Mag. Joachim Petscharnig Univ. Doz. Prim. Dr. Georg Spiel

January 22, 2018 | Author: Anonymous | Category: Sozialwissenschaften
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Schnittstellen in der Rehabilitation – Arbeiten & Wohnen

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Mag. Joachim Petscharnig Univ. Doz. Prim. Dr. Georg Spiel Arbeitslosigkeit im Jugendalter Eine 3-Ebenen-Betrachtung

Institution: pro mente jugend, Gesellschaft für psychische und soziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in deren sozialen Kontext Kontakt: [email protected]

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung des Referates „Leistungserbringung im Kontext von Ökonomie, Gesellschaft und Institution”. Die makrosozialen und institutionellen Aspekte des Referates sollen um die individuellen Aspekte von Arbeitslosigkeit im Lichte der Entwicklungsaufgaben erweitert werden. Dabei geht es uns auch um das Aufwerfen von neuen Aspekten, Sichtweisen und Argumenten, mit denen wir versuchen wollen, an manchen Stellen neuen und fruchtbar-dissenten Diskussionsboden außerhalb der bekannten Diskurslinien zu gewinnen.

die zwar nicht mehr primär materiell wirksam werden, aber dennoch in Missbilligung, Stigmatisierung und negativen Zuschreibungen deutlich werden2. Die in den Entwicklungsaufgaben zum Ausdruck kommenden, gesellschaftlichen Erwartungen unterliegen auch Veränderungsprozessen. So ist anzunehmen, dass der Erwerbsarbeitslosigkeit von Jugendlichen angesichts struktureller Arbeitslosigkeit mehr Verständnis entgegengebracht wird als in (unwiederbringlichen?) Zeiten der Vollbeschäftigung.

1. Ebene: berufliche Karriere als Entwicklungsaufgabe des Jugendalters.

Die Weichen der beruflichen Karriere werden sehr früh in der Schullaufbahn gestellt. Spätestens am Ende der Pflichtschulzeit sind somit die Bedingungen festgeschrieben, unter denen der einzelne Jugendliche die Aufgabe seiner beruflichen Integration in Angriff nehmen muss. Das erste Gelegenheitsfenster zum Absprung in das Berufsleben öffnet sich am Ende der Pflichtschulzeit. Eine Markierung dieses Gelegenheitsfensters ist beispielsweise die hohe Bereitschaft von Lehrbetrieben, im Juli eines jeden Jahres Schulabgänger aufzunehmen. Dieses Gelegenheitsfenster ist aber zeitlich sehr begrenzt und (zu) viele wollen und müssen es gleichzeitig nutzen, viele bleiben dabei auf der Strecke. Unserer Einschätzung nach besteht dieses Zeitfenster ca. 6 Monate nach Abschluss der Schulzeit. Jugendliche die es aus verschiedenen Gründen nicht geschafft haben, sich punktgenau „jobready“ zu entwickeln

Die Adoleszenz zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr ist gekennzeichnet von alters-typischen Entwicklungsaufgaben1. Dazu gehören beispielsweise die Ablöse vom Elternhaus und der Aufbau eines Freundeskreises sowie die Aufnahme engerer Beziehungen und Sexualität, die Entwicklung von Zukunftsvorstellungen, Lebensplänen und Werthaltungen. Berufliche Ausbildung bzw. Integration gehört ebenfalls zu den wichtigen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz, deren Gelingen oder Misslingen unmittelbaren Einfluss auf die Bewältigung der übrigen Entwicklungsaufgaben hat. Gesellschaftlich ist die Erledigung dieser Entwicklungsaufgabe mit hoher Verbindlichkeit gefordert, das Misslingen dementsprechend mit gesellschaftlichen Sanktionen verbunden,

Auf die Plätze, fertig, los!

und die auch nicht die Möglichkeit zu einer weiterführenden Schulkarriere haben, sind dann auf die zahlreichen Nebentüren der aktiven Arbeitsmarktpolitik angewiesen. Auch diese Seiteneingänge sind gut frequentiert und haben ihre jeweilige Eintrittslogik, mit der sich insbesondere sozial unangepasste Jugendliche mitunter recht schwer tun3. Reichen die gesellschaftlichen Chancenstrukturen nicht zur beruflichen Erstplatzierung am Arbeitsmarkt droht eine Arbeitslosenkarriere anstelle der Berufskarriere und somit ein nachhaltiges Scheitern an dieser zentralen Entwicklungsaufgabe.

