Konzept KSA - Kantonsspital Aarau

January 15, 2018 | Author: Anonymous | Category: Wissenschaft, Gesundheitswissenschaften, Psychiatrie
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Interdisziplinäres Anorexiekonzept Medizinische Universitätsklinik KSA 1. Einleitung 1.1 Ziel der Behandlung am KSA 2. Definition 3. Eintritt, Behandlungsziel und Vertrag 3.1 Allgemeine Regeln bei Eintritt 3.2 Behandlungsziel und Individueller Behandlungsvertrag 3.3 Erläuterungen zum Vertrag 4. Anamnese, Untersuchungen 4.1 Anamnese 4.2 Somatische Komplikationen und Differentialdiagnosen 4.3 Somatisches Risiko 5. Aspekte der Behandlung 5.1 Allgemein 5.2 Ernährungstherapie 5.3 Psychotherapie/Rolle des EPD 5.4 Ergotherapie 5.5 Medikamentöse Therapie 5.6 Refeeding-Syndrom 5.7 Vertragsbruch/Entlassung/Zwangsbehandlung 6. Ablauf auf der Station und pflegerische Aspekte 6.1 Umgang auf Station und im Behandlungsteam 6.2 Tagesplan 6.3 Essensregeln 6.4 Interdisziplinäre Zusammenarbeit Arztdienst – Pflegdienst – EPD 6.5 Tipps zur Kommunikation 7. Literatur/Links 8. Adressen von Kliniken

1 Einleitung Die Anorexia nervosa ist ein komplexes Krankheitsbild mit schweren, mitunter lebensbedrohlichen Komplikationen. Sie manifestiert sich meist in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter und betrifft zu 90% Frauen. Je jünger die Patientinnen sind und je kürzer die Krankheitsdauer, desto besser sind die Erfolgsaussichten einer Therapie (im pädiatrischen Kollektiv sinkt die Prognose allerdings wieder bei Manifestation vor der Adoleszenz). Über einen Zeitraum von 20 Jahren werden etwa 30% der PatientInnen geheilt, bei 35% tritt eine Verbesserung ein, 20% weisen einen chronischen Verlauf auf und 10% versterben (zitiert in [1]). Patientinnen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr werden aus formalen Gründen in der Kinderklinik resp. Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt.

AG: Susanne Delmenico, OÄ Medizin, Barbara Schoch, SL 721, Sabrina Biedermann PFF 701, Melanie Gutherz, PFF 701, Annette Mori, PE Medizin, Andrea Pfister PE Medizin, Simone Bürgler, Ernährungsberatung, August 2011, revidiert Jan 2012. Leitung: Prof. Dr. med. Beat Müller

1.1 Ziel der Behandlung am KSA Meist führt eine somatisch bedrohliche Situation zu einer Einweisung ins Kantonsspital Aarau. Als Akutspital ist unsere Aufgabe die somatische Behandlung. Wir therapieren die lebensbedrohliche Situation mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln, streben eine Gewichtszunahme an und planen eine weitere, angepasste Behandlung an einem Therapieplatz in einer entsprechend spezialisierten Institution oder in einem ambulanten Setting. Es ist nicht das Ziel, eine längerdauernde Behandlung im KSA durchzuführen. Das vorliegende Konzept soll praxisorientiert die Behandlung der Patientinnen und Patienten mit einer Anorexia nervosa an der Klinik für Innere Medizin KSA wiedergeben. Es beinhaltet ärztliche, pflegerische und organisatorische Aspekte des Spitalaufenthalts sowie Empfehlungen und Überlegungsansätze für das Therapievorgehen.

