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January 18, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Quellen zur Vorlesung Information und Gesellschaft NUR FÜR DEN PERSÖNLICHEN GEBRAUCH

Rafael Capurro www.capurro.de Hochschule der Medien Sommersemester 2005

ÜBERSICHT

Einleitung I. Wolfgang Kleinwächter: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel II. Informationsgesellschaft Deutschland 2006. Aktionsprogramm der Bundesregierung III. Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft IV. Dieter Klumpp: Informationsgesellschaft – nur eine „symbolische“ Diskussion? V. Friedemann Mattern: Ubiquitous Computing VI. Rafael Capurro: Soziale, rechtliche, politische und ethische Aspekte der Informationsgesellschaft VII. Manuel Castells: Das Informationszeitalter VIII. ICIE International Symposium 2004: “Localizing the Internet”.

Einleitung Die folgende Textsammlung dient als Grundlage der Vorlesung Information und Gesellschaft sowie als Hilfe für die Prüfungsvorbereitung. Diese Texte dürfen nur für den persönlichen Gebrauch benutzt werden. Einige Quellen sind im Netz zugänglich. Diese Sammlung darf nur für den persönlichen Gebrauch benutzt werden. Sie ersetzt insbesondere nicht die Lektüre der jeweiligen Kapitel aus Manuel Castells „Das Informationszeitalter“, die hier nur in Form von Exzerpten wiedergegeben werden. Zusätzlich zu diesen Quellen sollten Sie auf die Links in der Website der Vorlesung (http://www.capurro.de/lehre_igvorlesung.html) achten. Die Beiträge der eingeladenen Referenten sind Bestandteil des Prüfungsstoffes.

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I. Wolfgang Kleinwächter: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel Quelle: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/16333/1.html

„Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel Wolfgang Kleinwächter 16.12.2003

Die Genfer WSIS-Deklaration enthält zwar nur vage Grundsätze, aber dennoch fand eine Bewegung in wesentlichen Dingen statt und es wurde zusammen mit einem neuen globalen Problembewusstsein auch ein neuartiges globales Forum geschaffen Die erste Phase des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft ( WSIS) ist vorbei. Die 14.352 registrierten Teilnehmer sind nach Hause gefahren. Die angenommenen Dokumente sind ins Internet gestellt. Und die Beobachter fragen sich, was hat die Bergbesteigung denn nun wirklich gebracht? Sucht man nach konkreten Resultaten, wird man kaum fündig. Außer Spesen also nichts gewesen? Oder war da noch was? Schaut man aus der Froschperspektive auf die WSIS-Konferenz, dann ist zweifelsohne die landläufig zu vernehmende Kritik an den verabschiedeten Regierungs-Dokumenten berechtigt. Sie sind vage und unverbindlich. Die Cyberwelt sieht nach dem Gipfel nicht viel anders aus als zuvor. Und der digitale Graben ist nicht flacher geworden. Schaut man aber aus der Vogelperspektive auf den mühsamen Aufstieg zum Genfer Gipfel, dann entdeckt man, dass sich einige wesentliche Dinge zwischen Minneapolis 1998, als die Veranstaltung beschlossen wurde, und Genf 2003 bewegt haben.

Neues globales Problembewusstsein Geändert hat sich vor allem das öffentliche Bewusstsein zum Thema Informationsgesellschaft. 1998, im Sog des Dot-Com-Booms, war das Thema primär auf die Faszination der technologischen Revolution, auf die kommerziell verwertbaren Aspekte und die digitale Spaltung fixiert. Ein Thema für Experten, Techniker, Risikokapitalinvestmentbanker und niedere Beamte in Wirtschafts- und Entwicklungshilfeministerien. Der Genfer Gipfel hat das Thema in den großen weltpolitischen Kontext des 21. Jahrhunderts gestellt. In Genf ging es nicht um die "Informationsrevolution", es ging um die Gesellschaft, die sich darauf zu konstituieren beginnt. Zu den politischen und wirtschaftlichen Interessen, die sich 1998 abzeichneten, kamen gesellschaftliche und kulturelle Werte. Das machte die Verhandlungen so schwierig, weil es eben leichter ist, einen Interessenausgleich zu erreichen als sich über Wertvorstellungen zu verständigen. Das rückte aber das Thema auch vom Rand der globalen Politik mehr ins Zentrum. Die WSIS-Deklaration sagt in ihrem ersten Paragraphen, welche Informationsgesellschaft man denn aufbauen wolle. “We, the representatives of the peoples of the world, declare our common desire and commitment, to build a people-centred, inclusive and development-oriented 2

Information Society, where everyone can create, access, utilize and share information and knowledge, enabling individuals, communities and peoples to achieve their full potential in promoting their sustainable development and improving their quality of life, premised on the purposes and principles of the Charter of the United Nations and respecting fully and upholding the Universal Declaration of Human Rights.” Den Menschen in den Mittelpunkt und das Schaffen, den Zugang und den Austausch von Informationen und Wissen ins Zentrum zu rücken, sind sehr noble, aber leider auch sehr allgemeine Zielsetzungen und Formulierungen. Sie haben es aber dennoch in sich. Der hohe Abstraktionsgrad bietet ein nicht zu unterschätzendes Referenzpotential. Man denke nur an die langfristigen Wirkungen von ähnlichen Dokumenten wie der UNMenschenrechtsdeklaration von 1948 oder der KSZE-Schlussakte von 1975. Erst Jahre später merkte man, was solche allgemeinen Formeln tatsächlich bewirken. Die Zivilgesellschaft hatte sich vom ersten Tag der PrepCom1 (Juni 2002) gegen eine technokratische oder bürokratische Informationsgesellschaft gewandt und eine "Informationsgesellschaft mit menschlichen Antlitz" eingefordert. Der stete Tropfen aus den unendlichen Quellen der globalen Zivilgesellschaft höhlte offensichtlich den Stein, der nun ein Meilenstein ist, an dem sich zukünftige Entwicklungen messen lassen müssen.

Neues globales Verhandlungsforum Ein zweites, nicht sofort sichtbares Resultat, ist die Tatsache, dass WSIS einen Prozess in Gang gesetzt hat, der die Grundfragen der Informationsgesellschaft zum Thema globaler Verhandlungen für das nächste Jahrzehnt gemacht hat. Bei allen fünf WSIS-Themen geht es um Grundsätzliches. Beim "Digitalen Solidaritätsfonds" geht es ums Geld, bei "Internet Governance" um Macht, beim "geistigem Eigentum" um Wissen, bei "Cybersicherheit" um Kontrolle und bei Informationsfreiheit und Datenschutz um Menschenrechte. Die Organisation und Verteilung von Geld, Macht, Wissen, Kontrolle und Menschenrechte im Cyberspace aber ist eine gigantische langfristige Herausforderung. Genf 2003 ist nur eine Zwischenstation. Es folgt Tunis 2005. Und der Aktionsplan zielt auf das Jahr 2015, also Tunis 10+. Zwar enthält die Genfer WSIS-Deklaration zu den fünf Themen nur vage Grundsätze. Das Interessante daran aber ist, dass diese Themen, die natürlich alle miteinander verquickt sind, bislang global entweder gar nicht oder völlig isoliert voneinander behandelt wurden. Mit WSIS haben diese Themen nun ihre globale Verhandlungsheimstatt gefunden. Der Europarat, Depositar der "Cybercrime Convention", wird sich die Prinzipien der WSISDeklaration anschauen müssen, wenn er das Konzept der Cybersicherheit weiter entwickeln will. WTO und WIPO werden nicht umhin kommen, sich mit der von der WSIS-Deklaration eingeforderten Balance zwischen Schutz des geistigen Eigentums und freien Zugang zu Wissen zu befassen. Die Weltbank wird sich mit der Idee des "Digitalen Solidaritätsfonds" auseinandersetzen müssen. Und bei "Internet Governance" wird ICANN prüfen müssen, inwieweit ihr gerade beendeter Reformprozess dem von WSIS geforderten "multistakeholder approach" entspricht. Während vor dem Genfer Gipfel Europarat, WTO, WIPO, Weltbank und ICANN so gut wie nichts miteinander zu tun hatten, werden sie jetzt in ein entstehendes globales institutionelles Netzwerk hineingezogen, in dem nicht nur Regierungen, sondern auch die private Industrie und die Zivilgesellschaft eine von der WSIS-Deklaration bestätigte "bedeutende Rolle" spielen. 3

Wie weiter mit "Internet Governance"? Die Globalisierung der WSIS-Themen wird sich vor allem bei der weiteren Diskussion über Verwaltung der Kernressourcen des Internet zeigen. Die Kontorverse "ITU vs. ICANN" und der dahinter liegende Konflikt über die Zukunft des Internet zwischen der chinesischen und der amerikanischen Regierung einerseits, sowie zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft andererseits hatte WSIS zeitweise an den Rand des Scheiterns gebracht,. Der schließlich erreichte Kompromiss ist die Auslösung eines neuen Prozesses. Nun soll UNGeneralsekretär Kofi Annan mittels einer Arbeitsgruppe bis 2005 einen funktionsfähigen und akzeptablen Vorschlag aus dem Hut zaubern. Das Internet wird damit zu einem eigenständigen globalen Verhandlungsgegenstand. WSIS holt das Thema praktisch aus der Ecke der technischen Expertengremien mit unklaren politischen Zuständigkeiten und transportiert es auf die große politischen Bühne der globalen Politik. Was dass im Einzelnen bedeutet, ist momentan schwer abzuschätzen. Möglicherweise ist Paragraph 50 der WSIS-Deklaration, der Zusammensetzung und Mandat der neuen Gruppe definiert, das weitreichendste Ergebnis von WSIS I. Die Gruppe soll, so der Text von Paragraph 50, aus "Vertretern der Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft aus entwickelten und Entwicklungsländer und unter Einschluss bestehender zwischenstaatlicher und anderer relevanter Institutionen und Foren" gebildet werden. Den Regierungen wird dabei primär ein Mandat für die mit dem Internet zusammenhängenden Aspekte öffentlicher Politik zugewiesen. ("rights and responsibilities for international Internet-related public-policy issues"). Der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft wird eine "wichtige Rolle" bescheinigt. Zwischenstaatliche Organisationen, wie die ITU, sollen eine "fördernde Rolle" spielen. Bemerkenswert darin ist nicht nur, dass erstmals in einem offiziellen UN-Dokument der Zivilgesellschaft eine "bedeutende Rolle", ähnlich wie der privaten Wirtschaft, zugewiesen wurde, sondern vor allem der konzeptionelle Ansatz, der auf einem neuen "trilateralen Politikmodell" basiert, bei dem Regierungen, private Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten, aber praktisch weitgehend gleichberechtigt, Hand in Hand arbeiten sollen. Das ist neu. Wie das funktionieren soll und kann, ist noch unklar. Aber es wird spannend werden zu beobachten, wo diese Reise hingeht. Die neue "Kofi Annan Gruppe" soll zunächst definieren, was man denn überhaupt unter "Internet Governance" versteht. Dann soll sie herausfinden, welche politischen Aspekte davon tatsächlich einer staatlichen Regulierung bedürfen. Und schließlich soll sie der zweiten Gipfelphase im November 2005 in Tunis einen Mechanismus vorschlagen, wie die unterschiedlichen Themen durch unterschiedliche Akteure global und effektiv gemanagt werden können. Dieser WSIS-Beschluss enthält möglicherweise mehr Dynamik, als man sich heute noch vorstellen kann. Schon hat die Diskussion begonnen über das "Wer", "Wie", "Wann" und "Wo" der Gruppe. Nitni Desai, Kofi Annans WSIS-Botschafter, will erst einmal zuhören, was denn die einzelnen "Stakeholder" zu sagen haben. Das erste Vorbereitungstreffen für die zweite Gipfelphase findet im Juni 2004 statt. Bis dahin will er seine Gedanken sortiert haben. Einige Regierungen haben bereits vorgeschlagen, die neue Gruppe schon Ende März 2004 in New York zu gründen, wenn sich die UN ICT Task Force, die auch unter der Schirmherrschaft von Kofi Annan steht, trifft. Der zivilgesellschaftliche "Internet ICT Governance Caucus" hat noch in Genf einen Vorschlag zur Zusammensetzung der Gruppe in die Debatte gebracht. Man solle den Text von Paragraph 50 wörtlich nehmen und eine 4

18köpfige Gruppe bilden mit je sechs Vertretern von Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, jeweils drei aus dem Norden und drei aus dem Süden. Der private Sektor wird sich bei seiner routinemäßigen ICANN-Tagung Anfang März 2004 in Rom positionieren.

Neue Rolle für Zivilgesellschaft Ein drittes langfristig wirkendes Resultat ist die neue Rolle der Zivilgesellschaft im globalen Verhandlungsprozedere. 1998 in Minneapolis spielte die Zivilgesellschaft überhaupt keine Rolle. Dann meldete sich im Dezember 1999 in Seattle die Zivilgesellschaft auf der Strasse zu Wort. Die Kritiker der WTO waren von den verhandelnden Ministern durch einen schwer bewaffneten Polizeikordon getrennt. Die Staats- und Regierungschefs mussten sich durch die Hintereingänge den Weg zum Plenarsaal und zum Konferenzdinner erschleichen. US-Präsident Clinton, der die "Dinner Speech" in Seattle hielt, machte damals einen süßsauren Scherz. Das Winken mit der Serviette von WTO-Generalsekretär Moorer bei seinem verspäteten Eintreffen im Ballsaal des Konferenzhotels, so Clinton, hätte ihn an das Hissen der weißen Flagge erinnert. Manche der vorwiegend jungen Leute draußen, so Clinton weiter, hätten aber ein durchaus legitimes Anliegen, dem man drinnen zuhören sollte. "Wir sollten sie in den Verhandlungsraum einladen", sagte der US-Präsident damals. WSIS-Genf war nicht WTO-Seattle. Die Zivilgesellschaft hat hier nicht Steine geworfen, sondern Papiere produziert. Noch bei PrepCom1 gab es tumultartige Szenen vor geschlossenen Konferenztüren. Zwar öffneten sich später die Türen ein wenig, aber das "Rein oder Raus" zog sich durch den gesamten Vorbereitungsprozess. Beim Gipfel waren aber immerhin bei den drei offiziellen Round Tables neben Staatspräsidenten und Ministern auch jeweils vier Vertreter der Zivilgesellschaft als Redner eingeladen. Im Plenum konnten zehn zivilgesellschaftliche Repräsentanten ihre Meinung sagen. Und nachdem die Regierungen ihre Dokumente am Freitag Nachmittag per Akklamation verabschiedet hatten, trat Bill McIver ins Rampenlicht und ans Rednerpult und präsentierte im Namen des "Civil Society Plenary" die zivilgesellschaftliche WSIS-Deklaration. Sie sei keine Anti-Deklaration, sagte McIver, sondern eine auf das Morgen ausgerichtete Vision, die das sage, was Regierungen, die zum Konsensus auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner verpflichtet seien, nicht sagen könnten. Die Tatsache, dass sich im WSIS-Prozess die Zivilgesellschaft in zahlreichen "Familien", "Caucusen" und "Arbeitsgruppen" organisiert und sich handlungsfähige repräsentative Gremien wie die "CS Plenary" (CS-P), die "CS Content and Themes Group" (CS-C&T) und das "CS Bureau" (CS-B) geschaffen hat, gaben ihren Aktionen ein bisher kaum vorhandene Legitimität. Der Schritt von "Turmoil" zu "Trust" wurde zwar noch nicht mit einem signifikanten Schritt von "Input" zu "Impact" belohnt, aber sieht man sich die Regierungsdokumente genauer an, dann haben schon einige Buchstaben den Weg von den zivilgesellschaftlichen Einlassungen in die regierungsoffiziellen Auslassungen gefunden. Die übliche Frustration der zivilgesellschaftlichen Gruppen hielt sich denn am Abend des 12. Dezember 2003 daher auch in Grenzen und mischte sich mit einer Hoffnung, dass sich engagierte und konstruktive Einmischung, wenn sie mit Substanz und Hartnäckigkeit vorgetragen wird, am Ende doch irgendwie lohnen kann Für die Zivilgesellschaft gilt daher in besonderer Weise die alte, einst von Sepp Herberger formulierte Fußballweisheit, dass "nach dem Spiel immer vor dem Spiel" ist.„

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II. Informationsgesellschaft Deutschland 2006. Aktionsprogramm der Bundesregierung (Siehe: Broschüre) „Bundeskabinett beschließt Masterplan zur Informationsgesellschaft - Bulmahn und Tacke: "Aktionsprogramm wird Motor für Innovationen"

Gemeinsame Pressemitteilung von Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und Bundesministerium für Bildung und Forschung Datum: 3.12.2003

Das Bundeskabinett hat heute in Berlin das Aktionsprogramm "Informationsgesellschaft Deutschland 2006" beschlossen. Mit diesem Masterplan will die Bundesregierung die Entwicklung in der Informations- und Kommunikationstechnologie stärken. Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn und der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Alfred Tacke, erläuterten die Ziele des Aktionsprogramms für diese Legislaturperiode: "Deutschland wird mit dem Masterplan seine gute Position bei der Verbreitung und Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Eine Spitzenposition in der weltweiten Informationsgesellschaft ist unverzichtbar für die Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland." Gleichzeitig unterstütze das Aktionsprogramm zentrale Vorhaben der Bundesregierung zur Modernisierung von Arbeitsmarkt und sozialen Sicherheitssystemen. Informations- und Kommunikationstechnologien beschleunigen Innovationen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Über 80 Prozent der Exporte Deutschlands hängen mittlerweile vom Einsatz moderner Informationstechnologien und elektronischer Systeme ab. IT ist der Innovationstreiber Nr.1 für Wirtschaft und Gesellschaft. Der Global Information Technology Report 2002-2003 des World Economic Forum bescheinigt Deutschland eine beachtliche Verbesserung im IT-Länder Ranking, eine Verbesserung von Platz 17 im vergangenen Jahr auf Platz 10 heute. Bundesforschungsministerin Bulmahn unterstrich: "Innovation in der Informations- und Kommunikationsbranche bedeutet neue und sichere Arbeitsplätze." Der deutsche IuK-Markt sei in den letzten vier Jahren schon schneller gewachsen als in USA und Japan. "Mit dem Aktionsprogramm haben wir die Voraussetzungen geschaffen, die dafür sorgen, dass Deutschland seine führende Rolle als High-Tech-Standort weiter ausbauen wird." Staatssekretär Tacke betonte: "Wir wollen die Entwicklung und Nutzung innovativer Dienste im öffentlichen und privaten Bereich voranbringen und den Übergang zur mobilen Informationsgesellschaft gestalten. Hierzu haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt: im Jahr 2005 sollen 75 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren das Internet nutzen und alle öffentlichen Aufträge des Bundes sollen bis dahin ausschließlich elektronisch vergeben 6

werden. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir im Zusammenwirken mit der Wirtschaft unsere hochgesteckten Zielmarken erreichen werden und so einen wesentlichen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland leisten." Informationsgesellschaft Für die Bundesregierung hat die aktive Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels von der Industrie- zur wissensbasierten Informationsgesellschaft hohe Priorität. Die Bundesregierung hat dazu im Herbst 2003 das Aktionsprogramm "Informationsgesellschaft Deutschland 2006" beschlossen. Die Bereiche Digitale Wirtschaft, eGovernment und IuK in Bildung, Forschung und im Gesundheitsbereich sind Schwerpunkte des neuen Programms. Die Informations- und Kommunikationsbranche ist nicht nur Schrittmacher für den Fortschritt in der Wirtschaft insgesamt, sondern selbst ein wichtiger Kernbereich der deutschen Wirtschaft. Die Entwicklung dieses Sektors wird nicht zuletzt durch die fortschreitende Digitalisierung von Text, Grafik, Bild, Ton und Film vorangetrieben. Die Integration verschiedener Speicher- und Präsentationstechnologien auf einer gemeinsamen Plattform lässt neue interaktive "multimediale" Anwendungen entstehen. Über das Internet als globales Netzwerk treffen Menschen aus aller Welt zusammen und gehen vertragliche Beziehungen ein. Das wirft naturgemäß eine Reihe von rechtlichen Fragestellungen auf, denen wir im Kapitel Medienrecht nachgehen. Immer mehr Unternehmen in Deutschland machen inzwischen von den Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechniken im elektronischen Geschäftsverkehr Gebrauch. Auf unseren Seiten E-Business erhalten Sie ausführliche Informationen zu allen Fragen des elektronischen Geschäftsverkehrs. Die Nutzung der elektronischen Medien spielt aber nicht nur in der Wirtschaft, sondern zunehmend auch im öffentlichen Sektor eine wichtige Rolle. Über die Aktivitäten des BMWA auf diesem Gebiet informieren wir Sie unter E-Government. Mit der zunehmenden Verbreitung des elektronischen Geschäftsverkehrs in Wirtschaft und Staat und der intensiver werdenden Kommunikation über weltweite Kommunikationsnetze gewinnt das Thema Sicherheit an Bedeutung. Für das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit ist auch die Chancengleichheit und die Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen bei der Nutzung der Neuen Medien ein Thema von hoher Bedeutung. Wie gesellschaftliche Gruppen, die bislang keinen oder nur geringen Zugang zum Internet haben, zum Mitmachen ermutigt werden sollen, erfahren Sie unter "Digitale Integration". Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in Europa und der Welt ein wichtiger Bestandteil der Strategie der Bundesregierung.“

Auszüge aus der Zusammenfassung „Die Informationsgesellschaft ist in Deutschland längst Wirklichkeit geworden. Seit dem Jahr 2001 gibt es in Deutschland mehr mobile als feste Telefonanschlüsse. Die Mobilfunkdichte 7

hat in Deutschland mit knapp 80% ein hohes Niveau erreicht und soll weiter steigen. Innovative Anwendungen (z.B. MMS) und der Umstieg auf UMTS bieten Potenziale für weiteres Wachstum der Mobilfunkdienste. (…) Praktisch alle deutschen Unternehmen verfügen über einen Online-Anschluss. Für die Mehrheit der Bevölkerung gehören Computer und Internet inzwischen zum Alltag. Die meisten Verwaltungen sind online, über mehr als 700 Verwaltungsportale stellen Kommunen, Länder und Bundesbehörden rund um die Uhr Informationen und Dienstleistungen bereit.“ (…) Für die kommenden Jahre sieht die Bundesregierung, in Übereinstimmung mit den meisten Experten aus Unternehmen und Verbänden, die wesentlichen Herausforderungen in den Handlungsfeldern: -

Digitale Wirtschaft für Wachstum und Wettbewerbsfähtigkeit

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Bildung, Forschung und Chancengleichheit

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eGovernment, Sicherheit und Vertrauen im Internet

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eHealth

Digitale Wirtschaft für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit Im Jahr 2003 werden in Deutschland voraussichtlich erstmals über 100 Milliarden Euro in eCommerce umgesetzt. Das Internet ist damit ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und Deutschland der mit Abstand bedeutetndste eCommerce-Markt in Europa. Die IuK-Branche gehört heute mit rd. 130 Mrd. Euro Umsatz und etwa 750.000 Beschäftigten zu den größten Wirtschaftssektoren in Deutschland. Nach dem Ende des „Internet-Hype“ und Rückgängen bei Umsatz und Beschäftigung in 2002 ist die Talsohle mittlerweile durchschritten. Ab 2004 wird die IuK-Branche wieder wachsen. (…) Auf der Basis der bereits knapp 5 Mio. breitbandigen Internetanschlüsse wollen wir, in Übereinstimmung mit dem EU-Programm zur Informationsgesellschaft eEurope 2005, erreichen, dass Breitband bis 2005 die dominierende Zugangstechnologie wird. Bis 2010 sollen mehr als die Hälfte der deutschen Haushalte über einen Breitband-Internetanschluss verfügen. (…) Bis zum Jahr 2008 sollen 40% aller Unternehmen integrierte eBusiness-Lösungen für die gesamte Wertschöpfungskette anwenden. Bildung, Forschung und Chancengleichheit Bildung ist die Basis für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Seit dem Jahr 2001 ist jede Schule in Deutschland online. Mit dem Programm „Neue Medien in der Bildung“ wurden die Voraussetzungen geschaffen, um Deutschland bei der Bildungssoftware in eine international führende Position zu bringen. Nun gilt es, die Neuen Medien zum Bildungsalltag werden zu lassen. (…) Der Anteil der Internetnutzerinnen und –nutzer an der Bevölkerung ab14 Jahren soll bis 2005 auf 75% steigen. Zur Verbesserung der Gleichstellung von Männern und Frauen strebt die Bundesregierung kurzfristig die gleiche und gleichwertige Internetbeteiligung an. Mittelfristig soll der Anteil der Frauen an der IT-Berufsausbildungen und Informatikstudiengängen auf 40 Prozent gesteigert werden. (…) Verwaltungsmodernisierung und Bürokoratieabbau durch eGovernment 8

Online-Angebote der öffentlichen Verwaltung sind wichtiger Eckpfeiler der Informationsgesellschaft. Im September 2000 hat der Bund mit der Initiative Bund-Online 1005 systematisch damit begonnen, Verwaltungsdienstleistungen durch IT zu modernisieren und zu entbürokratisieren. Heute sind 232 der über 440 onlinefähigen Dienstleistungen über das Internet abrufbar. Elektronische Steuererklärung, virtueller Arbeitsmarkt, Statistikportal und Zahlungsverkehrsplattform markieren einige der Meilensteine des eGovernment, die der Bund bereits erreicht hat. (…) eHealth für eine bessere Gesundheitsversorgung Gesundheit gehört zu den Infrastruktur- und Dienstleistungsbereichen, die durch den Einsatz von IT neu strukturiert werden. Bis zum 1.1.2006 wird die elektronische Gesundheitskarte eingeführt. Sir wird der elektronische Schlüssel zur einrichtungsübergreifenden Kooperation aller Beteiligten im Gesundheitswesen sein und eine wichtige Funktion beim Aufbau einer Telematikinfrastruktur haben. (…) IT-Sicherheit Vertrauen in der Sicherheit und Zuverlässigkeit der modernen Informations- und Kommunikationstechniken ist Voraussetzung für eine intensive Nutzung von IT und Internet. Die Förderung von Open-Source-Software, der Einsatz von Biometrie sowie die Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Sicherheitsrisiken des Internet sind wichtige Eckpfeiler der IT-Sicherheitsstrategie der Bundesregierung. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik www.bsi.bund.de hat sich als ITSicherheitsdienstleister der Bundesregierung etabliert. Mit seiner umfassenden Kompetenz für alle Fragen der IT-Sicherheit ist das BSI einzigartig in Europa und damit Vorbild für die Gründung der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA).“

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III. Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft Quelle: Heinrich-Böll-Stifung: http://www.worldsummit2003.de/ „Die „Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft“ fordert einen an Nachhaltigkeitsprinzipien orientierten freizügigen und inklusiven Umgang mit Wissen und Information. Die Herausforderung der Wissensgesellschaft besteht darin, den Menschen das Wissen anderer über den Zugang zu Information offen zu halten und sie so auf einer sicheren Grundlage handlungsfähig zu machen. Die Charta setzt einen Akzent gegen die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen und Information. Denn eine Gesellschaft, in der der Schutz von geistigem Eigentum das Wissen zunehmend zum knappen Gut macht, ist nicht nachhaltig. -

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Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn in ihr erstrittene Menschen- und Bürgerrechte für die Zukunft elektronisch bestimmter Umwelten bewahrt und gefördert werden. Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn der Zugang zum Wissen freizügig und inklusiv ist, und kooperative Formen der Wissensproduktion als Grundlage für die Entfaltung von Innovation und Kreativität gefördert werden. Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn in ihr gesichertes Wissen die Grundlage für wirksame Maßnahmen für die Bewahrung unserer natürlichen Umwelt bildet. Denn diese ist gerade auch durch den steigenden Ressourcenverbrauch bedroht, der von der massenhaften Verbreitung von Informationstechnologien ausgeht. Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn der Zugriff auf Wissen und Information allen Menschen weltweit die Chance eröffnet, sich in ihrem privaten, beruflichen und öffentlichen Leben selbstbestimmt zu entwickeln, und wenn er zukünftigen Generationen den Zugang zu dem in medialer Vielfalt dargestellten Wissen der Vergangenheit bewahrt. Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft dann, wenn die Entwicklungsmöglichkeiten des Nordens nicht weiter zu Lasten des Südens und die Entwicklungsmöglichkeiten von Männern nicht weiter zu Lasten von Frauen gehen.

Die „Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft“ proklamiert folgende Werte und Rechte, die es für BürgerInnen in der globalen Wissensgesellschaft zu bewahren und zu fördern gilt: 1. Wissen ist Erbe und Besitz der Menschheit und damit frei. 2. Der Zugriff auf Wissen muss frei sein. 3. Die Verringerung der digitalen Spaltung muss als Politikziel hoher Priorität anerkannt werden. 4. Alle Menschen haben das Recht auf Zugang zu den Dokumenten öffentlicher und öffentlich kontrollierter Stellen. 5. Die ArbeitnehmerInnenrechte müssen auch in der elektronisch vernetzten Arbeitswelt gewährleistet und weiterentwickelt werden. 6. Kulturelle Vielfalt ist Bedingung für individuelle und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung. 7. Mediale Vielfalt und das Angebot von Information aus unabhängigen Quellen sind unerlässlich für den Erhalt einer aufgeklärten Öffentlichkeit. 10

8. Offene technische Standards und offene Formen der technischen Produktion garantieren die freie Entwicklung der Infrastrukturen und somit eine selbstbestimmte und freie Kommunikation 9. Das Recht auf Achtung der Privatheit ist ein Menschenrecht und ist unabdingbar für die freie und selbstbestimmte Entfaltung von Menschen in der Wissensgesellschaft

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IV. Dieter Klumpp: Informationsgesellschaft – nur eine „symbolische“ Diskussion? Quelle: D. Klumpp, H. Kubicek, A. Roßnagel Hg.: next generation information society? Notwendigkeit einer Neuorientierung (Mössingen 2003) 25-51. (meine Hervorhebungen, RC)

„Analysiert man die über mehr als 30 Jahre laufende Debatte über die Informationsgesellschaft in Deutschland, kann man zwar feststellen, dass es eine konsistente und zielgerichtete Argumentation über dieses sehr umfängliche und komplexe Thema immer wieder nur in Ansätzen gegeben hat. „Informationsgesellschaft“ ist aber dennoch als Sammelüberschrift für eine große Schnittmenge von Aktivitäten ganz unterschiedlicher Institutionen und Diskussionsarenen ein guter Begriff. Gewiss: über „die Informationsgesellschaft“ herrscht feststellbar ein „Präambelkonsens“, will heißen, dass das Ziel bzw. der Weg konkret genug ist, um in der ganzen Bandbreite des gesellschaftlichen Spektrums – von Bundestagsfraktionen bis zu zivilgesellschaftlichen Bürgergruppen, vom Arbeitgeberverband bis zur Gewerkschaft, von optimistischen Aktions-Initiativen bis zu eher verzagten Ethik-Arbeitsgruppen – verwendet werden zu können. Der Präambelkonsens ist aber zugleich nicht konkret genug, um Streit oder sogar Ablehnung hervorzurufen. Weil jede Gruppe (um nicht zu sagen, jedes Individuum) zur Definition der Informationsgesellschaft eine spezielle Mischung von Konnotationen bereithält, versteht jeder etwas anderes unter der Überschrift und kann daher gut mit ihr umgehen. So sind sich alle Diskutanten in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft heute auch einig, dass die Diskussion einstens durch „technologische“ Impulse angestoßen wurde und dass sie künftig „weniger technologieorientiert“ geführt werden müsse. In Deutschland wird auch niemand heftig widersprechen, wenn man feststellt, das – bis hin zur wissenschaftlichen Diskussion – die Vision „Information Society“ ein Importschlager aus anderen Industrieländern (allen voran die USA) war und ist, auch wenn diese in Varianten als „Infosociety“ (John Diebold), als „Information Highway“ (Al Gore) oder als „Network Society“ (Manuel Castells) daherkam. Die Informationsgesellschaft definierte sich in der Öffentlichkeit in Deutschland „eher durch Konnotationen als durch den Begriff selbst. Und alle diese Konnotationen (…) tragen den Bezeichner ‚mehr’: Innovation, Arbeitsplätze, Bildung, Wohlstand, Kultur, Identität, Ressourcenschonung, Internationalismus, Demokratie, Bürgerrechte, Partizipation, Tempo, Transparenz, Wissen und dann und wann ein wenig heile Welt“ (Vgl. D. Klumpp: Wissen in der Informationsgesellschaft – was ist das Wert?, in: Bsirske, F.; Endl, H.; Schröder, L.; Schwemmle, M. Hg.: Wissen ist was wert, Hamburg 2003).

