R E C H T S K U N D E

January 15, 2018 | Author: Anonymous | Category: Sozialwissenschaften, Recht, Verfassungsrecht
Share Embed Donate


Short Description

Download R E C H T S K U N D E...

Description

1

RECHTSKUNDE EINFÜHRUNG IN DAS RECHT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Ein Leitfaden nach Zeitungsmeldungen (Textsammlung)

von

Hans-Uwe Scharnweber

Ein garstig Buch! Pfui! Ein politisch Buch! (In Rechtsanalogie zu »Faust«)

Allen, denen Gerechtigkeit noch und immer wieder ein Problem ist, sowie denjenigen, die unter ungerechten Gesetzen oder Urteilen leiden. Und Dorothea, die viele Stunden auf meine Gesellschaft verzichten musste, um mir die Zeit zu lassen, an meinen Büchern zu arbeiten die sie nicht mehr lesen kann.

2

Inhaltsübersicht Abkürzungsverzeichnis Einleitung I. TEIL: Das Verhältnis von »Recht« und »Gesetz« 1. Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung« 2. »Gesetz« und »Recht« II. TEIL: Die Funktion im Recht des NS-Herrschaftssystems 1. Rechtsprechung als Terrorinstrument 2. Grundrechte zur Disposition der Staatsmacht 3. „Furchtbare Juristen“ als Steigbügelhalter der braunen Diktatur 4. Wiederholte Straffreistellung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte 5. Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24.03.33 als „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“ und seine Auswirkungen III. TEIL: Die Funktion des Rechts im SED-Herrschaftssystem der DDR 1. „Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizieren.“ 2. Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem 3. Unrechtsregime wie die DDR unter SED-Herrschaft negieren Menschenrechte, Verfassung und eingegangene internationale Verpflichtungen 4. Ideologiebedingtes Geschichts-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis 5. Volksdemokratien mangelt es an Rechtsstaatlichkeit als Fundament einer echten Demokratie 6. „Amnesty international“ zur Lage der Menschenrechte in der DDR 7. Staatlicher Terror bis zur physischen Vernichtung 8. Staatliches Kidnapping durch „Zwangsadoptionen“ 9. Faktisch bestehende Abhängigkeit der Richter trotz anders lautender Verfassungsbestimmungen 10. Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie IV. TEIL: Das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland 1. Privatrecht und öffentliches Recht 2. Erste Einblicke in das Privatrecht 3. Öffentliches Recht 4. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Wächter des GG durch Urteil mit Gesetzesverwerfungskompetenz und durch mahnende Existenz 5. Überprüfung von Urteilen durch das BVerfG hinsichtlich möglicher Grundrechtsverletzungen 6. Mahnende Existenz und Rechtsprechung des BVerfGs Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Politik an einem Beispielsfall 7. In bewusster Abkehr von den Bestimmungen der Weimarer Verfassung getroffene staatsorganisatorische Bestimmungen im Grundgesetz 8. Reform-Ideen zur Umgestaltung unserer durch Verschmelzung in der EU und Globalisierungsherausforderungen neuen Erfordernissen anzupassenden Verfassung V. TEIL: Das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSCHG) als Beispiel für die Schwierigkeiten konkreter Gesetzesabfassung, -anwendung und möglicher –verbesserung VI. TEIL: Tabellarischer Überblick über die wichtigsten Rechtlichen Entwicklungsstufen (Recht und Lebensalter) Index

3

INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................................................................... 8 Einführung........................................................................................................................................................................ 9 I. TEIL ....................................................................................................................................................................... 39 DAS VERHÄLTNIS VON »RECHT« UND »GESETZ« ..................................................................................... 39 1 Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung« ............................................................................................. 39 1.1 Präambel....................................................................................................................................................... 40 1.1.1 Gott als in der Präambel herausgehobener Bezugspunkt staatlichen Handelns ..................................... 41 1.1.2 Text der Präambel als Auslegungsregel für das GG .............................................................................. 46 1.2 »Grundgesetz« oder »Verfassung«? ............................................................................................................. 46 1.2.1 Der räumliche Geltungsbereich des GG ................................................................................................ 48 1.2.2 GG und Länderneugliederung ............................................................................................................... 48 1.3 Das GG als oberste rechtliche Norm unseres Staates für insbesondere staatliches, eingeschränkt aber auch privates Handeln................................................................................................................................................. 54 1.3.1 GG und Zivilrecht ................................................................................................................................. 55 1.3.1.1 Grundsätzliche Vertragsfreiheit im Bereich des Zivilrechts und (meist nur) eingeschränkte »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte ............................................................................................... 55 1.3.1.2 Privates Hausrecht überwindet das Diskriminierungsverbot des (speziellen) Gleichheitssatzes aus Art. 3 III GG............................................................................................................................................... 56 1.3.2 Grundrechte und ihre Bedeutung am Beispiel des allgemeinen und des speziellen Gleichheitssatzes von Art. 3 GG ................................................................................................................................................. 60 1.3.2.1 Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 I GG ................................................................................. 60 1.3.2.1.1 Gleichheitssatz des Art. 3 GG als »Willkürverbot« ................................................................. 61 1.3.2.1.2 Unterschiedliche Geltung des Gleichheitssatzes im öffentlich-rechtlichen Bereich von Kirche und Staat ................................................................................................................................................. 90 1.3.2.1.3 Art. 33 GG als den Staat verpflichtende spezielle Ausgestaltung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes ........................................................................................................................... 90 1.3.2.2 Gleichberechtigungsproblematik .................................................................................................. 115 1.3.2.2.1 Die in Art. 3 II GG angeordnete Gleichberechtigung von Frau und Mann als Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes ........................................................................................................ 115 1.3.2.2.2 Benachteiligung von Frauen unter der Geltung des GG seit 1949 im niederrangigeren Recht trotz Art. 3 II GG und allmähliche rechtliche Angleichung .................................................................. 121 1.3.2.2.3 Art. 3 II GG und Ehenamensrecht ......................................................................................... 125 1.3.2.2.4 »Schwangerschaftsurlaub« und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 II GG ................................................................................................................................................. 135 1.3.2.2.5 Erziehungsurlaub und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 II GG135 1.3.2.2.6 »Mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte, insbesondere des Gleichheitssatzes, im Arbeitsrecht .......................................................................................................................................... 135 1.3.2.2.7 Art. 3 II GG schützt auch die Männer ................................................................................... 138 1.3.2.2.8 Beispiele für den Kampf um Gleichberechtigung in einigen anderen Ländern ..................... 148 1.3.3 Art. 3 III GG und Asylrecht ................................................................................................................ 151 1.3.4 »Wesensgehaltssperre« bei Grundrechtseinschränkungen und Asylrecht............................................ 152 1.3.5 Auslegung von Grundrechtsbestimmungen am Beispiel von Art. 6 GG Ehe und Familie und Art. 16 GG Asylrecht................................................................................................................................................ 153 2 »Gesetz« und »Recht« ....................................................................................................................................... 162 2.1 »Gesetz« und »Recht« in Art. 20 III GG .................................................................................................... 165 2.2 »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« ..................................................................................................... 167 2.3 Gesellschaftliche Befriedungsfunktion des Rechts ..................................................................................... 169 2.4 Das »Brett des Karneades« und die Frage nach »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« .......................... 171 2.5 Strafrechtliche Prüfung des Falles „Brett des Karneades“ ......................................................................... 173 2.6 Annäherung an die »Idee des Rechts« ........................................................................................................ 176 2.6.1. Widerstreit zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz und Recht ............................................. 177 2.6.2 »Gesetz« und »Recht« in griechischen Tragödien ............................................................................... 177 2.7 »Gesetz« ..................................................................................................................................................... 181 2.7.1 Die Notwendigkeit exakter Abfassung von Gesetzen .......................................................................... 182

4

2.7.2 Kampf um gesetzliche Neuregelungen auf Grund geänderter gesellschaftlicher Verhältnisse am Beispiel der Feiertagsruhe ............................................................................................................................ 186 2.7.3 Juristisches Konfliktfeld Organ»spende« ............................................................................................ 193 2.7.4 Das GG als lebender (Rechts-)Organismus ......................................................................................... 215 2.7.5 Regelungen der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern im GG................................ 215 2.7.6 Technische Neuerungen bewirken oft einen juristischen Regelungsbedarf ......................................... 216 2.7.7 BVerfG als "juristische Notbremse" unterlegener Politiker ................................................................ 217 2.7.8 Beispiele für juristischen Regelungsbedarf aus dem Bereich der Biomedizin .................................... 217 2.7.9 Notwendigkeit der ständigen Anpassung und Korrektur von Gesetzen am Beispiel möglicher Organentnahme bei anenzephalen Föten ...................................................................................................... 253 2.7.10 Wertungswidersprüche durch verschiedene - eventuell ungenau formulierte - Gesetze möglich ...... 256 2.7.11 Gesetzesinterpretationen durch Auslegung oder Analogiebildungen zur Ermöglichung juristisch gewollter Ergebnisse ohne Gesetzesänderungen .......................................................................................... 259 2.7.12 »Einzelfall«-Gesetze trotz »abstrakt« (für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen) gehaltenen Wortlauts ...................................................................................................................................................... 261 2.7.13 Auch unsinnig erscheinende Gesetze haben oder hatten meistens – aber nicht immer - einen nicht unbedingt billigenswerten, aber von der Intention des Gesetzgebers her nachvollziehbaren, zwischenzeitlich eventuell verschütteten Sinn ......................................................................................................................... 261 2.7.14 Gesetze können legalisiertes Unrecht sein......................................................................................... 274 2.8 »Recht«....................................................................................................................................................... 275 2.8.1 »Recht« und subjektives Rechts-/Gerechtigkeitsempfinden ................................................................ 276 2.8.2 »Recht« als Definition einer Machtelite .............................................................................................. 278 2.8.3 »Recht« zur Absicherung der Herrschaft einer staatlichen Machtelite ................................................ 278 2.8.4 In einer Demokratie steht der Staat unter der Herrschaft des Rechts und nicht das Recht unter der Willkür der Exekutive .................................................................................................................................. 279 2.8.5 Wer soll über die Auslegung von »Recht« entscheiden? ..................................................................... 280 2.8.6 Medien sind als publizistisches Wächteramt der kritischen Öffentlichkeit gegenüber richterlichen Entscheidungen die »vierte Gewalt« im Staate ............................................................................................. 283 2.8.7 Willfährige und/oder dogmatisierte Richter als Büttel der Staatsmacht setz(t)en legalisiertes Unrecht durch............................................................................................................................................................. 284 2.8.8 Rechtsanalogien in der Hand fanatisierter Richter im Strafrecht ......................................................... 286 2.8.9 Zivilrichter sorgten in der NS-Zeit für den "bürgerlichen Tod", Strafrichter schickten den Henker hinterher ....................................................................................................................................................... 288 2.8.10 Die neuere deutsche Rechtsgeschichte in der NS- und der SED-Diktatur ist eine Geschichte der Gesinnungsjustiz .......................................................................................................................................... 289 2.8.11 "Kein Verbrechen, keine Strafe ohne entsprechendes Gesetz".......................................................... 290 2.8.12 Problemfeld: Hinreichende Bestimmtheit einer Strafbestimmung und "offene Rechtsbegriffe" ....... 290 2.8.13 Rechtsfragen sind oft Machtfragen .................................................................................................... 293 2.8.14 Juristerei ist keine Mathematik, darum sind Rechtsfragen oft Wertungsfragen ................................. 293 2.8.15 Was ist dann „Recht«?....................................................................................................................... 294 2.8.16 Vorstellungen von »Recht« in anderen Kulturkreisen anhand von Zeitungsmeldungen .................... 311 2.8.17 Unterschiedliche Ansichten über das »Recht« und den Rechtsgüterschutz innerhalb selbst einer kulturell einheitlich geprägten Gesellschaft.................................................................................................. 327 2.8.18 Was »Recht« sein soll, ist in einer sich verändernden Gesellschaft ständig im Fluss, ständig umkämpft ..................................................................................................................................................... 328 2.8.19 Notwendigkeit der Anpassung gesetzlicher Regelungen an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse wegen sich wandelnden Rechtsbewusstseins in der Bevölkerung ................................................................ 341 2.8.19.1 Wertewandel - eventuell durch wissenschaftlichen Fortschritt verursacht - bedingt Rechtswandel .................................................................................................................................................................. 341 2.8.19.2 Gesellschaftliche Umbrüche sind immer auch gravierende Umbrüche im Rechtssystem ........... 358 2.8.19.3 Aus u.a. Gerechtigkeitsstreben heraus entstandene Revolutionen installieren oft ein neues Unrechtssystem ........................................................................................................................................ 360 2.8.19.4 Das Mehrheitsprinzip - unter rechtlich abgesicherter Achtung von Minderheitenrechten - ist der Königsweg demokratischer Willensbildung ............................................................................................. 360 2.8.19.5 Ständige Kämpfe um »das Recht« auch in unserer demokratisch verfassten und damit auf ständigen Wandel angelegten Gesellschaft............................................................................................... 363 2.8.19.6 Beispiel Umweltschutz und Recht .............................................................................................. 363 2.8.19.7 Vorzüge der demokratischen Staatsform aus ihren rechtlichen Grundentscheidungen heraus ... 365

5

2.8.20 Rechtsunterworfenheit in Sonderbereichen nur durch Beitritt ........................................................... 381 2.8.20.1 Verbandsgerichtsbarkeit im Bereich des Sports ......................................................................... 382 2.8.20.2 Rechtsunterworfenheit durch Kirchenbeitritt ............................................................................. 387 2.8.20.3 Allgemeinverbindliche Rechtsetzung im Bereich des Arbeitsrechts auch durch Übernahme privatrechtlicher Vereinbarungen ............................................................................................................. 398 2.8.21 »Vor-Rechtsnischen« Begnadigungen und Ordensverleihungen ....................................................... 403 2.8.22 Wächteramt der Presse gegenüber der öffentlichen Gewalt als "vierte Gewalt" im Staate ............... 405 2.8.23 Rechtsprechung hat leider nicht zwangsläufig etwas mit Gerechtigkeit zu tun - und Verwaltung erst recht nicht! ................................................................................................................................................... 406 2.8.24 Opposition als demokratieunabdingbares »institutionalisiertes Misstrauen« und widerstehende Bürger u.a. zur Abwehr staatlichen Unrechts ............................................................................................... 406 2.8.25 Recht und Moralvorstellungen .......................................................................................................... 406 2.8.25.1 Die Gesetze müssen den sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen und Verhältnissen in einem ständigen Rückkopplungsprozess behutsam angepasst werden, weil sich die Vorstellungen über »das Recht« ändern. .................................................................................................. 406 2.8.25.2 »Wilde Ehe« als Beispiel für die Notwendigkeit rechtlicher Anpassung an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse................................................................................................................... 422 2.8.25.3 Rechtlich umkämpfte »Schwulen- und Lesben-Ehen«................................................................ 430 2.8.25.4 Der Kampf um § 218 StGB als Beispiel für den Kampf um die Anpassung des Rechts an gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen ............................................................................................. 455 2.8.26 Die Menschenrechte als Beschwörungsformel der neuzeitlichen Menschheitsgeschichte ................ 461 2.9 »Gesetz« und »Recht« ................................................................................................................................ 506 2.10 Recht und Rechtssicherheit ...................................................................................................................... 507 2.10.1 Rechtssicherheit will durch die damit bezweckte rechtliche Stabilität der Zukunftsplanung und der Gerechtigkeit dienen..................................................................................................................................... 510 2.10.2 Rechtssicherheit und ungerechte Urteile ........................................................................................... 511 2.10.3 Rechtssicherheit durch Urteil vor Gerechtigkeit? .............................................................................. 511 2.10.4 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchbrechung der durch Urteil geschaffenen Rechtssicherheit für die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit ................................................................................................. 513 2.10.5 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchsetzung der Gerechtigkeit gegenüber der durch Urteil geschaffenen Rechtssicherheit in Strafsachen auch nach dem Tode eines Verurteilten durchführbar .......... 515 2.10.6 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im englischen »Fall-Recht« in Strafsachen ........................................................................................................ 520 2.10.7 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im Kirchenrecht der katholischen Kirche am Beispiel des Falles Kurie gegen Galilei...................................... 524 2.10.8 Rechtssicherheit durch Fristablauf im deutschen Strafrecht .............................................................. 532 2.10.9 Deliktbezogener Verjährungsbeginn bei sexuellem Missbrauch von Kindern .................................. 532 2.10.10 Rechtssicherheit durch Fristablauf im Zivilrecht ............................................................................. 535 2.10.11 Rechtssicherheit durch Fristablauf allgemein .................................................................................. 537 2.11 Abschließende Betrachtungen zum Wesen des Rechts............................................................................. 539 2.11.1 »Recht an sich« gibt es nicht ............................................................................................................. 539 2.11.2 »Recht« ist oft nur eine Antwort einer Machtelite auf eine historische Situation .............................. 540 2.11.3 Historische Bedingtheit des »Rechts« ............................................................................................... 541 II. TEIL .................................................................................................................................................................... 542 DIE FUNKTION DES RECHTS IM NS-HERRSCHAFTSSYSTEM ................................................................ 542 1 Rechtsprechung als Terrorinstrument ................................................................................................................ 545 1.1 Der Volksgerichtshof als Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft ......................................................................................................................................................................... 546 1.2 Durchsetzung des Naziterrors u.a. durch Juristenterror .............................................................................. 550 1.3 Die Richter machten das Volk wehrlos ...................................................................................................... 552 1.4 Charakterlose Juristen als Blutrichter ......................................................................................................... 553 1.5 Die "Polenstrafrechtsverordnung" als Beispiel gesetzlichen Unrechts und ein Beispiel ihrer darüber hinausgehend exzessiv gnadenlosen Anwendung ............................................................................................. 553 1.6 Sondergerichte als "Standgerichte der inneren Front" ................................................................................ 556 1.7 Offene Rechtsbegriffe als Henkersstricke .................................................................................................. 557 1.8 Die Deutschen: "Volk der Dichter und Denker" wie auch der NS-Richter und Henker ............................. 558 1.9 Erschießungen ohne Gerichtsverfahren ...................................................................................................... 559 2 Grundrechte zur Disposition der Staatsmacht ................................................................................................... 559

6

2.1 Art. 48 II WV als trojanisches Pferd der braunen Diktatur ........................................................................ 560 2.2 "Verfassungsfestes Minimum" des Art. 79 GG als Antwort des Verfassungsgesetzgebers auf diese historische Erfahrung ....................................................................................................................................... 561 3 "Furchtbare Juristen" als Steigbügelhalter der braunen Diktatur ...................................................................... 562 4 Wiederholte Straffreistellung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte ........... 566 5 Das Ermächtigungsgesetz vom 24.03.33 als "Verfassungsurkunde des Dritten Reiches" und seine Auswirkungen ............................................................................................................................................................................. 569 5.1 Das »Ermächtigungsgesetz« als Schlussstein in der gesetzlichen Pervertierung der Weimarer Verfassung572 5.2 Die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes ............................................................................................... 575 5.3 Der "Führer" als oberster Gerichtsherr ....................................................................................................... 576 5.4 »Recht« als Mittel zur Ausrottung weltanschaulicher Gegner .................................................................... 577 5.5 § 2 StGB von 1935 als archimedischer Punkt für die Bestrafung jedes Missliebigen durch Beseitigung der Garantiefunktion der Straftatbestände .............................................................................................................. 577 5.6 Völlige Pervertierung des Rechts durch das Reichsgericht ........................................................................ 579 5.7 Die Fallbeiljustiz der "Mörder in den Roben" blieb in der Bundesrepublik durch gewollte Versäumnisse ungeahndet ....................................................................................................................................................... 580 5.8 Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist, dass Juristen zu allem fähig sein können ................. 583 5.9 Weder die Einhaltung des vorgeschriebenen Rechtsweges noch die Autorität der wissenschaftlichen Rechtslehre gewährleisten einen automatischen Schutz vor der moralischen Entwurzelung einer der Form nach intakten Rechtsordnung und Rechtswissenschaft ............................................................................................. 583 5.10 Euthanasie: Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ ................................................................................. 585 III. TEIL ................................................................................................................................................................... 590 DIE FUNKTION DES RECHTS IM SED-HERRSCHAFTSSYSTEM DER DDR ........................................... 590 1 "Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizieren." ............................................................................................................................................................................. 590 2 Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem............................................................................................... 596 3 Unrechtsregime wie die DDR unter SED-Herrschaft negieren Menschenrechte, Verfassung und eingegangene internationale Verpflichtungen ............................................................................................................................. 598 4 Ideologiebedingtes Geschichts-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis ............................................................ 601 4.1 Aus der Verfassung der DDR ersichtliches kommunistisches Gesellschaftsverständnis ............................ 601 4.2 Untersuchung ausgewählter Artikel der DDR-Verfassung ......................................................................... 602 4.2.1 Führungsanspruch der SED mit Verfassungsrang festgeschrieben; keine Chance zum Machtwechsel602 4.2.2 Wahlen nach demokratischem und nach "volksdemokratischem" Verständnis ................................... 603 4.2.3 Trotz offenen Wortlauts Grundrechte nur in den engen Grenzen kommunistischer Ideologie ............ 605 4.2.4 Meinungs-, Versammlungs- und Redefreiheit in der DDR als Verfassungstheorie und in der Verfassungswirklichkeit ............................................................................................................................... 605 4.2.5 Verfassungsrechtliches System als Unterdrückungsinstrument gegen Oppositionelle ........................ 607 5 Volksdemokratien mangelt es an Rechtsstaatlichkeit als Fundament einer echten Demokratie ........................ 609 6 „Amnesty international“ zur Lage der Menschenrechte in der DDR ................................................................. 610 7 Staatlicher Terror bis zur physischen Vernichtung............................................................................................ 610 8 Staatliches Kidnapping durch "Zwangsadoptionen" ......................................................................................... 612 9 Faktisch bestehende Abhängigkeit der Richter trotz anders lautender Verfassungsbestimmungen ................... 613 10 Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie ...................................... 615 IV. TEIL................................................................................................................................................................... 622 DAS RECHTSSYSTEM DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND .......................................................... 622 1 Privatrecht und öffentliches Recht .................................................................................................................... 622 2 Erste Einblicke in das Privatrecht ..................................................................................................................... 627 2.1 »Leihmutterschaft« und Zivilrecht.............................................................................................................. 636 2.2 »Offene« Rechtsbegriffe als Einfallstore für die Wertordnung des GG ..................................................... 640 3 Öffentliches Recht ............................................................................................................................................. 647 3.1 Verzahnung von zivilem und öffentlichem Recht in ein und demselben Lebenssachverhalt ..................... 652 3.2 Der Rechtsweg ist nicht immer eindeutig ................................................................................................... 653 3.3 Rangordnung unter den Rechtsnormen im öffentlichen Recht ................................................................... 653 4 Das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Wächter des GG durch Urteil mit Gesetzesverwerfungskompetenz und durch mahnende Existenz .............................................................................................................................. 657 5 Überprüfung von Urteilen durch das BVerfG hinsichtlich möglicher Grundrechtsverletzungen ...................... 660 5.1 Staatliche Macht beschränkende Funktion der Grundrechte ...................................................................... 660 5.2 »Bluttransfusionsfall« und die in Art. 4 I GG geregelte Glaubensfreiheit .................................................. 666

7

5.3 Glücksspiel Rechtsprechung ...................................................................................................................... 671 5.4 Grundrechtsabwägung bei Zielkonflikt zwischen gleichzeitig betroffenen, widerstreitenden gleichen oder unterschiedlichen Grundrechten (Grundrechtskollision) .................................................................................. 672 5.5 Justizielle Grundrechte der Art. 101 bis 104 GG ....................................................................................... 683 5.6 Die Rechtsprechung des BVerfGs zur Kriegsdienstverweigerung aus individuellen Gewissensgründen (Art. 4 III GG) und zur Wehr- und Dienstpflicht (Art. 12 a GG) als Beispielsfälle für notwendige Abwägungen bei widerstreitenden grundgesetzlichen Regelungen .............................................................................................. 686 6 Mahnende Existenz und Rechtsprechung des BVerfGs; Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Politik an einem Beispielsfall ............................................................................................................................................... 713 7 In bewusster Abkehr von den Bestimmungen der Weimarer Verfassung getroffene staatsorganisatorische Bestimmungen im Grundgesetz ............................................................................................................................ 717 7.1 "Grundgesetz" contra "Verfassung" ........................................................................................................... 718 7.2 Grundrechte vorrangig vor Gesetzen als jederzeit gerichtlich einklagbare Rechte .................................... 718 7.3 Grundrechte als Abwehrrechte ................................................................................................................... 720 7.4 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- in Teilhaberechte .................................................. 721 7.5 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- über Teilhabe- in Leistungsrechte......................... 721 7.6 Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz der Grundrechte; Verwirkung von Grundrechten ........................ 722 7.7 »Parteienprivileg« mit »Parteienirrtumsprivileg«; Parteienverbotsmonopol beim BVerfG; Widerstandsrecht ......................................................................................................................................................................... 724 7.8 »Ewigkeitsgarantie« für ein »verfassungsfestes Minimum« ....................................................................... 732 7.9 Wahlsystem der Bundesrepublik ................................................................................................................ 732 7.10 Konstruktives Misstrauensvotum ............................................................................................................. 735 7.11 Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung.................................................................. 736 7.12 »Notstandsverfassung« statt Notverordnungen......................................................................................... 737 7.13 Föderaler Bundesstaat statt eines zentralistischen Einheitsstaates............................................................ 737 7.14 Abschaffung der Todesstrafe .................................................................................................................... 741 7.15 Äußerst eingeschränktes Selbstauflösungsrecht des Bundestages ............................................................ 742 7.16 Gerichtswesen .......................................................................................................................................... 743 7.17 Volksbegehren, Volksentscheid ............................................................................................................... 751 8 Reform-Ideen zur Umgestaltung unserer durch Verschmelzung in der EU und Globalisierungsherausforderungen neuen Erfordernissen anzupassenden Verfassung ................................................................................................ 757 V. TEIL .................................................................................................................................................................... 758 DAS GESETZ ZUM SCHUTZ DER JUGEND IN DER ÖFFENTLICHKEIT (JÖSCHG) ALS BEISPIEL FÜR DIE SCHWIERIGKEITEN KONKRETER GESETZESABFASSUNG, -ANWENDUNG UND MÖGLICHER VERBESSERUNG .............................................................................................................................................. 758 Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (Artikel 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit) ........................................................................................................................................................ 766 Stand: Änderung durch Art. 16 Abs. 2 G v. 28.10.1994 I 3186 ................................................................................... 766 Jugendschutzgesetz (JuSchG) vom 23.Juli 2002 ...................................................................................................... 771 VI. TEIL................................................................................................................................................................... 784 TABELLARISCHER ÜBERBLICK ÜBER DIE WICHTIGSTEN RECHTLICHEN ENTWICKLUNGSSTUFEN (RECHT UND LEBENSALTER)........................................................................................................................ 784 Index ............................................................................................................................................................................ 789

