verantwortung und führen häufig zu Gewalt, zunächst wahrscheinlich nur in kleinen Formen: „Gleich nehm ich ihr die Klingel weg." Der Umgang mit Aggressionen und Gewalt gehört zu den belastenden Situationen, die Altenpflegerlnnen in ihrer Arbeit erleben. Meistens werden bei den Beteiligten tiefe und verborgene Wünsche angesprochen, die eine ehrliche und ethisch vertretbare Lösung erschweren. Frau Bergers Konflikt ist vielschichtig: • Soll sie ihre persönlichen Gefühle zurückstellen und Frau Peters behandeln wie die anderen Bewohnerinnen? Wie weit können sich Altenpflegerinnen zugunsten der Bewohnerinnen zurücknehmen? Wo liegen die Grenzen des Berufsethos Altenpflege? • Soll sie ihren persönlichen Gefühlen nachgeben und Frau Peters weiterhin ignorieren? Hierbei würde sie jedoch ihre Fürsorgepflicht und das Recht der Bewohnerin auf gleiche Behandlung verletzen. Wer ist noch an diesem Konflikt beteiligt? • Die Kollegin, die Frau Berger durch freundliche Hinweise helfen möchte. Wenn das nichts ändert, kann oder muss sie dann dieses Verhalten - zum Schutz von Frau Peters und von Frau Berger - der Leitung melden, um Schlimmeres zu verhüten? • Die anderen Mitarbeiter, die Frau Bergers Situation durch Gesprächsbereitschaft oder Supervision erleichtern können • Welche Gefühle empfindet Frau Peters, wenn sie abgelehnt wird? Letztendlich ist sie dem Verhalten der Altenpflegerinnen hilflos ausgeliefert.

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Altenpflege konkret: Lösungen Fallbeispiele Seite 106

• Die Organisation Pflegeheim, die mit ihren Bewohnerinnen einen Vertrag über eine angemessene professionelle Versorgung abschließt. 7. Gerda Meier befindet sich in einem Konflikt, der nicht nur ethische Fragen aufwirft, sondern auch Gefühle wie Scham, Ekel und Erniedrigung betrifft. Das Problem alter Menschen im Pflegeheim ist, dass das Bedürfnis nach Sexualität ein Tabu ist. Frau Meier ist sich dieser Situation bewusst, doch auch sie hat ihre Menschenwürde und den Anspruch, dass ihre Würde genauso respektiert wird wie die von Herrn Hoffmann. • Wie und wo können alte Menschen ihre Sexualität ausleben? • Geht Herr Hoffmann bewusst vor oder ist er wegen seiner Erkrankung nicht mehr ausreichend steuerungsfähig? • Soll sie das Verhalten von Herrn Hoffmann unbeachtet lassen und ihre Abwehrgefühle verdrängen? Wo liegen ihre Grenzen? • Soll sie auf verbale oder nonverbale Weise die Annäherungsversuche von Herrn Hoffmann konsequent ablehnen? Darf sie sich körperlich wehren? • Soll sie seine sexuellen Wünsche im Team besprechen und nach anderen Möglichkeiten der Befriedigung suchen? Damit würde sie eventuell die Intimsphäre von Herrn Hoffmann verletzen. Diese Situation betrifft nicht nur Gerda Meier und Herrn Hoffmann. Sie geht auch die anderen Bewohnerinnen, Mitarbeiterinnen, die Leitung und die Öffentlichkeit etwas an. • Sind Frau Meiers Kolleginnen an diesem Konflikt unbeteiligt, nur weil sie nicht direkt den Annäherungsversuchen von Herrn Hoffmann ausgesetzt sind? Soll sie ihre Situation im Team oder in der Supervision ansprechen, auch wenn Sexualität ein Tabuthema ist? Soll sie sich den oft dummen Kommentaren mancher ihrer männlichen Kollegen aussetzen? Andererseits sind Männer genauso von sexuellen Übergriffen betroffen, sie fühlen sich aber wegen ihrer körperlichen Überlegenheit meist nicht so bedroht wie Frauen. Haben alte Menschen überhaupt noch eine Sexualität und wie unterscheidet sich ihre Sexualität von der jüngerer Menschen? Wie und wo sollte ihnen die Ausübung ihrer Sexualität ermöglicht werden? Wie sieht das Bild der Alterssexualität in der Öffentlichkeit aus? Welche Vorurteile bestehen gegenüber der Sexualität im Alter? 8. Ihre Bereitschaft, sich als Praktikantin anzupassen, wird sofort auf eine harte Probe gestellt. Frau Berg steckt in einem Dilemma: • Einerseits möchte sie ihre Achtung vor der Persönlichkeit dieser älteren Menschen durch das Sie ausdrücken. • Andererseits fragt sie sich, ob die alten Menschen vielleicht einverstanden sind. Kann sie in ihrer Position in der kurzen Zeit eine Änderung bewirken? Aber darf man auf den Versuch verzichten, nur weil er schlechte Aussichten hat? Das Problem betrifft auch alle Bewohnerinnen, alle Mitarbeiterinnen und die Leitung. • Wird der Bewohner schleichend entmündigt und sein Selbstwert gemindert? Ist das Duzen ein Zeichen von Vertrautheit und Nähe oder wird sie nur vorgespiegelt? Ersetzen die Altenpflegerinnen die Familie? Können sich Bewohner dagegen wehren, ohne Angst vor Nachteilen

