Medizinethik im Nationalsozialismus

January 30, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Philosophie, Ethik
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Medizinethik im Nationalsozialismus

Geschichte und Philosophie der Medizin History and Philosophy of Medicine ---------------------------------Herausgegeben von Andreas Frewer Band 7

Florian Bruns

Medizinethik im Nationalsozialismus Entwicklungen und Protagonisten in Berlin (1939–1945)

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Prof. Dr. Walter Artelt und Frau Prof. Dr. Edith Heischkel-ArteltStiftung, Frankfurt am Main Umschlagabbildung: In stilisierter Pose präsentieren sich Mitarbeiter des Berliner Instituts für Geschichte der Medizin und Natur­wissenschaften im Jahre 1943. Im Hintergrund v.l.n.r. Alexander Berg, Bernward Josef Gottlieb, Edwin Rosner. Im Vordergrund Edith Heischkel. Archiv Institut für Geschichte der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Reihenherausgeber: Professor Dr. Andreas Frewer, M.A. Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Universität Erlangen-Nürnberg Glückstr. 10 91054 Erlangen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09226-5 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungs­beständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ................................................................................................................. 9 1. Einleitung ....................................................................................................... 11 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

Einführung ............................................................................................. 11 Nationalsozialistische Medizinethik? .................................................... 13 Methode, Aufbau und Quellen der Untersuchung ................................ 16 Späte Aufarbeitung: Der Forschungsstand ............................................ 19

2. Der medizinethische Diskurs vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik ........................ 24 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8.

Die vermiedene Debatte: Medizinethik vor dem Ersten Weltkrieg ...... 24 Medizin und soziale Frage: Krisen und Konzepte ................................ 26 Neue Ethik: Eugenik und Rassenhygiene ............................................. 27 „Das Volk als Organismus ist unser ethisches Ziel“ – Der Erste Weltkrieg und seine Folgen .................................................. 28 Die Weimarer Republik: Fortsetzung des Krieges auf biologischem Gebiet ................................ 30 Krisenjahre der Medizin ........................................................................ 32 „Ethik tut not!“ – Medizin und Moral im Vorfeld der Diktatur ........................................ 34 Zusammenfassung ................................................................................. 38

3. Der Nationalsozialismus und die „Erneuerung der Ethik“ (1933–1939) ....................................................... 40 3.1. Philosophie und Nationalsozialismus ................................................... 40 3.2. „Neue deutsche Ethik“ als Kritik an der herkömmlichen Moral .......... 42 3.3. „Wie ein Sturm ist das Neue über uns gekommen“ – Die Rezeption des moralischen Umbruchs .......................................... 45 3.4. Auf schiefer Ebene: Das Sterilisationsgesetz von 1934 ....................... 48 3.5. Totalitäre Ethik: Vom Krankenmord zum Holocaust ........................... 51 3.6. Zusammenfassung ................................................................................. 55

