Lüge, Vertrauen und Verbindlichkeit – Welche Ethik vermittelt

January 28, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Philosophie, Ethik
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Zusammenfassung der Konferenz vom 5. September 2014 an der Universität Zürich zum Thema:

Lüge, Vertrauen und Verbindlichkeit – Welche Ethik vermittelt zwischen Wirtschaft und Gesellschaft? Begrüssung Die Tagung wurde mit einer Einführung des Pro-Rektors Prof. Dr. Christian Schwarzenegger eröffnet. In seiner Ansprache weist er auf die Bedeutung des Themas hin, indem er den Hochfrequenzhandel als Beispiel anführt. Dieser basiert auf einer technischen Infrastruktur, die es erlaubt Börsentransaktionen in Millisekunden zu tätigen und somit hohe Gewinne durch Informationsvorsprung zu erzielen. Wer profitiert davon und wer trägt die Risiken? Kann man solchen Akteuren Vertrauen? Wie soll der Bundesrat auf ethische Bedenken reagieren? Welche Regulierung wäre wirksam? Der Titel der Tagung beinhaltet all diese Fragestellungen, und diese sind nicht nur relevant aus praktischer und politischer, sondern auch aus akademischer Sicht. Daher wurde an der Universität Zürich bereits 1995 das Ethikzentrum und 2003 das assoziierte Institut für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit (CCRS) an der Universität Zürich gegründet, die auch gemeinsam diese Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Ethikverband der Deutschen Wirtschaft organisiert haben. Professor Schwarzenegger dankt den Organisatoren, Referenten und Besuchern dieser interdisziplinären und praxisrelevanten Veranstaltung und betont, das Interesse der Universitätsleitung den Themen Nachhaltigkeit und Ethik verstärkte Aufmerksamkeit in Forschung und Lehre zu schenken. Ist mehr Regulierung ein Garant für ein höheres Maß an moralischem Bewusstsein bei den Wirtschaftsakteuren? Irina Kummert, Präsidentin des Ethikverbands der Deutschen Wirtschaft, stellt im ersten Referat fest, dass mehr Regulierung nicht zu einem höheren moralischen Bewusstsein bei den Wirtschaftsakteuren führt. Ablesbar ist das daran, dass sämtliche Regulierungsbestrebungen bislang nicht verhindern konnten, dass Übervorteilung stattfindet und zusätzlich die Gefahr besteht, dass es zu einer Regulierungs-/ Regulierungsumgehungsspirale kommt. Besonderes Augenmerk gilt auch dem zwiespältigen Verhältnis von Menschen gegenüber Regeln – insbesondere dann, wenn die Regeln extern bestimmt wurden. Regeln, unabhängig davon wie sinnvoll sie sind, werden von manchen Menschen nur aus Gewohnheit akzeptiert und nicht aus Überzeugung. Obwohl es von der Übernahme von Verantwortung befreit, sich an Konventionen zu halten und insofern das Leben vereinfacht wird, werden Regeln übertreten und Konventionen verletzt. Die Versuchung, Regeln zu brechen oder zu umgehen, kann genau so gross sein, wie die gefühlte moralische Verpflichtung, diese zu befolgen wenn wir uns selbst überschätzen oder die Lust überwiegt, sich frei von Regeln bewegen zu wollen. Unabhängig davon kann ein ethisch richtiges Verhalten nicht ausschliesslich an der Befolgung von Regeln gemessen werden. Das ist dann der Fall, wenn Regeln dazu genutzt werden, Partikularinteressen zu ver1