2 Definition Die Anorexia nervosa ist gemäss WHO-Klassifikation ICD-10 wie folgt definiert: Anorexia nervosa (International Classification of Diseases (WHO) ICD-10: F50.0) 1. Untergewicht mit einem BMI von 17,5kg/m2 oder weniger (bei Kindern/Jugendlichen mit einem BMI < 10. BMI-Perzentile) 2. Gewichtsverlust ist selbstverursacht 3. Körperschemastörung (Störung der eigenen Körperwahrnehmung), starke Angst vor Gewichtszunahme oder davor dick zu werden trotz bestehendem Untergewicht 4. Endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse (bei Frauen und Mädchen Amenorrhoe, bei Männern Libido- und Potenzverlust)

Es gibt 2 Subtypen der Anorexia nervosa: -

Der Restriktive Typ (Asketische Form), ICD-10: F50.00 Keine Essanfälle, keine aktiven Massnahmen zur Gewichtsabnahme, reine Nahrungseinschränkung

-

Der Bulimische Typ (Binge-/Purging-Typ), ICD-10: F50.01 Massnahmen zur Gewichtsreduktion wie selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Medikamenten (z.B. Laxantien), evtl. Heisshungeranfälle

Der bulimische Subtyp der Anorexia nervosa ist von der Bulimia nervosa1 abzugrenzen, bei der die Patientinnen normalgewichtig sind. 1

Bulimia nervosa (ICD-10:F50.2): 1. Essattacken mit Kontrollverlust, andauernde Beschäftigung mit Essen, unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln. 2. Selbstinduziertes Erbrechen u./o. andere kompensatorische Massnahmen (Laxantien, Diuretika, Emetika, zwanghafte körperliche Aktivität oder Fasten) um einen Gewichtsanstieg zu verhindern. 3. Übermässige Sorge um Körperfigur und Gewicht mit starkem Einfluss auf das Selbstwertgefühl. 4. Häufig Anorexia nervosa in der Vorgeschichte.

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3 Eintritt, Behandlungsziel und Vertrag Der Eintritt erfolgt über die Notfallstation oder als reguläre Zuweisung. In der Regel ist es nicht möglich, am Eintrittstag die gesamte Vorgeschichte mit früheren Hospitalisationen und ambulanten Therapien zu erfassen, eine Standortbestimmung durchzuführen und das Behandlungsziel am KSA festzulegen. In den ersten Tagen gilt es, die bedrohliche somatische Situation zu behandeln (z.B. Kaliumsubstitution, Telemetrieüberwachung) und Informationen einzuholen. Anschliessend wird mit der Patientin (und ihren Angehörigen) ein Behandlungsziel definiert, das Therapievorgehen am KSA festgelegt und (meist) ein Behandlungsvertrag abgeschlossen. Dieser Vertrag regelt die Art und Weise der Nahrungsaufnahme, das Ausmass der Mobilität, die wöchentlich geforderte Gewichtszunahme sowie die Massnahmen bei deren Nichterreichen und ein allfälliges Verlegungs-/Entlassungsgewicht. In der Zeit bis zum Inkrafttreten dieses Vertrags (erste ca. 3 Tage) gelten allgemeine Regeln: 3.1 Allgemeine Regeln bei Eintritt Allgemeine Regeln bei Eintritt bis zum Abschluss eines individuellen Vertrags mit der Patientin besprechen: Ernährung: Die Essensbestellung erfolgt zusammen mit der Pflege. Es wird die ½ Portion eines kompletten Menus bestellt (inkl. Dessert und Salat) zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten in Form von Crèmes, Frappées oder Brot mit Käsli (Quark, Hüttenkäse) (=1600kcal). Das Essen bleibt ca. 30 Minuten im Zimmer. Patientin soll ½ Stunde liegen nach dem Essen, es bleiben keine Esswaren im Zimmer. Zwischenmahlzeiten werden zu den vorgegebenen Zeiten gebracht. Mobilität: Aufenthalt im Zimmer und auf der Abteilung für eine Woche, während dieser Zeit auch nicht in Begleitung ins Freie oder auf andere Abteilungen. Gewichtskontrollen: Täglich vor dem Frühstück in Unterwäsche. Auf Verordnung unangekündigte (Zusatz-)Messung im Verlauf des Tages, namentlich bei morgendlicher Potomanie. Überwachung: Blutdruck und Puls werden 2xtäglich kontrolliert. 3.2 Behandlungsziel und Individueller Behandlungsvertrag Blutentnahmen: Ist kein Behandlungsauftrag von den zuweisenden Ärzten und Therapeuten im Gemässspezifischer separater Verordnung. Vorfeld definiert worden, ist das primäre Ziel die somatische Behandlung mit Verbesserung des körperlichen Allgemeinzustandes mit Korrektur spezifischer Mangelzustände, Gewichtszunahme und Behandlung somatischer Komorbiditäten und Komplikationen. Das sekundäre Ziel besteht im Etablieren eines psychotherapeutischen Settings, in welchem die weitere Therapie erfolgen kann. Bei stark untergewichtigen Patientinnen oder erheblicher psychiatrischer Komorbidität ist eine stationäre Therapie indiziert. Im Kanton Aargau sind hierfür die Kliniken Barmelweid und Schützen spezialisiert. Wichtig ist, das Behandlungsziel und Therapievorgehen dem individuellen Krankheitsverlauf und der individuellen Patientin anzupassen. Bei erst kurzer Krankheitsdauer und jungen Patientinnen muss aus prognostischen Gründen alles daran gesetzt werden, eine Gewichtszunahme zu erreichen und eine angepasste (stationäre) Psychotherapie durchzuführen. Hingegen ist bei chronischem Verlauf einer Anorexia nervosa mit bereits langjähriger Krankheitsdauer im Sinne einer palliativen Situation als Behandlungsziel unter Umständen auch nur eine gewisse somatische Stabilisierung und Verbesserung der Lebensqualität festzulegen [2]. Für eine stationäre Therapie verlegen wir die Patientinnen primär in die Klinik Barmelweid. Die Patientin muss dort für ein Vorgespräch angemeldet werden: 3

