Heft 2 - Dezember 2007

February 20, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Religionswissenschaft, Islam
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Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre

Inhalt H. H. Behr: Schon aufgeklärt?............................Seite 1 H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs....................Seite 2 Rüdiger Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Teil 1: Eine Antwort aus christlicher Perspektive ............... Seite 10 Emel und Amin Rochdi: „Bin ich hier richtig?“ – Eine Erhebung der Schülerinteressen im islamischen Religionsunterricht....... Seite 22 Fuad Kandil: Kann religiöse Erziehung zur besseren Integration beitragen? Zur Frage des Islamischen Religionsunterrichts – Teil 1: Grundsätzliche Überlegungen................................ Seite 29 Zu den Autoren · Vorschau · Impressum...................................... Seite 32

Heft 2 • Dez. 2007 • 1. Jg.

Zeitschrift für die Religionslehre des Islam

ZRLI

Harry Harun Behr

Schon aufgeklärt? Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser, man kann darüber diskutieren: Bedarf es für das, was doch allein in der Vernunft begründbar sein sollte, unbedingt einer schrifthermeneutischen Herleitung? Manchen befremdet es, wenn der Diskurs auf die Aussagen dieser oder jener Heiligen Schrift zurückgeführt wird. Dies vor allem dann, wenn die Idee der europäischen Aufklärung selbst zur Religion geworden ist. Levitikus, Lukman und Lukas aufzurufen mutet an wie der doppelte Rückfall vor die Zeit eines Thomas von Aquin und eines Immanuel Kant zugleich.

Wenn es um den Islam geht, wird hier schärfer formuliert: Sollte es, statt um die Textlinguistik scheinbar willkürlich ausgewählter Koranverse, nicht doch mehr um die generelle Anfrage gehen? Etwa so: Warum halten Muslime den Koran heute noch so uneingeschränkt hoch? Rückfrage: Wie wichtig ist es, die Köpfe und Herzen der Schwestern und Brüder zu gewinnen? Das fragen sich Musliminnen und Muslime auch. Ihre weltweit geführten Diskussionen entzünden sich gegenwärtig entlang einer Frage, hinter der das Ringen um eine neue Kultur islamisch-theologischen Denkens die Regie führt: Was wird sich in Zukunft durchsetzen, das kritische Potenzial vernünftiger Koranauslegung oder die kritische Masse des Irrationalismus?

Das Problem dabei: Was bevorzugt von West nach Ost angefragt wird, entstammt meist dem Arsenal ideologisch aufgeladener Kampfbegriffe. Das lässt sich gelegentlich mehr am Stil als an den Inhalten festmachen. Was sollen wir also tun? Mehr aneinander denken, mehr miteinander reden, mehr voneinander lernen, mehr miteinander auf den Weg bringen, mehr füreinander dasein – Juden, Christen, Muslime, alle anderen, mit oder ohne Religion, der Westen und der Osten, der Norden und der Süden. In diesem Sinne wünschen wir, die Herausgeberin und die Herausgeber, Ihnen und Ihren Familien schöne Festtage und den Segen Gottes – auf all Euren Wegen soll Er Euch begegnen!

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Harry Harun Behr

Die Menschenwürde im islamischen Diskurs Der Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht nicht im Koran. Stünde er dort, dann vermutlich als arabischer Nominalsatz, eingeleitet durch den Verneinungspartikel lā, also etwa „Kein Antasten der Menschenwürde“. Diese Art Satzbau ist aus der koranarabischen Grammatik bekannt, wie z.B. in 3:18 (ÿF ÙH ÍÙH Ù; „keine Gottheit außer Gott“), 30:30 ( ÿF ¼Ãh ÁÖkRW Ù; „kein Abändern in der Schöpfung Gottes“) oder 2:256 (ÌÖkÂB ض ÍBo¾H Ù; „kein Zwang in der Religion“). Am Rande vermerkt: In die Interpretation des Begriffs Ío¾ müssten seine Konnotationen wie „Hass“ und „Unfreiheit“ deutlicher mit einbezogen werden als das bislang der Fall war.

Mit dem Koran und dem tradiertem Prophetenwort (]Ökc) lässt sich begründen, was in der veröffentlichten Wahrnehmung wohl nicht die erste Assoziation mit dem Wort „Islam“ ist. Dazu eine erste These: Die Schriftquellen des Islams legen nahe, sich für die nicht verhandelbare und unantastbare Würde des Individuums als Leitmotiv zu entscheiden. Würde ist dabei als Argument theologischer Anthropologie zu verstehen. Es soll um ein universales Kennzeichen jedes Menschen gehen, das allen anderen denkbaren Kennzeichen vorangeht.

Derlei kann natürlich im Deutschen als modaler Verbalsatz wiedergegeben werden. Mit der einfachen Feststellung aber geht das stärkere imperativische Motiv einher. Es geht um die Dimension des Kategorialen: Die Würde des Menschen bleibt unantastbar, auch wenn die menschlichen Standards in dem, was sein kann, soll und darf, immer wieder der Abwägung unterworfen werden. H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

Ein flüchtiger Begriff – ein erster Zugriff

Bedeutung also, die über das Dafürhalten und die Situation hinausweist.

Das schillernde Begriffsfeld „Würde“ entfaltet sich entlang der Person und ihres Verhaltens. Es geht um den sozialen und sittlichen Wert als ihre innere Werthaltung, was ihre Subjektfähgkeit voraussetzt. Das berührt die Frage ihrer Autonomie. Mithin lässt sich der Begriff der Würde nach Kant zunächst in der Ethik und der Rechtsphilosophie und nicht in der Theologie verankern: Würde hat, was über jeden Preis im Sinne von „Wert“ erhaben ist.

Allerdings belegen schon frühe islamisch-theologische Traktate für diese Thematik eine Annäherung an die Schriftquellen des Islams, nämlich dort, wo sie einem anthropologischen oder ethischen Motiv folgen: Zaid ibn cĀlī Zain al-cĀbidīn, der um 750 n. Chr. bei Kūfa im Kampf gegen die Umayyaden fiel, kritischer Rationalist im Kontext dessen, was später zur so genannten Fünferschia wurde; Ibn Hazm, 994 n. Chr. in Cordoba geboren, der mit zahlreichen Lehrverboten geadelte Universalgelehrte; Muhiyyuddīn Muhammad ibn cArabī, ein anderer Europäer, 1165 n. Chr. in Murcia geboren, der magister magnus, Advokat der Toleranz, Sufi und Freund eines weiteren Illuminierten, Ibn Ruschd alias Averroes. Ibn cArabī übrigens dürfte ein Gutteil seines rationalen Potenzials seinen beiden Lehrerinnen, Schams Umm al-Fuqarā’ und Mūnah Fātima bint ibn al-Muthanna, zu verdanken haben. Die Unterscheidung zwischen überliefertem und vernunftbegründetem Wissen, zwischen Offenbarung und Empirie,

Die Entstehung des Korans im 7. Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung liegt allerdings weit vor der Entwicklung dieser philosophischen Konzeption. Ob der Islam per se die Menschenwürde achtet, ist also – und ungeachtet des schon mit der Frage produzierten Irrtums – erst einmal schon aus logischen Gründen zu verneinen. Es bedarf eines sekundären Begründungszusammenhangs, soll einer islamischtheologischen Konzeption von der Würde des Einzelnen kategoriale Gültigkeit zugeschrieben werden –

Seite  zwischen Wahrheit und konstitutiver Wirklichkeit, wie sie bei Muhammad al-Māturidī und Abu-l-Hasan alAschcarī ihren Anfang als institutionalisierte Lehre nahm, bildete (nicht nur in der hanafitischen Rechtsschule) einen wichtigen frühen Ansatzpunkt für ein starkes Motiv innerhalb islamischer Theologie, das im gelehrten Disput noch nachschwingt, aber dort allzuoft vernachlässigt wird, wo es um die praktische Ethik geht: Am Anfang des Nachdenkens steht die Frage, was dem Menschen nützt und ihm nicht schadet, was ihn glücklich macht und nicht unglücklich, und was ihm den Weg hin zu Gott erleichtert und nicht erschwert.

zählen etwa die Internationale oder die Europäische Menschenrechtscharta. Sie stellen immer noch eine große Herausforderung an einige theologische Fundamentalprinzipien der Schriftreligionen dar. Die Theologien sehen sich weniger durch ihre Einzelaussagen herausgefordert als vielmehr durch die Apodiktion, die einem eigenen, nicht-theologischen Anspruch auf Universalität entspringt. Es geht ums Prinzip.

Keine Aufklärung im Islam? Dass wesentliche philosophische Impulse für die europäische Aufklärung ohne den Islam in Andalusien oder ohne die Übersetzungsarbeit eines Gerhard von Cremona († 1187 in Toledo) ausgeblieben wären, ist bekannt. Aber hier geht es nicht um den verklärten Rückblick auf ein Zeitalter des Lichts, sondern um die Vorausschau auf Fragen des Zusammenlebens. Das betrifft den gesellschaftlichen Konsens, und damit besonders wieder die theologischen Konstruktionen, die durch Standards entfacht werden, auf die sich dieser Konsens stützt. Zu den Dokumenten eines solchen Standards H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

„Ehre“ durch „Bevorzugung“ – ein textlinguistischer Zugriff

Am Anfang des Nachdenkens steht die Frage, was dem Menschen nützt und ihm nicht schadet, was ihn glücklich macht und nicht unglücklich, und was ihm den Weg hin zu Gott erleichtert und nicht erschwert.

Das Prinzipielle liegt auch im Koran unter der Oberfläche seiner Textur, die durchdrungen sein will. Ein erster Zugang zur Frage der Menschenwürde als islamischtheologischem Konzept ist in Koranversen wie 17:70 lokalisierbar: „Und wir haben den Kindern Adams Ehre erwiesen. Wir haben sie auf dem Festland und dem Meer getragen und ihnen (einiges) von den köstlichen Dingen beschert, und Wir haben sie vor vielen von denen, die Wir erschaffen haben, eindeutig bevorzugt“ (nach Khoury, Gütersloh 2004). In dieser Form ist das eine beinahe singuläre Aussage des Korans. Das elektrisiert den Interpreten, der darin die größere Signifikanz erkennen will als im hundertfach Wiederholten. Dann geht es weniger ums Prinzip als um das einzelne Wort als Schlüsselreiz: Mit „Würde“ oder „Ehre“, von Gott „gegeben“, ist eine besondere Qualität des Menschseins gemeint. Sie lässt sich nicht daran bemessen, was die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe beschreibbar macht: Kriterien wie Sprache, Geschlecht, Alter,

Seite  Hautfarbe, Nationalität, Religion, Das arabische Grundverb Åâo¾ lässt Lebensstandard, Bildung und andere. sich im Koran selbst immerhin in 16 grammatikalischen Variationen Zu den zentralen Schlüsselbegriffen in 59 Textstellen nachweisen, dadieser Textstelle gehören als angevon am häufigsten in Form der sprochene Subjekte die „Kinder adverbialen Bestimmung ÈÖo¾ , z.B. Adams“. Sie stehen hier als Empin 44:17 bis 19. Dort geht es um fänger von „Würde“ im ObjektkaMoses: Er ist „edler Gesandter“ sus ( áÅjB ËQ ) und sind durch eine (ÈÖo¾ çÁÒsn), allerdings „treu“ und besondere Form des Verbs Åâo¾ in „mit einer klaren Ermächtigung“ der abgeschlossenen Zeit des II. von Seiten Gottes. Das stellt ein Stamms (CËÆäo¾ ) in dieser Qualierstes kritisches Argument mit Blick tät berschrieben. Für die gängigen auf die Frage nach der Autonomie Koranübersetzungen finden hier in und der Selbstermächtigung des der Regel Formulierungen wie wir Individuums dar. Hierfür steht, haben bevorzugt/Ehre verliehen oder ganz im Sinne einer Krise, „der we gave honour to Anwendung (vgl. Pharao“ als Sinnbild, indem er sich dazu auch die semantischen Felder selbst zum „höchsten Herrn“ erÄ£¶ oder Òs). Ob man sich bei der klärt (îÛB È¿Qn CÊB ; vgl. 79:24). Interpretation auf die Mitbedeutung Würde bzw. dignity verlegen will, Erwähnt sei auch die Verwendung muss an der Frage entlang geführt der Vokabel in der Bezeichnung werden, inwieweit „Ehre“ oder „Wür- ÈÖo¿ÂB ÉDo»ÂB für den „edlen Koran“. de“ auf Verdienst beruhen oder auch In der Bezeichnung Ì×RWC¾ æCÆBo¾ für die „unverdientermaßen“ gelten, oder ob beiden Engel, die jeden Menschen sie zuerkannt werden, also auch wie- begleiten und seine Taten aufschreider aberkannt werden können. Die ben, schwingt als Bedeutung „frei Inblicknahme des Menschen seiner sein von“ mit – bedeutsam genug selbst, als idealtypisches Einzelwesen, für die weitere Interpretation. gemahnt an seine Unwiederholbarkeit und an die Bedingungslosigkeit seines Daseins – aber auch an seine Distanzfähgkeit und Unwägbarkeit, kurzum: Es geht um die Chancen und Risiken des Menschseins.

H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

„Würde“ als axiologischer Begriff islamischer Theologie – ein philosophischer Zugriff in zwei Schritten

„Würde“ im Sinne einer wesenhaft begründeten Sonderstellung des Menschen an sich, die nicht zuletzt auf dem von Gott mitgeteilten Wissen um die eigene Würde des Einzelnen beruht, ist jedem Menschen von Gott gegeben; sie gilt ohne Vorbehalt.

Für die Erschließung eines islamisch-theologischen Begriffs von „Würde“ sei als eine erste einfache Arbeitsthese formuliert: „Würde“ im Sinne einer wesenhaft begründeten Sonderstellung des Menschen an sich, die nicht zuletzt auf dem von Gott mitgeteilten Wissen um die eigene Würde des Einzelnen beruht, ist jedem Menschen von Gott gegeben; sie gilt ohne Vorbehalt. Dass derjenige, der sie „gegeben“ hat, in diesem Fall Gott, sie auch wieder nehmen kann, wird im Kontext eines teleologisch-normativen Deutungssystems bevorzugt auf den Menschen hin gelesen, der Gott und sich selbst gegenüber rechenschaftsfähig und -pflichtig ist. Dieser thematische Seitenzweig soll hier zunächst nicht weiter verfolgt werden; er kommt aber später im Zuge einer Kritik nochmals zur Sprache, wenn es um Fragen der theologischen Konstruktion des Bösen im Islam geht. In dieser Hinsicht jedoch hier eine Bemerkung vorab:

Seite  Die Herabwürdigung anderer zur „Unperson“ (ein Begriff, der in der Sprache der Theologie dem malum metaphysicum vorbehalten sein sollte), die folglich ihre Würde verloren hat, ist aus der islamischen Theologie heraus nicht vertretbar. Ihre Lächerlichmachunng, ihre Dämonisierung, Entmenschlichung und Diskriminierung, ihre Verfolgung, Misshandlung oder Tötung widersprechen dem Geist des Islams und dem Ethos des Muslimseins. Sagen wir es kategorial: Keine Demut vor Gott ohne Respekt vor dem Anderen.

Erster Schritt: Aspekte der theologischen Anthropologie des Islams Der Koran entwirft die Figur des „Adam“ als Archetypus für das Menschwerden und das Menschsein an sich. Adam ist dort weniger „erster Mann“, auch wenn ihm der Koran den einen oder anderen typisch männlichen Charakterzug zuweist, beispielsweise ein gewisses Maß an Wankelmut. Koranstellen wie 2:30 ff. oder 20:115 machen deutlich: Das erste Scheitern des Menschen angesichts einer zuerst einmal metaphysisch zu verstehenden Herausforderung geht nicht zu Lasten der Frau. Der koranische Adam, und damit steht er für Frau und Mann, erhält vielmehr dahingehend eine herausragende Stellung, als er zum Prototyp für den werdenden Menschen mit wesenhaften Qualitäten wird: Adam als ein mit körperlichen und geistigen Mängeln behaftetes, unfertig zur Welt kommendes Wesen, der Entwicklung bedürftig, ihrer fähig und befähigt. Adam ist ein Schwächling (vgl. 4:28) und zu allem Überfluss – darauf deutet schon seine koranarabische Bezeichung als ÉCtÊH hin – vergesslich (vgl. 2:286). Was macht ihn dann stark? Er erhält von Gott die Gabe einer Form sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, die

H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

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Konsequenzen? Das Ich ist im Du zu finden, Gott mithin auch im Gegenüber; zudem gibt es nichts Unbeseeltes in der Schöpfung, also nichts „Würdeloses“ in der Natur.

es ihm ermöglicht, die Dinge losgelöst von der dinglichen Anschauung zu benennen, und benennen heißt hier soviel wie verfügen. Das ist verbunden mit der Fähigkeit, wenn nicht der Notwendigkeit, sich selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens zu machen (vgl. 2:30 ff.). Damit bringt der Koran die Selbstverfügbarkeit als einen wichtigen Hinweis auf die Subjektfähigkeit ins Spiel. Hinzu tritt nicht nur die Fähigkeit zu, sondern das Angewiesensein auf Gemeinschaft. Was hier nur in wenigen Sätzen angerissen werden kann, verweist auf einige Universalien der theologischen Anthropologie des Islams: Der Koran lenkt den Blick des Menschen auf sein Selbst und verortet ihn in den Kontext einer Menschheit als globaler Solidargemeinschaft – dies besonders wenn der Urheber des Korans eingangs der vierten Sure vorausschickt: „Wir haben euch aus einem Einzigen Wesen (gelegentlich „Seele“, genauer: „Atem“; u·Ê) erschaffen“. Konsequenzen? Das Ich ist im Du zu finden, Gott mithin auch im Gegenüber; zudem gibt es nichts Unbeseeltes in der Schöpfung, also nichts „Würdeloses“ in der Natur. Jede Form einer „Bevorzugung“ führt im

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Die bewusste und regelgeleitete Gestaltung einer Kultur des Miteinanders wird zur zweiten und eigentlich einzigen wesensgemäßen menschlichen Natur.

menschlichen Kontext zum gewohnt erhöhten Maß an Verantwortung. Das stellt, wie bereits oben erwähnt, keine theologische Neudichtung dar, sondern gehört seit je her zu den wesentlichen Aspekten des islamisch-theologischen Ur-Satzes vom „Einssein in der Vielfalt des Seins“, der eine erhebliche Wirkung auf die Konturen einer islamischen Sozialethik zeitigt (jÒ_ÒÂB TkcÑ). Immerhin: Das arabische Grundverb k_Ñ trägt die Konnotationen „finden“, „begegnen“ und „lieben“. Das mit der Liebe ist bisweilen schwer – Achtsamkeit (ÉCtcH) als eine der zentralen Werthaltungen des Muslimseins neben der Nachsicht (UË×Â) und dem Zutrauen (ľÒW) ist hingegen zu fordern. In Sure 49, die Verse 13 bis 18, ist der Koran diesbezüglich eindeutiger als anderswo, was die universale Dimension angeht: Er fordert zuerst den guten Menschen, dann den guten Muslim.