schleiern oder Machtpositionen auszubauen. Dann kann die strikte Befolgung von Regeln sogar dazu führen, dass man unfreiwillig zum Erfüllungsgehilfen wird. So werden im Namen des Verbraucherschutzes mittlerweile Gespräche zwischen Kunden und Anlageberatern in Banken aufgezeichnet und dokumentiert. Doch kann man deshalb davon ausgehen, dass die Anlageprodukte von den Anlegern richtig verstanden und Risiken richtig eingeschätzt werden? Und ist es nicht so, dass der Anlageberater dem Kunden nach wie vor ein Produkt verkaufen will, von dem er glaubt, dass auch er davon profitieren wird? Die Versuchung, die persönliche Präferenz als Kundenpräferenz darzustellen, bleibt also trotz der Transparenz, welche die neue Regulierung schaffen will, bestehen. Wenn Ethik dazu bestimmt sein soll, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, so muss Regulierung nicht immer die richtige Antwort sein; denn ein kontextgebundenes sowie situationsabhängiges moralisches Bewusstsein, das die erhoffte gesellschaftliche Wirkung haben soll, entsteht einzig aus eigenverantwortlichem und reflexivem Handeln. Insofern ist es eine Kernfrage der heutigen Konferenz, welche erfolgversprechenderen Wege jenseits von Regulierung es gibt, um Menschen in komplexen Entscheidungssituationen zu unterstützen. Grundzüge einer interdisziplinären und humanistischen Ethik Philipp Aerni, Direktor des CCRS, geht im zweiten Referat auf die Unterscheidung zwischen Händlerund Wächtermoral ein, die von der interdisziplinären Sozialwissenschaftlerin Jane Jacobs in ihrem Buch ‚Systems of Survival‘ gemacht wird. Während wir ziemlich vertraut sind mit der Wächtermoral, die vor allem auf die Befolgung von Werten, Normen und Regeln innerhalb einer Organisation fokussiert ist, so scheint uns oftmals nicht mehr bewusst zu sein, dass es auch Tugenden gibt, die mit einer Händlermoral in Verbindung gebracht werden. Diese umfassen zum Beispiel „Wille zur Selbstverbesserung“, “Zuverlässigkeit“, „Sparsamkeit“‚ „Offenheit gegenüber Veränderung“, „Toleranz gegenüber Fremdem“ und „Eigenverantwortung“. Leider hört man kaum was von diesen Tugenden in der heutigen Ethikdiskussion, denn sie werden mit Eigeninteresse und weniger mit Moral in Verbindung gebracht. Wir müssen uns aber bewusst werden, dass es gerade die Händlermoral war, die mehr zu Schaffung von gleichen Menschenrechten beigetragen hat, als die Wächtermoral, die geschichtlich gesehen Rechte und Pflichten auf den jeweiligen sozialen Status beschränkte. Die egalitäre und gewaltmindernde Komponente des Handels wurde von den grossen Aufklärern des 18ten Jahrhunderts (Condorcet, Montesquieu) sowie von den grossen Soziologen des 20ten Jahrhunderts (Marx, Durkheim) erkannt, doch gerade die neoklassische Ökonomie hat heute wenig bis gar nichts zu diesen Tugenden zu sagen, da ja der nutzenmaximierende, rationale homo oeconomicus wenig mit einem moralischen Wesen zu tun hat. Es erstaunt daher nicht, dass wir heute mit ‚Moral‘ hauptsächlich ‚Wächtermoral‘ meinen. Sie manifestiert sich im Versuch, die ‚destruktiven‘ Wirtschaftskräfte durch externe und interne Regulierung zu bändigen. Dieser ausschliessliche Fokus auf Wächtermoral kann aber leicht die Tugenden, die sich in der Händlermoral manifestieren, unterminieren. Jane Jacobs weist aber zu Recht darauf hin, dass die moralischen Katastrophen meistens dann passieren, wenn dort Händlermoral herrscht, wo eigentlich Wächtermoral herrschen müsste und dort Wächtermoral herrscht, wo eigentlich Händlermoral herrschen müsste. Vertrauen und Moral aus der Perspektive der kognitiven Wissenschaften Nach diesen Einführungsreferaten durch die Organisatoren der Veranstaltung, diskutierten die zwei Hauptredner der Veranstaltung, Paul Slovic, Präsident von Decision Research und Psychologieprofessor an der Universität Oregon und Ralph Hertwig, Professor für kognitive Wissenschaften und Direk2