Wandel der Konnotationen Der Eindruck der „konsensuellen“ Überschrift „Informationsgesellschaft ändert sich schlagartig, wenn man die „Unterüberschriften“ der deutschen Diskussion in der Rückschau zu strukturieren versucht. Hier tauchen aus den Materialbergen Begriffe wie Modernisierung, Arbeit, Technik, Infrastruktur, Medienreform, Wissen, Nachhaltigkeit, Globalisierung, 12

Demokratisierung, Sicherheit und Politikimage auf, die je für sich wieder Sammelbegriffe und untrennbar ineinander verwoben sind. Aber fast jeder von ihnen hat in sich einen tiefgreifenden Bedeutungswandel durchlaufen, alle unterlagen auch den Modeströmungen. Ein Beispiel für Bedeutungswandel ist der Begriff „Reform“, der vor dreißig Jahren völlig andere Assoziationen auslöste als heute. (…) Anhand einiger ausgewählter Unterthemen lässt sich die Diskussion in groben Linien von Schlagworten nachvollziehen, die – bei aller festgestellten Oberflächlichkeit in den Gazetten und aller inwärts gerichteten Analyse der Wissenschaft – wichtige Schlussfolgerungen für heute ermöglichen. Nachfolgend (siehe Abb. 1) seien zunächst einige Strömungen über die drei Jahrzehnte hinweg dargestellt, wobei beachtet werden muss, dass über dieser Zeitachse Sprünge zwischen den Einzelthemen die Regel waren.

Modernisierung 1970-1985: Wachstumsmodelle, EDV, Infrastrukturpolitik, Broadcast-Medien, Glasfaser, Kabelmedien 1985-1995: Innovation, Markt Wettbewerb 1995-2005: Information Highway, Infrastruktur-Wettbewerb, Internet-Zugang, E-World, Internet, Konvergenz Funkmedien, Ubiquitous Computing Arbeit 1970-1985: Chance Diensleistung, Jobkiller Mikroelektronik, Chance Mikroelektronik, Jobchance Betreiber 1985-2003: Chance Internet, Chance Wissen, Jobkiller Internet, Chance Dienstleistungen, Chance Mobilität, Risiko Digitalisierung, Chance Telearbeit, Jobless Factory 2003-2005: virtuelle Büroarbeit, E-Government Technikgestaltung 1970-1978: Industriegespräche, Standardisierung, Industriepolitik 1978-1992: F&E-Programme, Standardisierung, Technikfolgenabschätzung, Kommissionen, Kartellkontrolle 1992-2005: F&ERahmenprogramme, Regulierung, Wettbewerbsaufsicht, Konvergenzvermutung, Benchmarking, Roadmapping, PPP, Open Source, Pay Content, Next Generation Features Infrastrukturen 1970-1985: Vorleistung Staat, Gebührenfinanzierung, Quersubventionen, Breitband Glasfaser 1985-2000: Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Verbraucherpreise, BreitbandKabel 2000-2005: RegTP, Regulierung, Wettbewerbsaufsicht, Marktpreise, Netz, Breitbandfunk Medienreform 13

1970-1980: Redaktionsstatute, Zeitungen, Staatsfernsehen, öffentlich-rrechltiches Fernsehen 1980-1995: Privatfernsehen, Kabelfernsehen, Sat-TV 1995-2002: TK-Regulierung Landesmedienanstalten, KEF; KEK

Medienurknall, Bund,

Kanalvielfalt,

Außenpluralismus,

Medien-Missbrauchsaufsicht

Länder,

2002-2005: Urheberrecht, Intellectual Property Rights, Zeitungssterben Wissen 1970-1980: Schulfernsehen, Medienpädagogik, Bildung für alle 1980-1993: Computerisierung, Computerethik, Wissensgesellschaft, lebenslanges Lernen für alle 1993-2005: Vernetzung, Knowledge Engineering, Data Mining, Medienkompetenz, Computerführerschein, Digital Divide, lebenslanger Zugang für alle Nachhaltigkeit 1970-1995: Energieersparnis, Substitution physischer Transport, ökologische Produktion, Kreislaufwirtschaft 1995-2005: Energieeffizienz, Neue gerechte Weltordnung (WTO) Globalisierung: 1970-1978: Global Village, Broadcast für alle 1978-1985: Telekommunikation für alle 1985-1992: Telekooperation für alle 1992-2005: Zivilgesellschaft, Open Source, Free Content, E-Inklusion, Internet-Zugang für alle Demokratie 1970-1982: Offener Kanal, Bürgerfernsehen 1982-1990: Überwachungsstaat, Citoyen 1990-2005: Nerds, E-Voting, Netizen, E-Governance, Cyber-Society Sicherheit 1970-1980: Datenschutz (Mainframe), offene Netze, Inselnetze 1980-1990: Informationelle und kommunikative Selbstbestimmung, PC-Sicherheit 1990-2003: Datensicherheit, Überwachungsgesetze, Kryptoverbot 2003-2005: 11. September-Syndrom, geschlossene Netze, Wissensschutz, CERT für alle Politiksymbolik

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1970-1985: Symbol: Modernität: Reform-Instrument TK-Politik 1985-1995: Symbol: Medien (für Funktionsspitzen) Medienpolitik 1995-2005: Symbol: Internationalität, Medienpräsentz für Experten, Netzpolitik

Ausblick: Neuformierung einer Diskussion Man könnte eigentlich meinen, dass die vor über 30 Jahren über wissenschaftliche Beiträge entstandene Diskussion über die Informationsgesellschaft in Deutschland dort angekommen ist, wo sie in den meisten Ländern Europas und vielen Ländern der Welt heute steht, nämlich mitten in der Gesellschaftspolitik. Während in Europa und weltweit ein breites Themenspektrum – von der Globalisierung über Modernisierung bis hin zur Demokratisierung – unter der Überschrift „Informationsgesellschaft“ bzw. „Wissensgesellschaft“ geradezu identitätsstiftend zusammengefasst wird, hat sich in Deutschland eine eher passive Routine in den recht fraktalisierten Zirkeln breit gemacht. Ein von außen vorgegebener Anlass machte dies deutlich: Als im Januar 2003 der für den Dezember des Jahres fixierte Genfer UNO-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) bei den verschiedenen – präsumptiv „zuständigen“ – Akteurskreisen nach 14 Monaten etwas überraschend in den Terminkalendern auftauchte, bekam er im Verlauf des üblichen informellen „Wichtigkeits-Screenings“ die Bewertung „eigentlich wichtig“. „Eigentlich wichtig“ stell zusammen mit „eigentlich unwichtig“ die mittlere Kategorie der Bewertung im Sinne von „tendenziellen Handlungsbedarf“ dar, welcher allerdings in einem „Zuständigkeits-Screening“ sorgsam auf mögliche Ko-Akteure hin abgeprüft wird. Die Kategorie „eigentlich wichtig“ beinhaltet in der deutschen Diskussionsarena jedoch stets das „aber“, das jede denkbare Aktion in der Regel zu Besinnungsaufsätzen und Sonntagsreden gerinnen lässt, schlimmstenfalls zu symbolischer Politik, bestenfalls zu einem Routinehandeln im Sinne von „Wir haben die Hausaufgaben gemacht“. Wenig überraschend ist, dass der für die GD Informationsgesellschaft der EUKommission zuständige Kommissar Liikanen das Thema schon seit dem UN-Beschluss für sehr wichtig erachtete. Beruhigend – im Sinne von handlungsabstinenzlegitimierend – war, dass das zuständige BMWA-Referat Informationsgesellschaft bereits an den Vorbereitungssitzungen des Jahres 2002 teilgenommen hatte. Ebenso beruhigend ist auch die Tatsache, dass sich die Heinrich-Böll-Stiftung (mit einem halben Dutzend alternativeigenständiger Initiativen zur Zivilgesellschaft) sowie die Handvoll aktivitäts-ligimitierter international engagierter Ehrenamtlicher („IchGruppen“?) schon früh bereit fanden, Aktivitäten zu entfalten und am WSIS-Prozess teilzunehmen. Die Bertelsmann-Stiftung hatte mir der Frage „Was kommt nach der Informationsgesellschaft?“ bereits 2002 die beruhigende Feststellung getroffen: „Die Zukunft wird nicht langweilig“. Die Friedrich-Ebert-Stiftung führte im April 2003 eine ganztätige Konferenz zur Wissensgesellschaft durch, auf der führende Regierungspolitiker und Wissenschaftler die „eigentliche Wichtigkeit“ des Themas eindrucksvoll unterstrichen. (…) Mit den Medien teilt die Politik die Einschätzung, dass das Thema – obzwar eigentlich wichtig – nicht gerade dazu angetan ist, Grundsatzbedürfnisse beim Massenpublikum zu befriedigen. Selbsttätige Impulse sind von einer „verbetriebswirtschaftlichten Gesellschaft“ nicht ohne weiteres zu erwarten. Viele – darunter etliche Plädoyers in diesem Band – sprechen sich dafür aus, der untrennbar miteinander verflochtenen gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Entwicklung unter einem – substantiell neu belegten – Sammelbegriff „Informationsgesellschaft“ den Status des „Besonderen“ zuzuerkennen und 15

amit aus der wenig politik- und aktionsfähigen Ecke des sonntagsrednerischen, nur „eigentlich“ Wichtigen herauszuhelfen. Ein erster Schritt dafür wäre, die symbolische Diskussion als inhaltlich besetzte Diskussion neu aufzusetzen, die zahlreichen Missverständnisse zu klären und vor allem die in der Praxis nicht brauchbaren Begriffe – wie etwa die berüchtigt-allgemeinen „richtigen“ Rahmenbedingungen – für die Akteure des gesamten Spektrums in einem Orientierungsrahmen zu konkretisieren. Die Zweifel vieler Beobachter, dass es in Deutschland überhaupt noch breite gesellschaftspolitische Diskussionen über den Weg zur Informationsgesellschaft gegen soll oder kann, lassen sich nur durch eine große Anstrengung aller Akteursgruppen widerlegen.“

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V. Friedemann Mattern: Ubiquitous Computing Im Hinblick auf die Zukunft der Informationsgesellschaft prognostiziert Friedemann Mattern (ETH Zürich: Research Group for Distributed Systems) den "Trend zur Vernetzung aller Dinge". Er stellt die bisherige Entwicklung des Internets folgendermaßen dar: "War das Internet in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunächst noch ein Experimentier- und Forschungsnetz, das Programmierer im Wesentlichen für remote login und Dateitransfer, also den entfernten Zugriff auf Computerressourcen, verwendeten, so wurde es in den 80er-Jahren, vor allen in der Wissenschaft, zunehmend als Kommunikationsmedium von Mensch zu Mensch benutzt - Email war seinerzeit die dominierende Anwendung. Die 90er-Jahre brachten mit dem WWW dann aber eine ganz andere Nutzungsform hervor: Nun kommunizieren Menschen via Browser auf der einen Seite mit Maschinen, nämlich WWW-Servern, auf der anderen Seite. Damit einher ging eine Vervielfachung des Datenverkehrs; gleichzeitig stellte dies die Voraussetzung für die schnelle Kommerzialisierung und Popularisierung des Internets dar. Jetzt zeichnet sich indes ein weiterer Quantensprung ab: Das Internet wird in Zukunft vor allem für die Kommunikation von Maschine zu Maschine - oder vielleicht besser von Ding zu Ding - verwendet werden. Weiterhin werden zwar 'klassische' Anwendungen wie Email und WWW eine wichtige Rolle spielen und sogar umfänglicher als heute benutzt werden, allerdings wird die reine Maschinenkommunikation dominant werden. Dafür sorgen werden viele in Alltagsgegenstände eingebettete Prozessoren und Sensoren im Verbund mit neuen technischen Möglichkeiten der Datenkommunikation." (Friedemann Mattern: Ubiquitous Computing. In: Herbert Kubicek, Dieter Klumpp, Gerhard Fuchs, Alexander Roßnagel Hrsg.: Internet @ Future. Technik, Anwendungen und Dienste der Zukunft. Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft 2001. Heidelberg: Hüthig Verlag 2001, S. 53). Demnach hätten folgende "Quantensprünge" die Entwicklung des Internet geprägt: o

70er-Jahre: Experimentier- und Forschungsnetz (remote login, Datentransfer)

o

80er-Jahre: Kommunikationsmedium von Mensch zu Mensch (Email)

o

90er-Jahre: Kommunikationsmedium Mensch-Maschine (WWW-Server)

o

10er Jahre des 21.Jahrhunderts: Kommunikationsmedium Ding-Ding (Alltagsgegenstände, Sensoren, ubiquitous computing, pervasive computing)

Zum Unterschied zwischen "ubiquitous computing" und "pervasive computing" schreibt Mattern: "Der in diesem Sinne zu verstehende Begriff 'ubiquitous computing' wurde bereits vor über zehn Jahren von Mark Weiser, bis zu seinem frühen Tod 1999 leitender Wissenschaftler am Forschungszentrum von XEROX in Palo Alto, geprägt (Weiser 1991). (...) Generell solle der Computer als Gerät nach Weisers Auffassung 17

verschwinden, dessen informationsverarbeitende Funktionalität aber (eben ganz im wörtlichen Sinne des ubiquituous computing) überall verfügbar sein. Aufdringliche Technik solle einer 'calm technology' Platz machen: "As technology becomes more imbedded and invisible, it calms our lives by removing the annoyances (...) The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it." Die von Weiser hier anvisierte 'verschwindende Technologie' hat übrigens in programmatischer Hinsicht und natürlich auch vom Namen her - maßgeblich die im Jahr 2001 gestartete 'Disappearing Computer'-Forschungsinitiative der EU zum ubiquitous computing beeinflußt (www.i3net.org/ser_pub/services/dc/) (...) Während Weiser den Begriff '’ubiquitous computing' eher in akademisch-idealistischer Weise als eine unaufdringliche, humanzentrierte Technikvision versteht, die sich erst in der weiteren Zukunft realisieren lässt, hat die Industrie dafür inzwischen den Begriff 'pervasive computing' mit einer leicht unterschiedlichen Akzentuierung geprägt (Hansmann u.a. 2001; Burkhardt u.a. 2001): Auch hier geht es um die überall eindringende und allgegenwärtige Informationsverarbeitung, allerdings mit dem primären Ziel, diese eher kurzfristig im Rahmen von Electronic-CommerceSzenarien und Web-basierten Geschäftsprozessen nutzbar zu machen (Mattern 2001). In dieser pragmatischer Variante, bei der neben diversen mobilen Geräten (wie Smartphones und PDAs) vor allem Kommunikationskonzepte und -protokolle (WAP, Bluetooth, http etc.), Middlewarekonzepte (z.B. SOAP oder Jini) und Technik zur anwendungsneutralen Datenrepräsentation (z.B. XML) eine Rolle spielen, beginnt das ubiquitous computing in der Praxis bereits Fuß zu fassen." (F. Mattern, a.a.O. S. 5455)

Diese Auffassung von einer freundlichen und unaufdringlichen Technologie, die im Alltag unsichtbar wird, ist mit der Auffassung von Terry Winograd und Fernando Flores verwandt, die wiederum Anleihen bei Heideggers früher Technikauffassung machen. Vgl. v.Vf.: Die Informatik und das hermeneutische Forschungsprogramm Gute Technik ist eine Technik, die sich nicht „dazwischen stellt“. Vgl. v. Vf.: Informatics and Hermeneutics. Ich nenne eine solche unsichtbare im Alltag verschwindende Technik in Anschluß an Gianni Vattimo eine "schwache Technik". Vgl. v.Vf.: Informatik von der Technokratie zur Lebenskunst Zum Thema 'disappearing computing' siehe die EU-Websites: o

The Disappearing Computer: http://www.disappearing-computer.net/

o

Future and Emerging Technologies: http://www.cordis.lu/ist/fet/dc.htm

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VI. Rafael Capurro: Soziale, rechtliche, politische und ethische Aspekte der Informationsgesellschaft http://www.capurro.de/iwmodul8.html

Einführung Vgl. Projekt "Identität und Geschichte der Informationswissenschaft" (Universität Saarbrücken). Zur aktuellen internationalen Debatte um die Informationsgesellschaft vgl. die Website der WSIS (World Summit on the Information Society), die vom Netzwerk Neue Medien und von der Heinrich Böll Stiftung initiiert wurde: worldsummit2003.de

Wir entwickeln uns von einer Informations- zu einer Wissensgesellschaft. Das heißt nicht, dass die eine durch die andere ersetzt wird, sondern, dass Information und Wissen zusammengehören. Was wir wissen ist immer schon das Ergebnis eines Informations- oder Mitteilungsprozesses und umgekehrt, durch den Informationsprozeß wird Wissen allgemein verfügbar gemacht. Beide Prozesse sind medialer Natur. Das älteste Informations- und Wissensmedium ist der menschliche Leib selbst, vor allem in Form gesprochener Sprache. Was aber genau unter Informations- bzw. Wissensgesellschaft zu verstehen ist, ist Gegenstand kontroverser Debatten. Einen Überblick über die verschiedenen Theorien der Informationsgesellschaft bietet: Frank Webster: Theories of the information society (London 1995) Grundlegend: Manuel Castells: Das Informationszeitalter (Opladen 2004): Teil I: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Teil II: Die Macht der Identität, Teil III: Jahrhundertwende 8.1.1 Was bedeutet 'Informationsgesellschaft'? Die Bezeichnung Informationsgesellschaft hat mehrere Wurzeln, die bis in die 60er Jahre reichen. Webster analysiert fünf Definitionen, die in fünf verschiedenen aber aufeinander wirkenden Bereichen angesiedelt sind. Dabei ist aber zu bemerken, dass jede menschliche Gesellschaft eine Informationsgesellschaft ist, sofern nämlich Menschen miteinander kommunizieren und Wissen austauschen. Was sie voneinander unterscheidet, ist nicht zuletzt die Frage der unterschiedlichen Medien und der medialen (R-)Evolutionen (Capurro 2000). 8.1.1.1. Technologische Definition Es ist üblich von Informationsgesellschaft in Zusammenhang mit der Wirkung des Computers und der Telekommunikation auf die Gesellschaft zu sprechen. Die Informationsversorgung 19

wird mit der Elektrizitätsversorgung und die Computerrevolution mit der industriellen Revolution verglichen. Es ist dann die Rede von der Transformation der Industriegesellschaft in die Informationsgesellschaft bzw. von der dritten technologischen Revolution. In diesem Zusammenhang gehört auch der sog. "Weinberg-Report" Science, Government, and Information (1963) (dt. Wissenschaft, Regierung und Information, DGD Hrsg., Frankfurt a.M. 1964), der, verursacht durch den 'Sputnik-Schock', den Anstoß für die moderne Dokumentation und für das Engagement des Staates in diesem Bereich gab. Vgl. Peter Drucker: The Age of Discontinuity 1969 8.1.1.2. Ökonomische Definition Wissenschaftler wie Fritz Machlup (The Production and Distribution of Knowledge in the United States, 1962), Peter Drucker und Marc Porat (The Information Economy, 1977) haben in den 60er und 70er Jahren auf die ökonomische Bedeutung der Wissensproduktion für die Gesellschaft hingewiesen. Vgl. die Theorie von der 'Aufmerksamkeitsökonomie' (M.H. Goldhaber, G. Frank). Siehe dazu die Aufsätze in: Kunstforum, Bd. 148, Dez.1999/Januar 2000. 8.1.1.3. Arbeitsbezogene Definition Demnach ist die Informationsgesellschaft durch eine Veränderung am Arbeitsmarkt gekennzeichnet: Die 'alten' industriebezogenen Berufe werden durch die 'neuen' teilweise abgelöst. Vgl. Marc Porat: The Information Economy, 1977 Daniel Bell: The Coming of Post-Industrial Society, 1973. 8.1.1.4. Raum-zeitbezogene Definition Sie bezieht sich auf die Informationsnetzwerke und auf ihren Einfluß auf die Umorganisation von Raum und Zeit, insbesondere in bezug auf die vernetzte Ökonomie. Vgl. Manuel Castells: The Informational City, 1989 Anthony Giddens: The Nation State and Violence 1985 Ulrich Beck: Risikogesellschaft, 1986 -: Was ist Globalisierung? 1997 8.1.1.5. Kulturelle Definition Sie bezieht sich zunächst auf den Einfluß der (Massen-)Medien auf die Gesellschaft, zuletzt aber, seit dem Aufkommen des Internet, auf die dadurch verursacheten kulturellen Veränderungen. Vgl. Anthony Giddens: The Transformation of Intimacy 1992 Florian Rötzer: Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter 1995 -: Digitale Weltentwürfe, 1998

8.1.2 Theorien der Informationsgesellschaft (nach Webster) 8.1.2.1 "The information society as post-industralism: Daniel Bell" Der amerikanische Soziologe Daniel Bell (1919-) entwickelte den Begriff der "postindustriellen Gesellschaft" ("post-industrial society") als eine Informationsgesellschaft in seinem Buch: The Coming of Post-Industrial Society: A Venture in Social Forecasting (1973, 1976). Die Rolle von Information in Bells Theorie wird von Webster folgendermaßen hervorgehoben: 20

"Why should Bell feel able to boldly state that 'the post-industrial is an information society' (1976a: 467) and that a 'service economy' indicates the arrival of post industrialism? It is not difficult to understand information's place in the theoretisation. Bell explains with a number of connected observations. Crucially it involves the character of life in different epochs. In pre-industrial society life is 'a game against nature' where 'one works with raw muscle power' (Bell, 1976a: 126); in the industrial era, where the 'machines predominates' in a 'technical and rationalized' existence, life 'is a game against fabricated nature' (ibid.). In contrast to both, life in a 'post-industrial society (which) is based on services...is a game between persons' (p. 127). Here 'what counts is not raw muscle power, or energy, but information." (Webster 1995: 36) Fraglich bleibt dabei, ob Bells Gegenüberstellung zwischen einer Gesellschaft, die Güter produziert und eine, die sich mit (Informations-)Dienstleistungen beschäftigt, nicht eine Übersimplifizierung bedeutet. Die gegenwärtige Entwicklung des ECommerce zeigt, dass nicht nur der Handel mit, sondern auch die Produktion von (materiellen) Gütern durch die IT weitgehend revolutioniert aber doch nicht ersetzt wird oder werden kann. Die Informationsgesellschaft, so der französische Kommunikationswissenschaftler Armand Mattelart, entstand bei Daniel Bell als Kampfansage an die (politischen) Ideologien (D. Bell: The End of Ideology, 1960). Demnach sollte die "post-industrielle Gesellschaft" eine auf dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt gegründeten Gesellschaft sein. Vgl. A. Mattelart: Comment est né le mythe d' Internet. In: Le Monde diplomatique, August 2000, S. 26. 8.1.2.2 "Information, the Nation State and Surveillance: Anthony Giddens" Anthony Giddens ist ein führender Sozialtheoretiker Großbritanniens. Für Giddens waren moderne Gesellschaften, d.h. Nationalstaaten, von Anfang an "information societies". Er schreibt: "modern societies have been... 'information societies' since their inception. There is a fundamental sense... in which all states have been 'information societies', since the generation of state power presumes reflexively gathering, storage, and control of information, applied to administrative ends. But in the nation state, with its peculiarly high degree of administrative unity, this is brought to a much higher pitch than ever before." (A. Giddens: The Social Theory and Modern Sociology, Cambridge 1987: 178; Zitat nach Webster 1995, 59). Das gilt ganz besonders für die moderne Kriegsführung, die ebenfalls wesentlich eine Informationskriegsführung ist. Der moderne Staat ist ein Überwachungsstaat. Giddens steht in der Tradition kritischer Sozialtheoretiker wie Karl Marx, Emile Dürckheim und Marx Weber, aber auch in intellektueller Nachbarschaft mit postmodernen Autoren wie Michel Foucault, der Jeremy Benthams Metapher des Panoptikums als eines (informationellen) Überwachungssystems übernimmt. Hier sind, wie Webster mit Recht bemerkt, deutliche Anspielungen auch an G. Orwells "Big Brother" (Webster 1995, 73). Giddens hebt aber auch die Chancen der Informationsgesellschaft hervor: Sie muß nicht nur dazu dienen, die Kontrollmöglichkeiten staatlichen Managements zu stärken, sondern sie kann auch die Wahlmöglichkeiten der Bürger mehren (A. Giddens: The Consequences of Modernity, 1990; ders.: Modernity and Self-Identity 1991)

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8.1.2.3 "Information and Advanced Capitalism: Herbert Schiller" Herbert Schiller war ein berühmter Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Kommunikationswissenschaften an der University of San Diego in Kalifornien. Er steht in der Marxistischen Tradition. Er schreibt: "There is no doubt that more information is being generated now than ever before. There is no doubt also that the machinery to generate this information to store, retrieve, process and disseminate it, is of a quality and character never before available. The actual infrastructure of information creating, storage and dissemination is remarkable." (H. Schiller: The Communications Revolution: Who Benefits? In: Media Development 1983; Zitat nach Webster 1995, 76) Webster hebt die wichtigsten Argumente Schillers folgendermaßen hervor: "The first draws attention to the pertinence of market criteria in informational developments. In this view it is essential to recognise that information and communication innovations are decisevily influenced by the market pressures of buying, selling and trading in order to make profit. To Professor Schiller (and also to his wife, Anita, a librarian who researches information trends) the centrality of market principles is a powerful impulse towards the commodification of information, which means that it is, increasingly, made available only on condition that it is saleable. (...) The second argument insists that class inequalities are a major factor in the distribution, access to and capacity to generate information. Bluntly, class shapes who gets what information an what kind of information they may get. Thereby, depending on one's location in the stratatification hierarchy, one may be a beneficiary or a loser of the 'information revolution'. The third key condition of Herbert Schiller is that the society which is undergoing such momentous changes in the information and communication areas is one of corporate capitalism (Williams, 1961)." (Webster 1995, 77) Mit anderen Worten, für Schiller findet die moderne Informationsrevolution innerhalb der Klassengesellschaft statt. Sie verfestigt und überbietet die vorhandenen ökonomischen Unterschiede. Webster bemerkt aber zu Recht, dass Begriffe wie information rich und information poor zu unscharf sind, um damit die Komplexität der modernen Gesellschaft analysieren zu können. Die Informationsreichen sind nicht notwendigerweise die großen Unternehmen (corporate capital), sondern der Zugang zur Bildung in öffentlichen Einrichtungen (Universitäten, Bibliotheken etc.) spielt eine wichtige Rolle für eine informationelle Chancengleichheit (Webser 1995, 98).