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Altenpflege konkret: Lösungen Fallbeispiele Seite 107

und schlechter Behandlung haben zu müssen? • Geben Altenpflegerinnen den Schutz auf, den sie durch die größere Distanz des „Sie“ haben? Werden Hemmschwellen gesenkt und anmaßendes Verhalten begünstigt? Ist es gerechtfertigt, einfach zu duzen und den Bewohner damit zu zwingen, sich zu wehren, wenn er es nicht wünscht? Wird ein Gruppenzwang dadurch ausgeübt, dass es so „üblich" ist? • Wie sollen sich die Altenpflegerinnen verhalten, wenn ein Bewohner sie einfach duzt? Ist ein Kompromiss möglich: Die Bewohnerinnen duzen die Pflegenden, diese bleiben beim Sie? • Wie wirkt das Duzen auf Angehörige und Besucherinnen des Hauses? Was besagt das Leitbild des Heimes? 9. So ist es auch bei Bewusstlosen: Positive und negative Zuwendung hinterlässt Spuren in ihrer Seele. Gerade weil sie nichts wünschen oder fordern können, brauchen sie Liebe und Aufmerksamkeit. An der ruhigeren Puls- und Atemfrequenz lässt sich ablesen, dass Bewusstlose sehr wohl auf bekannte Stimmen und Zuwendung reagieren. Die Pflegekraft sollte mit ihnen sprechen und alle Vorgänge und Tätigkeiten ausführlich erklären und begründen in der Gewissheit, dass sie hören und auf der Gefühlsebene verstehen. So ist es möglich, ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und sie zu trösten. Komapatienten berichten später von einem wachen und aufnahmefähigen Bewusstsein. Die Sinne sind außerordentlich geschärft, deshalb ist immer besondere Vorsicht geboten bei Äußerungen über die Person und ihren Zustand („Wie riecht es hier bloß wieder. - Guck mal ihr Gesicht an, die macht es nicht mehr lange"). Auch Privatgespräche zwischen Altenpflegerinnen („Kommst du heute Abend mit ins Kino?") müssen wie eine Missachtung der Bewohnerin wirken. Wenn ein bewusstloser Mensch oder Komapatient früher gerne Musik gehört hat, kann leise Barockmusik gut sein, die nachgewiesenermaßen eine beruhigende Taktfrequenz hat. Weil der Geruchssinn stärker sensibilisiert ist, sollte die Altenpflegerln auf die Vermeidung von Körpergeruch achten. Neben der sorgfältigen Grundpflege wirken sich gute Gerüche (Parfüms, Blumen, Duftschalen mit ätherischen Ölen) positiv auf das Gesamtbefinden aus.