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Inhaltsverzeichnis

4. Im Dienst der neuen Ethik: Bernward Josef Gottlieb und die Medizingeschichte der SS .............................................................. 57 4.1. Ein Fach zwischen Instrumentalisierung und Selbstindienstnahme ..... 57 4.1.1. Aufschwung und Nachwuchskrise .......................................... 59 4.1.2. Gottlieb, Berg und die Kontakte zur SS .................................... 62 4.1.3. Paracelsus – ein „Kämpfer gegen das Judentum“ ..................... 65 4.1.4. Das „Institut für Geschichte der Heilkunde beim Reichsarzt SS und Polizei“ ............................................... 67 4.1.5. Die SS-Ärztliche Akademie und die „Aufgaben der Medizingeschichte im Kriege“ ......................... 68 4.2. Berliner Berufungspolitik im Zuge der Diepgen-Nachfolge ................. 71 4.3. Nachspiel an der Saar-Universität ......................................................... 75 4.4. Konstruktion historischer Kontinuität: Hippokrates und das „Ewige Arzttum“ ................................................. 78 4.4.1. Eine Publikation und ihre Hintergründe ................................... 79 4.4.2. Hippokrates in neuem Licht ...................................................... 81 4.4.3. Ein problematischer Eid ............................................................ 83 4.4.4. Pathos statt Ethos: Der Begriff des „Arzttums“ ........................ 85 4.5. Zusammenfassung ................................................................................. 86 5. Ärztliche Rechts- und Standeskunde: Rudolf Ramm und die weltanschauliche Schulung der Ärzte .......................................... 88 5.1. Arzt und Parteifunktionär – Stationen einer Karriere ........................... 88 5.1.1. Von der Provinz in die Reichshauptstadt .................................. 89 5.1.2. Auftakt in Wien: Die Arisierung der österreichischen Ärzteschaft ...................... 90 5.1.3. Ärztliche Fortbildung als politisches Instrument ...................... 93 5.1.4. Ramm und die Krebsbekämpfung ............................................ 96 5.1.5. Die „Lösung der Judenfrage“ im Deutschen Ärzteblatt: Ramm als Meinungsbildner 1940–1945 ................................... 98 5.2. Revision des ärztlichen Ethos: Die Ärztliche Rechts- und Standeskunde ........................................... 102 5.2.1. Die Entwicklung einer neuen Fachdisziplin ........................... 102 5.2.2. Zur Situation an den Medizinischen Fakultäten ...................... 106 5.2.3. Exemplarisch: Die Lehrbeauftragten in Königsberg und Halle ......................................................... 113 5.2.4. Ramms Wirken als Lehrbeauftragter in Berlin und die Rezeption des Faches .................................................. 114 5.2.5. Inhalte und Ziele aus Sicht eines Fachvertreters ..................... 115 5.3. Das Lehrbuch „Ärztliche Rechts- und Standeskunde“ ....................... 117 5.3.1. Aufbau und Gliederung ........................................................... 117 5.3.2. Grundsätze nationalsozialistischer Medizinethik .................... 119 5.3.3. Ramm als Verkünder einer „totalen Ethik“ ............................. 122

Inhaltsverzeichnis

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5.3.4. Krieg und Forschung: Bedeutungsvolle Auslassungen ........... 123 5.3.5. Zeitgenössische Wahrnehmung und Wirkung ......................... 123 5.3.6. Bewertung und Einordnung aus heutiger Perspektive ............. 126 5.4. Letzte Einblicke ................................................................................... 128 5.5. Zusammenfassung ............................................................................... 129 6. Staatshygiene und Menschenversuche: Das medizinische Ethos des Joachim Mrugowsky .................................. 131 6.1. Paradoxie oder Folgerichtigkeit? ........................................................ 131 6.2. Herkunft und Werdegang .................................................................... 132 6.3. Studienzeit und politische Prägung ..................................................... 135 6.3.1. Exkurs: Studenten in der Weimarer Republik ......................... 135 6.3.2. „Ein armer, magerer und abgehärmt aussehender Kerl“ – als Student an der Universität Halle ........................................ 137 6.3.3. Rechtsradikale Agitation: Mrugowskys Rolle im „Fall Dehn“ ......................................... 139 6.4. Karriere in Sicherheitsdienst und SS .................................................. 142 6.5. Mrugowsky und die Kriegsjugendgeneration ..................................... 143 6.6. Völkische Ideologie und Hygiene ....................................................... 145 6.7. Geschichte und ärztliches Ethos ......................................................... 148 6.7.1. Mrugowskys Hufeland-Edition .............................................. 148 6.7.2. Das Buch im Spiegel der Rezensionen ................................... 152 6.8. Hygiene und Holocaust ....................................................................... 154 6.9. Tödliche Experimente ......................................................................... 159 6.10. „Mein Leben, mein Handeln und mein Wollen waren sauber“ .......... 162 6.11. Zusammenfassung ............................................................................... 165 7. Zusammenfassende Darstellung ............................................................... 167 7.1. Berlin als Schnittpunkt dreier Karrieren .............................................. 167 7.2. Unterschiedliche Perspektiven und Begründungsansätze ................... 170 7.3. Zur Rolle von Medizingeschichte und Ärztlicher Rechtsund Standeskunde zwischen 1939 und 1945 ....................................... 172 8. Schlussbetrachtung ..................................................................................... 175 9. Verzeichnis der benutzten Abkürzungen ................................................. 178

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Inhaltsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................ 179 10.1. Archivalien und sonstige Quellen .................................................. 179 10.2. Literatur .......................................................................................... 182 10.2.1. Darstellungen vor 1945 .................................................... 182 10.2.2. Darstellungen nach 1945 .................................................. 189

11.