Arbeitslos – und nun?

Mit zunehmender Dauer der Warteschleifen am Einstieg in das Erwerbsleben lassen sich die dunklen Flecken am Lebenslauf schwerer kaschieren und mindern zusätzlich die Bewerbungschancen. Die Erfahrung des Versagens, zunehmender soziale Legitimationsschwierigkeiten, ökonomischer Druck und darauf folgende Belastungs- und Anpassungsreaktionen an die Arbeitslosigkeit setzen eine destruktive Abwärtsspirale in Gang. Die Arbeitslosenforschung hat die mit Arbeitslosigkeit, und dem Gefühl des Übrig-Seins verbundenen Effekte 1 Vgl. dazu den Beitrag von Fr. Prof.in Dr.in Eva Dreher in diesem Heft

2 Dimmel, N. (2003). Bedarfsorientierte Grundsicherung und Sozialhilfe. In: Tálos, E (Hrsg.), Bedarfsorientierte Grundsicherung. Wien: Mandel-baum 3 Unger, M., Wroblewski, A. (2005)Evaluierung Europäischer Sozialfonds 2000-2006, Ziel 3, Österreich. Studie im Auftrag des BMWA, Wien

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beschrieben: Verhaltensdefizite, Mobilitätsdefizite, der stufenweise Abbau von Lebenserwartungen, Interessen und Zielstrebigkeit. Besonders schwerwiegend, wenn sich diese Effekte in der auf Zuwachs gerichteten Lebensphase Jugend einstellen. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel zeigten in den 30 er Jahren in ihrem soziographischen Versuch über die Arbeitslosen von Marienthal4 deutlich die „Einschrumpfung von Lebensäußerungen”, die abgestumpfte Gleichmäßigkeit, die Bedürfnis- und Interessensreduktion der Arbeitslosen Menschen.” Eine besonders charakteristischer Wahrnehmung der Forschergruppe war „der deutliche Zerfall des Zeitbewußtseins, das seinen Sinn als Ordnungsschema im Zeitablauf verliert…[…] Der Arbeitslose ist einfach nicht mehr imstande, über alles was er im Laufe des Tages getan hat, Rechenschaft zu geben. Für Arbeitslose hat die Stundeneinteilung längst ihren Sinn verloren. Aufstehen, Mittagessen, Schlafengehen sind die Orientierungspunkte im Tag jener, die Übriggeblieben sind […] Die Pünktlichkeit verliert jeden Sinn, wenn nichts mehr auf der Welt unbedingt geschehen muss. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere”. In Umkehrung der Feststellung Jahodas lässt sich Sagen, dass Arbeit feste Sinnzusammenhänge mit vielen Orientierungspunkten, Funktionen und Verpflichtungen zur Regelmäßigkeit schafft. 4 Jahoda, M, Lazarsfeld, P.F., Zeisel, H. (1975).Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp

5 Vgl. dazu z. B. Sonderrichtlinie des BMSG zur Förderung von Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen Wien 2001.

Bezogen auf Jugendliche und junge Erwachsene geht es aber nicht nur um den Verlust von bereits erworbener Qualifikation, um die Einschrumpfung von zuvor entfalteten Lebensäußerungen. Das Jugendalter ist auf Zuwachs gerichtet. Fehlende Entwicklungsangebote und -möglichkeiten bzw. ein funktionales Versagen der Entwicklungskontexte birgt nicht nur die Gefahr eines Verlustes, sondern auch die Hinderung am Zuwachs, die Verunmöglichung des Ersterwerbs gesellschaftlicher Rollen und Modelle, insgesamt die persönliche Weiterentwicklung und gesellschaftliche Integration. Diesen Effekten sollen Beratungs- und Qualifzierungsprojekte, Berufsorientierungskurse und ähnliche Maßnahmen entgegenwirken, womit der Übergang zur 2. Ebene gewonnen ist.