tor des Max Planck Instituts für Bildungsforschung, die psychologischen Aspekte, welche in verschiedenen Situationen zu mehr oder weniger moralischen Entscheidungen führen. Die Ethik im Umgang mit Präferenzen: Eine Bedeutung des Prominenz-Effekts Paul Slovic geht in seinem Referat auf den sogenannten ‚Prominence‘-Effekt ein. Dieser Effekt zeigt sich dadurch, dass bei moralischen Entscheidungen ein bestimmter Wert instinktiv stärker gewichtet wird, also ‚prominenter‘ ist, als ein anderer Wert, der oft die geäusserte Präferenz in der unverbindlichen Wertediskussion darstellt. Es gibt somit ein Konflikt zwischen offenbarter (revealed) und geäusserter (stated) Präferenz. Wenn es zum Beispiel darum geht, eine No-Fly Zone in Syrien einzurichten, um wehrlose zivile Flüchtlinge vor den gewalttätigen Übergriffen der kriegsführenden Parteien zu schützen, so würden sich US Stimmbürger mehrheitlich positiv dazu äussern, nachdem sie sich bewusst gemacht haben, wie viele Menschenleben dadurch gerettet werden könnten (stated preference). Wenn sie aber unmittelbar entscheiden müssten amerikanische Truppen nach Syrien zu senden um diese No-Fly-Zone konkret umzusetzen (revealed preference), so besteht die Tendenz sich gegen die geäusserte Präferenz zu entscheiden, weil das Bedürfnis nach Sicherheit (die offenbarte Wertpräferenz) Priorität hat – auch wenn dadurch unschuldige Menschenleben nicht gerettet werden können. Es kommt somit zu Wertekonfliktsituationen (trade-offs) bei denen man dazu tendiert, unbewusst den prominenteren Wert zu bevorzugen, und diesen dann im Nachhinein versucht moralisch zu rechtfertigen. Man unterstützt somit Entscheidungen, die oftmals der zuvor geäusserten Wertepräferenz widersprechen. Diesen Prominenzeffekt kann man auch erkennen bei Unternehmen, die sich für Aktienrückkäufe entscheiden (offenbarte Präferenz für kurzfristige Aktionärsund Geschäftsleitungsinteressen), obwohl sie öffentlich verkünden, dass sie sich zur Wertschöpfung durch Investition in Innovation verpflichten. Einen ähnlichen Prominenzeffekt gibt es bei der Diskussion um dringende Interventionen gegen den Klimawandel geht. Die Sorge um eine eventuelle Einbusse des Komforts bei einer allfälligen schmerzhaften aber effektiven Intervention hat Vorrang gegenüber der moralischen Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen zu der man sich öffentlich bekennt. Moralische Inkonsistenzen: Warum der Gebrauch derselben heuristischen Regeln zu fairen und unfairen Ergebnissen führen kann Ralph Hertwig ging in seiner Präsentation auf die Frage ein, ob unerwünschte gesellschaftliche Effekte auf moralisch verwerfliches Handeln auf individueller Entscheidungsebene zurückzuführen sei. Seine Untersuchung zeigt , dass es häufig heuristische Regeln sind, die wir uns im Laufe unseres Lebens aneignen und verinnerlichen, die uns zum Einen zu einem tugendhaften Leben verhelfen (als Beispiel wird George Washington genannt und seine Verinnerlichung einfacher Regeln des sittlichen Verhaltens), zum anderen können diese Regeln auch zu unbeabsichtigten unerwünschten Nebeneffekten führen. Als Beispiel auf privater Ebene wird die statistische Evidenz erwähnt, dass die Zweitgeborenen von drei Kindern deutlich weniger Aufmerksamkeit von den Eltern erhalten, als die anderen zwei. Der Grund liegt vor allem in der verfügbaren Zeit der Eltern in den drei Phasen der Kindererziehung. Auf politischer Ebene weist Ralph Hertwig auf steigende ethnische Segregation in amerikanischen Städten hin. Sie basiere auf individuellen Entscheidungen in Wohnquartieren zu leben, wo man sich ethnisch nicht als starke Minderheit fühlt. Es wäre jedoch falsch, heuristische Regeln generell zu verurteilen, oder umgekehrt, sie als Quelle für moralisches Verhalten zu loben, wenn sich der gesellschaftliche Effekt als wünschenswert erweisen sollte. Es wäre nämlich ein ‚fundamental attribution error‘, wenn man heuristischen Regeln gute oder schlechte Motive zuschreiben würde. Statt3