8

A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS a.F. AG ArbG Art. Az. BAG BGB BGH BGHSt BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BWG DLF EheG ESchG EuGH FR GG GVG HH A i.V.m. JGG JÖSchG KDV LAG LG n.F. NJW OGHSt OLG OVG OWiG RGSt Rn. StGB StGB-DDR StPO StVG StVO SZ TierSchG TPG VA Verf-DDR VG VwVfG VO WV Ziff. ZPO

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

alter Fassung Amtsgericht Arbeitsgericht Artikel Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungssammlung des BGH in Strafsachen Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des BVerfGs Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht (auch BVG) Bundeswahlgesetz Deutschlandfunk Ehegesetz Embryonenschutzgesetz Europäischer Gerichtshof Frankfurter Rundschau Grundgesetz Gerichtsverfassungsgesetz Hamburger Abendblatt in Verbindung mit (Paragraph ...) Jugendgerichtsgesetz Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit Kriegsdienstverweigerer Landesarbeitsgericht Landgericht neuer Fassung Neue Juristische Wochenschrift (verbreitetste juristische Fachzeitschrift) Entscheidungssammlung des Obersten Gerichtshofes in Strafsachen für die brit. Zone Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Randnummer Strafgesetzbuch Strafgesetzbuch der DDR Strafprozessordnung Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung Süddeutsche Zeitung Tierschutzgesetz Transplantationsgesetz Verwaltungsakt Verfassung der DDR von 1974 Verwaltungsgericht Verwaltungsverfahrensgesetz Verordnung Weimarer Verfassung Ziffer Zivilprozessordnung

9

E INFÜHRUNG Viele Normalbürger und auch Juristen klagen über die Verrechtlichung des Lebens in einer immer komplizierter werdenden industriellen Massengesellschaft, in der u.a. der Bereich des Rechts - zwangsläufig - immer weiter ausufert: Es müssen immer mehr Problemfelder anders oder neu geregelt werden. Und die Juristen verteidigen ihr Revier wie alte Silberrückengorillas, die denken, einem ihrer Weibchen gehe es ans oder - schlimmer noch ins Fell. Unternehmer klagen über die Flut immer neuer Reglementierungen, die sie davon abhielten, das zu tun, was sie als ihren Lebenszweck ansehen: etwas zu unternehmen. Es ist nicht unbedingt die einzelne Verordnung, von der sie sich gegängelt fühlen, obwohl das – wie z.B. im Fall der Pfandregelung auf Einweggetränkebehälter – auch der Fall sein kann. Aber die Flut der Verordnungen - und in deren Gefolge der Formulare - ist es, was bewirkt, dass sie sich wie Gulliver in Liliput fühlen. Sie fühlen sich von den Fangarmen der »Hydra bürocratica« so umschlungen und gefesselt wie Gulliver, als die Zwerge ihn, den »Riesen«, mit vielen kleinen Tauen gebunden hatten. Aber wenn wieder einmal ein Umwelt- oder die Menschen und ihre Lebensgrundlagen sonst wie näher berührender Skandal aufgedeckt wird, dann wird in diesem Zusammenhang nicht nur über so behauptet zu laxe staatliche Kontrollen zur Durchsetzung von den Schutz der Bürger bezweckenden Eingriffsgesetzen, sondern öfters auch darüber geklagt, dass die staatliche Lebensvorsorge in Form von die Bürger und ihre Lebensgrundlagen schützenden Gesetzen offensichtlich nicht weit genug gehe. Auch aus einem legitimen Sicherheitsbedürfnis heraus entsteht Nachfrage nach Bürokratie. Und damit die gesetzestreu arbeiten kann, müssen die dazu erforderlichen Gesetze und Verordnungen erlassen werden. Um notwendige staatliche Kontrollen vornehmen zu können, müssen zu einem großen Teil Lebensvorgänge erst einmal erfasst und dokumentiert werden, um sie dann gegebenenfalls analysieren zu können, damit möglichen Gefährdungen vorbeugende Gesetze und Verordnungen erlassen werden können: Gefahrenabwehr als ein vorrangiges Ziel juristischer Regelungen als Eingriffsgrundlage für die Exekutive. Man muss wissen, was auf welcher sachlichen Grundlage juristisch möglichst sinnvoll zu regeln ansteht, denn sonst wird die Gesetzgebung zu einem Ritt auf einer Rasierklinge. Und so benötigt man von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare! Aber da wird bestimmt auch des Guten zu viel getan; das zeigen in manchen Bundesländern sehr erfolgreich durchgeführte »Gesetzesentrümpelungsaktionen«, als deren Auswirkungen ein Drittel und mehr der Landesgesetze und der auf ihnen gründenden Verordnungen ersatzlos gestrichen worden sind. Trotzdem gilt, trotz sich immer wieder einstellender Resignation relativ unverdrossen weiterzumachen. Wir können aus dem Regelungsgeflecht, das unser Leben gegen große Risiken absichernd mitgestaltet, nicht millionenfach ausbrechen. Aber Vorschriften sollten auf ihre Notwendigkeit hin durchforstet werden. So hat der saarländische Ministerpräsident Müller seit seinem Regierungsantritt zwei Drittel aller saarländischen Vorschriften abgeschafft! Müllers im Wortsinne fragwürdiges und nicht ganz unproblematisches Prinzip ist die Umkehr des „Verbots mit Erlaubnisvorbehalt“ in eine „Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt“. Das kann aber nicht in allen Bereichen funktionieren. Beim nächsten Umweltskandal wird der Schädiger vorbringen, dass sein Verhalten ja nicht verboten gewesen war! Und wenn die Leute sich nicht mit Formularen herumschlagen müssen, dann entdecken sie vielleicht andere »Probleme«: 1999 klagten zwanzig ostdeutsche bildende Künstler, weil ihre Bilder in der Weimarer Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne« auf grauem Wandhintergrund aus Platzgründen dicht an dicht und übereinander mit Hunderten anderer DDR-Werke gezeigt wurden. Durch die ihrer Meinung nach „herabsetzende Art der Hängung“ der Bilder fühlten sie sich in ihrem „Urheberpersönlichkeitsrecht“ zutiefst verletzt und „diffamiert“. In der ersten Instanz vor dem Landgericht Erfurt obsiegte eine Künstlerin in dem ersten dieserhalb entschiedenen Verfahren wegen des auch nach Meinung des erstinstanzlichen Gerichts angeblich nicht mehr hinzunehmenden Eingriffs durch die Ausstellungsleitung in ihr Urheberpersönlichkeitsrecht. Daraufhin legte die Kunstsammlung Weimar Berufung bei dem Oberlandesgericht Jena ein, weil sie in dem Urteil nun ihrerseits einen unerlaubten Eingriff in ihre Meinungsfreiheit und wohl auch ihr eigenes Urheberpersönlichkeitsrecht von Ausstellungsmachern sah. Somit stand Künstler-Persönlichkeitsrecht gegen Aussteller-Persönlichkeitsrecht. Hätte die erstinstanzliche Entscheidung Bestand gehabt, hätte sie katastrophale Auswirkungen für Galerien und Museen nach sich gezogen, weil jeder (exaltierte, egomanisch-spinnerte) Künstler mit Hinweis auf sein von ihm so gesehenes »Urheberpersönlichkeitsrecht« wohl so ziemlich jede Ausstellung nachträglich entwerten oder vielleicht sogar kippen könnte. Was machen manche Menschen nicht alles, um ins Gerede zu kommen! Das streichelt das nach Anerkennung lechzende, oft überspannte Ego und kann in der überdrehten Schicki-MickiKunstszene den Marktwert der eigenen Produktion immens erhöhen! Das ist einem Künstler dann schon einmal eine gerichtliche Auseinandersetzung wert. So klagte z.B. (der damals aber schon bekannte) Beuys, weil eine

10

Reinmachefrau, mit nur »natürlichem« und zu wenig beuysschem Kunstverständnis geschlagen, dafür aber mit ausgeprägtem natürlichem Reinigungsbedürfnis gesegnet, in einem Museum das von ihm auf einem Badewannenrand platzierte halbe Pfund Butter weggeworfen hatte, nachdem es ranzig geworden war. Streitwert: ein sechsstelliger Betrag wegen der Zerstörung seines ausgestellten »Kunstwerkes« »Badewanne mit Butter(?)« – anstatt, wenn es denn sein musste, durch die Museumsleitung einfach ein neues Paket hinlegen zu lassen. Das sei nicht mehr sein »Kunstwerk«. Darüber hatte dann das von Beuys angerufene Gericht zu entscheiden – und schmetterte den von ihm erhobenen spinnerten Schadensersatzanspruch ab. Wir sind ja schließlich nicht in den USA mit seinen teilweise mit dem gesunden Menschenverstand nicht nachvollziehbaren Gerichtsentscheidungen – ohne dass ich damit allen in Deutschland gefällten Gerichtsentscheidungen Nachvollziehbarkeit attestieren möchte: davon bin ich sehr weit entfernt; aber es scheint in Deutschland mit mehr gesundem Menschenverstand geurteilt zu werden, als in den USA. In Deutschland werden nicht so viele hanebüchene »Ausreißer« insbesondere in Schmerzensgeldprozessen produziert, die dann die Presse beschäftigen: Ein eiliger Autofahrer hatte sich bei einem Drive-in-Imbiss einen Becher mit heißem Kaffee gekauft, sich zwischen die Beine geklemmt und war dann losgefahren. Als er bremsen musste, schwappte heißer Kaffe auf eine seiner empfindlichsten Körperregionen, wofür er über eine Million Dollar Schmerzensgeld erhalten hat! Auswirkung der in diesem Punkt nicht mehr nachvollziehbaren us-amerikanischen Rechtsprechung sind die ausufernden blödsinnig anmutenden Warnhinweise auf Produkten, mit denen die Hersteller ihr unwägbar gewordenes Haftungsrisiko zu minimieren trachten. Letztlich wird in solchen Prozessen wie dem der in dem Museeum »falsch« aufgehägten Bilder, in denen sich von jeder Prozesspartei als verletzt behauptete gleichlautende Persönlichkeitsrechte sich gegenseitig ausschließend gegenüberstehen, eventuell das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen, was »für Recht erkannt« werden soll, weil sich jede Seite auf ihr vom Grundgesetz garantiertes gleichlautendes Grundrecht berufen wird, wie sie es nun einmal von persönlichem Interesse geleitet - anders als die Gegenpartei - versteht. Der Normalbürger steht dem Bereich des Rechts völlig überfordert gegenüber. Und der Bereich des Rechts überfordert nicht nur Herrn Otto Normalverbraucher oder seine Freundin Frau Lieschen Müller, sondern auch die Juristen – einschließlich der Richter, obwohl »das Gericht das Gesetz zu kennen hat«. Auch den Juristen geht es wie z.B. den Ingenieuren oder den Medizinern: Jeder versucht, über (s)einen Teilbereich möglichst weitgehend informiert zu bleiben, aber einen Überblick über den gesamten Bereich kann keiner mehr erreichen. „Durch unser Wissen unterscheiden wir uns nur wenig, in unserer grenzenlosen Unwissenheit aber sind wir alle gleich.“ (Karl Popper) Das ist bei rund 2197 bundesdeutschen Gesetzen, 3131 Verordnungen mit mehr als 86.500 in Paragraphen oder Artikel gefassten Einzelbestimmungen, die unser Zusammenleben regeln und oft auch noch geändert werden, gar nicht mehr möglich!1 Der Deutsche Bundestag erließ in der 12. Wahlperiode 507 Gesetzesbeschlüsse (Änderungen bestehender oder Schaffung neuer Gesetze), in der 13. Wahlperiode 565 und in der 14. Wahlperiode 558! Hinzu kommen die vielen Verordnungen aus »Berlin« und die von der EU vorgegebenen, die in Berlin dann in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Und selbst im »eigenen« Bereich, den zu überblicken man sich müht, sind Fehlbeurteilungen nicht nur möglich, sondern auch gang und gäbe - auch von Gerichten! Der Rechtsstreit um die Einführung der zum 01.08.98 endgültig in Kraft getretenen Rechtschreibreform mit seinen divergierenden Entscheidungen lieferte ein bundesweit beachtetes Beispiel. Wie jeder andere Staatsbürger erfahren auch Juristen im Bereich des Rechts die Unvollkommenheit menschlichen Bemühens! Das gilt sogar für unser oberstes Gericht: Ende 1997 entschied der Erste Senat des BVerfGs, dass Mediziner schadenersatzpflichtig seien, wenn auf Grund eines Behandlungsfehlers bei einer Sterilisation eine ungewollte Schwangerschaft entstehe oder auf Grund einer falschen genetischen Beratung ein missgebildetes Kind zur Welt komme. Zusätzlich zu den von den Ärzten oder ihren Versicherungen zu tragenden Unterhaltskosten wurde den Eltern ein eigener Schmerzensgeldanspruch zugestanden. Das empörte den Zweiten Senat, der 1993 bei der von ihm vorgenommenen Überprüfung der damals mittels eines Normenkontrollverfahrens angegriffenen Abtreibungsregelung außer den »ratio decidendi« (den eine Entscheidung tragenden Gründen, ohne die eine Entscheidung nicht hinreichend schlüssig begründet wäre) in 1

Die Zahlen gehen - wohl je nach juristischer Vorbildung des jeweiligen Journalisten oder seines Informanten oder dessen Quellenlage - fast beliebig auseinander, teilweise wird von „rund 100.000 deutschen Gesetze und Verordnungen“ gesprochen. Vielleicht hat das Statistische Bundesamt einen mengenmäßigen Überblick.

11

einem »obiter dictum« ganz nebenbei in einem eigentlich gar nicht zur Sache gehörenden Statement außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches hatte verlauten lassen, dass ein Kind niemals als ein »Schaden«, sondern immer als ein Gottesgeschenk anzusehen sei. Der Erste Senat hatte dieses damalige »obiter dictum« des Zweiten Senats wohl als einen Eingriff in seinen eigenen Kompetenzbereich empfunden und ihn nun 1997 bei nächstpassender Gelegenheit - in einem bisher einmaligen Vorgang(!) - zurückgewiesen. Solch eine juristische Ohrfeige schmerzt; insbesondere dann, wenn man selber Verfassungsrichter ist und in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich bei (teils behauptetem) Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen die gesamte Gesetzgebung unseres Landes, alle Urteile aller anderen Gerichte und jegliches Verwaltungshandeln »mit (mehr als) einem Federstrich« kippen kann. Da hatte der aufjaulende Senat das Bewusstsein für seine eigenen, ihm vom Gesetzgeber gesetzten (Zuständigkeits-)Grenzen verloren, denn sonst hätte er sich nicht über den Spruch der Kollegen öffentlich, aber machtlos empört – und so seine ungedeckte Flanke geöffnet. Manche als solche empfundene Kränkung muss man im Leben ohne lautes Klagen hinnehmen können. Das gehört zu den psychischen Wachstumsschmerzen. Auf Grund ihres Fachstudiums können sich Juristen aber natürlich besser in rechtliche Sachverhalte hineinarbeiten und dort mitdenken, aber adäquat lösen können sie sie auch längst nicht immer! Als Beispiel sei erinnernd auf die Berliner Justizposse verwiesen, der zufolge der Prozess gegen Honecker - eine der wenigen von Gerichten zugelassenen, von der PDS als „Siegerjustiz“ diffamierten Anklagen als Ergebnis ungefähr 13.000 eingeleiteter Ermittlungsverfahren - mit Rücksicht auf seine bei weiterer Inhaftierung durch "Leberkrebs im letzten Stadium" gesundheitlich gefährdete Menschenwürde - die er den seiner Parteidiktatur Unterworfenen stets verweigert hatte - vorzeitig beendet, Honecker aus der Haft ent- und mit einem Pass nach Chile gelassen wurde, und ihm hinterher ein Bote des Gerichts mit einer neuerlichen Ladung zu einem erneuten Verhandlungstermin in Berlin nach Chile nachgeschickt wurde. Er solle doch bitte erneut noch ein paar weitere Verhandlungstage auf der ihm nun schon vertrauten Anklagebank Platz nehmen, um das Verfahren mit einem Urteil statt des erlassenen Beschlusses beenden zu können. Und es wurde die rechtliche Belehrung oder Drohung ausgesprochen, dass notfalls auch ohne ihn verhandelt würde! Bei seiner von zwei deutschen Gutachtern angenommenen angeblich geringen Belastbarkeit und Lebenserwartung von nur noch wenigen Monaten, die dann aber von chilenischen Ärzten gleich nach seiner Ankunft anders beurteilt wurde ("Der Gesundheitszustand ist ernst, aber nicht lebensbedrohlich, der Leberkrebs ist nicht im letzten Stadium."; Honecker lebte noch 16 Monate), wird er sich das letzte Jahr seines Lebens vielleicht über das Ansinnen der Berliner Richter totgelacht haben! Übrigens: Chile scheint für Diktatoren ein hervorragendes Heilklima zu haben, denn der in Großbritannien nur noch im Rollstuhl bewegte, nach Befund britischer Ärzte völlig gebrechliche, demente und deswegen aus humanitär-rechtlichen Gründen wegen seiner zu großen Gebrechen aus britischer »Auslieferungsverwahrung« entlassene Ex-Diktator Pinochet konnte gleich nach seiner Heimkehr nach Chile sofort wieder auf seinen eigenen Füßen gehen und die Front der angetretenen Ehrenkompanie abschreiten! Aber wie sollten Richter ohne - ausreichende - eigene Sachkenntnis über medizinische Detailfragen urteilen können? Das kann ihnen niemand vorwerfen, denn da sind sie auf das Untersuchungsergebnis hoffentlich sachverständiger Gutachter angewiesen. Doch zurück zu den sowieso bestehenden, gerade angesprochenen Schwierigkeiten der Juristen mit der Juristerei: Noch schlimmer kann es werden, wenn Richter ihren Paragraphen-Dschungel verlassen und außerhalb der reinen Paragraphenanwendung Angeklagte beurteilen. Ein schon mehr als unappetitliches, abschreckend verdeutlichendes Beispiel: Die »Fast-Seligsprechung« eines früheren NPD-Vorsitzenden durch Richter einer Mannheimer Strafkammer in der Urteilsbegründung zu einem wegen der »Auschwitz-Lüge« angestrengten Verfahren. Bei dieser grundsätzlichen Schwierigkeit der Materie des Rechts nützt es darum auch längst nicht immer etwas, mit einem Rechtsanwalt, Richter, Staatsanwalt, Verwaltungs- oder in der Privatwirtschaft tätigen Juristen verheiratet zu sein, aber in manchen Situationen hilft es, einen Juristen oder eine Juristin geheiratet zu haben. Doch wegen des Numerus-clausus auch in diesem Studienfach lässt sich die Lebensplanung nicht verlässlich darauf einstellen. Was bleibt, ist daher, sich selber ein bisschen um ein Anfangsverständnis gegenüber dem Bereich des Rechts zu mühen. Dabei zu helfen - und sicher auch manchmal subjektiv gefärbte Führung zu geben -, ist das Anliegen dieses Buches. Vielleicht machen Sie dann ja auch eine Entdeckung, die der Jurist Goethe an sich selber festgestellt hat: „Es ist mit der Jurisprudenz wie mit dem Bier: das erste Mal schaudert man, doch hat man’s einmal getrunken, kann man’s nicht mehr lassen.“ Mir geht es mit dem Strafrecht so, obwohl ich schon lange wieder in meinen ursprünglichen Beruf als Lehrer zurückgekehrt bin. Wer nicht auf Grund seiner Ausbildung einen gewissen erleichternden Zugang zu dem Bereich des Rechts gefunden hat, der steht dieser Materie zunächst völlig hilflos gegenüber. Seine eigene Hilflosigkeit erfährt man

12

als Nicht-Jurist sehr schmerzhaft, wenn es einmal »darauf ankommt«, und man nicht weiß, wie man sich in einer konkreten Situation am geschicktesten verhalten sollte, ohne später Rechtsnachteile zu erleiden. Noch schmerzhafter ist es, wenn es schon darauf angekommen war, und der Richter einem hinterher erklärt, wie man sich - seiner Meinung nach - anders hätte verhalten müssen, um sein angestrebtes Ziel ohne den nun eingetretenen rechtlichen Nachteil zu erreichen. In der nächsten Instanz erzählen einem deren Richter dann vielleicht etwas ganz anderes! „Auf See und vor Gericht ist man nur noch in Gottes Hand!“ Das habe auch ich als Rechtsanwalt in eigener Sache in einem für mich existenziellen Rechtsfall am eigenen Leibe schmerzlichst erfahren. Ich weiß deshalb ganz genau, wovon ich rede! Wenn Sie kein Geld mehr haben, einen langjährigen Rechtsstreit finanziell durchzustehen, dann rettet Sie auch nicht Ihre (vielleicht nur eingebildete) überlegene Rechtskenntnis vor den Folgen, die Ihnen die Richter der Unterinstanz zumuten. Darum kann eine Rechtsschutzversicherung (= Rechtsverfolgungskostenversicherung) so hilfreich sein wie eine private Haftpflichtversicherung, auf deren Abschluss auch keiner verzichten sollte. Um dem juristisch unverbildeten Laien einen Blick über die Mauern der Paragraphen hinweg in den Irrgarten des Rechts - in dem man sich nicht nur verirren, sondern manchmal sogar an seinem gesunden Menschenverstand irre werden kann - zu ermöglichen, soll ihm mit diesem Buch eine Leiter gereicht werden. Dabei wird nur ein kurzer Blick in den Irrgarten des Rechts angestrebt. Es wäre ein völliges Missverständnis, wenn der Leser hoffte, nach der Lektüre dieses Buches ohne weiteren sachkundigen Rat gegen die Fallstricke des Rechts hinreichend gewappnet und in der Lage zu sein, das Skalpell »Recht« in den ihn bedrängenden Fällen hinreichend sicher benutzen zu können! Erreicht werden soll aber auf jeden Fall - durch einen interdisziplinären Ansatz mit Rückgriff auf Geschichte, Politik und Recht - die Vermittlung eines Gespürs dafür, dass »Recht und Gesetz« nicht - wie man früher oft glaubte oder die Leute Glauben machte - gottgegeben vom Himmel gefallen sind; dass sie grundsätzlich zwar befolgt werden müssen, so lange sie gültig sind, dass sie aber in einer Demokratie trotzdem nicht gottergeben hingenommen werden müssen, sondern bei nicht sachgerechter Regelung eines Lebenssachverhaltes durch zu organisierende Mehrheitsentscheidung des jeweiligen Gesetzgebungsorgans auch geändert werden können. Es soll ein Gefühl dafür geweckt werden zu erahnen, was »Recht und Gesetz« für ein Gemeinwesen bedeuten und zu leisten vermögen. Damit soll auch der sich möglicherweise einstellenden Ehrfurcht vor dem den Einzelnen und seine Gelüste bezwingenden »Recht« und dessen Durchsetzung bezweckenden (gerade geltenden!) Gesetzen vorgebeugt werden: Was in einer Gesellschaft unter »Recht« und mehr noch unter einem von seiner (angeblichen) Intention her Rechtsfrieden stiftenden »Gesetz« verstanden wird, ist oft interessengebunden. »Recht« und »Gesetz« sind beileibe nichts »Heiliges«! Zum Beweis nur zwei Aussprüche: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt“ (Lenin) und „Das Recht und der Wille des Führers sind eins“ (Göring). Und selbst die als höchstes anzustrebendes gesellschaftliches Ziel vielbeschworene »Gerechtigkeit« ist auch von unterschiedlichen Vorverständnissen abhängig und keine allerorts geltende verlässliche Elle! Wie schon früher vor der Einführung des Meters allein in Deutschland die Elle als Maßsystem unterschiedlichste Ausprägungsformen kannte, so ist auch heutzutage die Elle der Gerechtigkeit, an der alles gemessen werden soll, und erst recht die des Rechts, in der Welt sehr unterschiedlich definiert. Als endlich 2004 im Rahmen der Agenda 2010 zur Rettung unserer angeknacksten sozialen Sicherungssysteme die ersten behutsamen Einschnitte in den nur noch verbliebenen »Rest-Kuchen« vorgenommen wurden, begehrten die Betroffenen auf: es sei ihrer Meinung nach bei der Neuverteilung der zu tragenden Lasten nicht sozial »gerecht« zugegangen. Abgenötigter sozialer Verzicht wird - menschlich durchaus verständlich - meistens als »ungerecht« empfunden. Und Forderungen nach mehr »Gerechtigkeit« dienen oft dazu, Eigeninteressen moralisch zu überhöhen. Wenn Gerechtigkeitstheoretiker in akademischen Gedankenspielen fordern, der auszuhandelnde Gesellschaftsvertrag sollte von Leuten gemacht werden, die nicht wissen, ob sie unter diesem Vertrag als Reiche oder Arme, Starke oder Schwache leben müssen, dann ist das eine illusionistische Glasperlenspielerei, denn jeder ist in unsere Gesellschaft irgendwie eingebunden, und wenn er an verantwortlicher Stelle ein Gesetz schafft, dann hat er zu wissen, was die Folgen seines Tuns sein werden, dann weiß er genau, wo er seinen Platz in dem Koordinatensystem hat, ob er »stark« oder »schwach« ist. Im Zusammenhang der Hartz-IV-Auseinandersetzung druckte der STERN (01.04.04) Antworten auf die Umfrage, was sozial »gerecht« sei. Die Antworten von Parteiführern, Kirchen und Verbänden waren vielfältig: Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering definierte »soziale Gerechtigkeit« mit den Worten:

13 „Zur sozialen Gerechtigkeit gehört Chancengleichheit. Vor allem gleiche Bildungschancen für alle. Auch gleiche Berufschancen für Frauen und Männer. Verteilungsgerechtigkeit gehört dazu; sie muss Leistungswilligkeit berücksichtigen, aber auch Leistungsfähigkeit. Die Stärkeren müssen mehr leisten als die Schwächeren. Und gerecht ist Politik nur, wenn sie auch für morgen gut ist, die Verantwortung für die kommende Zeit ernst nimmt. Ohne Freiheit und Solidarität ist Gerechtigkeit unvollkommen. Deshalb bestimmen diese drei Grundwerte unsere Politik.“ Der Parteichef der Grünen, Reinhard Bütikofer, sekundierte: „Gerechtigkeit meint Parteinahme für die Schwächsten. Sie will mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Es geht darum, den Menschen zu ermöglichen, ihr eigenes Leben zu leben. Gerechtigkeit zielt auf Teilhabe für alle an Arbeit und Bildung. Generationengerechtigkeit soll das Verhältnis von Alt und Jung bestimmen. Gerechtigkeit fordert, die ökologischen Probleme zu lösen, um Lebensbedingungen und Lebensqualität zu sichern. Gerechtigkeit verlangt, die Globalisierung fairer zu gestalten und die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann durchzusetzen.“ Als Vorsitzende der größten Oppositionspartei gab die CDU-Vorsitzende Angelika Merkel ihre Sicht sozialer Gerechtigkeit zu Protokoll: „Sozial gerecht ist, was Menschen befähigt, für sich selbst sorgen zu können, und dort zum Ausgleich verpflichtet, wo diese Fähigkeit unzureichend ist. Viele Menschen haben heute das Gefühl, dass diese Grundsätze aus den Fugen geraten sind. Es fehlt an verlässlicher Politik, die dem Einzelnen deutlich macht, dass seine Leistung und die Gegenleistung des Staates in einem gesunden Verhältnis stehen. Wir brauchen einen klaren Vertrag: Wohlstand und Sicherheit für Leistung und Veränderungsbereitschaft.“ Der sich mit ihr in der Opposition befindende Parteivorsitzende der FDP definierte aus seiner Sicht als Wirtschaftsliberaler soziale Gerechtigkeit mit den Worten: „Sozial gerecht ist, wenn sich Politik vor dem Verteilen um das Erwirtschaften kümmert. Eine Neidkultur, die Fleiß und Anstrengung bestraft, ist sozial ungerecht, denn sie treibt eine Gesellschaft in die kollektive Pleite. Sozial gerecht ist eine Anerkennungskultur, die Leistung befördert und belohnt, damit den Schwächeren geholfen werden kann. Sozial gerecht ist Hilfe für die sozial Bedürftigen, nicht die Findigen, denn es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit. Wir sitzen alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern, sonst kann man niemals soziale Gerechtigkeit in Deutschland finanzieren.“ Der Vorsitzende der größten Gewerkschaft der Welt, der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, erklärte sichtlich um Volkstümlichkeit bemüht: „Die 70-jährige Oma wird nicht den schweren Koffer schleppen müssen, wenn sie mit ihrer Familie in den Urlaub fährt. Das Tragen übernimmt der Enkel, während sich die Oma um die Wegzehrung für alle kümmert. Das heißt: Jeder übernimmt die Leistung, die seinen oder ihren Kräften und Fähigkeiten entspricht. Ich verstehe unter sozialer Gerechtigkeit: Alle leisten ihren Beitrag entsprechend ihren Möglichkeiten, soziale Risiken, die uns alle jederzeit treffen können, werden abgefedert. Dann funktioniert das Ganze, im Großen wie im Kleinen.“ Sein verbandspolitischer Gegenspieler, der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, steuerte den folgenden Diskussionsbeitrag bei: „Gerechtigkeit bedeutet für mich die Gleichheit aller Menschen in ihrer Würde und Freiheit sowie vor dem Gesetz. Sozial gerecht ist es, allen Menschen gleichermaßen die Teilhabe an Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu ermöglichen. Dazu gehört untrennbar, sie auch für ihr Handeln in die Pflicht zu nehmen: Eigenverantwortung und Solidarität mit den Schwachen sind die zwei Seiten derselben Medaille. Sozial gerecht ist, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und nachhaltig für Generationengerechtigkeit in der Sozialpolitik zu sorgen.“ Das Mitglied des Attac-Koordinierungskreises Sven Giegold stellte als seine - teilweise stark idealistische - Sicht

14

heraus: „Sozial gerecht ist, wenn alle Menschen gleiche soziale Rechte, gleiche Chancen und einen angemessenen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum bekommen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Nahrung, Wohnung, Gesundheit, sauberes Wasser, Bildung, eine intakte Umwelt sowie ein Einkommen, das die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Soziale Gerechtigkeit ist in Deutschland sowie zwischen den reichen und den armen Ländern massiv verletzt. Jede Politik, die soziale Ungerechtigkeit verstärkt, erfordert unseren Widerstand.“ Eine krasse Gegenposition nahm der verstorbene, gleichwohl zitierte liberale Ökonom Friedrich August Hayek ein: „Womit wir im Falle der ‚sozialen Gerechtigkeit’ zu tun haben, ist einfach ein quasi religiöser Aberglaube von der Art, dass wir ihn respektvoll in Frieden lassen sollten, solange er lediglich seine Anhänger glücklich macht, den wir aber bekämpfen müssen, wenn er zum Vorwand wird, gegen Menschen Zwang auszuüben.“ Der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky definierte ohne jede klassenkämpferische Attitüde: „Soziale Gerechtigkeit ist modern. Sie ist das Gerüst der Demokratie. Armut macht es morsch. Gleiche Bildungschancen, Gesundheitsversorgung nicht nach dem Geldbeutel, Zugang zur Kultur für jedermann, menschenwürdige Alterssicherung, existenzsichernde Arbeit ermöglichen gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Damit das geht, müssen starke Schultern mehr tragen als schwache. Soziale Wohlfahrt ist auch das einzige Mittel, um den internationalen Terrorismus weltweit dauerhaft den Boden zu entziehen.“ Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) definierte ihr Ratsvorsitzender Bischof Wolfgang Huber: „Wie gerecht eine Gesellschaft ist, kann man daran sehen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Es zeigt sich ebenso daran, wie sie für die nächsten Generationen Sorge trägt. Denn alle Menschen sind Gottes Kinder – mit gleicher Würde und mit gleichen Rechten. Weil nach uns nicht die Sintflut kommt, müssen wir zukunftsfest handeln und fair mit dem umgehen, was uns anvertraut ist. Die Weitergabe des Lebens, die Freude am Aufwachsen von Kindern, die Förderung von Familien und Geschlechtergerechtigkeit sind hohe Güter. Sie sollten nicht vergessen werden, wenn es um die Gestaltung einer gerechten Gesellschaft geht.“ Beschlossen wurden die vorstehend teilweise widergegebenen Stellungnahmen mit der Sicht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Karl Lehmann: „Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Eine Gesellschaft muss sich vielmehr immer wieder vergewissern, was hier und jetzt gerecht ist. Grundsätzlich gilt: Sozial gerecht ist ein Gemeinwesen, wenn es allen Bürgerinnen und Bürgern hilft beziehungsweise ermöglicht, durch eigenes Handeln ihr Wohl zu erreichen. Sozial gerecht handeln Menschen, wenn sie bereit sind, in das Gemeinwesen all das einzubringen, was um des Gemeinwohls willen notwendig ist, ob es gesetzlich vorgeschrieben ist oder darüber hinaus geht.“

In der zuletzt zitierten Stellungnahme kommt schon zum Ausdruck: In jeder Gesellschaft ist das System von Recht und Gesetz ein lebender Organismus, der - wie es lebenden Organismen eigen ist - ständigen Veränderungen unterworfen ist. Dieser Organismus muss laufend der Lebenswirklichkeit angepasst werden, um nicht irgendwann als drückendes Unrecht empfunden zu werden. Das gilt nicht nur für offene demokratischdynamische, sondern auch für konservativ-restaurativ ausgerichtete, dann oft ideologisch oder theokratisch geprägte Gesellschaften. Um diese kritische Sichtweise auf das gerade geltende Recht und die jeweiligen Gesetze als oft durchaus fragwürdige rechtliche Regelungen deutlich zu machen, werden in diesem Buch an manchen Stellen alte Schlachten nachgezeichnet, auch wenn die Entwicklung von Recht und Gesetz inzwischen darüber hinweggegangen ist:

15 o

o

o

Wer würde z.B. heute noch das Zusammenschlafen von Verlobten als strafwürdiges Kriminalunrecht ansehen und die Eltern, in deren Wohnung das geschieht, wegen Kuppelei bestrafen? Aber das war der Stand der Rechtsprechung in den frühen Jahren der Bundesrepublik. 1969 hatte Touropa in Rheinland-Pfalz ein Gerichtsverfahren wegen Verbreitung pornographischer Schriften zu bestehen, weil diese Firma es als erste gewagt hatte, einen - nur unter dem Verkaufstresen weitergereichten - bebilderten Katalog über FKK-Reisen bereithalten zu lassen. Wer würde heute noch durch ein Gesetz erzwingen wollen, dass eine Frau mit ihrer Heirat zwangsweise auf ihren bisherigen Namen verzichten müsste? (Anfang des 20. Jahrhunderts unterfiel sogar ihr Privatvermögen durch den Akt der Eheschließung automatisch der Zwangsverwaltung des ihr nun vorangestellten Ehemannes!) Wieso galt die bei uns bis noch vor kurzem allein zulässige und wegen (schließlich erfolgreicher) Änderungsbestrebungen lange Jahre heftig umkämpfte Ehenamensgebungsregelung in vielen Ländern Europas schon lange nicht mehr, ohne dass dort das gesellschaftliche System kollabierte, was von Reformgegnern bei uns als Folge einer diesbezüglichen gesetzlichen Regelung als Schreckgespenst an die Wand gemalt worden war? Bei uns wurde von konservativster Seite trotz des seit dem 23.05.49 mit all seinen anderen Bestimmungen geltenden Artikels 3 Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechtes ... benachteiligt oder bevorzugt werden“, noch Jahrzehnte verbissen an der alten, die heiratenden Frauen benachteiligenden und somit dem Gleichheitssatz widersprechenden Regelung festgehalten! Es wurde fast der Untergang des Abendlandes beschworen, wenn unser Ehenamensrecht geändert würde! Und dann wurde es - in mehreren klitzekleinen einzelnen Schritten – doch geändert. Der erste Schritt bestand darin, dass heiratende Frauen zwar weiterhin unverzichtbar den Namen des Ehemannes anzunehmen hatten, zusätzlich aber, dem etwas geläuterten neuen Rechtsgefühl der Männer entsprechend, ihren Geburtsnamen als Appendix daran anhängen und so einen Teil ihrer bis dahin eigenständigen und oft sogar im Vergleich zu der des Mannes erfolgreicheren Biographie retten durften. Doch warum musste der Name des Ehemannes dem der Ehefrau vorangestellt sein. Woher das Recht zu der Macho-Dominanz? Darum wurde als nächster Schritt gesetzlich die Möglichkeit eröffnet, dass eine heiratende Frau zwar immer noch den Namen des Mannes anzunehmen hätte, dem aber ihren bisherigen Namen voranstellen dürfe. Inzwischen dürfen die Eheschließenden nicht nur wählen, welchen der beiden Geburtsnamen sie als Ehenamen führen wollen, sondern sogar, ob sie einen der beiden Geburtsnamen als gemeinsamen Ehenamen wählen oder weiterhin so heißen wollen, wie sie bisher in ihrem sozialen Umfeld oder sonst wie einem größeren Kreis mehr oder weniger bekannt waren. Und der deutsche Teil des christlichen Abendlandes steht immer noch!

Nur durch das Bewusstmachen der Relativität von dem, was sich oft hinter der Floskel von »Recht und Gesetz« verbirgt, nur wenn man sich auch die Geschichtlichkeit von »Recht und Gesetz« in ihren sozialen Bezügen und das Fundament des Rechts letztlich in der Religion vergegenwärtigt, erhält man die geistige Freiheit, diesen Problemkreis (je nach Sachlage ständig) zu hinterfragen und zeit- und damit sachgerechte(re) Lösungen für Probleme des Zusammenlebens in einer Gesellschaft zu erarbeiten. Dazu sind wir als Staatsbürger alle aufgerufen. Wir müssen uns manchmal rechtzeitig empören können! Das Aufkommen des Nationalsozialismus hätte sich vielleicht verhindern lassen, wenn die Menschen sich in Massen gegen dessen durch ungerechte Gesetze verfolgte Ziele empört hätten, als noch gefahrlos Zeit dazu da war. Die von der »Heldenstadt Leipzig« ausgegangene, in den Montagsdemonstrationen zu Zehntausenden und damit für den Einzelnen gefahrloser öffentlich geäußerte Empörung brachte ja auch die rote Diktatur des Arbeiter- und Bauernstaates zum Einsturz! Ein solches Engagement verlangt aber - neben Zivilcourage - auch ein etwas fundiertes Problembewusstsein und nicht nur ein dumpfes Unmutsgefühl im Oberbauch. Darum müssen wir uns um Fragen von Recht und Gesetz kümmern - was zur Voraussetzung hat, dass wir zumindest ein Gefühl für diesen Aspekt des gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickeln. An dieser Elle müssen wir dann die uns durch die Massenmedien ins Haus gebrachten Tagesmeldungen über Regierungshandeln messen - und eventuell aktiv werden. Wenn man dem zuzustimmen vermag, dann ist dieses Buch sogar ein Stück praktische Lebenshilfe. Darum wurde dieses Buch bewusst um viele seit mehr als zwei Jahrzehnten hauptsächlich an den Schwerpunkten der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung orientiert gesammelte Zeitungsmeldungen herum aufgebaut, die in ihrem rechtlichen Zusammenhang betrachtet werden: Gleichberechtigung, Freiheit der Person in ihren verschiedensten Facetten bis hin zur bedarfsmäßig neu geschaffenen informationellen Selbstbestimmung und der Versammlungs- und Pressefreiheit als Wesenselemente eines freiheitlichen Staates. Die Demonstrationsfreiheit als Teil der Versammlungsfreiheit, die „Pressefreiheit des kleinen Mannes“, ist dabei größeren Gefahren der Einschränkung durch die Exekutive ausgesetzt als die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nur einmal ernsthaft in Frage gestellte Pressefreiheit, als der CSU-Verteidigungsminister Strauß SPIEGEL-Redakteure wegen eines regierungskritischen Artikels über die Bundeswehr – „Bedingt abwehrbereit“ – wegen

16

angeblichen Geheimnisverrats durch bei Gerichten erwirkte Haftbefehle vorübergehend einsperren ließ, wobei auch das Franco-Regime eingeschaltet wurde, um einen in Spanien urlaubenden SPIEGEL-Redakteur dort für die beantragte Auslieferung festsetzen zu lassen. Aber Demonstrationen werden ständig mit einschränkenden Auflagen versehen; schon alleine, um die Kampfhähne bei den Demonstranten und den Gegendemonstranten auseinander zu halten, damit die sich nicht gegenseitig an die Gurgel gehen können, was manche von ihnen am liebsten täten: „Kein Mord fürs freie Wort!“ Manche Demonstrationen würde die Exekutive am liebsten an die Stadtränder verbannen, um sie dort wirkungslos verpuffen lassen zu können. Aber dann fallen die Gerichte den Polizeibehörden in die Arme: das in Art. 8 Grundgesetz (GG) gewährte Recht der Versammlungsfreiheit als Möglichkeit der kollektiven Meinungskundgabe (1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. sei so konstitutiv für eine Demokratie, dass auch den Schmuddelkindern der Demokratie die Gelegenheit gegeben werden müsse, durch das Erregen von Aufsehen (und Ärgernis) auf ihr Anliegen aufmerksam machen zu können, wenn sie sich denn (relativ) friedlich und nicht offensichtlich mit Waffen versammeln. Die vorstehend zitierte Formulierung des Art. 8 GG gibt Anlass, schon gleich zu Anfang des Buches auf einen Teilaspekt der Technik juristischen Arbeitens aufmerksam zu machen. Die besteht nämlich u.a. auch im Bilden von Rückschlüssen, die zur Begründung juristischer Argumentationen gebildet werden, wenn der Wortlaut eines Gesetzes, einer Verordnung oder Satzung nicht an jeder Stelle zweifelsfrei formuliert ist. Dann kommen oft nichtjuristische »Freunde des gespaltenen Haares«, wollen etwas für sich herausschlagen und die Richter, ebenfalls oft und gerne dem gleichen Freundeskreis angehörig, versuchen, ihnen zu weit gehende Gesetzesauslegungen zu unterbinden. Das kann sich bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch viele Instanzen ziehen, weil sich Richter auch sehr gerne Argumente um die Ohren hauen: Wie konnte die Unterinstanz bloß so blöde sein! Das muss doch genau andersherum entschieden werden, meinen dann die jeweils zuständigen Berufungsrichter. In der Revisionsinstanz kann das Problem wieder anders gesehen werden, und letztlich entscheidet das BVerfG, was „für Recht erkannt“ wird. Manchmal ist eine Interpretationsschwierigkeit aber auch gleich in der ersten Instanz erledigt. Lesen Sie bitte noch einmal den vorstehenden Art. 8 I GG und Sie werden erkennen, dass das Demonstrationsrecht zunächst uneingeschränkt gewährt wird; eine Einschränkungsmöglichkeit erfolgt erst in Art. 8 II GG für „Versammlungen unter freiem Himmel“. Rückschluss: Für Versammlungen, die nicht unter freiem Himmel stattfinden, bestehen keine Einschränkungen. Als 1949 der Parlamentarische Rat das Grundgesetz konzipierte und verfasste, dachte er natürlich »offline«. Konrad Zuse hatte zwar schon 1941 die erste programmgesteuerte Rechenanlage der Welt geschaffen, aber in meinen älteren Lexika bis 1975 wird er, werden Computer überhaupt nicht erwähnt. Wie sollten da die Mütter und Väter des Grundgesetztes die sich nur für einige wenige Insider unter den Physikern in der Morgendämmerung des Computerzeitalters am Horizont schemenhaft andeuteten technischen Möglichkeiten bei der Formulierung des Grundgesetzes mitbedenken? Technische Neuerungen fordern Juristen halt erst dann heraus, wenn ihre Relevanz absehbar ist. Und dann müssen sie sich den Anforderungen stellen, jedenfalls wenn sie Richter sind und ihnen ein solches Problem auf den Tisch kommt; und notfalls auch »online« denken. Warum dieser lange Vorspruch im Zusammenhang mit dem Demonstrations- und Versammlungsrecht? Lesen Sie die Zeitungsmeldung, die mich dazu veranlasst hat, diesen Aspekt in mein für juristisch Interesierte konzipiertes Lehrbuch aufzunehmen: GERI CHTSENTSCHEI DUNG

Aufruf zur Online-Demo ist strafbar Von Martin Brust Online ist nicht mit Offline vergleichbar, entschied das Amtsgericht Frankfurt, und wertete die Blockade der Lufthansa-Website im Juni 2001 als Nötigung. Die Organisatoren wollten mit der Blockade gegen das Abschiebegeschäft protestieren und beriefen sich auf das Recht auf Versammlungsfreiheit. Das Betätigen der Computer-Maus kann eine Form von physischer Gewalt sein, ausgeübt mittels der elektrischen Impulse, die der Mausklick bewirkt und die wiederum eine Aktion eines Computerprogramms auslösen. Das entschied jedenfalls das Amtsgericht Frankfurt/Main unter Richterin Bettina Wild im Prozess gegen den Inhaber der Domain www.libertad.de.

17

Der arbeitslose Schreiner Andreas-Thomas V. war angeklagt, im Jahr 2001 als Mitglied der Initiative "Libertad!" durch Texte auf der Webseite und in gedruckter Form zur Beteiligung an einer OnlineDemo und damit zur Nötigung aufgerufen zu haben. Am Tag der Hauptversammlung des Konzerns sollte zwischen zehn und zwölf Uhr massenhaft die URL www.lufthansa.com aufgerufen werden mit dem Ziel, die Zugriffszeiten deutlich zu verlangsamen. Die Initiative "Libertad!" warf der Lufthansa vor, von der Abschiebung von Flüchtlingen zu profitieren, die mit Maschinen der Airline nach Hause geschickt werden. Im besten Fall erhofften sich die Aktivisten, dass die Webseite nicht mehr zugänglich sei - was, wie sich im Laufe des Prozesses herausstellte, für acht bis zehn Minuten auch tatsächlich der Fall war. Auf einer weiteren Webseite wurde von anderen Protestierenden eine Software bereitgestellt, die diese Aufrufe automatisierte, beschleunigte und vor allem verhinderte, dass die Seite nach dem ersten Aufruf nur noch aus dem lokalen Cache geladen wurde. Von Libertad.de wurde zu dieser Seite verlinkt. Nun wurde der Domaininhaber von libertad.de zu einer Strafe von 900 Euro verurteilt. Der Angeklagte und sein Anwalt kündigten noch im Gerichtssaal Revision an. In ihrem Urteil betonte die Richterin - wie bereits zuvor die Staatsanwältin -, dass es nicht um die Verurteilung der politischen Aktivität des Angeklagten gehe. Verurteilt werde auch nicht ein Aufruf zu einer Demonstration, sondern die öffentliche Aufforderung zu Straftaten. Denn die Blockade der Lufthansa-Webseite sei ebenso Gewalt mittels elektrischer Energie wie beispielsweise die Anwendung eines ElektroSchockers, so die Richterin. Dadurch seien User, die im fraglichen Zeitraum auf der Webseite beispielsweise Tickets hätten buchen wollen, genötigt worden. Und zwar unbeschadet von den Ausweichmöglichkeiten und ungeachtet der Tatsache, dass zwei Lufthansa-Zeugen keine konkreten Angaben zu Buchungsausfällen machen konnten. In seinem Schlusswort sagte der Angeklagte, die Fluglinie versuche einen Spagat: Die Wirkung der Online-Demo werde geleugnet und zugleich Strafanzeige eingereicht. Der Konzern behaupte einen immensen Schaden, könne dazu aber keine Zahlen über die gut 42.000 Euro für technische Abwehrmaßnahmen hinaus vorlegen. Die Airline trage auch selbst Schuld: "Die Blockier-Software sei lange nicht so effektiv gewesen wie die Lufthansa-eigenen Maßnahmen, etwa die, zwischen Servern, die die Seite lufthansa.com bereit hielten, hin und her zu switchen. Die "Demonstrierenden" hätten keinen Einfluss darauf gehabt, dass bei diesem Umschalten die in den Speichern gehaltenen Kundendaten und Buchungen nicht "mitgenommen" wurden, sagte der Angeklagte. Der Anklageschrift zufolge gab es in den fraglichen zwei Stunden rund 1,2 Millionen Zugriffe von gut 13.600 verschiedenen Rechnern, darunter waren fast 160 IP-Adressen mit einer auffällig hohen Zahl von Zugriffen. Dies dürften vermutlich Rechner gewesen sein, die sich der Protestsoftware bedienten. Aber wer kann letzten Endes unterscheiden, warum jemand am fraglichen Tag zur fraglichen Zeit die Webseite aufrief? Der Klick der Kundin besteht wie der des Demonstranten aus Einsen und Nullen - damit sieht ein Klick dem anderen nun mal zum Verwechseln ähnlich. Dass die rechtliche Beurteilung schwierig ist, darauf deutet nicht nur die lange Verfahrensdauer hin. Sondern auch, dass noch am Vorabend der Aktion das Bundesjustizministerium von Terrorismusverdacht sprach. Das förmliche Ermittlungsverfahren wurde dann aber erst nach einer Anzeige der Lufthansa aufgenommen und lautet auf "Verdacht auf Computersabotage und Eindringen in Datennetze". Übrig blieb dann nur noch die Anstiftung zur Nötigung - und zahlreiche Versuche der Staatsanwaltschaft, einen Prozess zu vermeiden. "Wir wurden mit Kompromissangeboten geradezu überhäuft. So sollte das Verfahren wegen geringer Schuld gegen eine Geldbuße von 50 Euro eingestellt werden" hatte der Anwalt des Angeklagten im Vorfeld des Prozesses in einem Interview mit dem Onlinemagazin Telepolis gesagt. SPIEGEL ONLINE 04.07.05

Zurück zum »Offline-Demonstrationsrecht«. Man war z.B. schon öfters bemüht, Aufmärsche von Rechtsextremisten zu verhindern. Aber die Gerichte erlaubten die Demonstrationen meistens doch, wenn mittels eines geringeren Eingriffs in das Versammlungsrecht als durch ein Verbot, nämlich durch die Erteilung von Auflagen, Sicherungen für einen ordnungsgemäßen Ablauf eingebaut werden konnten. So durfte die NPD sogar unter dem Motto "Deutschland ist größer als die Bundesrepublik" an der Grenze zu Polen demonstrieren. Immer wieder erlaubten Oberlandesgerichte Auftritte, hob das Bundesverfassungsgericht Versammlungsverbote auf. Begründung: Das Schutzgut der Versammlungs- und Meinungsfreiheit sei so wichtig, dass auch Extremisten ihre