2. Ebene: Institutionelle Konzepte und Ausformungen zur Arbeitsintegration und von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

An der Schnittstelle von Schule und Beruf hat sich seit Mitte der 90er Jahre eine Vielzahl von Unterstützungssystemen etabliert. Von Berufsorientierungs- und Vorbereitungskursen, über die flächendeckende Arbeitsassistenz bis hin zu hochstrukturierten Nachreifungs- und Qualifizierungsprojekten5. Zahlreiche not-for-profit Organisationen versuchen als Auftragnehmer der öffentlichen Hand respektive des Arbeitsmarktservice, über verschiedene Interventionsprogramme die Integration von Jugendlichen in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Form der institutionalisierten Risikobewältigung ist immer schon Ausdruck – und auch Bestätigung – der unzureichenden Möglichkeit zur Selbsthilfe, des individuellen Scheiterns. Abgebildet wird dieses Scheitern durch Defektbegriffe über welche das matching zwischen der individuellen Bedürfnis-

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struktur und den spezialisierten, institutionellen Angeboten andererseits gesteuert werden. „Fehlende Berufsreife”, „persönliche Vermittlungshindernisse”, Grad der Behinderung von X%” und ähnliche Begriffe sind allen PraktikerInnen wohl vertraut. Es handelt sich allerdings um soziotechnische Begriffe, die sich nicht als Prämissen der pädagogischen Leistungserbringung eigen. Dies würde der Komplexität, Multidimensionalität, Variablität und Plastizität jugendlicher Entwicklung nicht gerecht. Dennoch sind solche Begriffe prominente Bestandteile von Leistungsverträgen. Über diese Homogenisierungskriterien werden in Projekten kritische Mengen von Jugendlichen mit ähnlicher Problemerfahrung gruppiert – gewissermaßen Gruppen von am Arbeitsmarkt Überflüssigen, die bereits mehr oder weniger die genannten, destruktiven Effekte von Arbeitslosigkeit erfahren haben.

Hauptsache jobready?

Der Auftrag an diese Projekte ist zu meist die Erstintegration benachteiligter Jugendlicher in den allgemeinen Arbeitsmarkt – sie „jobready” zu „machen” und ihre „employability” zu entwickeln. Im Lichte der noch darzustellenden, makrosozialen Entwicklungen stellt sich die Frage, ob diese Zielreduktion auf die Vermittlung in den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zu kurz greift. Vielmehr befürchten wir, dass das Diktat der Vermittlungsrate eher geeignet ist, suboptimale Integrationen in Arbeitsmarktnischen zu forcieren. Abgesehen davon, ob es wirklich der Berufstraum vieler Jugendlicher ist, als Recyclingbeauftragter bei einer Fast-Food-Kette Kartons zu pressen, gibt es bereits eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz am „Sonderarbeitsmarkt” um diese Nischenarbeitsplätze (waren wir nicht schon alle bei baumax, McDonalds, Stadtgartenamt bzw. örtlichen Bauhof vorstellig?).

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Aschenputtel makes policy!

Leistungserbringer werden durch das Zusammenspiel vermittlungszentrierter Zielsysteme einerseits und dem Konkurrenzdruck auf den Sonderarbeitsmärkten andererseits auch zunehmend gezwungen, ihr Klientel im Sinne der Zielerreichung zu selektieren, wodurch sich von der Gruppe der am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt „Überflüssigen” nochmals die Subgruppe der Über-Überflüssigen abtrennt, also jene die auch durch das Netz der Sonderarbeitsmärkte, Qualifizierungsinitiativen und Beratungssysteme fallen. Hier laufen Qualifizierungsprojekte Gefahr, unter dem Druck fragwürdiger Erfolgskriterien die quer über gesellschaftliche, politische und administrative Ebene verlaufende Tendenz zur Aschenputtel-Strategie zu reproduzieren: Gemäß den Motto „die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Tröpfchen wird dabei zwischen sozial anerkannten und sozial nicht legitimierten Risiko- bzw. Problemlagen polarisiert6. So scheiden sich letzten Endes vor den Pforten der Integrationsprojekte sozial unangepasste, fordernde, renitente, institutionserprobte und beratungsaversive Jugendliche von jenen, die sich angemessen regelkonfom, gruppenverträglich und bereitwillig verhalten, denen man also schlecht „Arbeitsscheu” oder „fehlende Motivation” zum Vorwurf machen kann.

Was heißt hier „erfolglos”?