Abbildungsverzeichnis ........................................................................... 215

12.

Personenregister ..................................................................................... 216

VORWORT Die vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner im Wintersemester 2007/2008 von der Medizinischen Hochschule Hannover angenommenen Dissertation. Die mündliche Prüfung fand am 10. Oktober 2007 statt. Die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Heischkel-Artelt-Stiftung haben die Drucklegung freundlicherweise unterstützt. Darüber hinaus trugen viele Personen zum Gelingen der Arbeit bei. An erster Stelle gilt mein Dank Prof. Dr. Andreas Frewer. Er regte nicht nur das Thema der Dissertation an, sondern war in jeder Hinsicht ein Doktorvater, wie man sich ihn nur wünschen kann. Er betreute die Arbeit intensiv und geduldig in allen Phasen und schaffte mir kreative Freiräume. Weiterhin danke ich den Gutachterinnen Prof. Dr. Brigitte Lohff und Prof. Dr. Eva Hummers-Pradier für ihr Engagement. Brigitte Lohff verdanke ich zudem viele Anregungen und Verbesserungsvorschläge. Seminare, Tagungen und Diskussionen am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizinischen Hochschule Hannover, an der Abteilung für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen sowie am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin lieferten mir wichtige Ideen und Hilfestellungen. Großen Dank schulde ich Prof. Dr. Werner Friedrich Kümmel für seine wertvollen Hinweise und die detaillierten Anmerkungen. Voraussetzung für die Bearbeitung des umfangreichen Aktenmaterials war die kompetente Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den zahlreichen Archiven. Ohne sie wäre die Erstellung dieser Studie nicht möglich gewesen. Das Bundesarchiv in Berlin und die Universitätsarchive in Berlin und Halle/Saale sind mir mit ihrer freundlichen Atmosphäre besonders in Erinnerung geblieben. Die Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen ist in ihrer Bestandsfülle und der Hilfsbereitschaft ihres Personals in Deutschland schwer zu übertreffen. Angelika Betz (Bayerische Staatsbibliothek München), Thomas Dütsch (Stadtarchiv Nürnberg) sowie Klaus von Fleischbein und Dr. Ilona Marz (Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin) halfen bei der Bildrecherche. Wichtig war der Austausch unter Doktoranden; mein Dank gilt hier vor allem Martin Mattulat für gemeinsame Forschungsreisen und ironische Reflexionen. Für schriftliche Auskünfte danke ich Prof. Dr. Heinz Goerke, Dr. Dr. Manfred Stürzbecher und Prof. Dr. Otto Winkelmann. Hilfen und Impulse unterschiedlichster Art verdanke ich Dr. Helmut Gröger, Prof. Dr. Volker Hess, Dr. Irene Hirschberg, Isabella Hönisch, Ernst Klee, Prof. Dr. Ulf Schmidt und Dr. Gisela Tascher. Auch Herr Prof. Dr. Franz Joseph Gottlieb hat für die Arbeit Informationen bereitgestellt. Angela Schmiegel vom Franz Steiner Verlag gebührt Dank für ihre Geduld in der Endphase der Fertigstellung des Manuskripts. Für ihr Interesse und ihre neugierigen Fragen danke ich den Kollegen vom HELIOS Klinikum Berlin-

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Vorwort

Buch und der Franz-Volhard-Klinik Charité Campus Buch. Ein besonderer Dank geht an Prof. Dr. Herbert Koop, der mir durch eine temporäre Freistellung von der klinischen Tätigkeit die Fertigstellung der Arbeit erleichterte. Das Interesse an der Geschichte verdanke ich meinen Eltern und ihren frühzeitigen Lektüre-Anregungen sowie den Erzählungen meiner Großeltern Dr. Ingeborg und Dr. Wolfgang Herwig aus einer schwierigen Zeit. Wachgehalten wurde dieses Interesse unter anderem durch meine Geschichtslehrerin Frau Regine Joost. Meinem Vater Alfred Bruns danke ich für das kritische Gegenlesen des Manuskripts und seine vielen konstruktiven Verbesserungsvorschläge. Sandra Blumenthal danke ich für ihre Unterstützung und Geduld in jeder Hinsicht, und dass sie mich aus einer oftmals bedrückenden Vergangenheit immer wieder in die Gegenwart zurückholte. Berlin, im Oktober 2008