18 Ansichten in friedlichen Demonstrationen mitteilen dürften. „Demokratie ist nichts für ängstliche Menschen“, sagte der niederländische EU-Kommissar Frits Bolkestein. Und es ist mehr als ungewiss, ob die Richter von dieser Grundposition der Meinungsfreiheit auch für Schmuddelkinder der Demokratie abgehen werden: „Kein Aufstand der Richter Der Präsident des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes lehnt es ab, gerichtlich NeonaziAufmärsche zu verhindern. Die Richter würden so ihre Unabhängigkeit verlieren LEIPZIG epd Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, Eckart Hien, hat Forderungen nach richterlicher Zivilcourage bei Entscheidungen über Neonazi-Aufmärsche zurückgewiesen. Ein Richter gebe seine Unabhängigkeit auf, "wenn er politischen Mut in seine Entscheidungen legt", sagte Hien bei einer Diskussionsveranstaltung in der Leipziger Thomaskirche. Wenn Neonazis sich eine Stadt für Versammlungen aussuchten, zögen viele Bürgermeister vor die Verwaltungsgerichte, "nur um den Richtern letztlich den schwarzen Peter zuschieben zu können", kritisierte Hien. Zuletzt war es vor dem NPD-Bundesparteitag im thüringischen Leinefelde und Neonazi-Aufmärschen in Leipzig zu rechtlichen Auseinandersetzungen gekommen. Verwaltungsrichter seien an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes gebunden, "an denen sie nicht ständig rütteln können", sagte Hien. Das NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht habe allerdings "in einem Fiasko geendet", kritisierte der Präsident des obersten deutschen Verwaltungsgerichtes. Gerichte könnten nur Aufmärsche von verbotene Parteien oder Gruppierungen verbieten. Der Leipziger Thomaspfarrer Christian Wolff warnte vor einer "zu positivistischen Rechtshaltung". Leipzig war im Oktober vor dem Oberverwaltungsgericht Bautzen mit dem Vorschlag gescheitert, die Route einer Neonazi-Demonstration zu verlegen. Gegendemonstranten hatten daraufhin am 3. Oktober verhindert, dass Neonazis durch ein alternatives Stadtviertel ziehen konnten.“ (taz 10.11.04) Der vorläufig letzte Versuch, den Wirkungsbereich der insbesondere in Ostdeutschland erstarkenden Neonazis mit administrativen Mitteln zu beschränken, bestand darin, ein Verbot von Demonstrationen vorzusehen, wenn "zu erwarten ist, dass in der Versammlung nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verharmlost oder verherrlicht wird." Verherrlichen, das ist ziemlich klar, aber ab wann wird die Strafbarkeitsschwelle des „Verharmlosens“ überschritten? Man kann nicht jeden Unsinn unter eine Strafdrohung stellen. Das lässt schon der fragmentarische Charakter des Strafrechts, der nur die schwerwiegendsten Verstöße gegen grundlegende Normen des Zusammenlebens unter Strafe stellen will, gar nicht zu. Es bestehen Probleme mit der Verfassungsmäßigkeit, wenn bereits die „Verharmlosung der NS-Gewaltherrschaft“ unter Strafe gestellt würde. Das wäre ein zu weit gefasster „offener Rechtsbegriff“. Ähnliche juristische Schwierigkeiten ergäben sich bei einer auf die Anhängerschaft der NPD zielenden Einschränkung des Demonstrations- und Versammlungsrechts. Darum regte die CDU im Bundestag an, das demokratiekonstitutive Recht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit an ihr wichtigen Orten zu einem im Öffentlichen Recht häufig so geregelten „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“ umzugestalten. Dieses juristische Konstrukt bedeutet, dass eine Sache grundsätzlich verboten ist und nach Antragsprüfung ausnahmsweise erlaubt werden kann. Damit würde eines der wichtigsten Rechte einer Demokratie oder eines der wichtigsten, unter Lebensgefahr in Anspruch genommenen Rechte eines Volkes, das um Demokratie kämpft und mit Demonstrationen schon Diktaturen zum Einsturz gebracht hat – siehe u.a. die Nelkenrevolution in Portugal, die Massenaufmärsche in Polen, der Ex-DDR und der Ukraine – zu einem Gnadenakt heruntergestuft. Das hatten wir in der Ex-DDR so, als Art. 28 Verf-DDR regelte, dass die Bürger sich ausschließlich „im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung“ des laut Art. 1 Verf-DDR als „sozialistisch“ definierten Staates versammeln durften – und damit Versammlungen der Willkür der SEDDiktatur anheimgegeben waren. (Dazu mehr im dritten Teil des Buches.) Ein Verbot von Neonazi-Aufmärschen sollte an herausragenden Orten der Erinnerung gelten, die "an die Opfer einer organisierten menschenunwürdigen Behandlung erinnern und als nationales Symbol für diese Behandlung anzusehen sind." Die Absicht, etwas gegen die Neonazis zu tun, darf aber nicht zu einer generellen Einschränkung des Versammlungsrechts führen und auch nicht zu einer partiellen in Berlin-Mitte. Es ist schwer, unseren jüdischen Mitbürgern als Nachfahren von (fälschlich als „Holocaust“ bezeichneten) ShoaOpfern zu erklären, dass wir selbst an Orten der Erinnerung gegen die Gräuel des Nationalsozialismus wie dem „Holocaust“-Mahnmal nur mit am Grundgesetz geeichten rechtsstaatlichen Mitteln gegen rechtsextreme Provokationen vorgehen können. [Die durch Rechtsverordnung festzulegenden Orte waren unter den Parteien strittig: In Berlin sollten unstrittig das „Holocaust“-Mahnmal und das mit oder wegen des internen Streites der

19 Zigeunergruppen ohne Inschrift geplante „Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma“ – so der Wunsch des Zentralrates der deutschen Sinti und Roma - oder allgemein „Mahnmal für die ermordeten Zigeuner“ – so die Sinti-Allianz -, die sich teilweise selbst als „Zigeuner“ bezeichnen und auf jeden Fall mehr als die Gruppe der Sinti und Roma umfassen2, dazugehören; als strittig galten das Brandenburger Tor und die Neue Wache.] Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Nickels, wandte sich gegen das Demonstrations- und Versammlungsrecht einschränkend verschärfende gesetzliche Regelungen. Ihr Argument: „Man kann eine Demokratie nicht schützen, indem man sie einschränkt.“ Der stellvertretende Chefredakteur des STERN schrieb am 03.02.05 in seinem wöchentlichen Zwischenruf aus Berlin: „Ist die NPD verfassungswidrig, muss sie nach sorgfältiger Prüfung verboten werden. Rasch. Solange das nicht geschehen ist, hat sie Anspruch auf den Schutz des Grundgesetzes und die Wahrnehmung aller Freiheitsrechte. ’Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden’: dieser Satz Rosa Luxemburgs ist nicht allein nach links gesprochen – in der Demokratie sind alle Andersdenkende. Er gilt nur dann nicht, wenn die einen die Freiheit der anderen beseitigen wollen. Die NPD aber zuzulassen und sie unterhalb eines Verbots durch Spezialgesetze als verfassungswidrig zu behandeln ist in sich verfassungswidrig und macht die Demokratie unglaubwürdig – zum Nutzen der NPD. Alle bislang präsentierten Vorschläge empfehlen solche Spezialgesetze und –regeln, die den Neonazis Argumente liefern, um die Demokratie als undemokratisch verächtlich zu machen: Ausschluss aus der Parteienfinanzierung, Einschränkung der parlamentarischen Immunität, Wortentzug im Landtag, Aufhebung der Versammlungsfreiheit auf Verdacht, Verbot von Kundgebungen an Gedenkstätten. ... All das bestätigt NPD-Wähler und lockt neue.“ Mit der dann umgesetzten Gesetzesinitiative zur Verschärfung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts sollte der von der NPD angekündigte und angemeldete Marsch durch das Brandenburger Tor am 08.05.05, dem 60. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands, verhindert werden. Sollten die Neonazis am Abend des 60. Jahrestages der bedingungslosen Kapitulation - eventuell mit einem Fackelzug - in Marschkolonne durch das Brandenburger Tor ziehen, wie sie im Jahre 2000 dort schon marschiert sind, würde das fatal an den Fackelzug der Nazis durch das Brandenburger Tor erinnern, mit dem sie die „Machtergreifung“ und dann an jedem Jahrestag den Beginn der NS-Diktatur am 30.01.1933 gefeiert hatten. Das würde auch im Ausland obwohl sich in praktisch jeder freien Gesellschaft an beiden politischen Rändern Extremisten in nicht ganz unerheblichen Prozentsätzen von in etwa 5-15 % tummeln - auf Grund der Belastung unserer Geschichte mit dem unter der Naziführung begangenen größten Menschheitsverbrechen der in eigens dafür konstruierten Hochleistungskrematorien industriell betriebenen Massenvergasung und anschließenden Verbrennung aller europäischer Juden, derer man habhaft werden konnte, wenn man es nicht vorzog, die Kräftigsten durch Schwerstarbeit unter Kalorienentzug durch Sklavenarbeit umzubringen, beklemmende Erinnerungen wecken! Deswegen versuchten demokratische Kräfte im Vorfeld der parlamentarischen Arbeit, ihrerseits eine Demonstration am Brandenburger Tor anzumelden, damit dann die Neonazis wegen der Vergabe des Platzes am Jahrestag der Kapitulation Großdeutschlands keine Demonstrationserlaubnis erhalten könnten. Die NPD scheiterte vor dem BVerfG mit ihrem Antrag, ihren Demonstrationszug gegen den "Schuldkult" und gegen die "Befreiungslüge" am 60. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands durch das Brandenburger Tor hindurch und am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas entlang durchführen zu dürfen. Es wurde ihr nur eine nicht so »geschichtsträchtige« Ersatzstrecke vom Alexanderplatz zum Bahnhof Friedrichstraße zugebilligt. Diese Ersatzstrecke war dann zusätzlich von mindestens einer vierfachen Menge von Gegendemonstranten blockiert worden. Die Umstände der blockierten Demonstration ließ Juristen aus grundgesetzlichen Erwägungen heraus die Einhaltung und Durchsetzung des Demonstrationsrechts fordern. Das Argument: Das Vorgehen der Polizei und der Gegendemonstranten sei "klar rechtswidrig" gewesen. Eine Demonstration, die genehmigt ist, müsse 2

Um den Bau des Mahnmals voranzubringen, hatten sich die Kulturpolitiker der Bundestagsfraktionen im November 2004 auf den Satz geeinigt: "Wir gedenken aller Kinder, Frauen und Männer, die von den Nationalsozialisten in ihrem menschenverachtenden Rassenwahn als Zigeuner in Deutschland und Europa verfolgt und ermordet wurden." "Der Begriff Zigeuner ist eine Beleidigung und Diffamierung für unsere Minderheit", argumentierte dagegen der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma, Rose, der das Problem wohl ähnlich sieht, wie die Inuits die Bezeichnung „Eskimo“ als abwertend empfinden. "Der Rechtsstaat muss akzeptieren, dass wir uns als Sinti und Roma verstehen." Rose betonte, das Denkmal erfülle nur dann einen Zweck, wenn man sich über die Inschrift einigen könne. Rose beharrt weiter auf einem Zitat des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog. Darin heißt es: "Der Völkermord an Roma und Sinti ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie bei den Juden." Die in Köln ansässige Sinti-Allianz sprach sich gegen das Herzog-Zitat und für den Begriff "Zigeuner" in der Inschrift aus, weil der Begriff „Zigeuner“ umfassender sei und bei einer Verwendung von „Sinti und Roma“ Teile der Opfergruppe Zigeuner unberechtigt ausgegrenzt würden. Dazu fiel Rose dann kein Gegenargument mehr ein!

20

stattfinden können. Wegen des Gewaltmonopols des Staates unterliege die Polizei der Verpflichtung, alle Hindernisse auf der vorgeschriebenen Strecke aus dem Weg zu räumen. "Ihr steht heute hier für die Nazis", beschimpfte eine Frau aus dem Kreis der autonomen Gegendemonstranten am Hackeschen Markt die Polizisten: "Haut einfach ab." Doch das Demonstrations- und Versammlungsrecht gilt nicht nur für »die Guten«. Es kann nicht in das Belieben einer mehr oder minder zufälligen Mehrheit oder gewaltbereiten Minderheit gestellt werden, ob das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wahrgenommen werden kann! Und rechtlich äußerst bedenklich ist es, wenn die Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) als ausgebildete Juristin den Festbesuchern zu einem "lockeren Spaziergang" zur Brücke neben dem Dom riet, um dort die Demo-Route der NPD zu blockieren: "Wir sind viele, wir sind viel mehr, und wir sind stark", sagte Künast. Die Polizei hätte mit Verweis auf die Rechtswidrigkeit der Demonstrationsbehinderung die Gegendemonstranten zum Verlassen der Straße auffordern müssen, bei deren Weigerung die Personalien der behindernden Gegendemonstranten aufnehmen, diese mit einer Polizeikette von der Straße drängen und notfalls sogar, wenn das alles nicht geholfen hätte, als letztes Mittel Gewalt anwenden müssen. Sie hätte nicht den rechtswidrig handelnden Gegendemonstranten von vornherein einen Freibrief ausstellen dürfen, indem sie vor Demonstrationsbeginn verlauten ließ, bei einer friedlichen Blockade würde sie nicht mit Gewalt einschreiten. Szenen wie eine Woche zuvor in Leipzig, wo linke Gegendemonstranten von der Straße gespritzt worden waren, wollte die politische Führung Berlins unter den Augen der Weltöffentlichkeit am 8. Mai vermeiden. Doch gut gemeinte Deeskalationsmaßnahmen dürfen nicht so weit gehen, dass durch sie das demokratierelevante Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt wird! Der Berliner Polizeipräsident liegt falsch mit seiner Entschuldigung, wenn er vorbringt: "Das geltende Recht läßt nicht zu, dass wir einen Aufzug durchprügeln." Wer weiß, ob es überhaupt dazu gekommen wäre, wenn die Polizei von vornherein klargestellt hätte, dass sie – wie es ihres Amtes ist! - dem Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit Geltung verschaffen werde! Das Verhalten der Berliner Polizeiführung provoziert geradezu die Frage nach dem umgekehrten Fall: "Wie würde die Diskussion aussehen, wenn 2.000 NPD-Anhänger eine genehmigte Demonstration von friedlichen Bürgern blockiert hätten und die Polizei nicht eingeschritten wäre?" Es ist ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel und zeigt, wenn man solcherart »Nadelstich-Demonstrationen« der Rechtsextremisten nicht glaubt ertragen zu können, die Notwendigkeit auf, das Problem so grundsätzlich zu regeln, dass demokratische Kräfte nicht für jeden Tag des Jahres und jede Stunde eine Demonstration am Brandenburger Tor anmelden müssen, damit die Neonazis als Bewahrer des Gedankengutes der braunen Faschisten nicht einen Fuß in das Tor stellen können; denn das Brandenburger Tor zu schließen geht ja auch nicht, nachdem man jahrzehntelang unter der Parole: „Macht das Tor auf!“ gegen die roten Faschisten der SEDDiktatur und ihren Mauerbau demonstriert hatte und in dieser Forderung direkt vor dem Brandenburger Tor von u.a. us-amerikanischen Präsidenten unterstützt worden war. Würde das Problem durch ein Demonstrationsverbot am Brandenburger Tor durch z.B. die Ausweitung des um das Reichstagsgebäude geltenden befriedeten Bezirks geregelt, würde die Funktionsfähigkeit des Parlamentes nur zu dessen Sitzungszeiten geschützt; an sitzungsfreien Tagen könnte aber gleichwohl dort demonstriert werden. Die Ausweitung des befriedeten Bezirks wäre nur eine Verlegenheitslösung, denn am vom Parlament schon etwas entfernteren Brandenburger Tor schütze man nicht die Funktionsfähigkeit des Bundestages, was ja der Sinn eines befriedeten Bezirkes ist. Au0erdem könnten demokratische Kräfte auch nicht mehr zu besonderem Anlass dort demonstrieren, und das will man natürlich nicht unterbinden, denn kein Bauwerk symbolisiert die wechselvolle insbesondere neuere deutsche Geschichte mehr als das von 1788-91 nach den Plänen von Langhans erbaute, im Zuge der napoleonischen Kriege nach der Niederwerfung Preußens 1807 von den Franzosen geraubte, nach dem Sieg über Napoleon 1814 dann wieder zurückgeholte, im Zweiten Weltkrieg durch die Rote Armee eroberte und 1958 zur Beseitigung der Kriegsschäden nach erhalten gebliebenen Gipsabgüssen wiederhergestellte Brandenburger Tor. Bleibt, wenn man es so will, rechtlich nur die inhaltliche Beschränkung der Demonstrationsfreiheit, wenn "zu erwarten ist, dass in der Versammlung nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verharmlost oder verherrlicht (werden) wird." Auf die Schwierigkeit mit dem offenen Rechtsbegriff „verharmlosen“ war schon eingegangen worden. Hinzu kommt, dass man das im Genehmigungsverfahren für die beantragte Demonstration nicht im Vornherein zweifelsfrei prognostizieren kann. Zur bestimmt nicht nur in Deutschland wahrgenommenen gesellschaftspolitischen Provokation unseres politischen, bei den Neonazis „verhassten Systems“ durch »Nadelstich-Demonstrationen« genügt es außerdem ja schon, dass NPDler unter mit NPD-Emblem versehenen nicht verbotenen schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger Tor marschieren. Denn gleich nach der „Machtergreifung“ war auf Betreiben der Nazis vom Reichspräsidenten von Hindenburg entgegen dem nicht misszuverstehenden Wortlaut des Art. 3 1 WV „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold.“

21

durch die sogenannte Flaggenverordnung (zur Einbindung der republikfeindlichen kaiserlich-konservativen Kräfte des gerade erst untergegangenen Kaiserreiches) neben die Hakenkreuzflagge (als Flagge der unter die Herrschaft der Nazis geratenen Weimarer Republik) die schwarz-weiß-rote Flagge des untergegangenen deutschen Kaiserreiches3 gesetzt worden. Bei offiziellen Anlässen der Nazis wurde nur noch die Hakenkreuzflagge gehisst oder schwarz-weiß-rot geflaggt. Auf jeden Fall wurden aber nicht mehr die schwarzrot-goldenen Reichsfarben der von den Nazis so beschimpften „Judenrepublik“ gezeigt. Da muss heutigen Tages nicht erst noch expressis verbis eine Verherrlichung verbalisiert werden, wenn NPDler mit schwarz-weiß-roten Fahnen durchs Brandenburger Tor marschieren; es genügt, allein durch schwarz-weiß-rote Fahnen die NaziHerrschaft nur indirekt verherrlichend zu visualisieren! Die Gerichte werden, wenn die geistigen Nachfolger der den Zweiten Weltkrieg entfacht habenden Nazis so tun, als wären sie keine Neonazis, wegen der demokratiekonstitutiven Bedeutung des Versammlungsrechts den Demonstrationszug aus grundsätzlichen und grundgesetzlichen Erwägungen heraus trotzdem genehmigen, ohne die mit dem NPD-Emblem versehenen schwarz-weiß-roten Fahnen zu verbieten; höchstens die ähnlich gestaltet gewesene Vorlage der NPD-Fahnen, die von den Neonazis gern verwandte „Reichs-Kriegsflagge“, wird als einschränkende Demonstrationsauflage verboten werden. Die NPD ist eine Partei, deren sich selbst als „nationalrevolutionär“ bezeichnender Vorsitzender u.a. gesagt hat: „Das Holocaust-Denkmal in Berlin eignet sich vorzüglich als Fundament für einen Neubau der Reichskanzlei!“, der im Zusammenschlagen von „Linken“ im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf 2005 nicht mehr als eine „Abwehrmaßnahme“ zu sehen vermochte. Der dortige Fraktionschef im sächsischen Landtag gab nach der für die Neonazis triumphalen Wahl 2004 Äußerungen zum Schlechtesten wie: „Uns hat gewählt, wer noch Deutscher bleiben will.“ Und über 90 % der Wahlberechtigten, die zu Hause geblieben sind oder andere Parteien gewählt haben, wollen keine Deutschen mehr sein? Wie kommen solche Leute dazu, Mitbürgern deren Willen, sich als Deutscher zu sehen und zu fühlen, abzusprechen? Er sprach im sächsischen Landtag in Dresden vom „Bomben-Holocaust“ auf diese Stadt, als die Alliierten in einer auch heute noch und selbst in Großbritannien in ihrer Notwendigkeit zumindest umstrittenen Kriegsmaßnahme4 das mit Flüchtlingen aus dem Osten völlig überbelegte Dresden am 13./14.02.45 in Schutt und Asche gelegt hatten, wobei schätzungsweise 23.000-35.000 Menschen den Tod gefunden haben. Und legte damit geschickt den Finger in eine Wunde: Da es das vorrangige Ziel der alliierten Bombenangriffe war, möglichst viele Deutsche zu töten und nicht so sehr, kriegswichtige Anlagen außer Betrieb zu setzen oder gar hunderttausende Menschenleben zu retten, indem z.B. Auschwitz und andere Vernichtungslager, über deren Funktion die Alliierten u.a. durch die Kurie genau unterrichtet gewesen waren, und die dorthin führenden Eisenbahnstrecken bombardiert worden wären – die Bomber flogen über Auschwitz hinweg, ohne es anzugreifen, was relativ gefahrlos möglich gewesen wäre, da dort keine deutsche Flugabwehr zum Schutz kriegwichtiger Anlagen stationiert gewesen war -, ist der Angriff auf Dresden wohl eher als kleines Hiroshima zur Brechung des Durchhaltewillens der Bevölkerung zu werten. Mit der sprachlichen Gleichsetzung durch die Verwendung des Wortes „Holocaust“ versuchte er eine Gleichsetzung der von den Alliierten als Mittel der Kriegsführung eingesetzten Flächenbombardierung in einem ihnen von der Nazi-Führung Deutschlands aufgezwungenen Krieg mit einem von den Nazis als vorrangiges Ziel ihrer Herrschaft angesehenen ideologischen Zweck zu erreichen – und versuchte so bewusst zu vernebeln, dass Dresden ein (unverhältnismäßig eingesetztes?) Mittel der Verteidigung gewesen war, die Shoa aber ein ideologischer Zweck! Das betont auch der britische Historiker Taylor, wenn er in einem im SPIEGEL vom 13.02.05 abgedruckten Interview u.a. sagt: „Alle Seiten bombardierten im Krieg die Städte des anderen. Eine halbe Million Sowjetbürger starben in den Bombenangriffen der Deutschen, während der Invasion und der Besetzung Russlands. Das entspricht ungefähr der Anzahl der Deutschen, die bei den Angriffen der Alliierten umkamen. Aber die Bombardierungen hingen mit militärischen Operationen zusammen und endeten, sobald diese Operationen endeten. Der Holocaust und die Ermordung all dieser Millionen von Menschen, die die Nazis so sehr hassten, dass sie sie umbringen wollten, hätten jedoch nicht geendet, wenn die Deutschen den Krieg 3

4

Hindenburg hatte nach der „Machtergreifung“ am 30.01.1933 am 12.03.1933 eine Flaggenverordnung erlassen, die bestimmte, dass entgegen Art. 3 WV, der als alleinige Farben der Reichsflagge „schwarz-rot-gold“ angeordnet hatte, die ihm vertrautere schwarz-weiß-rote des ehemaligen Kaiserreiches und – als politische Gegenleistung an die Nazis - die Hakenkreuz-Flagge der Nazis als gleichberechtigte Reichsflaggen verwendet werden dürften. Damit war Art. 3 WV auf dem Verordnungsweg praktisch abgeschafft. Näheres über die Hintergründe hierzu im II. Teil des Buches unter dem Gliederungspunkt 5.1 Das britische Unwohlsein kommt zum Ausdruck in Churchills Memorandum vom 28. März 1945 an General Ismay, den Vorsitzenden des britischen Generalstabs, in dem der Premier schrieb: "Der Moment scheint mir gekommen, wo die Frage der Bombardierung deutscher Städte einfach zum Zwecke der Erhöhung des Terrors, auch wenn wir andere Vorwände nennen, überprüft werden sollte. Die Zerstörung Dresdens bleibt eine ernste Frage an die alliierte Bombardierungspolitik." (DIE WELT 12.02.05)

22

gewonnen hätten. Bombenangriffe sind eine rücksichtslose Form der Kriegsführung, aber das Wort Holocaust zu benutzen, um einen Krieg als unbarmherzig zu beschreiben, heißt zwei vollkommen verschiedene Dinge zu verwechseln. ... Auf die eigene Opferrolle zu schauen und Deutschlands unprovozierten aggressiven Krieg gegen den Rest Europas und die Aspekte des Völkermords dieses Kriegs auszublenden, kann überhaupt nichts Gutes bewirken.“ Die Ziele der Rechtsradikalen werden deutlich, wenn sie »ungeschützt« vom Leder ziehen, wie ein als ehemaliger(?) Rädelsführer der inzwischen verbotenen Schlägertruppe „Skinheads Sächsische Schweiz“ (SSS) wegen schweren Landfriedensbruchs, Bildung einer kriminellen Vereinigung, gefährlicher Körperverletzung und Nötigung durch u.a. Training seiner Gefolgsleute für Übergriffe auf Einzelpersonen und die Erstürmung von Gebäuden, systematische Computererfassung der erkorenen politischen Feinde und maskierte brutale Überfälle mit einer Bewährungsstrafe zu zwei Jahren Haft verurteiltes NPD-Mitglied – Kommentar zu dem Urteil: „Meine Freunde und ich haben nur unsere Freizeit nach den eigenen Vorstellungen gestaltet!“ -, das mit seinem Schlägertrupp auf NPD-Veranstaltungen als Saalschutz tätig gewesen war und sich in der Öffentlichkeit nicht so zurückhaltend äußern muss, wie es die Parteiführung aus taktischen Gründen für angeraten erachtet, zum STERN (27.01.05): „Die rechte Bewegung steht generell für eine andere Gesellschaftsform. Deshalb bringen auch Gespräche mit anderen demokratischen Institutionen nichts. Es wird nie einen Konsens geben. Wenn man nationaler Sozialist ist, dann ist die Gesinnung schlicht nicht zu vereinen mit der Demokratie. Ich kenne viele NPDler seit Jahren, auch höhere wie den [Abgeordneten des Sächsischen Landtags und Parlamentarischen Geschäftsführer seiner Fraktion; der Verf.] Leichsenring5. Die sind nicht weichgespült. Die denken genau wie ich. Wir wollen ein anderes Land.“ Und was wollen wir Demokraten? So hat sich die Pest des Nationalsozialismus schon einmal ausgebreitet, nach dessen Niederringung ca. 6 Millionen Menschen in Vernichtungslagern und anderweitig umgebracht worden waren, ca. 50 Millionen Menschen im von den Nazis angezettelten Zweiten Weltkrieg ihr Leben hatten lassen müssen, Millionen andere auf der ganzen Welt vertrieben worden waren und Deutschland mit den Ostgebieten von der Oder-Neiße-Linie „bis an die Memel“ mehr als ein Viertel seines Staatsgebietes verloren hatte! Wenn man die ständig Grenzen auslotenden Provokationen der Neonazis ertragen kann, sollte man sie besser leer laufen lassen, indem man aufzeigt, dass sie außer „Ausländer raus!“ keine Lösungskompetenz zur Bewältigung der notwendigen und sehr komplexen Umstrukturierungsmaßnahmen unserer Gesellschaft anzubieten haben, anstatt in einen kurzatmigen gesetzgeberischen Aktionismus zu verfallen! In den USA wird das Recht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als so konstitutiv für eine demokratische Staatsform erachtet, dass die us-amerikanischen Nazis sich in Nazi-Uniformen und mit Hakenkreuzbinde am Arm versammeln und demonstrieren dürfen! Und das bei der ungemein starken gesellschaftlichen Stellung, die die jüdischen Interessensverbände in den USA traditionell innehaben! In den USA werden viel weniger »Gesinnungsgesetze« erlassen, weil es einen verbreiteteren, als Kitt in der Gesellschaft wirkenden „common sense“ darüber gibt, wie die gesellschaftlichen Bezüge organisiert sein müssen, damit die Gesellschaft idealtypisch als Gesellschaft freier Bürger funktioniert: Ungehinderte Rede-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit gehören unabdingbar dazu; auch wenn sehr oft gegen diese Prämissen verstoßen wurde, z.B. als selbst in dem Land der Demokratie, den USA, McCarthy seine hysterische Kommunistenhatz als Teufelsaustreibungskampagnen inszeniert hatte oder Martin Luther King hauptsächlich in den Südstaaten, wo es ging, Steine in den Weg gelegt worden waren, damit er nicht auf den Bürgerrechtsveranstaltungen sprechen konnte, wo die Afro-Amerikaner von der Polizei niedergeknüppelt oder vom Ku Klux Klan gelyncht worden waren, wenn sie auch für die Farbigen Menschen- und Bürgerrechte einforderten. So etwas miterleben zu müssen, brachte den Satiriker Oscar Wild zu dem bitterbösen Satz: „Demokratie ist nichts anderes als das Niederknüppeln des Volkes durch das Volk für das Volk.“ Die Wichtigkeit des Versammlungsrechts für jede Staatsform, insbesondere aber für eine (bürgerliche) Demokratie, haben wir in unserer eigenen allerjüngsten Geschichte erfahren: Dass Demonstrationen selbst ein diktatorisches, von Geheimdienst, Polizei und Millitär geschütztes Regime zum Einsturz bringen können, wenn die Zeit reif dafür ist und die Massenkundgebungen so mächtig sind, dass nicht mehr Einzelne zur 5

Der Parlamentarische Geschäftsführer der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag, NPD-Kreisgeschäftsführer und Stadtrat, Uwe Leichsenring, hielt stets engen Kontakt zu den Skinheads Sächsisch Schweiz (SSS). Die Justiz leide seiner Meinung nach unter Verfolgungswahn und drangsaliere Bürger "vielleicht nur deshalb, weil sie von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben".