H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

Die bewusste und regelgeleitete Gestaltung einer Kultur des Miteinanders wird zur zweiten und eigentlich einzigen wesensgemäßen menschlichen Natur. Dass dies zentral zu einem islamisch-theologisch begründeten Begriff von Menschenwürde hinzugehört, wird schließlich dadurch unterstrichen, dass mit den Versen 22 bis 39 der 17. Sure der für den Islam maßgebliche Kanon sozialethischer Haltungen und Verhaltensweisen entworfen wird. Dabei handelt es sich um eine Stelle, die in dieser Hinsicht an Dichte von keiner anderen Koranstelle erreicht wird; sie erinnert zudem in ihrer zyklischen Struktur etwa an Levitikus 19.

Zweiter Schritt: Die Schwestern „Würde“ und „Freiheit“ Um die Signatur von „Würde“ im Sinne von „Freiheit“ herauszeichnen zu können, muss der texthermeneutische Zugang erweitert werden. Die Vokabel Åâo¾ aus 17:70 trägt die Bedeutung von „frei sein“ (Åéo¾, Åo¾F; „befreit sein von“, „[sich] frei machen von“) nicht nur als gelegentliche Mitbedeutung: Die beiden oben erwähnten „Schreiberengel“ sind nicht zuletzt deshalb ÅBoã¾, weil sie sich von niemand anderem als ihrem Auftraggeber „zur Vorschrift machen“ (î SX¾) lassen, was sie jeweils aufschreiben und was sie tilgen. Sie sind durch diese eindeutige Bindung von allen anderen Bindungen „befreit“. Dies wie auch die Sequenz in 2:3034 gestattet im Übrigen die vorsichtige Anfrage, ob Engel im Islam nur als diejenigen folgsamen Vollstrecker gesehen werden können, so wie das vielfach tradiert wird. Immerhin: Sie melden Zweifel an, lassen sich zum Besseren überzeugen oder stimmen kraft eigener Entscheidung zu. Das deutet auf Dispositionen hin, die nur in ihrer Anbindung an die Idee der Freiheit einigermaßen Sinn ergeben. Je weiter, so will es scheinen, der Koran zeichnet, was zwischen dem Menschen und den Engeln steht, desto mehr verrät er über den Entwurf des Menschen vom Sein seiner selbst.

Seite  Nicht außer Acht gelassen werden darf der textuale Kontext, in den eine Satzaussage eingebettet ist (der Blick auf soziale, biographische oder historische Kontexte ist ein weiterer Zugang, der hier fürs erste aus Platzgründen ausgespart bleiben soll). Auf andere Textpassagen der 17. Sure wurde bereits hingewiesen. Die Verse 17:66-72 entwickeln – ähnlich ist das in Stellen wie 10:22-25 – eine auf das Wasser und insbesondere auf das Meer bezogene Metaphorik bis hin zum Gleichnishaften (vgl. 10:24). Das Meer steht im Koran sinnbildlich für eine nicht nur metaphysische, sondern reale physikalische Größe, die gleichermaßen dazu auffordert und davon abschreckt, loszusegeln. Das Meer wird im Koran zum Sinnbild des Grenzenlosen, mithin des entgrenzten Menschen. Der dem Menschen wesenhaft zueigene Drang nach „Überschreitung“ (³¦) gehört für die theologische Anthropologie des Islams zu den Antrieben für die individuelle wie gemeinschaftliche, die biographische wie historische menschliche Entwicklung des Menschen (vgl. zur positiven Deutung Verse wie 55:33; der Koran verweist demgegenüber aber auch auf den negativen Kontext des Missbrauchs).

H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

Der Mensch ist, seinem Entwurf im Koran zufolge, potenziell frei, zu tun was er will, und zwar einem bekannten Prophetenwort gemäß „so lange er sich nicht schämt“.

Auf der Folie des Metaphysischen entwirft der Koran den psychologischen Raum des Menschseins, eine Art „Bühne“ (vgl. dazu besonders 2:1-29) – mit den räumlich-dimensionalen und zeitlichen Koordinaten, mit einem Anfang und einem Ende, mit Helligkeit und Dunkelheit… Mit dem Verweis auf das Meer wird die Begrenzung dieses psychologischen Raums allerdings in Frage gestellt: In der Unwägbarkeit entfalten sich Chancen und Risiken gleichermaßen; Gleichnisse von solchen, die in ihrer Not auf hoher See den Herrn anrufen und ihn, sobald sie wieder an Land sind, aufs Neue vergessen (vgl. 31:32), gewinnen vor diesem Hintergrund erst ihre eigentliche Tiefe. Land und Meer zeichnen den Grundriss des elementar-psychologischen Raums als „Bewährungsraum“, in den sich der Mensch aus Sicht der theologischen Anthropologie des Islams gestellt sieht. Folgerung: Der Mensch ist, seinem Entwurf im Koran zufolge, potenziell frei, zu tun was er will, und zwar einem bekannten Prophetenwort gemäß „so lange er sich nicht schämt“. Positiv gewendet: Er hat freie Hand, seine Lebenswelt im Wechselspiel von Begrenzung und Entgrenzung so zu gestalten, wie er es für richtig hält.

Der Blick auf den Menschen, der sich in Selbstbezogenheit auf sich selbst gestellt, ja zurückgeworfen sieht, hat im Islam zunächst seinen festen Platz. Als Bezugspunkt der existentiellen und elementaren Orientierung führt der Koran aber Gott ins Feld, wiederum versinnbildlicht in erwähnter Anrufung durch den Menschen im Moment höchster Verlassenheit und Not. Das Konzept der Selbstermächtigung des Individuums als reine Idee, so wie sie bisweilen voreilig an den Bezugshorizont der kulturgeschichtlich späten Epoche der europäischen Aufklärung angelehnt wird, fordert den Frommen nun doch heraus.

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Ein theologisch begründetes Schwerer noch wiegt: Der so BeMisstrauensvotum zeichnete konterkariert das Prinzip

von „Würde“ als eine nicht skaVerse wie 17:70 stehen aber auch lierbare Qualität ohne notwendige im Schatten des größtmöglichen Letztbegründung gemäß 17:70: Ihm menschlichen Scheiterns, so wie das passt die Bevorzugung des Adam in 2:30 von den Engeln in groben nicht, er sieht sich als durch seine EiZügen vorausgesehen und in 17:61genschaften ausgezeichnet, verweist 65 weiter entfaltet wird. Der „Verfolglich auf seine wesenhafte Überwirrer“, „Chefankläger“ und „Wilegenheit und hält seinem Erschafdersacher“, der Teufel, erhält in der fer vor, „diesen da“ (BlCÎ), dem es Sprache des Koran-Arabischen zwei nicht zusteht, mit „mehr an Würde“ Namen, die letztlich mehr über den versehen zu haben als ihn (éØî YÆäo¾). Charakter des Menschen aussagen Indem der so Bezeichnete die Würals über das tatsächliche Wesen des de Adams herabsetzt und antastet, so Bezeichneten: „der im Innern vor setzt er Gott herab und tastet ihn an. Wut brennt“ (ÉC§×xÂB; Pluralbildung Nur so ist zu erahnen, warum der üblich; von §w oder ̧w ) und „der Erschaffer von den Engeln in 2:34 jede Hoffnung auf Rettung verloren verlangt, sich vor Adam niederzuwerhat“, „der verloren ist“ oder „der sich fen (Tk`s)– die so genannte Sadschda aufgegeben hat“ (u×ÃQH; Eigenname; ist ein zentrales Element der AnbePluralbildung unüblich; das wird ge- tung des einen Gottes zu den festgelegentlich auf das griechische diabolos legten Zeiten des islamischen Gebets. zurückgeführt, wurzelt aber vermutlich in uÃQF ). Andere Bezeichnungen Hier geht es um ein Konzept vom sind „der Einflüsterer“ (rBÒsÒÂB) und „Bösen“, das geschehen will, im „der Neider“ (ksCdÂB), der mit jeUnterschied zum „Übel“, das gedem nur denkbaren „Wenn“ und schieht und dem zunächst nichts „Aber“ argumentiert (17:19-21). „Übelwollendes“ anzulasten ist. Die pädagogische und psychologische Bedeutung liegt in der Verbindung der einschlägigen arabischen Bezeichnungen: Der Entwurf des „Großen Widersachers“ im Koran deutet auf die Gefahr für den sich entgrenzenden H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

Das Leben im Diesseits kann von Seiten der Theologie des Islams nicht losgelöst betrachtet werden von dieser Dimension der anderen Seite. Was für „Freiheit“ gehalten wird, droht allzu leicht in die Unfreiheit zu führen.

Menschen hin, in den Sog aus Verzweiflung, Wut, Neid und Hoffnungslosigkeit zu geraten, wenn er dabei seinen wesensgemäßen Orientierungspunkt aus den Augen verliert: Er ist von Gott ins Leben gesetzt worden und wird von ihm aus diesem Leben wieder abberufen. Er wird auf die Dinge Antwort geben müssen, weil er danach gefragt wird (ÁâÒNtÆ); er wird „Rechenschaft“ (PCtc) ablegen, wenn er gefragt wird. Ansonsten schweigt er (vgl. 78:38) – Ende der Autonomie. Das Leben im Diesseits kann von Seiten der Theologie des Islams nicht losgelöst betrachtet werden von dieser Dimension der anderen Seite. Was für „Freiheit“ gehalten wird, droht allzu leicht in die Unfreiheit zu führen. Andersherum legt der Islam nahe, dass die Grundlage für Freiheit erst durch die vordergründige Unfreiheit geschaffen wird, in die sich derjenige begibt, der sich selbstverantwortet auf seine Anbindung an Gott als Erstinstanz einlässt. Der ideologisch begründete Anspruch auf die jeder Letztbegründung ledige Autonomie des Menschen (im Sinne von Eigengesetzlichkeit; autonomos) kann mit der Regelleitung von Religion hinsichtlich ihrer concilia und praecaepta kollidieren.

Seite  Entscheidend dabei ist: Erst die bewusst vollzogene religiöse Bindung macht das Individuum frei von den befristeten Zwängen des Diesseits und befähigt es – was seine Gattung angeht – zu überlebenswichtigen Haltungen. Zu diesen gehört das Gewissen, das seine Handlungsimpulse aus der Gewissheit (Ì×»Ö) schöpft, dass es einen „Mitwisser“ als Letztinstanz gibt (vgl. 6:75 oder 35:38). Diese Haltung wird im Koran an Abraham versinnbildlicht, der zuerst den mächtigen Erschaffer (o¦C¶) erkennt und ihn als das Maß der Dinge (vgl. 65:3) anerkennt. Er kehrt mit den Worten zu seinem Volk zurück: „Ich bin frei von dem was ihr an Gottes statt anbetet“ (çAÕãoQ, auch übersetzt als „unschuldig“; vgl. 6:74-81). So gesehen stellt der Islam jeden Maßstab, wenn er allein in der Selbstermächtigung des Menschen gründet, zunächst in den Kontext potenzieller Unfreiheit.

Der Umgang mit dieser Antinomie erfordert es, in der Theologie des Islams die Stellung des Individuums vor Gott und im Weltganzen, auf die der Koran so oft in metaphysischer Diktion verweist, auch für die Physis, für das religiös begründbare, das auf die konstitutive Wirklichkeit bezogene Verfahren (U®ow; vgl. 5:48) herauszuzeichnen und zu stärken. Hier liegt der Dreh- und Angelpunkt notwendiger Paradigmenwechsel islamischer Theologie.

H. H. Behr: Die Menschenwürde im islamischen Diskurs

So gesehen stellt der Islam jeden Maßstab, wenn er allein in der Selbstermächtigung des Menschen gründet, zunächst in den Kontext potenzieller Unfreiheit.

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Rüdiger Braun

„Wer sind denn die Ungläubigen?“ Eine Antwort aus christlicher Perspektive Vorbemerkung

Aus solcher Identitätsangst heraus ist die Antwort auf die im Titel Es ist eine zutiefst menschliche Vergestellte Frage schnell gegeben: suchung, die Komplexität der Wirk- Ungläubig sind immer die Anderen! lichkeit auf einen möglichst einfaDie dieses Urteil erst ermöglichende, chen Nenner bringen zu wollen, also mit einer abgrenzenden oder auch Einteilungen und Ordnungen zu abwertenden Disqualifikation des schaffen, die zwischen Eigenem und Andersartigen als des Nichtnormalen Fremdem klare Unterscheidungen bzw. Krankhaften einhergehende treffen. Wo ihr nachgegeben wird, ist Letztbegründung lässt Religion und dies insbesondere auf dem Feld der Moral tatsächlich, insofern beide Religion von besonderer Tragweite; für das Moment der Unbedingtheit stehen, als eine gefährliche Allideshalb, weil Religion mit ‚Wahrheit’ über die letzte Wirklichkeit, anz erscheinen. Umso mehr nötigt über Gott, über den Sinn des Lebens das für das Menschsein zunächst und des Kosmos, kurzum, mit den nicht ungewöhnliche Faktum des tiefsten Dimensionen des Daseins Aufeinanderprallens divergierender zu tun hat und als solche eine stets Weltanschauungen zur Frage dagefährdete Größe ist: gefährdet vor nach, wie der Herausforderung des allem darin, mit ihrer Symbolwelt in- Anders- bzw. „Ungläubigen“ im dividuelle wie kollektive Dualismen Rahmen einer christlichen Identizu forcieren, die der Angst vor der tätskonzeption theologisch reflekBedrohung, gar dem Verlust der tiert zu begegnen wäre. Insofern eigenen Identität durch den Anders- eine umfassende Antwort darauf oder Nichtgläubigen entspringt. eine in diesem begrenzten Rahmen nicht zu leistende Reflexion religi „Bedrohungsgefühle sind ein wesentlicher Nährboden für Gewaltbereitschaft“, G. Gebhardt, onswissenschaftlicher, exegetischer, Zusammenprall der Religionen. Religionen als kirchengeschichtlicher, ethischer u.a. Quellen der Gewalt, in: RfP Mitteilungen Nr. Perspektiven nötig machen würde, 74 (2006), 21-24, 23; vgl. dazu Amīn Maalouf, Les Identités meurtrières, Paris 1998. intendieren folgende Ausführungen R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein paar systematisch-theologische Gedankenanstöße, die sich, darin spezifisch christlich, mit einem Blick 1. auf die alttestamentliche Gottesrede, 2. auf die neutestamentliche Christologie und schließlich 3. auf die Pneumatologie am trinitarischen Gottesbild zu orientieren suchen.

1. Schöpfung – Bewahrung und Differenz Das einer zweifelsresistenten Letztbegründung innewohnende Moment der Abgrenzung wird nun von religionskritischer Seite bezeichnenderweise als genuines Kennzeichen des Monotheismus verstanden. Jan Assmann zufolge habe gerade der jüdische, christliche und islamische Exklusivmonotheismus durch eine sog. ‚mosaische Unterscheidung’ zwischen wahrer und unwahrer Religion bzw. zwischen Glaube und Unglaube die interkulturelle Übersetzbarkeit des primärreligiösen polytheistischen Kosmotheismus der Antike blockiert und somit eine permanente Geschichte der Intoleranz und Gewalt begründet. Die Monotheismen insb. des Christentums und des Islam hätten, weil sie sich anmaßten, mit heiligem Furor zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, einen Hass in die Welt  Vgl. J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998 und – modifiziert – in Ders., Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003, vgl. bes. 59-71.