8.1.2.4 "Information Management and Manipulation: Jürgen Habermas and the Decline of the Public Sphere" Jürgen Habermas ist einer der führenden Sozialtheoretiker der Bundesrepublik. Webster befaßt sich nicht mit dem ganzen umfangreichen Werk Habermas oder mit seinem Hauptwerk: Theorie des kommunikativen Handelns (Frankfurt a.M. 1981, 2 Bde.), sondern 22

mit einer frühen aber sehr einflußreichen Schrift, nämlich: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1962, 1990). Habermas beschreibt dabei, wie die Presse durch das Aufkommen des bürgerlichen Rechtsstaates im 19. Jahrhundert sich von einer Gesinnungs- in eine Geschäftspresse wandelte. Hatte sie im 18. Jahrhundert unter dem Druck der Zensur entweder eine polemische oder eine bloß nachrichtenvermittelnde Funktion, so wird sie durch die Legalisierung "vom Gesinnungsdruck entlastet" (Habermas 1990, 278). Mit dem Aufkommen der Massenmedien findet abermals eine Strukturveränderung der Öffentlichkeit statt. Habermas schreibt: "Während die Presse früher das Räsonnement der zum Publikum versammelten Privatleute bloß vermitteln und verstärken konnte, wird dies nun umgekehrt durch die Massenmedien geprägt. Auf dem Wege vom Journalismus der schrifstellernden Privatleute zu den öffentlichen Diensleistungen der Massenmedien verändert sich die Sphäre der Öffentlichkeit durch das Einströmen privater Interessen, die in ihr priveligiert zur Darstellung kommen -, obwohl sie keineswegs mehr eo ipso für die Interessen der Privatleute als Publikum repräsentativ sind. (...) In dem Maße, in dem aber die Öffentlichkeit für geschäftliche Werbung in Anspruch genommen wird, wirken unvermittelt Privatleute als Privateigentümer auf die Privatleute als Publikum ein. Dabei kommt, gewiß, die Kommerzialisierung der Presse der Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Medium der Werbung entgegen: umgekehrt wird jene aber auch von Bedürfnissen einer Geschäftsreklame vorangetrieben, die autochton aus ökonomischen Zusammenhängen entsprangen." (Habermas 1990, 284) Die dadurch gebildete öffentliche Meinung hat, so Habermas, "mit der endlichen Einstimmigkeit eines langwierigen Prozesses wechselseitiger Aufklärung im Ernst nicht viel gemeinsam" (Habermas 1990, 291), d.h. die Massenmedien kehren letztlich die demokratischen Verhältnisse um, indem sogar "der Staat seine Bürger wie Verbraucher "ansprechen"" muß (Habermas 1990, 292). Die von den Massenmedien beherrschte Öffentlichkeit, und mit ihr Politik, wird medial manipuliert oder, besser gesagt, hergestellt. Habermas' Fazit lautet: „Der Streit einer kritischen Publizität mit der zu manipulativen Zwecken bloß veranstalteten ist offen; die Durchsetzung der sozialstaatlich gebotenen Öffentlichkeit des politischen Machtvollzugs und Machtausgleichs gegenüber jener zu Zwecken der Akklamation bloß hergestellten ist keineswegs gewiß; aber als eine Ideologie, wie die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit zur Zeit ihrer liberalen Entfaltung, läßt sie sich nicht denunzieren: sie bringt allenfalls die Dialektik jener zur Ideologie herabgesetzten Idee zu ihrem Ende." (Habermas 1990, 342) Webster schreibt:

"Reading Jürgen Habemas on the history of the public sphere, it becomes impossible to avoid the conclusion that its future is precarious. His account of its more recent development is gloomy: capitalism is victorious, the capacity for critical thought is minimal, there is no real space for a public sphere in an era of transnational media conglomerates and a pervasive culture of advertising. As far as information is concerned, communications corporations' overriding concern with the market means that their product is dedicated to the goal of generating maximum advertising revenue and supporting capitalist enterprise. As a result their content is chiefly lowest common 23

denominator diversion: action adventure, trivia, sensationalism, personalisation of affairs, celebration of contemporary lifestyles. All this, appropriately hyped, appeals and sells, but its informational quality is negligible. What it does is no more (and no less) than subject its audiences 'to the soft compulsion of constant consumption training' (Habermas, 1989: 192)." (Webster 1995, 104-105) In diesem Zusammenhang macht aber Webster (erneut) auf die Funktion von öffentlich zugänglichen Bibliotheken, Museen, Kunstgallerien etc. Habermas, so Webster, macht letztlich das öffentliche (journalistische) Informationsmanagement für den Niedergang der kritischen Öffentlichkeit verantwortlich. Ironischerweise ist aber Informationsmanagement "vastly more expensive, much more intensive and much more sophisticated applied in the 1990s" obwohl seine Existenz öfter nicht angenommen werden möchte (Webster 1995, 106). Die Lage hat sich also, nach Webster, weiter verschärft. Inwiefern trifft aber dieser von Habermas und Webster beschriebene und kritisierte Strukturwandel der Öffentlichkeit für den seit dem Internet einsetzenden Wandel einer durch die hierarchische Struktur der Massenmedien dominierten Gesellschaft zu? Inwiefern ist das Internet kein Massenmedium, sondern ein Medium für die Massen? Inwiefern stellt das Internet die Dichotomie zwischen Individual- und Massenmedien in Frage? Und wie ist in diesem Zusammenhang das Phänomen des digital divide zu verstehen?

Vgl. dazu v.Vf.: Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit (2000) -: Ethical Challenges of the Information Society in the 21st Century (2000) 8.1.2.5 "Information and Restructuring: Beyond Fordism?" In diesem Kapitel geht Webster auf das Phänomen der Massenproduktion und -konsum. Ford, so Webster, war der Pionier jener Technologien die zwischen 1945 un 1973 den Prozeß der industriellen Massenproduktion - begleitet durch staatliche Lenkung - ermöglichten. Demgegenüber steht der Begriff der Globalisierung für die "post-Fordist era". Sie beinhaltet die Expansion transnationaler Unternehmen. Zu der Globalisierung der Märkte, der Produktion und der Ökonomie kam letztlich auch die der Kommunikation. Das Ergebnis davon ist Flexibilisierung der Arbeit, der Produktion und des Konsums. Webster Fazit lautet: "It follows from these trends that we may observe in the post-Fordist era the decline of mass production. In place of huge and centralised plant what emerges are globally dispersed units employing in any one place only a few hundred people at the most, though world-wide the organising corporation is likely to have many more locations than before. (...) Unfortunately, however, it is precisely this emphasis on radically 'new times' conjured by the concept of post-Fordism that causes most difficulty. The suggestion is that society has undergone deep, systemic, transformation. And, indeed, what else is one to conclude when post-Fordism's characteristics are presented as so markedly different from what has gone before? (cf. Hall and Jacques, 1989). (...)

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Against this it is salutary to be reminded that, to the extent that private property, market criteria, and corporate priorities are hegemonic, and these are acknowledged to be such at least in Regulation School versions of post-Fordism, then a very familiar form of capitalism still pertains. Hence it might be suggested that the term neoFordism, with its strong evocation of the primacy of continuities over change, is more appropriate. Put in this way, the suggestion is that neo-Fordism is an endeavour to rebuild and strengthen capitalism rather than to suggest its supersession." (Webster 1995, 151-153) 8.1.2.6 Information und Postmoderne Postmoderne ist eine in den 80er Jahren entstandene, insbesondere von Nietzsche beeinflußte Denkrichtung, die sich gegen totalisierende Denkansätze wendet. Gemeint sind dabei nicht nur die politisch diskreditierten geschichtsphilosophischen Thesen des Marxismus, sondern auch positivistische in der Aufklärung verwurzelte Auffassungen des 'wissenschaftlichen Fortschritts'. Postmoderne Autoren, wie z.B. Jean-François Lyotard oder Michel Foucault kritisieren dabei epistemologische und ethische Grundbegriffe wie 'Wahrheit' oder 'Authentizität'. Was hat aber, fragt sich Webster, diese Denkrichtung mit Information zu tun? "A first, and recurrent, response comes from the postmodern insistence that we can know the world only through language. While Entlightenment thinkers subscribed to the idea that language was a tool to describe an objective reality apart from words, the postmodernist asserts that this is 'myth of transparency' (Vattimo, 1992: 18) because it is blind to the fact that symbols and images (i.e. information) are the only 'reality' that we have. We do not, in other words, see reality through language; rather, language is the reality that we see. As Michel Foucault put it, 'reality does no exist... language is all there is and what we are talking about is language, we speak within laguage' (quoted in Macey 1994: 150)." (Webster 1995, 175) Webster analysiert folgende Ansätze:

a) Jean Baudrillard Unsere gegenwärtige Kultur ist für Baudrillard eine Kultur der Zeichen oder, genauer gesagt, der Botschaften. Was uns gegenüber anderen Gesellschaften dabei auszeichnet ist die ununterbrochene Zeichenzirkulation. Dies ist für Baudrillard nicht nur eine Frage der Quantität. Während Autoren wie Herbert Schiller und Jürgen Habermas eine kritische Einstellung demgegenüber einnehmen und nach einer authentischeren Lebensform suchen. Das bedeutet, dass sie eine Realität hinter den Zeichen voraussetzen, die von ihnen in entstellter Weise repräsentiert wird. Für Baudrillard gibt es eine solche Realität außerhalb der Zeichen nicht. Diese sind nicht Repräsentationen, sondern Simulationen. Jedermann, und nicht bloß die Intellektuellen, kann, so Webster über Baudrillard, erkennen, dass die Werbung bloß Werbung, Simulation also, ist: "Everybody, and not just intellectuals, knows that Coca-Cola does not 'teach the world to sing', that Levi jeans won't transform middle-aged men into twenty-year-old hunks, or that Wrigley's cheweing gum will not lead to thrilling sexual encounters. As such, we ought not to get concerned about advertising since the 'silent majorities' (Baudrillard, 1983a) are not much bothered by it." (Webster 1995, 178-79)

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Während Habermas sich Sorgen über den Zerfall der modernen Demokratie durch die Manipulation politischer Information macht, bedeutet für Baudrillard die Idee, dass Zeichen eines Tages eine adäquate Repräsentation von Politik werden könnten nichts anderes als eine Phantasie. Womit wir heute zu tun haben ist für Baudrillard ein Überangebot an Zeichen, die nichts bedeuten. Solche bedeutungslose Zeichen sind bloß Gegenstand 'ästhetischer' Anschauung, sie sind 'spektakulär'. Die moderne Suche nach Authentizität geht an dieser Simulation vorbei. Zeichen sind für Baudrillard selbstreferentiell. Sie sind soziale Konstrukte, die heute dies, morgen aber etwas anderes bedeuten. Der Verlust einer dauerhaften Referenz in einer objektiven Realität führt uns, so Baudrillard, zu einer Hyper-Realität, oder, anders ausgedrückt, für die Postmoderne verliert die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Scheinbaren, oder zwischen dem Authentischen und dem Inauthetischen ihre Kraft. Was folgt daraus? "It follows that, where 'the real is abolished' (Baudrillard, 1983a: 99), the meaning of signs is lost (it is 'imploded'). Nonetheless, we ought not to worry about this, because we always have to recall the postmodern dictum that audiences are subversive of messages anyway. A while ago modernists got themselves into a lather about 'couch potato' television viewers and tourists who visited historical sites, took a photograph, and then, having 'done it', were gone without appreciating the 'real thing'. But how much this underestimates the creativities of ordinary folk - the TV viewer is in fact constantly active, switching channels with enthusiasm, chatting to her pals, using the telephone or shouting out irreverent and irrelevant comments, and the tourist is doing all sorts of things when walking round the Natural History Museum, day-dreaming, wondering why the guide reminds him of his brother, planning dinner, chatting up the girls, musing whether diplodocus ever got toothache...Given such resistance, as it were, to the intended signs, we can conclude that postmodern audiences are a far cry from the 'cultural dopes' modernists so feared, so far indeed that they see and hear nothing, just experience the spectacles which characterise the contemporary." (Webster 1995, 181) J. Baudrillard: Die Illusion und die Virtualität (Bern 1994)

b) Gianni Vattimo Auch für den italienischen postmodernen Philosophen Gianni Vattimo haben die Medien das Vertrauen in Kategorien wie 'Wahrheit', 'Realität' und 'Authetizität' erschüttert. Die Medien haben uns gelehrt, dass es viele Sichtweisen gibt. Anstelle einer von den Medien manipulierten Massengesellschaft haben wir, so Vattimo, eine Fülle von Minderheiten, die sich jetzt durch die Medien (besser) artikulieren können. In diesem Sinne kritisert Vattimo auch die (Habermassche) Vorstellung einer 'transparenten Gesellschaft'. Vgl. G. Vattimo: Das Ende der Moderne (Stuttgart 1990) -: Die transparente Gesellschaft (Wien 1992) Zu Vattimo vgl. v.Vf.: G. Vattimo, in: J. Nida-Rümelin Hrsg.: Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen (Stuttgart 1999)

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c) Mark Poster Poster bezeichnet die Informationsgesellschaft mit dem Ausdruck 'mode of information'. Das Zeitalter elektronischer Vermittlung ist, gegenüber der Epoche der Oralität und der des schriftlichen Austauschs, durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: "the era of electronic mediation, when signs are matters of informational simulations, with their non-representational character being critical. Here the self is 'decentred, dispersed, and multiplied in continous instability' (Poster 1990, p. 6), swirlinging in a 'continuous process of multiple identity formation' (Poster, 1994: 174) since the 'flow of signifiers' is the defining feature of the times rather than signs which indicate a given object." (Webster 1995, 182-83) Ähnlich wie für Baudrillard bedeutet für Poster die Überfülle der Zeichen zugleich eine Krise der Repräsentation und mit ihr der Kategorien 'Wahrheit' und 'Authentizität. Vgl. M. Poster: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context (Cambridge 1990)

d) Jean-François Lyotard Für J.-F. Lyotard bedeutet das Aufkommen der postmodernen (Informations-)Gesellschaft, dass Wissen und Information zu Waren werden. Ferner stellt Lyotard fest, dass die Wissensentwicklung nicht mehr an den Universitäten, sondern in privaten Forschungseinrichtungen stattfindet. Nicht 'Wahrheit', sondern Kriterien wie 'Effizienz' und 'Performativität' sind hier entscheidend. Das hat wiederum entscheidenden Einfluß auf das Selbstverständnis der öffentlichen Bildungseinrichtungen, die sich immer mehr mit utilitaristischen Kriterien messen müssen. Schließlich bedeutet diese Entwicklung, der gebildete Mensch sich nicht mehr durch den Besitz von Wissen, sondern durch die Fähigkeit auszeichnet, mit der er Wissen aus einem elektronischen Speicher wiedergewinnt: "For a long while to be educated meant to be in possession of a certain body of knowledge; with computerisation, however, it is more a matter of knowing how to access approrpriate data banks than holding the information in one's head. In the postmodern age performativity decrees that 'how to use terminals' is more important than personal knowledge. Therefore, competencies such as 'keyboard skills' and 'information retrieval' will displace traditional conceptions of knowledge (and student profiles will certify that these and other competencies have at least equivalent recognition to more orthodox academic attainments) as 'data banks (become) the Encyclopaedia of tomorrow' (Lyotard, 1993: 51)." (Webster 1995, 186) Das führt, so Lyotard, zu einer Relativierung von Wissen oder zu dem, was er das Ende der '"großen Erzählungen" nennt. Mit ihnen geht auch der traditionellen Eliten zu Ende: Ein Professor ist nicht kompetenter für die Wissensvermittlung als eine Datenbank. Vgl. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen (Wien 1986)

27

e) Ignacio Ramonet

Für Ignacio Ramonet, Direktor der in Paris erscheinenden Monatszeitung für internationale Politik "Le Monde diplomatique", bedeuten Informieren und Sich informieren leistungsintensive Vorgänge. Er sieht die Qualität diese Vorgänge vor allem durch das Aufkommen der audiovisuellen Medien, allem voran des Fernsehens, sowie durch den Überfluss an Informationen bedroht. Aus Information wird Infotainment. In seinem Buch "Die Kommunikationsfalle. Macht und Mythen der Medien" (Zürich 1999) schreibt er über eine sich verbreitende Form von "demokratischer Zensur" Folgendes: "Das Konzept der Zensur wird seit jeher mit einer autoritären Staatsmacht in Verbindung gebracht, und in der Tat ist sie eines ihrer wesentlichen Bestandteile. Sie bedeutet Unterdrückung, Verbot, Beschneidung und Vorenthalten von Information, da in den Augen der Autorität eines der wichtigsten Machtmittel gerade darin besteht, die Meinungsäußerung und die Kommunikation all jener zu kontrollieren, die unter ihrer Herrschaft stehen. Das gilt für einen Diktator, das gilt für einen Despot, und das galt auch für einen Richter der Inquisition. In einem freien Land zu leben heißt, unter einem politischen Regime zu leben, das diese Form der Zensur nicht praktiziert und das im Gegenteil das Recht des Bürgers respektiert, sich frei auszudrücken, eine eigene Meinung zu haben, sich zusammenzuschließen, zu diskutieren und öffentlich zu debattieren. Wir erleben diese Toleranz so sehr als ein Wunder, dass wir gar nicht wahrnehmen, wie sich still und heimlich eine neue Form der Zensur eingenistet hat, eine Zensur, die man "demokratische Zensur" nennen könnte. Im Gegensatz zur autokratischen Zensur fußt sie nicht mehr auf der Unterdrückung und Beschneidung von Daten, auf deren Kürzung oder dem Verbot, sie zu publizieren, sondern im Gegenteil auf der Anhäufung, der Übersättigung und dem Überfluss von Informationen." (Ramonet 1999, S. 34-35) Angesichts der herrschenden Informationsflut, ist aber, so Ramonet, nicht Resignation, sondern eine erhöhte Verantwortung angebracht: "Vor noch nicht allzu langer Zeit hieß informieren, nicht nur die genaue - und überprüfte - Darstellung einer Tatsache oder eines Ereignisses zu liefern, sondern gleichzeitig einen Komplex von Parametern aus deren Umfeld, die es dem Leser ermöglichten, ihre tiefere Bedeutung zu verstehen. Informieren hieß, auf die Grundfragen zu antworten: Wer hat was gemacht? Wann? Wo? Wie? Warum? Mit welchen Mitteln? Unter welchen Umständen? Und welches werden die Folgen sein? Unter dem Einfluss des Fernsehens, das heute in der Medienhierarchie ganz oben steht und allgemein zum Modell geworden ist, hat sich das geändert. Die Fernsehnachrichten haben mit ihrer Ideologie der "Live-Übertragung in Echtzeit" allmählich eine ganz andere Vorstellung von Information durchgesetzt. Informieren heißt fortan, "laufende Geschichte zu zeigen" oder, mit anderen Worten, die Leser oder die Zuschauer an einem Ereignis teilnehmen zu lassen (wenn möglich live). Hinsichtlich der Information handelt es sich um eine kopernikanische Revolution, deren Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Denn es bedeutet, dass allein schon das Bild des Ereignisses (oder seine Beschreibung) diesem seine ganze Bedeutung zu verleihen vermag. Im Extremfall ist der Journalist in diesem Gegenüber von Fernsehzuschauer-Geschichte sogar überflüssig. Das vorrangige Ziel des 28

Fernsehzuschauers und seine Befriedigung ist es nicht mehr, die Bedeutung eines Ereignisses zu verstehen, sondern ganz einfach zuzuschauen, wie es sich vor seinen Augen abspielt. Diese Koinzidenz wird als lustvoll betrachtet. So hat sich allmählich die Illusion festgesetzt, sehen bedeute verstehen; und jedes Ereignis, so abstrakt es auch sein möge, habe eine sichtbare Seite, die am Fernsehen gezeigt werden können. (...) Allmählich setzt sich in den Köpfen die Vorstellung fest, die Bedeutsamkeit eines Ereignisses sei proportional zu seinem Bilderreichtum. (...) Auch der Zeitbegriff der Information hat sich verändert. Internet verkürzt den Informationszyklus. Der optimale Rhythmus der Medien ist heute die Unmittelbarkeit (die Echtzeit), das Live, und dem vermögen nur Radio und Fernsehen zu folgen. (...) Ein vierter Begriff schließlich aht sich verändert, der grundlegende Begriff des Wahrheitsgehalts der Information. Ein Sachverhalt ist heute nicht mehr wahr, weil er objektiven und strengen Kriterien genügt, die an der Quelle nachgeprüft worden sind, sondern ganz einfach, weil andere Medien die gleichen Behauptungen wiederholen und "bestätigen"...Repetition tritt an die Stelle von Beweisführung; Information wird durch Bestätigung ersetzt. (...) Viele Bürger meinen, sie könnten sich seriös informieren, indem sie , bequem auf dem Diwan ihres Salons sitzend, zuschauen, wie auf dem Bildschirm eine eindrucksvolle Flut von Ereignissen vorüberzieht, die oft an starken, brutalen und spektakulären Bildern aufgehängt sind. Das ist jedoch ein völliger Irrtum, und zwar aus dreierlei Gründen: Erstens einmal sind die Fernsehnachrichten wie eine Fiktion aufgebaut und dienen vorab nicht zur Information, sondern zur Unterhaltung. Zweitens erzeugt die schnelle Abfolge von kurzen, bruchstückhaften Nachrichten (etwa zwanzig pro Sendung) einen doppelten negativen Effekt von Übereinformation und Desinformation (es gibt zu viele Nachrichten, und es wird ihnen zu wenig Zeit gewidmet). Und drittens ist die Illusion, man könne sich ohne Anstrengung informieren, ein reiner Mythos der Werbung. Sich informieren ist anstrengend, und diesen Preis muss der Bürger zahlen für das Recht, auf intelligente Weise am demokratischen Leben teilzunehmen." (Ramonet, 1999, S. 171-177) Vgl. Die Aktivitäten des von "Le Monde diplomatique" und der Heinrich-Böll-Stiftung untersützten World Social Forum.

8.1.2.7 "Information and Urban Change": Manuel Castells Manuel Castells ist ein führender Theoretiker der Informationsgesellschaft. Er hat seine intellektuellen Wurzeln im Marxismus und seine Position wird von Webster als 'PostMarxismus' bezeichnet. Castells unterscheidet zwischen den "kapitalistischen Produktionsverhältnissen" ("capitalist mode of production") und den "informationellen Entwicklungsverhältnissen" ("informational mode of development"). Letzteres ist für Castells das "sozio-technische Paradigma", das unsere heutige Gesellschaft auszeichnet, nämlich "the emergence of information processing as the core, fundamental activity conditioning the effectiveness and productivity of all processes of production, distribution, consumption, and management" (Castells, 1989, p. 17) (Zitat nach Webster 1995, 194) so Castells in seinem Buch The Informational City (1989). Gegenüber einem strengen Marxistischen Denken betont dabei Castells, dass die informationellen 29

Entwicklungsverhältnissen eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den kapitalistischen Produktionsverhältnissen haben. Webster schreibt: "Put vulgarly, 'you may look to a future beyond capitalism, but you're still going to need computer systems to get by." (Webster 1995, 195) Paradoxerweise, so Webster, stimmen Manuel Castells und Daniel Bell in dieser theoretischen Sichtweise überein. Elektronische Informationsprozesse verändern wiederum die Produktionsverhältnisse in der Weise wie sie Webster unter dem Stichwort 'post-Fordism' beschrieben hat. Das bezeichnen wir heute wir heute als Globalisierung. Die Auswirkungen nicht nur auf die Ökonomie, sondern auf die gesamte Kultur, auf die Art und Weise wie sich unsere Städte (informational city) und mit ihnen unser Leben verändern, die Entstehung neuer marginalisierter Gruppen etc. sind Phänomene mit denen sich Castells in einem dreibändigen opus sich ausführlich auseinandersetzt.

Manuel

Castells:

Das

Informationszeitalter

(Opladen

2004,

3

Bde.)

(orig.: The Information Age - Economy, Society and Culture. Oxford (1996-1998): Vol. I: The Rise of the Network Society (1996), xvii + 556 pp.; Vol.II: The Power of Identity (1997), xv + 461 pp.; Vol.III: End of Millennium (1998), xiv-418 pp.) Bd. 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Bd. 2: Die Macht der Identität, Bd. 3: Jahrtausendwende M. Castells: Internet und die Netzgesellschaft: PowerPoint Präsentation (in Deutsch)

Ausblick Webster's Kernfrage lautet dann, am Ende dieses hier nur skizzierten Weges, inwiefern und mit welchem Recht die heutige durch die Informationstechnologien geprägte Gesellschaft zwar in einer gewissen Kontinuität mit der Industriegesellschaft, sofern nämlich beide kapitalistische Gesellschaften sind, steht, zugleich aber durch einen Systembruch ("system break") gekennzeichnet werden soll, wodurch eben der Begriff Informationsgesellschaft steht. Er schreibt: "To repeat the two major complaints about such an approach: it at once singles out technology/technique as the primum mobile of change (which is oversimplistic) while simultaneously presuming that this technology/technique is aloof form the real of values and beliefs. I do not think it has been difficult to demonstrate that it is a misleading perception, but it will keep infecting analysis of informational developments. Above all, it seems to me, it is an approach which misconceives social change because it desocialises key elements of social change, persistently separating technology/technique from the social world (where values and beliefs are found), only to reinsert it by asserting that this autonomous force is the privileged mechanism for bringing about change. Not surprisingly, those who envisage a dramatic but asocial 'information technology revolution' and/or radical shifts in technical efficiency, are easily persuaded that these impact in such a manner as to bring about an entirely novel form of society." (Webster 1995, 219) Mit anderen Worten, was Webster kritisiert, ist die Dichotomie, die dadurch entsteht, dass der technischen Entwicklung einer Selbständigkeit zugesprochen wird, wodurch dann dann die Gesellschaft verändert werden soll, während es sich in Wahrheit umgekehrt verhält, nämlich so, dass technologische Prozesse Teil eines komplexen 30

sozialen Wertegefüges sind, so dass erst dann wenn dieses Gefüge verändert wird, wir mit recht von einer 'neuen' Gesellschaft sprechen können. Solange wir unter Information nur ein quantifizierbares Phänomen verstehen und die semantische Dimension vernachlässigen, solange bleibt die Rede vom qualitativen Einfluß der 'Information'(-stechnik) auf die Gesellschaft eine abstrakte Formel. Das Phänomen der quantitativen Zunahme der Information ist zwar ein wichtiges Phänomen unserer Gegenwart, aber, so Webster, dies kann nur dann adäquat verstanden werden, wenn wir die heutige Situation aus der historischen Kontituität zu verstehen versuchen: "It appears to me that those who explain informatisation in terms of historical continuities give us a better way of understanding information in the world today.This is not least because they refuse to start with abstract measures of the 'information society' and of information itself. While of course they acknowledge that there has been an enormous quantitative increase in information technologies, in information in circulation, in information networks an what not, such thinkers turn away from such social and deracinated concepts and back to the real world. And it is there, in the ruck of history, that they are able to locate an information explosion that means something substantive and that has discernible origins and contexts: that these types of information, for those sorts of groups, with those sorts of interests are developing." (Webster 1995, 219-220) In diesem Zusammenhang ist auch der Ansatz von Jeremy Rifkin: The Age of Access: The New Culture of Hypercapitalism Where All of Life is a Paid-For Experience (2000) (dt. Access - das Verschwinden des Eigentums, Frankurt a.M. 2000) zu sehen. Informationstechnologien und weltweite Vernetzung verändern, nach Rifkin, die klassischen Eckwerte kapitalistischer Produktion, indem sie diese sozusagen überbieten. Dem Zeitalter der Märkte folgt das Zeitalter der Netzwerke. Der Fall Napster und mit ihm der Kampf um die Zugangsrechte im Netz sind deutliche Anzeichen dafür. Das Verhältnis Verkäufer/Kunde verwandelt sich in ein Verhältnis zwischen Anbietern und Nutzern. Aus dem Streben nach Eigentum, wird Streben nach Zugang. Nicht das materielle, sondern das geistige Eigentum hat in der neuen Ökonomie den Vorrang. Das bedeutet aber letztlich, so Rifkin, dass alle Formen kultureller Arbeit sich den Regeln des elektronischen Netzwerkes unterziehen. Diese Form von Hyperkapitalismus birgt aber für eine große Gefahr: Die Geschichte der Menschheit zeigt, so Rifkin, dass die Kultur dem Kommerz vorausgehen muß. Wenn alle Beziehungen von Mensch zu Mensch nur unter dem Vorzeichen von Effizienz und Nützlichkeit gestaltet werden, gerät die Gesellschaft und mit ihr auch die Ökonomie selbst aus dem Gleichgewicht.

8.1.3 Die Komplexität der Informationsgesellschaft und die Vertrauensfrage 8.1.3.1 Die Komplexität der Informationsgesellschaft Für Gernot Wersig ist Komplexität der zentrale Hintergrund der Informationsgesellschaft. Er schreibt: "Abstrahiert man etwas von den im einzelnen untersciedlichen Gedankengängen, dann werden weitere Ähnlichkeiten sichtbar. Bei allen Autoren spielt der Begriff der 31

Komplexität eine Rolle, Komplexität als ein wesentliches Merkmal unserer Zeit, die mit Ungewißheit verbunden ist. Diese Ungewißheit wiederum führt zum Gefühl der Überforderung. o

Für Lyotard ist die Situation der Postmoderne die des Individuums: "Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst wenig ist. ... Das Selbst is wenig, aber es ist nicht isoliert, es ist in einem Gefüge von Relationen gefangen, das noch nie so komplex und beweglich war. Jung oder alt, Mann oder Frau, reich oder arm, ist immer auf 'Knoten' des Kommunikationskreislaufes gesetzt..." (Lyotard 1986, S. 54-55)

o

Im Habermas'schen Dualismus von Lebenswelt und System, in dem System immer mehr Lebenswelt abstrahiert, liegt die Überkomplexität genau in diesem Abstraktionsmechanismus: "Abstraktionen, die der Lebenswelt aufgenötigt werden ... müssen innerhalb der Lebenswelt verarbeitet werden, obgleich sie die sinnlich zentrierten, räumlichen, sozialen und zeitlichen Komplexitätsgrenzen auch der weit ausdifferenzierten Lebenswelten überschreiten." (Habermas 1981, Bd. 2, S. 580). Derart entsteht "die Paradoxie, daß sich systematische Entlastungen, die durch die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht werden, in Überlastungen der kommunikativen Infrastruktur dieser Lebenswelt verwandeln." (ebd. S. 554)

o

Für Beck ist die Dimension, die den Erfolg aber auch das Umkippen der Moderne ausmacht, die "lineare Steigerung von Rationalität", die in sich "eine unendliche Komplexität" entwickelt (Beck 1993, S.45). Nebenfolge der Rationalitätssteigerung aber unterdessen Hauptfaktor ist die Individualisierung als Auf- und Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen, für deren Nachfolge es aber noch keine Selbstverständlichkeiten gibt. "Das Gejammere über Individualisierung... sind meist Reaktionen auf erfahrene Unlebbarkeiten einer Individualsierung, die anomische Züge annimt." (ebd. S.151)

o

Für Giddens taucht Komplexität in zweifacher Hinsicht als Wandlungsfaktor auf: Einmal für die Individuen in der Risikogesellschaft: "Das Gemisch aus Risiko und Chancen ist unter vielen der betreffenden Umstände derart komplex, daß es für die einzelnen überaus schwierig ist zu wissen, in welchem Maße man bestimmten Rezepten oder Systemen Vertrauen schenken und in welchem Maße man es suspendieren sollte" (Giddens 1995), S. 183. Aber Komplexität ist auch im größeren Maßstag für den Wandel verantwortlich: Zu den unbeabsichtigten Konsequenzen, die den Wandel verursachen, zählt er vor allem Planungs- und Bedienungsfehler, die wegen der Komplexität der Systeme und Handlungen als solche unvermeidlich sind." (ebd. S. 189)

(Wersig, Die Komplexität der Informationsgesellschaft, S. 11)

8.1.3.2 Die Frage des Vertrauens Für Rainer Kuhlen sind die Bildung zur "informationellen Autonomie" und die Frage des Vertrauens die entscheidenden soziale und ethischen Herausforderungen der heutigen Informationsgesellschaft. Er schreibt:

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"Informationsarbeit wird immer mehr zu delegierter Arbeit. Delegation, darauf haben wir hingewiesen, ist immer eine Sache des Vertrauens. (...) Nicht umsonst spielt das Thema des Vertrauens auf den elektronischen Märkten der Gegenwart eine wichtige Rolle. Konsequent haben sich auch im kommerziellen Bereich der Informationswirtschaft so etwas wie Vertrauensmanagement und Vertrauenssicherungsssysteme entwickelt. Die Anstrengungen der Informationswirtschaft sind beträchtlich, Vertrauen aufzubauen, in erster Linie mit Blick auf die Sicherheit der elektronisch durchgeführten Transaktionen, dann aber auch mit Blick auf eine offene Informationssammlungspolitik bzw. auf den Schutz der in den elektronischen Interaktionen abgegebenen persönlichen Daten. Denn ist Vertrauen in die Leistungen nicht vorhanden, wird das Publikum mißtrauisch die Produkte verweigern. War Vertrauensmanagement erfolgreich, dann ist auf den Märkten die Grundeinstellung vertrauensvoller Akzeptanz vorhanden. (...) Entsprechend wissen wir, daß es kein informationelles Schlaraffenland geben wird, in dem die Informationen, uns angemessen aufbereitet, direkt in unsere Gehirne fliegen und dort zu Wissen werden. Information muß erarbeitet werden. Die Voraussetzungen dafür, daß Inforamtion später genutzt werden kann, müssen gegeben sein. Das leistet konstruktive Informationsarbeit. Ebenso müssen die Informationen, wenn sie denn einmal in den vielfältigen Ressourcen auf den Informationsmärkten als potentiell zu Informationen werdende Daten gespeichert sind, erarbeitet werden. Das haben wir redaptive Informationsarbeit genannt. Informationen können nicht einfach per Knopfdruck aus den jeweiligen Schubläden gezogen werden. Und schließlich bedeutet Information erarbeiten, sie in ihrem Wahrheitswert, ihrer Handlungsrelevanz einschätzen und in der aktuellen Situation effizient einsetzen zu können. Dies hat nur als Basisvoraussetzung etwas mit Technik zu tun, erfordert vielmehr neben der informationsmethodischen auch noch soziale und kommunikative Kompetenz. Ohne eigene Informationsarbeit wird es also nicht gehen. Wir haben die Vermutung geäußert, daß informationelle Urteilskraft dann riskiert, defizitär zu werden, wenn die Fähigkeit, eine Information einschätzen zu können, sich nicht mehr durch die Fähigkeit schulen läßt, die Information überhaupt erst zu erarbeiten. Wir schließen uns keineswegs den Erwartungen an, die viele an die Entwicklung der Informationsgesellschaft hegen, daß nämlich die Verfügung über Information nicht mehr differenzierend wirken müsse, da alle auf dem gleichen Stand der Verfügung und Nutzung seien. Information wäre dann kein Wettbewerbsvorteil mehr für Unternehmen. Information wäre kein Karrieremittel mehr im persönlichen Fortkommen, und Unterschiede zwischen informationsarmen und informationsreichen Ländern gäbe es nicht mehr, bzw. wäre nicht mehr der Mangel an Information der Grund für weiterbestehende Differenzen. Verfügung über Information und erworbenes Wissen werden weiter differenzierend wirken. Wie schon nicht alle informationell oder gar materiell oder im Einfluß gleich geworden sind, weil ihnen im Prinzip alle Bücher und Zeitschriften direkt zur Verfügung standen, so wird es auch informationelle Gleichheit selbst dann nicht geben, wenn im Sinne einer informationelle Grundversorgung der Zugriff genauso von der Öffentlichkeit garantiert ist, wie es heute der Fall mit den Bibliotheken ist. (...) Die Herausforderung an die Gesellschaft besteht nicht darin, den Informationszugang für alle gleich zu machen, sondern die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß jeder die Chance hat, die Vorteile der möglichen Informationsleistungen zu nutzen. Chancen geben heißt nichts anderes, als Bildung möglich zu machen. Informationelle Chancengleichheit beruht auf informationeller Bildung, deren wesentliches Ziel, wie 33

wir es formuliert haben, informationelle Autonomie ist, nicht in dem Sinne, alles schon selber zu wissen, sondern in der Lage zu sein, sich der vorhandenen Ressourcen auf gewinnbringende Weise zu vergewissern. Ein Mensch in der Informationsgesellschaft hat Chancen, ein autonomes, d.h. selbstbestimmtes Individuum zu werden, wenn er informationskompetent ist. Dieser braucht vor den Konsequenzen der technischen Informationsassistenten nicht bange zu sein." (R. Kuhlen: Die Konsequenzen von Informationsyssistenten, Frankfurt a.M. 1999, S. 378-382)

Vgl. Tim Berners-Lee: Der Web-Report. München: Econ 1999

Zur Vertiefung: R. Capurro: Ethik im Netz. Stuttgart 2003 -: Leben im Informationszeitalter, Berlin 1995, Kap. 3. U. Maier-Rabler: Einführung in die Kommunikationstechnologien

8.1.4 Das Recht auf Kommunikation Vgl. William J. McIver, William F. Birdsall: Technological Evolution and the Right to Communication: The Implications for Electronic Democracy (2002) (pdf):

Prämoderne Entwicklung: Die Entwicklung der Schrift und der frühen Post (2000 v.Chr. - 1793 nChr.): -> Ursprünge der heutigen "Telekommunikation" (das Wort entsteht in Frankreich um 1930) in Zusammenhang mit der Verbreitung von schriftlichen Botschaften (Boten, Tiere) bei den Ägyptern (2000 v.Chr.), Chinesen (1000 v.Ch.), Assyrern (700 v.Chr.), Persern (500 v.Chr.). -> Skriben als Kaste. -> "Cursus publicus" als 'staatliches' System im römischen Imperium. -> Im Frühen Mittelalter verschwinden die staatlichen Postdienste in Europa. Vgl. C.H. Scheele: A Short History of the Mail Service. Washington 1970.

Moderne Entwicklung: Im 18. und 19. Jh. stehen die Postdienste unter staatlicher Kontrolle. Um 1840: postalische Reform in Großbritannien. Briefmarkensystem: bezahlt wird einheitlich und im voraus. 34

Internationalisierung der postalischen Kommunikation: Universal Postal Union (UPU) 1874 Telegraphie (um 1830) Telephonie (um 1876) Rundfunk (um 1895) ITU (International Telecommunications Union) (1934).

Ökonomische, soziale und kulturelle Rechte bei der elektronischen Telekommunikation von 1948 bis heute: o Die Universal Declaration of Human Rights (UDHR) (1948): Art. 19: "Everyone has the right to freedom of opinion and expression: this right includes freedom to hold opinions without interference and to seek, receive and impart information and ideas through any media and regardless of frontiers." o Art. 27: "Everyone has the right freely to participate in the cultural life of the community, to enjoy the arts and to share in scientific advancdement and its benefits." Vgl. auch Art. 12 (privacy), Art. 18 (freedom of thought, conscience, and religion), Art. 20 (freedom of peaceful assembly), Art. 26 (right to education). o Bertolt Brecht: "Theorie des Rundfunks" (1932) o Jean d'Arcy (Director of Radio and Visual Services der UN Office of Public Information): "Direct Broadcast Satellites and the Right to Communicate" (1969) o Massenmedien (Rundfunk und Fernsehen, Printmedien) als hierarchische "Ein-WegMedien", die eine Massenmedien-Metalität erzeugen vs. horizontale interaktive Kommunikationsmedien (Brecht, d'Arcy): Unterschied zwischen Information und Kommunikation. o Von hier aus: unterschiedliche gesellschaftliche Entwürfe einschl. der Interpretation der UDHR. o Das Individuum wird immer weniger als passiver Empfänger von Information und immer mehr als aktiver Teilnehmer in einer interaktiven globalen Kommunkation.

Recht auf Kommunikation: 1955 bis heute o Die Bandung Conference der Non-Aligned Movement 1955 o Die ITU Plenipotentiary Conference, Montreux 1965. o Das Scheitern der New World Information and Communication Order (NWICO) der UNESCO aufgrund der internationalen Konflikte ("kalter Krieg") (um 1970-1980).

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o Das Recht auf Kommunikation aufgrund der Weltvernetzung (Arpanet 1965): partizipative Kommunikation, interaktive Kommunikation, horizontale Kommunikation, mehrweg ("multiway") Kommunikation, Kommunikation und Demokratie o World Summit on the Information Society (Geneva 2003 - Tunis 2005) o "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgeselschaft" auf Initative der Heinrich-Böll-Stiftung (2003). Folgende Bereiche und Ziele einer Wissens- und Informationsgesellschaft unter dem Primat der Nachhaltigkeit werden vorgeschlagen: 1. Freier Zugriff auf Wissen 2. Wissen, ein öffentliches Gut im Besitz aller ("Commons") 3. Offenheit technischer Stardards und ofrene Organisationsformen 4. Sicherung der Privatheit beim Umgang mit Wissen und Information 5. Kulturelle und sprachliche Vielfalt 6. Sicherung medialer Vielfalt und öffentlicher Meinung 7. Langzeitbewahrung von Wissen 8. Überwindung der digitalen Spaltung 9. Informationsfreiheit als Bürgerrecht auf politische Beteiligung und transparente Verwaltung 10. Sicherung der Informationsfreiheit in der Arbeitswelt

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VII. Manuel Castells: Das Informationszeitalter

Auszüge aus: Manuel Castells: Das Informationszeitalter 3 Bde. (Copyright: Leske + Bulrich UTB 2004) Band 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft: Das Netzwerk-Unternehmen (I, Kap. 3, 173-228) Die Kultur der realen Virtualität (I, Kap. 5, 375-429) Band 2: Die Macht der Identität Informationelle Politik (II, Kap. 6, 329-386) Band 3: Jahrtausendwende Die Entstehung der Vierten Welt (III, Kap. 2, 73-174) Die Vereinigung Europas (III, Kap. 5, 356-385) Schluß: Unsere Welt verstehen (III, 385-412) (Die fettgedruckten Stellen im Text sind meine Hervorhebungen, RC)

I. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft Das Netzwerk-Unternehmen Die Kultur, die Institutionen und die Organisationen der informationellen Ökonomie

„Die informationelle Ökonomie ist wie jede historisch abgrenzbare Form der Produktion durch ihre spezifische Kultur und ihre Institutionen geprägt. Jedoch sollte Kultur in diesem analytischen Bezugsrahmen nicht als System von Werten und Überzeugungen verstanden werden, das mit einer bestimmten Gesellschaftsform verknüpft ist. Typisch für die Verbreitung der informationellen, globalen Wirtschaftsform ist gerade ihr Auftauchen in sehr unterschiedlichen kulturell/nationalen Zusammenhängen: in Nordamerika, Westeuropa, Japan und Russland ebenso wie im „chinesischen Kulturkreis“ oder in Lateinamerika; hinzu kommt ihre planetare Reichweite, die alle Länder erfasst und ein multikulturelles Bezugssystem hervorbringt. (…) Aber die Unterschiedlichkeit der kulturellen Kontexte, in denen die informationelle Ökonomie in Erscheinung tritt und sich entwickelt, schließt die Existenz eines gemeinsamen Grundmusters organisatorischer Formen in den Prozessen der Produktion, Konsumtion und Distribution nicht aus. Ohne solche organisatorischen Vorkehrungen könnten technologischer Wandel, staatliche Politik und Firmenstrategien nicht in ein neues Wirtschaftssystem integriert werden. In Übereinstimmung mit einer wachsenden Zahl von Wissenschaftlern behaupte ich, dass sich Kulturen grundlegend durch ihre Einbettung in Institutionen und Organisationen manifestieren. Unter Organisation verstehe ich genau definierte Systeme von Mitteln, die eindeutig definierte Ziele erreichen sollen. Unter 37

Institutionen verstehe ich Organisationen, die mit der notwendigen Autorität ausgestattet sind, um bestimmte Aufgaben im Namen der gesamten Gesellschaft wahrzunehmen. Die Kultur, um die es bei der Konstituierung und Entfaltung eines bestimmten Wirtschaftssystems geht, ist diejenige, die sich in einer Organisationslogik materialisiert (…) Meine These ist: Die Entstehung der informationellen globalen Ökonomie ist durch die Entwicklung einer neuen Organisationslogik charakterisiert, die zu dem gegenwärtigen Prozess des technologischen Wandels in Beziehung steht, aber nicht von ihm abhängig ist. (…) Jedoch manifestiert sich diese Organisationslogik in unterschiedlichen Formen und in diversen kulturellen und institutionellen Kontexten. (…)

Organisatorische Entwicklungslinien in der Neustrukturierung des Kapitalismus und im Übergang vom Industrialismus zum Informationalismus Die wirtschaftliche Neustrukturierung der 1980er Jahre führte in den Wirtschaftsunternehmen zu einer Reihe von Reorganisationsstrategien. (…) 1. Seit Mitte der 1970er Jahre ist zu einschneidenden (industriellen oder sonstigen) Veränderungen in der Organisation der Produktion und der Märkte in der globalen Ökonomie gekommen – aus welchen Gründen auch immer und unabhängig von der Genese der organisatorischen Transformation. 2. Die organisatorischen Veränderungen und die Verbreitung der Informationstechnologie beeinflussten sich gegenseitig, aber sie waren im Großen und Ganzen unabhängig voneinander und gingen im allgemeinen der Verbreitung der Informationstechnologien in Wirtschaftsunternehmen voraus. 3. Grundsätzlich hatten die organisatorischen Veränderungen in ihren unterschiedlichen Formen zum Ziel, die Flexibilität von Produktion, Management und Vermarktung zu steigern und so die Ungewissheit zu meistern, die durch den rasanten Wandel im wirtschaftlichen, institutionellen und technologischen Umfeld des Unternehmens hervorgerufen wurde. 4. Viele der organisatorischen Veränderungen sollten Arbeitsprozesse und Anstellungsverhältnisse durch die Einführung des Modells der schlanken Produktion (lean production) neu bestimmen. Ziel war es, durch die Automatisierung von Arbeitsvorgängen, die Eliminierung bestimmter Aufgaben und die Ausschaltung von Management-Ebenen Arbeitskraft einzusparen. 5. Wissens-Management und Informationsverarbeitung sind für die Leistungsstärke von Organisationen, die in der informationellen globalen Ökonomie operieren von grundlegender Bedeutung. (…)

Organisatorische Trends: o Von der Massenproduktion zur flexiblen Fertigung: (…) vom „Fordismus“ zum „Post-Fordismus“ (…) Dieser Prozess beruhte auf der Fließbandproduktion, die ein standardisiertes Produkt erzeugte. Dies geschah unter den Bedingungen der Kontrolle eines großen Marktes durch eine spezifische Organisationsform: den Großkonzern, der nach den Grundsätzen der vertikalen Integration aufgebaut war und durch eine institutionalisierte soziale und technische Arbeitsteilung. Diese Prinzipien waren 38

eingebettet in Managementmethoden, di als „Taylorismus“ und „wissenschaftliche Arbeitsorganisation“ bezeichnet werden und die sich sowohl Henry Ford als auch Lenin zu eigen gemacht haben. Als die Nachfrage nach Quantität und nach Qualität unvorhersagbar wurde, als sich die Märkte weltweit diversifizierten und daher schwieriger zu kontrollieren waren und als das Tempo des technologischen Wandels Einzweck-Maschinen in der Produktion obsolet machte, erwies sich das System der Massenproduktion als zu starr und zu kostspielig für die Anforderungen der neuen Wirtschaftsform. (…) Die neuen Technologien ermöglichen es, die für die Großkonzerne charakteristischen Fließbänder in leicht programmierbare Produktionseinheiten zu transformieren, die gut auf Marktschwankungen und auf Veränderungen in den technologischen Ausgangsbedingungen reagieren können. So gelingt es, Produktflexibilität und Prozessflexibilität miteinander zu verbinden. o Kleinunternehmen und die Krise des Großkonzerns: Mythos und Wirklichkeit Ein zweiter, anders gearteter Trend, den Analytiker in den letzten Jahren hervorgehoben haben, ist die Krise des Großkonzerns und die Rückkehr kleiner und mittlerer Unternehmen als Träger von Innovation und Quellen zusätzlicher Beschäftigung. (…) Es stimmt also, das Organisationformen kleiner und mittlerer Unternehmen anscheinend dem flexiblen Fertigungssystem der informationellen Ökonomie besonders gut angepasst sind, und es ist gleichzeitig ebenso wahr, dass deren wiederbelebte Dynamik unter die Kontrolle der Großkonzerne gerät, die sich auch in den neuen globalen Ökonomie im strukturellen Zentrum wirtschaftlichen Macht befinden. Wir werden nicht Zeugen des Untergangs der mächtigen Großkonzerne, sondern wir beobachten die Krise des traditionellen Organisationsmodells der Konzerne auf der Grundlage vertikaler Integration und eines hierarchischen, funktionalen Managements: Das System von „Stab und Linie“ mit seiner strikten technischen und sozialen innerbetrieblichen Arbeitsteilung. o „Toyotismus“: Kooperation zwischen Management und Belegschaft, multifunktionale Arbeitskraft, totale Qualitätskontrolle und Reduktion von Ungewissheit Eine dritte Entwicklung betrifft neue Management-Methoden, von denen die meisten von japanischen Firmen ausgingen, obwohl mit einigen dieser Methoden auch andernorts experimentiert wurde, etwa im Volvo-Werk im schwedischen Kalmar. Der beträchtliche Erfolg, den die japanischen Autofirmen bezüglich Produktivität und Konkurrenzfähigkeit erzielt haben, wurde weitgehend auf diese ManagementRevolution zurückgeführt. Deshalb wird in der Wirtschaftsliteratur auch der „Toyotismus“ dem „Fordismus“ als die neue, der globalen Ökonomie und den flexiblen Fertigungssystemen angepasste Gewinnformel gegenübergestellt. (…) Einige Elemente dieses Modells sind gut bekannt: das kan-ban- (oder just in time) System bei der Lagerhaltung, bei dem die Lagerbestände entweder ganz eliminiert oder wesentlich reduziert wurden, indem die Lieferung an den Produktionsort genau zum Zeitpunkt des tatsächlichen Bedarfs und mit den für die Produktionslinie spezifisierten Charakteristika erfolgt; die „totale Produktivitätskontrolle“ der Produkte im Produktionsprozess mit dem Ziel von nahezu null Fehlern und optimaler 39

Ressourcennutzung; die Einbeziehung der Belegschaft in den Produktionsprozess durch Teamwork, dezentralisierte Initiative, größere Entscheidungsautonomie an der Produktionsstätte, Belohnungen für Team-Leistungen und eine flache ManagementHierarchie mit wenig Status-symbolen im Firmenalltag. Kultur mag bei der Entstehung des „Toyotismus“ und vor allem des konsensschaffenden, kooperativen Modells von Teamwork eine wichtige Rolle gespielt haben, aber sie ist sicher kein bestimmendes Element bei dessen Anwendung. Das Modell funktioniert genauso gut außerhalb Japans (…) Tatsächlich haben westliche Managementexperten offenbar einige der wichtigsten organisatorischen Mechanismen übersehen, die dem Produktivitätszuwachs in japanischen Betrieben zugrunde liegen. So hat Ikujiro Nonaka auf der Grundlage seiner Untersuchungen über japanische Großunternehmen ein einfaches und elegantes Modell vorgelegt, um die Wissensproduktion in der Firma zu erklären. Das, was er als „das wissenschaffende Unternehmen“ bezeichnet, beruht auf der organisatorischen Interaktion zwischen „explizitem Wissen“ und „stillem Wissen“ an der Quelle der Innovation. Er meint, dass ein Großteil der in der Firma auflaufenden Information Erfahrungswissen ist und von der Belegschaft bei übermäßig formalisierten Managementabläufen nicht kommuniziert werden kann. Aber die Quellen der Innovation vervielfachen sich, wenn die Organisation in der Lage ist, Brücken zu bauen, um stilles Wissen in explizites Wissen umzuwandeln, explizites in stilles Wissen, Stilles in Stilles und Explizites in Explizites. Auf diese Weise wird nicht nur die Erfahrung der Belegschaft kommuniziert und verstärkt und so die Menge an formalem Wissen innerhalb des Unternehmens erhöht, sondern es kann auch Wissen, das in der Außenwelt entstanden ist, in die stillen Angewohnheiten der Mitarbeiter einbezogen werden und sie so befähigen, ihre eigenen Anwendungen zu erarbeiten und Standardverfahren zu verbessern. In einem Wirtschaftssystem, in dem Innovation eine entscheidende Rolle spielt, wird die organisatorische Fähigkeit, deren Quellen aus allen Formen des Wissens heraus zu vermehren, zur Grundlage des innovativen Unternehmens. Dieser organisatorische Prozess erfordert aber die vollständige Beteiligung der Belegschaft innerhalb des Unternehmens, so dass sie ihr stilles Wissen nicht zu ihrem eigenen Vorteil für sich allein behalten. Er erfordert auch die Stabilität der Belegschaft innerhalb des Unternehmens, denn nur dann ist es für die Einzelnen rational, ihr eigenes Wissen an das Unternehmen zu übertragen und andererseits für das Unternehmen, explizites Wissen unter den Mitarbeitern zu verbreiten. Daher erfordert dieser scheinbar einfache Mechanismus, dessen durchschlagende Konsequenzen bei der Förderung von Produktivität und Qualität in einer Reihe von Fallstudien nachgewiesen worden sind, in Wirklichkeit eine tiefgreifende Transformation der industriellen Beziehungen. Wenn die Informationstechnologie auch in Nonakas „explizite Analyse“ keine große Rolle spielt, so waren wir uns in unseren persönlichen Gesprächen doch einig, dass Online-Kommunikation und computerisierte Speicherkapazitäten zu mächtigen Werkzeugen geworden sind, um die Komplexität der organisatorischen Verknüpfungen zwischen stillem und explizitem Wissen weiter zu entwickeln. Jedoch ist diese Form der Innovation der Entwicklung der Informationstechnologien vorausgegangen und stellte sogar während der letzten beiden Jahrzehnte ein „stilles Wissen“ des japanischen Managements dar, das der Beobachtung ausländischer Experten aus dem Managementbereich entzogen war. Aber es war bei der Steigerung der Leistungsfähigkeit der japanischen Unternehmen in der Tat entscheidend.

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o Vernetzung zwischen Firmen (…) o Strategische Konzern-Allianzen (…) o Der horizontale Konzern und die globalen Geschäftsnetzwerke (…) o Die Krise des vertikalen Unternehmensnetzwerke

Konzernmodells

und

die

Entstehung

der

(…) o Vernetzung der Netzwerke: das Cisco-Modell (…)

Die Informationstechnologie und das Netzwerk-Unternehmen Unter diesen Umständen bieten Kooperation und Vernetzung die einzige Möglichkeit, Kosten und Risiken zu teilen und zugleich mit der ständigen Aktualisierung von Informationen Schritt zu halten. Aber die Netzwerke fungieren auch als gatekeeper. Innerhalb der Netzwerke werden unablässig neue Möglichkeiten geschaffen. Außerhalb der Netzwerke wird dass Überleben immer schwieriger. Unter den Bedingungen schnellen technologischen Wandels sind Netzwerke, nicht Firmen zu den eigentlichen operativen Einheiten geworden. Mit anderen Worten hat sich durch die Interaktion zwischen der Krise und dem Wandel der Organisationsweise und den neuen Informationstechnologien eine neue für die informationelle globale Ökonomie charakteristische Organisationsform herausgebildet: das Netzwerk-Unternehmen. (…) Die erfolgreichen Organisationen sind diejenigen, die auf effiziente Weise Wissen und Prozessinformation hervorbringen können; die sich an die variable Geometrie der globalen Wirtschaft anpassen können; die flexibel genug sein können, um ihre Mittel ebenso schnell zu wechseln, wie sich die Ziele unter dem Druck des schnellen kulturellen, technologischen und institutionellen Wandels ändern; und die zur Innovation fähig sind, weil Innovation zur entscheidenden Waffe im Wettbewerb wird. Diese Charakteristika sind nur in der Tat Merkmale des neuen Wirtschaftssystems, das wir im vorhergehenden Kapitel analysiert haben. In diesem Sinne macht das Netzwerk-Unternehmen die materielle Kultur der informationellen globalen Ökonomie aus: Es transformiert Signale in Waren durch die Verarbeitung von Wissen.

Kultur, Institutionen und ökonomische Organisation: Ostasiatische Unternehmensnetzwerke: o Eine Typologie ostasiatischer Unternehmensnetzwerke o Japan 41

o Korea o China o Kultur, Organisation und Institutionen: Asiatische Wirtschaftsnetzwerke und der Entwicklungsstaat

Multinationale Unternehmen, transnationale Konzerne und internationale Netzwerke (…)

Der Geist des Internationalismus „Erstmals in der Geschichte ist die Grundeinheit der Wirtschaftsorganisation kein Subjekt, weder individuell (als Unternehmer oder Unternehmerfamilie), noch kollektiv (als kapitalistische Klasse, Konzern oder Staat). Wie ich zu zeigen versucht habe, ist diese Einheit das Netzwerk, das aus unterschiedlichen Subjekten und Organisationen besteht und unablässig abgeändert wird in dem Prozess, durch den sich die Netzwerke an stützende Umgebungen und Marktstrukturen anpassen. Was schweißt diese Netzwerke zusammen? Handelt es sich um rein instrumentelle, zufällige Allianzen? Das mag für bestimmte Netzwerke zutreffen, aber die vernetzte Organisationsform muss eine eigene kulturelle Dimension haben. Andernfalls fände die Wirtschaftstätigkeit in einem sozialen und kulturellen Vakuum statt. Eine solche Annahme kann von manchen Teilen der ultrarationalistischen Ökonomie aufrechterhalten werden, aber sie wird durch die historische Erfahrung vollständig widerlegt. Was also ist dieser „ethische Unterbau des Netzwerk-Unternehmens“, dieser „Geist des Informationalismus“? Es ist sicher keine neue Kultur im traditionellen Sinn eines Wertesystems, weil die Vielzahl der Subjekte im Netzwerk und die Unterschiedlichkeit der Netzwerke eine solche vereinheitlichende „Netzwerk-Kultur“ nicht zulassen. Es ist auch kein System von Institutionen, denn wir haben die unterschiedliche Entwicklung des Netzwerk-Unternehmens beobachtet und zwar in einer Reihe unterschiedlicher institutioneller Umgebungen bis zu dem Punkt, an dem sie durch diese Umgebungen zu einem breiten Spektrum von Formen geprägt wurden. Aber es gibt wirklich einen gemeinsamen kulturellen Code in den unterschiedlichen Mechanismen des Netzwerk-Unternehmens. Er besteht aus vielen Kulturen, vielen Werten und vielen Projekten, die den unterschiedlichen Beteiligten an den Netzwerken durch den Kopf gehen und ihre Strategien bestimmen. Dabei wechseln die Strategien im gleichen Tempo wie die Mitglieder des Netzwerkes und folgen der organisatorischen und kulturellen Transformation der Einheiten des Netzwerkes. Es ist tatsächlich eine Kultur, aber eine Kultur des Ephemeren, eine Kultur einer jeden strategischen Entscheidung, ein Flickenteppich von Erfahrungen und Interessen, und keine Charta der Rechte und Pflichten. Es ist eine multifacettierte, virtuelle Kultur, wie in der visuellen Erfahrung von Computern im Cybespace, wo die Realität neu zusammengesetzt wird. Diese Kultur ist kein Phantasiegebilde, sie ist eine materielle Macht, weil sie in jedem Augenblick des Netzwerklebens machtvolle Entscheidungen bestimmt und durchsetzt. Aber sie ist nicht von langer Dauer: Sie wird vom Computer als Rohmaterial vergangener Erfolge und Misserfolge gespeichert. Das NetzwerkUnternehmen lernt, innerhalb dieser virtuellen Kultur zu leben. Jeder Versuch, die Position im Netzwerk als kulturellen Code zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort auszukristallisieren, verdammt das Netzwerk zur Obsoleszenz, weil es für die vom Informationalismus benötigte variable Geometrie zu starr wird. Der „Geist des 42

Informationalismus“ ist die Kultur der „kreativen Zerstörung“, di auf die Geschwindigkeit der lichtelektronischen Schaltkreise beschleunigt wird, die ihre Signale verarbeiten. Schumpeter trifft Weber im Cyberspace des Netzwerk-Unternehmens. Was die möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen dieser neuen Wirtschaftsgeschichte angeht, so findet die Stimme des Meisters 100 Jahre später machtvollen Widerhall: (Die) moderne, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanischmaschineller Produktion gebundene … Wirtschaftsordnung (bestimmt) … heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Treibwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen – mit überwältigendem Zwange… Nur wie „ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte“, sollte… die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern (der) Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. … Heute ist (der) Geist (der Askese) … aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. … Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaften Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die „letzten Menschen“ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“ (Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, 1963, 203 f) (zuerst 190405)“

Die Kultur der realen Virtualität „Um 700 v.Chr. wurde in Griechenland eine große Erfindung gemacht: das Alphabet. Nach Ansicht führender Altertumswissenschaftler wie Havelock, war diese konzeptionelle Technologie die Grundlage für die westliche Entwicklung der Philosophie und Wissenschaft, wie wir sie heute kennen. Sie baute eine Brücke zwischen mündlicher Rede und Sprache. Damit trennte sich das Gesprochene vom Sprecher und ermöglichte einen mit Begriffen arbeitenden Diskurs. Dieser historische Wendepunkt wurde durch eine etwa 3.000 Jahre dauernde Entwicklung oraler Tradition und nicht-alphabetischer Kommunikation vorbereitet, bis die griechische Gesellschaft das erreichte, was Havelock als einen neuen Bewußtseinszustand bezeichnet: den „alphabetischen Verstand“, der die qualitative Transformation der menschlichen Kommunikation auslöste. Zu verbreiteter Alphabetisierung kam es erst nach der Erfindung und Verbreitung der Druckerpresse und der Papierherstellung viele Jahrhunderte später. Aber es war das Alphabet, das im Westen die geistige Infrastruktur für kumulative, wissensbasierte Kommunikation schuf. Die neue alphabetische Ordnung ermöglichte nun zwar den rationalen Diskurs, sie trennte jedoch die schriftliche Kommunikation vom audiovisuellen System der Symbole und Wahrnehmungen, das so entscheidend wichtig ist für einen voll entwickelten Ausdruck des menschlichen Verstandes. Die implizite und explizite Festlegung einer sozialen Hierarchie zwischen schriftlicher Schriftkultur und audiovisueller Kultur, die Gründung der menschlichen Praxis auf den schriftlichen Diskurs, hatte ihren Preis. Es war die Verdrängung 43

der Welt der Töne und Bilder in die Hintertreppenexistenz der Künste, die sich mit dem privaten Bereich der Gefühle und mit der öffentlichen Welt der Liturgie berfassten. Natürlich hat die audiovisuelle Kultur im 20. Jahrhundert historische Rache genommen, indem sie zuerst mit Film und Radio und dann mit dem Fernsehen den Einfluss der schriftlichen Kommunikation auf die Herzen und Seelen der meisten Menschen verschüttete. Und diese Spannung zwischen der edlen alphabetischen Kommunikation und der sinnlichen, nicht reflektierenden Kommunikation ist ja auch der Grund für die Frustration vieler Intellektueller über den Einfluss des Fernsehens, und sie beherrscht noch immer die gesellschaftliche Kritik an den Massenmedien. Eine technologische Transformation ähnlichen historischen Ausmaßes findet 2.700 Jahre später statt, nämlich die Integration verschiedener Kommunikationsweisen in ein interaktives Netzwerk. Mit anderen Worten: die Herausbildung eines Hypertextes und einer MetaSprache, die erstmals in der Geschichte die schriftlichen, oralen und audiovisuellen Spielarten der menschlichen Kommunikation in dasselbe System integriert. (…)