dessen müsste man sich mit der Frage beschäftigen welche, Rahmenbedingungen notwendig sind, damit sich die auf heuristischen Regeln basierenden täglichen Entscheidungen positiv und nicht negativ auf die Allgemeinheit auswirken. Lüge und Verbindlichkeit aus der Perspektive der Philosophie Nach diesem ersten akademischen Teil, der sich hauptsächlich mit moralpsychologischen Aspekten auseinandersetzte, erfolgte der zweite, mehr philosophische ausgerichtete Teil. Professor Markus Huppenbauer vom Ethikzentrum der Universität führte die zwei Hauptredner ein, Dieter Thomä von der Universität St. Gallen und Hans Bernhard Schmid von der Universität Wien. Synergie und Sympathie: Zur Ethik der Kooperation in Gesellschaft und Wirtschaft Professor Dieter Thomä fokussierte sich in seinem Referat primär auf die Bedeutung der Lüge und der Doppelmoral im privaten und politischen Diskurs. Er wies dabei auf verhaltensökonomische und moralpsychologische Experimente hin, die klar aufzeigen, dass wir uns normkonform und sozial verhalten, wenn wir glauben, dass es andere auch tun - ansonsten tendieren wir zum Schummeln. In diesem Zusammenhang kann Regulierung zu mehr und nicht unbedingt weniger Schummeln führen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man bei Berufskollegen beobachtet, dass sie sich auch nicht an die Regeln halten (siehe Finanzindustrie). Dennoch sind wir nicht bloss opportunistische Wesen, sondern werden auch geprägt von Gefühlen der Sympathie gegenüber unseren Mitmenschen, die dann zu Synergie führt (zusammen handeln). Diese Synergie steht nicht zwangsläufig im Konflikt mit unseren Eigeninteressen. Adam Smith, der sich mit der Spannung zwischen Eigeninteresse und Moral stark beschäftigte, hat dies bereits erkannt und in seinem Buch ‚Theory of Moral Sentiments‘ dargestellt. Dabei spielt das Phänomen der Sympathie eine zentrale Rolle bei Adam Smith. Sympathie ist bei ihm weitgehend gleichbedeutend mit „Mitgefühl“ („fellow-feeling“) und „Menschlichkeit“ („humanity“). Entsprechend erstreckt sich die Sympathie nicht nur auf geteiltes Leid, sondern auch auf geteilte Freude. Sie schafft Zugehörigkeit und Identität durch gemeinsames Handeln. Sowohl Individuen wie auch Unternehmen müssen daher nicht zwangsläufig nur auf materiellen Eigennutz ausgerichtet sein, sondern können durchaus auch intrinsisch motiviert sein bei der Bemühung, Mitmenschen zu unterstützen, die in Not geraten sein. Diesbezüglich muss man aber erkennen, dass Privates und Politisches in der Moderne weder ihr Eigenleben führen noch bloss eine kompensatorische oder komplementäre Funktion haben. Vielmehr muss man verstehen, dass das Öffentliche oder Politische direkt Anleihen beim Privaten oder der Familie machen und umgekehrt. Sie korrespondieren aufs Engste, und in diesem Wechselspiel werden Probleme angegangen. Haben Unternehmen kollektive Gefühle und welche Konsequenzen hätte dies für das Ethikverständnis der Wirtschaft Professor Hans Bernhard Schmid diskutiert in seinem Referat, ob Unternehmen auch Gefühle haben können und welche Konsequenzen dies hätte in Bezug auf unser Verständnis für solche Organisationseinheiten. Obwohl wissenschaftlich gesehen nur natürliche Organismen Gefühle haben können, überrascht es dennoch immer wieder, wie Unternehmen ihren Gefühlen auf Websites Ausdruck geben und wie die Gefühle der Unternehmen in den Medien beschrieben werden (das Unternehmen zeigt sich betroffen, enttäuscht, hoffnungsvoll, überrascht, begeistert, etc.). In der Diskussion stellte sich dann die Frage, inwieweit diese Gefühlswelt bloss von PR und Corporate Identity Experts gemacht wird und inwieweit sich die Gefühle der Angestellten, die ja das Unternehmen ausmachen, mit den Gefühlen der Unternehmen überschneiden. Bernhard Schmid hält es aber einen Fakt, dass 4