Anmeldung Vorgespräch Klinik Barmelweid: Abteilung Psychosomatik, Klinik Barmelweid AG, 5017 Barmelweid Leitung: Dr. Esther Hindermann, Chefärztin, Dr. Thomas Kieser, Co-Chefarzt Kontakt: Sekretariat (Heidi Braunschweiler), Tel. 062 857 22 51, Fax 062 857 27 41 Telefonisch ist via das Sekretariat ein Termin zu vereinbaren und per Fax ein Einweisungszeugnis mit den wesentlichen Informationen zu übermitteln. In besonderen Situationen, bei Fragen oder Dringlichkeit empfiehlt es sich auch, direkt mit Dr. Thomas Kieser Kontakt aufzunehmen.

Zum Vorgespräch sollten auch die Eltern resp. Bezugspersonen mitgehen. Normalerweise wird für einen Eintritt in die Klinik Barmelweid kein Mindestgewicht gefordert und ein Übertritt ist innerhalb von 3-4 Wochen möglich. Ist eine Verlegung in die Klinik Barmelweid nicht möglich – von der Patientin abgelehnt und/oder von der Klinik Barmelweid abgelehnt – ist die Verlegung in eine andere Klinik/Institution zu prüfen (Adressen siehe unter Punkt 8). Bei ausserkantonalen Therapieplätzen muss eine Kostengutsprache beim Kantonsarzt eingeholt werden. Nur in Ausnahmefällen sollte eine längerdauernde Therapie im KSA durchgeführt werden. Während des Aufenthalts im KSA ist frühzeitig (d.h. am Eintrittstag) und angepasst an das Behandlungsziel ein individueller Vertrag mit der Patientin abzuschliessen:

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Behandlungsvertrag für Patientinnen/Patienten mit Anorexia nervosa auf der Medizinischen Bettenstation KSA Patientin/Patient: ……………………………………………………………… Stationsärztin/-arzt: ……………………………… Bezugsperson Pflege:…………………………….. Eintrittsgewicht*: …………… kg am ……………………… * =1. Nüchterngewicht während Hospitalisation

Grösse: …………... cm BMI: ……………….. kg/m2

Vertrag erstellt am: ……………………………… Gesamtziel Spitalaufenthalt (Behandlungsziel): ………………………………………………………………………………………………………………. . ………………………………………………………………………………………………………………. . Geforderte wöchentliche Gewichtszunahme:

□ wöchentliche Gewichtszunahme im Bandbereich, durchschnittlich mind. 500g pro Woche □ anderes: …………………………………………………………………………………………………. Gewichtskontrollen:

□ 2x wöchentlich am Montag und Donnerstag, regulärer Stichtag ist der Donnerstag □ anderes: …………………………………………………………………………………………………. In Unterwäsche (Unterhose, Unterleibchen, ohne Schmuck, ohne Uhr, ohne Schuhe) vor dem Frühstück und mit geleerter Blase. Versuchen Sie nicht, zum Beispiel mit Trinken von grossen Wassermengen frühmorgens, Ihr Gewicht kurzfristig anzuheben. Es können an jeden Tag zusätzliche Gewichtskontrollen zu unterschiedlichen Zeiten ohne Vorankündigung erfolgen. Falls wir glauben dass im Verlauf der Gewichtsanstieg bzw. das nahe Erreichen unseres Zielgewichtes (bzw. Ihre Angst dieses zu überschiessen) sie belastet, so werden wir Ihnen das aktuelle Gewicht nicht nennen. Ernährung: Die Ernährung ist ein zentraler Bestandteil Ihrer Behandlung. Das Essen ist für Sie wie ein Medikament, das Sie für die Behandlung Ihrer Krankheit benötigen und damit Ihr Körper wieder normal funktionieren kann. Die verordnete Menge erlaubt Ihnen eine Gewichtszunahme von mind. 500g pro Woche und die Zusammensetzung mit allen Komponenten ergibt eine ausgewogene Ernährung. Sie verpflichten Sich, die Mahlzeiten resp. Sondenkost einzunehmen und weder zu erbrechen noch auf irgendwelche Art zu entsorgen.  ½ Portion eines Menu bestehend aus drei Hauptmahlzeiten inklusive Dessert und Salat, zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten in Form von Crèmes, Frappées oder Brot mit Käsli (Quark, Hüttenkäse) Sie können zwischen den Kostformen „classique“, „léger“, „mediterranée“ und „vegetarisch“ wählen. Das Essen bleibt ca. 30 Min. im Zimmer, ½ Stunde Liegen nach dem Essen. Es 5

sollen keine Esswaren im Zimmer bleiben. Zwischenmahlzeiten werden zu den vorgegebenen Zeiten gebracht, innert 30 Minuten gegessen (auf Verordnung unter Beobachtung) und dann weggeräumt. Nach dem Essen kann eine überwachte Nachkontrolle verordnet werden (zB 60Min) um erbrechen vorzubeugen.  Sondenkost: Liegt das Gewicht zweimal unterhalb des vorgegebenen Gewichtsbandes oder bei Gewichtsabnahme von mehr als 1kg/Woche erfolgt eine Ernährung über Magensonde bis das Gewicht wieder zweimal innerhalb des vorgegebenen Gewichtsbandes liegt

□ anderes: …………………………………………………………………………………………………. ………………………………………………………………………………………………………………. . ………………………………………………………………………………………………………………. . Mobilität: Das Ausmass der Mobilität wird aufgrund der Schwere Ihrer Erkrankung festgelegt. Bei fehlender Gewichtszunahme und/oder starken psychischen Symptomen wird Ihre Mobilität eingeschränkt. Dies dient zu Ihrem Schutz. Bei positivem Verlauf werden Ihnen wieder mehr Freiheiten erlaubt. In der 1. Woche „abteilungsmobil“ (Datum bis:……………), das heisst Sie dürfen sich im Zimmer und auf der Abteilung aufhalten, nicht jedoch auf anderen Abteilungen oder im Freien (auch nicht in Begleitung). Wird die geforderte wöchentliche Gewichtszunahme erreicht, kann die eingeschränkte Mobilität erweitert werden, z. B. 30 Minuten Park oder Cafeteria in Begleitung. Bei Vertragsbeginn: ….………………………………………………………………………………….… ………………………………………………………………………………………………………………. Psycho-somatische bzw. psychiatrische Begleittherapie: Es ist uns ein grosses Anliegen, dass Sie neben der somatischen Betreuung während der Hospitalisation im KSA auch psychiatrisch-psychotherapeutisch fachärztlich begleitet werden. Deshalb findet bei Eintritt auch eine konsiliarische Untersuchung durch einen Facharzt (Psychiater) des extern psychiatrischen Dienstes statt. Das psychiatrische Gespräch wird bedarfsgesteuert im Verlauf ein- bis mehrfach pro Woche während ihrer Zeit am KSA wiederholt. Läuft bereits eine ambulante Behandlung können wir auf Ihren Wunsch diesen KollegIn über den Verlauf informieren bzw. miteinbeziehen. Name eines zu informierenden Psychiaters / Psychologen aus der ambulanten Therapie: ….………………………………………………………………………………….… Ich akzeptiere die festgehaltenen Punkte vollumfänglich und erkläre mich mit den getroffenen Vereinbarungen einverstanden. Vertragsänderungen werden nur während der gemeinsamen Visite mit dem Pflege- und Arztdienst von Montag – Freitag besprochen und schriftlich festgehalten.