Von der Gutenberg-Galaxis zur McLuhan-Galaxis: der Aufstieg der Kultur der Massenmedien Die Verbreitung des Fernsehens während der drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – je nach Land zu verschiedenen Zeiten und mit wechselnder Intensität – schuf eine neue Galaxis der Kommunikation, wenn ich mich hier der McLuhanschen Terminologie bedienen darf. Nicht, dass die anderen Medien verschwunden wären, aber sie wurden umstrukturiert und neu organisiert in ein System, dessen Herz aus Elektronikröhren bestand und dessen anziehendes Gesicht ein Fernsehbildschirm war. Das Radio verlor seine zentrale Bedeutung, gewann aber an Allgegenwärtigkeit und Flexibilität. Es passte seine Sendeformate und Themen den Rhythmen des alltäglichen Lebens der Menschen an. Die Filme änderten sich und wurden auf ein Fernsehpublikum zugeschnitten, mit Ausnahme der staatlich geförderten Kunst und der Spezialeffekt-Shows auf großen Leinwänden. Zeitungen und Zeitschriften spezialisierten sich, indem sie ihre Inhalte vertieften oder sich stärker an ihrem Publikum orientierten und zugleich darauf achteten, strategische Information für das beherrschende Medium TV zu liefern. Bücher blieben Bücher, obwohl hinter vielen Büchern der unbewusste Wunsch stand, zum TV-Drehbuch zu werden; und die Beststellelisten füllten sich bald mit Titeln, die sich auf TV-Figuren oder durch das Fernsehen populär gemachte Themen bezogen. (…) Das TV-beherrschte System konnte man zweifellos als Massenmedium charakterisieren. Eine ähnliche Botschaft wurde von ein paar Sendern gleichzeitig für ein Publikum von Millionen Empfängern ausgestrahlt. Deshalb wurden Inhalte und Format der Botschaften auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zugeschnitten. (…) Man könnte annehmen, dass die weitverbreitete, machtvolle Präsenz solch unterschwellig provozierender Botschaften aus Ton und Bild dramatische Folgen für das Sozialleben hat. Der größte Teil der verfügbaren Forschung weist aber in die entgegengesetzte Richtung. (…) Außerdem scheint der Dauerbeschuss mit Werbebotschaften durch die medien nur begrenzte Auswirkungen zu haben. (…) Das Schlüsselproblem besteht darin, dass die Massenmedien zwar ein EinbahnKommunikationssystem sind, dass aber der tatsächliche Kommunikationsprozesss dies nicht ist. Er ist bei der Interpretation der Botschaft vielmehr abhängig von der Interaktion zwischen Sender und Empfänger. Die Forschung hat Belege für die Bedeutung dessen gefunden, was Wissenschaftler als „aktives Publikum“ bezeichnen. (…) 44

Die Konsequenz dieser Analyse ist, dass „das einzige, was wir wissen ist, dass es keine Massenkultur in dem Sinne gibt, wie sie die apokalyptischen Soziologen der Massenmedien sich vorgestellt haben, weil das Massenmedienmodell sich mit anderen Modellen überschneidet (etwa mit antiken Spuren, Klassenkultur, Aspekten der Hochkultur, die über die Schule verbreitet wurden usw.)“ (Umberto Eco). Während dieser Aussage aus der Sicht der Geschichtswissenschaft und der empirischen Medienwissenschaft eine Alltagsweisheit ist, unterminiert dies doch, wenn es wir von mir ernstgenommen wird, einen grundlegenden Aspekte der kritischen Sozialtheorie von Marcuse bis Habermas. Es ist eine der Ironien der Ideegeschichte, dass gerade jene Denker, die für soziale Veränderung eintreten, die Menschen oft lediglich als passive Aufnahmebehälter für ideologische Manipulation betrachten, was eigentlich die Vorstellung von sozialen Bewegungen und sozialer Veränderung ausschließt, es sei denn unter den Bedingungen außergewöhnlicher, einmaliger Ereignisse, deren Ursprünge außerhalb des sozialen Systems liegen. (…) Die Betonung der Autonomie des menschlichen Verstandes und der einzelnen kulturellen Systeme beim Eintragen des eigentlichen Sinnes der empfangenen Botschaften soll jedoch nicht bedeuten, die Medien seien neutrale Institutionen, oder ihr Einfluss sei unerheblich. Die empirischen Studien zeigen, dass die Medien bei der Beeinflussung des Verhaltens keine unabhängigen Variablen sind. Ihre expliziten oder unterschwelligen Botschaften wrden von Individuen in spezifischen sozialen Zusammenhängen ausgestaltet und weiterverarbeitet. Dadurch wird das, was der beabsichtigte Effekt der Botschaft war, modifiziert. Aber die Medien und besonders die Audiovisuellen Medien in unserer Kultur, sind in der Tat die Grundsubstanz von Kommunikationsprozessen. Wir leben inmitten einer Medienwelt, und die meisten unserer symbolischen Stimuli kommen aus den Medien. (…) Die wahre Macht des Fernsehens besteht, wie Eco und Postman gleichermaßen betont haben, darin, dass es die Bühne für alle Prozesse schafft, die der Gesellschaft allgemein vermittelt werden sollen, von der Politik über die Wirtschaft bis zu Sport und Kunst. Das Fernsehen gestaltet die Sprache der gesellschaftlichen Kommunikation. (…) Der Preis, der gezahlt werden muss, damit eine Botschaft ins Fernsehen kommt, besteht jedoch nicht nur in Geld oder Macht. Er besteht darin, zu akzeptieren, dass man in einem multisemantischen Text eingemengt wird, dessen Syntax äußerst nachlässig ist. So verwischen sich in der Sprache des Fernsehens sämtliche Grenzen: von Information und Unterhaltung, Bildung und Propaganda oder Entspannung und Hypnose. Weil der Kontext des Zuschauens für die Zuschauer kontrollierbar und vertraut ist, werden alle Botschaften in den beruhigenden Modus des Heims oder des Quasi-Heims (beispielsweise Sportbars als einer der wenigen wahren noch vorhandenen erweiterten Familienzusammenhänge…) absorviert. (…) In diesem grundlegenden Sinn hat das System der Massenmedien die meisten der Perspektiven eingelöst, die McLuhan Anfang der 1960er Jahre skizziert hat: Es war die McLuhan-Galaxis. Aber die Tatsache, dass das Publikum kein passives Objekt, sondern ein interaktives Subjekt ist, eröffnete den Weg zu seiner Differenzierung und zur nachfolgenden Transformation der Medien von der Massenkommunikation zur Segmentierung, situationsbedingten Anpassung und Individualisierung von dem Moment an, als Technologie, Konzerne und Institutionen so etwas erlaubten.

Die neuen Medien und die Differenzierung des Massenpublikums Während der 1980er Jahre transformierten die neuen Technologien die Welt der Medien. Zeitungen wurden geschrieben, redigiert und an entfernten Orten gedruckt. (…) Die Leute fingen an, wichtige Ereignisse selbst aufzuzeichnen, angefangen vom Urlaub bis hin zu Familienfeiern und stellten so über das Fotoalbum hinaus ihre eigenen Bilder her (…) 45

Aber das entscheidende Ereignis, was zu verstärkter Differenzierung führte, war die Vervielfachung von Fernsehkanälen. Die Entwicklung der Technologie des Kabelfernsehens, die in den 90er Jahren durch Lichtleitertechnik und Digitalisierung vorangebracht wurde, und der direkte Satellitenfunk erweiterten das Übertragungsspektrum drastisch. (…) Aufgrund der Vielfalt der Medien und der Möglichkeit, das Publikum gezielt anzusprechen, können wir deshalb sagen, dass in dem neuen Mediensystem die Botschaft das Medium ist. Das heißt: Die Eigenschaften der Botschaft formen die Eigenschaften des Mediums. Wenn z.B. eine Botschaft darin besteht, für die musikalische Umgebung von Teenagern zu sorgen – eine sehr explizite Botschaft – so wird MTV auf die Riten und die Sprache dieses Publikums zugeschnitten, und zwar nicht nur bezüglich der Inhalte, sondern in der gesamten Organisation des Senders sowie in der Technologie und dem Design der BildProduktion/Verbreitung. Dagegen erfordert die Produktion eines rund um die Uhr laufenden weltweiten Nachrichtendienstes eine ganz andere Inszenierung, Programmierung und Verbreitungsweise, etwa Wetterberichte globaler und kontinentaler Reichweite. Dies ist tatsächlich die Gegenwart und die Zukunft des Fernsehens: Dezentralisierung, Diversifizierung und Anpassung an Konsumentenbedürfnisse. Innerhalb der erweiterten Parameter der Sprache McLuhans form die Botschaft das Medium – das immer noch als solches funktioniert – unterschiedliche Medien für unterschiedliche Botschaften. Die Diversifizierung von Botschaften und Medien bedeutet für Großkonzerne und Regierungen aber nicht den Verlust der Kontrolle über das Fernsehen. Vielmehr war während des letzten Jahrzehnts das Gegenteil zu beobachten. Mit der Bildung von Mega-Gruppen und strategischen Allianzen zur Sicherung von Marktanteilen in einem Markt, der sich grundlegend veränderte, kam es zu einem kräftigen Zustrom von Investitionen in den Kommunikationsbereich. (…)

Computervermittelte Kommunikation, institutionelle Kontrolle, soziale Netzwerke und virtuelle Gemeinschaften Die Geschichtsschreibung wird festhalten, dass die beiden ersten Experimente großen Stils im Bereich dessen, was Ithiel de Sola Pool als „Freiheitstechnologien“ bezeichnet, vom Staat ausgingen: der französische Minitel als Gerät, um Frankreich in die Informationsgesellschaft zu lenken; und das amerikanische ARPANET, der Vorläufer des Internet, als militärische Strategie, um es Kommunikationsnetzwerken zu ermöglichen, einen nuklearen Schlag gegen die Kommando- und Kontrollzentren zu überstehen. (…)

Die Minitel-Story: l’état et l’amour (…)

Die Internet-Konstellation (…) Trotz aller Anstrengungen, das Internet und seine zuleitenden Systeme zu regulieren, zu privatisieren und zu kommerzialisieren sind das Internet und die CMC-Netzwerke innerhalb und außerhalb des Internet durch ihre Allgegenwart, ihre vielgestaltige Dezentralisation und ihre Flexibilität charakterisiert. Sie breiten sich aus wie Kolonien von Mikroorganismen. Sie werden in zunehmendem Maße Ausdruck kommerzieller Interessen sein und ebenso die Logik des Controlling der großen öffentlichen und privaten Organisationen auf den gesamten 46

Bereich der Kommunikation ausdehnen. Aber im Unterschied zu den Massenmedien der McLuhan-Galaxis besitzen sie technologisch und kulturell eingebettete Eigenschaften von Interaktivität und Individualisierung. Aber übersetzen sich diese Möglichkeiten in neue Formen der Kommunikation? Was sind die kulturellen Attribute, die sich aus dem Prozess der elektronischen Interaktion ergeben? Wenden wir uns der Untersuchung des dürftigen empirischen Materials zu diesen Fragen zu.

Die interaktive Gesellschaft Die durch das Internet vermittelte Kommunikation ist ein allzu neues gesellschaftliches Phänomen, als dass die wissenschaftliche Forschung schon zu festen Schlussfolgerungen über ihre gesellschaftliche Bedeutung hätte kommen können. (…) Howard Rheingold hat in seinem wegweisenden Buch Virtual Communities den Ton der Debatte vorgegeben und entschieden für die Geburt einer neuen Form von Gemeinschaft argumentiert, die Menschen online um gemeinsame Werte und Interessen zusammenführt. (…) Der legendäre John Perry Barlow, Rocksänger, Mitbegründer der libertären Electronic Frontier Foundation, Internet-Prophet und Verfechter humanitärer Ziele, hoffte, das „wir jetzt einen Raum schaffen, in dem die Menschen des Planeten (eine neue) Art von kommunikativer Beziehung haben können: Ich möchte in der Lage sein, vollständig mit dem Bewusstsein zu kommunizieren, das versucht, mit mir zu kommunizieren.“ (…) Auf der anderen Seite haben Sozialkritiker wie Mark Slouka die Enthumanisierung der sozialen Beziehungen gegeißelt, die durch die Computer bewirkt wird, da das Leben online als einfacher Fluchtweg aus den wirklichen Leben erscheint. (…) In einem Versuch, die verwirrende Unterschiedlichkeit des Materials zu ordnen, haben Barry Wellman, der führende empirische Sozialforscher auf dem Gebiet der Soziologie des Internet, und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einer Artikelserie 1996-1999 die wesentlichen Ergebnisse zur Entstehung virtueller Gemeinschaften im Internet anhand einer großeen Vielfalt von Quellen analysiert. Wellman will uns mit seinem zentralen Argument daran erinnern, dass „virtuelle Gemeinschaften“ „physischen Gemeinschaften“ nicht notwendig entgegengesetzt sind: Sie sind unterschiedliche Formen von Gemeinschaft mit spezifischen Regeln und Dynamiken, die mit anderen Gemeinschaftsformen interagieren. Zudem bezieht sich die Sozialkritik allzu oft implizit auf eine idyllische Vorstellung von Gemeinschaft als eng begrenzte, räumlich definierte Kultur von Unterstützung und Zugehörigkeit, die vermutlich in der ländlichen Gesellschaft nie existiert hat und in den fortgeschrittenen industrialisierten Ländern sicherlich verschwunden ist. (…) Wellman und Gulia zeigen, dass ebenso wie in physischen, personellen Netzwerken die meisten Verbindungen in virtuellen Gemeinschaften spezialisiert und diversifiziert sind, weil die Leute ihre eigenen „persönlichen Ordner“ aufbauen. Internetnutzern schließen sich Netzwerken und Online-Gruppen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Werte an, und weil sie vieldimensionale Interessen haben, sind auch ihre Online-Mitgliedschaften vielfältig. Mit der Zeit leisten dann jedoch viele Netzwerke, die instrumentell und spezialisiert angefangen haben, auch persönliche, materielle und affektive Unterstützung. (…) Eine zentrale Unterscheidung in der Analyse von Soziabilität ist die zwischen schwachen und starken Verbindungen. Das Netz eignet sich besonders gut zur Entwicklung einer Vielzahl schwacher Verbindungen. Schwache Verbindungen sind nützlich, um zu niedrigen Kosten Informationen bereitzustellen und Chancen zu eröffnen. Der Vorzug des Netzes 47

besteht darin, dass es die Herstellung schwacher Verbindungen zu Fremden im Rahmen eines egalitären Interaktionsmusters erlaubt, in dem soziale Charakteristika weniger Einfluss haben, wenn es darum geht, den Rahmen der Kommunikation abzustecken oder sie gar zu blockieren. Tatsächlich fördern schwache Verbindungen offline wie online Kontakte zwischen Menschen mit unterschiedlichen sozialen Eigenschaften und erweitern so die Reichweite der Soziabilität bis jenseits der gesellschaftlich definierten Grenzen von IchIdentifikationen. In diesem Sinne kann das Internet durchaus beitragen, soziale Bindungen in einer Gesellschaft auszuweiten, die sich in einem schnellen Prozess der Individualisierung und des Rückgangs öffentlichen Engagements zu befinden scheint. Die virtuellen Gemeinschaften scheinen stärker zu sein, als ihnen das von Beobachtern gewöhnlich zugetraut wird. (…) Was die Auswirkungen der Kommunikation über das Internet für die physische Intimität und Soziabilität angeht, so meinen Wellman und seine Arbeitsgruppe, die Befürchtungen über eine Verarmung des sozialen Lebens seien fehl am Platze. Sie verweisen auf die Tatsache, dass es kein Nullsummenspiel gibt und dass in Wirklichkeit in einigen der von ihnen untersuchten Netzwerke mehr Internet zu mehr Verbindungen, einschließlich physischer Verbindungen führt. (…) Sind also am Ende virtuelle Gemeinschaften wirkliche Gemeinschaften? Ja und nein. Sie sind Gemeinschaften, aber keine physischen, und sie folgen nicht denselben Mustern von Kommunikation und Interaktion wie physischen Gemeinschaften. Aber sie sind nicht „unwirklich“, sie funktionieren vielmehr auf einer anderen Wirklichkeitsebene. Sie sind interpersonelle Sozialnetzwerke, die zumeist auf schwachen Verbindungen beruhen, hochgradig diversifiziert und spezialisiert sind, es aber immer noch schaffen, durch die Dynamik anhaltender Interaktion Gegenseitigkeit und Unterstützung hervorzubringen. In der Formulierung von Wellman sind sie nicht Imitate anderer Lebensformen, sondern haben ihre eigene Dynamik: Das Netz ist das Netz. Sie überwinden Entfernungen zu niedrigen Kosten, sie sind gewöhnlich asynchroner Natur, sie kombinieren die schnellen Verbreitungsmöglichkeiten der Massenmedien mit der durchgängigen Präsenz persönlicher Kommunikation und sie ermöglichen Mitgliedschaft in vielen Teilgemeinschaften. Übrigens existieren sie nicht in Isolation von anderen Formen von Sozialität. Sie verstärken die Tendenz zur „Privatisierung der Soziabilität“ – also zum Umbau der Sozialnetzwerke um die Einzelpersonen herum, zur Entwicklung personeller Gemeinschaften in physischer Form ebenso wie online. Cyberlinks geben Menschen die Gelegenheit zu persönlichen Kontakten, die sonst ein begrenzteres gesellschaftliches Leben hätten, weil ihre Familien- und Freundschaftsbindungen zunehmend räumlich verstreut sind. (…)

Die große Fusion: Multimedia als symbolische Umwelt In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begann die Herausbildung eines neuen Kommunikationssystems aus der Fusion der globalisierten, maßgeschneiderten Massenmedien und der computervermittelten Kommunikation. Wie ich oben erwähnt habe, ist das neue System durch die Integration unterschiedlicher Medien und durch sein interaktives Potenzial gekennzeichnet. Multimedia, wie das neue System hastig etikettiert wurde, erweiterte dass Gebiet der elektronischen Kommunikation auf den gesamten Bereich des Lebens, vom Heim bis zum Arbeitsplatz, von den Schulen bis zu den Krankenhäusern, von der Unterhaltung bis zum Reisen. (…) 48

Insgesamt scheint Multimedia in Europa wie in Amerika und Asien in seinem frühen Stadium ein soziales/kulturelles Raster zu stützen, das durch die folgende Merkmale gekennzeichnet ist. Erstens weitverbreitete soziale und kulturelle Differenzierung, was zur Segmentierung der Nutzer/Betrachter/Leser/Hörer führt. Die Botschaften sind nicht nur entsprechend den Senderstrategien nach Märkten segmentiert, sondern sie werden auch in steigendem Maße von den Nutzern der Medien, unter Ausschöpfung der interaktiven Möglichkeiten gemäß ihren Interessen diversifiziert. Wie einige Experten es formulieren, gilt in dem neuen System “prime time is my time“. Die Herausbildung virtueller Gemeinschaften ist nur eine der Ausdrucksformen dieser Differenzierung. Zweitens zunehmende Stratifikation zwischen den Nutzern. Nicht nur wird die Wahl der Multimedia für diejenigen beschränkt sein, die Zeit und Geld für den Zugang haben, sowie auf Länder und Regionen mit ausreichendem Marktpotenzial, sondern die Unterschiede nach Kultur/Bildung werden entscheidend dafür sein, wie jeder Nutzer das Medium zu seinem Vorteil einsetzen kann. (…) Drittens führt die Kommunikation von Botschaften aller Art innerhalb desselben Systems selbst dann, wenn das System interaktiv und selektiv ist – sogar eben aus diesem Grund – zur Integration aller Botschaften in ein gemeinsames kognitives Raster. Der Zugriff auf audiovisuelle Nachrichten, Bildung und Unterhaltung über dasselbe Medium, wenn auch aus unterschiedlichen Quellen, treibt das Verschwimmen der Inhalte, zu dem es bereits im Massenfernsehen gekommen ist, noch einen Schritt weiter. Aus der Perspektive des Mediums tendieren unterschiedliche Kommunikationsweisen dazu, Codes voneinander auszuborgen: Interaktive Bildungsprogramme sehen aus wie Videospiele; Nachrichtensendungen sind aufgebaut wie audiovisuelle Shows; Übertragungen von Gerichtsverhandlungen werden wie Seifenopern gesendet; Popmusik wird für MTV komponiert; Sportereignisse werden choreografisch für die dem Spielort fernen Zuschauer gestaltet, so dass ihre Botschaften sich immer weniger von actionreichen Spielfilmen unterscheiden lassen; und Ähnliches mehr. Aus der Nutzerperspektive (in einem interaktiven System sowohl als Sender wie als Empfänger) reduziert die Auswahl zwischen verschiedenen Botschaften in derselben Kommunikationsweise mit leichtem Hinundherwechseln von einer zur anderen die mentale Distanz zwischen verschiedenen Quellen kognitiver und sensorischer Beteiligung. Hier geht es nicht darum, dass das Medium die Botschaft wäre: Die Botschaften sind die Botschaften. Und weil sie ihre Unterschiedlichkeit als Botschaften beibehalten, aber in ihrem symbolischen Kommunikationsprozess miteinander vermengt sind, verwischen sie dabei ihre Codes und schaffen so einen semantischen Kontext, der mit seinen vielfältigen Facetten aus einer zufälligen Mischung verschiedener Bedeutungen besteht. Schließlich ist es vielleicht der wichtigste Charakterzug von Multimedia, dass sie in ihrem Bereich die meisten kulturellen Ausdrucksformen in all ihrer Verschiedenheit einfangen. Ihr Auftreten ist gleichbedeutend mit dem Ende der Trennung oder selbst der Unterscheidung zwischen audiovisuellen und gedruckten Medien, populärer und gelehrter Kultur, Unterhaltung und Information, Bildung und Überredung. Jede kulturelle Ausdrucksform, von der Schlechtesten bis zur Beten, von der Allerelitärsten bis zur Populärsten kommt in diesem digitalen Universum zusammen, das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Manifestationen des kommunikativen Verstandes zu einem gigantischen, nicht-historischen Hypertext verbindet. Auf diese Weise bauen sie eine neue symbolische Umwelt auf. Sie machen die Virtualität zu unserer Wirklichkeit.

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Die Kultur der realen Virtualität Kulturen bestehen aus Kommunikationsprozessen. Und wie uns Roland Barthes und Jean Baudrillard vor vielen Jahren gelehrt haben, beruhen alle Formen der Kommunikation auf der Produktion und Konsumtion von Zeichen. Es gibt daher keine Trennung zwischen der „Wirklichkeit“ und ihrer symbolischen Repräsentation. In allen Gesellschaften hat die Menschheit in einer symbolischen Umwelt existiert und durch sie gehandelt. Das historisch spezifische an dem neuen Kommunikationssystem, das uns die elektronische Integration aller Kommunikationsweisen von der typografischen bis zur multisensorischen herum organisiert ist, ist daher nicht die Einführung einer virtuellen Realität, sondern die Konstruktion realer Virtualität. Ich will das mit Hilfe des Wörterbuches erklären, demzufolge bedeutet „virtuell: etwas ist so in der Praxis, jedoch nicht in striktem Sinne oder dem Namen nach“, und „real: tatsächlich existierend“. (Oxford Engish of Current English (1992); vgl. die Definition im „Deutschen Wörterbuch (=Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 32, 1981): „virtuell: entsprechen seiner Anlage als Möglichkeit enthalten, die Möglichkeit zu etwas in sich begreifend“; d.Ü.). Deshalb war die erfahrene Wirklichkeit immer virtuell, weil sie immer durch Symbole wahrgenommen wurde, die der Praxis einen Sinn vorgeben, welcher sich einer strikten semantischen Definition entzieht. Es ist genau diese Fähigkeit aller Formen der Sprache, Zweideutigkeit in ihrem Code auszudrücken und verschiedene Interpretationen zu ermöglichen, die kulturelle Ausdrucksformen vom formalen/logischen/mathematischen Schließen unterscheidet. Gerade durch den polysemen Charakter unserer Diskurse manifestieren sich die Komplexität und selbst die Widersprüchlichkeit der Botschaften des menschlichen Verstandes. Diese Bandbreite kultureller Variation der Bedeutung von Botschaften ermöglicht es uns, miteinander in einer Vielzahl von expliziten und impliziten Dimensionen zu interagieren. Wenn also Kritiker der elektronischen Medien argumentieren, die neue symbolische Umwelt repräsentiere keine „Realität“, so beziehen sie sich implizit auf eine in absurder Weise primitive Vorstellung von einer „uncodierten“ realen Erfahrung, die es nie gegeben hat. Alle Wirklichkeiten werden durch Symbole kommuniziert. Und in der menschlichen, interaktiven Kommunikation sind unabhängig vom Medium alle Symbole im Hinblick auf den ihnen zugeschriebenen semantischen Sinn etwas verschoben. In gewiser Weise wird jede Realität virtuell wahrgenommen. Was ist das nun für ein Kommunikationssystem, das im Unterschied zu früherer historischer Erfahrung reale Virtualität hervorbringt? Es ist ein System, in dem die Wirklichkeit selbst (d.h. die materielle/symbolische Existenz der Menschen) vollständig eingefangen ist, völlig eingetaucht in eine Umgebung virtueller Bilder, in der Welt des Glaubenmachens, in der die Erscheinungen nicht nur bloß auf dem Bildschirm sind, durch den die Erfahrung kommuniziert wird, sondern in der sie die Erfahrung werden. Alle Botschaften aller Art werden in das Medium eingeschlossen, weil das Medium so umfassend, so diversifiziert, so formbar geworden ist, dass die ganze menschliche Erfahrung in denselben Multimedia-Text absorbiert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in jenen einzigen Punkt des Universums, den Jorge Borges „Aleph“ genannt hat. (…) Was das neue, auf der digitalisierten, vernetzten Integration multipler Kommunikationsweisen beruhende Kommunikationssystem charakterisiert, ist seine umfassende Einbeziehung jeglicher kultureller Ausdrucksform. Wegen seiner Existenz funktionieren alle Arten von Botschaften in dem neuen Gesellschaftstyp nach einem binären Code: Präsenz/Absenz im Multimedia-Kommunikationssystem. Nur die Präsenz in diesem integrierten System erlaubt die Kommunizierbarkeit und die Sozialisierung der Botschaft. Alle anderen Botschaften werden auf die individuelle Vorstellung oder auf zunehmend marginalisierte, auf persönlichen Kontakten beruhende Subkulturen reduziert. Aus der Perspektive der Gesellschaft ist die Kommunikation auf elektronischer Grundlage (typografisch, audiovisuell oder 50

computervermittelt) gleichbedeutend mit Kommunikation. Daraus folgt jedoch nicht, dass es zu einer Homogenisierung der kulturellen Ausdrucksformen und zu einer vollständigen Herrschaft einiger weniger zentraler Sender über die Codes kommt. Das neue Kommunikationssystem ist ja gerade wegen seiner Diversifizierung, seiner Multimodalität und seiner Vielseitigkeit in der Lage, alle Formen des Ausdrucks ebenso zu umfassen und zu integrieren, wie die Vielfalt von Interessen, Werten und Vorstellungen, einschließlich des Ausdrucks sozialer Konflikte. Aber der Preis, den es kostet, in das System einbezogen zu werden, besteht in der Anpassung an seine Logik, an seine Sprache, an seine Eingangspunkte, an seine Kodierung und Dekodierung. Deshalb ist es im Hinblick auf soziale Folgen unterschiedlicher Art so wichtig, dass es zur Entwicklung eines horizontalen Kommunikationsnetzwerkes mit vielen Knoten vom Typus des Internet kommt und nicht zu einem zentral gesendeten Multimedia-System wie in der Konfiguration des Video-ondemand. Das Installieren von Eingangsbarrieren zu diesem Kommunikationssystem und das Einrichten von Passwörtern für die Zirkulation und Verbreitung von Nachrichten innerhalb des gesamten Systems sind für die neue Gesellschaft kulturelle Entscheidungsschlachten. Deren Ergebnis ist vorentscheidend für das Schicksal der symbolisch vermittelten Konflikte, die in Zukunft in dieser neuen historischen Umwelt ausgetragen werden. Die Entscheidung darüber, wer in der von mir oben erläuterten Terminologie, die Interagierenden und wer die Interagierten in diesem neuen System sind, wird weitgehend den Rahmen für das Herrschaftssystem und für die Prozesse der Befreiung in der informationellen Gesellschaft bestimmen. Die Einbeziehung der meisten kulturellen Ausdrucksformen in das integrierte Kommunikationssystem, das auf digitalisierter elektronischer Produktion, Distribution und Austausch von Signalen beruht, hat einschneidende Folgen für die gesellschaftlichen Formen und Prozesse. Auf der einen Seite schwächt dies beträchtlich die symbolische Macht traditioneller Sender, die außerhalb des Systems stehen und sich auf dem Weg über historisch codierte gesellschaftliche Gewohnheiten einschalten: Religion, Moral, Autorität, traditionelle Werte, politische Ideologie. Nicht dass sie ganz verschwänden, aber sie werden geschwächt, es sei denn, sie codieren sich neu innerhalb des neuen Systems, wo ihre Durchschlagskraft sich durch die elektronische Materialisierung spirituell übertragener Angewohnheiten vervielfacht: Elektronische Prediger und interaktive fundamentalistische Netzwerke sind in unseren Gesellschaften eine effizientere und durchdringendere Form der Indoktrination, als die von Person zu Person verlaufende Vermittlung einer fernen, charismatischen Autorität. Aber weil sie die Koexistenz der transzendentalen Botschaften mit Pornografie on-demand, Seifenopern und chat-lines innerhalb desselben Systems zulassen müssen, erobern überlegene spirituelle Mächte zwar immer noch Seelen, aber sie verlieren ihren übermenschlichen Status. Der letzte Schritt der Säkularisierung der Gesellschaft folgt, auch wenn er manchmal die paradoxe Form des demonstrativen Konsums von Religion unter allen möglichen Gattungs- und Markennamen annimmt. Die Gesellschaften sind endgültig und wahrhaft entzaubert, weil alle Wunder online zu haben sind und zu selbst-konstruierten Vorstellungswelten kombiniert werden können. Andererseits transformiert das neue Kommunikationssystem Raum und Zeit, die fundamentalen Dimensionen des menschlichen Lebens radikal. Örtlichkeiten werden entkörperlicht und verlieren ihre kulturellen, historische und geografische Bedeutung. Sie werden in funktionale Netzwerke integriert, oder auch in Collagen von Bildern. Dadurch entsteht ein Raum der Ströme anstelle eines Raums der Orte. Die Zeit wird in dem neuen Kommunikationssystem ausradiert, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft programmiert werden können, um miteinander in ein und derselben Botschaft zu interagieren. Der Raum der Ströme und die zeitlose Zeit sind die materiellen Grundlagen einer neuen Kultur, welche die Verschiedenheit der historisch überkommenen Systeme der Repräsentation 51