viele Unternehmen gefühlshaft wahrgenommen und beschrieben werden und dass man solche Gefühle nicht einfach als Lüge (aus dem naturwissenschaftlichen Standpunkt) abtun kann, und mit solchen Gefühlen gehen auch Verbindlichkeiten einher, die sich im moralischen Verhalten solcher Entitäten und ihren Repräsentanten widerspiegeln. Welche philosophische Grundlage taugt für eine Unternehmensethik Der praktische Teil am Nachmittag wird mit einem Referat von PD Dr. Klaus-Jürgen Grün eröffnet. Er geht auf die Frage ein, inwieweit das Eigeninteresse tatsächlich im Widerspruch zur Moral steht, wie es zum Beispiel der kategorische Imperativ weismachen will, der von einer unbedingten Geltung normativer Prinzipien ausgeht. Da moralische Entscheidungen jedoch auf Erfahrung basieren und keine absolute Bestimmung des Guten voraussetzen, scheint ein hypothetischer Imperativ plausibler zu seiner. Dieser wurde auch von Emmanuel Kant erkannt, da auch er die Bedeutung der konkreten Erfahrung nicht negiert. Der hypothetische Imperativ zeigt sich im Wörtchen ‚man‘, das wir immer dann gebrauchen, wenn wir bestimmte Interessen so formulieren wollen, als ob es eine allgemeine Pflicht wäre – z. B. man soll das Handy abschalten, wenn man an einer öffentlichen Veranstaltung teilnimmt. Somit gibt es tatsächlich Interessen, die wir verallgemeinern können; denn ‚man‘ kann davon ausgehen, dass nicht nur ich das nicht will, sondern auch andere sich daran stören. Diese moralischen Regeln basieren daher auf Erfahrung und sind bezüglich ihrer Geltung an Bedingungen geknüpft. Der hypothetische Imperativ könnte diesbezüglich sehr wohl auch auf einen Moralkodex für die Wirtschaft angewendet werden. Der griechische Arzt Hippokrates hat diesbezüglich bereits eine Art ‚Template‘ mit dem Hippokratischen Eid geschaffen. Dieser ist eine Art Negativkatalog von Versuchungen, die man unterlassen soll zum Wohle des Patienten (e.g. Schweigepflicht, Unantastbarkeit der Würde des Patienten, Handeln nach bestem Wissen und Gewissen etc). Am Beispiel des Berufsstandes der Ärzteschaft, wie Hippokrates sie sich vorstellte, erkennen wir, dass Moral aus einer Ambivalenz der Gefühle entspringt. Die Berufspraxis des Hippokrates hat ihm die Erfahrung gebracht, dass der Arzt gleichzeitig mit der Erfüllung seiner Aufgabe - nämlich (selbstlos) Hilfe zu leisten - verschiedenen Versuchungen (Wünsche, leibliche Lust, Machtausübung, Bequemlichkeit) ausgesetzt ist. Ambivalenz der Gefühle bedeutet die Gleichzeitigkeit von liebenden und feindseligen Gefühlen. Wir Menschen sind nicht in der Lage gleichzeitig liebende und feindselige Gefühle zu ertragen. Wir bevorzugen die liebenden Gefühle und müssen die Erinnerung an Feindseligkeiten oder deren Nähe verdrängen. In dieser Arbeit ist uns Moral behilflich. Je stärker wir jedoch feindselige Gefühle abwehren müssen, umso überschwänglicher bewegen wir uns in moralischer Selbstüberschätzung. Moral kann dadurch zu einer reinen Zwangsvorstellung von Menschen werden, die zwar vorgeben, helfende Taten vollbringen zu wollen, tatsächlich aber den Haushalt ihrer eigenen Gefühle in ein Gleichgewicht bringen müssen. Eine Unternehmensethik sollte daher zuerst in Erfahrung bringen, welchen Versuchungen an exponierten Stellen des Unternehmens herrschen und auf welche Weise sie dem Unternehmenserfolg, der sozialen Gemeinschaft und der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens schaden. Ein ethischer Codex versucht anschließend, eine Selbstverpflichtung zu formulieren, diesen Versuchungen nicht nachzugeben.