Seite 11 gesetzt, der dem heiteren Heidentum antiker Götter gänzlich unbekannt gewesen sei. Richtig daran ist, dass die Sprache der Religion nicht nur ureigene spirituelle Sehnsüchte und reale Unrechtserfahrungen zum Ausdruck bringt, sondern auch dazu dienen kann, politische Interessen als höhere Wahrheiten zu verschleiern: „Religion bringt eine komplizierte Welt auf einen gefährlich einfachen Nenner – und wird zum Brandbeschleuniger“. Der Vielschichtigkeit und Komplexität allerdings, in deren Horizont das Problem Poly- und Monotheismus im Ersten Testament verhandelt wird, vermag Assmanns These nicht wirklich gerecht zu werden. In bewusster Übergehung der unterschiedlichen literarischen Schichten des Überlieferungsprozesses wird die priesterlich-theokratische Überlieferung, in der mit dem Nachweis der Macht des biblischen Gottes gegenüber der Machtlosigkeit fremder Götter tatsächlich eine gewisse Unterscheidungsdynamik zum Tragen kommt, gesamtbiblisch auf die Behauptung hin generalisiert, der

„Religion bringt eine komplizierte Welt auf einen gefährlich einfachen Nenner – und wird zum Brandbeschleuniger.“

 So z.B. in prägnanter Diktion T. Assheuer, Am Ende ist das Wort, in: Die Zeit Nr. 7 (8.02.07), 1.  In Anlehnung an H.C. Schmitt, Der Exodus und der Monotheismus, (noch unveröffentl.) Abschiedsvorlesung 7.02.2007 FAU Erlangen.  Vgl. z.B. die Erzählung vom Schilfmeerwunder, das die Machtlosigkeit der fremden Götter gegenüber dem biblischen Gott demonstriert. R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

biblische Kanon propagiere gewissermaßen die gottgewollte Vernichtung der Heiden. Unterschlagen wird dabei der notwendige Hinweis darauf, dass es die letztlich wehrlosen, ins babylonische Exil entführten Repräsentanten des priesterlichen Standes waren, die solche Erzählungen, in denen sich Gott als mächtiger als die Israel versklavenden Völker erweist, entwickelt haben. Nicht die Legitimierung menschlicher Gewaltanwendung, sondern die Hoffnung eines sich passiv verhaltenen Opfers auf eine Befreiungstat Gottes ist es, die solche Texte zu stützen beabsichtigt sind. Dass die sich hier unverkennbar herausbildende Sprache der Gewalt wirkungsgeschichtlich eine durchaus gegenteilige Konsequenz hat entfalten können, soll damit nicht geleugnet werden. Und doch darf zur Beurteilung des jüdischen und mit ihm auch des christlichen Eingottglaubens ein wesentliches Moment nicht aus dem Blick geraten. Es besteht darin, dass in der gesamten alttestamentlichen Überlieferung bis zur Exilszeit um 550 v. Chr. von einer monotheistischen Vorstellung, dass es nur einen einzigen Gott überhaupt gebe, nicht die Rede sein kann. Worauf die ältere Moseüberlieferung abhebt, ist nicht ein theoretischer Monotheismus, sondern eine Monolatrie, d.h. die Verehrung des einen Gottes Israels

trotz der Existenz anderer Götter. Begründet wird diese monolatrische Ausrichtung des Glaubens mit einer Erfahrung, mit der Erfahrung eines Gottes, der mit dem Exodus aus Ägypten Israel aus der Knechtschaft befreit, eines Gottes, „der sich dadurch auszeichnet, dass er in die Freiheit führt“. Dementsprechend kennt das Erste Testament auch keinen formalen Offenbarungsbegriff, sondern schildert vielmehr Gottessituationen: einen geschichtlichen Gott, der mit-, nach- und vorangeht: einen Weggott, der nicht transzendente Sachverhalte oder feste, unveränderliche Ordnungen mitteilt, sondern Gemeinschaft eröffnet (Immanuel) und sich in seinem Handeln zusagt (Ex 3,14). Der alttestamentliche Gottesglaube begegnet damit nicht als eine metaphysische, mit dem Anspruch logisch-systematischen und damit theoretischen Denkens auftretende Lehre, sondern rein narrativ, als die Erzählung einer Heilsgeschichte: die Geschichte der Schöpfung der unmittelbar sichtbaren Welt, die Geschichte der menschlichen Verkehrung gegen Gott und die Genealogie von Schuld und Sünde, schließlich die Geschichte eines durch nichts und niemanden aufzuhaltenden Gemeinschaftswillens Gottes.  So Schmitt, Der Exodus, a.a.O. Mitschrift mit Verweis auf R. Smends Abschiedsvorlesung 1993 zur Moseüberlieferung.

Seite 12 Was Israel über diese gemeinsame Menschheitsgeschichte hinaus mit den Völkern verbindet und aus alttestamentlicher Perspektive eine grundlegend positive Stellungnahme zu den anderen Religionen ermöglicht, sind vor allem zwei Dinge. Das eine ist die Israel und seinen Nachbarvölkern gemeinsame „Gottesfurcht“ (yir’at jahwe), die als solche, wie das Buch Jona anschaulich erzählt, das Selbstverständnis des erwählten Volkes Israel grundlegend zu relativieren vermag und zugleich als der wesentliche Terminus für „Religion“ im alten Testament zu verstehen ist: „groß ist der Name Gottes (auch) unter den Heiden“. Daneben tritt die alle Religionen verbindende Konstitutivität eines Kultes, der nach der Sintflut an die Stelle eines unmittelbaren Umgangs mit Gott tritt und alttestamentlich gesehen die Stabilität der Schöpfung bewirkt. Dtn 4,1-140 entfaltet schließlich eine Offenbarungstheologie, die den Völkern astrale, Gott selbst unterstellte Gottheiten und damit einen Platz in Gottes schöpfungserhaltendem  Vgl. Gen 20,10; Koh 12,13: „Fürchte Gott und halte seine Gebote, denn das gilt allen Menschen“, und Dtn 4,10; 14,23; 17,19; 31,12.  Vgl. Gen 8,20ff; das AT begreift die Opfer als Ersatzhandlungen, die das eigentlich geforderte Selbstopfer hinfällig machen; insofern ist der Sühne- bzw. Opferkult letztlich allein als ein Heilsgeschehen von Gott her adäquat zu verstehen; vgl. Ex 18; Jes 52,13ff.

Handeln zuweist. Solange sie nicht den Schöpfer mit dem Geschöpf verwechseln, wird die Gottesfurcht der Heiden durchaus positiv bewertet und kann im Rahmen der Kritik am Kult Israels sogar als mustergültig dargestellt werden.10 Der Eindruck, das Alte Testament stünde als Wort der Offenbarung strikt antithetisch gegen jegliche heidnische Religion, erwächst allein aufgrund der die Unterordnung der Götter unter den offenbarten Gott fordernden spätexilischen Götzenpolemik und der quantitativen Dominanz deuteronomistischer Texte. Als Argument für den Kampf gegen die Religion als solche taugen diese Erweise jedoch nicht.11

Solange sie nicht den Schöpfer mit dem Geschöpf verwechseln, wird die Gottesfurcht der Heiden durchaus positiv bewertet und kann im Rahmen der Kritik am Kult Israels sogar als mustergültig dargestellt werden.

 Vgl. Dtn 4,19; 32,8; aber auch Gen 10 und 48 (die sog. Völkertafel); Psalm 48,2 erzählt von den Göttern als „Geschöpfen des Herrn“. 10 Mal 1,11; vgl. daneben auch Ps 82; Amos 7 (und die dortige Kritik am Erwählungsgedanken), schließlich Jes 14,13. 11 Dies gilt zumindest für eine Theologie, die sich nicht an der Quantität von Texten orientiert. Ziel der prophetisch zu verstehenden Götzenpolemik der Exilszeit ist es, dass die so zu Ordnung gerufenen Völker den geschichtlich handelnden Gott erkennen und sich ihm zuwenden.

R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

Was Israel nun von den Völkern trennt und unterscheidet, ist das in der Dekalog-Präambel (Ex 20,1) verbal und damit geschichtlich eröffnete Bundesverhältnis, das Israel von nun an in ein exklusives Verhältnis zu Gott als dem geschichtlich Handelnden und Rettenden beruft. Zwar bedeutet diese Exklusivität zweifellos die Trennung von allen anderen Göttern - es gibt sie zwar, jedoch soll Israel ihnen nicht mehr dienen12 - und doch erweist sich schon allein darin, dass sich Jahwe über die anderen Götter allein durch die Proklamation seiner Gegenwart (Ex 3,14) erhebt, monotheistisches Denken im „hebräischen“ Sinn als strikt unmetaphysisch: ein Denken, dessen ‚Wahrheit’ sich letztlich in bleibender Differenz zu bewähren hat und somit nur als ‚Wahrheit in Bewährung’13 angemessen beschrieben werden kann. Folgerichtig kennt das Alte Testament auch keinen formalen Begriff für ‚Unglauben’, sondern nur den Begriff der Zuwendung Jahwes zum Menschen, exemplarisch zu einem Volk, das dieses Gotteshandeln wiederum im Glauben, d.h. im Vertrauen auf 12 Vgl. Gen 12,1-3; die Abrenuntiation von Gen 31; Jos 24 und schließlich Num 21 zum Heroengrab von Hesbon. 13 Den Ausdruck entnehme ich einem Zitat von Paul Ricoeur in einer Rezension von Doris Hiller, Rezension zu G. Kühne-Bertram/G. Scholz (Hgg.), Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven, in: ThLitZ 129 (2004) 4, 427.

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Es ist die im Schöpfungsbericht begegnende Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, mit der nicht etwa eine immanente Entelechie, sondern vielmehr die Relation Gottes zum Menschen als einem in Freiheit gesetzten Gegenüber mitangesprochen ist.

Jahwes Treue ( aemaet) beantwortet und somit zum „Zeugen“ vor den Völkern werden soll. Dabei bedeutet der Begriff Glaube ( aemaen) nicht etwa die Annahme eines bestimmten Glaubenssatzes, auch nicht eines bestimmten Gottesbildes, sondern, wie Zenger formuliert, das „Eintreten in den Raum gottgewirkter Zuversicht“14, also einen Ort, an dem der Mensch um Gottes Gegenwart weiß, an dem er zugleich aber auch immer wieder neu in die Krisis geführt wird, um Vertrauen bzw. Glauben zu lernen.15 Zielt der Begriff des Glaubens auf die Verlässlichkeit einer Beziehung, die sich in ihrer Verlässlichkeit erst noch zu bewähren hat, so bezeichnet der alttestamentliche Ausdruck für „Wahrheit“ kein statisches, festes Sein, sondern vielmehr eine Größe, die sich der Bewährung in Beziehung anheimgibt und erst in dieser Bewährung zu ihrem eigentlichen Sein findet.16 14 E. Zenger, Glaube und Unglaube im Alten Testament, in: H.J. Türk (Hg.), Glaube und Unglaube, Mainz 1971, 141-150, hier 143. 15 „Unglaube“ bzw. „Sünde“ gipfeln für das AT letztlich im Streben, mehr als nur ein auf einen Anderen angewiesener Mensch sein zu wollen, sich nicht in Gott, sondern in sich selbst gründen zu wollen (Gen 3,5); dabei geht es um das Unterpfand der Treue Gottes (Gen 22). 16 Die allein mögliche Proposition aemaen bé („ich glaube an, in“; eine Aussage wie „ich glaube, dass“ lässt sich mit aemaen nicht bilden!) weist hin auf diese Beziehungsdimension; vgl. G. Lisowski, Konkordanz zum Hebräischen Alten Testament, Stuttgart 19812, 107.368f.

R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

Das dieser Wahrheit zugrundeliegende Monolatrieverständnis ist somit gerade nicht exkludierend, sondern integrierend, in dem Sinne, dass es sich nicht gegen die Nachbarreligionen abgrenzt, sondern deren Erfahrungen für den biblischen Gott in Beschlag nimmt. Bekräftigt wird dies durch die elohistische Pentateuch-Überlieferung, die insbesondere in der Erzählung von den sich dem Tötungsbefehl des Pharaos verweigernden Hebammen und der Mitleid empfindenden Tochter des Pharao eine auch bei den Heiden begegnende „Gottesfurcht“, die Unverfügbarkeit göttlichen Handelns und damit schließlich die Unverfügbarkeit des Mitmenschen herausstellt. Damit ist die Traditionslinie priesterlich-theokratischer Provenienz nicht aufgehoben, aber entscheidend relativiert. Unterstützt wird diese Relativierung noch dadurch, dass die kanonische Endgestalt der Moseüberlieferung gerade nicht auf theokratisch-priesterliche, sondern auf eschatologisch orientierte Kreise zurückgeht, die sich primär der prophetischen Überlieferung verpflichtet fühlten. In dem von ihnen vertretenen ‚Monotheismus’, das wird schon bei einem flüchtigen Blick auf den hebräischen Kanon deutlich, sind die Heidenvölker in den Heilsplan Gottes einbezogen, der

sie am Segen Israels teilhaben lässt.17 Ein solcher monolatrisch orientierter und damit konkreter Monotheismus glaubt an die erst eschatologisch erkennbare Macht des einen Gottes, deren Herausstellung nicht Sache der Priester und überhaupt nicht Sache des Menschen, sondern allein Gottes Sache ist. Über diese eschatologische Perspektive hinaus ist im Blick auf die Menschheit als ganze noch eine weitere, nun dezidiert protologische Perspektive von Bedeutung. Es ist die im Schöpfungsbericht begegnende Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, mit der nicht etwa eine immanente Entelechie, sondern vielmehr die Relation Gottes zum Menschen als einem in Freiheit gesetzten Gegenüber mitangesprochen ist. Dessen grundlegende „Würde“ bestimmt sich durch seine bloße Existenz als ein auch durch den Fall hindurch von Gott her zur Gemeinschaft mit ihm bewahrtes Wesen und vermag daher auch nicht wieder aufgehoben zu werden: auch nicht durch die Abkehr von Gott oder den Unglauben!

17 Das Neue Testament nimmt dieses Moment insbesondere in der Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland (Mt 2, 1-12) auf.

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2. Versöhnung – Widerfahrnis und Proexistenz Nach seinem Selbstverständnis vertieft christlicher Glaube die jüdische Gottesrede darin, dass er an der Bruchstelle zwischen dem Einen und den Vielen eine radikale und angesichts des eigenen monotheistischen Mutterbodens revolutionäre Antwort wagt: eine Versöhnung von Einheit und Vielheit ist nur dann möglich, wenn der eine Gott nicht der geschlossen Einzige, sondern, wie Baur schreibt, „selbst der Vollzug von Gemeinschaft ist und sich auf die Vielen so einlässt, dass er sich mit ihnen im Vollzug eines Lebens verbindet“18, d.h. dass er seinen Gemeinschaftswillen in letzter Radikalität - in der Gestalt eines Menschen - gegen die menschliche Selbstverschlossenheit durchsetzt. Dabei wird mit Jesus als dem Offenbarer Gottes, der dessen fundamental dem Menschen zugewandtes Wesen zur Erkenntnis bringt, das Problem der Geschichte nochmals verschärft. Denn jetzt ist die Geschichte „in die Begründung des Wahrheitsanspruchs des Christentums selbst eingezogen“.19 Ein

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In seinem tiefsten Wesen ist christlicher Glaube ein Sich-Einlassen auf diese Versöhnung schenkende Liebesbewegung Gottes in die Welt, Nichtglaube (apistia) hingegen gleichbedeutend mit dem Zweifel an Gottes Macht, Sünde vergeben und die Gottesherrschaft nahebringen zu können.

18 Und dies „als Hineingenommene, nicht als Verfügte“, denn er ist „der Schöpfer als Teilgeber, nicht als Besitzer und Herr“, Jörg Baur, Christlicher Gottesglaube, in: Ders., Einsicht und Glaube. Aufsätze (Systematica), 2. Bde., 2. Bd., Göttingen 1994, 155-172, hier 169f. 19 D. Korsch, Risiken des Monotheismus in der R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

geschichtlicher Mensch steht für die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung der Gottesherrschaft und zugleich für die Durchbrechung aller Dichotomisierungen zwischen den Menschen, zwischen Frommen und Sündern, Reinen und Unreinen, Juden und Heiden. Einen exemplarischen Ausdruck findet dies, neben den Erzählungen zum nichtisraelitischen Hauptmann in Mt 8,8 oder zur Syrophönizierin in Mk 7,27, in der Begegnung Jesu mit einer von den Gesetzeslehrern angeklagten Ehebrecherin (Joh 8), die nach den geltenden Kategorien von rein und unrein dem Tod durch Steinigung auszuliefern wäre. Ein entscheidender Moment in der Religionsgeschichte: eine ehebrecherische Frau, eine Unreine, und ein Prophet, ein Reiner, stehen sich gegenüber, von den Wächtern des Gesetzes umringt. Alle moralischen Prinzipien hinter sich lassend lässt sich Jesus vom menschlichen Gegenüber, vom Pathos des (Allzu)Menschlichen berühren und ermöglicht es so, das Gesetz in einem viel tieferen Sinne zu erfüllen, als es in seinem vordergründigen Sinne je möglich wäre: in der Anerkenntnis der eigenen Schuld, in Moderne, in: Christen und Muslime. Verantwortung zum Dialog, Evang. Akademien in Deutschland (Hg.), Darmstadt 2006, 23-29, hier 25; vgl. demgegenüber das trad.-muslimische Verständnis zur Überzeitlichkeit des Qur’an.

der zugleich die Anklage des Mitmenschen, des Fremden und Anderen verstummt. Die in vielen dieser Erzählungen von Jesus gegebene Zusage – „Dein Glaube hat dich gerettet“ – ist dabei nicht etwa die Reaktion auf den menschlichen Glauben als Ausdruck menschlicher Tat. Was den Glauben dieser gesellschaftlich Ausgegrenzten zum rettenden Glauben macht, ist nicht dessen Quantität und Qualität, sondern Jesu eigenes Handeln. In seinem tiefsten Wesen ist christlicher Glaube ein Sich-Einlassen auf diese Versöhnung schenkende Liebesbewegung Gottes in die Welt, Nichtglaube (apistia) hingegen gleichbedeutend mit dem Zweifel an Gottes Macht, Sünde vergeben und die Gottesherrschaft nahebringen zu können.20 Angesichts der zutiefst menschlichen Versuchung, eher Gott versöhnen zu wollen als sich von ihm versöhnen zu lassen, äußert sich den Evangelisten zufolge menschlicher Glaube zugleich im Bekenntnis: „Ich glaube – hilf meinem Unglauben“. Die in diesen Worten zum Ausdruck kommende radikale Bindung des Glaubens an die Ausschließlichkeit Christi und seines Handelns verhindert zugleich, dem Glauben als einer subjektiven Tat des Menschen Ausschließlichkeit zubilligen. Die von 20 Paradigmatische Gestalt des Unglaubens ist der Geheilte von Joh 5, im Gegenüber zum Geheilten von Joh 11; nachfolg. Zit.: Mk 9,24.