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Pflegeethik: Glossar

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Advocacy (engl. Fürsprache) Aktive Unterstützung eines wichtigen Anliegens;Nfür jemanden anderen sprechen. Angewandte Ethik Die Verwendung von ethischen Theorien und von Methoden der ethischen Analyse, um ethische Fragestellungen in der beruflichen Praxis, in der Technologie-Anwendung und in der Bestimmung einer (Gesundheits)-Politik zu studieren. Bioethik Angewandte Ethik im Bereich der Biomedizin, die versucht, moralische Antworten auf schwierige Fragen im Gebiet der Gesundheitsversorgung, der Technologie-Anwendung und der damit verbundenen Politik zu finden. In der Regel interdisziplinäre Forschungen, Abhandlungen und Praktiken, die zum Ziel haben, ethische Probleme zu klären oder zu lösen, die durch den Fortschritt und den Einsatz biomedizinisch-wissenschaftlicher Technologien entstehen. Die Bioethik ist überall dort gefordert, wo unabschätzbare Gefahren für Leib und Leben einerseits, für Freiheit und Würde der Person andererseits drohen. Systematisches Studium der moralischen Dimensionen - eingeschlossen moralische Vision, Entscheidungen, Verhalten und Politik - in «life sciences» und Gesundheitsversorgung, das eine Vielzahl ethischer Methoden in einem interdisziplinären Feld anwendet. Care-Ethik Mehrere Pflege-Theoretikerinnen verstehen die Sorge um den Mitmenschen als zentralen Wert pflegerischen Handelns. Diese Sorge um den Menschen ist grundlegendes Element des Pflegeverständnisses. In der Beziehung Pflegende - Patient drückt die Sorge um den Menschen die Bereitschaft aus, zu seinen Gunsten zu handeln.(s. auch Feministische Ethik) Caring (engl. Begriff) Eine Form des Engagements für andere, das die Sorge darüber ausdrückt, wie diese ihre Lebenswelt erfahren. Caring wird oft ausgedrückt durch ein Verhalten, das Gesundheit, Wohlergehen und menschliche Würde schützt und erhält. Compliance/Non-Compliance (engl. Begriff)31 Drückt die Übereinstimmung zwischen den therapeutisch geplanten und den vom Patienten effektiv eingehaltenen Vereinbarungen aus («Therapietreue»). Gegenstand der Compliance können Pflegeziele, Medikamenteneinnahme, Diätvorschriften, usw. sein. Decent Minimum (engl, «angemessenes Mindestmass») In der Frage nach der gerechten Verteilung von Ressourcen, erörtert das Konzept des Decent Minimum, dass das Recht auf Pflege nicht unbegrenzt gilt (Egalitarismus), sondern der Situation angepasst werden muss. Dieser Begriff vereinigt somit den individuellen und ökonomischen Aspekt medizinisch-pflegerischer Leistungen. Das, was als Decent Minimum gilt, ist keiner Form von Rationierung mehr zugänglich. Die Rede vom Decent Minimum beinhaltet in der Regel einen Appell an ein Mindestmass an Pflege und medizinischer Betreuung, auf das jeder Mensch ein Recht haben sollte. Umstritten ist, was als Decent Minimum zu gelten hat. Deontologie Die Pflichtenethik; sie begründet moralische Urteile und bezieht sich auf die Pflicht, die der moralischen Handlung zugrunde liegt, unangesehen ihrer Folgen. Dilemma Eine Situation, in welcher zwei gleichwertige Handlungsmöglichkeiten oder Urteile bestehen und das Individuum bezüglich der Entscheidung für eine Variante unsicher ist. Es muss zwischen zwei gleichwertig gewichteten Werten oder zwischen zwei Werten, die sich gegenseitig ausschliessen, gewählt werden. Ethik und Moral Ethik als eine Disziplin der Philosophie versteht sich als Wissenschaft von der Moral bzw. vom moralischen Handeln. Als Moral wird der Inbegriff moralischer Normen, Sitten, Werturteile bezeichnet. Ethik untersucht die Bedingungen, unter denen menschliches Handeln als moralisch gut begriffen werden kann und grenzt moralisches Handeln gegen andere mögliche Handlungen des Menschen ab. Die ethische Überlegung bewertet nicht, was Gut und Böse ist, sondern die moralische Kompetenz des Menschen, d.h. wie er in bezug auf Moralprobleme argumentiert.