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Round Table: Markt und Moral in Wirtschaft und Gesellschaft Der Runde Tisch wird eröffnet durch eine Einführungsrede des Moderators Thomas Forwe vom Ethikverband der deutschen Wirtschaft. Er nimmt den Faden von Irina Kummert auf und fragt die Podiumsteilnehmenden, ob die Forderung nach mehr Transparenz und die daraus resultierende Regulierung und Selbstregulierung auch tatsächlich mehr Vertrauen gegenüber Wirtschaft schafft. Stefan Fomm, Geschäftsführer von Syncon GmbH in Frankfurt am Main, findet, dass das Vertrauen der Gesellschaft in die Wirtschaft in der Praxis nach wie vor da sein muss, denn die meisten täglichen wirtschaftlichen Transaktionen verlaufen erfolgreich, weil sich die Vertragsparteien vertrauen, und sich Vertrauensbruch nicht lohnt. Klar gibt es das öffentliche Misstrauen in die Finanzwirtschaft und dieses ist nicht unbegründet, denn Gier lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Doch diese Gier konnte man nicht nur von Seiten der Banker beobachten, sondern es waren auch die Kunden und Anleger und ihre überhöhten Renditeerwartungen, die zur wachsenden Kluft zwischen Rhetorik und Praxis im Geschäftsgebaren beigetragen haben. Es ist daher kaum zu erwarten, dass Regulierung automatisch mehr Vertrauen schafft, doch kann durch Mechanismen der internen Selbstkontrolle im Bereich Corporate Governance durchaus die Gefahr von Missbräuchen minimiert werden. Sabine Döbeli findet als Nachhaltigkeitsbeauftragte der Bank Vontobel und CEO der Swiss Sustainable Finance Initiative, dass mehr Transparenz im Finanzsektor nach wie vor notwendig ist, wenn Vertrauen zurückgewonnen werden soll. Zudem herrsche noch kaum ein ausreichendes Bewusstsein dafür, dass es sinnvoll ist, Nachhaltigkeitsaspekte in der Finanzbranche konkret in Prozesse und Dienstleistungen zu integrieren, weil dies das Rendite-/Risikoprofil von Transaktionen verbessern kann. Oftmals haben die Kunden und Anleger aber Renditeziele im Auge, die kaum mit Nachhaltigkeitszielen vereinbar sind. Von daher hätte sich trotz der Krise nicht viel an den überrissenen Gewinnerwartungen geändert. Gian Rossi, Mitglied der Geschäftsleitung der Bank Julius Bär, ist ebenfalls erstaunt wie schnell die Gier zurückkehren kann und dies trotz der Regulierung und den öffentlichen Bekenntnissen zu mehr Ethik in der Finanzbranche. Am Ende hängt viel von der individueller Eigenverantwortung aller Beteiligter ab. Ein leistungsorientierter, aber auch eigenverantwortlicher Entscheidungsträger in der Bank hat heute nach wie vor die Freiheit, die ethischen Risiken, die mit den Forderungen von Bankkunden aber auch ihren Geschäftstätigkeiten einhergehen, gegen den möglichen Nutzen abzuwägen. Allenfalls kann er dann entscheiden, einen Kunden abzulehnen, auch wenn es rechtlich gesehen nicht illegal wäre, ihn in die Kundenkartei aufzunehmen. Ein Banker, der in seinem täglichen Handeln seine Prinzipien und Werte überzeugend vorlebt, kann mehr Einfluss auf das ethische Verhalten der Mitarbeiter haben als Regulierung, die von aussen vorgeschrieben und intern umgesetzt werden muss. Jens Soth, Verantwortlicher für Public-Private Partnerships bei Helvetas, findet, dass die Finanzkrise trotz allem selbstverschuldet ist, denn sie zeige auf, dass kein Verlass ist auf blosse Selbstregulierung und Corporate Social Responsibility (CSR), denn all dies konnte nicht verhindern, dass Kunden und Anleger durch eigenmächtiges und zum Teil unaufrichtiges Verhalten von Seiten der Banker in den Ruin getrieben wurden. Von daher reicht wohl ein Hippokratischer Eid nicht, um Banker verantwortungsvoller zu machen. Unternehmen sollen ausserdem nicht nur das Schlechte vermeiden, sondern auch das Gute aktiv mitgestalten. Dabei wäre ein verstärkter Austausch und ein gemeinsames Vorgehen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sinnvoll.