Florian Bruns

1. EINLEITUNG 1.1. EINFÜHRUNG Die moderne Medizin am Beginn des 21. Jahrhunderts ist geprägt von Fortschritten und Verheißungen, aber auch von wachsenden moralischen Konflikten. Die immer wieder aufflammende Diskussion über die Sterbehilfe, die Debatten zur Genforschung oder zur selektiven Gewinnung embryonaler Stammzellen – die Brisanz dieser beispielhaft herausgegriffenen Probleme wächst umso mehr, je unbegrenzter, aber auch unberechenbarer die Möglichkeiten der heutigen Medizinund Biotechnologie erscheinen.1 Im Zuge einer allgemein fortschreitenden Ökonomisierung verstärkt sich auch im Bereich der Medizin die Tendenz zur Deregulierung und Lockerung bislang geltender Vorgaben und Beschränkungen. Manche Wissenschaftler begreifen ethische Normen und Grenzsetzungen lediglich als fortschrittshemmende Hindernisse, die ihrer Forschung entgegenstehen und sie im internationalen Wettbewerb benachteiligen.2 Darüber hinaus können auch staatlich initiierte Maßnahmen erhebliche medizinethische Probleme aufwerfen. Ob es um die Beteiligung von Ärzten bei der Folterung von Kriegsgefangenen, beim Vollzug der Todesstrafe oder um militärmedizinische Forschung geht – die Gefahr staatlich geförderter Moralverstöße in der Medizin ist von nicht nachlassender Aktualität.3 Beide Aspekte, sowohl entgrenzte, moralisch enthemmte Forschung als auch die staatlich sanktionierte Verletzung elementarer Menschenrechte sind insbesondere in Deutschland mit historischen Erfahrungen belastet. Die während der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges in Konzentrationslagern durchgeführten Menschenversuche sowie die staatlich organisierte Tötung von Kranken und Behinderten wirken in ihrem Schrecken bis in die heutige Zeit nach. In Deutschland wird kaum eine Kontroverse über ethische Fragen in der Medizin geführt, in der nicht früher oder später auf die medizinischen Verbrechen während des Nationalsozialismus Bezug genommen wird.4 In Debatten um Sterbehilfe, 1

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Siehe dazu u.a. Bonde et al. (2008), Brassington (2007), Gunderson (2007), Maio (2007), Schulz et al. (2006), Rauprich/Steger (2005), Höffe (2002), Kathan (2002), Habermas (2001), Ach et al. (1997). Zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens und den Folgen aus medizinhistorischer und ethischer Sicht vgl. zuletzt Bonde et al. (2008), Schott (2007), Bergdolt (2007), zu Problemen der Forschungsethik Frewer/Schmidt (2007), Schmidt/Frewer (2007a), Bruns (2005). Zur Folterung von Kriegsgefangenen vgl. Annas (2008), Marks/Bloche (2008), Miles (2006), Miles (2004a), Lifton (2004). Zur Mitwirkung von Ärzten bei der Vollstreckung der Todesstrafe siehe Welsh (2003) sowie Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), S. A-610 und S. A-1728. Zu staatlich sanktionierten Versuchen am Menschen vgl. Böhme et al. (2008), Pethes et al. (2008), Frewer/Schmidt (2007), Eckart (2006), Roelcke/Maio (2004), Moreno (2000). Im Juli 2008 tagte in Berlin der Internationale Kongress für Genetik – zum ersten Mal seit 80 Jahren wieder in Deutschland und genau 75 Jahre nach Verkündung des nationalsozialis-