Seite 15 Gott selbst gestiftete Gemeinschaft mit ihm bewahrt den von nun an in einer letztgültigen, aber gleichwohl uneinholbaren Gottesbeziehung stehenden Menschen davor, sich und seine eigene Wahrheit mit der Wahrheit als solcher gleichzusetzen und öffnet ihn schließlich für die Wahrheit, die nicht die seine ist, sondern ihm fortwährend widerfährt. Die paulinische Antithetik von Weisheit der Welt und Torheit Gottes bzw. Weisheit Gottes und Torheit der Welt kennzeichnet das Wirklichkeitsverständnis der Christen als schlechterdings unerschwinglich, d.h. als ein Verständnis, das über Grenzen hinweg nur von innen nach außen, nicht aber von außen nach innen erfolgen kann. Ein Rühmen des Kreuzes ist daher nur „unter den Bedingungen einer neuen Schöpfung“ möglich, die „niemand anderer als Gott selbst heraufführen kann“.21 Für die Frage nach der Verhältnisbestimmung christlichen Glaubens zur Alterität bzw. nichtglaubenden Umwelt bleibt dies nicht ohne Konsequenz: Ist die Botschaft vom Kreuz für ein Wirklichkeitsverständnis, das außerhalb der Sinnwelt des christlichen Glaubens in Geltung steht, letztlich unerschwinglich, dann wird 21 M. Moxter, Einleitung, in: Verstehen über Grenzen hinweg, hg. von W. Härle u.a., Marburger Jb XVIII, Marburg 2006, 1-22, hier 17.

es logischerweise auch unmöglich, gegenüber den Anderen so etwas wie eine kognitive Überlegenheit geltend zu machen. Der vielkritisierte aufklärerische, Gott zwangsläufig enthistorisierende Begriff der Absolutheit ist demzufolge auch nicht auf den christlichen Glauben anwendbar. Dieser versteht sich eben gerade nicht als ab-solut, sondern historisch und darf daher nicht, soll er biblisch begründet bleiben, mit einer ‚absoluten’ Wahrheit gleichgesetzt werden. Die radikale Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens erlaubt es vielmehr, die Durchsetzung seiner ‚Wahrheit’ von seinem Erfolg in der Geschichte zu unterscheiden und somit eine Differenz zu ziehen zwischen seiner unbedingten Geltung und seinen religiösen Erscheinungsformen. Es ist bezeichnend, dass sich auch die Identitätskonstitution der frühen christlichen Gemeinde in eben diesem, vor der Selbstabschließung bewahrenden Gesamtrahmen vollzieht. Die aus dem definitiven Scheitern der Christusverkündigung in Israel resultierende Differenzerfahrung wird in unterschiedlichen Traditionssträngen des Neuen Testamentes in seinem Gegensatz nicht etwa vertieft, sondern eingebunden in ein heilsgeschichtliches Gesamtmodell.22 Dem fundamentalen, d.h. die 22 Vgl. Moxter, Verstehen 16: „Auch wenn die frühen Christen die Ablehnung durch Israel nicht

R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

Menschheit als ganzer kennzeichnenden Widerspruch gegen Gott steht der umfassende, nach 1 Tim 2,4 allen Menschen in gleicher Weise geltende Heilswille Gottes gegenüber, dessen Universalität zugleich die Gleichheit aller Menschen vor Gott markiert. So wie alle Menschen „des Ruhmes ermangeln, den sie bei Gott haben sollten“, so schließt Gott „alle (Juden und Heiden) in den Ungehorsam zusammen, auf dass er sich (am Ende) aller erbarme“ (Röm 3,23; 11,32). Bibelwissenschaftlich lässt sich zeigen, dass die Ausschließlichkeit der Aktion Gottes, deren Exponent Jesus ist, einen eindeutig entgrenzenden Charakter hat. Wie Bechmann zu Recht feststellt, bedeutet die radikale und absolute Entscheidung für Sache und Person Jesu inhaltlich gerade „keine Entscheidung für Enge und Abgrenzung, sondern eine für grenzüberschreitende Humanität“. Wer sich entschließt, Christ zu sein, entschließt sich zu einer als „Grundordnung der Existenz als Christ“ zu verstehenden „Pro-Existenz für alle, auch für die Nichtchristen“.23 Demverstehen, glauben sie doch, dass Gott sich auf die Durchsetzung seines Heilsplanes versteht“; die Verstockungstheorie (Jes 6,9) hat daher eine heilsgeschichtlich integrierende Funktion. 23 U. Bechmann, J. Kügler, Proexistenz – Theologie und Glaube, in: Theol. Quartalsschrift 182 Jg. 2 (2002) 85-100, 98f.; nachfolg. 100.



Der vielkritisierte aufklärerische, Gott zwangsläufig enthistorisierende Begriff der Absolutheit ist demzufolge auch nicht auf den christlichen Glauben anwendbar.

Seite 16 zufolge ist „die theologische Option für einen biblisch fundierten Gottesbegriff zugleich die Option für die je größere Humanität“. Neutestamentlich findet diese Dimension des zur Humanität Befreitwerdens ihren Ausdruck nicht zuletzt in der radikalen, alle Dichotomien zwischen gut und böse, rein und unrein aufhebenden Berufung zum Dienst am Nächsten. In seinem Gleichnis vom Samariter spricht Lukas (10,25ff ) nicht einfach nur von philanthropia, sondern von echter Barmherzigkeit: ein Mensch lässt sich vom Leid eines (ethnisch und religiös) Fremden treffen: sein Bild „geht ihm in die Eingeweide“, es berührt und trifft ihn: er spürt den Appell, den Ruf des Anderen und hilft. Ein solches Verhalten kennt keine Letztbegründung, es steht jenseits aller ethischen Solidaritätsstandards. Der Samariter sieht sich schlicht und einfach – ganz im Levinas’schen Sinn – vom ‚Antlitz’ des Anderen zur Mitmenschlichkeit berufen und aktualisiert damit eben das, was sich in Jesu eigenen Begegnungen mit dem römischen Hauptmann von Kapernaum, der Samariterin oder der Frau aus Syrophönizien realisiert.24 Christlich zu glauben und 24 Ein Erweis für die Durchbrechung der Dichotomie rein/unrein ist insb. die jesuanische Aufhebung der Speisegebote (u.a. Mt 15,11), aber auch die Feindesliebe, die Jesus als Sinnbild eines nicht unbedingt „zweckmäßigen“ Ethos der Einseitigkeit dem symmetrischen

3. Entgrenzung – Existenz und Alterität

zu leben heißt dann nichts anderes als sich auf dieses Christusgeschehen, auf diese Gottesrede festzulegen, um den eigenen Lebensstandort respektive das eigene ethische Handeln von ihr prägen zu lassen.

Christlich zu glauben und zu leben heißt dann nichts anderes als sich auf dieses Christusgeschehen, auf diese Gottesrede festzulegen, um den eigenen Lebensstandort respektive das eigene ethische Handeln von ihr prägen zu lassen.

Handeln in der goldenen Regel gegenüberstellt und die als solche auch scheitern kann, vgl. Dtn 6,4; Lev 19,18 zu Mt 7,12; Mk 12,31.

R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

Nun geht die Wahrheit der Geschichte Jesu nicht darin auf, dass er einmal in der Geschichte war und wir uns an diese Geschichte durch die Bibel erinnern müssten. Damit läge, wie schon Barth in seiner Christologie (KD IV/3) herausstellt, die Wahrheit des Christentums letztlich bei der religiösen Organisation der Christenheit. Vielmehr ist es Gott selbst, der dem Menschen den Sinn der Geschichte Jesu bezeugt und vermittelt: dass er im Gekreuzigten selbst auf dem Plan ist, wird dem Menschen zugesagt, von Gott selbst, im Heiligen Geist. Gott ist ganz in seinem Wort und er bleibt Gott nicht nur in seiner Offenbarung, sondern auch in deren Annahme durch den Menschen. Diese personhafte und pneumatische Begründung des Glaubens im Widerfahrnis des Angesprochenwerdens durch den Auferweckten lässt sich weder in rationalen Kategorien noch in Bewusstseinsbestimmungen nachvollziehbar festlegen und schließt somit auch dessen gruppensoziologische Vereinnahmung aus. Versteht man ‚Glauben’ als „den umfassenden Grundbegriff für das von Gott selbst initiierte Heilsverhältnis des Menschen zu Gott“25, dann ist damit alle religiöse 25 I.U. Dalferth I.U., Die Wirklichkeit

Seite 17 Autorität radikal herabgestuft und Kirchenkritik aus dem Motiv des Glaubens selbst ermöglicht. Nicht das Christentum als Religion ist es, das in seiner unvermeidlich kirchlichen Gestalt für die Wahrheit des einen Gottes einsteht, sondern Gott selbst in der Gestalt seines Sohnes und des Heiligen Geistes. Nirgendwo anders als in diesen beiden Personen der göttlichen Trinität liegt zugleich auch die Möglichkeit religiöser Toleranz, ja der Anerkennung anderer Religionen: sie erwächst „nicht aus einem übergeordneten Prinzip der Religionsgeschichte, sondern aus dem sachlichen Gehalt des Christentums selbst“.26 Es war die epochale Leistung der orthodoxen Kirchenväter, die grundlegende Einsicht vollzogen zu haben, dass das Eine (henon), das bloß mit sich Identische, vom Gottesgeschehen in Christus her gesehen die Differenz (stasis) bzw. die Alterität in sich trägt, dass die neutestamentliche anthropologische Rede vom Vater, Sohn und Heiligen Geist nicht eine ruhende, sondern eine dynamische Einheit in den Blick nimmt und so, im Bild des Zeugens und Gezeugtwerdens, auf eine ‚Identität’ ver-weist, „die im Heiligen

Als die innere Dynamik der göttlichen communio ist der Geist selbst als jene Kraft zu verstehen, die den Zugang zu echter Alterität, d.h. zur bedingungslosen Anerken-

Geist durch das Anderssein hindurchgeht“.27 Im Horizont dieser communio bleibt die Vater-SohnGeist-Vorstellung unmittelbar verbunden mit der Idee einer radikalen Offenheit für den Anderen, wobei das Kreuz Christi auf eine letzte Radikalisierung eines alles verwandelnden Sich-Schenkens Gottes verweist, das – theologisch formuliert – dem Hochmut menschlicher Selbstgenügsamkeit die Selbstentäußerung Gottes entgegensetzt. Als die innere Dynamik der göttlichen communio ist der Geist selbst als jene Kraft zu verstehen, die den Zugang zu echter Alterität, d.h. zur bedingungslosen Anerkennung des Anderen oder eben: zur Differenz in der Identität erst eröffnet.

nung des Anderen oder eben: zur Differenz in der Identität erst eröffnet.

des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 394. 26 Korsch, Monotheismus 29; beide, Pluralismus und Geschichte, „gehören selbst in den Horizont der monotheistischen Religionen“, ebd. R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

27 T. Mooren, Islam und Christentum im Horizont der anthropologischen Wirklichkeit, in: ZfMRW 64 (1980) 10-32, 16; vgl. Gal 4,7; Röm 8,15.

Dabei erweist sich im Horizont einer radikalen Betonung der Konstitution des Glaubens aus dem Wort und einer damit einhergehenden Distanzierung von einem übergeschichtlichen Vernunftglauben der Unglaube als nie aufhörende Stimulanz des Glaubens, der als solcher nicht (nur) moralisch besseres, sondern eschatologisch neues schafft. Und als solche eschatologische Größe, die mehr ist als eine anthropologisch aufweisbare Haltung, lässt sich Glaube in christlicher Perspektive auch nicht phänomenologisch identifizieren: er bleibt, so wie die von Gott über dem Nichts gehaltene Seele selbst, immer dem Unglauben nahe und damit fortwährend angewiesen auf das Wirken des Geistes. Mehr noch: Insofern der durch Christus Erlöste dem Spannungsfeld von Religion und Glauben, d.h. der Spannung zwischen einer nicht vom Glauben bestimmten eigenmächtigen Religiosität einerseits und einem lebendigen Vertrauen auf den in Christus offenbaren Gott andererseits, erst anbruchsweise enthoben ist, gehört Unglaube geradezu zur Grunderfahrung des Christseins.28 Im Horizont der Kontingenz des sprachlich-leiblichen Geschehens der Selbstmitteilung Gottes und 28 Vgl. G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 19814, 184 zu M. Luthers (Un)Glaubensverständnis in WA 39/1.

Seite 18 eines Verständnisses des geschöpflichen Seins als durch Unglaube und Glaube, Sünde und Gnade zugleich bestimmt kann ein Christ einem anderen weder den Unglauben zum Vorwurf machen noch kann er sich etwas auf seinen Glauben einbilden. Als Geschenk reiner Gnade wird ihm der Glaube nicht nur zum Anlass zu beschämtem Dank, sondern zur Einladung, sich dem Mitmenschen mit-teilend und mit-verstehend zu öffnen. Eines Menschen Richter kann der Glaubende schon deshalb nicht sein, weil das Glauben-Können nicht als sein Verdienst, auch nicht als sein Besitz, nicht als seine Qualität und ihn nicht über die anderen erhebend angesehen werden kann: er ist nicht besser als die anderen, ist von sich aus immer noch der NichtGlaubende, der nur dank göttlichen Erbarmens zum Ja aufgeschlossen wird. Wenn Gott seine ‚Feinde’, die Sünder, schon vor ihrem Glauben liebt (vgl. Röm 5,8), dann ist auch Gottes Liebe nicht auf Glaubende beschränkt: in Anknüpfung an Luther umfasst nach Bonhoeffer „der Abgrund der Liebe Gottes auch noch die abgründigste Gottlosigkeit der Welt“.29 Das bisher letzte und äußerste Wort in der Geschichte des Konflikts von Glaube und Unglau29 D. Bonhoeffer, zitiert bei: W. Krötke, Weltlichkeit und Sünde, in: ZEE 28 (1984) 1227.

be dürfte wohl Nietzsche in seiner Deutung des selbst die Feinde in seine Fürbitte und Liebe einbeziehenden Kreuzesleidens Jesu gesprochen haben.30 Allein vor diesem Hintergrund ist es auch zu verstehen, warum Luther den mittelalterlichen, aus der platonischen Tradition stammenden ordo des Guten bekämpft und einer absoluten Beurteilung des Guten und Bösen, die er als eine hybride Anmaßung versteht, das vierfache solus entgegengesetzt. Dahinter steht die Überzeugung davon, dass die biblische Verheißung (promissio) das Vorstellungsszenario des ‚Guten’ letztlich durchbricht und erst so den Bezug zu Gott, zum Nächsten und zum Fremden bzw. Andersgläubigen von apriorischen, d.h. geschichts- und gesellschaftslosen Entscheidungen bewahrt. Dies schließt, so der spätere Bonhoeffer, aus genuin christlichen Gründen auch den Respekt vor einer mündigen, sich von Gott lossagenden Welt mit ein, die sich frei nach Kant ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen vermag: „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden.“31 30 Vgl. F. Nietzsche, Der Antichrist, § 35: „Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun“. 31 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Brief an Bethge vom 16.7.1944; „Gott gibt uns [durch das Kreuzesgeschehen] zu wissen, dass

R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

Dessen eingedenk, dass im Horizont trinitarischen Denkens Gott im genauen ontologischen Sinn des Wortes gerade nicht notwendig ist und sich somit der christliche Gedanke der Trinität niemals unitarisch von der Ontologie, sondern allein von der Soteriologie und Pneumatologie her deuten lässt, ist auch die Lehre von der ewigen Zeugung des Sohnes und der ewigen Hauchung des Geistes keine unerlaubte Spekulation, sondern die doxologische Anerkennung der geschichtlichen Sendung des Sohnes und des Geistes. Sie markiert gerade die unaufhebbare Differenz zwischen Gott und allem, was Menschen als Gott denken, und stellt christlicherseits ein Denkmuster zur Verfügung, in dem unterschiedliche Perspektiven auf Gott miteinander verbunden und gleichzeitig Differenzen in Gott offen gehalten werden können: dadurch, dass sie „die unaufhebbare und uneinholbare Prärogative Gottes gegenüber jedem Gottesgedanken“ herausstellt: „kein Gottesgedanke kann an die Stelle Gottes, kein Urteil über Gott an die Stelle von Gottes Urteil treten“.32 wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt“, ebd. 32 Dalferth, Religionsphilosophie 125; die Wahrnehmung der coram deo-Perspektive vollzieht sich als ein „Bruch“ (conversio) und führt zu einer grundlegenden „Umorientierung und Neueinschätzung des bisherigen Selbst-, Weltund Gottesverständnisses“, ebd. 126 und 452.