Anstelle einer kanalisierten Zielperspektive wie sie in den Begriffen „jobready” und „employability” zum Ausdruck kommt, müssen unserer Meinung nach Lernfähigkeit, Bewältigungskompetenz und Selbstorganisationsfähigkeit als universale Strategien einer Lebensbewältigung gefördert werden. Es steht selten in der Macht unserer Institutionen oder Programme, einen Erwerbsarbeitsplatz am allgemeinen Arbeitsmarkt zu versprechen. Jedoch

können wir für unsere jugendlichen KlientInnen – und seien sie noch so „schwach” – Situationen gestalten, in denen ihre individuellen Stärken zur Geltung kommen können und ihre Schwächen unbedeutend werden. In diesem Sinne plädieren wir für einen handlungsorientierten, auf Wirksamkeitserfahrung gerichteten Zugang. Wir sind nicht der Meinung, dass sich die mit Arbeitslosigkeit verknüpften Erfahrungen des persönlichen Scheiterns, der Perspektivenlosigkeit und die Anpassungsreaktion darauf primär gesprächsorientiert und mit psychologischen Beratungsstrategien bewältigen lassen, dass sie alleine besprochen, bedacht und „reflektiert“ werden sollen. Was kann ein entmutigter, vielleicht resignierter Jugendlicher in der Reflexion seiner bisherigen Erfahrungen des Scheiterns gewinnen? Es ist unserer Meinung nach eher die realisierbare Aussicht auf kurzfristigen Handlungs- und Gestaltungserfolg und die glaubwürdige Bestätigung des Umfeldes als entscheidende Erfahrungen, die Integrationsprojekte vermitteln können und sollen. Konsequent lässt sich dann der Erfolg des gemeinsamen Projektes mit den jugendlichen KlientInnen nicht alleine an der Vermittlungsrate entscheiden, sondern an den persönlichen Entwicklungsfortschritten, an der Wiedergewinnung von Widerstandskraft und der subjektiv wahrgenommenen Verbesserung bzw. Ausweitung von Handlungskompetenz, Zukunftserwartung Lebensqualität und sozialer Teilnahmemöglichkeiten. Neben der (Arbeits-)marktintegrativen Funktion sollten solche Projekte also stärker eine über Erfolgsmöglichkeiten vermittelte, sozialintegrative Zielsetzung ins Auge fassen.

Institutionelle Verantwortung und Sozialanwaltschaft

In diesem Sinne gilt es, Vermittlungsraten nicht zum Dogma der (berufs)

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integrativen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu machen, sondern eine permanente, kritische Auseinandersetzung mit den administrativ vermittelten, gesellschaftlichen Aufträgen zu führen und eine mutige, offensive Sozialanwaltschaft für die jugendlichen KlientInnen zu übernehmen. Besonders ergibt sich diese Notwendigkeit für Gruppen von bedürftigen Jugendlichen, die auf Grund fehlender Lobby, oder weil sie nicht in die gesellschaftliche Konzeption von Verteilungsgerechtigkeit passen, ein geringes, wohlfahrtspolitisches Gewicht haben. So zum Beispiel junge Erwachsene ohne „sichtbare” Arbeitseinschränkungen, mit sozial devianten und provokanten Verhaltensmustern, Haftentlassene Jugendliche mit öffentlich zugeschriebener „Arbeitsscheu”, die „unmotivierten” Jugendlichen, und weitere Gruppen mit besonderer, gesellschaftlicher Randständigkeit. Glaubhafte Argumente einer solchen Sozialanwaltschaft lassen sich im übrigen nicht alleine aus den Spezifika des Seelenleben von Jugendlichen gewinnen, sondern aus der Gesamtschau von persönlicher Situation im lebensweltlichen Kontext und „distalen”7 makrosozialen Entwicklungsbedingungen. Schärfen lassen sich die so gewonnenen Argumente durch ihre Referenzierung an diskrepanten, gesellschaftlichen Gerechtigkeits- und Verteilungsvorstellungen und ihren politischen Ausformungen (z. B. Behindertenmilliarde, Sozialhilfegesetze, Arbeitsmarktpolitik, etc.). Es ist somit allerhöchste Zeit, die versprochene dritte Betrachtungsebene der makrosozialen Bedingungen in groben Auszügen zu entwerfen. 6 Vgl. dazu Pfeil, W. J. (2001) Vergleich der Sozialhilfesysteme der österreichischen Bundesländer. Rechtswissenschaftliche Studie im Auftrag des Bundesministeriums für soziale Sicherheit und Generationen. Wien 2001

7 Silbereisen R. K. & Noack, P. (2005). Kontexte und Entwicklung. In W. Schneider & F. Wilkening (Hrsg.), Theorien, Modelle und Methoden der Entwicklungspsychologie (Enzyklopädie der Psychologie, Serie V: Entwicklungspsychologie, Band 1). Göttingen: Hogrefe.