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1. Einleitung

Abtreibung oder genetische Diskriminierung wird häufig auf vermeintliche Kontinuitäten oder historische Parallelen zur NS-Zeit hingewiesen. Die Gültigkeit einer sich auf historische Sachverhalte stützenden Argumentation ist jedoch nicht unumstritten.5 Ungeachtet dessen ist die Rolle, die Ärzte in der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1933 und 1945 einnahmen, durch vielfältige Berichterstattung in der medialen Öffentlichkeit präsenter denn je; das Interesse am Thema Medizin und Nationalsozialismus ist ungebrochen.6 Vor diesem Hintergrund kommt dem Bereich Geschichte und Ethik in der Medizin eine wachsende Bedeutung innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses zu. Seit einigen Jahren spiegelt sich dies auch in der ärztlichen Ausbildung wider. Mit Einführung der neuen Approbationsordnung für Ärzte im Jahr 2003 ist der Querschnittsbereich „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ als Pflichtfach in das Medizinstudium integriert worden.7 Ob mit der gestiegenen öffentlichen Wahrnehmung auch das Wissen über die Geschichte der Medizinethik zugenommen hat, ist allerdings fraglich.8 Angesichts

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tischen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Zu diesem Anlass haben deutsche Humangenetiker in einer am 14. Juli 2008 veröffentlichten Erklärung erstmals geschlossen eine „schwere Schuld“ ihrer damaligen Fachkollegen an der Zwangssterilisierung Hunderttausender Menschen und am folgenden Massenmord an Kranken und Behinderten eingeräumt. Zur Bedeutung des Nationalsozialismus für die Medizinethik vgl. Wilkinson (2008), Kröner (1997). Vgl. dazu Kipke (2008), Fenner (2007), Sozialministerium (2006), Winau (2005), Simon (2004), Burleigh (2000), Schmuhl (2000). Ebenso Caplan (1992), Guckes (1997a), Maio (1997). Analogien betonend: Schmid-Tannwald (1998); kritisch gegenüber Gleichsetzungen mit der NS-Zeit hingegen Burleigh (1997). Zum historischen Vergleich in der Bioethik vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.05.2002, S. 46 sowie 17.12.2007, S. 39. Exemplarisch hierfür: „Finale Jagd nach Doktor Tod“, Süddeutsche Zeitung, 08.07.2008, S. 9 (über die Suche nach dem untergetauchten KZ-Arzt Aribert Heim); „Die Perversion des Heilens“, Süddeutsche Zeitung, 25.10.2006, S. 20 (über den 60. Jahrestag des Nürnberger Ärzteprozesses); „Approbierte Mörder“, DIE ZEIT, 12.10.2006, S. 45 (zur Eröffnung der Ausstellung „Tödliche Medizin“ des United States Holocaust Memorial Museum im Deutschen Hygiene-Museum Dresden); „Euthanasie-Arzt Heinrich Gross gestorben“, Süddeutsche Zeitung, 24.12.2005, S. 6. Auch die 2004 ausgestrahlte ZDF-Reihe „Ärzte unterm Hakenkreuz“ (Regie: C. Paul, C. Feyerabend, D. Gieseler), die insbesondere auf Hitlers Begleitarzt Karl Brandt eingeht, stieß auf erhebliche – auch kritische – Resonanz. Mit Schmidt (2007) liegt jetzt überdies eine umfangreiche Biographie zu Brandt vor; eine deutsche Fassung ist für Ende 2008 in Vorbereitung. Generell scheint sich die historische Forschung zum Nationalsozialismus mit wachsendem zeitlichen Abstand noch zu intensivieren, siehe dazu Kramer (2000), König (2003), Aust/ Spörl (2004), Lübbe (2004). Vgl. § 1 sowie § 27 der Approbationsordnung für Ärzte vom 27. Juni 2002, Bundesgesetzblatt Bonn, 3. Juli 2002; I 44: 2405–2435. Siehe dazu auch Schott (2008), Möller et al. (2006), Neitzke (2006), Schulz et al. (2006) sowie Stöckel et al. (2005). Eine 2002 veröffentlichte Umfrage unter Medizinstudierenden an der Berliner Charité förderte enorme Wissenslücken zur Medizin im Nationalsozialismus zutage. So konnten beispielsweise nur 2,4% der 332 Befragten die Namen Mitscherlich und Mielke als Prozessbeobachter und Autoren der Dokumentation „Medizin ohne Menschlichkeit“ identifizieren. 73% der Studierenden konnten die Namen überhaupt nicht zuordnen und 13% hielten die beiden gar für KZ-Ärzte in Buchenwald, siehe Langkafel et al. (2002). Vgl. auch Bruns (2007).