Das bisher letzte und äußerste Wort in der Geschichte des Konflikts von Glaube und Unglaube dürfte wohl Nietzsche in seiner Deutung des selbst die Feinde in seine Fürbitte und Liebe einbeziehenden Kreuzesleidens Jesu gesprochen haben.

Seite 19 Diese Eigencharakteristik christlicher Rede von dem einen Gott, dessen Einheit nicht theoretisch, sondern als Taten Gottes (factum dei) zu verstehen ist, drohte spätestens zu jenem Zeitpunkt an Profil zu verlieren, als mit der konstantinischen Wende der christliche Glaube zu einer die Einheit des Reiches sichernden Reichsreligion mutierte. Durch die Verknüpfung des christlichen Glaubens an einen sich entäußernden, dem Menschen als Menschen begegnenden Gott dynamischer Beziehungshaftigkeit mit dem an einer Identifikation, an einem principium interessierten rationalen Monotheismus der griechischen Philosophie wurde die performative Einzigartigkeit Gottes mit den seinem geschichtlichen Wesen kaum zu vereinbarenden Prädikaten der wesentlichen ‚Einheit’ und ‚Einfachheit’, d.h. letztlich Differenzlosigkeit modifiziert.33 Diese zentrale Vorstellungsgehalte des christlichen Glaubens umprägende Modifikation des Gottesglaubens mündet konsequent in die Legitimation einer monarchischen Herrschaft, wie sie das abendländische Christentum im Mittelalter so wesentlich geprägt und zum Leidwe-

Dieser kirchengeschichtlichen Entwicklung gegenüber ist ausdrücklich zu betonen, daß weder Glaubensordnungen noch

sen vieler Nichtchristen oder „Häretiker“ exerziert hat. Sie hat allerdings nicht die biblische Begründung für die Toleranz gegenüber Häretikern – das jesuanische Gleichnis vom „Unkraut im Weizen“ – völlig zunichte machen können. Apostaten, Häretiker und ‚Ungläubige’ wurden exkommuniziert, marginalisiert und mit sonstiger Drangsal bestraft, aber niemals – bis auf eine Ausnahme – mit dem Tode.34 Erst mit dem 13. Jahrhundert sollte sich dies, mit den bekannten, bis in die Zeit der Aufklärung hineinreichenden Folgen für die abendländische Kirche ändern.

Glaubensformen, ja nicht einmal die christliche ‚Lehre’ die ‚wahre’ Religion darstellen können.

33 In Anlehnung an W. Sparn, Politischer Monotheismus und trinitarisches Gottesbild, (unveröffentl.) Abschiedsvorlesung 7.02.02 FAU Erlangen; vgl. gegenüber 1 Kor 8,5 Aristoteles, Metaphysik, hg. v. H. Seidel, Hamburg 1984, 275: Buch λαµδα, Abhandlung XII.6. R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

34 Nach A. Angenendt (Toleranz und Gewalt, Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2006) ist bis 1200 eine einzige Ketzerhinrichtung (386 n.Chr.) verbürgt; zur frühchristlichen Toleranz vgl. die Studien des Habermas-Schülers R. Forst (Toleranz, Frankfurt/M. 2000; Toleranz im Konflikt, Frankfurt 2003), der sie in 2 Punkten zusammenfasst: a) radikale Trennung aller weltlichen Macht von der Kirche und b) absolute Illegitimität von Zwang in der Religion.

Dieser kirchengeschichtlichen Entwicklung gegenüber ist ausdrücklich zu betonen, dass weder Glaubensordnungen noch Glaubensformen, ja nicht einmal die christliche ‚Lehre’ die ‚wahre’ Religion darstellen können. Sie sind, wie Hermann Barth formuliert, nicht mehr aber auch nicht weniger als „der Versuch, der Erfahrung der Wahrheit Gottes menschlich zu entsprechen“.35 In christlicher Perspektive geht es gerade nicht um den Erweis einer transsubjektiv vermittelbaren Wahrheit oder die Anerkennung einer sittlich unbedingten Verpflichtung, sondern, so Dalferth, um die „Konkretion und Aneignung von Wahrheit im menschlichen Leben“, kurz, um „Lebenswahrheit“, d.h. darum, sich anhand der Botschaft von Gottes Vergegenwärtigung in Christus darauf aufmerksam machen zu lassen, „wie und wer Gott ist, dass und wie sich dieser Gott hier und heute im Leben eines Menschen vergegenwärtigt“.36 In diesem Sinne ist auch der Begriff der ‚Wahrheit’ kein sinnbestimmendes, sondern vielmehr ein „lozierendes Prädikat“, letztlich ein 35 H. Barth, Religionsfreiheit heute – Situation und Rolle der Religion und der christlichen Kirchen in der pluralen Gesellschaft, Vortrag am 26.05.04, in: EKD-Texte; unter: www.ekd.de/texte/. 36 Dalferth, Religionsphilosophie 176; nachfolg. Zitationen: ebd. 176 und 177; schließlich 189 und 205.

Seite 20 Gottesprädikat, das Gottes Bezug zum Leben von Personen charakterisiert: „Gott ist wahr, indem er das Leben von Personen wahr macht, und er macht es wahr, indem er sie von den Verfehlungen ihres Lebens frei spricht“. Dem Menschen selbst bleibt es freigestellt, gläubig oder ungläubig zu sein, religiös oder areligiös zu leben. Das gilt nicht nur im rein juristischen Sinn, sondern in dem radikalen Sinn, dass niemand anthropologisch genötigt ist, sein Leben religiös zu leben. Dies deshalb, weil, wie Dalferth zu Recht unterstreicht, der Mensch in christlicher Perspektive „auf keine Wesensstruktur festgelegt ist, die ihm keine Alternative zu einem religiösethisch orientierten Leben“ ließe. Christliche Theologie spricht daher von Sünde dezidiert nicht im moralischen, sondern im transmoralischen Sinn; und sie artikuliert Menschsein nicht als Bezugspunkt eines in sich selbst begründeten Subjekts, sondern als unhintergehbares Differenzverständnis, das in der Durchbrechung von Identität zur Alterität, zur Existenz befreit. Denn nur dort, wo im Denken Gottes die „kritische Fundamentaldifferenz zwischen Gottesgedanken und Gott“ gewahrt bleibt, ist eine religiöse Tradition auch, wie Dalferth formuliert, vor dem drohenden „Kurzschluss“37 gefeit,

In christlicher Perspektive ist es gerade die Unverfügbarkeit des Geistgeschehens, die erst jene Hermeneutik der Differenz ermöglicht, durch die allein sowohl der Widerstreit zwischen Gottesgegenwart und -ferne (vgl. Mk 15,34) als auch die Pluralität von Wahrheitsansprüchen ausgehalten werden kann.

37 Dalferth, Religionsphilosophie 477: „An R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

die eigene religiöse Symbolisierung Gottes mit Gott selbst zu verwechseln. In christlicher Perspektive ist es gerade die Unverfügbarkeit des Geistgeschehens, die erst jene Hermeneutik der Differenz ermöglicht, durch die allein sowohl der Widerstreit zwischen Gottesgegenwart und -ferne (vgl. Mk 15,34) als auch die Pluralität von Wahrheitsansprüchen ausgehalten werden kann. Im Horizont einer solchen Hermeneutik besteht keine Möglichkeit mehr, sich auf eine „überlegene Erkenntnisposition“ zurückzuziehen, „mit der ‚ich’ ‚unsere’ und ‚eure’ Religion von oben betrachte“.38 Vielmehr können Bewertungsmaßstäbe unterschiedlicher Religionen nebeneinander zugelassen werden. Es ist ein Kennzeichen des trinitarischen Gottesbildes, dass es einen ethischen und ästhetischen, aber ausdrücklich keinen politischen Index trägt. Die politische Funktion des trinitarischen Gottesbildes als solche kann nur eine sein: eine kritische. Denn sie „schließt alle Analogien zwischen der Herrschaft Gottes und der Herrschaft des Menschen aus“. Dies deshalb, weil sich die perichoretische Differenz in Gott selbst dieser Differenz hängt nicht nur die Möglichkeit der Korrektur religiöser und theologischer Missverständnisse, sondern vor allem auch, dass Menschen sich […] nicht abschließen“. 38 A. Feldtkeller, Interreligiöser Dialog und pluralistische Theologie - ein Traumpaar? in: Ökumenische Rundschau 49 (2000) 273-286, 284.

bzw. zwischen den drei Personen der Trinität dem ordnenden Zugriff entzieht und jeder Totalisierung widerstrebt. Wird dies ausgeblendet und das Dogma von der Trinität zum Gegenstand spekulativer Lehre, wird es nicht nur fragwürdig, sondern verunmöglicht letzten Endes das Verständnis des christlichen Glaubens als einer geschichtlich angefochtenen, intersubjektiv letztlich nicht vermittelbaren Größe: denn der Glaube ist, anders als im Fall einer kognitivistischen Glaubenstheorie, ausdrücklich und nachdrücklich „nicht jedermanns Ding“ (2. Thess 3,2).

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Abschließende Bemerkungen an Gottes Schöpfungswerk zu parti-

Man muß den Glauben leben, um zu wissen, ob und wie er sich vom Aber- oder Unglauben unterscheidet.

Das gemeinsame, wenn auch strittige Thema findet die den Kontext anderer Weltanschauungen notwendigerweise einbeziehende Begegnung zwischen glaubenden und nichtglaubenden Menschen damit letztlich in dem Maße, in dem sie gleichsam als ein ‚hermeneutischer Wettbewerb’39 um die Humanität geführt wird, d.h. als ein Wettbewerb, in dem sich herausstellen soll, in welchem Maße jede der unterschiedlichen Weltanschauungen den, der ihr anhängt, zur Mitmenschlichkeit und zur Alterität befreit. In christlicher Perspektive ist es der nach Menschlichkeit verlangende Gott selbst, der den Menschen aus all seinen Illusionen und Phantasien zur Wirklichkeit Gottes und seiner selbst befreit und so zu jener imitatio dei befähigt, wie sie die Rede von der Gottebenbildlichkeit aus sich heraussetzt: Gottes menschenfreundliche Herrschaft auf Erden im eigenen Handeln abzubilden und so – in der Gestaltung seiner sozialen Beziehungen nicht nur zu Seinesgleichen, sondern auch zum Anders- bzw. Nichtglaubenden – als ‚Mitschöpfer’ und ‚Mitarbeiter’ 39 Diesen Begriff entnehme ich R. Schaeffler, Religiöse Sprache zwischen Partikularität und Universalität, in: Zur Logik religiöser Traditionen, B. Schoppelreich u.a. (Hgg.), Frankfurt/M. 1998, 119-186, hier 175.

R. Braun: Wer sind denn die Ungläubigen? Eine Antwort aus christlicher Perspektive

zipieren. Insofern manifestiert sich die Wirklichkeit der in einem wesentlichen Sinne funktional zu verstehenden Gottebenbildlichkeit des Menschen in seinem tiefsten Sinne im radikalen Aus-sich-Herausgehen auf den Anderen und Fremden hin. Trinitätslehre ist insofern zuallererst und zuallerletzt eine die Praxis christlichen Glaubens betreffende Alteritätslehre: denn erst die praktische Aus- bzw. Um-setzung der eigenen Glaubensgewissheit, vollzogen in einer radikalen Offenheit nicht nur Gott, sondern auch dem Andersbzw. Nichtglaubenden gegenüber, erweist, was Glauben vom Aberglauben, konkret: vom „Götzendienst“ de facto unterscheidet. „Man muss den Glauben leben, um zu wissen, ob und wie er sich vom Aber- (oder Unglauben, R.B.) unterscheidet“.40

40 I.U. Dalferth, Die Vernunft des Glaubens. Eine evangelische Position, in: Glaube und Vernunft, Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung, M. Delgado/G.Vergauwen (Hgg.), Fribourg 2003, 191-214, hier 206.

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Emel und Amin Rochdi

„Bin ich hier richtig?“ Eine Erhebung der Schülerinteressen im Islamischen Religionsunterricht Die Situation Zu Beginn des Schuljahres 2007/08 waren die muslimischen Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 7, 8 und 9 der Geschwister-SchollRealschule in Nürnberg gefragt. Sie sollten in einer anonymisierten Erhebung angeben, was sie im Islamischen Religionsunterricht gerne besprechen würden. Nur einige wenige von ihnen hatten bis zu diesem Zeitpunkt die eine oder andere Form von religiöser Unterweisung in der Moschee besucht. Dem Islam im Gewand eines institutionalisierten, gegliederten und zielorientierten Unterrichts zu begegnen stellte für die meisten von ihnen eine neue und besondere Situation dar. Die ersten Erfahrungen mit dem Schulversuch Islamunterricht an einer Realschule lassen seitens der muslimischen Schülerinnen und Schüler zwei Grundmotive erahnen, die sich lernwirksam auf die Unterrichtssituation auswirken: Neugierinteresse und Stolz. Ersteres hat damit zu tun, dass sich mit dem

Islamischen Religionsunterricht ein eigener Diskursraum eröffnet. Die Schülerinnen und Schüler können hier auch das scheinbar Unerhörte fragen und sich frei äußern, ohne sich stigmatisiert zu fühlen oder gar Sanktionen befürchten zu müssen. Derlei spielt überraschenderweise innerhalb der Lerngruppen gegenwärtig keine Rolle. Das Gefühl, stolz sein zu dürfen, hat damit zu tun, dass der Islamische Religionsunterricht nicht nur gleichzeitig mit dem katholischen und evangelischen Religionsunterricht sowie dem Ethikunterricht stattfindet, sondern auch hinsichtlich seines Profils gleichberechtigt ist: Es gibt mündliche und schriftliche Leistungsfeststellungen, es werden Ziffernnoten vergeben, das Fach kann relevant werden für die Frage des Vorrückens in die nächste Jahrgangsstufe. Hinzu kommt, dass die Schule nun mit dem Islamischen Religionsunterricht ein Unterrichtsangebot machen kann, in dem sich die muslimischen Schülerinnen und Schüler

E. & A. Rochdi: Bin ich hier richtig? Eine Erhebung der Schülerinteressen im IRU

gegenüber anderen einen Vorsprung an Kenntnissen und Kompetenzen erarbeiten können. Gerade für diejenigen, deren sonstiges Leistungsprofil unterdurchschnittlich ist, gewinnt der Islamische Religionsunterricht somit für Fragen des Selbstbilds eine besondere Rolle, die kein anderes Fach in dieser Form anbieten kann. Die Schüler laufen hier, wenn auch nur für zwei Unterrichtsstunden pro Woche, gleichsam außerhalb jeder Konkurrenz.

Die Erhebung Diese Motivlage erfordert es in besonderem Maße, auf die Interessen der Schülerinnen und Schüler einzugehen – dies vor allem in einem Unterricht, dessen Fachprofil diskursive und induktive LehrLern-Strategien verlangt. Der notwendigen Befragung ging eine kurze Erläuterung der Lehrinhalte in den jeweiligen Jahrgangsstufen voran. Der Unterricht an der Realschule orientiert sich übergangsweise an dem für die Hauptschule in Bayern zugelassenen Lehrplan (vgl. den Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der Hauptschule; Download unter www. izir.de). Es wurde gegenüber den Schülerinnen und Schülern noch einmal besonders betont, dass ihre aktuellen Fragen und Interessen für die Planung von Unterrichtssequenzen berücksichtigt werden sollten. Zum einen ist der Lehrplan in Teilen dementsprechend offen konstruiert, zum anderen nehmen alle drei Lerngruppen gleichsam als Quereinsteiger ohne Vorkurs

Seite 23 an diesem Schulversuch teil – ein Defizit, das aber für den Anfang auch gewisse Freiheiten erlaubt.

„Ich habe einen Freund. Was darf ich mit ihm tun und was nicht? Dürfen wir uns küssen?

Die Schülerinnen und Schüler wurden aufgefordert, ihre Wünsche und Fragen schriftlich auf vorbereiteten Zetteln zu notieren und sie dabei in drei Stufen nach Wichtigkeit zu sortieren, und zwar angefangen bei dem, was ihrer Meinung nach im Unterricht unbedingt vorkommen sollte, bis hin zu Dingen, über die es zu sprechen lohnt, wenn dafür noch Zeit bleibt.