überschreitet und in sich einschließt: die Kultur der realen Virtualität, wo Glaubenmachen Glauben an das Machen ist. (…) „Wir sind gerade eben im Begriff, in ein neues Stadium einzutreten, in dem die Kultur sich auf Kultur bezieht, nachdem die Natur bis zu einem Punkt verdrängt worden ist, dass Natur künstlich als kulturelle Form wiederbelebt(„bewahrt“) wird: Dies ist die eigentliche Bedeutung der Umweltbewegung: Die Natur als eine ideale kulturelle Form zu rekonstruieren. Wegen der Konvergenz zwischen historischer Evolution und technologischem Wandel sind wir in ein rein kulturelles Muster sozialer Interaktion und gesellschaftlicher Organisation eingetreten. Dies ist der Grund, warum Information als ein Schlüsselelement unserer gesellschaftlicher Organisation ist und warum Ströme von Botschaften und Bildern zwischen Netzwerken den roten Faden unserer Gesellschaftsstruktur bilden. Das soll nicht heißen, die Geschichte sei in der glücklichen Versöhnung der Menschheit mit sich selbst an ihr Ende gelangt. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die Geschichte beginnt gerade erst, wenn wir Geschichte als den Augenblick verstehen, zu dem nach Jahrtausenden einer vorgeschichtlichen Schlacht mit der Natur – erst ums Überleben, dann um ihre Unterwerfung – unser Gattung das Niveau an Wissen und sozialer Organisation erreicht hat, das es uns erlauben wird, in einer vorwiegend gesellschaftlichen Welt zu leben. Es ist der Anfang einer neuen Existenz und wahrhaftig der Anfang eines neuen Zeitalters, des Informationszeitalters. Es ist gekennzeichnet durch die Autonomie der Kultur gegenüber den materiellen Grundlagen unserer Existenz. Aber das ist nicht zwangsläufig ein vergnüglicher Augenblick. Denn endlich allein in unserer menschlichen Welt, werden wir uns selbst im Spiegel der historischen Wirklichkeit betrachten müssen. Und es könnte sein, dass uns dieser Anblick nicht gefällt.“ (S. 536)

II. Die Macht der Identität Informationelle Politik und die Krise der Demokratie Das Verschwimmen der Grenzen des Nationalstaates bringt Unklarheiten für die Definition von Staatsbürgerschaft mit sich. Das Fehlen eines eindeutigen Sitzes der Macht verwässert die soziale Kontrolle und lässt die politischen Herausforderungen diffus erscheinen. Der Aufstieg des Kommunalismus in seinen unterschiedlichen Formen schwächt des Prinzip des politischen Teilens, auf dem die demokratische Politik beruht. Die zunehmende Unfähigkeit des Staates, die Kapitalströme zu kontrollieren und soziale Sicherheit zu garantieren vermindert seine Bedeutung für die durchschnittlichen Bürgerinnen und Bürger. Die Bevorzugung lokaler Institutionen des Regierens vergrößert die Distanz zwischen den Mechanismen politischer Kontrolle und der Handhabung globaler Probleme. Die Entleerung des Gesellschaftsvertrages zwischen Kapital, Arbeit und Staat entlässt alle Beteiligten in den Kampf für ihre individuellen Interessen, wobei sie ausschließlich auf ihre eigenen Kräften zählen. (…) Die Transformation der Politik und der demokratischen Prozesse in der Netzwerkgesellschaft geht noch tiefer, als es in diesen Analysen dargestellt wird. Denn zusätzlich zu den oben angeführten Prozessen benenne ich einen weiteren wesentlichen Faktor, der zur 52

Transformation beiträgt: die unmittelbaren Konsequenzen der neuen Informationstechnologien für die politische Auseinandersetzung und für Machtstrategien. Diese technologische Dimension steht in Wechselwirkung mit den übrigen Tendenzen, die für die Netzwerkgesellschaft kennzeichnend sind, und auch mit den kommunalen Reaktionen auf die herrschenden Prozesse, die sich aus dieser Gesellschaftsstruktur ergeben. Aber sie verleiht dieser Transformation zusätzlich eine folgenreiche Wendung, will sie zu dem führt, was ich informationelle Politik nenne. (…) Der springende Punkt ist, dass die elektronischen Medien (zu denen nicht nur Fernsehen und Radio gehören, sondern alle Formen der Kommunikation, auch Zeitungen und Internet) zum privilegierten Raum der Politik geworden sind. (…) Um der Klarheit willen möchte ich die Leserin und den Leser gleich zu Anfang vor zwei allzu vereinfachten, verfehlten Versionen der These warnen, nach der die elektronischen Medien die Politik beherrschen. Einerseits wird manchmal behauptet, die Medien zwängen der öffentlichen Meinung ihre politischen Vorlieben auf. Das stimmt nicht, denn, wie ich unten ausführe, sind die Medien äußerst unterschiedlich. Ihre Verbindungen zu Politik und Ideologie sind höchst komplex und indirekt. (…) Mit der wichtigen Rolle der elektronischen Medien in der gegenwärtigen Politik meine ich etwas anderes. Ich sage, dass die politische Kommunikation und Information im Wesentlichen im Raum der neuen Medien gefangen sind, weil die traditionellen politischen Systeme und die drastisch verstärkte Allgegenwart der neuen Medien in ihren Konsequenzen miteinander zusammenwirken. Außerhalb der medialen Sphäre gibt es nur politische Marginalität. Was in diesem medienbeherrschten politischen Raum geschieht, ist nicht durch die Medien determiniert: Es ist ein offener sozialer Prozess. Aber die Logik und die Organisation der elektronischen Medien geben der Politik Rahmen und Struktur. (…)

Die Medien als Raum der Politik im Informationszeitalter

Politik und Medien: Die Bürger Verbindung Ich fasse meine Argumentation kurz zusammen, bevor ich sie empirisch ausführe. Im Kontext demokratischer Politik ist der Zugang zu staatlichen Institutionen von der Fähigkeit abhängig, die Mehrheit der Wählerstimmen zu gewinnen. In den gegenwärtigen Gesellschaften erhalten die Menschen im Wesentlichen durch die Medien und in allererster Linie über das Fernsehen Informationen und bilden so ihre Meinung. (…) Aber wer sind die Medien? Was ist die Quelle ihrer politischen Autonomie? Und wie gestalten sie Politik? In demokratischen Gesellschaften sind die weit verbreiteten Medien im Wesentlichen Wirtschaftsgruppen, die zunehmend konzentriert und global miteinander verbunden sind. Freilich sind sie gleichzeitig hochgradig diversifiziert und auf segmentierte Märkte eingestellt. (…) Der entscheidende Punkt ist jedoch, das politische Vorschläge und Kandidaturen ohne aktive Medienpräsenz keine Chance haben, Unterstützung zu bekommen. Medienpolitik ist nicht die gesamte Politik, aber jegliche Politik muss über die Medien gehen, um Entscheidungen zu beeinflussen. Wenn sie das tut, ist die Politik fundamental in ihrer Substanz, ihrer Organisation, ihrem Prozess und ihrer Führungsgruppe in den Rahmen der immanenten Logik des Mediensystems eingebunden, vor allem der neuen elektronischen Medien. 53

Show-Politik und Politik-Marketing: das amerikanische Modell Die Transformation der amerikanischen Politik während der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts resultiere aus drei miteinander verknüpften Prozessen: (a) dem Niedergang der politischen Parteien und ihrer Rolle bei der Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten; (b) der Entstehung eines komplexen Mediensystems, das im Fernsehen verankert ist, aber eine zunehmende Vielfalt flexibler Medien aufweist, die elektronisch miteinander verbunden sind; und (c) der Entwicklung des Politik-Marketing mit ständigen Meinungsumfragen, Rückkoppelungssystemen zwischen Umfragen und politischer Praxis, mit Nebenschauplätzen in den Medien, computergesteuerter Direktwerbung und phone banks (= Telefonzentralen für Wählermotivation und Umfragen) sowie der Anpassung von Kandidaten, Kandidatinnen und Programmen in Echtzeit an das Format, das Siegeschancen besitzt. (…) Die Rahmensetzung für politische Nachrichten weitet sich aus zur Rahmensetzung für die Politik selbst, wenn die Strategen in und gemeinsam mit den Medien um Einfluss bei der Wählerschaft spielen. So konzentrieren sich die politische Werbung, weil nur schlechte Nachrichten Nachrichten sind, auf die negativen Botschaften, die darauf abzielen, die Vorschläge des Gegners zu desavouieren, während das eigene Programm nur in sehr allgemeiner Form dargestellt wird. (…)

Wird die europäische Politik „amerikanisiert“? Nein und ja. Nein, denn die europäischen politischen Systeme beruhen in einem viel größeren Ausmaß auf politischen Parteien mit einer langen, fest etablierten Tradition und tiefen Wurzeln in der jeweils spezifischen Geschichte, Kultur und Gesellschaft. Nein, denn nationale Kulturen haben eine Bedeutung, und was in Amerika zulässig ist, wäre im größten Teil Europas unzulässig und würde sogar auf den möglichen Angreifer zurückschlagen (…) Andererseits wird über Kandidaturen und Programme zwar von den Parteien entschieden, doch sind die Medien inzwischen in Europa eben so wichtig wie in Amerika, wenn es um politische Bewerbungen geht. Die Medien und vor allem das Fernsehen sind die grundlegende Quelle, aus der die Menschen politische Informationen und Meinungen beziehen, und die wichtigsten Merkmale der informationellen Politik, die in Amerika identifiziert wurden, kennzeichnen auch die europäische Politik: Vereinfachung der Botschaften, professionelle Werbung und Meinungsforschung als politische Werkzeuge, Personalisierung der Optionen, Negativismus als vorherrschende Strategie, Indiskretion über nachteilige Informationen als politische Waffe, Imagebildung und die Wirkungskontrolle als unverzichtbare Mechanismus zur Erringung und Wahrung der Macht. (…) Boliviens elektronischer Populismus: compadre Palenque und das Kommen des Jach’a Uru

Die informationelle Politik in der Praxis: die Politik des Skandals Die Krise der Demokratie (…) Was die Zukunft auch bringen mag, die Beobachtung der Gegenwart scheint darauf hinzuweisen, dass wir in verschiedenen Formen und durch die Vielfalt der Prozesse hindurch, die ich umrissen habe, die Fragmentierung des Staates beobachten, die Unvorhersehbarkeit 54

des politischen Systems und die Singularisierung der Politik. Politische Freiheit kann es nach wie vor geben, weil die Menschen weiter darum kämpfen werden. Aber die politische Demokratie, so wie sie in den liberalen Revolutionen des 18. Jahrhunderts konzipiert und im 20. Jahrhundert über die ganze Welt verbreitet wurde, ist zu einer leeren Hülle geworden. Nicht dass es sich nur um „formale Demokratie“ handelte: Die Demokratie lebt gerade aus diesen „Formen“ heraus, wie geheime allgemeine Wahlen und Achtung der bürgerlichen Freiheiten. Aber die neuen institutionellen, kulturellen und technologischen Bedingungen, unter denen die Demokratie ausgeübt wird, haben das bestehende Parteiensystem und das gegenwärtige Regime der politischen Konkurrenz obsolet werden lassen. Dies sind in der Netzwerkgesellschaft nicht mehr die adäquaten Mechanismen politischer Vertretung. Die Menschen wissen es und fühlen es, aber sie wissen in ihrem kollektiven Gedächtnis auch, wie wichtig es ist, Tyrannen daran zu hindern, den schwindenden Raum der demokratischen Politik ihrerseits zu besetzen. Bürger sind noch immer Bürger, aber sie wissen nicht mehr sicher, welcher „Burg“ sie sich zurechnen sollen, und auch nicht, wem diese „Burg“ gehört.

Schluss: Die Rekonstruktion der Demokratie? Das sind nun wirklich alarmierende Worte. Es wäre reizvoll, hier die Gelegenheit zu nutzen, Ihnen einen Vortrag über mein persönliches Modell einer informationellen Demokratie zu halten. Keine Angst. Aus Gründen, die ich in der übergreifenden Schlussbetrachtung zu diesem Buch (in Bd. III) darlegen werden, habe ich mir normative Rezepturen und politische Ermahnungen untersagt. Um der politischen Hoffnung aber unbedingt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, schließe ich meine Überlegungen ab, indem ich etwas zu den möglichen Wegen der demokratischen Rekonstruktion sage, wie sie in der beobachtbaren Praxis der Gesellschaften Mitte der 1990er Jahre zum Ausdruck kommen. Dies geschieht ganz unabhängig von meinen persönlichen Ansichten darüber, ob diese Prozesse nun gut oder schlecht sind. Weil die Embryonen einer neuen demokratischen Politik auf der ganzen Welt glücklicherweise zahlreich und vielgestaltig sind, beschränke ich meine Bemerkungen auf drei Tendenzen, die ich für die Zukunft der informationellen Politik für besonders bedeutsam halte. Die erste ist die Wieder-Erschaffung des lokalen Staates. In vielen Gesellschaften auf der ganzen Welt scheint die lokale Demokratie aus Gründen, die in Kapitel 5 dargestellt sind, in Blüte zu stehen, wenigstens im Verhältnis zur politischen Demokratie auf nationaler Ebene. Das gilt vor allem dann, wenn regionale und lokale Regierungsorgane miteinander kooperieren und wenn sie ihre Reichweite soweit ausdehnen, dass es zur Dezentralisierung auf der Ebene von Stadtvierteln und zur Bürgerbeteiligung kommt. Wenn elektronische Hilfsmittel wie computervermittelte Kommunikation oder lokale Radio- und Fernsehstationen hinzu kommen und die Partizipation und Konsultation der Bürgerinnen und Bürger ausweiten, so tragen die neuen Technologien zur verstärkten Partizipation in der Lokalverwaltung bei. Beispiele sind Amsterdam oder die Präfektur Fukuoka. Erfahrungen mit lokaler Selbstverwaltung, etwa in der Form, wie sie in der Stadt Cuiaba im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosse entwickelt wurde, zeigen die Möglichkeit des Neuaufbaus von Verbindungen, mit denen die Herausforderungen der wirtschaftlichen Globalisierung und der politischen Unwägbarkeit geteilt (wenn schon nicht kontrolliert) werden können. Dieser Lokalismus stößt auf offenkundige Grenzen, weil er die Fragmentierung des Nationalstaates noch verstärkt. Aber wenn wir uns strikt an die Beobachtung halten, so finden sich stärksten Tendenzen zur Legitimierung der Demokratie Mitte der 1990er Jahre weltweit auf der lokalen Ebene. Eine zweite Perspektive, die in der Literatur und auch in den Medien häufig diskutiert wird, betriff die Chancen, die die elektronische Kommunikation für die Stärkung der politischen 55

Demokratie und der horizontalen Kommunikation unter den Bürgerinnen und Bürger bietet. Der Zugang zu Informationen on-line und die computervermittelte Kommunikation erleichtern auch Verbreitung und Verfügbarkeit von Informationen. Sie schaffen Möglichkeiten der Interaktion und Debatte in einem autonomen, elektronischen Forum und umgehen dabei die Kontrolle der Medien. Probeabstimmungen über eine Vielzahl von Fragen könnten zu einem nützlichen Instrument werden, wenn es vorsichtig eingesetzt wird, ohne sich dem allzu vereinfachenden Bezugsrahmen der Referendum-Politik zu unterwerfen. Wichtiger ist die Möglichkeit, die auch schon genutzt wird, dass Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen politischen und ideologischen Konstellationen bilden und damit die etablierten politischen Strukturen umgehen. So entsteht ein flexibles, anpassungsfähiges politisches Feld. Die Aussichten für eine digitale Demokratie lassen sich jedoch auch ernsthaft kritisieren, und dies ist bereits geschehen. Einerseits würde diese Form demokratischer Politik, wenn sie sich als wichtiges Instrument der Debatte, Repräsentation und Entscheidungsfindung erweisen sollte, sicherlich auf nationaler wie auf internationaler Ebene so etwas wie eine Form „attischer Demokratie“ institutionalisieren. Das bedeutet, dass eine relativ kleine, gebildete und wohlhabende Elite in ein paar Ländern und großen Städten Zugang zu einem außerordentlichen Werkzeug der Information und politischen Partizipation hätte, das tatsächlich eine Verstärkung der bürgerlichen Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten bedeuten würde. Aber die ungebildeten, abgeschalteten Massen der Welt und des Landes würden aus dem neuen demokratischen Kernbereich ausgeschlossen bleiben, wie die Sklaven und Barbaren am Beginn der Demokratie in Griechenland. Andererseits würde die Unbeständigkeit des Mediums zu einer Verstärkung der „Show-Politik“ führen. Moden und Mythen würden aufflammen, wenn erst die rationalisierende Macht der Parteien und Institutionen durch die Ströme plötzlich konvergierender und divergierender politischer Stimmungen umgangen würde. Mit anderen Worten könnte die on-line-Politik die Individualisierung der Politik und der Gesellschaft weiter vorantreiben. Dabei könnte ein Punkt erreicht werden, an dem es in gefährlicher Weise schwierig würde, Integration, Konsens und den Aufbau von Institutionen zu bewerkstelligen. (…) Die Entwicklung der symbolischen Politik und der politischen Mobilisierung durch „nicht-politische“ Anliegen, ob auf elektronischem Wege oder anders, ist die dritte Tendenz, die beim Prozess der Rekonstruktion der Demokratie in der Netzwerkgesellschaft eine Rolle spielen könnte. Humanitäre Anliegen wie diejenigen, die von Amnesty International, Médecins sans frontières, Greenpeace, Oxfam, Food First sowie Tausenden und Abertausenden von Aktivistengruppen und Nichtregierungsorganisationen auf der ganzen Welt unterstützt werden, sind der machtvollste Mobilisierungsfaktor in der informationellen Politik, von dem auch die meisten Initiativen ausgehen. Diese Mobilisierungsansätze entwickeln sich zu Forderungen, die auf einen breiten Konsens stoßen und nicht zwingend mit bestimmten politischen Parteien verbunden sind. Ihren offiziellen Positionen nach unterstützen die meisten politischen Parteien anscheinen den Großsteil dieser Anliegen. Weiter verzichten die meisten humanitären Organisationen darauf, außer in besonderen Fragen und zu besonderen Zeitpunkten eine bestimmte politische Partei zu unterstützen. Die meisten dieser Mobilisierungen bewegen sich im Mittelbereich zwischen sozialen Bewegungen und politischen Aktionen, weil sie sich an Bürgerinnen und Bürger wenden und Menschen auffordern, Druck auf öffentliche Institutionen oder private Unternehmen auszuüben, die für das spezifische Ziel der Mobilisierung von Bedeutung sein können. In anderen Fällen appellieren sie unmittelbar an die Solidarität der Menschen. Letztlich bewegen sie sich in dem Horizont der Einwirkung auf den politischen Prozess; d.h. Einfluss auf das Management der Gesellschaft durch die Repräsentanten der Gesellschaft zu nehmen. Aber sie benutzen dazu nicht unbedingt und sogar recht selten die Kanäle der 56

politischen Repräsentation und Entscheidungsfindung, etwa durch die Wahl ihrer Kandidatinnen und Kandidaten in politische Ämter. Diese Formen der politischen Mobilisierung lassen sich als problemorientierte, nicht-parteigebundene Politik definieren. Sie scheinen in allen Gesellschaften zunehmend an Legitimität zu gewinnen und die Regeln und Ergebnisse der formalen politischen Konkurrenz wesentlich zu beeinflussen. Sie relegitimieren in den Köpfen und im Leben der Menschen die Sorge um öffentliche Angelegenheiten. Sie tun das, indem sie neue politische Prozesse und neue politische Fragen einführen und so die Krise der klassischen liberalen Demokratie vorantreiben. Zugleich aber fördern sie die Entstehung der informationellen Demokratie, die es erst noch zu entdecken gilt.

III. Jahrtausendwende Die Enstehung der Vierten Welt: Informationeller Kapitalismus, Armut und soziale Exklusion Die Entstehung des Informationalismus an der Jahrtausendwende ist mit zunehmender Ungleichheit und sozialer Exklusion auf der ganzen Welt verflochten. In diesem Kapitel versuche ich, den Gründen und Ausformungen dieser Erscheinungen auf die Spur zu kommen und dabei ein paar Schnappschüsse von den neuen Gesichtern menschlichen Leidens zu präsentieren. Der Prozess der kapitalistischen Neustrukturierung mit seiner gehärteten Logik wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit hat damit viel zu tun. Aber die neuen technologischen und organisatorischen Bedingungen des Informationszeitalters, wie sie in diesem Buch analysiert werden, geben dem alten Muster eine neue Wendung, nach dem die Profitmacherei Vorrang gegenüber der Seelenerforschung genießt. Die Belege für die tatsächliche Not von Menschen auf der ganzen Welt sind jedoch widersprüchlich, und daraus ergibt sich eine ideologisch aufgeladene Debatte. Schließlich ist das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts Zeuge geworden, wie –zig Millionen Chinesen, Koreaner, Inder, Malaysier, Thai, Indonesier, Chilenen, Brasilianer, Mexikaner, Argentinier und geringere Zahlen in anderen Ländern Zugang zu Entwicklung, Industrialisierung und Konsum bekamen – selbst wenn man die Schicksalsschläge berücksichtigt, die einige Millionen als Folge der Finanzkrise in Asien 1997-1998 und ihren Nachgeben in anderen Teilen der Welt erlitten haben. Die große Masse der Bevölkerung in Westeuropa erfreut sich noch immer des höchsten Lebensstandards auf der Welt und in der Weltgeschichte. Und in den Vereinigten Staaten haben die Reallöhne für männliche Arbeitskräfte zwar bis 1996 mit Ausnahme der obersten Gruppe von College-Absolventen über zwei Jahrzehnte lang stagniert oder sich zurückgegangen, aber die massenhafte Einbeziehung von Frauen in die bezahlte Arbeit hat zusammen mit der relativen Schließung der Lohnlücke zu den Männern insgesamt dazu geführt, dass ein annehmbarer Lebensstandard beibehalten werden konnte – unter der Bedingung ausreichender Gerechtigkeit, um den Haushalt mit zwei Einkommen aufrecht zu erhalten, und ferner der Bereitschaft, sich mit verlängerten Arbeitszeiten abzufinden. Gesundheits-, Bildungs- und Einkommensstatistiken auf der ganzen Welt zeigen gegenüber historischen Standards im Durchschnitt erhebliche Verbesserungen. Für die Bevölkerung insgesamt haben während der letzten zehn Jahre 57

tatsächlich nur die ehemalige Sowjetunion nach dem Zusammenbruch des Etatismus und das subsaharanische Afrika nach seiner Marginalisierung gegenüber dem Kapitalismus eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse und in einigen Ländern auch eine Verschlechterung der Indikatoren für Lebenserwartung, Sterblichkeit und Geburtenraten erfahren (obwohl der größte Teil Lateinamerikas in den 1980er Jahren Rückschläge erlitten hat). (…) Aus diesem Grund müssen wir bei der Beurteilung der sozialen Dynamik des Informationalismus zwischen verschiedenen Prozessen der sozialen Differenzierung unterscheiden: Einerseits beziehen sich Ungleichheit, Polarisierung, Armut und Elend durchweg auf den Bereich der Distributions- und Konsumtionsverhältnisse oder der differenziellen Aneignung von Reichtum, der durch kollektive Anstrengung geschaffen worden ist. Andererseits sind Individualisierung der Arbeit, Überausbeutung von Arbeitskräften, soziale Exklusion und perverse Integration charakteristisch für vier spezifische Prozesse, die sich auf die Produktionsverhältnisse auswirken. Ungleichheit bezieht sich auf die differenzielle Aneignung von Reichtum (Einkommen und Vermögen) durch unterschiedliche Individuen und gesellschaftliche Gruppen im Verhältnis zueinandere. Polarisierung ist ein spezifischer Prozess der Ungleichheit, zu dem es kommt, wenn sowohl die Spitze wie auch das untere Ende der Einkommens- oder Reichtumsskala schneller zunehmen als die Mitte, wodurch die Mitte schrumpft und sich die sozialen Unterschiede zwischen den beiden extremen Bevölkerungssegmenten verschärfen. Armut ist eine institutionell definierte Norm, die ein Niveau der Ausstattung mit Ressourcen bezeichnet, unterhalb dessen es nicht möglich ist, den Lebensstandard zu erreichen, der in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als Minimalnorm angesehen wird (gewöhnlich ein Einkommensniveau bezogen auf eine bestimmte Anzahl von Haushaltsmitgliedern, das durch Regierungen oder autorisierte Institutionen festgelegt wird). Elend, ein Begriff den ich vorschlagen möchte, bezieht sich auf das, was in der Sozialstatistik als „extreme Armut“ bezeichnet wird, also das unterste Niveau der Verteilung von Einkommen und Vermögen, oder was manche Experten als „Deprivation“ bezeichnen, wodurch ein breiteres Spektrum sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung berücksichtigt wird. In den Vereinigten Staaten werden diejenigen Haushalte als extrem arm bezeichnet, deren Einkommen unterhalb von 50% des Einkommensniveaus liegt, das die Armutsgrenze definiert. Es ist offenkundig, dass alle diese Definitionen – mit ihren gewaltigen Folgen bei der Kategorisierung von Bevölkerungsteilen und der Definition von Sozialpolitik und Ressourcenzuteilung – statistisch relativ und kulturell bestimmt und außerdem politisch manipuliert sind. Sie erlauben uns jedoch zumindest, exakt zu wissen, worüber wir sprechen, wenn wir die soziale Differenzierung im informationellen Kapitalismus beschreiben und analysieren. Die zweite Gruppe von Prozessen und ihre Kategorisierung beziehen sich auf die Analyse der Produktionsverhältnisse. So beziehen sich Beobachter, die sich gegen „prekäre“ Arbeitsverhältnisse wenden, gewöhnlich auf die Individualisierung der Arbeit und auf die dadurch bewirkte Instabilität der Beschäftigungsmuster. Oder anders bezeichnet der Diskurs über soziale Exklusion die zu beobachtende Tendenz, bestimmte Kategorien der Bevölkerung dauerhaft vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Diese Prozesse haben grundlegende Auswirkungen für Ungleichheit, Polarisierung, Armut und Elend. Aber die beiden Ebenen müssen analytisch und empirisch auseinandergehalten werden, um ihre kausalen Beziehungen 58

feststellen zu können und so den Weg für ein Verständnis der Dynamik der sozialen Differenzierung, Ausbeutung und Ausschließung in der Netzwerkgesellschaft zu ebnen. Unter Individualisierung der Arbeit verstehe ich den Prozess, durch den der Arbeitsbeitrag zur Produktion spezifisch für jede individuelle Arbeitskraft und für jeden einzelnen ihrer Beiträge bestimmt wird, entweder in der Form der Selbstständigkeit oder als individuell eingegangenes, weitgehend unreguliertes Lohnarbeitsverhältnis. (…) Ich benutze den Terminus Über-Ausbeutung, um Arbeitsarrangements zu bezeichnen, die es dem Kapital erlauben, Bezahlung bzw. Ressourcenallokation systematisch zurückzuhalten oder bestimmten Typen von Arbeitskräften härtere Arbeitsbedingungen aufzuzwingen, die unterhalb der Norm oder Regelung auf einem bestimmten Arbeitsmarkt zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort liegen. Dabei geht es um Diskriminierung von Immigranten, Minderheiten, Frauen, jungen Leuten, Kindern und andere Kategorien diskriminierter Arbeitskräfte, die durch Regulationsbehörden toleriert oder sanktioniert werden. In diesem Zusammenhang ist ein besonders bedeutsamer Trend das Wiederaufleben der Kinderarbeit auf der ganzen Welt, unter Bedingungen extremer Ausbeutung, Hilflosigkeit und Missbrauch. Dadurch wird das historische Muster des sozialen Schutzes für Kinder umgekehrt, das im späten Industriekapitalismus und auch im industriellen Etatismus und in traditionellen Agrargesellschaften bestanden hat. Soziale Exklusion ist ein Begriff, der von den sozialpolitischen Denkfrabriken der Europäischen Kommission vorgeschlagen wurde und vom Internationalen Arbeitsamt (ILO) der Vereinten Nationen übernommen worden ist. Nach der Observatory on National Policies to Combat Social Exclusion der Europäischen Kommission bezieht sich dieser Begriff auf „die sozialen Anrechte der Bürgerinnen und Bürger … auf einen gewissen minimalen Lebensstandard und auf Teilhabe an den wesentlichen gesellschaftlichen und beruflichen Chancen der Gesellschaft.“ Ich will versuchen, präziser zu sein und definiere soziale Exklusion als den Prozess, durch den bestimmten Individuen und Gruppen systematisch der Zugang zu Positionen verstellt wird, die sie zu einem autonomen Auskommen innerhalb der gesellschaftlichen Standards befähigen würden, die in einem bestimmten Kontext durch Institutionen und Werte abgesteckt werden. Unter normalen Bedingungen ist im informationellen Kapitalismus eine solche Position gewöhnlich mit der Möglichkeit des Zugangs zu relativ regelmäßiger, bezahlter Arbeit für mindestens ein Mitglied eines stabilen Haushaltes verbunden. Soziale Exklusion ist dann der Prozess, der die Person als Arbeitskraft im Kontext des Kapitalismus entrechtet. In Ländern mit einem gut entwickelten Wohlfahrtsstaat kann soziale Inklusion auch großzügige Ausgleichzahlungen im Fall von Langzeitarbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit bedeuten, obwohl dies immer mehr zur Ausnahme wird. (…)

Auf dem Weg zu einer polarisierten Welt? Ein allgemeiner Überblick (…) Zur strukturellen Dauerhaftigkeit der Armut in allen Regionen der Welt kommt noch die plötzliche Verursachung von Armut durch Wirtschaftskrisen hinzu, die mit den Schwankungen der globalen Finanzmärkte in Verbindung stehen. (…) Demnach ist insgesamt der Aufstieg des informationellen Kapitalismus tatsächlich durch simultane wirtschaftliche Entwicklung und Unterentwicklung gekennzeichnet, durch soziale Inklusion und Exklusion, und dieser Prozess kommt im Großen und Ganzen in komparativen 59

Statistiken zum Ausdruck. Es gibt die Polarisierung der Verteilung von Reichtum auf globaler Ebene, die unterschiedliche Entwicklung der Einkommensungleichheit innerhalb einzelner Länder, wenn auch mit einem vorherrschenden Trend zur Steigerung der Ungleichheit, und die erhebliche Zunahme von Armut und Elend auf der Welt insgesamt und in den meisten – aber nicht in allen – Ländern, in den entwickelten wie in den sich entwickelnden.