Datum:

Patientin/Patient:

Ärztin/Arzt:

Pflege:

…………………………………………………………………………….………………………….. 6

Zusatzvertrag im Verlauf der Hospitalisation Patientin/Patient: ……………………………………………………………… Stationsärztin/-arzt: …………………………… Bezugsperson Pflege:……………………………... Erstellt am: ………………………………

Zusätzlich zum Behandlungsvertrag gelten die folgenden neuen Vereinbarungen (nur Änderungen vermerken):

Behandlungsziel: ………………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………………………….

Gewichtszunahme: ……………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………………………….

Ernährung: ……………………………………..………………………………………………………….. ………………………………………………………………………………………………………………. ………………………………………………………………………………………………………………. Mobilität: ......................................................................................................................................... ………………………………………………………………………………………………………………. .

Ich erkläre mich mit diesen zusätzlichen/neuen Vereinbarungen einverstanden. Vertragsänderungen werden nur während der gemeinsamen Visite mit dem Pflege- und Arztdienst von Montag – Freitag besprochen und schriftlich festgehalten.

Datum:

Patientin/Patient:

Ärztin/Arzt:

Pflege:

…………...………………………………………………………………..…………………………..

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3.3 Erläuterungen zum Vertrag für das Behandlungsteam Gesamtziel Spitalaufenthalt (Behandlungsziel): Eine Verlegung in die Klinik Barmelweid erfolgt in der Regel ohne untere Gewichtslimite. Wird ein Mindestgewicht gefordert, ist dieses hier zu vermerken, ebenso wie lange es gehalten werden muss bis zur Verlegung. Wird im Anschluss an die Hospitalisation im KSA eine ambulante Therapie durchgeführt, ist ein Austrittsgewicht zu formulieren. Dieses ist interdisziplinär abzusprechen unter Einbezug des Therapieverlaufs, der psychosozialen Situation und des Allgemeinzustandes der Patientin sowie des nachfolgenden therapeutischen Settings. Als Faustregel kann ein BMI von mindestens 16kg/m2 als Zwischenziel genannt werden, das Endziel ist immer die Normalisierung des Gewichts mit einem BMI von 18,5kg/m2. Geforderte Gewichtszunahme: Eine durchschnittliche Gewichtszunahme von mind. 500g (bis maximal 1kg) pro Woche ist realistisch und sinnvoll. Das wöchentliche Zielgewicht wird in einem Bandbereich festgelegt (Gewichtsverlauf in der Gewichtskurve eintragen). Bei Unterschreiten des Bandes sind Massnahmen zur Erhöhung der Energiezufuhr zu treffen (s. unter Ernährung). Bei dauerhafter Überschreitung resp. anhaltend steilem Kurvenanstieg kann eine Verminderung der Energiezufuhr individuell evaluiert werden. Gewichtskontrollen: Wichtig ist die Verwendung der stets gleichen Waage, um nicht Anlass zu unnötigen Diskussionen zu geben. Diese ist auf jeder Abteilung speziell zu kennzeichnen. Es werden Gewichtskontrollen am Montag und Donnerstag durchgeführt mit Donnerstag als Stichtag (genügend Zeit für Vertragsanpassung vor dem Wochenende). Auf Verordnung unangekündigte (Zusatz-)Messung im Verlauf des Tages, namentlich bei morgendlicher Potomanie. Gewichtskontrollen am Wochenende sind nach Möglichkeit zu vermeiden um nicht Diskussionen zu provozieren mit einem in der Behandlung der Patientin unvertrauten Team. Ernährung: Der benötigte Energiebedarf für eine Gewichtszunahme von 500g pro Woche kann mit der folgenden Formel abgeschätzt werden: Energiebedarfsabschätzung [3]:

Grundumsatz [kcal/d]:

Körpergewicht [kg] x 24

Aktivitätsfaktor:

x 1,3 (sitzende Tätigkeit)

Gewichtszunahme von 500g/Woche:

+ 500kcal

Bsp.: Frau mit 36kg -> Grundumsatz von 864kcal x 1,3 + 500kcal = 1623kcal

Im KSA können nur entweder ganze oder halbe Portionen eines vollwertigen Menus bestellt werden (ganze Portion = ca. 2000-2400 kcal, halbe Portion = ca. 1000-1200kcal). Für alle Patientinnen wird zu Beginn der Hospitalisation ½ Portion des kompletten Menus, bestehend aus drei Hauptmahlzeiten inklusive Dessert und Salat bestellt, zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten in Form von Crèmes, Frappées oder Brot und Käsli (Quark, Hüttenkäse), was zusammen ca. 1600kcal ergibt. Die Patientinnen können zwischen den Kostformen „classique“, „léger“, „mediterranée“ und „vegetarisch“ wählen. Von der Pflege ist die gegessene Menge zu dokumentieren. Sollte sich im Verlauf darunter eine ungenügende Gewichtszunahme zeigen, kann auf eine ganze Portion umgestellt werden, dies auch bei Wunsch der Patientin nur drei Mahlzeiten einzunehmen. Es ist wichtig, dass ein komplettes Menu mit allen drei Komponenten (Proteinlieferant, Kohlenhydratlieferant, Gemüse/Salat) bestellt wird (die Suppe kann weggelassen werden). Der Proteinlieferant ist immer ein schwieriger Punkt, da die meisten Anorektikerinnen vegetarisch essen. Trinknahrungen können hier eine Hilfe sein um Kalorien- und Proteinzufuhr gezielt zu erhöhen. Eine Übersicht über die vorhandenen Präparate 8