Wie schlimm ist es wirklich, wenn wir es ohne böse Absicht zum ersten Mal miteinander tun?“

Die Befunde 1. Sexualität kein Tabu In der neunten Jahrgangsstufe wurde fast auf jedem der abgegebenen Zettel der Themenkomplex Liebe, Partnerschaft und Sexualität entweder gestreift oder direkt angesprochen. Ob das in erster Linie mit dem Alter der Neuntklässler zusammenhängt (14 und 15 Jahre), bleibt offen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht sollte das auch in den Jahrgangsstufen 7 und 8 ein Thema sein, was bei der von uns durchgeführten Umfrage allerdings nicht so zu Tage trat. Auffällig war auch, dass dieser Punkt trotz der Häufigkeit, mit der er genannt wurde, in seiner relativen Wichtigkeit gegenüber anderen genannten Themen eher niedrig angesetzt wurde; er landete meist an dritter Stelle. Hier wäre darüber zu diskutieren, ob die Ursache dafür in Schamgefühlen liegt, in einer Art Schere im Kopf der Schülerinnen und Schüler, die sich unsicher sind, ob die Frage nach Homosexualität auf dem Erhebungsbogen über der Frage nach Gott, nach Muhammad oder nach dem Koran angesiedelt werden darf. Einige der Bögen enthielten nicht nur allgemeine Themenvorschläge in Stichpunkten, sondern konkret ausformulierte Fragen, zum

E. & A. Rochdi: Bin ich hier richtig? Eine Erhebung der Schülerinteressen im IRU

Beispiel: „Ich habe einen Freund. Was darf ich mit ihm tun und was nicht? Dürfen wir uns küssen? Wie schlimm ist es wirklich, wenn wir es ohne böse Absicht zum ersten Mal miteinander tun?“ Einige Schülerinnen und Schüler fragen danach, ob es denn prinzipiell erlaubt sei, ohne Einwilligung der Eltern zu heiraten. Hier liegt die Vermutung nahe, dass diese Frage im Vergleich mit der oben stehenden an sich keine neuen Kategorie eröffnet, sondern sie lediglich verschiebt: das Interesse am anderen Geschlecht gleichsam unter islamischen Vorzeichen, die Beendigung des jugendlichen Moratoriums in dieser Frage durch eine Art Legalisierung, zum Beispiel auch durch die Eheschließung vor Erreichen der gesetzlichen Volljährigkeit. Dieser Themenkomplex stellt insgesamt ein sehr heißes Eisen dar; viele der Fragen wurden seit der Erhebung im September 2007 aus dem Unterrichtsdiskurs heraus mündlich wiederholt, verändert und präzisiert. Das bestätigt noch einmal den Eindruck, dass die Schüler nicht unbedingt einer anonymen Erhebung bedürfen, um frei mitzuteilen was sie interessiert. Der Islamische Religionsunterricht scheint ihnen einen geeigneten Freiraum für der-

Seite 24 artige Anfragen zu bieten, wenn er diese Thematiken proaktiv aufgreift und den Schülern didaktisch klug dafür Anlass, Methode und Motiv bietet. In diesem Zusammenhang muss auch beleuchtet werden, wer den Unterricht hält. Der in jüngerer Literatur oft genannten Forderung, die muslimische Lehrkraft solle einen vertrauensvollen Kontakt sowohl zu den Eltern als auch zu den Moscheen der Nachbarschaft haben, kann nur wenig entgegengesetzt werden. Vertrauen zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen ist damit aber nicht gleichzusetzen. Nicht alle Einzelheiten, die zwischen Lehrkraft und Schülerschaft zur Sprache kommen, gehören beim Elternabend auf den Tisch. 2. Wo steht denn das? Dieser Punkt berührt das Verhältnis von Religion und Tradition. Durchweg alle Befragten haben irgend ein inneres Bild vom Islam, das sich einerseits aus den Eindrücken ihrer vor- und außerschulischen Sozialisation speist, andererseits aber auch aus Quellen, die unkontrolliert und unstrukturiert auf die jungen Muslime einwirken. Was von diesen inneren Bildern mitgeteilt wird, weist auf eine grundsätzliche Zweiteilung hin: Die einen sehen den Islam als eine Religion voller Gebote und Verbote, die mit der Hölle droht. Für

die anderen stellt sich der Islam als ein Weg des glücklichen Lebens in intakten Sozialbeziehungen dar, auch wenn es nicht immer einfach ist, diesen Weg zu gehen. Welche Erlebnisse oder Informationen dafür jeweils im Einzelnen Pate stehen, bleibt jedoch vorerst im Verborgenen, und dies zuerst einmal für die Betroffenen selbst. Darin kann nämlich eine der entscheidenden Orientierungsfunktionen des Islamischen Religionsunterrichts in seinem kontrovers diskutierten Ansatz des Therapeutischen, des auf Lebenshilfe bedachten Profils liegen: Dieses Verborgene als Teil des Selbstbildes zu entdecken und zu verstehen ist bei einigen der Schülerinnen und Schüler das entscheidende Schüsselmotiv, lieber den Islamischen Religionsunterricht anstatt das Fach Ethik zu besuchen. Dieses aktive Suchmotiv stellt die Verbindung zur Identitätsbildung dar.

Positionen aufeinandertreffen. Das ließ sich jüngst wieder an Hand des türkisch-kurdischen Konflikts nachzeichnen, der in den Islamischen Religionsunterricht hineinschwappte. Was Eltern oder andere Personen des sozialen Nahbereichs sagen, geht nicht immer mit dem konform, was im Koran steht. Das wird von der muslimischen Schülerschaft sehr wohl erkannt, auch wenn das Spannungsverhältnis zwischen Religion in ihrer theologischen und ihrer tradierten, personalisierten Dimension unterschiedlich bewertet wird. Die Jüngeren unter den muslimischen Schülern erleben diese Diskrepanz weniger deutlich und fragen auch nicht danach – im Gegensatz zu den Neuntklässlern, deren Anfragen oft einen betont sozial-, herrschafts- und religionskritischen Ansatz haben.

Viele Verbote und Gebote des Islams Hier liegt allerdings auch ein erhebsind selbst denjenigen Schülern beliches Konfliktpotential begründet. kannt, die entweder ein distanziertes Durch ein vermehrtes Interesse an Verhältnis zur religiösen Praxis haben der Religion und am Islam als prakti- oder die sich nicht als Muslime verzierter Lebensweise können die Schü- stehen, wie beispielsweise der Verlerinnen und Schüler dort in Schwie- zicht auf Schweinefleisch oder Alkorigkeiten geraten, wo eher Prozesse hol. Der Koran ist, ähnlich wie der einer traditionalistischen oder auch gesamte Islam, von einem allgemeinationalistischen Identitätskonnen, veröffentlichten Image geprägt, struktion nachgewiesen werden das eher negativ ist. Spricht man können, wo verantwortungsethisch aber die Schülerinnen und Schüler und gesinnungsethisch begründete gezielt auf den Koran an, so meinen

E. & A. Rochdi: Bin ich hier richtig? Eine Erhebung der Schülerinteressen im IRU

Viele Verbote und Gebote des Islams sind selbst denjenigen Schülern bekannt, die entweder ein distanziertes Verhältnis zur religiösen Praxis haben oder die sich nicht als Muslime verstehen, wie beispielsweise der Verzicht auf Schweinefleisch oder Alkohol.

Seite 25 selbst die Jüngsten zu wissen, dass es sich dabei um ein „besonderes, heiliges“, ja sogar „das beste Buch“ handelt. Ein Buch, das so heilig ist, dass es ganz weit nach oben in den Schrank gehört. Anfassen verboten! Woher das Wissen um diese Praxis stammt, und ob es damit überhaupt seine Richtigkeit hat, ist den meisten jedoch unklar. Die Schüler scheinen ein durchweg positives Bild vom Koran zu haben, jedoch erschließt sich ihnen nicht von selbst der Zusammenhang zwischen der Schrift und dem Leben. Die Frage wird gestellt: Warum sind die Muslime so schlecht, wo doch der Koran so gut ist? Diese Spannung zog sich als roter Faden durch die Schülerangaben in der Interessenerhebung. Der Koran selbst als Unterrichtsgegenstand fiel dabei gleichsam über Bord. 3. Prophetengeschichten: Märchenstunde? Prophetie ist bei allen drei Lerngruppen in etwa gleich stark vertreten gewesen, und zwar sowohl zahlenmäßig als auch durch das hohe Ranking. Jedoch muss man feststellen, dass in der 7. Klasse vermehrt das „Leben der Propheten“ und deren Geschichte und Wunder im Mittelpunkt des Interesses stehen. Hier geht es, vor allem mit Blick auf Muhammad, um das Interesse am Menschen: Wie hat er gelebt, warum ist er Gesandter

Gottes geworden, wie haben die Menschen seiner Zeit gelebt? Anders hier die Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse: Sie fragen vermehrt nach die Lehren, die aus koranischem Bericht und prophetischer Rede zu ziehen sind, vor allem in ihrer Bedeutung für den heutigen Kontext und das eigene Leben. Ein Gutteil der Schülerinnen und Schüler weiß, bei allem sonstigen Analphabetismus hinsichtlich der eigenen Religion, überraschend viel und detailliert von wunderlichen Dingen zu berichten, die sich irgendwann und irgendwo zugetragen haben: ein Mädchen, das im Klo ertrunken ist, weil es dort heimlich im Ramadan gegessen hat, ein Säugling, der mit zwei Köpfen zur Welt kommt, weil die Mutter ein außereheliches Verhältnis hatte… Hier wird gerne auf Berichte im Internet, auf dubiose türkische Printmedien sowie darauf verwiesen, dass ein namentlich genannter Prediger die Wahrheit dieser Berichte beschwöre. Das liegt fernab jedweder Prophetologie des Korans und ruft nach Erziehung zu Kritikfähigkeit. Aber dort wo es um Muhammad geht, erregt das Mysterium Faszination: Jesus sei der Prophet der Christen, aber Muhammad habe doch viel mehr Wunder getan…

E. & A. Rochdi: Bin ich hier richtig? Eine Erhebung der Schülerinteressen im IRU

Auch außerhalb muslimischer Milieus hat das Okkulte als Teil jugendlicher Lebenskultur, Medienkonsum und Freizeitgestaltung neu an Boden gewonnen.

Dass der Islam in der europäischen Kulturgeschichte oft als Religion der Geschichten- und Märchenerzähler rezipiert wurde, ist nicht zuletzt den Geschichten aus „1001 Nacht“ zu verdanken. Tatsächlich war und wiegt in der islamischen Welt das gesprochene Wort oft mehr als das geschriebene. Bis heute hat sich die Tradition bewahrt, Texte mündlich weiterzugeben. Dabei geht es nicht nur um religiöse Texte. Ob vor allem Schüler mit ihren Wurzeln in solchen Kulturkreisen eine Affinität zu besonders unglaublichen Geschichten und Wundern haben, und ob sich das bis in die heutige Zeit gehalten hat oder sich unter den Bedingungen von Migration und Postmigration gar verstärkt, wäre zu diskutieren. Auch manche der Eltern stehen hier ihren Kindern in nichts nach. Möglicherweise geht es auch einfach nur darum zu zeigen, wie interessant „ihr“ Islam sei. Auch außerhalb muslimischer Milieus hat das Okkulte als Teil jugendlicher Lebenskultur, Medienkonsum und Freizeitgestaltung neu an Boden gewonnen.

Seite 26 Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass in der häuslichen Erziehung mit Strafandrohung gearbeitet wird, wobei sich Eltern der tradierten religiösen Bilderwelten bedienen: der Satan, der kommt, der Dschinn, der von dir Besitz ergreift, die Hölle, die auf dich wartet, Gott, der dich in Stein verwandelt, wenn… Die Frage, wie man Kinder dazu bringt etwas zu tun oder zu unterlassen, haben sich bereits viele Generationen von Pädagogen gestellt. Was für die europäische Tradition von den Gebrüdern Grimm in Form gebracht wurde, wird auch von muslimischen Eltern gerne praktiziert: Geschichten erzählen – mehr oder weniger pädagogisiert. Je geheimnisvoller und abgehobener solche Geschichten sind, desto mehr Beachtung erfahren sie durch die Schüler. Vor allem in der siebten Klasse haben die Schüler ein schier unglaubliches Verlangen danach, ihren Klassenkameraden ihre neuesten Gruselgeschichten zu erzählen. Der kognitive Konflikt zwischen dem Wahrheitsanspruch der Geschichten und den Fragen nach Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit bleibt dabei nicht aus. Zu den gängigen Formulierungen auf den Erhebungsbögen gehört es, eine Frage mit „Simmt es, dass…?“ einzuleiten. Hier hat der Islamische Religionsunterricht seinen Teil zum

Bildungsauftrag der Schule insgesamt beizutragen, nämlich eine Kultur des Fragens, der kritischen Rückfrage, des Arguments der Vernunft und der Plausibilität einzuüben. 4. Ein guter Muslim sein: Man nehme… Ein weiterer Schwerpunkt bei der Erhebung der Schülerinteressen war die Frage nach den Grundpflichten und Glaubensinhalten, die im Leben eines Muslims eine Rolle spielen. Selbst Schülerinnen und Schüler, die sich selbst nicht als praktizierend bezeichnen würden, zeigen ein großes Interesse an der religiösen Praxis. Vor allem Fragen, die alltäglich die Medienwelt durchziehen wie zum Beispiel die Sache mit dem Kopftuch, stehen im Fokus. Viele der Anfragen zielen auf die Orientierung dahingehend ab, was man tun darf und was nicht, was im Islam halāl ist und was harām. Das stützt einen Befund, wie er sich aus der Analyse binnenmuslimischer Diskurse ergibt, und zwar besonders dort, wo Muslime meinen, sich gegenüber einer als dominant und unislamisch empfundenen „Mehrheitsgesellschaft“ behaupten zu müssen: Fragen der Richtigkeit und der Zugehörigkeit haben Vorrang für die Identitätskonstruktion; wer ich bin und woran ich glaube wird fast zur

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Nebensache. Auffallend ist, dass die Schülerinnen und Schüler nur dann den Grund für Verbote und Gebote erfahren wollen, wenn das Gebot ihrer bisherigen Lebenspraxis, ihren „Stil“ widerspricht. Gehen „persönliche“ und „muslimische“ Praxis scheinbar konform, dann genügt das zunächst, kurzfristig jedenfalls.

als deutsche Muslime bezeichnen. Das scheint also noch keine Selbstverständlichkeit zu sein und muss im Unterricht erarbeitet werden.

5. Leben, sterben, und dann? Besonders die Schülerinnen und Schüler der 7. Klassen haben, Punkt 3 lässt das ja erahnen, ein brennendes Interesse an Apokalyptik. Langfristig aber werden GrundsatzWeltuntergangsszenarien scheinen fragen an die Oberfläche drängen derzeit ein zentrales Thema zu sein, und nach Klärung verlangen. Eine nicht zuletzt wohl verstärkt durch dieser Fragen tauchte bereits auf die Vorgänge im Irak und in Afghaeinigen der Erhebungsbögen auf: nistan. Sie verlangen Antworten da„Was soll ich hier in Deutschland rauf, wie der Weltuntergang aussehen als Muslim?“ Für die Theologie des wird, wie er beginnt, was mit den Islams tritt hier zu Tage, dass KlarMenschen passiert und wer wie für heit bezüglich der Lebenssituation was bestraft wird. Hier wird auch die und Plausibilität in der persönlichen Frage nach der Hölle und nach dem Lebensperspektive, in den eigenen Teufel, dem „Schaitan“ gestellt. In Zielsetzungen notwendig sind, um der Erhebung ist das Thema „Hölle“ das Sinn stiftende Potenzial des bei mehr als der Hälfte aller SchüleIslams aktivieren und nutzen zu rinnen und Schüler ein Wunschthekönnen. Das allein auf Zugehörigkeit ma, wohingegen der Himmel bzw. und Richtigkeit angelegte Selbstbild das Paradies seltener vorkamen. trägt hier nicht weit. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch StimAber auch für die höheren Jahrmungen, und dabei insbesondere die gangsstufen ist der Tod ein wichFrage, ob sich die Schülerinnen und tiges Thema. Den Aussagen auf den Schüler insgesamt als Muslime anErhebungsbögen ist zu entnehmen, genommen fühlen. Es geht also um was gezieltes Nachfragen bestätigte: Integration. Durchweg alle Befragten Einige der Befragten haben bereits erkennen Deutschland als ihre HeiErfahrungen mit Leid und Sterben in mat an und würden sich, trotz ihrer der Familie gemacht. In einem Fall unterschiedlichen Herkunftskonwurde konkret gefragt, ob man wirkstruktionen und Biographien, gerne lich durch das Fasten einen Sünden-