Die Ent-Menschlichung Afrikas Die Entstehung des informationellen/globalen Kapitalismus während des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts ist mit dem Kollaps der Volkswirtschaften Afrikas zusammengefallen, mit der Desintegration vieler seiner Staaten und dem Zusammenbruch der meisten seiner Gesellschaften. Infolgedessen sind an dieser Jahrtausendwende Hungersnöte, Epidemien, Gewalt, Bürgerkriege, Massaker, ein Massen-Exodus sowie soziales und politisches Chaos herausragende Merkmale des Landes, das einst der Nährboden für die Geburt von Lucy gewesen ist, vielleicht die gemeinsame Großmutter der Menschheit. Ich behaupte, dass diesem Zusammentreffen eine strukturelle, gesellschaftliche Kausalität zugrunde liegt. Und ich werde auf den folgenden Seiten versuchen, das komplexe Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Technologie, Gesellschaft und Politik, das zu dem Prozess geführt hat, der den Menschen Afrikas ihre Menschlichkeit verweigert, aber auch uns allen in unserem inneren Ich.

Marginalisierung und selektive Integration des subsharanischen Afrika in die informationelle-globale Wirtschaft (…) 1950 erbrachte Afrika über 3% der Weltexporte; 1990 etwa 1,1%. 1980 gingen 3,1%der weltweiten Exporte nach Afrika; 1995 nur 1,5% Die weltweiten Importe aus Afrika sanken von 3,7% 1980 auf 1,4% 1995. Ferner blieben die afrikanischen Exporte auf Rohstoffe beschränkt (92% aller Exporte) und vor allem auf landwirtschaftliche Exportgüter (etwa 76% der Exporterlöse 1980-1990). Es besteht auch eine zunehmende Konzentration dieser landwirtschaftlichen Exporte auf wenige Anbauprodukte wie Kaffee und Kakao, die 1989-1990 40% der Exporterlöse erbrachten. (…) Afrika ist jedoch nicht durchgängig an den Rand der globalen Netzwerke gedrängt. Wertvolle Rohstoffe wie Erdöl, Gold, Diamanten und Metalle werden weiterhin exportiert; dies bewirkt ein deutliches Wirtschaftswachstum in Botswana und sorgt in anderen Ländern wie in Nigeria für erhebliches Einkommen. Das Problem liegt in der Verwendung des Einkommens aus diesen Ressourcen und ebenso die Mittel, die die Regierungen als internationale Hilfe erhalten. Die kleine, aber wohlhabende bürokratische Klasse weist in vielen Ländern ein hohes Niveau beim Konsum kostspieliger Importgüter, einschließlich westlicher Nahrungsmittel und internationaler Modeartikel. Kapitalströme aus afrikanischen Ländern auf persönliche Konten und in profitträchtige internationale Investitionen auf der ganzen Welt, allein zum Nutzen weniger reicher Einzelpersonen, sind der Beleg für eine erhebliche private 60

Kapitalakkumulation, die aber nicht wieder in dem Land reinvestiert wird, in dem dieser Reichtum geschaffen wurde. (…)

Afrikas technologische Apartheid am Anbruch des Informationszeitalters Die Informationstechnologie und die Fähigkeit, sie zu nutzen und anzupassen, sind in unserer Zeit die entscheidenden Faktoren, um Reichtum, Macht und Wissen hervorzubringen und Zugang dazu zu erhalten (s. Bd. I, Kap. 2, 3). Afrika ist – mit der wesentlichen Ausnahme Südafrikas – gegenwärtig von der Informationsrevolution ausgeschlossen, wenn wir ein paar Knotenpunkte der Finanzen und des internationalen Managements ausnehmen, die unmittelbar und unter Umgehung der afrikanischen Volkswirtschaften und Gesellschaften an die globalen Netzwerke angeschlossen sind. Nicht nur ist Afrika die bei weitem an wenigsten computerisierte Region der Welt, es verfügt nicht einmal über die minimale Infrastruktur, die nötig ist, um Computer zu nutzen. Daher sind viele Unternehmungen unsinnig, Länder und Organisationen mit elektronischen Geräten auszustatten. Vielmehr braucht Afrika erst eine zuverlässige Stromversorgung, bevor es die Elektronik übernehmen kann (…) Es gibt in Manhattan oder Tokyo mehr Telefonleitungen als im ganzen subsaharanischen Afrika. 1991 gabt es in Afrika eine Telefonleitung auf 100 Einwohner, gegenüber 2,3 in allen Entwicklungsländern zusammen und 37,2 in den Industrieländern. 1994 besaß Afrika nur etwa 2% der Telefonleitungen der Welt. (…) Der Räuberstaat (…) Zaire: Die persönliche Aneignung des Staates (…) Nigeria: Öl, Ethnizität und militärisches Raubsystem (…) Ethnische Identität, wirtschaftliche Globalisierung und Staatsbildung in Afrika (…) Die Not Afrikas (…) Die Hoffnung Afrikas? Die südafrikanische Verbindung .(…) Jenseits von Afrika oder zurück nach Afrika? Die Politik und die Ökonomie der selfreliance (…) In der Tat fordert eine zunehmende Anzahl von Stimmen in der intellektuellen und politischen Welt Afrikas oder unter denen, denen Afrika am Herzen liegt, die Rekonstruktion der afrikanischen Gesellschaften auf der Basis einer unabhängigen Selbstständigkeit, der 61

self-reliance. Das würde nicht bedeuten, die Bindung an primitive Wirtschaften und traditionelle Gesellschaften aufrecht zu erhalten, sondern von unten nach oben neu zu bauen und so auf einem anderen Weg Zugang zur Modernität zu finden, wobei die Werte und Zielsetzungen des globalen Kapitalismus von heute grundsätzlich verworfen werden. Für diese Position lassen sich starke Argumente in der technologisch/wirtschaftlichen Marginalisierung Afrikas finden, in der Entstehung des Räuberstaates und im wirtschaftlichen ebenso wie sozialen Fehlschlag der von IWF/Weltbank inspirierten Anpassungsprogramme. Ein alternatives Entwicklungsmodell, eines, das auch sozial und ökologisch nachhaltiger wäre, ist keine Utopie, und es gibt in einer Reihe von Ländern eine Fülle realistischer, technisch solider Vorschläge für Entwicklungsmodelle nach den Kriterien der self-reliance, und ferner auch Strategien für eine auf Afrika zentrierte Regionalkooperation. In den meisten Fällen gehen sie von der partiellen Abkoppelung der afrikanischen Volkswirtschaften von den globalen Netzwerken der Kapitalakkumulation aus. Dies berücksichtigt die Folgen der gegenwärtigen, asymmetrischen Verknüpfungen, wie sie in diesem Kapitel dargestellt wurden. Es besteht jedoch ein grundlegendes Hindernis für die Verwirklichung der self-reliance: die Interessen und Wertvorstellungen der Mehrheit der politischen Eliten Afrikas und ihre Patronagenetzwerke. Ich habe gezeigt, wie und darum das, was für die meisten Afrikaner eine menschliche Tragödie ist, für die Eliten nach wie vor eine Quelle von Reichtum und Privilegien darstellt. Dieses pervertierte politische System ist historisch von den europäischen/amerikanischen Mächten und durch die fragmentarische Einbeziehung Afrikas in die globalen kapitalistischen Netzwerke geschaffen worden und wird weiter von ihnen aufrechterhalten. Es ist genau diese selektive Anbindung von Eliten und wertvollen Ressourcen zusammen mit der sozialen Exklusion der meisten Menschen und der wirtschaftlichen Entwertung der meisten natürlichen Ressourcen, was das Spezifische an der jüngsten Ausdruckform der afrikanischen Tragödie ausmacht. (…)

Das neue amerikanische Dilemma: Ungleichheit, städtische Armut und soziale Exklusion im Informationszeitalter (…) Das duale Amerika (…) Das innerstädtische Ghetto als System sozialer Exklusion (…) Wenn die Unterschicht zur Hölle fährt (…)

Globalisierung, Überausbeutung und soziale Exklusion: Die Perspektive der Kinder (…) Die sexuelle Ausbeutung von Kindern 62

(…) Das Töten von Kindern: Kriegsmassaker und Kindersoldaten (…) Warum Kinder zugrunde gerichtet werden (…) Was hat nun der informationelle Kapitalismus mit all diesem Horror zu schaffen? Sind Kinder nicht wohl oder übel im ganzen Verlauf der Geschichte missbraucht worden? (…) Der Unterschied besteht darin, dass wir im Gefolge der im großen Stil durchgeführten Deregulierung und als Folge der Umgehung von Staaten und Regierungen durch globale Netzwerke eine drastische Umkehr sozialer Errungenschaften und auch der Kinderrechte erleben, die in den reifen industriellen Gesellschaften durch Sozialreform erreicht worden waren. Der Unterschied besteht in der Desintegration der traditionellen Gesellschaften auf der ganzen Welt, wodurch Kinder ungeschützt in den Slums der Mega-Städte ausgesetzt werden. Der Unterschied besteht darin, das Kinder in Pakistan Teppiche herstellen, die weltweit durch Lieferantennetzwerke an Warenhäuser in den Wohlstandsmäkrten exportiert werden. Neu ist der globale, massenhafte Tourismus mit dem zentralen Interesse an Pädophilie. Neu ist die elektronische Kinderpornographie, die weltweit im Netz steht. Neu ist di Auflösung des Patriarchalismus, der nicht durch ein System ersetzt worden ist, in dem die Kinder durch neue Familien oder durch den Staat geschützt würden. Und neu ist auch die Aufweichung der Institutionen zur Absicherung der Rechte von Kindern wie Gewerkschaften oder Sozialpolitik, die durch moralische Aufrufe zur Wahrung der Familienwerte ersetzt werden. Außerdem ist der informationelle Kapitalismus kein Ding. Er ist die spezifische Gesellschaftsstruktur mit eigenen Regeln und eigener Dynamik, die durch die in diesem Kapitel nachgewiesenen Prozesse in einem systemischen Zusammenhang zur Überausbeutung und zum Missbrauch von Kindern stehen, wenn nicht bewusstes politisches Handeln sich diesen Tendenzen entgegenstellt. An den Wurzeln der Ausbeutung von Kindern befinden sich die Mechanismen, die weltweite Armut und soziale Exklusion hervorbringen, vom subsaharanischen Afrika bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. (…)

Schluss: Die schwarzen Löcher des informationellen Kapitalismus (…) Der Informationalismus schafft eine scharfe Trennlinie zwischen wertvollen und wertlosen Menschen und Örtlichkeiten. Die Globalisierung erfolgt selektiv, sie schließt Segmente von Volkswirtschaften und Gesellschaften in die Netzwerke von Information, Reichtum und Macht ein, die das neue herrschende System kennzeichnen, und sie schließt andere aus. (…) An dieser Jahrtausendwende hat sich das, was einmal als Zweite Welt bezeichnet wurde (das etatistische Universum) aufgelöst, weil es nicht in der Lage war, die Kräfte des Informationszeitalters zu meistern. Zur selben Zeit ist die Dritte Welt als bedeutsame Größe verschwunden; sie ist in ihrer geografischen Bedeutung entleert und hat sich in ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung außerordentlich stark differenziert. Doch die Erste Welt ist nicht zu dem allumfassenden Universum geworden, von dem die neoliberale Mythologie handelt. Denn es ist eine neue Welt, die Vierte Welt entstanden, die aus vielfältigen schwarzen Löchern sozialer Exklusion besteht und die auf der ganzen Erde zu finden sind. Die Vierte Welt umfasst große Gebiete des Globus, etwa den Großteil des subsaharanischen Afrika und verarmte ländliche Gebiete in Lateinamerika und Asien. Sie 63

ist in dieser neuen Geografie sozialer Exklusion aber auch buchstäblich in jedem einzelnen Land, in jede einzelnen Stadt vorhanden. Sie besteht aus den innerstädtischen Ghettos Amerikas, aus den Enklaven der massenhaften Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, aus den französischen Banlieus, in denen Nordafrikaner eingepfercht leben, aus den japanischen Yoseba-Vierteln und den Wellblechstädten der asiatischen Mega-Städte. Und sie ist bevölkert von Millionen obdachloser, eingesperrter, kriminalisierter, misshandelter, stigmatisierter, kranker und analphabetischer Menschen. Sie bilden in manchen Gegenden die Mehrheit, in anderen eine Minderheit und in wenigen privilegierten Zusammenhängen eine winzige Minderheit. Überall ist ihre Zahl im Wachsen und ihre Sichtbarkeit nimmt in dem Maße zu, wie der selektive Ausleseprozess des informationellen Kapitalismus und der politische Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaates die soziale Exklusion intensivieren. Im gegenwärtigen historischen Kontext ist die Entstehung der Vierten Welt von der Entstehung des informationellen Kapitalismus nicht zu trennen.

Die Vereinigung Europas: Globalisierung, Identität und der Netzwerkstaat

Die Vereinigung Europas als Abfolge defensiver Reaktionen Die Vereinigung Europas wird, wenn und falls sie um die Wende zum 21. Jahrhundert herum vollendet wird, eine der wichtigsten Tendenzen sein, die unsere neue Welt bestimmen. Sie ist vor allem deshalb wichtig, weil sie wahrscheinlich (aber nicht mit Sicherheit) den jahrtausendlangen Kriegen ein Ende setzen wird, die die großen europäischen Mächte gegenüber geführt haben. (…) Sie ist auch wichtig, weil ein vereintes Europa mit seiner wirtschaftlichen und technologischen Macht und seinem kulturellen und politischen Einfluss zusammen mit dem Aufstieg der asiatischen Pazifikregion das weltweite Machtsystem in einer polyzentrischen Struktur verankern und so trotz anhaltender militärischer (und technologischer) Überlegenheit der Vereinigten Staaten die Existenz einer hegemonialen Supermacht ausschließen wird. Und ich behaupte, dass sie außerdem als Quelle institutioneller Innovation bedeutsam ist, die Antworten auf die Krise des Nationalstaates liefern könnte. Denn im Rahmen des Prozesses, in dem sich die Europäische Union herausbildet, entstehen auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene neue Formen des Regierens und neue staatliche Institutionen, die zu einer neuen Staatsform führen. Ich schlage vor, sie als Netzwerkstaat zu bezeichnen. Es ist jedoch nicht immer recht deutlich, was der eigentliche Inhalt dieser Vereinigung ist und welches ihre Akteure sind, und das wird auch noch eine Zeit lang so bleiben. Gerade diese Zweideutigkeit macht die Vereinigung möglich und kennzeichnet ihren Prozess eher als eine Debatte denn einen fertigen Plan. (…)

Bilanz nach einem halben Jahrhundert (…) 64

Globalisierung und europäischer Integration Die europäische Integration ist zu ein und derselben Zeit eine Reaktion auf den Prozess der Globalisierung und seine am weitesten fortgeschrittene Ausdrucksform. Sie ist auch der Beweis dafür, dass die globale Wirtschaft kein undifferenziertes System aus Firmen und Kapitalströmen ist, sondern eine regionalisierte Struktur, in der alte nationale Institutionen und neue supranationale Instanzen noch immer eine wichtige Rolle dabei spielen, den wirtschaftlichen Wettbewerb zu organisieren und seine Früchte zu ernten oder zu verderben. Daraus folgt jedoch nicht, dass Globalisierung nur Ideologie wäre. (…) Die offenkundigste Dimension im Globalisierungsprozess sind die Finanz- und Devisenmärkte. Sie sind wahrhaft global und haben die Möglichkeit, mit Hilfe von elektronischen Strömen als Einheit in Echtzeit zu arbeiten und staatliche Kontrollen zu übergehen und zu überwältigen. (…) Die Globalisierung hat eine zweite wichtige Dimension: die Informationstechnologie, den Kern der produktiven Fähigkeit der Volkswirtschaften und der Militärmacht der Staaten. (…) Die Globalisierung von Kapital und Informationstechnologie zwingt uns, das klassische Thema der Integration von Handel und Investition aus neuer Perspektive zu betrachten. Wenn über Europa und Globalisierung debattiert wird, so ist der mögliche Niedergang der europäischen Wettbewerbsfähigkeit in einem wahrhaft globalen Markt ein wichtiges Thema, weil sie von oben durch die amerikanische und japanische Technologie und von unten durch die niedrigeren Produktionskosten der neu industrialisierten Länder in die Zange genommen wird. (…)

Kulturelle Identität und europäische Vereinigung Der Wirbelwind der Globalisierung ruft auf der ganzen Welt Abwehrreaktionen hervor, in deren Zentrum häufig Prinzipien der nationalen und territorialen Identität stehen. (…) Das Streben nach Identität als Gegengift gegen wirtschaftliche Globalisierung und politische Entrechtung dringt auch unterhalb der Ebene des Nationalstaates vor und verleiht Regionen und Städten in ganz Europa eine neue Dynamik. (…)

Die Institutionalisierung Europas: Der Netzwerkstaat Wenn wir die widersprüchlichen Visionen und Interessen im Zusammenhang mit der Vereinigung Europas bedenken und den Mangel an Enthusiasmus unter den Bürgerinnen und Bürgern der meisten Länder berücksichtigen, dann scheint es ein Wunder, dass dieser Integrationsprozess zur Jahrtausendwende so weit gekommen ist, wie es tatsächlich der Fall ist. Ein Teil der Erklärung für diesen unwahrscheinlichen Erfolg ist in der Tatsache zu suchen, dass die Europäischen Union die bestehenden Nationalstaaten nicht ersetzt, sondern im Gegenteil ein grundlegendes Element für ihr Fortbestehen unter der Bedingung ist, dass sie Teile ihrer Souveränität im Austausch gegen größeren Einfluss auf internationale ebenso wie eigenstaatliche Angelegenheiten im Globalisierungszeitalter abgeben. Aber diese Interessenkonvergenz musste, um wirksam zu werden, noch immer einen institutionellen Ausdruck finden. (…) In ihren Überlegungen zur zunehmenden Komplexität und Flexibilität des europäischen politischen Prozesses schlagen Keohane und Hoffman vor, davon auszugehen, dass die Europäischen Union „im wesentlichen als Netzwerk organisiert ist, in dem Souveränität zusammengeführt und geteilt, nicht aber auf eine höhere Ebene übertragen wird.“ Diese 65

Analyse, die Waever weiter entwickelt und theoretisch ausgearbeitet hat, nähert den europäischen Vereinigungsprozess stärker der Charakteristik von Institutionen unter der Prämisse eines neuen Mittelalters an; das bedeutet eine Mehrzahl einander überlappender Machtinstanzen, wie es ähnlich vor Jahren von Hedley Bull formuliert und von einer Reihe europäischer Analytiker wie Alain Minc aufgegriffen worden ist. Obwohl Historiker gegenüber einer solchen Parallele vielleicht Einwände haben werden, illustriert dieses Bild eindringlich die neue Staatsform, die konzentriert in den europäischen Institutionen zum Ausdruck kommt: den Netzwerkstaat. Es ist ein Staat, der durch die Teilung von Kompetenzen (d.h. in letzter Instanz der Macht, legitime Gewalt auszuüben) innerhalb eines Netzwerkes gekennzeichnet ist. Ein Netzwerk hat definitionsgemäß Knoten und kein Zentrum. Die Knoten können unterschiedlich groß und durch asymmetrische Beziehungen innerhalb des Netzwerkes miteinander verbunden sein, sodass der Netzwerkstaat das Bestehen politischer Ungleichheiten unter seinen Mitgliedern nicht ausschließt. Und in der Tat sind im europäischen Netzwerk nicht alle staatlichen Institutionen gleich. Nicht nur konzentriert sich noch immer ein Großteil der Entscheidungsgewalt bei nationalen Regierungen, sondern es bestehen auch große Machtunterschiede zwischen den Nationalstaaten, obwohl die Machthierarchie in unterschiedlichen Dimensionen variiert: Deutschland ist die wirtschaftliche Hegemonialmacht, aber Großbritannien und Frankreich besitzen weit größere militärische Macht und mindestens gleichwertige technologische Kompetenz. Und Spanien kontrolliert die wertvollste Dienstleistung für viele Europäer: ihren Urlaub. (…)

Europäische Identität oder europäisches Projekt? (…) Im Großen und Ganzen gibt es also keine europäische Identität. Aber sie könnte geschaffen werden, nicht im Gegensatz, sondern komplementär zu den nationalen, regionalen und lokalen Identitäten.

Schluss: Unsere Welt verstehen

Die Genese einer neuen Welt (…) Die informationstechnologische Revolution führte zum Aufkommen des Informationalismus als der materiellen Grundlage einer neuen Gesellschaft. Unter dem Informationalismus gerieten die Schaffung von Reichtum, die Ausübung von Macht und die Schöpfung kultureller Codes in Abhängigkeit von der technologischen Kompetenz der Gesellschaften und Individuen, und im Zentrum dieser Kompetenz steht die Informationstechnologie. Die Informationstechnologie wurde zum unverzichtbaren Werkzeug für die effektive Durchführung der Prozesse sozioökonomischer Neustrukturierung. Besonders bedeutsam war dabei ihre Rolle, Vernetzung als dynamische, selbstexpandierende Organisationsform menschlicher Tätigkeit zu ermöglichen. Diese vorherrschende Netzwerklogik prägt alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. (…)

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In dieser globalen, interdependenten Wirtschaft begannen neue Konkurrenten, Unternehmen und Länder einen steigenden Anteil an Produktion, Handel, Kapital und Arbeit zu beanspruchen. (…) Die Kapital-, Arbeits-, Informations- und Marktnetzwerke verbanden durch Technologie wertvolle Funktionen, Menschen und Lokalitäten auf der ganzen Welt miteinander, schalteten aber diejenigen Bevölkerungen und Territorien von ihren Netzwerken ab, die für die Dynamik des globalen Kapitalismus keinen Wert und kein Interesse mehr besaßen. Daraus folgten die soziale Exklusion und die ökonomische Bedeutungslosigkeit von gesellschaftlichen Segmenten, Stadtgebieten, Regionen und ganzen Ländern, die das ausmachen, was ich als „Vierte Welt“ bezeichne. Die verzweifelten Versuche einiger diesr gesellschaftlichen Gruppen und Territorien, Anschluss an die globale Ökonomie zu finden und der Marginalität zu entrinnen, führten zu dem, was ich als die „perverse Koppelung“ bezeichne. Hier hat das organisierte Verbrechen auf der ganzen Welt sich die Not der „Vierten Welt“ zunutze gemacht, um die Entwicklung einer globalen kriminellen Ökonomie voranzutreiben. Sie hat das Ziel, verbotene Gelüste zu befriedigen und die endlose Nachfrage von wohlhabenden Gesellschaften und Individuen nach illegalen Waren zu befriedigen. (…) Die Neustrukturierung des Etatismus erwies sich als schwieriger, zumal für die beherrschende etatistische Gesellschaft der Welt, die Sowjetunion, das Zentrum eines breiten Netzwerkes von etatistischen Staaten und Parteien. (…) Nach dem Ende des Etatismus als Systems blüht der Kapitalismus auf der ganzen Welt und dringt vertieft in Länder, Kulturen und Lebensbereiche ein. Trotz einer höchst vielgestaltigen gesellschaftlichen und kulturellen Landschaft ist der ganze Planet erstmals in der Geschichte um einen weitgehend gemeinsamen Satz von ökonomischen Regeln organisiert. Doch es ist eine andere Art von Kapitalismus als derjenige, der während der Industriellen Revolution geprägt wurde, oder derjenige, der während der Industriellen Revolution geprägt wurde, oder derjenige, der während der Depression der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkrieges in der Form von Keynesianismus und sozialer Sicherung aufgetreten ist. Es ist die Form eines Kapitalismus, der in seiner Zielsetzungen gehärtet, aber in seinen Mitteln unvergleichlich flexibler ist als alle seine Vorgänger. Es ist der informationelle Kapitalismus, der sich auf innovationsbedingte Produktivität und auf globalisierungsorientierte Wettbewerbsfähigkeit stützt, um Reichtum hervorzubringen und ihn selektiv anzueignen. Er ist mehr den je in Kultur eingebettet und mit Technologie ausgerüstet. Aber diesmal sind beide, Kultur und Technologie, von der Fähigkeit des Wissens und der Information abhängig, in einem sich immer erneuernden Netzwerk globalen Austauschs auf Wissen und Information einzuwirken. Doch sind Gesellschaften nicht einfach das Resultat technologischer und wirtschaftlicher Transformation, und sozialer Wandel lässt sich auch nicht auf institutionelle Krisen und Anpassungen eingrenzen. Etwa zur selben Zeit, als diese Entwicklungen Ende der 1960er Jahre einsetzten, brachen fast gleichzeitig in der gesamten industrialisierten Welt starke soziale Bewegungen aus (…)Als Teilnehmer dieser sozialen Bewegungen (ich war 1968 Assistenzprofessor für Soziologie auf dem Campus Nanterre der Universität von Paris) kann ich ihre libertäre Haltung bezeugen. Zwar griffen ihre militanten Avantgarden häufig marxistische ideologische Ausdrucksformen auf, aber sie hatten mit dem Marxismus und 67

übrigens auch mit der Arbeiterklasse wenig zu schaffen. Es waren im Wesentlichen kulturelle Bewegungen, die das Leben ändern, aber nicht die Macht ergreifen wollten. Sie wussten intuitiv, das Zugang zu den staatlichen Institutionen dazu führt, von ihnen kooptiert zu werden, während die Schaffung eines neuen, revolutionären Staates die Perversion der Bewegung darstellte. Ihr Ehrgeiz bestand in der multidimensionalen Reaktion auf willkürliche Autorität, einer Revolte gegen Ungerechtigkeit und einem Streben nach experimentellen Leben. Ihre Akteure waren zwar häufig Studierende, aber es waren keinesfalls Studentenbewegungen, denn sie durchdrangen die gesamte Gesellschaft, von allem junge Leute. Und ihre Wertvorstellungen fanden in allen Lebenssphären ihren Widerhall. (…) Die technologische Revolution, die Neustrukturierung der Wirtschaft und die Kritik an der Kultur flossen in einer historischen Neudefinition der Beziehungen zwischen Produktion, Macht und Erfahrung zusammen, auf denen die Gesellschaften beruhen.

Eine neue Gesellschaft Eine neue Gesellschaft entsteht, sobald und im Falle, dass eine strukturelle Transformation in den Produktionsverhältnissen, in den Machtbeziehungen und in den Verhältnissen der Erfahrung zu beobachten ist. Diese Transformationen führen zu einer ebenso eingreifenden Transformation bei den gesellschaftlichen Formen von Raum und Zeit und zum Auftreten einer neuen Kultur. (…) Die Produktionsverhältnisse sind sowohl gesellschaftlich wie auch technologisch transformiert worden. Natürlich sind sie kapitalistisch, aber sie gehören zu einer historisch anderen Sorte von Kapitalismus, die ich als informationellen Kapitalismus bezeichne. (…) Unter diesem neuen Produktionssystem wird die Rolle der Arbeit als Produzent neu definiert und scharf nach den Charakteristika des jeweiligen Arbeiters oder der Arbeiterin differenziert. Ein wichtiger Unterschied bezieht sich auf das, was ich als generische Arbeit im Gegensatz zu selbst-programmierbarer Arbeit bezeichne. Die entscheidende Qualität, die den Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Arbeit ausmacht, sind Bildung und die Fähigkeit des Zugangs zu höheren Bildungsstufen; also verkörpertes Wissen und Information. Der Begriff Bildung ist von Fertigkeiten zu unterscheiden. Fertigkeiten können durch technologische und organisatorische Veränderungen schnell obsolet werden. Bildung (im Unterschied zur Verwahrung von Kindern und Studierenden) ist der Prozess, durch den Menschen, also Arbeitskräfte, die Fähigkeit erwerben, beständig die notwendigen Fertigkeiten für eine bestimmte Aufgabe neu zu bestimmen und sich Zugang zu den Quellen zu verschaffen, um diese Fertigkeiten zu erwerben. Wer immer gebildet ist und sich im richtigen organisatorischen Umfeld befindet, kann sich für die endlosem Wandel unterliegenden Anforderungen des Produktionsprozesses neu programmieren. Andererseits wird generischer Arbeit eine bestimmte Aufgabe ohne Fähigkeit zur Neuprogrammierung übertragen, und sie hat nicht die Verkörperung von Information und Wissen zur Voraussetzung, die über die Fähigkeit zum Empfang von Signalen und die Durchführung entsprechender Handlungen hinausgeht. Diese „menschlichen Terminals“ lassen sich natürlich durch Maschinen oder durch jeden anderen Körper ersetzen, der sich in 68

der Stadt, im Land oder in der Welt findet, ganz nach unternehmerischen Entscheidungen. Zwar sind sie kollektiv für den Produktionsprozess unverzichtbar, aber sie können individuell ersetzt werden, weil der von Einzelnen zugefügte Wert nur einen kleinen Bruchteil dessen darstellt, was durch und für die Organisation erzeugt wird. Maschinen und generische Arbeit aus unterschiedlichen Quellen und Orten bevölkern gemeinsam die niederen Kreisläufe des Produktionssystems. Flexibilität die organisatorisch durch das Netzwerkunternehmen realisiert wird, erfordert Vernetzter, flexible Arbeit sowie eine breite Palette von Arbeitsarrangements, zu denen auch Selbstständigkeit und wechselseitige Beziehungen durch Subunternehmertum gehören. Die variable Geometrie dieser Arbeitsarrangements führt zur koordinierten Dezentralisierung der Arbeitsverrichtungen und zur Individualisierung der Arbeit. Die informationelle /globale Wirtschaft ist kapitalistisch, und das mehr als jede andere Wirtschaft in der Geschichte. Aber das Kapital ist in dieser neuen Wirtschaftsform genauso transformiert wie die Arbeit. Die Regel lautet noch immer: Produktion um des Profits und der privaten Aneignung des Profits willen auf der Grundlage von Eigentumsrechten. Das ist das Wesen des Kapitalismus. Aber wie kommt es zu dieser Aneignung des Profits? Wer sind die Kapitalisten? Um diese grundlegende Frage zu beantworten, gilt es drei unterschiedliche Ebenen zu berücksichtigen. Lediglich die dritte Ebene ist eine Besonderheit des informationellen Kapitalismus Die erste Ebene betriff die Besitzer von Eigentumsrechten. Sie lassen sich im Wesentlich in drei Gruppen einteilen: (a) Aktienbesitzer von Unternehmen (…) (b) Eigentümer von Familienbetrieben, vor allem in der asiatischen Pazifikregion noch immer eine wichtige Form des Kapitalismus; und (c) individuelle Unternehmen, Eigentümer der eigenen Produktionsmittel (wobei ihr Verstand ihr wichtigstes Vermögen ist), Risikoträger und Eigentümer der eigenen Profitschöpfung. Diese letzte Kategorie, die für die Ursprünge des industriellen Kapitalismus von grundlegender Bedeutung gewesen ist, hat sich im informationellen Kapitalismus eindrucksvoll zurückgemeldet und dabei die vorrangige Bedeutung von Innovation und Flexibilität eingesetzt, der wesentlichen Merkmale des neuen Produktionssystems. Die zweite Ebene der kapitalistischen Formen betrifft die Managerklasse, also diejenigen, die im Namen der Aktienbesitzer die Kontrolle über das Kapitalvermögen ausüben. Diese Manager, deren vorrangige Bedeutung Berle und Means bereits in den 1930er Jahren aufgezeigt haben, bilden unter dem Informationalismus vor allen in den multinationalen Konzernen noch immer das Herz des Kapitalismus. (…) Die dritte Ebene im Prozeß der Profitaneignung durch das Kapital ist sowohl ein alter Hut wie ein Grundzug des informationellen Kapitalismus. Der Grund liegt in der Natur der globalen Finanzmärkte. In diesen Märkten fließen letztlich die Profite aus allen Quellen auf der Suche nach größerem Profit zusammen. Und die Gewinnmargen auf dem Aktienmarkt, auf dem Markt für Schuldverschreibungen, auf dem Devisenmarkt, bei Futures, Optionsscheinen, Derivaten und insgesamt auf den Finanzmärkten sind im Durchschnitt wesentlich höher als bei den meisten Direktinvestitionen, nimmt man wenige Fälle von Spekulation einmal aus. Das liegt nicht an der Natur des Finanzkapitals, der historisch ältesten Form des Kapitals. Es liegt vielmehr an den historischen Bedingungen, unter denen es im informationellen Kapitalismus operiert. Nämlich der Vernichtung von Raum und Zeit mit Mitteln der Technologie. Seine technologische und informationelle Fähigkeit, unablässig den gesamten Planeten nach Investitionsmöglichkeiten abzusuchen und innerhalb von Sekunden von einer Option zur nächsten zu wechseln, bringt das Kapital in beständige Bewegung, wobei es in dieser Bewegung mit Kapital von allen Seiten verschmilzt wie etwa bei gemeinsamen 69