R. Odermatt

R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Pflegeethik: Glossar

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Ethik-Kodex Ein Verhaltenskodex, der sich auf eine deontologische Begründungsweise abstützt. Ethik-Kodizes werden berufsspezifisch formuliert. Sie drücken das jeweilige Berufsverständnis aus (s. Denontologie). Feministische Ethik Widmet sich der Feminismus - historisch gesehen - der Untersuchung dessen, was unsere genderspezifische Realität ausmacht (die nicht «naturgegeben» sondern ein Produkt unserer Gesellschaft, unserer Sozialisation und Zivilisation ist), so sucht die feministische Ethik nach genderspezifischen Normen in der Moral. Carol Gilligan prägte anfangs der achtziger Jahre die Paradigmen einer spezifisch weiblichen Care-Ethik (Ethik der Fürsorglichkeit), die sich von einer einseitig rationalen Ausrichtung an Prinzipien abhebe. Ihr Ansatz wurde vielfach, weiterentwickelt. Güterabwägung Der Entscheidungsprozess der Wahl für das wichtigere Gut oder das geringste mögliche Übel im Rahmen einer Konfliktsituation oder eines Dilemmas. Die Bezeichnung «Gut»/«Güter» ist weit gefasst. Sie kann von Leben, Gesundheit, Nahrung bis zu Integrität, Einkommen, Rechte usw. reichen. Informed Consent (engl. Begriff) Informierte Zustimmung: Die freiwillige Einwilligung oder Zustimmung zu einer medizinischen/pflegerischen Intervention aufgrund erhaltener Information. Entscheidungsfähig ist der Betroffene dann, wenn die Information ausreichend und das Verständnis adäquat ist. Moralische Norm s. Moralische Verantwortung. Moralische Verantwortung Die Pflicht, jemandem gegenüber verantwortlich zu sein für das eigene Handeln, oder Verantwortung in Verbindung mit einer durch das Individuum übernommenen Rolle. Die moralischen Normen werden vorgeschrieben durch einen EthikKodex und durch die Normen der praktischen Berufsausübung. Non-Compliance /Compliance (engl. Begriff) Drückt die Übereinstimmung zwischen den therapeutisch geplanten und den vom Patienten effektiv eingehaltenen Vereinbarungen aus («Therapietreue»). Gegenstand der Compliance können Pflegeziele, Medikamenteneinnahme, Diätvorschriften usw. sein. Paternalismus Das Übergehen der (theoretischen) Entscheidungsmöglichkeit oder der (praktischen) Entscheidungsfähigkeit eines Individuums im Bestreben, diesem Individuum Gutes zu tun oder Schaden zu vermeiden. Pflegeethik Im Rahmen der Angewandten Ethik, welche die ethische Auseinandersetzung in ausgewählten Bereichen des Lebens untersucht, stellt die Pflegeethik eine eigenständige Disziplin dar. Sie ist die systematische Reflexion über die moralische Dimension pflegerischen Denkens und Handelns. State of the art (engl. Begriff) Im Einklang mit den neuesten wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen und mit der allgemein anerkannten Praxis. Teleologie/Utilitarismus Die ethische Begründung moralischer Urteile, welche sich auf die Konsequenzen einer Handlung (Wahl einer Lösung mit den bestmöglichen Folgen) bezieht. Der Utilitansmus z.B. misst die moralische Qualität einer Handlung an ihrem Nutzen für den Einzelnen oder die Gemeinschaft. Tugend Eine persönliche Eigenschaft (z.B. Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit) oder Charakterzug (z.B. professionelle Gewissenhaftigkeit), die vom Individuum als wichtig erachtet werden, und die teilweise durch Unterricht und Praxis angeeignet werden - oder die sich als «Gabe» eines Individuums erweisen. Eine Neigung oder Gewohnheit, sich in bestimmten Situationen in Übereinstimmung mit moralischen Verpflichtungen oder moralischen Idealer in einer bestimmten Weise zu ver-

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R. Odermatt, GIBZ FAGE-EB Ethik & Sozialisation GA

Pflegeethik: Glossar

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halten, wird oft als moralische Tugend bezeichnet. Utilitarismus/Teleologie Die ethische Begründung moralischer Urteile, welche sich am die Konsequenzen einer Handlung (Wahl einer Lösung mit den bestmöglichen Folgen) bezieht. Der Utilitarismus z.B. misst die moralische Qualität einer Handlung an ihrem Nutzen für den Einzelnen oder die Gemeinschaft. Wert Philosophischer Begriff. Werte sind Anschauungen und leiten Handlungen und Ziele, die vom Individuum nach freier Überlegung gewählt sind. Die von einem Menschen übernommen Werte entwickeln sich im Laufe der Zeit und beeinflussen die Ausrichtung, die er seinem Leben geben will. Wertekonflikt Die Gegenüberstellung oder Konfrontation zwischen einem oder mehreren Werten, die von einem Individuum oder einer Gruppe als wichtig erachtet werden.

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