und Geschmacksrichtungen findet sich im Pocket-Guide auf Seite 14. Häufig gründet aber die ungenügende Protein- und Kalorienzufuhr im Weglassen von entsprechend dichten Nahrungsmitteln aus Angst vor Gewichtszunahme. Die Essensdokumentation der Pflege ist hier in der Beurteilung sehr wichtig. Die Essensbestellung erfolgt durch die Pflege und die Patientinnen haben sich an die oben erwähnten Richtlinien zu halten (komplettes Menu mit drei Komponenten, nur Kostform „classique“, „léger“, „mediterranée“ oder „vegetarisch“, zwei Zwischenmahlzeiten zusätzlich). Eine grössere Auswahl würde die Patientinnen überfordern. Da Essen für die Patientinnen mit Angst und Kontrollverlust verbunden ist, werden Diskussionen in der Essensauswahl unvermeidlich auftreten. Um diesen nicht Vorschub zu leisten soll die Ernährungsberatung nicht für die Essensbestellung beigezogen werden. Die Ernährungsberatung ist für die Essensbestellung nur bei Allergien und/oder Unverträglichkeiten (z.B. Lactoseintoleranz) beizuziehen oder wenn im Verlauf andere spezifische Fragen oder Probleme auftreten. Ansonsten arbeitet sie im Hintergrund beratend. Kann mit normalem Essen keine Gewichtszunahme erreicht werden, muss eine Sondenernährung erfolgen. Hier ist mit der Patientin zu besprechen, ob die Sondenernährung zusätzlich zum normalen Essen erfolgen soll oder dieses ganz ersetzen soll. Für die Patientinnen kann es mitunter entlastend sein, vorübergehend nicht mehr essen zu müssen. Als Sondennahrung wird in der Regel Novasource verwendet (1ml = 1,5kcal). Bei alleiniger Sondenkost gilt folgendes Schema: 1. Tag: 5x100ml, 2. Tag: 5x150ml, 3. Tag: 5x200ml, ab 4. Tag: 5x250ml. Bei ergänzender Sondenkost ist mit 5x100ml zu starten und je nach Gewichtsverlauf weiter zu steigern. Bei einem bei Eintritt bereits bedrohlichen körperlichen Zustand kann der direkte Beginn mit einer Sondenernährung indiziert sein. Ergänzende Informationen zur Zusammensetzung finden sich im Pocket Guide Seite 14. Kalorien berechnen: Ist die genaue tägliche Kalorienzufuhr gewünscht, soll die Ernährungsberatung mit entsprechendem Auftrag beigezogen werden. Die Pflege führt Essprotokoll (auf Logimen-Ausdruck) und notiert darauf die Menge der gegessenen Nahrungsmittel. Dieses Protokoll wird 2x/Woche (i.d.R. am Montag und Donnerstag; in Absprache auch werktäglich) durch die Ernährungsberatung berechnet und im KISIM dokumentiert. Auf Wunsch kann das berechnete Essprotokoll auch an die Station / Assistenzarzt gesendet werden. Mobilität: Häufig braucht es zu Beginn eine Einschränkung der körperlichen Aktivität für eine Gewichtszunahme [7]. Die Patientinnen sind in der 1. Woche ‚abteilungsmobil‘, das heisst, sie dürfen sich im Zimmer und auf der Abteilung aufhalten, nicht jedoch auf anderen Abteilungen oder im Freien (auch nicht in Begleitung). Wird die geforderte wöchentliche Gewichtszunahme erreicht und je nach psychischer Verfassung, können den Patientinnen zunehmend mehr Freiheiten erlaubt werden, z.B.: - Aufenthalt im Park oder Cafeteria in Begleitung (1x30 Min. -> 2x30 Min.) - Aufenthalt im Park ohne Begleitung (1x15 Min. -> 2x15 Min.) - 1 Tag Urlaub am Wochenende - etc. Wird die geforderte Gewichtszunahme nicht erreicht kann eine Einschränkung der Mobilität sinnvoll sein. Das Ausmass der Mobilität wird im Team festgelegt und bei Änderungen im Zusatzvertrag festgehalten. Zusatzvertrag: Ergibt sich eine Änderung einzelner Punkte im Vertrag im Verlauf der Hospitalisation, sind diese in einem Zusatzvertrag neu festzulegen.

4 Anamnese, Untersuchungen 4.1 Anamnese Neben den bisher erfolgten ambulanten und stationären Therapien sollen der Gewichtsverlauf und dessen Eckdaten erfragt werden, Gewicht zu Beginn der Erkrankung, minimales Gewicht, maximales Gewicht und die aktuelle Dynamik der Gewichtsabnahme. Eine Ernährungsanamnese beinhaltet die Schilderung der derzeitigen Essensaufnahme (feste Nahrung und Flüssigkeiten). Es ist nach Essanfällen und Erbrechen (selbstinduziert oder 9