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Katharina Serafimova vom WWF Schweiz traut dem an die Finanzbranche gerichteten Appell an die Moral nicht, denn es muss einen klaren Business Case geben, der zu einer Verhaltensänderung führt, die sich auch günstig für Gesellschaft und Umwelt auswirkt. Es ist daher weniger die Regulierung oder öffentliche Bekenntnisse, die öffentliches Vertrauen schaffen, sondern Regeln, die klare Anreize für ein nachhaltigeres Geschäftsgebaren schaffen und somit die Risiken der Entscheidungen im Finanzsektor konkret minimieren. Leider stecken die konkreten Anreize für den Finanzsektor, in eine nachhaltige Zukunft zu investieren noch in den Kinderschuhen. Umwelt ist in der internationalen Bankenregulierung kaum ein Thema und auch wenn sich einiges in Ländern bewegt, wo man dies am wenigsten erwarten würde. So führte die China Banking Regulatory Commission Green Credit Guidelines für nachhaltige Bankpraktiken ein, welche auch Rücksicht auf Umweltanliegen nehmen. Sie basieren auf der früher verabschiedeten Green Credit Policy, welche Banken dazu ermutigt vermehrt in nachhaltige Kapitalanlagen zu investieren und Unternehmen zu meiden, welche keine Verbesserungen im Umweltbereich erzielen. Es zwingt die Banken, Nachhaltigkeitsüberlegungen in ihrer Kreditvergabe miteinzubeziehen, sowohl im Inland wie im Ausland. Thomas Steiff, Partner bei Brugger und Partner und Initiant der Swiss Sustainable Finance Initiative, fasste mit einem kurzen und prägnanten Wrap-up die wichtigsten Argumente der Referate am Morgen und am Nachmittag sowie der Panel Diskussion zusammen und gab den Veranstaltung den roten Faden. Sein Referat begann mit dem persönlichen Dilemma als Unternehmer, der oftmals gezwungen wird bei öffentlichen Ausschreibungen zu übertreiben, aber eigentlich nur deshalb, weil es die anderen auch tun, und weil die beschriebenen Ansprüche an den Kandidaten bei Ausschreibungen kaum jemals realistisch sind. Zugleich versucht auch er sein ethisches Gewissen zu schärfen und eine Balance zu finden zwischen Händler-und Wächtermoral. Diese persönliche Anstrengung kann nicht durch eine übergeordnete Regulierung ersetzt werden, doch letztendlich wird das Vertrauen nicht durch Regulierung, sondern eigenverantwortliches Handeln geschaffen. Gute Lügen, Böse Moral und Beliebiges Gewissen Zum Schluss hielt Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger ein Referat zu den Erwartungen und den Realitäten, mit welcher ein Politiker konfrontiert wird, wenn er sich bemüht, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Im ersten Teil illustrierte er, dass Moral nicht zwangsläufig als etwas Gutes in der Gesellschaft wahrgenommen wird (e.g. ‚eine Moraltante!‘ oder ‚er hat wieder mal den Moralischen). Manchmal steht Moral sogar überhaupt in keinem Kontext zu moralischem Verhalten (die Mannschaft zeigte in der zweiten Hälfte noch mehr Moral). Dann gibt es aber auch unverantwortliches Verhalten in der Gesellschaft, das akzeptiert ist, weil es mit informellen Werten in Verbindung gebracht wird, die mit nichts Schlechtem assoziiert werden und somit als ok gelten. So war es lange ein Kavaliersdelikt, betrunken mit dem Auto unterwegs zu sein (ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren), bis schliesslich Gesetze gegen Trunkenheit am Steuer verabschiedet wurden und hart durchgegriffen wurde. Als dann plötzlich auch Leute