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Nur so ist zu erklären, warum von Schülerseite gefragt wurde: „Was haben die Juden, die Amerikaner und der Satan miteinander zu tun?“

erlass erhalte und was mit jemandem passiert, der während des Fastens stirbt. Andere Schüler wollten wissen, ob man für bestimmte Sünden für immer oder nur für eine begrenzte Zeit in die Hölle komme. 6. Fernsehen und die Frage der Vergiftung und Verdummung Dass auch muslimische Schüler von den Medien beeinflusst sind, muss nicht erwähnt werden. Jedoch scheinen sie sich stärker durch Massenmedien beeinflussen zu lassen als ihre Altersgenossen. Das liegt wohl weder an den Medien selbst noch an einer besonderen Bereitschaft, sich ihrer Suggestivkraft hinzugeben, sondern allein an dem Umfang, den islambezogene Berichterstattungen inzwischen einnehmen. Hier ist man Betroffener, hier wird es schwierig, nicht Position zu beziehen, nicht parteilich zu sein. Symptomatisch dafür ist der jüngste Konflikt zwischen dem türkischen Militär und Kurden im Südosten der Türkei und im Norden des Irak. Dieses Thema wird vor allem in von türkischen und kurdischen Schülern stark frequentierten Internetforen heiß diskutiert. So kann man in einem Thread einer großen deutschen Tageszeitung unter einem Artikel zu den Straßenschlachten zwischen kurdischen

E. & A. Rochdi: Bin ich hier richtig? Eine Erhebung der Schülerinteressen im IRU

und türkischen Jugendlichen in Berlin lesen, dass „die PKK unsere [kurdische] Religion“ sei. Ähnlich äußern sich türkische Nationalisten, für welche „zuerst das Türke sein kommt, dann die Religion“. Solche Parolen liefern Zündstoff für den Islamischen Religionsunterricht. Auch der Pausenhof könnte zu einem Austragungsort des Kräftemessens werden, so wie das von einer Schülerin auf den Punkt gebracht wurde: „Wenn es da unten losgeht, sind wir in Deutschland bereit“.

tive – wenn nicht vorschnell. Auch antisemitische Ressentiments werden in bestimmten Foren artikuliert. Nur so ist zu erklären, warum von Schülerseite gefragt wurde: „Was haben die Juden, die Amerikaner und der Satan miteinander zu tun?“

7. Ist der Islamische Religions unterricht das Richtige für mich? Bei der Überlegung, sich für Ethik oder den Islamischen Religionsunterricht zu entscheiden, mag es unterschiedliche Motive geben. Trotzdem fragte bereits nach wenigen Wochen ein Schüler, ob es Diskussionen darüber können von möglich wäre, den Islamunterricht üblen und dummen Beschimpfungen wieder zu verlassen. Dem stehen begleitet sein, was die Schülerinnen während des laufenden Schuljahres und Schüler aber gut differenzienormalerweise bürokratische Hürden ren. Problematischer wird es, wenn entgegen. Dennoch sollte der SchüThreads faschistische Ideologien auf- ler bei seiner Entscheidung durch greifen und scheinbar plausibilisieein positives Votum der Lehrkraft ren. Was dort an Argumenten gelieunterstützt werden. Er wurde allerfert wird, muss dann im Unterricht dings zuvor gebeten, die Gründe mühevoll widerlegt werden: „Können dafür schriftlich zu formulieren. Kurden überhaupt Muslime sein? Kann man an der Kopfform erkenSeiner Aussage nach habe er nie eine nen, ob jemand wahrer Türke ist?“ besondere Beziehung zum Islam empfunden. Durch seine Wahl für Hier bleibt es nicht bei türkischen den Islamischen Religionsunterricht Themen; gefragt wird nach allen habe er sich neue inspirierende EleKonfliktszenarien zwischen Minmente erhofft. Er sei sich daher nicht danao und New York. Die Schülesicher, ob er in diesem Unterricht rinnen und Schüler gelangen, durch richtig aufgehoben sei. Neben den andere Schulfächer unterstützt, arabischen Begriffen, die ihn eher besehr schnell zur globalen Perspeklustigten, habe er nicht das Gefühl,

Seite 28 von diesem Unterrichtsangebot angesprochen zu werden. Durch seine gelegentlich respektlosen Bemerkungen im Unterricht und sein Gelächter würde er doch nur die Gefühle der „interessierten Schüler“ verletzen. Seine „ungläubigen Kommentare“ seien zudem der muslimischen Lehrkraft gegenüber respektlos.

Fazit

der kritische Ansatz: Welche Unterrichtsprozesse tragen im Einzelnen Die von den Schülern angesprozur Orientierung in der Lebenswelt chenen Punkte lassen sich gut mit bei, welche Voraussetzungen bringt den Lehrplänen für den Schulversuch die Schülerschaft mit, was genau Islamunterricht verbinden; sie gehen kann und soll ein Islamischer Restellenweise erwartungsgemäß konligionsunterricht leisten? Es geht form. Überraschend war dabei aber einerseits um wissenschaftlich verdie Fülle und die Unmittelbarkeit wertbare Erkenntnisse, andererseits der Anfragen. Die unterschiedlichen aber auch um die Verbesserung der Dass gerade solche Schüler mit dem Bezugsfelder innerhalb der Theologie konkreten Lehr-Lern-Prozesse und Islamischen Religionsunterricht eine des Islams wie auch der religiösen der pädagogischen Gesamtsituation Möglichkeit erhalten sollen, über Gegenwartskulturen zeigen, wie vor Ort, in die der Islamische ReKonfliktthemen und Letztfragen zu hoch die Anforderungen an eine ligionsunterricht eingebettet ist. sprechen, geht aus dem Fachprofil Lehrkraft für den Islamischen Relihervor. Aus diesem Grund wurde gionsunterricht und an ihre Ausbilmit dem Schüler ein vertrauliches dung sind. Das betrifft sowohl die Gespräch geführt. Er wurde für seine Religionslehre als auch die Vertrautehrlich und klug formulierte Stelheit mit der muslimischen Jugend lungnahme gelobt, in der er seinen und ihren bevorzugten Themen. Wechsel in eine andere Lerngruppe Hinzu kommen die allgemeinen nicht unbedingt forderte, sondern pädagogischen Herausforderungen lediglich seine Anwesenheit im Isladurch in ihren Herkunftsmilieus, mischen Religionsunterricht in Frage ihren Interessen und Vorkenntnisstellte. Es wurde ein Moratorium ver- sen sehr heterogene Lerngruppen. einbart: Bleibe bis zu den Zwischen- Wer Islamischen Religionsunterzeugnissen dabei, dann entscheide. richt erteilen will, muss sich auf Fordere bis dahin die Lehrkraft mehr besondere Lernprozesse einlassen. heraus, auf Deine Fragen einzugehen und arbeite disziplinierter mit. Die hier geschilderten Erfahrungen machen neugierig. Benötigt wird nun eine empirische, hier vor allem qualitativ angelegte Forschung. Dabei darf es nicht um Akklamation gehen – alle, die an so einem Schulversuch teilnehmen, finden den natürlich toll. Gefragt ist vielmehr E. & A. Rochdi: Bin ich hier richtig? Eine Erhebung der Schülerinteressen im IRU

Wer Islamischen Religionsunterricht erteilen will, muss sich auf besondere Lernprozesse einlassen.

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Fuad Kandil

Kann religiöse Erziehung zur besseren Integration beitragen? Zur Frage des Islamischen Religionsunterrichts – Teil 1: Grundsätzliche Überlegungen1 Neue Herausforderungen – alte Hüte Die meisten westeuropäischen Gesellschaften erleben seit einigen Jahrzehnten eine verstärkte Zuwanderung von Menschen aus Ländern, die in vielerlei Hinsicht vor ebenso drängenden wie unausweichlichen Veränderungen stehen. Die Rede ist von den verschiedensten Regionen und den unterschiedlichsten Kulturen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie im soziologischen Sinne nicht mehr dem Idealtypus einer „traditionalen Gesellschaft“ entsprechen. Demgegenüber weisen sie im Vergleich zu den Aufnahmeländern, die sich als „moderne Zivilgesellschaften“ verstehen, erkennbar traditionalistische Züge auf. Das betrifft nicht zuletzt die Religion: Ihr wird in vielen Herkunftsländern ein Stellenwert zugeschrieben, wie er in Europa als überwunden angesehen wird. Religion im Sinne eines In1 Der vorliegende Beitrag ist die redaktionell bearbeitete und veränderte Fassung eines Vortrags. Die Herausgeber danken dem Verfasser für die Freigabe des Texts.

stituts, dem ebenso ordnungspolitische Regelkraft zugemessen wird wie Orientierungsfunktion für das Individuum, gehört mehr zum Bestand der kulturgeschichtlichen Erfahrung als zur Gegenwart. Das kann für Zuwanderer gleichermaßen wie für die Aufnahmegesellschaften gewisse Probleme aufwerfen. Ein Großteil der Zuwanderer gehört dem Islam an, der mit Blick auf die europäische Wahrnehmung lange Zeit als Fremdreligion galt. Das befreite zunächst von der Notwendigkeit, sich intensiver mit diesem scheinbaren „Phänomen auf Zeit“ auseinandersetzen zu müssen – irrtümlicherweise, wie wir heute wissen. Hinzu kommt: In globaler Perspektive hat sich, was als Islam angesehen wird, zu einer Bedrohung der in Rede stehenden Gesellschaftsordnung gemausert. Der Ruf nach Einführung des Islamischen Religionsunterrichts (IRU) an der öffentlichen Schule provoziert, ob in der Schweiz, in Deutschland oder anderswo, unterschiedlich

F. Kandil: Kann religiöse Erziehung zur besseren Integration beitragen? Zur Frage des IRU – Teil 1

starke Abwehreaktionen. Die Europäer tun sich mit kultureller Pluralisierung als Herausforderung im heutigen Zeitalter der Globalisierung ziemlich schwer. Das überrascht, denn sie selbst verdanken Freiheitlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, auf denen ihre Gesellschaftsordnung beruht, eben jenen Prozessen, die ohne politische, kulturelle und religiöse Pluralisierung undenkbar gewesen wären. Wichtige Impulse zeitigten hier Epochen, in denen es zu einer fruchtbaren Begegnung mit dem Islam kam – sei es die venezianische Renaissance, sei es die andalusische „Zeit des Lichts“. Überraschend auch, weil alle kapitalistischen Wirtschaftsmodelle derartige Prozesse geradezu voraussetzen.

Chancen und Risiken Neue Herausforderungen bergen Chancen und verlangen Kreativität; sie bringen aber auch Risiken mit sich. Wer es versteht, auf neue Entwicklungen gelassen zu reagieren, beweist Stärke, was nicht zuletzt die europäischen Nachkriegsgesellschaften auszeichnete. Bislang jedenfalls. Diese Gesellschaften haben immer wieder gezeigt, dass sie besonders den Herausforderungen, die aus Pluralisierungsschüben entstehen, in besonderer Weise gewachsen sind. Das zeigt schon ein flüchtiger Rückblick auf die europäische Geschichte. Was gegenwärtig die Gemüter erhitzt, kann daher im Grunde genommen keine völlig neue Erfahrung darstellen. Wieder aufkeimende Vorstellungen vom Leben in einem kulturell und religiös homogenen Gemeinwesen, die über die sentimentale Verklärung guter alter Zeiten hinausgehen, bergen in diesem Kontext zukünftige besondere Gefährdungen des sozialen Friedens. Sich strukturell der Integration und Pluralisierung – beides keine Einbahnstraßen – zu

Seite 30 verweigern bedeutet Rückschritt. Die Rückbesinnung auf bewährte Visionen, Werthaltungen und Idealeigenschaften tut not. Um ein Beispiel zu nennen: die „Zivilisierung des Umgangs mit der Differenz“ nach Dieter Senghaas. Viele europäische Gesellschaften mussten im 16. Jahrhundert das Ende der konfessionellen Homogenität erfahren. Sie mussten in langwierigen Konflikten lernen, mit der neuen Differenz zu leben. Senghaas spricht in dem Zusammenhang zwar von einer „Zivilisierung wider Willen“ (so auch der Titel seines Buchs), was die Notwendigkeit dieser Einsichten jedoch nicht schmälert (vgl. Senghaas: Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst. Frankfurt 1998). Dabei geht es aber um Prozesse, die nicht einfach als abgeschlossen oder überwunden gelten können. Das heutige Zeitalter der Globalisierung und die notwendigerweise damit verbundenen Wanderungsbewegungen bringen einen weiteren Pluralisierungsschub mit sich, der auch eine ethnisch-kulturelle Dimension aufweist. Das betrifft auch die viel beschriebene „Transnationalisierung nationaler Gesellschaften“. Alle, also sowohl die, die zuwandern, als auch diejenigen, die schon da sind, sind davon betroffen. Alle sind aufzurufen, an der Bewältigung

dieses Pluralisierungsschubs mitzuwirken. Es gilt, die Einwanderer in die Lösung aufkommender Probleme mit einzubeziehen, anstatt sie nur als alleinige Ursache für Probleme ausmachen zu wollen. Und: Wer mit in die Verantwortung genommen wird und diese auch annimmt, der darf nicht länger von Prozessen ausgeschlossen bleiben, die ein gesteigertes gesellschaftliches Prestige mit sich bringen: gleichberechtigter Zugang zu den Bildungssystemen und die damit verbundene vertikale Mobilität. Alle Seiten sind in gleicher Weise gefordert, ihren eigenen Beitrag zu einer Kultur des zivilen Umgangs mit der Differenz zu leisten. Das gilt – das muss wohl, um Missverständnisse zu vermeiden, so präzisiert werden – besonders auch für diejenigen Zuwanderer, die sich im Sinne nicht hinterfragter Gesinnungen den Kulturen ihres Aufnahmelandes überlegen fühlen. Um es noch klarer zu sagen: Muslime, die sich einer gemeinsamen Verantwortung im Kontext der Solidargemeinschaft aller verschließen, stellen ein Problem dar. Eines der wesentlichen Argumente für die Einführung von IRU gründet hier.

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IRU – eine bundesdeutsche Sonderdebatte? Nicht nur IRU, sondern jede Form religiöser Erziehung muss hier unterstützend wirken. Unbeschadet des Eigenwerts von Religion darf hier ein propädeutisches, wenn nicht therapeutisches Motiv herangetragen werden. Nur wenn IRU hier ein eindeutiges Profil hat, kann er seinen Beitrag zur Integration von Menschen leisten, die sich als Muslime verstehen – seien sie vor Jahren oder Jahrzehnten nach Deutschland gekommen, seien sie in dritter Generation hier geboren. Dass religiöse Orientierungen für diese Gruppen einen hohen Stellenwert haben, kann zu Synergien mit dem IRU führen, wie sie im christlichen RU vielleicht vermisst werden. Ziel des IRU muss sein, in Fragen der subjektiven Ethik neue Tiefenstrukturen zu schaffen, die ein verändertes Verhalten zeitigen: mehr Öffnung hin zur Gesellschaft, mehr Duldung auch innerer, gleichsam binnen-muslimischer Pluralitäten. Dies indes bei theologisch-authentischer Fundierung. Derlei Aspekte hatten erheblichen Anteil daran, dass ernsthaft über die Einführung eines IRU an der öffentlichen Schule in Deutschland debattiert wurde. Muslime aus der Türkei stellen dabei die größte

Muslime, die sich einer Verantwortungsethik im Kontext der Solidargemeinschaft aller verschließen, stellen ein Problem dar.

Seite 31 Gruppe der potenziellen Adressaten dar. Inzwischen ist unstrittig, dass ein IRU muslimischen Jugendlichen Orientierungshilfe geben und ihr Selbstbewusstsein stärken kann, so dass sie sich auf dieser Grundlage auf die plural strukturierte Gesellschaft einlassen und am kulturellen Geschehen teilhaben können (vgl. dazu Abdullah, M. S.: Weshalb das Rad neu erfinden wollen? In: Moslemische Revue 20, 1999, S. 76f.). Andere, scheinbar nur noch technische Fragen bleiben offen: Wie und wo sollen die dafür benötigten Lehrkräfte ausgebildet werden, und von wem? Man kann sich trotz aller Beteuerungen und positiver Einschätzung des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Verantwortlichen mit der praktischen Umsetzung noch schwer tun. Vermutlich darf nicht unterschätzt werden, dass grundsätzliche Vorbehalte gegenüber dem Islam und den Muslimen wieder zunehmen. Auch wenn in den Landtagen über Fraktionsgrenzen hinweg positive Beschlüsse zum IRU gefasst werden, streiten die innerfraktionellen Flügel der Befürworter und Bedenkenträger über den richten Weg. Es geht um Vertrauen bildende Maßnahmen, und die erfordern es, auch trotz erhöhter Unwägbarkeiten einmal mit kleinen Schritten anzufangen.

Lernziel „Öffnung“

Die Idealtypik der postmodernen europäischen Kulturen kann diskutiert werden; für Zuwanderer, die sie als das Ziel ihrer Wanderung ausgemacht haben, bedeuten sie Erfüllung wie auch Herausforderung.

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Im Mittelpunkt der Betrachtung steht hier die Frage: Kann religiöse Erziehung im Rahmen eines ordentlichen Religionsunterrichts an der öffentlichen Schule heranwachsenden Mitgliedern einer Minderheit dazu verhelfen, sich in der westeuropäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts besser zurechtzufinden – vor allem dann, wenn sie aus einem eher traditionalistischen Kontext entstammen? Die Öffnung zur Gesellschaft hin ist dabei aber noch nicht gleichbedeutend mit Integration. Zudem muss der Eindruck vermieden werden, Migrantinnen und Migranten seien pauschal ihre Integrationsbemühungen gegenüber einer so genannten Mehrheitsgesellschaft schuldig geblieben; die Sache liegt manchmal auch anders herum. Außerdem muss gefragt werden, worin die eigentlich religiös begründeten Bildungsziele eines IRU liegen – in einer alleinigen Zubringerfunktion für sich wandelnde Integrationsanliegen sicher nicht. Unbestreitbar aber spielt, wenn wir von Muslimen reden, die Frage religiöser Bildung für die Integration eine wichtige Rolle; von besonderen Aspekten einer Synergie war bereits die Rede.