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3. Ebene: Makroökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Im Hinblick auf die berufliche Qualifizierung und Integration Jugendlicher und junger Erwachsener ist die Situation am Arbeits- und Ausbildungsmarkt ein zentraler, makroökonomischer Aspekt, der als distaler Entwicklungskontext die Entwicklungschancen des einzelnen wesentlich determiniert. Das Phänomen der Arbeitslosigkeit ist spätestens seit den 80er Jahren zu einem strukturellen Merkmal in der österreichischen Gesellschaft geworden8. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Zahl der Arbeitslosen nur mehr in einem geringen Maße durch eine im Aufschwung befindliche Konjunktur reduziert. Man spricht daher heute von einer strukturellen Arbeitslosigkeit. Mit dem zugrunde liegenden Strukturwandel war auch eine Dynamisierung und Fragmentierung der Beschäftigung verbunden, so beispielsweise die Zunahme von geringfügiger und Teilzeitbeschäftigung, sowie atypischer Beschäftigungsverhältnisse (freier Dienstnehmer, neue Selbständige), die wiederum mit sehr spezifischen Problemen behaftet sind (z. B. Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, fehlende Arbeitslosenversicherung, working poor usw.) Seit den frühen neunziger Jahren erhöhte sich die Arbeitslosigkeit markant. Insbesondere trübten sich die Perspektiven für gering qualifizierte, sowie ältere und jugendliche Arbeitssuchende. An dieser Stelle wollen wir ein kräftiges Wort zur Arbeitslosenstatistik einfügen.

Die Arbeitslosenstatistik – das unerkannte Wesen

Wir verzichten in diesem Kontext auf ein zwangsläufig pseudoexaktes Jon8 Bock-Schappelwein, J. (2005). Entwicklung und For-

men der Arbeitslosigkeit in Österreich seit 1990. WIFO Monatsbericht 7/2005, Wien. 9 Vgl. Dazu : International Labour Organisation http://www.ilo.org/

glieren mit Prozentsätzen und Zehntelkommas. Arbeitslosenzahlen lässt sich nicht vernünftig darstellen, ohne gleichzeitig die Berechnungsgrundlagen, Erhebungsmethoden und Definition der Erhebungskategorien zu reflektieren. So macht es beispielsweise erhebliche Unterschiede, ob die Arbeitslosen aus den administrativen Daten des AMS erhoben werden (Stichtags-Registerarbeitslosigkeit) oder Befragungsdaten aus dem Mikrozensus zugrunde gelegt werden (so genannte „EU-Methode”, bzw. ILOKonzept9). Machen sie beispielsweise den Versuch und fragen Sie jemanden, der Ihnen im Gespräch eine Jugendarbeitslosenquote von 7,1% nennt, nach der Grundgesamtheit dieses Prozentwertes. Von uns erhalten sie darauf zwar keine Antwort, aber einige Nachfragen an die Hand, mittels derer sie ausbleibenden Antworten ihrer Gesprächspartner doch noch auf die Sprünge helfen können: 7,1% von allen Arbeitslosen? von allen Jugendlichen einer Alterskohorte?, von allen erwerbstätigen Jugendlichen? von allen Erwerbstätigen inklusive oder exklusive Schüler? Von allen Erwerbstätigen und in Schulung befindlichen? Bei der Beurteilung von Arbeitslosenquoten ist insbesondere beachtlich, dass Lehrstellensuchende, TeilnehmerInnen an Schulungen oder Personen, die sich aufgrund fehlender Leistungsansprüche nicht vormerken lassen, bzw. jene deren Leistungsbezug aus den unterschiedlichsten Gründen gestrichen wurde Pensionsvorschussbezieher, Personen und registrierte Arbeitslose, die länger als drei Tage krank gemeldet sind nicht als Arbeitslose in die nationale Quote eingerechnet werden (verdeckte Arbeitslosigkeit). Es ist also festzuhalten, dass a) selbst die Erlangung des Status „Arbeitslos” an Zugangskriterien geknüpft ist, b) die Komplexität der Arbeitslosenstatistik der Polemik Tür und Tor öffnet und c) sie auch intuitiv eine Jugendarbeitslosigkeit in der Bandbreite von 7 – 20 Prozent be-

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haupten könnten in der Sicherheit, zumindest den einen oder anderen, so genannten „alternativen” Indikator für Arbeitslosigkeit nachträglich auffinden zu können.

Arbeit für alle?