23

Einschüchterung der demonstrierenden Massen herausgegriffen werden können, haben wir 1989 erleben dürfen, als die Ostdeutschen durch die Leipziger Montagsdemonstrationen ihre Freiheit von der SED-Diktatur erkämpften, weil »der Große Bruder« UdSSR das Regime nicht mehr – wie bei der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 – stützte. Und in der Ukraine, um einen weiteren europäischen Staat zu nennen, war es nicht anders. Natürlich sind Versammlungen unter freiem Himmel meist mit Belästigungen Dritter verbunden: Wenn sich ein möglichst aufgebauschter und durch große Zwischenräume möglichst in die Länge gezogener Demonstrationszug zu einem die Gesellschaft insgesamt nur marginal tangierenden Thema zur Rush-Hour durch die eine innenstädtische Verkehrspulsader quält und durch diesen Stau die Autofahrer und die Teilnehmer am Öffentlichen Nahverkehr gehindert werden, ihr Fahrtziel schnellst möglich zu erreichen, dann bekommt schon mancher der in seiner Bewegungsfreiheit Eingeschränkten einen »dicken Hals«! Die mit der Ausübung des körperlich wahrgenommenen Demonstrationsrechts meist einhergehenden Behinderungen müssen Dritte aber, so lange keine unmittelbare Gefährdung anderer gleichwertiger Rechtsgüter gegeben ist, wegen dessen überragender, demokratiekonstitutiver Bedeutung ertragen (lernen). Dabei hat natürlich die Bundeshauptstadt Berlin die Hauptlast zu tragen: 3.000 Demonstrationen pro Jahr, im Mittelwert neun pro Tag! Da entsteht auf der Seite der Exekutive das Bedürfnis, engere Grenzen ziehen zu dürfen. In Zukunft sollen nach ihren Vorstellungen extremistische Versammlungen leichter verboten sowie Aufmärsche von Extremisten vor Orten mit Symbolwirkung und nationaler Bedeutung verhindert werden, die dort die menschenunwürdige Behandlung der Opfer billigen, leugnen oder verharmlosen: zum Beispiel vor dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Zudem sollen Anhänger radikaler islamischer und arabischer Organisationen nicht mehr offen im Stadtbild ihre Sympathie für Terroristen und terroristische Anschläge bekunden dürfen, wie es z.B. ein Araber machte, der seine zweijährige Tochter als Selbstmordattentäterin mit Bombengürtel verkleidet auf eine Demonstration mitgenommen hatte. Schließlich will der Bundesminister des Inneren Demonstrationen auch dann einschränken und verbieten können, wenn keine strafbare Verletzung der öffentlichen Sicherheit droht, aber die Gefahr einer Verunglimpfung besteht. Der Berliner Innensenator geht noch weiter. Er will bei der Genehmigung auch Interessen von Anwohnern und Geschäftsleuten stärker berücksichtigen. Es müssten seiner Meinung nach sowohl "die persönliche Freiheit des Einzelnen, als auch die Interessen Dritter stärker in den Abwägungsprozess einbezogen werden." Ihm geht es darum zu verhindern, dass bei Demonstrationen die Innenstadt lahm gelegt werden kann. Der Senator will deshalb verfeinerte Möglichkeiten schaffen, Demonstrationen zu kanalisieren, nach dem Motto: "Ihr seid nur 30 Leute, Ihr dürft nur auf dem Bürgersteig demonstrieren". Diese Arbeit des überschlägigen rechtlichen Bewertens von sich andeutenden gesellschaftlichen Entwicklungen ist ständig, vielleicht sogar täglich zu leisten. Um es an einem aktuellen Beispiel deutlich zu machen: Am 21.03.2000 berichteten Nachrichten in Rundfunk und Zeitungen, dass die Regierung in Großbritannien den Lebensversicherungen die Befugnis einräumen wolle, von den potenziellen Versicherungsnehmern - den Bürgern, die das Todesfall- und eventuell auch das Berufsunfähigkeitsrisiko abgesichert haben möchten - einen »vorhersagenden Gentest« zu verlangen. Am 12.03.01 wurde berichtet, Krankenkassen sei in Großbritannien der Zugriff auf Gentests gestattet. Das ermöglicht den biologisch »gläsernen Menschen«! Insbesondere dann, wenn Biochips, mit denen irgendwann einmal das gesamte menschliche Erbgut in einem Schritt analysiert werden könnte, Realität werden sollten. Die technische Entwicklung wird so verlaufen, dass man mit sehr schnellen und präzisen Methoden das gesamte Genom eines Menschen analysieren, auf eine CD pressen und mit sich herumtragen können wird, so dass auf der Gesundheitskarte eines Chipkartenbesitzers sein gesamtes Genprofil stehen wird – wenn man auf sein Recht auf Nichtwissen verzichtet. Job in naher Zukunft nur noch nach Gentest? Zu unserem Glück sprachen sich in der Bundesrepublik gesellschaftliche Gruppen, insbesondere die Ärztekammern, als Schutz vor dadurch möglicher »GenDiskriminierung« durch Selektion, wie sie in den USA schon anzutreffen ist und in der BRD die Erstellung der ersten genetische Diskriminierungsstudie an der Universität Frankfurt veranlasste, gegen einen solchen tiefen Einschnitt in unser Persönlichkeitsrecht aus. Als Ergebnis einer kurzen öffentlichen Diskussion verzichteten auf Grund einer bis 2011 geltenden Selbstverpflichtung die deutschen Lebensversicherungsunternehmen auf die Vorlage von Gentestzeugnissen. Bereits vorliegende Testergebnisse müssen allerdings bei sehr hohen Lebensversicherungen mit Gesamtsummen von mehr als 250.000 Euro oder Jahreszahlungen über 30.000 Euro mitgeteilt werden. Eine über 2011 hinausgehende Selbstverpflichtung, eine unbefristete gesetzliche Regulierung oder gar ein gesetzliches Verbot der Forderung nach Vorlage eines Gentests vor Antragsannahme lehnen die Versicherungen aber ab, weil sonst, so der Branchenverband GDV, die Gefahr bestünde, dass "zukünftig zwischen Versicherungsnehmern und Versicherern keine Wissensgleichheit mehr besteht": wer um ein in absehbarer Zeit sich tödlich auswirkendes Gen in seinem Körper weiß, könnte aus verständlicher Sorge für ihm

24

nahestehende Personen zu deren Absicherung eine Lebensversicherung mit einer hohen Laufzeit und dadurch sehr niedrigen Prämien abschließen, wohlwissend, dass er das Ende der vertraglich vereinbarten Laufzeit mit Sicherheit nicht erleben werde und die Versicherung an die Begünstigten zahlen müsse. Die Position »Kein Gentest zur Erlangung einer Tätigkeit« wird sich jedoch nicht bruchlos durchhalten lassen. So kann z.B. die genetisch bedingte Rot-Grün-Blindheit getestet werden. Und das ist u.a. für die Ausbildung von Piloten wichtig. Aber diese Wahrnehmungsbehinderung kann ja auch durch einen Farbtafeltest ermittelt werden; wenn ein gefährdeter Pilot nicht die verdeckt dargestellten Zahlen auswendig lernt, um noch einmal glatt durch den Gesundheitschek durchzurutschen und weiter fliegen zu können. Wir hier mussten also zunächst nicht auf die Barrikaden gehen. Aber die Briten sollten es schleunigst tun, bevor die Entscheidung gefallen ist, damit sie nicht auch solche Zustände erhalten, wie sie in den USA inzwischen schon angebrochen sind, denn am 15.11.01 veröffentlichte der STERN ein Interview mit dem 96-jährigen Biochemiker Erwin Chargaff, einem der »Väter der Gentechnologie«, in dessen Verlauf zur Sprache kam: „Vor kurzem wurde eine Studentin an einer US-Elite-Universität abgelehnt. Sie hatte alle Aufnahmetests bestanden, und sie war gesund. Der Gentest aber wies eine Veranlagung für eine tödliche Krankheit aus. Das aufwendige Studium, meinte dann die Uni, lohne sich nicht für sie.“ Ähnlich erging es nach Aussage des hessischen Datenschutzbeauftragten Simitis in Deutschland Bewerbern um eine Lehrstelle und in Hessen einer angehenden Lehrerin, die der hessische Staat nicht hatte verbeamten wollte: Mit dem Hinweis auf die genetisch bedingte Erbkrankheit Chorea Huntington (= Veitstanz) in der Familie war 2004 dort die Verbeamtungen der damals 35-jährigen Lehrerin abgelehnt worden und es wurde von ihr verlangt, durch einen differenzierten Gentest nachzuweisen, dass die Disposition für diese Erbschädigung bei ihr nicht vorläge. Bei diesem auf einen einzigen Gendefekt zurückführbaren monogenen Nervenleiden - an einer bestimmten Stelle des Chromosoms 4 wird die Buchstabensequenz CAG öfter als 40-mal wiederholt - bedeutet schon eine einzige schadhafte Genkopie, dass die Krankheit mit absoluter Sicherheit ausbrechen und der Patient vorzeitig sterben wird. Die Pädagogin klagte vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt und gewann - allerdings mit dem Hinweis, ihre Erkrankung sei mit einer Chance von 50 Prozent ja "nicht überwiegend wahrscheinlich". [Bislang sind rund 5.000 monogene Krankheiten bekannt, bei denen aber, wie bei der Eisenspeicherkrankheit (Hämochromatose), der Genfaktor nur ein Faktor unter mehreren ist und zum Ausbruch der Krankheit führen kann. Von den bisher bekannten monogenen Krankheiten weisen rund 600 eine größere Verbreitung auf, unter denen der Veitstanz besonders herausragt.] Nicht jeder Betroffene weiß um seine irgendwie geartete Genschädigung. Doch jeder muss das Recht auf eigenes Nichtwissen haben und sich darum nicht im Interesse einer Anstellung einer solchen Zumutung eines potentiellen Arbeitgebers unterziehen müssen, um auf diesem Wege ungewollt das Wissen um eine bei ihm oder ihr irgendwann ausbrechende Krankheit aufgedrängt zu bekommen. Das sind gravierende Verstöße gegen die informationelle Selbstbestimmung. Darum wurde der hessische Staat im Fall einer 35-jährigen Lehrerin, die wegen erblicher Genbelastung nicht verbeamtet werden sollte, durch Gerichtsurteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt zum Beidrehen gezwungen. Solch eine gefährliche Entwicklung muss ganz dringlich gestoppt werden! Darin müssen wir uns alle einig sein! Diese Bedeutung darf der Molekulargenetik nicht zugewiesen werden! Kein privater oder staatlicher Arbeitgeber darf das potentielle genetische Risiko eines Bewerbers mit einem Gentest untersuchen lassen, sondern muss zur Eignungsüberprüfung Verfahren verwenden, die ausschließlich eine tatsächlich vorliegende Funktionsstörung feststellen können. Die neue Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Kristiane Weber-Hassemer, hat zu Amtsantritt 2005 vor den Risiken einer Ausweitung der Gendiagnostik gewarnt: „Die Risiken einer Ausweitung der Gendiagnostik liegen auf der Hand. Natürlich gibt es hier in der Wirtschaft enormen Appetit. Im Arbeitsrecht hat aber die Gendiagnostik wie auch die übrige prädiktive Diagnostik im Zweifel nichts zu suchen. Diesem Appetit also gilt es zu begegnen. Dabei sind gesetzliche Regelungen unerläßlich. Den gläsernen Menschen darf es einfach nicht geben. Mit Forschungsfeindlichkeit hat das nichts zu tun“ (DIE WELT 28.06.05). Nach dem vom Gesundheitsministerium erarbeiteten Entwurf des Gendiagnostikgesetzes sollen allerdings Gentests "bei bestimmten gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten" erlaubt werden. Auch soll der Arbeitgeber fragen dürfen, ob bei einem vorhergehenden Gentest "die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit festgestellt worden ist". Nach dem Amtsverzicht unserer vorherigen Gesundheitsministerin 2001 bestand auch für uns die Gefahr der Gen-Ausforschung für Versicherungszwecke, denn deren Nachfolgerin kündigte an, die Frage der Eröffnung von Gentests für Lebensversicherungen noch einmal überprüfen zu wollen! Aber was bedeutet das für den möglicherweise Betroffenen? Zum Beispiel wird die genetisch bedingte Krankheit »Chorea Huntington« mit 50-

25

prozentiger Wahrscheinlichkeit vererbt. Dieser dominant erbliche Veitstanz bricht üblicherweise zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr aus. Wenn nun ein Elternteil an dieser Krankheit leidet oder gestorben ist, dürfen dann Krankenkassen und andere Versicherungen die Nachkommen zu einem Gentest zwingen? „Keine Gentests vor Verträgen Berlin – Die deutschen Versicherer verzichten darauf, Gentests als Voraussetzung für einen Vertragsabschluß durchzuführen. Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDW) legte jetzt nach eigenen Angaben eine entsprechende Selbstverpflichtung vor. Gentests zur Diagnose bestehender Krankheiten sind in der Medizin selbstverständlich. Bei sogenannten prädikativen Gentests, die Aussagen zum Ausbruch von Krankheiten noch gesunder Menschen ermöglichen, hatte es im Zusammenhang mit Versicherungsverträgen jedoch Befürchtungen gegeben, dass belastete Personen nicht mehr versichert würden. Die freiwillige Selbstverpflichtung gilt zunächst bis zum 31. Dezember 2006.“ (HH A 08.11.01) Und dann? Der Staat geht da auf der Basis des Beamtenrechts mit seinen weitgehenden Verpflichtungen für sich selbst als Dienstherrn schon radikaler vor: „Geisel der eigenen Gene Eine gesunde Lehrerin aus Hessen wird nicht verbeamtet, weil ihr Vater an der Erbkrankheit Chorea Huntington leidet. Nun fühlt sich sie sich von den Behörden zu einem Gentest genötigt. Sie wollte eine Anstellung auf Lebenszeit. Stattdessen bekam sie einen Brief, in dem ihr mitgeteilt wurde, wie lange sie wohl noch zu leben hat. ’In den nächsten zehn Jahren’ werde die tödliche krankheit mit ’erhöhter Wahrscheinlichkeit’ ausbrechen, schrieb die Amtsärztin der jungen Frau: ’Sie werden voraussichtlich nicht bis zum 65. Lebensjahr arbeiten können.’ ... Die Lehrerin ... trägt unbestreitbar ein hohes genetisches Risiko in sich. Ihr Vater ist an Chorea Huntington erkrankt, einer Nervenkrankheit, die auch unter dem volkstümlichen Namen Veitstanz bekannt ist. Der Verlauf ist grausam: Die Hirnmasse schwindet. Der Körper gehorcht nicht mehr dem Willen, das Wesen des Erkrankten verändert sich. Viele Huntington-Patienten werden jähzornig, sind geplagt von Angstzuständen, ehe sie in völlige geistige Umnachtung fallen. Am Ende steht immer ein früher Tod. Nicht nur die Symptome sind teuflisch, sondern auch die Vererbung: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent geht das defekte Gen von einem kranken Elternteil auf das Kind über – egal, ob es ein Mädchen oder Junge ist. Hätte sie tatsächlich auf dem vierten Chromosom das schadhafte Gen, wäre das Schicksal der jungen Lehrerin schon bei ihrer Zeugung besiegelt worden. So ist sie zur Geisel ihrer eigenen Gene geworden. Gewissheit darüber, ob sie an Huntington erkranken wird oder nicht, könnte ihr allenfalls ein Gentest verschaffen. Fällt er negativ aus, stünde auch der Verbeamtung nichts mehr im Wege. Was aber, wenn das Ergebnis positiv ist? Genau wegen dieses Dilemmas ist in der Biomedizin-Konvention des Europarats ein ’Recht auf Nichtwissen’ über die eigene genetische Bestimmung festgeschrieben. Niemand darf zu einem Gentest gezwungen werden. Das ist auch im hessischen Fall nicht geschehen. Doch indirekt übt der Verwaltungsbescheid sehr wohl Druck auf die Kandidatin aus, zur Erbgutanalyse zu schreiten. ... Niemand darf aber wegen der eigenen DNS benachteiligt werden – sagt zumindest die Biomedizin-Konvention. Ein Gesetz, das Fälle wie den der hessischen Lehrerin klar regelt, gibt es jedoch in Deutschland noch immer nicht. ... Doch der Druck auf Huntington-Familien ist groß. Welcher Arbeitgeber möchte nicht gern wissen, ob es sich lohnt, in den Angestellten zu investieren? Und welche Versicherung möchte sich nicht vergewissern, dass ihr Kunde nicht schon bald ein Fall für die Berufsunfähigkeit wird? ... In der Privatwirtschaft sind Fragen nach einem Gentest bislang nicht statthaft. So haben sich die deutschen Versicherer einer Selbstverpflichtung unterworfen, wonach ’die Durchführung von prädiktiven Gentests nicht zur Voraussetzung eines Vertragsabschlusses’ gemacht wird. Doch in der Praxis wird schon längst das genetische Risiko mit in das Geschäft einbezogen. ... In Zukunft könnte dieses Versteckspiel mehr als jene rund 8000 Menschen betreffen, die in Deutschland an Huntington leiden. Denn die Zahl der Krankheiten, deren Spuren in den Chromosomen nachgewiesen werden können, wächst ständig. ... Die Zahl der in Deutschland

26

vorgenommenen Genuntersuchungen steigt folglich rapide an, es sind schon heute mehrere zehntausend jährlich. ... Wenn der Fortschritt in der Gentechnik so weitergehe, so der Datenschutzexperte aus Frankfurt, ’dauert es nicht mehr lange, und bei jedem Menschen wird man irgendeinen genetischen Fehler feststellen’. (SPIEGEL 20.10.03)

Jeder sollte das Recht haben, seine genetische Disposition zu kennen. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass es ebenso ein strikt zu handhabendes »Recht auf Nichtwissen« geben muss! Dieses Recht muss zunächst für jeden möglicherweise Betroffenen gelten, denn nicht jeder hat die starke Persönlichkeit, seine Gene untersuchen zu lassen, um dann hinterher im Falle eines »positiven« Untersuchungsergebnisses mit festgestelltem niederschmetternden Befund mit dem Wissen um einen ihm vorher nicht bekannten Gendefekt leben zu können, der zum Ausbruch einer Krankheit führen kann, denn Hoffnungen auf Erfolge im Bereich einer vorbeugenden genetischen Medizin, eine genetisch bedingte Krankheit schon vor ihrem Ausbruch erkennen und durch Genreparatur verhindern zu können, werden noch einige Zeit unerfüllt bleiben. Die Gentherapie hinkt der Gendiagnostik weit hinterher, aber Gendiagnostik ist der erste Schritt auf dem Weg zur Gentherapie. Nach derzeitigem Wissensstand kann man erst ein Promille der rund 25.000 Gene des Menschen - ungefähr so viele, wie z.B. die Maus und das heimische Unkraut Ackerschmalwand auch vorweisen können - bestimmten Krankheiten zuordnen. Und das wird bestimmt noch mehr werden, wenn man die Wirkzusammenhänge besser zu verstehen gelernt hat. Damit kann man die so erkannten Krankheiten aber noch längst nicht heilen; das ist nur in einzelnen Fällen möglich. So kam es, dass nach einer seit Jahren gelaufenen Debatte die Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) 2004 ein Modellprojekt startete, gegen das die eingeschaltete Ethikkommission keinerlei Bedenken hatte: In Kooperation mit der Medizinischen Hochschule Hannover waren 6.000 KKH-Versicherte auf eine Erbkrankheit, die so genannte Eisenspeicherkrankheit, untersucht worden. Gegen diese Stoffwechselerkrankung, die im Laufe der Jahre lebenswichtige Organe durch Eiseneinlagerung massiv schädigt, gibt es bei rechtzeitigem Erkennen gute Therapiechancen. Entsprechend hoch war das Interesse der Versicherten an einer Teilnahme gewesen. Eine solche Testteilnahme darf aber grundsätzlich nur freiwillig sein und das Ergebnis des Tests sollte zunächst nur dem von einem Fremdlabor zu Testenden bekannt gegeben werden dürfen! Das zu regeln ist, um Missbrauch vorzubeugen, die Aufgabe eines seit 1998 angekündigten, schleunigst abzufassenden Gendiagnostikgesetzes, denn Ende 2006 läuft die freiwillige Verpflichtung der privaten Versicherungswirtschaft aus, auf Gentests zu verzichten. Sollte es bis dahin nicht zu einer rechtlichen Regelung gekommen sein, droht die zumindest abstrakte Gefahr des Missbrauchs. Arbeitgeber und Kranken- sowie Lebensversicherer haben schließlich ein starkes materielles Interesse an entsprechenden Untersuchungsergebnissen. "Vermeintlich freiwillige, faktisch jedoch unfreiwillige Gentests könnten dann um sich greifen", warnte der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Schaar. In anderen Ländern gebe es derartige Entwicklungen und Ausgrenzungen im gesellschaftlichen Leben durch negativ zu bewertende positive Ergebnisse von Genuntersuchungen. Wie ist es aber, wenn spezielle Krankheiten nur an nicht-einwilligungsfähigen Kranken (Behinderten, psychisch Kranken, Dementen oder Kindern) untersucht werden können, um die zu der Krankheit führenden Wirkzusammenhänge verstehen zu lernen und mit fortschreitender Erkenntnis eventuell heilen oder gar durch Genbehandlung verhindern zu können? Das wäre der Einstieg in die fremdnützige Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Patienten. Eine vermittelnde Position zwischen strikter Ablehnung und bedenkenloser Befürwortung wäre es, wenn Gentests an nicht-einwilligungsfähigen Patienten nur dann durchgeführt werden dürften, wenn diesen ansonsten Leiden drohe und außerdem eine konkrete Aussicht auf Heilung bestünde. Sprich, der Gentest darf nur im Eigeninteresse des Patienten gemacht werden. Fremdnützige Forschung, mit der beispielsweise medizinische Erkenntnisse gewonnen oder ergänzt werden sollen, würde somit ausgeschlossen. Kritiker begründen diese eine »freie« Forschung einschränkende Regelung mit dem aus Art. 1 GG abgeleiteten "Instrumentalisierungsverbot", das verbietet, dass Menschen zum (Forschungs-)Objekt degradiert würden, heißt es im Enquete-Bericht des Bundestags vom Mai 2004. Aus diesem Grund hat die Bundesrepublik Deutschland bis heute die Bioethikkonvention des Europarates aus dem Jahre 1996 nicht unterzeichnet. Jetzt droht das anstehende Gendiagnostikgesetz, diese Tür wieder aufzustoßen. Einigkeit besteht dagegen bei der Notwendigkeit zum Test auf Kinderkrankheiten, für die es zwar keine Heilung, wohl aber eine Therapie gibt. So kann z.B. Mukoviszidose zwar nicht geheilt, aber bis zum 50. Lebensjahr therapiert werden, wenn man mittels eines Gentests früh eine präzise Diagnose stellen kann. Immer mehr Menschen könnten nach Gentests – bisher ohne Heilungschance - als »genbedenklich« oder »gengeschädigt« eingestuft werden! Sollen sie das wissen müssen? Sollen das andere wissen dürfen? Völlig offen ist dabei außerdem, ob der »Gengeschädigte« diesen möglichen Ausbruch einer bisher unheilbaren schweren,