1.2. Nationalsozialistische Medizinethik?

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der erwähnten Diskussionen über die Zulässigkeit und Angemessenheit der historischen Bezugnahme sind genaue Kenntnisse über die Inhalte der Medizinethik in der Zeit des Nationalsozialismus unbedingt notwendig. Unkritisch vorgenommene historische Gleichsetzungen führen oft zu falschen Schlussfolgerungen, die am Ende dem historischen Argument schaden können. Die deutsche Sterbehilfe-Diskussion ist in dieser Hinsicht paradigmatisch, da einerseits das seinerzeit euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichnete Tötungsprogramm der Nationalsozialisten oftmals fälschlicherweise mit der heute intendierten Erleichterung des Sterbevorgangs (eu thanatos: guter Tod) gleichgesetzt wird, andererseits jedoch die Gefahr eines möglicherweise drohenden ethischen „Dammbruchs“ mit primär nicht beabsichtigten Folgeerscheinungen nicht von der Hand zu weisen ist.9 So präsent die Vergangenheit in unserer Gegenwart auch sein mag: direkte Antworten auf aktuelle Fragen sind dem Verlauf der Geschichte ebenso wenig zu entnehmen wie ein bloßer Traditionalismus als Richtschnur für eine zeitgemäße Moralphilosophie dienen kann. Historische Erkenntnisse können jedoch – mit Sachverstand und Augenmaß vorgetragen – auf die Genese vieler ethischer Probleme aufmerksam machen, für problematische Entwicklungen sensibilisieren und im besten Falle zur Lösung moralischer Konflikte beitragen.10 1.2. NATIONALSOZIALISTISCHE MEDIZINETHIK? Die Medizin ist keineswegs nur passiv den an sie herantretenden politischen Ideologien ausgesetzt. Neben äußeren Einflüssen, welche die Heilkunde moralisch zu korrumpieren vermögen, existieren auch in der Medizin selbst Impulse, ethische Standards umzudefinieren. Das Bemühen, Krankheit abschaffen zu wollen, birgt auch die Gefahr in sich, das Heilen zu verabsolutieren und zu pervertieren.11 Die „Medizin ohne Menschlichkeit“ des Nationalsozialismus, die Töten zum Bestandteil des Heilens erklärte, hat dies zur Genüge bewiesen. In ihr gingen staatlichpolitische Direktiven und aus einer biologistischen Medizin hervorgegangene Konzepte einer „Volkskörper-Heilung“ eine fatale Verbindung ein. Diese der Medizin inhärente Gefahr wurde und wird in der Ärzteschaft gern übersehen. Die Nachkriegsgesellschaft – und mit ihr ärztliche Standesvertreter – gaben sich lange Zeit der historisch unzutreffenden Vorstellung hin, die zwischen 1933 und 1945 9

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Vgl. dazu u.a. Frewer/Eickhoff (2000). Allgemein zum Argument der „Schiefen Ebene“ (auch „Schiefe Bahn“ oder „slippery slope“): Burg (1991); im Hinblick auf die SterbehilfeDebatte Guckes (1997b), Frewer (2000b), Kipke (2008). Die populistische Gleichsetzung von Abtreibung und Holocaust, wie sie von einigen Abtreibungsgegnern, darunter auch Vertreter der katholischen Kirche, insinuiert wird, sei an dieser Stelle als extremes Beispiel für eine nicht angemessene, ahistorische Argumentation erwähnt. Vgl. Wiesing (1995). Dazu auch Steger (2008), Baranzke (2001) sowie Toellner/Wiesing (1997). Zur „Geschichtlichkeit“ in der Medizin und zur Frage, ob Historizität als pragmatisches Erkenntnismittel dienen kann siehe Labisch/Paul (2004). Zur Rolle der Zeitgeschichte innerhalb der Medizinhistoriographie: Schlich (2007). Dazu u.a. Gordijn (2004), Schäfer (2003).