Der Bezugskontext ist hier, wie bereits angesprochen, die demokratisch verfasste, rechtsstaatlich strukturierte, pluralistische und sich als säkular verstehende Gesellschaft als identifikatorisches Zentrum europäischer politischer Kultur. Das bedeutet Dynamik. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen können den Wunsch nach Verlangsamung evozieren, der sich nicht allein auf traditionalistische Weltbilder beschränkt. Die Idealtypik der postmodernen europäischen Kulturen kann diskutiert werden; für Zuwanderer, die sie als das Ziel ihrer Wanderung ausgemacht haben, bedeuten sie Erfüllung wie auch Herausforderung. Dazu gehört ein historisch gewachsenes Selbstverständnis, dass von den Bürgerinnen und Bürgern nicht unbedingt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion gefordert ist, sondern Achtung der Verfassung und der aktive Beitrag zum Erhalt der Ordnung. Dies durchaus auch in formaler Hinsicht, wenn es um das Prozedere der Einbürgerung geht. Aber genügt das, um als von der Bevölkerung angenommen zu gelten, oder sich so zu fühlen? Integration berührt hier schließlich die Dimension der inneren Aussöhnung mit der neuen Lebenswelt. Was kann IRU hier leisten?

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Eine Frage der Wirklichkeitsdefinition

Religion lebt von ihrem Anspruch auf Öffentlichkeit, auf Einmischung; sie legt sich quer und verlangt Stellungnahme; sie hat ihre eigenen Konventionen, Wirklichkeit und Wahrheit aneinander entlangzuführen.

Mit dem in Rede stehenden Thema werden immer wieder bestimmte Grundannahmen verfestigt, die einer Diskussion bedürfen: Was ist traditionalistisch, was eine Mehrheitsgesellschaft, was sind Kennzeichen von Heterogenitätserfahrung? Wer verhilft sich hier gegenseitig zum Überleben – die moderne Gesellschaft der Religion, oder umgekehrt? Es wird gerne davon ausgegangen, dass religiöse Erziehung in einer modernen, säkularen Gesellschaft heutigen Zuschnitts, in welcher der „Plausibilitätsschwund religiöser Wirklichkeitsdefinitionen“ (Peter L. Berger) um sich greift, einerseits schwieriger geworden ist, andererseits als unverzichtbar gilt. Keine guten Voraussetzungen dafür, erwünscht zu sein. Es will scheinen, als mache die Religion als solche ihre eigenen Migrations- und Heterogenitätserfahrungen… Es ist schwierig geworden, „in dieser Gesellschaft zum Christen zu werden […] und als Christ zu leben“ (vgl. Kaufmann, Franz-Xaver: Christ-Sein in der modernen Gesellschaft. In: Ders: Religion und Modernität: Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen 1989).

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Fragen der religiösen Sozialisation stehen zur Disposition. Das kann am Islam nicht spurlos vorbeigehen. Die „erschwerenden“ Bedingungen einer Migrationsbiographie – erschweren sie die Situation für Muslime, oder stellen sie umgekehrt vielleicht sogar eine Erleichterung dar, ausgelöst durch einen Vorsprung an Schlüselkompetenzen für den Umgang mit Differenzerfahrung, wie sie weite Teile der europäischen Gesellschaften auch ohne Migrationserfahrung erfasst zu haben scheint? Weder das Christentum, diese Prognose sei gewagt, noch der Islam werden das ihnen innewohnende Faszinosum, das den Religiösen anspricht, einbüßen. Hier darf von einer Renaissance erlebter und gelebter Religion gesprochen werden, was gegenüber etablierter Theologie eine Art Paradigmenwechsel darstellt. Religion als solche (und als einzige) verspricht Antworten auf die grundlegenden Fragen menschlicher Existenz. Damit kommt sie dem anthropologischen Grundmotiv des Menschen entgegen, der zu Religion fähig ist, weil er ihrer bedarf. Oder umgekehrt.

Für beide Fälle kann gefolgert werden: Kinder, auch als Schülerinnen und Schüler, haben ein Anrecht auf religiöse Bildung, in der es auch um die existentielle Beschäftigung, um die Frage der persönlichen Orientierung und Positionierung in Glaubensfragen gehen muss. Religion lebt von ihrem Anspruch auf Öffentlichkeit, auf Einmischung; sie legt sich quer und verlangt Stellungnahme; sie hat ihre eigenen Konventionen, Wirklichkeit und Wahrheit aneinander entlangzuführen. Die damit verbundene Frage nach der Bindung an das Eigene im Wechselspiel zwischen Habitualisierung und Kritik kann nur in einem dafür vorgesehenen formalen Rahmen gesichert werden und darf nicht einfach den Elternhäusern und Gemeinden überlassen werden. Das ist eine Bringschuld der Gesellschaft an ihre nachrückenden Generationen – auch wenn sie Muslime sind.

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Eine Frage sichtbarer Religion

Folgende Frage rückt also in die Mitte: Gelingt es dem IRU, die Erfahrung von Differenz, Heteroge„Der Versuch zu sprechen, ohne in nität und Pluralität zur akzeptierten einer bestimmten Sprache zu spreNormalerfahrung zu machen? Kann chen, ist zum Scheitern verurteilt“, er Werte vermitteln und zugleich meinte ein indonesischer Anthroposeinem Profil als RU gerecht werden, loge mit Blick auf die Erziehung zu die Grundfragen nach dem Menreligiöser Artikulationsfähigkeit. Kei- schen, dem Leben und der Welt mit ne nachhaltige Vermittlung ethischer einer theologischen Authentizität Werte und Verhaltensnormen, die für zu bedienen, die ihn als Religionsdas Zusammenleben der Menschen unterricht erkennbar macht? Das in einem Gemeinwesen unerlässist mehr als nur eine didaktische lich sind, ohne ihre Verankerung in Frage. Junge Menschen, und nicht religiöser Erziehung. IRU ist erzienur sie, wollen anders sein dürfen hender RU auch mit Blick auf das und sich doch in ein Sinn stiftendes Einfordern und Einüben sittlich System integrieren. Darin sind sich guter Haltungen des Individuums. die muslimischen mit den nichtEs geht, es wurde oben angekündigt, muslimischen Kids an der Schule um Tiefenstrukturen. Diese religiöse einig. Sich also mit anderen über die Verankerung kann demnach nicht Chancen und Risiken dieses Wegs, etwa auf der Grundlage freischweüber Motive und Grenzen des Machbender Religiosität erfolgen; gefragt baren zu verständigen, kann die Basis ist der konkretisierbare religiöse Ge- für den gesellschaftlichen Frieden halt, das religiöse System. Religiös zu schaffen: Lernen, auszuhandeln, was sein, ohne dem mit einer konkreten Sache des Aushandelns ist. Dabei Religion Gestalt zu verliehen, ist geht es um Impulse in die eigene schwer vorstellbar. Also kein religiGemeinschaft hinein ebenso wie um öser Pluralismus ohne ein MindestImpulse über ihre Grenzen hinweg. maß an religiösem Separatismus? Kann IRU junge Muslime nicht doch dazu verführen, sich aus der Gesellschaft davonzustehlen? Das sind, wie jeder weiß, keine Fragen, die allein an Muslime zu richten wären. Aber für den Islam in Deutschland spitzen sich die Dinge nun mal zu. F. Kandil: Kann religiöse Erziehung zur besseren Integration beitragen? Zur Frage des IRU – Teil 1

Gelingt es dem IRU, die Erfahrung von Differenz, Heterogenität und Pluralität zur akzeptierten Normalerfahrung zu machen?

Das Sichtbare der Religion ist das Erkennbare. Das ermöglicht Begegnung und Vergleich. Hier sei darauf verwiesen, dass es bei aller Differenz Gemeinsamkeiten gibt – dies besonders zwischen Juden, Christen und Muslimen. Jeder Religionsunterricht ist darauf angewiesen, diese Aspekte stark zu machen. Zur zunehmenden religiösen Unkenntnis mit Blick auf das Eigene gesellt sich eine gefährliche Indifferenz gegenüber dem Anderen, eine Art Empathieverdrossenheit, wenn es um Religion geht. Diese Tendenz kann den demokratischen Grundkonsens gefährden. Religionsunterricht muss darauf bedacht sein, „das Gemeinsame inmitten des Differenten zu stärken“ (EKD-Denkschrift Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Gütersloh 1994. S. 65.). Das geschieht nicht durch das Verschweigen, sondern „in einer Bewegung durch die Differenzen hindurch, nicht oberhalb von ihnen“ (ebenda). Unaufhebbare Differenzen dürfen deutlich angesprochen und müssen erkannt, müssen anerkannt werden. Dies allerdings ohne das wechselseitige Auf- oder Abwerten, ohne Überlegenheitsparadigmen.

Seite 34 In dieser Hinsicht zeigt sich aber leider, dass viele muslimische Eltern mit der religiösen Erziehung ihrer Kinder unter diesen Bedingungen einfach überfordert sind. In einem Abwehrreflex greifen sie leicht auf die ihnen vertrauten Muster religiöser Sozialisation zurück, auf rein traditionelle und kulturkonservative Elemente der Lebensgestaltung. Diese Strategien sind, wie wir alle wissen, schon gescheitert. Ein IRU hat hier eine eindeutig kompensatorische und therapeutische Funktion zu übernehmen, wie sie von keinem anderen gesellschaftlichen System übernommen werden kann.



Wer es auf sich nimmt, „mit einem Anderssein zusammenzuleben, das ihm fremd und seltsam erscheint“, übt die Tugend der Toleranz.

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Eine Frage der Toleranz

und an den Zielsetzungen vorbeiführen. Bezogen auf die Religion Die Bereitschaft, Differenz und Plu- als normativem Bezugssystem liegt ralität auf beiden Seiten zu akzeptie- hier reichlich Konfliktpotenzial: ren und zu ertragen, Mehrheit wie Dies gilt es zu handhaben anstatt es Minderheit, ist nicht nur Ziel der In- den Narrenhänden zu überantwortegration, sondern auch Erfordernis ten. Dem italienischen Philosophen für ein friedliches Zusammenleben. Norberto Bobbio zufolge geht es da Das verweist auf den Zusammenhang ums Kategoriale: „Ich bin felsenfest von Erziehung und Toleranz: Es geht von meiner Wahrheit überzeugt. im IRU auch darum, zu einer Kultur Ich bin aber auch davon überzeugt, der Toleranz anzuleiten. Es ist nicht einem absoluten moralischen Prinfalsch, hier von einer Kultur der zip gehorchen zu müssen: dem Toleranz zu sprechen, auch wenn das Respekt vor dem Anderen“ (siehe irgendwie diffus belässt, worum es in Bobbio, Norbert: Das Zeitaldabei gehen soll. In dieser Hinsicht ter der Menschenrechte. Ist Toleist dieser Begriff inflationär; doch ranz durchsetzbar? Berlin 1998). es lohnt sich, ihn wiederzubeleben. „Toleranz ermöglicht Differenz, Es geht also um die Anerkennung Differenz benötigt Toleranz“ (Walzer, eines übergeordneten moralischen Michael: Über Toleranz. Von der Zi- Prinzips, um eine Norm, deren Leitvilisierung der Differenz. Hamburg motiv im „Respekt gegenüber dem 1998. S. 10). Wer es auf sich nimmt, Anderen“ liegt. Diesem fällt, wenn „mit einem Anderssein zusammenes zum Schwur kommt, die Aufgabe zuleben, das ihm fremd und seltzu, das eigene Normensystem in die sam erscheint“, übt die Tugend der Zucht zu nehmen: Keine Starrheit, Toleranz. Solche Ansätze sind in der kein Rigorismus, keine Enge, „sich islamischen Tradition vorhanden; sie die eigene Religion nicht zum Grab müssen aufgegriffen und reaktiviert machen“, wie Muhammad das einund ins Bewusstsein der kommenmal formulierte. Solche Prinzipien den Generationen von Muslimen können Entlastungsfunktion haben in Deutschland gehoben werden. und dabei helfen, sich in Sachen Das muss Aufgabe eines IRU sein. der Religion auf das zu konzentrieren, was das eigentlich Wichtige Gemeint ist nicht Indifferenz geist. Sie ermöglichen Gelassenheit. genüber jeder Form von Wahrheit. Das würde am Wesen der Toleranz

Seite 35 Es darf erwartet werden, dass sich jede religiöse Erziehung daran messen lässt – auch diejenige im IRU. Die normative Basis, die einer solchen Erziehung zugrundeliegt, muss beiden Kriterien genügen: der Unterstützung einer inneren Bejahung von Pluralität und der Gültigkeit universaler Prinzipien moralischer und ethischer Art. Das ist für den Islam nichts Neues, aber etwas, das in Vergessenheit geraten ist.

Voraussetzungen Um erfolgreich umsetzen zu können, was hier angedacht wurde, müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein: Der Islamische Religionsunterricht ist in deutscher Sprache zu halten. Das dient nicht zuletzt dazu, die religiös-kulturelle Kommunikationsfähigkeit zu fördern und somit dem Dialog zwischen Menschen eine solide Basis zu verschaffen. Die Sprache trägt ferner zur Transparenz der im Unterricht vermittelten Inhalte bei, was für oben erwähnte Vertrauensbildung von Bedeutung ist. Religiöse und auf Werte beziehbare Gemeinsamkeiten müssen im Unterricht herausgearbeitet werden; das muss zu einem seiner Leitprinzipien werden, im Sinn der „Stärkung des Gemeinsamen inmitten des Differenten“. Dabei gilt es zu veranschaulichen, worin Angstreflexe oder Chauvinismen im wechselseitigen Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen begründet liegen.

F. Kandil: Kann religiöse Erziehung zur besseren Integration beitragen? Zur Frage des IRU – Teil 1

Religiöse Orientierungsfragen junger Muslime folgen in gewisser Weise auch dem medial vermittelten Halbwissen. Das Bild vom Islam als Ideologie schlägt auf die eigene Anschauung, auch auf das Selbstbild durch. Einerseits muss im IRU vermieden werden, den Islam zu ideologisieren, andererseits muss das thematisiert werden, da anders eine Immunisierung gegen radikaler Verführer nicht gelingen kann. Hiermit sind hohe Anforderungen an die Lehrpläne und an die Lehrerbildung, aber auch an die fachliche Aufsicht über den IRU impliziert. Dem allen liegt gewissermaßen als tragender Pfeiler die Überzeugung zugrunde, dass die islamischen theologischen Traditionen entsprechende Ansätze und Grundsätze zu liefern imstande sind. Darum soll es im zweiten Teil gehen.

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Der Islamische Religionsunterricht ist in deutscher Sprache zu halten. Das dient nicht zuletzt dazu, die religiöskulturelle Kommunikationsfähigkeit zu fördern und somit dem Dialog zwischen Menschen eine solide Basis zu verschaffen.

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Zu den Autoren Harry Harun Behr, geboren 1962, ist Inhaber der Professur für Islamische Religionslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er konvertierte 1980 zum Islam. Von 1993 bis 2005 war er in München im Schuldienst tätig. 2005 promovierte Behr zum Thema „Curriculum Islamunterricht“ an der Universität Bayreuth. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich von Islam und Unterricht.

Rüdiger Braun, geboren 1968 in Nürnberg, Studium der Islamwissenschaften, der Neueren Geschichte und der Evangelischen Theologie in Erlangen, Damaskus und Tübingen.

Fuad Kandil, geboren 1936 in Ägypten, Studium der Ingenieurs-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Gründungsmitglied des heutigen interfakultären „Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale“ an der Universität Karlsruhe; Arbeitsschwerpunkt Entwicklungs-, Religions- und Kultursoziologie.

Amin und Emel Rochdi, beide geboren 1983, studieren Lehramt für die Realschule in Erlangen-Nürnberg. Gleichzeitig erwerben sie ihr Zertifikat für Islamischen Religionsunterricht am Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre. Ihre Forschungsinteressen liegen in der religiösen Sozialisation junger Muslime in Deutschland, mit Schwerpunkt auf Jugendfragen.

Herausgegeben von Harry Harun Behr (v.i.S.d.P.) Emel und Amin Rochdi

Interdisziplinäres Zentrum für Islamische Religionslehre an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Regensburger Straße 160 90478 Nürnberg Telefon 0911 5302-607 www.izir.de Satz und Layout: Yasmine Behr

Vorschau Geplante Themen in der nächsten Ausgabe der ZRLI Unter anderem wird zu lesen sein: Fortsetzung des Projekts KoraninterNeue Erkenntnisse aus dem Islamunpretation für das jüngere Lesealter, das terricht an der Realschule, die Antwort in Heft 1 vorgestellt wurde, Teil 2 des einer muslimischen Stimme auf die Beitrags von Fuad Kandil mit Details Frage nach dem Ungläubigen, die zum inhaltlich-theologischen und

Zu den Autoren • Vorschau • Impressum

religionspädagogischen Profil von Islamunterricht sowie Hinweise auf aktuelle Entwicklungen und Publikationen.

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ISSN: 1864-6670

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