27

schleichenden Krankheit überhaupt erleben wird, denn ein Unfall oder eine andere Krankheit als die in seinen Genen erkennbar angelegte kann unvorhergesehen sein Leben beenden. Dann hat er ohne das ihm möglicherweise wider seinen Willen aufgedrängte Wissen um einen krankheitsauslösenden Gendefekt die Zeit davor angstfrei gelebt! Ohne eine solche entlarvende Genuntersuchung ist mehr Raum für Hoffnung. Wenn diese Untersuchung nicht vorgenommen und so kein positiver Befund festgestellt wird, hat der Betroffene nicht jeden Morgen, jeden Tag und jede Nacht nach Erhalt des Untersuchungsergebnisses mit der Angst aufwachen, leben und einschlafen müssen, wann diese auf Grund seines festgestellten Gendefektes ihm möglicherweise oder sehr wahrscheinlich drohende schwere, schleichende Krankheit irgendwann bei ihm ausbrechende werde! Und dieses unbesorgte Nichtwissen wiegt schwer! Dieses »Recht auf Nichtwissen« muss meines Erachtens erst recht gegenüber neugierigen Dritten wie insbesondere Krankenkassen und Arbeitgebern gelten. Haben Sie z.B. verfolgt, dass von interessierter Seite schon seit einigen Jahren ins Gespräch gebracht worden ist, dass Bewerber um einen Arbeitsplatz dem Arbeitgeber mit ihrer Bewerbung ihren Gentest vorweisen sollten? Selbstverständlich nur »zum Wohle der Arbeitsuchenden, um gesundheitliche Gefährdungen an gefährlichen Arbeitsplätzen möglichst weitgehend auszuschließen«! Wir können aber absolut sicher sein, dass dann, sollten die Dämme erst einmal brechen, über eher kurz und gewiss nicht lang nicht nur von Samenspendern ein generell vorzulegender Gentest verlangt werden wird! Was glauben Sie, wie Ihre Chancen oder die ihrer Kinder trotz exzellenter Zeugnisse stehen würden, wenn einem Arbeitgeber durch die vorgelegte Genanalyse bekannt würde, dass bei Ihnen oder Ihren Kindern eine erhöhte Gefährdung durch eine möglicherweise oder sogar sicher in ungewiss naher Zukunft ausbrechende Epilepsie, ein Krebsrisiko von 60:40, eine Frühdemenz, eine der schrecklichen Erbkrankheiten FOP, MLD, ..., die die Menschen von innen heraus versteinern, erblinden und ertauben lässt, ... vorliegt, Suchtschädigungen oder durch Umweltschäden erbliche Belastungen durch Ihre Eltern nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, das Eintreten von Multipler Sklerose nicht ganz unwahrscheinlich ist, ... . Wehret den Anfängen! »Safer lex«! Denn die Anfänge sind schon gemacht: „Britische Gen-Elite AFP London – Die britische Armee will einem Zeitungsbericht zufolge künftig ihre Elitesoldaten per Gentest auswählen. Wie die ‘Sunday Times‘ unter Berufung auf Militärkreise berichtet, würden derzeit an Rekruten Tests vorgenommen, mit denen die für die körperliche Leistungsfähigkeit verantwortlichen Gene gefunden werden sollen. ...“ (HH A 06.10.97) Krankenkassen sind Einrichtungen der Solidarität. Da muss man nicht vorher Risikoprämien auf sonst nicht entdeckbare, sich aus einer bestimmten Genstruktur möglicherweise erst viel später im Verlauf von Jahren ergebende Krankheiten erheben. Und Arbeitgeber sind im Zweifelsfall mitleidloser als die eigene Solidargemeinschaft der bei einer Krankenkasse Versicherten. Da hat dieses Wissen um Gendefekte erst recht nichts zu suchen! In Deutschland wurde 2004 versucht, Kraftfahrer auf ihre Genstruktur hin untersuchen zu lassen. Nach einer kurzen Phase des Nachdenkens meldeten die Medien im März 2001, dass sich die neue Gesundheitsministerin Schmidt nunmehr zu der hier vertretenen Ansicht durchgerungen habe - die ich nach gewissenhafter Abwägung des Für und Wider für die am Menschenbild des Grundgesetz gemessen einzig vertretbare halte, sonst hätte ich nicht damals die Zeitungsmeldung von 1997 nach ihrem Erscheinen als Beweis des Menetekels darüber eingearbeitet, was mit blutiger Schrift als Prophezeiung eines Ergebnisses des Forscherwahns an die Wand geschrieben worden ist, aber offensichtlich nicht von allen in seiner Tragweite so gesehen wurde. Was aber für die Krankenkassen weiterhin gelten soll – keine »Gen-Spionage« -, scheint für die Lebensversicherer gelockert zu werden: „Gentest für die Versicherung Berlin – Die SPD will Versicherungsunternehmen das Recht einräumen, bei Lebensversicherungen mit hohen Versicherungssummen auch die Ergebnisse von Gentests zu verwerten. In einem Eckpunkte-Papier der SPD für ein Gentestgesetz heißt es, diese Ausnahme könne eingeführt werden, um Missbrauch beim Abschluss von Lebensversicherungen zu verhindern. (rtr)” (HH A 30.04.02)

28

Und wie lange bleibt ein - zunächst - den Lebensversicherungen »ausnahmsweise« erlaubter Zugriff auf Gentestdaten eine Ausnahme, wenn die Dämme erst einmal brechen? Außerdem: Wie soll man sich einen Missbrauch vorstellen, vor dem die Lebensversicherer durch einen (angeblich) geschäftsnotwendigen Zugriff auf Gentestdaten (angeblich) geschützt werden müssten? Schließt jemand, der eine Lebensversicherung mit einer hohen Versicherungssumme und den dementsprechend hohen Prämien abschließen will, einen solchen Vertrag nur darum ab, weil er sich zuvor privat erst einen Gentest hat erstellen lassen, der dann ungünstig ausgefallen ist und er nun für irgend jemanden etwas mit seinem kurzen »Rest-Leben« »verdienen« will – oder wird ein solcher Vertrag nicht deshalb abgeschlossen, um ein bestimmtes Risiko, z.B. eines Hauskaufes oder einer Geschäftsgründung, als Voraussetzung für den Erhalt eines Bankkredites abzudecken? Politik ist die Kunst der Zukunftsgestaltung. Und da das oft durch Gesetze geschieht, müssen wir bei uns im ganz direkten Wortsinn »frag-würdig« erscheinenden Gesetzesvorhaben den demokratischen Widerstand organisieren, damit wir uns nicht vorwerfen müssen, was die Großkirchen mit zurück gewandtem Blick auf das Entstehen des Nationalsozialismus später als ihr Versagen reuevoll bekannt haben: „Wir haben zu wenig widerstanden!“ Darum muss die Tagespolitik hinsichtlich sich abzeichnender gravierender rechtlicher Neuerungen ständig wach verfolgt werden - dabei hilft z.B. eine gute Tageszeitung -, und es muss notfalls möglichst rechtzeitig durch z.B. lautes Protestgeschrei oder/und Besuche von Abgeordneten-Sprechstunden reagiert werden! Inzwischen scheint die Bundesregierung auch in die hier vertretene Richtung zu tendieren, denn es wurde über die Nachrichtenmedien verbreitet, dass man, ähnlich wie in Österreich, eine gesetzliche Regelung anstrebe, der zufolge gesetzlich verboten werden solle, Gentests „zu verlangen, zu verbieten oder zu verbreiten“. Nur der Betroffene dürfe für sich Gentests erstellen lassen. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte scheint inzwischen in die hier vertretene Richtung gehen zu wollen: „Datenschutz bei Gentests Berlin – Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar fordert ein neues Gesetz für Rechtssicherheit bei Gentests. Arbeitgeber dürften von Bewerbern oder Arbeitnehmern nicht verlangen, dass sich diese einem Gentest unterziehen. Das neue Gentest-Gesetz müsse zudem heimliche Genom-Analysen verbieten. (afp)” (HH A 14.04.04)

Nach einem der vielen Sexualverbrechen an einem Mädchen war dagegen von dem rechtspolitischen Sprecher der CSU-Fraktion im Bundestag, Geis, die Forderung erhoben worden, in einer zentralen Datenbank die Daten der zwangsweise vorzunehmenden Gentests aller männlichen Einwohner der BRD zu sammeln und ein Leben lang aufzuheben, um im Falle eines erneuten Mädchenmordes den Täter durch einen Vergleich mit den an der jeweiligen Mädchenleiche immer auffindbaren Spuren sofort dingfest machen zu können. Dieses Verbrechen der Mädchen- und Frauenmorde wird mit Sicherheit nie aussterben. Wenn etwas gewiss ist, dann ist es das, denn der Mensch ist auch durch seine Triebkraft Sexualität bestimmt, die nicht alle unter Kontrolle haben. Es wird immer Männer mit Angst vor einer erwachsenen Frau als Partnerin und nicht ausreichender Selbstkontrolle geben, die irgendwann mit Vorliebe Mädchen oder auch junge erwachsene Frauen überfallen, missbrauchen und anschließend ermorden werden. Soll nun nach möglicher Erfassung aller schon lebenden Männer von jedem männlichen Baby gleich nach der Geburt im Zuge der sowieso vorzunehmenden Untersuchungen ein Gentest erstellt werden, weil einige von ihnen später irgendwann mit Sicherheit einmal Sexualverbrecher werden? Diese Frage fällt weg, wenn, wie manche Evolutionsbiologen es kommen sehen, von jedem Neugeborenen und seinen Eltern im Verlauf des 21. Jahrhunderts routinemäßig Gentests erstellt werden, damit zunächst einmal die Verwandtschaftsverhältnisse zweifelsfrei geklärt sind und von jedem die auf ihn durch die Zeugung anfallende Kindersteuer erhoben werden kann.6 Dann lägen die entsprechenden Daten ja vor, wenn nicht nur bestimmte Abschnitte der Minisatelliten-DNA zum Abstammungsabgleich untersucht werden, die in ihrem nicht-codierten Bereich, der 90 % des Genoms eines Menschen ausmacht, keinen Aufschluss über Genschäden ermöglichen. 2004 wurde von einer von der EU-Kommission eingesetzten Expertengruppe in einem Gentest-Memorandum angeregt, europaweit an allen Neugeborenen nicht nur das bisher schon angewandte biochemische Verfahren als Suchtest gegen bestimmte Krankheiten wie z.B. eine Schilddrüsenunterfunktion vornehmen zu lassen, sondern in Erweiterung der Suchtests nach früh zu behandelnden Krankheiten ein genetisches „Screening“ vorzunehmen, um die Kinder auf genetische Defekte hin untersuchen zu lassen. Die Mediziner erhoffen sich neue Behandlungschancen. So gilt es etwa bei schweren Immundefizienzen als nachgewiesen, dass Gentherapien helfen können. Ein erster Nachweis gelang Anfang der neunziger Jahre für die ADA-Defizienz. Bei dieser 6

U.a. Baker, R.: Sex im 21. Jahrhundert – Der Urtrieb und die moderne Technik, 2000, S. 34 ff

29

Krankheit ist das Immunsystem nicht funktionsfähig, weil ein einziges Gen fehlt, das für die Herstellung des Enzyms Adenosin-Desaminase (ADA) entscheidend ist. Ähnlich verhält es sich bei der Immunschwächekrankheit X1-SCID . Bei an dieser Krankheit Erkrankten fehlt ein Protein, das für die Bildung körpereigener Abwehrzellen notwendig ist, so dass jeder an sich harmlose Keim im Körper der von dieser Krankheit Betroffenen eine lebensbedrohliche Infektion auslöst. Betroffene müssen sich deshalb stets in einer möglichst keimfreien Umgebung aufhalten. Die Kinder müssen von der Geburt an unter einem sterilen Plastikzelt leben. (Der Fotobericht im STERN über die unsäglichen Lebensumstände einer betroffenen Frau, die auf Grund ihrer Krankheit weder Besuch von Familienangehörigen noch Bekannten empfangen, noch die mit Folie ausgekleidete Wohnung verlassen konnte, war äußerst eindrucksvoll!) Für u.a. diese seltenen Erkrankungen erhoffen sich EU-Forscher nach ersten Gentherapie-Erfolgen bis spätestens 2010 entsprechende GentherapieZulassungen von den zuständigen US- und EU-Zulassungsbehörden, da bei vier an ADA-Defizienz erkrankten Kindern, für die kein HLA-identischer Stammzellenspender zur Verfügung stand, mit einer Gentherapie der ADA-Gendefekt in Blut-Stammzellen so weit korrigiert werden konnte, dass die Heranwachsenden ein normales Leben ohne Medikamente führen können. Die Wissenschaftler aus staatlichen Forschungsinstituten, Industrie und Medizin hatten in Brüssel nach einjähriger Arbeit 25 Empfehlungen zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen von Gentests beim Menschen vorgelegt. Die Expertengruppe kam zu dem Schluss, dass Gentests einen Fortschritt für das Gesundheitswesen darstellen und Chancen für neue Entwicklungen in der Präventivmedizin und der Arzneimittelentwicklung eröffnen. Gentests müssten jedoch der freien Entscheidung der Betroffenen vorbehalten bleiben. "Von hoher Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen individuellen genetischen Tests und genetischem Screening", betont Ludger Honnefelder von der Universität Bonn. So bedürfe es einer Definition dessen, was Krankheit und Krankheitsdisposition und was bloße Disposition sei. Der Bonner Ethikprofessor warnte vor einer Gleichsetzung genetischer und medizinischer Daten. Auch wenn ein genetisches Screening an Freiwilligkeit gebunden werde, könne sie in der medizinischen Routine zur Aushöhlung der individuellen Freiheit führen. EU-Forschungskommissar Philippe Busquin soll sich die Forderung nach einem genetischen Screening zunächst angeblich „uneingeschränkt zu Eigen“ gemacht haben. Er wurde in der Presse mit dem Satz zitiert: "Es ist wichtig, dass die Empfehlung für Gentests an Babys in den Mitgliedsstaaten umgesetzt wird." In der EU werden inzwischen jährlich über 700.000 Gentests durchgeführt, die mit Kosten von 500 Millionen Euro verbunden sind; ein großer Markt für Pharmafirmen und Tester also. Allein in Deutschland werden bereits jährlich rund 90.000 Gentests durchgeführt. "Es muss dringend ein Validierungssystem für Gentests geschaffen und eine europäische Gendatenbank aufgebaut werden", sprach sich Busquin für die Bildung eines Europäischen Netzwerkes für Gentechnik im Rahmen des 6. EU-Forschungsrahmenprogramms aus. Er bestritt aber später seine Befürwortung, als ihm wohl die Brisanz dieses Unterfangens aufgegangen war. Sollte es zu einem solchen Massenscreening kommen, dann stellen sich einige Fragen. Auf der persönlichen Ebene: Wer will von klein auf wissen, dass bei ihm mit etwa 40 Jahren die unheilbare, genetisch bedingte Huntington-Krankheit ausbrechen könnte? Neben der psychischen Belastung könnten solche Personen auch bei der Arbeitssuche und in Versicherungsfragen benachteiligt werden. So können genetische Daten zu großen Belastungen für den Betroffenen führen und die Gefahr einer sozialen, ethischen oder eugenischen Diskriminierung beinhalten. Darum wird vorgeschlagen, dass sich die angeregten Tests ausschließlich auf therapierbare Krankheiten beziehen dürften. Ungeklärte Fragen auf der gesellschaftlichen Ebene: Wer soll auf diesen Datenpool Zugriff haben? Konkret: Auch die Polizei, wenn sie einen Sexualstraftäter sucht? Soll die männliche Hälfte der Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt werden? Obwohl wegen der abartigen Natur mancher Männer durch Zwangsgentests Mädchen- und Frauenmorde als »Erstmorde« nicht zu verhindern sein werden, hat der Gedanke der sofortigen Aufklärung zunächst etwas Bestechendes für sich, weil Mädchen- und Frauenmörder oft Wiederholungstäter sind. Und diese nachfolgenden Morde könnten verhindert werden, wenn ein solcher potentieller Wiederholungstäter nach dem ersten Mord „lebenslang“ (bis ins Greisenalter) weggesperrt würde, denn das ist die sich daran anschließende ergänzende Forderung, die von Befürwortern einer solchen Regelung erhoben wird. Es würde dann aber kommen, wie es immer kommt: die Schraube würde bei nächst passend dünkender Gelegenheit weitergedreht werden. Das sahen wir z.B. bei der Propagierung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung, wo zur Rechtfertigung von Gewalt zunächst zwischen der gegen Sachen und der gegen Personen einzusetzenden unterschieden wurde, bis sie dann auch gegen Personen angewandt wurde – bis hin zu deren Ermordung. Beim Klonen wurde eine Zeit lang bei der Forderung nach Freigabe des Klonens zur politisch leichteren Durchsetzbarkeit dieser Forderung semantisch zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen unterschieden, obwohl die dazu angewandten Techniken größtenteils die gleichen sind: Immer wird eine (Spender-)Eizelle und das komplette Erbgut des Lebewesens benötigt, das geklont werden soll. Weil sich Frauen zum »Ernten« der von ihnen benötigten Eizellen bislang einer zu diesem Zweck ethisch umstrittenen und

30

physisch unangenehmen Hormonbehandlung unterziehen mussten, wird schon mit der Einpflanzung menschlichen Erbgutes in tierische Eizellen experimentiert. Unabhängig davon, woher die verwandte Eizelle stammt, wird ihr Genmaterial bei der Kerntransplantation im nächsten Schritt unter dem Mikroskop entnommen und - mitunter Behinderungen verursachend - entweder nach der Honolulu-Methode mittels einer Hohlnadel oder nach der Dolly-Methode mittels eines Stromstoßes von 3.000 Volt durch das Genmaterial aus der Körperzelle des Spenders ersetzt, für den, z.B. zur Gewinnung eines körpereigenen Ersatzorgans, körpereigene Stammzellen gewonnen werden und so geklont werden soll, wie es mit menschlichen Zellen zuerst in Korea und dann in Großbritannien gemacht worden ist. Nach der Fusion von entkernter Eizelle und dem eingeschleusten Genmaterial muss der bedarfsgerecht konstruierte Embryo stimuliert werden, sich wie ein von Mutter Natur geschaffener zu verhalten und sich zu teilen. Das gleiche gilt für das Klonen in Form der Embryonenteilung. Dazu wurden in Tierversuchen bislang chemische und mechanische Aktivierungen erprobt. Wenn das gelingt, entsteht aus dem zunächst amorphen Zellhaufen nach einigen Teilungen die als Blastozyste bezeichnete Hohlkugel, in deren Innerem sich die pluripotenten Stammzellen für den Aufbau des gesamten Körpers bilden. Verfolgte man das Ziel des »reproduktiven« Klonens – z.B. um nach den abstrusen Vorstellungen der Raelianer mit woher auch immer besorgtem Chromosomensatz Hitler zu klonen und den »Klon-Hitler«, der in seinem jungen Leben nichts Böses getan haben muss, nach Erreichen des Erwachsenenalters für die Untaten seines Klon-Ursprungs vor Gericht zu stellen, eine Idee, die noch abstruser ist als die von Papst Pius XII., der fest daran glaubte, dass Hitler vom Satan besessen sei und darum über FernExorzismus eines kirchlich zugelassenen Teufelsaustreibers versuchte, Hitler den Teufel austreiben zu lassen -, würde der Klon in diesem Stadium einer »Leihmutter« zum Austragen der nicht eigenen Leibesfrucht binnen der üblichen neun Monate Schwangerschaft eingepflanzt. Verfolgt man hingegen entsprechend den Geboten der helfenden und heilenden Ethik als Ziel das »therapeutische« Klonen, so würde die konstruierte Blastozyste des geplanten Embryos nach Bildung der Stammzellen im 64- bis 128-Zellstadium in einem von Gegnern des therapeutischen Klonens als »Abtreibung in der Petrischale« bezeichneten Vorgang zerstört und es würden die so gewonnenen Stammzellen in Stammzelllinien zur Bildung der begehrten Ersatzorgane angeregt. „STAMMZELLEN-FORSCHUNG Britische Forscher dürfen Embryonen klonen In Großbritannien dürfen menschliche Embryonen erstmals zu Forschungszwecken geklont werden. Die zuständige Behörde für Menschliche Fortpflanzung und Embryologie genehmigte einen entsprechenden Antrag. Wissenschaftler der Newcastle University wollen mit Hilfe von Stammzellen geklonter Embryonen Behandlungsmöglichkeiten für Diabetes, Parkinson und Alzheimer erforschen. Für die Erzeugung der Embryonen wollen sie die gleiche Methode verwenden, die benutzt wurde, um das Schaf ’Dolly’ zu klonen. Kritiker halten das so genannte therapeutische Klonen für unethisch. ’Diese Forschung überschreitet zum ersten Mal eine wichtige ethische Grenze’, sagte der Molekularbiologe David King. Großbritannien hatte das Klonen menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken 2001 legalisiert. Das Klonen von Embryonen zur menschlichen Fortpflanzung ist weiterhin strafbar. (Spiegel Online 11.08.04) GENTECHNIK "Dolly"-Schöpfer darf menschliche Embryos klonen Der Schöpfer des Klonschafs "Dolly" darf jetzt auch menschliche Embryos zu Forschungszwecken klonen. Die zuständige britische Aufsichtsbehörde erteilte dem Team um Ian Wilmut die entsprechende Erlaubnis. London - Es ist erst das zweite Mal, dass die britischen Behörden das Klonen menschlicher Embryos zu Forschungszwecken gestatten. 2001 hatte Großbritannien die Prozedur als weltweit erster Staat legalisiert und im August 2004 erstmals Forschern der University of Newcastle upon Tyne eine Erlaubnis erteilt. Jetzt hat die zuständige Behörde für Menschliche Fortpflanzung und Embryologie (Human Fertilization and Embryology Authority) zum zweiten Mal das Klonen menschlicher Embryos genehmigt. Die Profiteure sind keine Unbekannten: Ian Wilmut und sein Team gelangten 1996 zu Weltruhm, als sie das weltweit erste lebensfähige Säugetier klonten. Das Schaf "Dolly" ist im Februar 2003 im Alter von sechs Jahren gestorben. Beim therapeutischen Klonen wird einer menschlichen Eizelle der Kern entnommen und durch den Kern der Körperzelle eines Patienten ersetzt. Das Ei wird künstlich stimuliert, sich zu einem Embryo weiter zu entwickeln. Die Forscher wollen dann Stammzellen entnehmen, die die Fähigkeit besitzen,

31

sich in jeden Zelltyp des menschlichen Körpers zu verwandeln. Wilmut vom Roslin Institute bei Edinburgh und Christopher Snow vom Institute of Psychiatry in London wollen Zellen von Patienten mit der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) klonen, unter der beispielsweise der britische Physiker Stephen Hawking leidet. An den aus diesen Zellen hergestellten Embryos will Wilmut erforschen, wie sich die Krankheit entwickelt. SPIEGEL ONLINE 08.02.05