aus den Oberschichten für Betrunkenheit angeklagt und verurteilt wurden, hat dann schliesslich auch ein Gesinnungswandel in der Gesellschaft stattgefunden. Der Kampf für eine moralische Überzeugung kann auch schlecht oder gar gefährlich sein, wenn man den Kontext und die Gefühle der Mitmenschen völlig ausser Acht lässt. Ibsen hat dies in seinem Stück die Wildente anhand eines Idealisten und Wahrheitsfanatikers sehr gut illustriert. Dieser kommt als Rückkehrer in sein Elternhaus zurück und versucht dort seinem alten Freund zu erklären wie er aus dem angeblichen Gespinst aus Lügen und Intrigen herausfindet und somit ein Leben in Wahrheit und Freiheit führen kann. Seine Bestrebungen bewirken jedoch gerade das Gegenteil von dem Erwünschten. Er zerstört schliesslich das Leben seines Freundes. 7

Dann gibt aber auch gute oder zumindest harmlose Lügen. Eine harmlose Lüge ist zum Beispiel, dass Wilhelm Tell im Mittelalter in der Innerschweiz gelebt hat und dort mutig und erfolgreich Widerstand gegen die Habsburger geleistet und somit die Unabhängigkeit der Schweiz ermöglicht hat. Eine weniger harmlose Lüge ist hingegen, wenn man entgegen aller Beweislast (aufgearbeitet durch die Bergier-Kommission) behauptet, die Schweiz hätte im 2. Weltkrieg in keiner Weise mit den Nazis kooperiert. Lügen, die man rechtfertigen kann, sind zum Beispiel Komplimente im Alltag, welche das Leben angenehm machen, auch wenn sie nicht unbedingt wahr sind. Aber auch auf politischer Ebene gibt es Lügen, die Menschenleben retten können. Lösegelder zu bezahlen für Geiseln führt zu einem erhöhten Anreiz, Regierungen zu erpressen. Eine Regierung kann daher abstreiten, dass sie für die Freilassung einer Geisel Lösegeld bezahlt habe, auch wenn sie es tatsächlich getan hat. Denn schliesslich will man ja auch ein Leben retten ohne weitere Leben zu gefährden. Schlimm ist jedoch die Selbstlüge, die immer dann eintrifft, wenn man sich entgegen aller Evidenz einredet, dass man die Wahrheit sagt und auch fest daran glaubt. Kinder, die zum Beispiel behaupten von ihren Vätern sexuell missbraucht worden zu sein, obwohl es nachweislich nicht stimmt, insistieren oftmals bis zum Schluss, dass dies die Wahrheit sei. Sie haben es sich ein Leben lang eingeredet und glauben schliesslich daran. Auch in der Politik findet man oftmals die Selbstlüge. Sie macht sich immer dann breit, wenn man von lauter Gleichgesinnten umgeben ist, die immerzu die eigenen Vorurteile bestätigten bis sie zur unhinterfragten Wahrheit werden. Was kann man dagegen tun? Man kann zum Beispiel das eigene ethische Gewissen schärfen, indem man sich ständig mit Leuten umgibt, die nicht dieselben Ansichten haben oder nicht derselben politischen Partei angehören. Dies war lange Tradition in der Schweiz, doch leider habe die wachsende politische Polarisierung dazu geführt, dass diese Tradition am Schwinden ist. Zum Schluss geht Moritz Leuenberger auf das Thema Vertrauen und Regulierung ein. Vertrauen kann seiner Ansicht nicht von der Regierung geschaffen werden, sondern muss durch zivile und religiöse Institutionen aus der Gesellschaft selbst entstehen. Der Rechtsstaat kann höchstens durch konsistente und zielführende Gesetzgebung und den Grundsatz von Treu und Glauben einen Nährboden schaffen, die der Vertrauensbildung innerhalb und zwischen den Zivilinstitutionen förderlich ist.

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