Investmentfonds. (…) Deshalb sind die globalen Finanzmärkte und ihre Managementnetzwerke tatsächlich der kollektive Kapitalist, die Mutter aller Akkumulation. (…) In dieser spezifischen Form sind die globalen Finanznetzwerke das Nervenzentrum des informationellen Kapitalismus. (…) Eine zweite Bedeutung der Klassenverhältnisse bezieht sich auf soziale Exklusion. Damit meine ich die Entkoppelung zwischen Menschen als Menschen und Menschen als Arbeitskräften/Konsumenten, die von der Dynamik des informationellen Kapitalismus auf globaler Ebene bewirkt wird. (…) Die Grenzlinie zwischen sozialer Exklusion und alltäglichem Überlegen verwischt für eine wachsende Zahl von Menschen in allen Gesellschaften zusehends. Der Verlust des Sicherheitsnetzes bedeutet vor allem für die neuen Generationen der Ära nach dem Wohlfahrtsstaat, wenn sie bei der beständigen Aktualisierung ihrer Fertigkeiten nicht mehr mithalten können und im Konkurrenzwettlauf zurückfallen, dass sie sich für die nächste Runde einreihen müssen, bei der jene schrumpfende Mitte, die während des Industriezeitalters einmal die Stärke der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften ausgemacht hat, einem erneuten downsizing unterzogen wird. Prozesse sozialer Exklusion erfassen daher nicht allein die „wahrhaft Benachteiligten“, sondern diejenigen Einzelpersonen und gesellschaftlichen Kategorien, die ihr Leben auf einen beständigen Kampf darum gründen, dem Absturz in eine stigmatisierte Unterwelt abgewerteter Arbeitskraft und sozial untauglich gewordener Menschen zu entgehen. Eine dritte Möglichkeit, die neuen Klassenverhältnisse diesmal in der Marxschen Tradition zu verstehen, fragt danach, wer die Produzenten sind und wer sich das Produkt ihrer Arbeit aneignet. Wenn Innovation die Hauptquelle der Produktivität ist, wenn Wissen und Information entscheidende Materialien des neuen Produktionsprozesses sind, und wenn Bildung die Schlüsselqualität der Arbeit ist, dann sind die neuen Produzenten des informationellen Kapitalismus diejenigen Wissensgeneratoren und Informationsprozessoren, deren Beitrag für das Unternehmen, die Region und die Volkswirtschaft am wertvollsten ist. Aber Innovation findet nicht isoliert statt. Sie ist Teil eines Systems, in dem das Management von Organisationen, die Verarbeitung von Wissen und Information sowie die Produktion von Gütern und Dienstleistungen miteinander verflochten sind. Nach dieser Definition umfasst diese Kategorie der informationellen Produzenten eine sehr große Gruppe von Managern, Experten und Technikern, die einen „Kollektivarbeiter“ bilden; also eine Produzenteneinheit, die aus der Kooperation zwischen unterschiedlichen, voneinander nicht abtrennbaren Arbeitskräften besteht. In den OECD-Ländern dürfte sie etwa ein Drittel der beschäftigten Bevölkerung ausmachen. Die meisten anderen Arbeitskräfte dürften sich in der Kategorie der generischen Arbeit befinden, sind potenziell durch Maschinen oder andere Mitglieder der generischen Arbeiterschaft ersetzbar. Sie benötigen die Produzenten, um ihre Verhandlungsmacht zu schützen. Aber die informationellen Produzenten haben sie nicht nötig. Das ist die grundlegende Kluft im informationellen Kapitalismus, die zur allmählichen Auflösung der Reste der Klassensolidarität aus der Industriegesellschaft führt. Wer aber eignet sich einen Teil der Arbeit der informationellen Produzenten? In einer Hinsicht hat sich gegenüber dem klassischen Kapitalismus nichts geändert: Es sind diejenigen, die die Produzenten anheuern, und das ist auch der Grund, warum sie das in erster Linie tun. Doch andererseits ist der Mechanismus der Überschussaneignung weit komplizierter. Erstens sind die Beschäftigungsverhältnisse tendenziell individualisiert, was bedeutet jeder einzelne Produzent anders bezahlt wird. Zweitens kontrolliert ein zunehmender Teil der Produzenten seinen Arbeitsprozess selbst und schafft sich spezifische horizontale 70

Arbeitsbeziehungen, sodass in hohem Maße selbstständige Produzenten auftreten, die den Marktkräften unterliegen, aber selbst Marktstrategien verfolgen. Drittens geht ihr Verdienst häufig in den Wirbelwind der globalen Finanzmärkte, die ja gerade aus dem wohlhabenden Teil der globalen Bevölkerung gespeist werden. (…) Die wirklich grundlegenden sozialen Bruchlinien im Informationszeitalter sind: erstens die interne Fragmentierung der Arbeitskräfte zwischen informationellen Produzenten und ersetzbarer generischer Arbeit. Zweitens die soziale Exklusion eines bedeutenden Segments der Gesellschaft, das aus ausrangierten Individuen besteht, deren Wert als Arbeitskräfte/Konsumenten aufgebraucht ist und deren Bedeutung als Menschen ignoriert wird. Und drittens die Trennung zwischen der Marktlogik der globalen Netzwerke der Kapitalströme und der menschlichen Erfahrung des Arbeitslebens. Die Machtbeziehungen werden durch den gesellschaftlichen Prozess, den ich in diesem Buch konstatiert und analysiert habe, ebenfalls verändert. Die wichtigste Transformation betriff die Krise des Nationalstaates als souveräne Einheit und die damit zusammen hängende Krise der politischen Demokratie, wie sie während der letzten beiden Jahrhundert entstanden ist. Weil staatliche Befehle nicht vollständig durchgesetzt werden und weil einige der grundlegenden Versprechen, die im Wohlfahrtsstaat verkörpert sind, nicht eingehalten werden können, sind die Autorität ebenso wie die Legitimität des Staates in Frage gestellt. (…) Unter derartigen Bedingungen passt sich informationelle Politik, die vor allem durch Symbolmanipulation im Medienraum erfolgt, gut in die sich ständig wandelnde Welt der Machtbeziehungen ein. Strategische Spiele, maßgeschneiderte Vertretung und personalisierte Führerschaft ersetzen Klassenbasis, ideologische Mobilisierung und Parteikontrolle, die für die Politik im Industriezeitalter charakterisiert waren. Weil die Politik zum Theater wird und die politischen Institutionen Verhandlungsagenturen anstatt Orte der Macht werden, reagieren die Staatsbürger auf der ganzen Welt defensiv und gehen eher zur Wahl, um den Staat vor Schaden zu bewahren, als ihn mit ihren Aufträgen zu betrauen. In gewissem Sinne ist das politische System von Macht entleert, freilich nicht von Einfluss. Macht verschwindet jedoch nicht. In einer informationellen Gesellschaft wird sie grundlegend in die kulturellen Codes eingeschrieben, mittels derer Menschen und Institutionen das Leben abbilden und Entscheidungen, auch politische Entscheidungen fällen. (…) Kulturelle Schlachten sind Schlachten um die Macht im Informationszeitalter. Sie werden vor allem in und von den Medien ausgefochten, aber die Medien sind nicht die Machthaber. Macht als die Fähigkeit, Verhalten zu erzwingen, liegt in den Netzwerken des Informationsaustauschs und der Symbolmanipulation, die soziale Akteure, Institutionen und kulturelle Bewegungen durch Ikonen, Sprecher sowie intellektuelle Verstärker miteinander in Beziehung setzen. Langfristig ist es nicht wirklich wichtig, wer an der Macht ist, weil die Verteilung politischer Rollen sich stark ausbreitet und rotiert. Es gibt keine stabilen Machteliten mehr. Es gibt jedoch von Macht abgeleitete Eliten, das sind Eliten, die sich während ihrer in der Regel kurzen Zeit als Machthaber gebildet haben, wenn sie ihre privilegierte politische Position nutzen, um dauerhafteren Zugang zu materiellen Ressourcen und gesellschaftlichen 71

Verbindungen zu gewinnen. Kultur als Quelle von Macht und Macht als Quelle von Kapital liegen der neuen gesellschaftlichen Hierarchie im Informationszeitalter zugrunde. Die Transformation der Verhältnisse der Erfahrung dreht sich vor allem um die Krisedes Patriarchalismus, die einer tiefgreifenden Neudefinition von Familie, Geschlechterbeziehungen, Sexualität und damit der Persönlichkeit zugrunde liegt. (…) Die grundlegendsten Transformation der Verhältnisse von Erfahrung im Informationszeitalter besteht in ihrem Übergang zu einem Muster sozialer Interaktion, das in erster Linie durch die tatsächliche Erfahrung der Beziehung konstruiert wird. Heutzutage produzieren die Menschen Formen von Geselligkeit und befolgen keine Verhaltensmodelle mehr. Die Veränderungen in den Verhältnissen von Produktion, Macht und Erfahrung konvergieren zur Transformation der materiellen Grundlagen von gesellschaftlichen Leben, Raum und Zeit. Der Raum der Ströme des Informationszeitalters beherrscht den Raum der Orte menschlicher Kulturen. Die zeitlose Zeit überlagert als die gesellschaftliche Tendenz zur Vernichtung der zeit durch Technologie die Logik der Uhrenzeit des Industriezeitalters. Das Kapital zirkuliert, die Macht regiert und die elektronische Kommunikation wirbelt durch Ströme von Austauschakten zwischen ausgewählten, voneinander entfernten Orten, während die fragmentierte Erfahrung auf Orte beschränkt bleib. Die Technologie komprimiert die Zeit zu wenigen, willkürlichen Augenblicken und zerstört so gesellschaftliche Abfolgen und enthistorisiert die Geschichte. Indem die Macht im Raum der Ströme abgetrennt wird, es dem Kapital ermöglicht wird, der Zeit zu entrinnen und die Geschichte in der Kultur des Ephemeren aufgelöst wird, entkörperlicht die Netzwerkgesellschaft die gesellschaftlichten Beziehungen und führt die Kultur der realen Virtualität ein. (…) Diese Virtualität ist unsere Realität, weil wir im Bezugsrahmen dieser zeitlosen, ortslosen Symbolsysteme die Kategorien konstruieren und die Bilder aufrufen, die Verhalten bestimmen, Politik anregen, Träume nähren und Alpträume auslösen. Die ist die neue Gesellschaftsstruktur des Informationszeitalters, die ich Netzwerkgesellschaft nenne, weil sie aus Netzwerken von Produktion, Macht und Erfahrung besteht, die eine Kultur der Virtualität in den globalen Strömen konstruieren, die Zeit und Raum überschreiten. Nicht alle Dimensionen und Institutionen der Gesellschaft folgen der Logik der Netzwerkgesellschaft. Genauso haben die Industriegesellschaften lange Zeit viele vorindustrielle menschliche Existenzformen enthalten. Aber alle Gesellschaften sind im Informationszeitalter sehr wohl, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität von der allgegenwärtigen Logik der Netzwerkgesellschaft durchdrungen, deren dynamische Expansion allmählich die zuvor bestehenden gesellschaftlichen Formen absorbiert und sich unterwirft. Die Netzwerkgesellschaft ist wie jede andere Gesellschaftsstruktur nicht ohne Widersprüche, soziale Konflikte und Herausforderungen durch andere Formen gesellschaftlicher Organisation. Aber diese Herausforderungen gehen von den Charakteristika der Netzwerkgesellschaft aus und unterscheiden sich daher deutlich von denen des Industriezeitalters. Demnach werden sie von anderen Subjekten verkörpert, obwohl diese Subjekte häufig mit historischem Material arbeiten, die aus den Werten und Organisationen stammt, die vom Industriekapitalismus und Etatismus ererbt wurden. (…)

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Die neuen Wege gesellschaftlicher Veränderung (…) Die Gesellschaften des Informationszeitalters lassen sich nicht auf die Struktur und die Dynamik der Netzwerkgesellschaft reduzieren. Meiner Durchsicht unserer Welt zufolge scheint es, dass unsere Gesellschaften durch die Interaktion zwischen dem „Netz“ und dem „Ich“ konstituiert werden, zwischen der Netzwerkgesellschaft und der Macht der Identität. Doch das fundamentale Problem, das durch Prozesse gesellschaftlicher Veränderung, die primär den Institutionen und Werten der bestehenden Gesellschaft äußerlich sind, aufgeworfen wird, besteht darin, dass sie die Gesellschaft fragmentieren könnten, anstatt sie neu zu konstituieren. Anstelle transformierter Institutionen hätten wir Kommunen aller Art. Anstelle soziale Klassen würden wir die Entstehung von Stämmen beobachten. Und Anstelle der konfliktiven Interaktion zwischen den Funktionen des Raumes der Ströme und dem Sinn des Raumes der Orte würden wir den Rückzug der herrschenden globalen Eliten in die immateriellen Paläste beobachten, die aus Kommunikationsneztwerken und Informationsströmen gemacht sind. Inzwischen würde die Erfahrung der Menschen sich weiterhin auf vielfältige, segregierte Orte beschränken, deren Existenz bedrückt und deren Bewusstsein bruchstückhaft wäre. Wenn es keinen Winterpalast zu erstürmen gibt, könnten Ausbrüche der Revolte in sich zusammenfallen und wären in alltägliche, sinnlose Gewalt verwandelt. Die Rekonstruktion der Institutionen der Gesellschaft durch kulturelle soziale Bewegungen, die die Technologie unter die Kontrolle der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen bringt, scheint einen langen Marsch zu erfordern: von den um Widerstandsidentität gebauten Kommunen zu den Höhen neuer Projektidentitäten, die aus den Werten erwachsen, die von diesen Kommunen gehegt werden. Beispiele für solche Prozesse, die in gegenwärtigen sozialen Bewegungen und gesellschaftlichen Politik zu beobachten sind, sind der Aufbau neuer, egalitärer Familien; die weitgehende Anerkennung des Konzeptes der nachhaltigen Entwicklung, durch das die Solidarität zwischen den Generationen in das neue Modell des Wirtschaftswachstums eingebaut wird; und die universelle Mobilisierung zur Verteidigung der Menschenrechte, wann immer diese Kampf aufgenommen worden ist. Damit dieser Übergang von der Widerstandsidentität zur Projektidentität unternommen wird, wird es nötig sein, das eine neue Form des Politikmachens entsteht. Das wird eine kulturelle Politik sein, die von der Voraussetzung ausgeht, dass sich die informationelle Politik überwiegend im Medienraum vollzieht und den Kampf mit Symbolen führt, jedoch den Anschluss an Werte und Probleme sucht, die aus der Lebenserfahrung der Menschen in Informationszeitalter entspringen.

Jenseits dieses Jahrtausends (…) Die informationstechnologische Revolution wird ihr Transformationspotenzial noch deutlicher zum Ausdruck bringen. Das 21. Jahrhundert wird von der Vollendung einer globalen Super-Datenautobahn und durch mobile Telekommunikations- und Computerkapazitäten gekennzeichnet sein, wodurch die Macht der Information dezentralisiert und weiter ausgebreitet wird, als Einlösung des Versprechens von Multimedia und Steigerung des Vergnügens an interaktiver Kommunikation. Elektronische Kommunikationsnetzwerke werden zum Rückgrat unseres Lebens werden. Außerdem wird es das Jahrhundert der vollen Blüte der gentechnischen Revolution. Unsere Gattung wird erstmals zu den Geheimnissen des Lebens vordringen und in der Lage sein, einschneidende Manipulationen an lebender Materie vorzunehmen. Dies wird sicher eine dramatische Debatte über die Folgen dieser Fähigkeit für Gesellschaft und Umwelt auslösen, aber die uns damit offen stehenden Möglichkeiten sind wahrhaft außerordentlich. Bei kluger Verwendung kann 73

die gentechnische Revolution heilen, Umweltverschmutzung bekämpfen, das Leben verbessern und Zeit und Anstrengung zum Überleben sparen, um uns die Chance zu geben, die weitgehend unbekannten Grenzregionen der Spiritualität zu erforschen. Wenn wir jedoch dieselben Fehler wie im 20. Jahrhundert begehen und Technologie und Industrialisierung einsetzen, um uns gegenseitig in grauenhaften Kriegen niederzumetzeln, könnten wir mit unserer neuen technologischen Macht sehr wohl dem Leben auf dem Planeten ein Ende setzen. Es hat sich als relativ einfach erwiesen, vor dem nuklearen Holocaust Halt zu machen, weil die Kontrolle über Atomkraft und Nuklearwaffen zentralisiert war. Aber die neuen Gentechnologien sind überall, ihre Auswirkungen auf Mutationen sind nicht vollständig kontrollierbar und ihre institutionelle Kontrolle ist viel stärker dezentralisiert. (…) Die globale Wirtschaft wird im 21. Jahrhundert expandieren und sich dabei die Macht der Telekommunikation und der Informationsverarbeitung zunutzen machen. Sie wird, während sie unablässig den gesamten Planeten nach neuen Möglichkeiten des Profitmachens absucht, alle Länder, alle Territorien, alle Kulturen, alle Kommunikationsflüsse und alle Finanznetzwerke durchdringen. Aber sie wird das selektiv tun und wertvolle Segmente zusammenschließen, während verbrauchte oder irrelevante Orte und Menschen ausrangiert werden. Die territoriale Uneinheitlichkeit der Produktion wird zu einer außerordentlichen Geografie unterschiedlicher Wertschöpfung führen, die scharfe Kontraste zwischen Ländern, Regionen und Ballungsgebieten mit sich bringt. Wertvolle Orte und Menschen werden, wie in diesem Band dargelegt, überall gefunden werden, selbst im subsaharanischen Afrika. Aber auch abgeschaltete Territorien und Menschen wird es überall geben, wenn auch in unterschiedlichen Proportionen. Die Erde wird gerade in deutlich unterschiedliche Räume segmentiert, die durch unterschiedliche Zeitregime definiert sind. Von den ausgeschlossenen Segmenten der Menschheit sind zwei unterschiedliche Reaktionsweisen zu erwarten. Einerseits wird es einen steilen Anstieg in dem Bereich geben, den ich als „perverse Koppelung“ bezeichne, was gleichbedeutend damit ist, das Spiel des globalen Kapitalismus mit anderen Regeln zu spielen. Die globale kriminelle Wirtschaft, deren Profil und Dynamik ich in Kapitel 3 dieses Bandes darzustellen versucht habe, wird ein grundlegendes Merkmal des 21. Jahrhunderts sein, und ihr wirtschaftlicher, politischer und kultureller Einfluss wird alle Lebensbereiche durchdringen. (…) Es gibt noch eine andere Reaktion auf soziale Exklusion und wirtschaftliche Irrelevanz, und ich bin davon überzeugt, dass sie im 21. Jahrhundert eine wesentliche Rolle spielen wird: die Exklusion der Ausschließenden durch die Ausgeschlossenen. Weil die gesamte Welt nach der Logik der Netzwerkgesellschaft in ihren grundlegenden Lebensstrukturen miteinander verflochten ist und sich dies sogar noch steigern wird, wird die Option für den Ausstieg für Menschen und Länder nicht im friedlichen Rückzug bestehen können. Sie nimmt die Form der fundamentalistischen Behauptung eines alternativen Systems von Werten und existenziellen Prinzipien an, und das wird auch so weiter gehen. (…) Das 21. Jahrhundert wird nicht finsteres Mittelalter sein. Und es wird den meisten Menschen auch nicht all das Gute bringen, das die außerordentlichste technologische Revolution der Geschichte verheißen hat. Es könnte vielmehr durchaus von informierter Verwirrung geprägt sein.

Was tun? Jedes Mal, wenn ein Intellektueller versucht hat, diese Frage zu beantworten und die Antwort ernsthaft in die Tat umzusetzen, ist es zur Katastrophe gekommen. Das galt vor allem für 74

einen gewissen Uljanov im Jahr 1902. Obowohl ich mich sicherlich nicht anheischig mache, diesen Vergleich auszuhalten, werde ich mich deshalb enthalten, irgendwelche Heilmittel für unsere Welt vorzuschlagen. (…) Ich habe jedoch so viele fehlgeleitete Opfer gesehen, so viele von Ideologien hervorgerufene Sachgassen und solchen Schrecken, hervorgerufen von den künstlichen Paradiesen dogmatischer Politik, dass ich einen heilsamen Widerwillen gegen den Versuch vermitteln möchte, politische Theorie an einer Gesellschaftstheorie auszurichten oder natürlich auch an einer Ideologie. Theorie und Forschung sollten allgemein genauso wie in diesem Buch als Mittel zum Verständnis unserer Welt betrachtet und ausschließlich aufgrund ihrer Genauigkeit, Strenge und Relevanz beurteilt werden. Wie und zu welchem Zweck diese Instrumente benutzt werden, sollte allein Sache der gesellschaftlichen Akteure selbst, in ihrem spezifischen sozialen Zusammenhang und im Namen ihrer Werte und Interessen sein. Keine Meta-Politik mehr, keine „Meisterdenken“ und keine Intellektuellen, die vorgeben, solche zu sein. Die grundlegendste politische Befreiung besteht darin, dass sich die Menschen vom unkritischen Festhalten an theoretischen oder idologischen Schemata befreien und ihre Praxis auf die Grundlage ihrer eigenen Erfahrung stellen, wobei sie jegliche Information oder Analyse nutzen, die ihnen aus vielfältigen Quellen zur Verfügung steht. Im 20. Jahrhundert haben Philosophen versucht, die Welt zu verändern. Im 21. Jahrhundert ist es Zeit, sie unterschiedlich zu interpretieren. Deshalb meine Vorsicht, die keine Gleichgültigkeit gegenüber einer Welt ist, die von ihren eigenen Versprechen beunruhigt ist.

Finale Das Versprechen des Informationszeitalters besteht in der Entfesselung einer nie da gewesenen produktiven Fähigkeit durch die Macht des Geistes. Ich denke, also produziere ich. Dabei werden wir die Muße haben, mit Spiritualität zu experimentieren und die Gelegenheit, uns mit der Natur auszusöhnen, ohne das materielle Wohlergehen unserer Kinder zu opfern. Der Traum der Aufklärung, dass Vernunft und Wissenschaft die Probleme der Menschheit lösen, ist greifbar nahe. Es besteht jedoch eine außerordentliche Kluft zwischen unserer technologischen Überentwicklung und unserer sozialen Unterentwicklung. (…) Dieser Zustand muss nicht sein. Es gibt kein ewig Böses in der menschlichen natur. Es gibt nichts, was nicht durch bewusstes, zielgerichtetes Handeln verändert werden könnte, dem Information zur Verfügung steht und das sich auf Legitimität stützen kann. Wenn die Menschen informiert und aktiv sind und über die ganze Welt hinweg miteinander kommunizieren; wenn die Wirtschaft soziale Verantwortung übernimmt; wenn die Medien zu Boten werden, anstatt Botschaften zu sein; wenn sich politisch Handelnden gegen den Zynismus wenden und den Glauben an die Demokratie wieder herstellen; wenn die Kultur aus der Erfahrung wieder hergestellt wird; wenn die Menschheit die Solidarität der Gattung auf dem gesamten Globus spürt; wenn wir mit der Solidarität zwischen den Generationen Ernst machen, indem wir mit der Natur in Harmonie leben; wenn wir zur Erforschung unseres inneren Ich aufbrechen, nachdem wir miteinander Frieden geschlosssen haben. Wenn all dies durch unsere informierte, bewusste, gemeinsame Entscheidung möglich wird, während es noch Zeit ist, werden wir vielleicht endlich in der Lage sein, zu leben und leben zu lassen, zu lieben und lieben zu lassen.

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VIII. ICIE Symposium http://icie.zkm.de/congress2004

INTERNATIONAL ICIE SYMPOSIUM 2004 Localizing the Internet: Ethical Issues in Intercultural Perspective Venue Center for Art and Media Karslruhe (ZKM), Medientheater Lorenzstr. 19, D-76135 Karlsruhe, Germany 4-6 October, 2004 ORGANIZERS On Behalf of ICIE: Rafael Capurro, Thomas Hausmanninger, Rupert Scheule Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), Karlsruhe Karlsruher Forum für Ethik in Recht und Technik e.V. CALL FOR PAPERS The ongoing debate on the impact of the Internet at a global and local levels is at the core of today's and tomorrow's political decision-making, particularly in a world that turns more and more unified – and divided. It is also at the core of academic research on what has been called Information Ethics. The leading ethical question is how embodied human life is possible within local cultural traditions and the horizon of a global digital environment. The first international symposium of the International Center for Information Ethics (ICIE) will deal with this question from three perspectives: - Internet for Social and Political Development: Community Building - Internet for Cultural Development: Restructuring the Media - Internet for Economic Development: Empowering the People The ethical perspective on intercultural aspects of the global digital network is a normative as well as a formative one. The symposium addresses the question of how people with different cultural backgrounds integrate the Internet in their lives. This concerns in the first place community building. How far does the Internet affect, for better or worse, local community building? How far does it allow democratic consultation? How do people construct their lives within this medium? How does it affect their customs, languages, and everyday problems? The question about information justice is thus not just an issue of giving everybody access to the global network (a utopian goal?), but rather an issue on how the digital network helps people to better manage their lives while avoiding the dangers of exploitation and discrimination. It deals, secondly, with the changes produced by the Internet on traditional media, such as oral and written customs, newspapers, radio and TV, the merger of mass media, the telephone and the internet, and the impact of the Internet on literary culture. The symposium also reflects on the next generation of information and communication 76

technologies such as ubiquitous computing and on what might be called the post-internet era. This aspect of the ethical question focuses on new methods of manipulation and control made possible or aggravated by the Internet. Finally, it deals with the economic impact of the Net. Is it a medium that helps people to better opportunities for economic development? Or is it an instrument of oppression and colonialism? What is the impact of this technology on the environment? How does it affect what has been called cultural memory or cultural sustainability? The symposiuim offers a platform for an academic exchange on these issues, to be addressed by keynote speakers and discussed in working groups focused on Asia, Africa, Latin America/Caribbean, and USA/Europe. Group discussions will aim at addressing problems as well as best-practice experiences. Although the organisers will do their best for providing necessary conditions for relaxed yet engaged dialogue, the success of the symposium will reflect the contributions and enthusiasm of the participants to make it work. The symposium is a contribution to the international debate on the information society at the World Summit on the Information Society (WSIS) being held in Geneva (2003) and Tunis (2005). A selection of the papers will be published in the ICIE Series at Fink Verlag (Munich) in a volume edited by Rafael Capurro, Thomas Hausmanninger and Rupert Scheule. All accepted extended abstracts (500-700 words) will be published at the website of the symposium. They should be sent per e-mail to Rafael Capurro: [email protected] Deadline for submission: April 30, 2004. In case an extended abstract has been submitted and accepted it can be discussed on the basis of a short presentation (no more than 15 minutes) in the working groups. Active participation in the working groups is only permitted in case the participant has sent previously (deadline June 30, 2004) an e-mail to the organizing committee: [email protected] Fees: € 30,- (Students: € 15,-) or € 10,- per day (Students: € 5,-) to be paid at the bureau of the symposium.

PRELIMINARY PROGRAMME Monday, October 4 10:00 Welcome Address I. Internet for Social Development: Community Building 11:00 - 12:00 Daniel Pimienta (President, Fundación Funredes, Dominican Republic): At the boundaries of ethics and cultures: virtual community as an open ended process carrying the will for social change 12:00 - 13.15 Lunch 13.30 - 15:00 Vikas Nat (Policy Analyst, UN Development Programme): Weaving Politically-relevant and Inclusive Community networks: How Internet is Changing Information Flows In Developing Countries. With case-studies from Asian Communities Makoto Nakada (University of Tsukuba, Japan): Closed community consciousness: The relationship between „shared world“ orientation and people's attitudes concerning information media in Japan

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Susana Finquelievich (Universidad de Buenos Aires, Argentina):A Toolkit to Empower Communities in Latin America 15:15 - 16:45 Working groups 17:00 - 18:45 Forum: Reports from the working groups, discussion 19:00 Reception Tuesday, October 5 II. Internet for Cultural Development: Restructuring the Media 9:30 - 10:30 Issiake Mandé (Paris/Burkina Faso): „New Technologies“ and „Ancient Africa“: the Impact of New Information and Communication Technologies in SubSaharian Africa. 10:30 - 12:00 Working groups 12:00 - 13:15 Lunch 13:30 - 14:30 Charles Ess (Drury University, USA): Can the Local Reshape the Global? Ethical Imperatives for Humane Intercultural Communication Online - Views from the Centers and the Margins Wolfgang Coy (Humboldt-Universität zu Berlin): On Sharing Intellectual Properties in Global Communities 14:30 - 16:00 Working groups 16:00 - 16:30 Coffee break 16:30 - 18:30 Forum: Reports from the working groups, discussion 19:00 Dinner Wednesday, October 6 III. Internet for Economic Development: Empowering the People 9:30 - 10:30 Michel Menou (Paris/City University, London, UK): Buzzwords and indicators about the networked society: metaphor, vacuity or fraud? 10:30 - 12:00 Working groups 12:00 - 13:00 Forum: Reports from the working groups, discussion 13:00 Final Address

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