Der mühsam konstruierte, aber nur semantische Unterschied zwischen des »reproduktivem« und »therapeutischen« Klonen wurde jedoch aufgehoben, als ein Reproduktionsmediziner erklärte, für ihn sei reproduktives Klonen bei Unfruchtbarkeit eines Ehepaares ein therapeutisches Klonen. Zu befürchten ist nach aller bisherigen Erfahrung mit zunächst einschränkenden Sicherheitsklauseln: Ist erst einmal eine Gendatenbank für einen kleinen Personenkreis, wie es sie bereits seit 1998 mit bisher über 100.000 Einträgen von Tätern aus Sexualdelikten, schwerer Körperverletzung, Raub und Erpressung gibt, erstellt, wird sie auch für einen größeren Personenkreis gefordert und für andere Zwecke genutzt werden! In seinem Volkszählungsurteil hat das BVerfG aus dieser Einsicht heraus das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbalisiert und wegen der mit einer umfangreichen Datenerfassung gesehenen Gefahren eines Orwell’schen Überwachungsstaates für die Selbstbestimmung des Bürgers das Gesetz verboten: Das Menschenbild des Grundgesetzes wolle nicht den »gläsernen Menschen«; ein Beispiel dafür, dass die Maßstäbe der jeweils in einer Gesellschaft geltenden Ethik dem Recht vorgelagert sind, die Grundlagen des Rechts sich aus den in einer Gesellschaft geltenden ethischen Normen ergeben. Der Datenschutz wurde vom BVerfG als ein so hochrangiges Prinzip beurteilt, dass die in meinen Augen vergleichsweise harmlosen Fragen der Volksbefragung nach z.B. Alter, Geschlecht, Familienstand, Wohnungsgröße, Eigenheim oder Mietobjekt, ... wegen ihrer in der Kombination der Antworten gemutmaßten Ausforschungsmöglichkeiten nicht zugelassen wurden. Darum hat das BVerfG dem befürchteten potenziellen Ausforschungsdrang von Anfang an einen Riegel vorgeschoben. Mich hätte es nicht gestört, wenn die Volkszählungsdaten so erhoben worden wären, wie das Parlament es in dem Gesetz einstimmig beschlossen hatte. Ich hatte da nichts zu verbergen und fühlte mich in meiner Blauäugigkeit von keiner der streng vorgegebenen Fragen weder ausgeforscht noch in meiner persönlichen Freiheit eingeschränkt oder gar bedroht, weil ich keine mich tangierende Missbrauchsmöglichkeit zu erkennen vermochte. Aber wenn jetzt von allen (zunächst nur) männlichen Bürgern Daten über ihre Genstruktur und ihre möglichen Gendefekte erfasst werden sollten, dann schaudert es mich doch vor den sich daraus ergebenden Missbrauchsmöglichkeiten! Gläserner als durch das Erfassen seiner Genstruktur kann ein Mensch ja nicht gemacht werden, solange Gedankenkontrolle à la (des echten) Big Brother(s) technisch nicht realisierbar ist. Bei der Qualität, die dem Datenschutz beigemessen wird, ist es mir nicht denkbar, dass das BVerfG dem nach CSUArt wohl mehr aus populistischen Erwägungen heraus gemachten Vorschlag seinen verfassungsrechtlichen Segen erteilen und eine solch einschneidende Datenerfassung ohne jeglichen Anfangsverdacht zulassen könnte. Das verstieße auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem jegliches staatliche Handeln unterliegt. Das BVerfG müsste dazu die Prinzipien seiner gesamten bisherigen Rechtsprechung aufgeben! Das weiß der rechtspolitische Sprecher der CSU-Fraktion als ausgebildeter Jurist aber auch selber; trotzdem brachte er diesen Vorschlag in die politische Tagesdiskussion. Die neueste Version einer von Kritikern so gesehenen alle Bürger betreffenden Ausforschungsmöglichkeit ist der Medikamenten- oder Arzneimittel-Pass auf einer Chipkarte, dessen Einführung einen Monat nach dem LipobayDebakel im August 2001 in einer Vereinbarung zwischen der Gesundheitsministerin einerseits und Krankenkassen-, Ärzte- und Apothekenvertretern andererseits grundsätzlich beschlossen wurde. Man hofft, durch einen solchen Chipkarten-Pass, auf dem die durch welchen Arzt auch immer vorgenommene individuelle Medikation des jeweiligen Passinhabers dokumentiert werden soll, zum Tode führende Unverträglichkeitsreaktionen zwischen Wirkstoffen aus verschiedenen Medikamenten, die von verschiedenen Ärzten ohne Wissen von der Anordnung des Kollegen vorgenommen wurde, weitgehender als bisher ausschließen zu können, indem die fachkundigen Apotheker die dann auf der Chipkarte gespeicherten Verordnungen aller den Patienten behandelt habenden Ärzte auf Unverträglichkeiten hin überprüft werden. Von Seiten der Krankenkassenvertreter scheinen außerdem zunächst auch abrechnungstechnische Wirtschaftlichkeitsüberlegungen eine Rolle zu spielen, bis die Krankenkassenvertreter dann umschwenkten. Der Datenschutzbeauftragte des Bundes sprach sich sofort gegen einen solchen Arzneimittel-Pass aus: Durch die Dokumentation der verordneten Arzneimittel sei immer ein Rückschluss auf den bisherigen Gesundheitsverlauf möglich und Missbrauch dieser Information durch unbefugte Dritte nie auszuschließen. Diesem Argument hielt die Gesundheitsministerin - mit sicher weniger Fachwissen um die Missbrauchsmöglichkeiten EDV-gestützter Datenerfassung als sie der Datenschutzbeauftragte hat – entgegen, dass sich „... Daten so sichern lassen, dass eine Missbrauchsmöglichkeit ausgeschlossen ist. Der Patient muss seinen Pass nur sicher verwahren.“ Warum

32

wird Frau Schmidt dann nicht zur Datenschutzbeauftragten des Bundes ernannt, wenn sie glaubt, sich anheischig machen zu können, über größeres EDV-Fachwissen als der Datenschutzbeauftragte zu verfügen? Ist das nur der Unterschied in der Bezahlung des Postens? Doch wohl eher fehlendes Sachwissen im EDV-Bereich! Davon abgesehen sind durch das Zusammenwirken des den Cholesteringehalt des Blutes senkenden und allein verordnet lebensrettenden Medikamentes Lipobay mit einem anderen Medikament aus einer bestimmten Wirkstoffgruppe auf Grund der Unverträglichkeit der in dem jeweils anderen Medikament enthaltenen Hauptwirkstoffe weniger als ein Hundertstel – letzte Schätzungen rechnen zurzeit mit rund 50 mit Lipobay in Zusammenhang bringbaren Toten auf Grund von durch die Nebenwirkungen der beiden Mittel verursachter Muskelschwäche - so viele Leute gestorben wie nach der Einnahme des Potenzmittels Viagra. Und das wird weiter rasend gekauft. Bei der zunehmenden Vergreisung der westlichen Industriegesellschaften und den damit verbundenen Potenzproblemen wird es mit Sicherheit auch weiterhin mindestens so zahlreich gekauft werden wie bisher, ohne dass irgend jemand wegen der mit der Einnahme des Potenzmittels verbundenen wesentlich höheren Lebensgefahr eine Schadensersatzklage angestrengt hätte. So wird letztlich das BVerfG die Gefahren aus möglichen Medikamentenunverträglichkeiten mit der durch die Einführung eines Arzneimittel-Passes verbundenen Gefahr für das aus Art. 1 GG abgeleitete - aber nicht schrankenlos - gewährleistete Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzuwägen haben. Einschränkungen des Individualrechts auf informationelle Selbstbestimmung muss jeder Bürger dann hinnehmen, wenn Gründe des überwiegenden Allgemeininteresses als diesem Recht entgegenstehend angesehen werden. Diese Gründe sind gesetzlich zu regeln. Aus dem entsprechenden Gesetz müssen die Voraussetzungen für die Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und ihr an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messender Umfang klar erkennbar sein. Das alles ist im zuständigen Senat des BVerfGs nach ganz individueller Sichtweise des einzelnen Verfassungsrichters abzuwägen. Als (vorläufiges) Recht gilt dann immer, was das BVerfG – teilweise nur mit Stimmengleichheit der acht Richter ablehnend – entscheidet. Solange ein demokratisch zustande gekommenes Gesetz gilt, muss es von uns, auch wenn wir uns durch seine Anwendung benachteiligt wähnen oder es tatsächlich auch sind, im Prinzip (eher mehr als minder) befolgt werden, um der zwingenden Macht des ansonsten momentan gerade Stärkeren oder der sonstigen Willkür eines gesetzlosen Zustandes vorzubeugen. Nur ganz selten wird ein von der gesellschaftlichen Entwicklung als überholt angesehenes Gesetz vor seiner Abschaffung ausnahmsweise nicht mehr angewandt. Im Falle der damals auslaufenden früheren rigorosen Strafbarkeit der Abtreibung ging es teilweise so weit, dass sogar eine größere Anzahl von Strafrichtern die damals noch nicht geänderten Bestimmungen über die Strafbarkeit der Abtreibung nicht mehr anwandten, weil sie sie als nicht mehr dem »Recht« entsprechend empfanden. Das war ein einmaliger Vorgang! Es bleibt denjenigen, die sich durch eine bestimmte gesetzliche Regelung über Gebühr belastet fühlen, unbenommen, auf den nach den Spielregeln unserer Verfassung dafür vorgesehenen, oft mühseligen Wegen für eine Änderung einer als ungerecht empfundenen gesetzlichen Regelung zu kämpfen - die für den Kämpfenden selbst dann oft zu spät kommt! »Recht« und »Gesetz« sind keine anbetungswürdigen Götzen, sondern Instrumente zur Gestaltung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens mit teilweise (zu) starken Beharrungstendenzen. Dann muss notfalls gekämpft werden. Mit dem durch die Lektüre des Buches hoffentlich erworbenen Gespür für Recht und Gesetz werden nach der Grundlegung Ausblicke auf einige künftig zu regelnde Bereiche vorgenommen, von denen mir einer der wichtigsten der Bereich Recht und Biologie/Medizin zu sein scheint. Können Sie sich vorstellen, dass als bislang »neuester Schrei« der biomedizinischen Forschung 2003 eine Möglichkeit entdeckt wurde, Kinder zu erzeugen, deren Mütter nie geboren wurden? Damit Sie wegen dieser Andeutung nicht an Ihrem Verstand irrewerden, bevor Sie das Kapitel Recht und Medizin lesen konnten, hier die Auflösung: Israelische Forscher entwickelten eine Methode, Babys aus den Eizellen abgetriebener Embryos zu züchten. Die biologische Mutter so erzeugter Babys ist nie geboren worden! So eine sich andeutende Entwicklung muss rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen! Weil man Neues am besten einordnen kann, wenn man Bezugspunkte zu schon Bekanntem hat, wurden viele Zeitungsartikel abgedruckt, die jeder Normalbürger so oder ähnlich in einer guten Tageszeitung hätte gelesen haben können, wie sie mir als regionale Tageszeitung im »Hamburger Abendblatt« (HH A), dem die meisten Meldungen entnommen sind, zur Verfügung stand. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, als gutwilliger Leser dieses Buches nicht gleich mit teilweise sehr unverständlich abgefassten Paragraphen und Fachartikeln konfrontiert oder »erschlagen« zu werden. (Ohne Anführungszeichen wäre es eine im Buch „Einführung in das Strafrecht der

33 Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten“ abzuhandelnde Straftat.) Dieses Buch soll ja möglichst allgemeinverständlich bleiben. Es wurde nicht zum Weglegen geschrieben - dafür hat es wirklich zu viel jahrelang aufgewandte Mühe gekostet, es zu schreiben und über die Jahre aktuell zu halten -, sondern zum Lesen, Informieren und eventuell sogar ein bisschen zum Lernen. Die meisten sozialen Phänomene können von verschiedenen Seiten gesehen werden. Die jeweilige Sichtweise spiegelt sich dann natürlich auch in den Zeitungsmeldungen wider. Die verwendeten Zeitungsmeldungen sollen darum u.a. auch die unterschiedlichen Argumente und Sichtweisen deutlich machen. Wer allerdings schon allein ein sich informierendes Befassen mit dem Problem und der Bedeutung des »Rechts« für eine Gesellschaft für genau so interessant hält, wie Farbe beim Trocknen zuzuschauen, wäre der falsche Leser.

Vielen Dank, dass Sie weiterlesen wollen. Vielleicht haben Sie ja auch einige der in diesem Buch wiedergegebenen Meldungen »damals« mit einem Achselzucken überflogen, weil Sie sie nicht richtig einordnen konnten. Das kann an dem manchmal verkürzenden und dann jeder Sachlogik widersprechenden oder juristisch unqualifizierten Geschreibsel des Nachrichtenredakteurs gelegen haben. Der Sachlogik widerspricht z.B. die Meldung: „Kranken verloren dpa Neapel – Ein 81 Jahre alter Italiener ist in Neapel auf dem Weg ins Krankenhaus aus einem Ambulanzwagen gestürzt. Bei einem Bremsmanöver hatte sich die hintere Tür geöffnet. Der Patient fiel samt Trage aufs Pflaster und starb.“ (HH A 14.12.00) Nach meinen inzwischen sehr rudimentären Physikkenntnissen – meine Schulzeit liegt inzwischen mehr als 40 Jahre zurück - geht das gar nicht! Beim Bremsen drängt die abgebremste Masse nach vorne. Deshalb wurde ja die Gurtpflicht eingeführt. Durch den angelegten Gurt werden die beim Abbremsen nach vorne schießenden Insassen zurückgehalten, damit sie nicht z.B. mit Tonnengewicht durch die Scheibe geschleudert werden! Die Physik gilt aber gleichermaßen für Autoinsassen auf Sitzen wie auf Tragen! Beim Bremsen kann sich somit gar nicht eine hintere Tür geöffnet haben, der Verletzte kann gar nicht beim Bremsen nach hinten rausgefallen sein! Einen solchen Fall könnte man darum auch nicht in der vorstehenden Form in das Buch »Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten« als Beispielsfall für eine fahrlässige Tötung aufnehmen. Ich müsste in diesem Falle die Meldung dafür erst sachdienlich umschreiben in: „... Beim Wiederanfahren nach einem Bremsmanöver ...“, verwende in meinen Büchern die Fälle aber nach Möglichkeit gerne so, wie sie mitgeteilt wurden. Als studierter Historiker mache ich zu meiner diesbezüglichen Exkulpation eine Anleihe bei dem „Relata refero“ meines Kollegen Herodot, der in seinem Geschichtswerk (7/152) schrieb: „Ich bin darauf angewiesen, Berichtetes zu berichten; aber ich brauche es nicht in allem zu glauben.“ Neben sachlogischen Fehlern gibt es auch noch juristische Fehler in der Berichterstattung, die ein Verstehen unmöglich machen, wenn man eine solche »Falschmeldung« für wahr nimmt: „Bruder gerächt afp ULM – Aus Rache für den Tod seines Bruders (21) hat ein Mann (22) einen Ulmer Staatsanwalt (54) in seinem Büro zusammengeschlagen. Er erlitt Prellungen und Platzwunden. Hintergrund: Der Staatsanwalt hatte den 21jährigen wegen Mordes verurteilt. Er nahm sich in der Zelle das Leben.“ (HH A 09.11.95) Ähnlich juristisch falsch: „Daniel Kübelböck: Anklage des Landshuter Gerichts zugelassen“ (Überschrift einer Meldung der sternshortnews vom 25.05.04)

Na, den juristischen Falschmeldungen aufgesessen oder die Fehler gleich gefunden? Man überliest sie sehr leicht. Und damit Sie nicht aus diesem Grund erst mein anderes Buch »Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten« durcharbeiten müssen, hier die Auflösung: Ein Mensch kann zwar u.a. auch durch die öffentliche Meinung »verurteilt« werden, und auch das kann seelisch äußerst schmerzhaft sein, aber im juristischen Sinne verurteilen, d.h., mit einer Kriminalstrafe belegen, das kann nur der (Straf-)Richter „im Namen des Volkes“ auf Grund der ihm von dem »das Volk«

34

repräsentierenden Staat dazu verliehenen Rechtsmacht. Die Aufgabe des Strafverfolgungsorgans Staatsanwaltschaft hingegen ist es, einen ausermittelten Lebenssachverhalt, wenn für den bearbeitenden Staatsanwalt darin strafwürdiges Verhalten, Kriminalunrecht, enthalten zu sein scheint, bei einem Gericht zur Anklage zu bringen. Ein Staatsanwalt beurteilt einen zu Aktenpapier geronnenen Lebenssachverhalt und reicht ihn bei Gericht in Form einer Anklageschrift zur Aburteilung des von ihm so gesehenen Straftäters ein, aber nur ein Richter kann einen Menschen, der sich ihm vielleicht auch nur irrtumsbefangen - als Straftäter dargestellt hat, verurteilen. Solche juristisch falschen Meldungen erschweren natürlich das aufkeimende Rechtsverständnis von Nichtjuristen: Sei es, dass Sie den Fehler einer Meldung gar nicht erkannt haben, dass Sie intuitiv das eigentlich Gemeinte richtig aufgenommen haben und sich nun beim Lesen der Meldung irritiert fühlen oder weil Sie mit einer Zeitungsmeldung nichts anfangen konnten, da Ihnen das für die Einordnung der Zeitungsmeldung als Fehler notwendige Sachwissen fehlte. Mir fehlt z.B. die Sachkenntnis zu beurteilen, ob die nachfolgende Meldung stimmt: „Siebenfacher Mord afp Auxerre – Vor 20 Jahren verschwanden sieben junge Frauen in Frankreich. Jetzt hat der Fahrer ihres Behindertenbusses gestanden, sie ermordet zu haben. Der Triebtäter (66) kann aber nur noch wegen Freiheitsberaubung bestraft werden. Die Morde sind verjährt.“ (HH A 16.12.00) Eine solche Meldung soll richtig sein? Da stutze ich: Mord soll in Frankreich schneller verjähren 7 als Freiheitsberaubung? Das kann ich einfach nicht glauben! Ich glaube zunächst einmal lieber meinem kritischen Verstand und verbuche diese Meldung bis zum Beweis des Gegenteils für mich darum in der Kategorie »juristische Falschmeldung«. Eine weitere Meldung juristischen Gehaltes, die für so bedeutend angesehen wurde, dass sie abgedruckt wurde, die aber selbst ich als Jurist wegen ihrer verkürzten Darstellung nicht einordnen kann, ist die nachfolgende: „Prostituierte muß Geld zurückzahlen Karlsruhe – Eine Prostituierte, die von einem betrügerischen Beamten aus der Staatskasse bezahlt wurde, muss 8200 Euro zurückzahlen. Der Bundesgerichtshof bestätigte ein Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe (Az.: III ZR 38/04). (dpa)“ (HH A 22.10.04) Vor 50 Jahren musste ich als Schüler Aufsätze mit der Beantwortung u.a. der Standardfrage schreiben: „Was hat der Autor uns damit sagen wollen?“ Diese Frage stellt sich bei dieser verkürzten Meldung wieder: Wegen welchen juristischen Gehaltes ist die Meldung gedruckt worden? Das OLG antwortete nicht auf meine diesbezügliche Nachfrage. Natürlich ahne ich als Jurist die »juristische Ecke«, in die die Meldung zielt. Es wird § 935 II BGB sein. Doch bevor ich mit meiner Erklärung ansetzen kann und Sie anschließend zum Mitdenken und Wundern auffordern werde, müssen Sie zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass der Gesetzgeber des BGB bei der Regelung des Sachenrechts sehr genau zwischen „Eigentümer“ und „Besitzer“ unterscheidet. Das macht auch Sinn, denn wer z.B. eine Wohnung mietet, wird damit längst nicht Eigentümer dieser Wohnung. Er ist »nur« Besitzer; allerdings in einer so starken Rechtsposition, dass er den Eigentümer während der Zeit der vereinbarten Mietdauer vom Gebrauch und der Nutzung der Mietsache ausschließen kann: der Eigentümer kann nicht nach Belieben einfach kommen und das Bade- oder Schlafzimmer inspizieren – oder gar benutzen! Für eine aus sachlichen Gründen angebrachte Inspektion muss er sich anmelden. Der Besitzer ist also berechtigter Nutzer der Mietsache auf Zeit, aber er ist und wird durch den Abschluss des Mietvertrages nicht »Eigentümer auf Zeit«, denn dann brauchte er ja anschließend keinen „Mietzins“, wie die Juristen die monatliche Mietpreiszahlung nennen, zu zahlen. Das man von einem Eigentümer eine Sache erwerben kann, ist klar. Das macht man bei jedem Brötchen- oder Autokauf. Brötchen sind meist nicht ganz so wichtig wie ein schickes Cabriolet. Darum ist ein Brötchenkauf unproblematischer abgewickelt. Bein Autokauf hingegen gibt es einen Kfz-Brief – ich spreche nicht von dem Kfz-Schein – in den der jeweilige Eigentümer eingetragen wird. Wenn z.B. ein Käufer den Wagen nicht aus seinem Ersparten bezahlt, sondern zur Finanzierung des Traumwagens bei einer Bank einen Kredit aufnimmt, um den Kauf mit Fremdmitteln zu finanzieren, dann behält die Bank für die Zeit der Darlehensgewährung den KfzBrief als Eigentumsnachweis des ihr zur Besicherung des Darlehens abgetretenen Kfzs ein. Der bei ihr zum Kauf 7

Siehe dazu auch die Zeitungsmeldung „Geständnis“ in Punkt „2.10.7 Rechtssicherheit und Verjährung im Strafrecht“, in der mitgeteilt wird, dass die Verjährungsfrist für Mord in Frankreich von vormals 15 Jahren heraufgesetzt worden sei. Auf eine »krumme« Jahreszahl unter 20, 16-19 Jahre? Das kann ich mir nicht vorstellen.

35

des Wagens einen Kredit aufnehmende Kunde erhält nur den Kfz-Schein und hat damit die Vermutung auf seiner Seite, dass er das Kfz berechtigterweise nutzt. Soweit zum Erwerb einer Sache vom Eigentümer. In den §§ 929-934 BGB wird nun zunächst geregelt, dass ein gutgläubiger Erwerb einer Sache von einem Dritten, der nicht Eigentümer ist, sondern die Sache nur in Besitz hat, grundsätzlich auch möglich sein soll. Ein Beispiel für eine der im 3. Buch des BGB „Sachenrecht“ unter „Erwerb und Verlust des Eigentums an beweglichen Sachen“ geregelten Konfliktfälle: Jemand leiht einem anderen etwas – und der Mistkerl verhökert die Sache unerlaubterweise unter der Hand weiter. Soll der bisherige Eigentümer, ohne dass er es wollte, sein Eigentum verlieren und ein gutgläubiger Käufer, der den Veräußerer für den rechtmäßigen Eigentümer hält und halten durfte, die Sache behalten dürfen, oder muss der Käufer die Sache trotz seiner Gutgläubigkeit wieder rausrücken und meist auch noch den Kaufpreis abschreiben, weil von solchen Leuten üblicherweise eh nichts zu holen ist? Sinn der Regelung des grundsätzlich möglichen gutgläubigen Erwerbs: Man muss nicht bei allen Sachen, die man von jemandem kauft, unbedingt nachforschen, ob der Verkäufer auch wirklich der Eigentümer ist, muss sich nicht von allen Sachen, die man z.B. auf einem Flohmarkt kauft, den Kaufbeleg vorlegen lassen. Das würde den Rechtsverkehr zu sehr erschweren. Diesen Konflikt des fraglichen gutgläubigen Erwerbs durch den Käufer lösten die Verfasser des BGB dahingehend, dass sie überlegten: Wer ist in dieser Fallkonstellation schutzbedürftiger, der Eigentümer, der ja denjenigen kennt, dem er eine Sache ausleiht oder der Käufer, der nur die Ware sieht und den Charakter des Verkäufers nicht unbedingt einzuschätzen vermag. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es in einer solchen Fallkonstellation am fairsten sei, wenn bei gutgläubigem Erwerb der Käufer in seinem guten Glauben geschützt werde. Der gutgläubige Erwerb einer Sache wird darum rechtlich grundsätzlich auch dann zugelassen, wenn der Kaufgegenstand nur in den Besitz des Verkäufers gelangt ist, z.B. durch Übergabe vom Eigentümer an ihn, ohne dass der Besitzer auch Eigentümer wurde. Und wenn nun die verkaufte Sache ungewollt aus dem Besitz des Eigentümers gelangt ist, wenn er sie nicht dem Besitzer übergeben hat und gar nicht weiß, dass der die Sache in seinem Besitz hat? Wie soll dieser Konflikt dann entschieden werden? Klar ist die Sachlage natürlich, wenn man eine Sache nicht in einem staatlich konzessionierten Pfandhaus, sondern bei einem Hehler kauft: da weiß man, dass die zum Erwerb lockende Sache geklaut worden und deshalb unrechtmäßig in dessen Besitz gelangt ist. Ähnlich wurde die Konfliktsituation nach dem Motto: „Trau’ schau’ wem“ für den Fall gelöst, dass der Eigentümer die Sache freiwillig aus seinem Verfügungsbereich herausgegeben hatte: selbst Schuld, wenn er seine Sachen einem unsicheren Kantonisten gibt! Anders wird die Sachlage beurteilt, wenn ein Eigentümer eine Sache z.B. verloren hat, jemand sie findet und sie dann unredlicherweise verkauft, anstatt sie zur Polizei oder zum Fundbüro zu bringen. Da wird die Konfliktlage nach dem »Näher-dran-Prinzip« zu Gunsten des Eigentümers entschieden: der Eigentümer weiß bei Verlust nicht, welcher dubiose Mensch sein Eigentum findet. Der einzige, der die Möglichkeit eines abschätzenden Blicks auf den unrechtmäßigen Verkäufer hat, ist der Käufer; darum wird dem das juristische und damit letztlich das finanzielle Risiko des vielleicht fraglichen Eigentumerwerbs aufgebürdet. War der (nicht immer dubios auftretende) Verkäufer nicht der Eigentümer, muss selbst der gutgläubige Käufer dem Eigentümer die Sache zurückgeben und ist sein Geld los; es ist seine Sache zu sehen, ob er es von dem unrechtmäßigen Verkäufer zurückerlangen kann. Das Gesetz hält den Eigentümer für schutzwürdiger als selbst einen gutgläubigen Erwerber! Weil insbesondere ein bösgläubiger Käufer nicht geschützt werden muss, regelt § 935 I BGB, dass es keinen gutgläubigen Erwerb von Sachen geben soll, „… wenn die Sache dem Eigentümer gestohlen worden, verlorengegangen oder sonst abhanden gekommen war. …“ Ein gutgläubiger Käufer kann höchstens ein gutgläubiger Besitzer auf Zeit werden! Soweit die »Ouvertüre«. § 935 II BGB führt nun noch ein anderes Motiv in das Kunstwerk „Recht“ ein. Die neue Melodie lautet: „Diese [im Gesetz vorgenannten; der Verf.] Vorschriften finden keine Anwendung auf Geld, Inhaberpapiere sowie auf Sachen, die im Wege öffentlicher Versteigerung veräußert werden.“ Das geschieht aus Gründen des Verkehrsschutzes u.a. zur Erleichterung des Zahlungsverkehrs: Man soll z.B. bei den völlig identischen Geldscheinen nicht prüfen müssen, wer der rechtmäßige Besitzer des jeweiligen Geldscheins mit der Seriennummer XYZ ist! Da wird der Erwerber neuer Eigentümer. Und nun lesen Sie noch einmal die meine vorstehenden luziden Ausführungen auslösende Zeitungsnotiz und wundern sich mit mir: „Prostituierte muß Geld zurückzahlen Karlsruhe – Eine Prostituierte, die von einem betrügerischen Beamten aus der Staatskasse bezahlt wurde, muss 8200 Euro zurückzahlen. Der Bundesgerichtshof bestätigte ein Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe (Az.: III ZR 38/04). (dpa)“ (HH A 22.10.04) Da scheint der BGH ja geradezu »contra legem«, gegen den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes entschieden zu