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1. Einleitung

begangenen medizinischen Verbrechen seien in erster Linie von einer kleinen Zahl ungewöhnlich grausam und unmenschlich veranlagter bzw. am Rande der Profession stehender Ärzte ausgeführt worden.12 Diese Annahme schützte das ärztliche Selbstbild, diente der Entlastung vieler Kollegen und beruhigte die Nachkriegspatienten – verschwieg jedoch gleichzeitig das wahre Ausmaß und die Motive des ärztlichen Engagements für die Ziele des Nationalsozialismus. Das Konstrukt einer in ihrem moralischen Kern unberührt gebliebenen Medizin verzögerte zudem die Erkenntnis, dass die medizinischen Täter durchaus auf der Grundlage bestimmter ethischer Wertvorstellungen handelten. Diese Moralkonzepte waren zwar spezifisch nationalsozialistisch geprägt, in der Rückschau jedoch sehr wirkungsmächtig und somit historisch nicht vernachlässigbar. Das medizinische Ethos der Nationalsozialisten erwies sich immerhin als tragfähig genug, aus Ärzten freiwillige und bereitwillige Mörder werden zu lassen, die sich überdies nach dem Krieg keiner Schuld bewusst waren. An den sogenannten „Euthanasie“-Aktionen beteiligte Mediziner setzten die Ermordung ihrer Patienten durch Gift oder Nahrungsentzug konsequent fort, bis die alliierten Truppen im Frühjahr 1945 buchstäblich vor den Anstaltstoren standen – an einigen Orten töteten sie noch Monate später. Diese Ärzte hatten aus Überzeugung gehandelt, sozusagen „gewissenhaft gewissenlos“, und nur in den seltensten Fällen aus sadistischem Antrieb.13 Sofern es nicht schon vorher ruchbar wurde, enthüllte sich im Nürnberger Ärzteprozess einer breiten Öffentlichkeit, zu welchen Taten deutsche Ärzte während der Zeit des Nationalsozialismus und besonders während des Zweiten Weltkriegs fähig waren. Die in Nürnberg verhandelten Verbrechen, die angeklagten Personen und die von eben diesen zur Verteidigung vorgebrachten Rechtfertigungsstrategien führen zum Kern der in der vorliegenden Untersuchung behandelten Problematik.14 Die Verbrechen selbst, etwa die tödlichen Menschenversuche in den Konzentrationslagern oder die Krankenmord-Aktionen, sind inzwischen sehr gut dokumentiert.15 Ebenso wichtig ist es jedoch, die Frage nach den 12 13

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Vgl. Kröner (1997) sowie unten, Kapitel 1.4. „We find again and again evidence that people even directly involved in the Holocaust culture remained – in other contexts to be sure – caring, concerned, sensitive people. They did not become ogres suddenly in 1941 and then return to humanity in 1945.“ Haas (1988b), S. 385. Zur psychopathologischen Normalität etwa der in Nürnberg angeklagten Hauptkriegsverbrecher vgl. Gilbert (1962). Siehe dazu auch Welzer (2005), S. 7–12. Generell Browning (1993), zu SS-Medizinern im Besonderen: Kramer (2005), S. 225. Das Zitat „Gewissenhaft gewissenlos“ findet sich im Titel von Ley/Ruisinger (2006). Zur Ermordung psychiatrischer Patienten bis in die letzten Kriegstage und darüber hinaus: Klee (2001a), S. 88–90. Zum Nürnberger Ärzteprozess vgl. u.a. Frewer/Wiesemann (1999), Ebbinghaus/Dörner (2001), Schmidt (2004), Weindling (2004), zu den Rechtfertigungsstrategien siehe Ebbinghaus (2001b). Einen aktuellen Forschungsüberblick geben Schmuhl (2008), Roelcke (2007), Wilmanns/ Hohendorf (2007), Forsbach (2006). Grundlegend immer noch Mitscherlich/ Mielke (1960). Die Aufarbeitung zu Beginn der 1980er Jahre anstoßend: Baader/Schultz (1980), WuttkeGroneberg (1982). Zur umfassenden Literatur über die „Euthanasie“-Aktion existiert mit Beck (1995) eine eigene, wenn auch mittlerweile ergänzungsbedürftige Bibliographie. Auf

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