‚spontan‘) zu fragen sowie nach dem Gebrauch von Laxantien, Diuretika oder anderen Medikamenten (Appetitzügler, Ritalin, Amphetamine, Schilddrüsenhormone, etc.) und nach der körperlichen Aktivität/Sport (wie viele Stunden am Tag und was). Zur spezifisch psychiatrischen Anamnese gehören das Fragen nach vorherrschenden Gefühlen, Gedanken, Stimmungslage, Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten (z.B. sich schneiden, sich brennen, Haare ausziehen, etc.), wobei es für die Patientinnen oft nicht einfach ist darüber zu reden, sowie nach den aktuellen körperlichen Symptomen, Zufriedenheit mit dem Körper und Vorstellungen eines Zielgewichts. Ausserdem ist die Motivation für die aktuelle Hospitalisation zu ergründen sowie die Vorstellungen über deren Ablauf. Wichtig insbesondere auch für eine nachfolgende ambulante Therapie oder bei Vertragsbruch und Entlassung ist die Kenntnis des sozialen Umfelds, in dem die Patientinnen leben und die Arbeits- (Schule, Lehre) situation. 4.2 Somatische Komplikationen und Differentialdiagnosen Bei den meisten magersüchtigen Patientinnen die ins KSA eintreten ist die Diagnose einer Anorexia nervosa bereits bekannt. Eine sorgfältige Anamnese dient der Untermauerung der Diagnose resp. Neudiagnose und dem Ausschluss von Differentialdiagnosen des Untergewichts und der gastrointestinalen Symptomatik (viele magersüchtige Patientinnen leiden an Verdauungsproblemen wie Übelkeit, Verlangsamung der Magenentleerung und Darmperistaltik). Bei Verdacht oder unklarer Situation sollten weiterführende Abklärungen erfolgen. Differentialdiagnosen der Anorexia nervosa (nach [1] und [4]):  Chronische Infekte (z.B. Tuberkulose, HIV)  Gastrointestinale Krankheiten (z.B. Zöliakie, M. Crohn, Colitis ulcerosa, Laktoseintoleranz, Achalasie)  Endokrine Krankheiten (z.B. Diabetes mellitus, Hyperthyreose, Nebenniereninsuffizenz, Hypophysendysfunktion)  Malignome  Einzelne neuromuskuläre Krankheiten Das Untergewicht, die Mangelernährung, das Erbrechen und die Einnahme von Medikamenten können zu erheblichen körperlichen Störungen führen, die mitunter lebensbedrohlich sein können. Das Erbrechen führt zu Zahnschäden (Zerstörung Zahnschmelz durch Säure und nachfolgendes Zähneputzen), eine Parotishypertrophie und Hyperkeratosen im Bereich der Fingerknöchel können ein Hinweis sein. Mangelernährung und Gewichtsverlust führen zu Hautveränderungen (trockene Haut, Haarausfall, Lanugobehaarung, Akrozyanose), kardiovaskulären Symptomen (arterielle Hypotonie, Bradykardie, Long-QT, Herzrhythmusstörungen, Herzmuskelatrophie), Elektrolytstörungen, Anämie und Leukopenie, endokrinen Störungen (Amenorrhoe, Low-T3-Syndrom) und zu Osteopenie und Osteoporose mit dem Risiko von pathologischen Frakturen. Nieren- und Leberversagen können auftreten und bei schwerem Untergewicht entwickelt sich eine Hirnatrophie, die in der Regel nach Erreichen eines physiologischen Gewichts reversibel ist. [5] Zur Objektivierung des Schweregrades der körperlichen Folgeerscheinungen gehören neben dem Status mit Augenmerk auf die erwähnten Befunde folgende Abklärungen: Untersuchungen bei Eintritt: Labor: Differentialblutbild, Na, K, Ca, Phosphat, Mg, Cl, Glc, Albumin, Harnstoff, Kreatinin, Bili, ASAT, ALAT, alk. P, GGT, CRP, Ferritin, Vit. B1, B12, Folsäure, 25-OH-Vitamin D, TSH EKG Blutdruck/Puls liegend und nach 5 Min. Stehen 10

Eine Knochendichtemessung (DEXA-Osteodensitometrie) ist indiziert bei Patientinnen, die länger als ein Jahr einen BMI unter 18kg/m2 hatten [5]. Hormonmessungen der HypophysenGonaden-Achse sind routinemässig nicht zu empfehlen und für einen positiven Effekt einer Hormonsubstitution auf die Frakturraten bzw. Osteoporose besteht bislang keine klare Evidenz [2].

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4.3 Somatisches Risiko Aufgrund der erhobenen Befunde kann das somatische Risiko abgeschätzt werden:

Beurteilungskriterien für das somatische Risiko bei Essstörungen (in [5] und [6]):

Ernährungszustand BMI [kg/m2] Gewichtsverlust [kg/Wo] Purpura/Petechien Zirkulation BD [mmHg] Posturaler BD-Abfall [mmHg] Puls [Schläge/min.] Sauerstoffsättigung [%] Zyanose der Extremitäten Muskuloskelettal Unfähigkeit, aus der Hockstellung aufzustehen, ohne mit den Armen zu balancieren Unfähigkeit, aus der Hockstellung, ohne sich mit den Armen aufzustützen Körpertemperatur [°C] Labor

EKG

Mittleres Risiko

Hohes Risiko

0,5

1,0 +

10
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