Der Wettbewerb um die zu verteilende Erwerbsarbeit wird sich weiter verschärfen. Weder interventionistische, staatliche Strategien noch der Appell and die „Verantwortung der Wirtschaft” und letzlich auch nicht alleine die „aktive Arbeits-marktpolitik” werden darin substantiell etwas ändern. Gering qualifizierte Jugendliche und junge Erwachsene werden am Arbeitsmarkt auf absehbarer Zeit überflüssig sein und bleiben. Und doch ist es die Aufgabe einer entwickelten Gesellschaft, jedem ihrer jugendlichen Mitglieder eine produktive und selbstbestärkende, auf Anerkennung und Wertschätzung gerichtete Entfaltung von Begabungen und Interessen zu ermöglichen. Jeder Jugendliche hat das Recht auf gesellschaftliche Unterstützung und Förderung seiner Entwicklung und sozialen Integration – auf ein gesellschaftliches Investment in seine Ressourcen. Diese Ressourcen müssen nicht nur gefördert, sondern vor allem auch gefordert werden. dh. wir müssen den Jugendlichen einen gesellschaftlich und subjektiv sinnvoll bewerteten Einsatz ihres Handelns abverlangen. Dass diese Ansprüche nicht mehr alleine über die Verteilung und Subventionierung von Erwerbsarbeit einzulösen sind, zeichnet sich ab. Vieles weißt darauf hin, dass die Antworten in strukturellen Änderungen des gesellschaftlichen Stellenwerts von Arbeit und seiner konkreten Ausformungen zu finden sind. Die technisch-administrativen Schlagworte dieser Entwicklung liegen bereits seit einigen Jahren auf dem Tisch: Grundsicherung, Kombilöhne, 1-Euro-Jobs, Eigen-/Bürger-/ Sorgearbeit, neuerdings auch „Aktion 10.000” und der Dauerbrenner „Öffnung des

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Niedriglohnsektors”, um einige Beispiele anzuführen.

Erwerb = Arbeit mal X

Überlegungen zur Neudefinition des Verhältnisses von Erwerb und Arbeit gehen grundsätzlich davon aus, dass vieles was in unserer Gesellschaft zu tun ist, nicht profit- und marktfähig im Sinne traditioneller Erwerbsarbeit ist, dennoch aber zur sinnvollen, identitätsstiftenden und damit befriedigenden Beschäftigung von Personen dienen kann. Dort wo Arbeit nicht mehr umfassend existenzsichernd angeboten werden kann, setzen Konzepte zur Grund- bzw. Mindestsicherung an10. Kern dieser Konzepte ist die (mehr oder weniger ausgeprägte) Entkoppelung individueller Einkommensansprüche von der faktischen Erwerbsbeteiligung, sowie die Reformulierung solcher Ansprüche in Termini der Staatsbürgerversorgung bzw. der Bürgerrechte11. Zentrales Argument gegen eine bedingungslose Mindestsicherung ist, dass bei Existieren eines

solchen Grundeinkommens der Unterschied zwischen den auf dem Arbeitsmarkt zu erreichenden Löhnen und den Lohnersatzleistungen zu gering werden würde, als dass bei Erwerbslosen ein Beschäftigungsanreiz aufrecht erhalten werden könne. Ebenso wird eingeworfen, dass das Verpflichtungsgefühl von Unternehmen – etwa im Bereich der Lehrausbildung – allmählich erodieren könnte, wenn Arbeitslose Jugendliche über ein garantiertes Mindesteinkommen verfügen würden.

Zusammenfassung:

Mit unserem Beitrag wollten wir am Beispiel der Arbeitslosigkeit im Jugendalter die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Mehr-EbenenBetrachtungen in der Sozialen Arbeit verdeutlichen. Gerade bei so komplexen Phänomenen wie Arbeitslosigkeit im Jugendalter und den damit verbundenen Gefahren der sozialen Exklusion reicht es unserer Meinung nicht aus, individuelle Problem- und Bedürf-

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nislagen isoliert zu betrachten. Vielmehr sollten wir als BeraterInnen und BetreuerInnen in der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen unser Blickfeld auch auf jene Bühnenarrangements erweitern, vor deren Hintergrund sich individuelle Handlungschancen und -restriktionen unserer KlientInnen verständlicher abzeichnen. 10 Tálos, E (Hrsg. 2003), Bedarfsorientierte Grundsicherung. Wien: Mandelbaum

11 Schmid, J. (2002).Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme. Opladen: Leske Budric

WORKS Klagenfurt, Metallwerkstätte

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