36

haben! Zwar hatte schon das Reichsgericht, der Vorläufer des BGH, in der Sache RG 103/288 entschieden, dass die Bestimmung des § 935 II BGB obsolet sei – damit meinen die Juristen, dass eine entscheidungserhebliche Bestimmung in einer bestimmten Fallkonstellation nicht angewandt werden dürfe -, wenn auf Seiten des Erwerbers Bösgläubigkeit vorliege; aber ich weiß im Moment des Tippens ohne eine Möglichkeit des Nachschlagens in einer juristischen Bibliothek nicht, ob sich die Entscheidung damals vielleicht auf „Inhaberpapiere oder auf Sachen, die im Wege öffentlicher Versteigerung veräußert werden“ bezog. Jedenfalls verblüfft es, wenn jetzt das OLG Karlsruhe entschieden hat, dass eine »Gunstgewerblerin« - auch so ein schickes juristisch um „political correctness“ bemühtes umständliches Wort – einen bestimmten (Teil-?)Betrag zurückzahlen muss, die die Entlohnung für ihre hoffentlich schönen und erfolgreichen Bemühungen um Kundennähe von einem „betrügerischen Beamten aus der Staatskasse“ erhalten hat: Wer geht denn zu einer Dame des horizontalen Gewerbes und gibt ihr Geld – die Damen verlangen ja immer Vorkasse; damit kein falsches Gerücht aufkommt: das weiß ich nur aus meiner Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft und als Strafverteidiger(!) – und sagt ihr, bevor er sie auffordert, »die Beine breit zu machen« oder sich sonst wie um ihn zu bemühen: „Das Geld, das du von mir erhalten hast, habe ich geklaut, um, notgeil wie ich bin, von dir eine Triebabfuhr zu erhalten, weil ich einen Krampf in der Hand habe“ oder es mir aus sonst welchen anderen Gründen nicht selbst machen will. Die Männer, die dorthin gehen, lassen doch eher den »großen Macker raushängen« - selbst wenn der in Wirklichkeit recht klein geraten sein sollte! Da muss eine solche Zeitungsmeldung erstaunen. Leider werden die zum Verständnis erforderlichen Hintergrundinformationen nicht mitgeliefert. Ohne den Hinweis auf den „betrügerischen“ Beamten hätte man vermuten müssen, dass es sich um eine vom Gesetzgeber so genannte „Schlechtleistung“ gehandelt haben könnte, die zur Erstattung verpflichtet, weil die Dame die ausgehandelte Leistung nicht „in mittlerer Art und Güte“ erbracht habe. Ich kann also teilweise auch aus zu geringem juristischen Wissen heraus nicht alle mir interessant erscheinenden Meldungen und Berichte aus Tageszeitungen oder anderen Publikationen, in den letzten Jahren darüber hinaus verstärkt aus dem Internet, vor Ihnen ausbreiten, um Sie, wie ein routinierter Angler, mit einem guten Köder anzufüttern, damit Sie bei der Lektüre Ihrer Zeitung auch bei Artikeln mit juristischem Hintergrund nach Wissensbeute schnappen. Aber die Artikel, die ich ausgewählt habe, weil sie in den Kontext dessen passen, was ich Ihnen durch dieses auf meinem PC ständig wachsende Buch nahe bringen möchte, sollten möglichst schon etwas herausragend skurril sein, damit Sie sich die Problematik besser einprägen können. Natürlich hätte ich die von mir verwandten Zeitungsmeldungen auch selbst umschreibend und nicht im Originalwortlaut mitteilen können. Aber dann wäre der Stoff teilweise nicht so plastisch darzustellen gewesen und vor allen Dingen hätte ich dann mein anderes vorrangiges Ziel nicht erreicht, Ihnen die Vorbehalte oder gar Angst gegenüber Zeitungsartikeln mit juristischem Gehalt zu nehmen, wie es mir nach der Lektüre des Buches hoffentlich gelungen ist! Zu tief dringe ich selbstverständlich auch nicht in die jeweilige juristische Materie ein. Sie sollen beim Lesen des Buches ja kein Fernstudium in Juristerei absolvieren, sondern möglichst vergnüglich in die Materie des Rechts eingeführt werden: nicht mehr, aber auch nicht weniger! Hoffentlich können auch Sie nach der Lektüre dieses Buches freudig erleichtert ausrufen: „Mami, Mami, er hat gar nicht gebohrt!“ Um unterhaltsam zu sein und Sie auch mit Hintergründen, Entwicklungslinien und Auswirkungen bekannt zu machen, die nur noch entfernt etwas mit der heutigen Juristerei zu tun haben, habe ich teilweise auch ein wenig jenseits der manchmal trockenen Juristerei geplaudert. Wenn ich z.B. den historischen Hintergrund des Falles Galilei ausführlich dargestellt habe, so geschah das nicht, weil der Historiker in mir mit mir durchgegangen wäre – ich hätte mich durchparieren und streng an die Kandare nehmen können -, sondern um u.a. an diesem Beispiel deutlich zu machen, welchen Einfluss »die Religion« mittels des Rechts auf die wissenschaftliche Erkenntnis und die konkrete Ausgestaltung der Lebensumstände genommen hat – damit Sie dafür sensibilisiert werden, wie und dass auch heute noch »die Religion« insbesondere in »letzten« Entscheidungen und deren juristischer Ausgestaltung bei z.B. der künstlichen Befruchtung, dem Klonen, in der Frage der Abtreibung, der Homo-Ehe, der Sterbehilfe, … eine gewichtige Rolle spielt oder sie unangemessenerweise zu spielen versucht. Nun werden in diesem Buch solche in Zeitungen gesammelten Meldungen und Berichte ein bisschen aufbereitet und dadurch in einen juristischen Zusammenhang gestellt, der ihr Verstehen erleichtern soll. Allerdings birgt meine Art des Vorgehens bei der Abfassung dieses Buches die grundsätzlich mögliche Fehlerquelle, dass ich das Geschehen, über das in einer Meldung berichtet wird, für wahr unterstelle, unterstellen muss. Ich kann dabei aber auch ohne weiteres einer »Ente« aufgesessen sein. Das sehen Sie mir dann bitte nach. Ganz ohne Paragraphen und Gesetzesartikel - die in einem juristischen Text herumschwirren können wie die Fliegen in einem Kuhstall: vielleicht ganz sinnvoll, aber für den nur erste Orientierung und maximal einen groben

37 Überblick suchenden Leser sehr lästig – geht es nicht, wenn man sich in juristische Überlegungen einarbeiten will. Weil es aber unzumutbar wäre, sich all die angesprochenen Gesetze als Begleitlektüre bereitzulegen, wurden die jeweils einschlägigen Bestimmungen in den Text eingearbeitet; doch zusätzlich der Text unserer Verfassung wäre schon ganz hilfreich. Der Lehrer, der zunächst sich selber informieren und dann als »Multiplikator« anhand dieses Buches seine Schüler in den Bereich des Rechts einführen möchte - und dabei Hilfestellung zu geben, ist ein weiteres vordringliches Anliegen dieses Buches - sollte die mitabgedruckten Quellen als Materialsammlung ansehen. Sie sind durchaus als Arbeitsmaterialien einsetzbar. Als Beispiel seien die "Erklärung der Menschenrechte" oder die Zeitungsmeldungen über Vorstellungen von »Recht« in anderen Kulturkreisen genannt. Das manchmal angegebene Fazit sollte bei Verwendung der Materialien im Unterricht durch von den Schülerinnen und Schülern zu bearbeitende Fragen von ihnen selbst erarbeitet werden. Es weist auf wesentliche Grundeinsichten hin, deren Anzahl ständig erweitert werden kann und muss. Um aufzeigen zu können, dass viele Rechtsgedanken und viele Gedanken zum Recht teilweise Jahrtausende altes, bis auf »die alten Griechen« zurückgehendes gemeinsames abendländisches Kulturerbe der sich in länderübergreifender geistiger Auseinandersetzung gegenseitig angeregt habenden, vom »abendländischen Geist« geprägten Philosophenschulen und Vertretern aller philosophischer Denkrichtungen sind, sozusagen zur »europäischen Leitkultur« mit gemeinsamen Leitwerten gehören - gegen die dann in den vielen untereinander ausgefochtenen Kriegen auf diesem und den anderen Kontinenten, in all den religiös oder ideologisch geprägten Barbareien und all der Gier nach fremdem Land und fremdem Reichtum von den Kreuzzügen über die Inquisition, in Glaubenskriegen, Eroberungen anderer Erdteile mit Zwangschristianisierung, Versklavung und Ausrottung der dort zuvor ansässigen Bevölkerung in Amerika, Afrika und Australien bis zu den vielen Judenpogromen über alle Länder Europas mit zuletzt der durch Nazi-Deutschland industriell betriebenen Judenvernichtung permanent verstoßen wurde -, arbeitete ich aus einer Weltgeschichte der Philosophie in ComicForm die zentralen Aussagen der dort erfassten Denkschulen und einzelnen Philosophen hier mit ein. Immer wenn nach Überwindung einer großen Barbarei ein geistig-kultureller Neuanfang gesucht wurde, griff man auf diese teilweise schon seit Jahrtausenden gedachten und weiterentwickelten Gedanken zu den Grundzügen des Rechts zurück. Um die Lesbarkeit des juristischen Gehaltes dieses Buches - und hoffentlich damit die Freude an ihm - zu erhöhen, wurden nicht nur über lange Jahre gesammelte Aussprüche, Zeitungsmeldungen und –artikel verwandt, sondern ich kaufte mir zur Schlussüberarbeitung auch zwei Zitatenhandbücher, um dort nachschlagen zu können, was (andere) kluge Menschen zu den hier behandelten grundsätzlichen juristischen Problemen durch gründliches, tiefes Nachdenken an Einsichten gewonnen haben und welche schönen Formulierungen ihnen durch Geistesblitze dazu eingefallen sind. So kann und so soll deutlich gemacht werden, dass die Entwicklung des Rechts eine Jahrtausende alte, von vielen Generationen getragene und weiterentwickelte Kulturleistung ist, von der sich niemand – auch nicht durch eine die bis dahin geltenden Werte umstürzende Revolution, und das heißt immer auch von allen Werten der bis dahin geltenden Rechtsordnung - gänzlich abkoppeln kann. Wenn mir etwas bedenkenswert oder zutreffend und darüber hinaus schön formuliert dünkte, flickte ich es – wie auch alle während der Abfassung des Buches neu aufgetretenen und für erwähnenswert gehaltenen Fakten und Problemstellungen, wie z.B. Medizin und Recht hinsichtlich der uns in ihrer Entwicklung überrollenden Möglichkeiten der Gentechnologie - an der mir am passendsten dünkenden Stelle ein. Das kann hin und wieder zu kleineren Verwerfungen geführt haben, hat aber hoffentlich zu keinem Bruch in der Darstellung des mit dem Tagesgeschehen wachsenden Manuskriptes geführt. Neuere Vorkommnisse in ein lange fertiges Manuskript einzuflicken, ist – wie jeder eingesetzte Flicken – immer etwas problematisch. Das Buch ist nicht mehr aus einem Guss gefertigt, sondern in all den Jahren zu einem über Jahrzehnte gewachsenen »Organismus« der Gedanken zu immer neuen Aspekten der menschlichen Kulturleistung »Recht« geworden. Wenn Sie die Zitate des Gedankengutes längst verblichener Geistesgrößen stören sollten, dann bitte ich dafür um Nachsicht, denn es sollten auch andere mit ihren Einsichten zu Worte kommen. Durch die Zitate wollte ich nicht meine gegenüber den großen europäischen Philosophen dürftigeren eigenen Gedanken und Einsichten zu den Phänomenen »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« unter dem schmückenden Mantel von Geistesheroen verbergen und sozusagen mit einem Krönungsmantel umgeben. Mit diesen Hinweisen bezüglich eines Teiles der Zitate möchte ich gleich zu Anfang dem unberechtigten Eindruck vorbeugen, dass ich so umfassend belesen und gebildet sei, dass ich alle verwandten Zitate jederzeit aus meinem »Lesewissen« hervorkramen könnte und daraus auch hervorgekramt hätte. Ich habe nur, ach, auf Grund der Teilung Deutschlands 20 Semester u.a. Geschichte, Politik, Pädagogik und dann noch einmal Jura

38

studiert mit durchaus heißem Bemühen und bin als Lehrer, Fachlehrer für Politik und Rechtsanwalt beruflich tätig gewesen. Eine solche Doppelausbildung hilft zwar für die hier versuchte interdisziplinäre Zusammenschau dieser Wissensgebiete, nicht aber für den Erwerb eines solchen, durch die relative Vielzahl der verwandten Zitate vielleicht vermuteten Einzelfaktenwissens. Das ist pure Mimikry. Hilfreich ist da zuletzt die Website „www.aphorismen.de“ gewesen, die ich im Internet entdeckt habe, als ich noch immer keinen Verlag zum Publizieren gefunden hatte und in den Jahren des Suchens der zwischenzeitlich erreichte technische Fortschritt auch an mir und meinen Arbeitsmöglichkeiten nicht mehr vorbei gegangen war. Auf dieser dankenswerterweise nach einem sehr differenzierten Schlagwortkatalog gegliederten Website mit Suchfunktion können Sie einen Teil der Bekannten wiedertreffen, die ich Ihnen hier vorstellen werde. Eine mich als Lehrer-Referendar anleitende Schulleiterin fragte mich vor 35 Jahren einmal: „Hören Sie die Vorlesungen von Prof. Wencke?“ „Ja.“ „Was fällt Ihnen daran auf?“ Weil ich im Unterrichten noch ziemlich unbeleckt war, war mir gar nichts aufgefallen, außer, dass seine Vorlesungen für mich sehr interessant waren. Aber die Schulleiterin klärte mich – pädagogisch – auf: „Sie werden, wenn Sie einmal darauf achten, feststellen, dass irgendwo in der Mitte der Vorlesung immer eine Stelle zum Lachen ist. Und wenn man sich durch das Lachen von der Anspannung des mitdenkenden Lernens etwas erholt hat, kann man dann viel besser weitermachen.“ Dieses pädagogische Prinzip habe ich dann auch in dem von mir gegebenen Unterricht anzuwenden versucht. Und ich gab den später von mir angeleiteten Referendarinnen mit auf den Weg: „Ein guter Lehrer muss auch ein guter Kaspar sein: Die Bande kommt morgens in die Schule und will unterhalten sein!“ Bei der Gestaltung des Buches behielt ich das »Lach-Prinzip« bei. Darum ist die Auswahl der Zeitungsmeldungen manchmal zusätzlich auch unter diesem Gesichtspunkt vorgenommen worden, denn etwas ins Abstrusere Gehendes bleibt länger im Gedächtnis haften als etwas, das nicht zum Lachen oder Kopfschütteln reicht. Wer mit meiner durch die getroffene Auswahl teilweise offenbar werdenden Art des Humors nichts anzufangen weiß, den bitte ich im Voraus um Entschuldigung für die von ihr oder ihm so empfundene geistige Belästigung. Das wollte ich vorsichtshalber noch als »salvatorische Klausel« - ein im Buch näher erklärter juristischer Fachbegriff – angeführt haben. Es ist eine hohe Kunst, etwas Kompliziertes einfach darzustellen. Ich bin mir bewusst, an manchen Stellen in diesem Vorhaben gescheitert zu sein, weil ich wiederholt der Gedanken Fülle nicht in einen kurzen Satz pressen konnte. Durch den (jedenfalls zur Zeit meiner juristischen Ausbildung) in Anklageschriften obligatorisch zu verwendenden wirklich seitenlangen, teilweise 15 und mehr Seiten langen »Indem-Satz«-Bau, durch den alles über den oder die Angeklagten, die auf ihre Verletzung hin zu untersuchenden gesetzlichen Tatbestände und das ermittelte, zur Anklageerhebung geführt habende Geschehen in einem einzigen Satz formuliert werden musste(!), habe ich mir meinen früheren kurzen, knappen Schreibstil leider verdorben. Trotzdem viel Erfolg beim informierenden, lernenden Lesen – und hoffentlich fühlen Sie sich auch noch gut unterhalten! Wenn nicht, so hoffe ich, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches wenigstens die Toleranz aufbringen, die von Lessing in die Worte gefasst wurde: „Muss man, wenn man sich schwingt, stets adlermäßig schwingen? Soll nur die Nachtigall in unsern Wäldern singen? Der nebelhafte Stern muss auch am Himmel stehn.“ Schließlich habe ich mich bemüht, seine Mahnung zu beachten: „Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben vergeudet, ist ein Maler.“ Sein Fazit: „Es kommt wenig darauf an, wie wir schreiben, aber viel, wie wir denken.“ Die Freifrau Ebner-Eschenbach meinte, dass das aus einem guten Buch ersichtlich werde: „In einem guten Buche stehen mehr Wahrheiten, als sein Verfasser hineinzuschreiben meint.“ Ich habe mich über viele Jahre ehrlich bemüht, ein solches Buch zu schreiben. Falls Sie sich beim Lesen - wider Erwarten - nicht gut genug unterhalten gefühlt haben, dann können Sie den Ausspruch von John Osborne auf meine jahrelangen schriftstellerischen Bemühungen beziehen: „Auch das schlechteste Buch hat eine gute Seite: die letzte!“

Hans-Uwe Scharnweber

39

I. TEIL DAS VERHÄLTNIS VON »RECHT« UND »GESETZ« »Recht« und „Gesetz«

Was ist »Recht«, was »Gesetz« zunächst einmal in einem vorjuristischen Verständnis? Sind diese Begriffe deckungsgleich oder sinnlos verdoppelnde Redeweisen wie »runder Kreis«, »schwarzer Rabe«? Ausgangspunkt der ersten Überlegungen zur Annäherung an diese zentralen Begriffe sei die gesetzliche Regelung des Artikels 20, Absatz 3, Satz 1, 2. Halbsatz Grundgesetz (Kurzschreibweise: Art. 20 III 1, 2. HS GG): "... die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden." Doch was ist zunächst einmal das »Grundgesetz«, dass eine so zentrale Bestimmung in ihm enthalten ist? Bevor wir uns den nicht nur für unsere, sondern für jede Rechtsordnung zentralen Begriffen »Gesetz« und »Recht« zu nähern versuchen, soll zunächst erst einmal klargestellt werden, was das Grundgesetz für die Rechtsordnung unseres Staates und damit die rechtliche Organisation unseres eigenen Lebens bedeutet. Danach soll versucht werden, die in dem Grundgesetz verwandten Begriffe »Gesetz« und »Recht« genauer zu fassen.

1 Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung« Das »GG« als unsere »Verfassu ng"

Unsere Verfassung heißt nicht »Verfassung«, sondern »Grundgesetz«, ist aber trotz dieser z.B. im Gegensatz zur »Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung« von 1849 oder der »Weimarer Verfassung« von 1919 bewusst anders getroffenen Wortwahl unsere Verfassung. Die Weimarer Verfassung hatte offiziell bis zum Zusammenbruch der Nazi-Diktatur 1945 bestanden. Weil sie als eine »Republik ohne Rechtsschutz« (Schönhoven) auf Grund der in ihr enthaltenen juristischen Konstruktionen und Regelungen das scheinlegale Hinübergleiten der ersten deutschen Republik, der Weimarer Republik, in die Nazi-Diktatur ermöglicht hatte, wurde die Weimarer Verfassung nach 1945 nicht einfach in revidierter Form erneuert. Sie hatte ja schließlich ermöglicht, dass in Deutschland und den von ihm während des Zweiten Weltkrieges zeitweilig beherrschten Teilen Europas neben den »normalen« viele unmenschliche Gesetze galten oder gar ein gesetzloser Raum entstehen konnte, dadurch letztlich »das Recht« als Richtschnur und Schutz des einzelnen aus dem Leben der Deutschen und dem der später dem Nazi-Regime unterworfenen Ausländer verschwunden war - jedenfalls aus dem Leben der politischen Gegner der Nazis, der Europäer jüdischen Glaubens, derer die Nazis habhaft werden konnten, desgleichen der Zeugen Jehovas, der Sinti und Roma, und schließlich großer Teile der Slawen, um nur die größten Gruppen derjenigen zu nennen, die teilweise gesetzlos, aber auf jeden Fall rechtlos bis hin zu ihrer Ermordung staatlich verfolgt wurden. Darum schuf der Parlamentarische Rat 1949 nach diesen einschneidenden Diktaturerfahrungen als Reaktion auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat unter dem Schock der bedingungslosen Kapitulation und des totalen staatlichen Zusammenbruchs auf Grund des Erlebnisses einer abwehrschwachen Demokratie, die in ihrer zu großen Liberalität ihren „legalen Mördern auch noch das Schwert zur Beseitigung dieses Staates in die Hand gedrückt hatte“ (Haffner), für den westlichen Teil Rest-Deutschlands ein weitgehend neues Verfassungswerk. Dabei wurde dann die Bezeichnung „Grundgesetz“ bewusst gewählt, um den vorläufigen Charakter dieser Verfassung, in der die philosophische und juristische Weisheit von Generationen verarbeitet ist, für die Übergangszeit bis zur angestrebten Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung (Präambel a.F. und Art. 146 a.F. GG) auch schon sprachlich hervorzuheben. Nach dem Beitritt der DDR wurde diese Bezeichnung „Grundgesetz“ - gegen den Wunsch einer gar nicht so kleinen Minderheit - beibehalten, weil das zunächst als Verfassungsprovisorium gedachte Grundgesetz sich bewährt und in den bis dahin schon 40 Jahren seines Bestehens eine eigene, zutiefst demokratische Rechtstradition entwickelt hatte. (Vorangegangene Verfassungen hatten wesentlich kürzere Verfallszeiten!) Als weiteres Argument wurde vorgebracht: Man dürfe das „Fenster der Gelegenheit“ zur Wiedervereinigung nicht durch eine langwierige Verfassungsdebatte zufallen lassen! Das Grundgesetz ist die für uns Bürger Deutschlands freieste Verfassung, die je auf deutschem Boden Geltung erlangt hat. Eine solche gute Rechtstradition wird nicht leichten Herzens durch eine neu zu schaffende

40

Verfassung beendet, die in den größten Teilen dem Grundgesetz entsprechen würde, ja sogar entsprechen müsste, um uns Bürgern einen gleich großen Freiraum zur Gestaltung unseres Lebens zu eröffnen. Nach all dem kann festgehalten werden: Die Unterscheidung in der Wortwahl zwischen "Grundgesetz« und »Verfassung« hat nur eine sprachlich-politische sowie eine auf unsere kümmerliche demokratische Tradition abzielende, aber keine (staats-)rechtliche Bedeutung. Das Grundgesetz ist, wie ein Blick in das Inhaltsverzeichnis sofort offensichtlich macht, in die Präambel und 14 große Abschnitte (I – XI, teilweise mit einem Unterbuchstaben) eingeteilt. Die für den einzelnen Bürger wichtigsten Abschnitte sind die Abschnitte "I. Die Grundrechte" und "IX. Die Rechtsprechung"; letzterer deswegen, weil darin in den Artikeln 101-104 die sogenannten »justiziellen Grundrechte« geregelt sind, die als Grundrechte eigentlich auch in den Abschnitt I. gehörten. Das Grundgesetz ist nicht »in Granit geschlagen«. Nicht einmal in seinem Grundrechtsteil! Wegen seiner hohen Regelungsdichte ist das Grundgesetz von 1949 bis zum Jahre 2002 mit zuletzt der Einfügung des Tierschutzes als Staatsziel in Artikel 20 a 51-mal geändert worden: Je höher die Regelungsdichte in einer Verfassung, desto öfter muss sie anpassend geändert werden. Aus dieser Einsicht hatte der französische Staatsmann Talleyrand zur Zeit der Französischen Revolution die Maxime aufgestellt, dass eine Verfassung am besten kurz und unklar sein sollte. Andere Länder ändern ihre Verfassung wesentlich seltener; die Verfassung der USA z.B. erhielt seit 1787 nur 27 Zusätze.

1.1 Präambel Präambel

Die angesprochene Vorläufigkeit des Grundgesetzes wurde aus seiner Präambel a.F. (1989) deutlich, die bis zur Wiedervereinigung mit folgendem Wortlaut Geltung hatte: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."

Artikel 146 a.F. GG

Diese vorläufige Form der Präambel – in der seit 1989 geltenden neuen Form haben die Deutschen „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“ - wurde ergänzt durch den Artikel 146 a.F. (bis 1989) "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Eine »Grundgesetz« genannte Verfassung mit eingebautem – allerdings unbestimmten - Verfallsdatum also. Eigenartigerweise klingt die Neufassung des „Art. 146 GG Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Selbstbestimmung beschlossen worden ist.“ immer noch so, als wenn das Grundgesetz weiterhin seinen vorläufigen Charakter beibehalten habe, immer noch eine neue Verfassung geplant sei. Nichts falscher als das!

41

1.1.1 Gott als in der Präambel herausgehobener Bezugspunkt staatlichen Handelns Gott als in der Präambel herausgehobener Bezugspunkt staatlichen Handelns

Vor allen im Grundgesetz getroffenen Regelungen steht als Vorspruch die Präambel - mit Gott als herausgehobenem Bezugspunkt, was bei den Beratungen über die Neuformulierung des Grundgesetzes nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder zu einer Diskussion führte: "... 'Gott steht nicht zur Disposition'. ... Die leidenschaftliche Diskussion in der Verfassungskommission ... hatte sich an einem Antrag von MdB Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) entzündet, der in der Präambel des Grundgesetzes die Bezugnahme auf Gott radikal streichen und durch die Formulierung ‘im Bewußtsein seiner Verantwortung vor der deutschen Geschichte und gegenüber künftigen Generationen' ersetzen wollte." (Das Parlament 18.06.93) "Der Streit um das Grundgesetz Scholz: Anrufung Gottes beibehalten epd Bonn - Die Anrufung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes soll nach Ansicht des Vorsitzenden der Verfassungskommission, Rupert Scholz (CDU), beibehalten werden. Befürchtungen, hierdurch könnte sich ‘durch die Hintertür' ein Stück Kirchlichkeit in das Staatswesen einschleichen, seien unbegründet. Der ostdeutsche Abgeordnete und Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne) hatte in der Kommission zur Grundgesetzreform beantragt, ‘in der Verfassung auf Gott zu verzichten'. Mit dieser Forderung stehe der ostdeutsche Abgeordnete allein, sagte Scholz gestern. Dessen Vorschlag lasse sich damit erklären, daß Ullmann aus der ehemaligen DDR komme. Dort habe ein anderes Verhältnis von Staat und Kirche bestanden, ..." (HH A 18.03.93) "Gott bleibt im Grundgesetz Theologe Ullmann wollte die Präambel ändern - er stand allein Bonn - Gott bleibt im Grundgesetz. In einer mehrstündigen Debatte der Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat über die Präambel des Grundgesetzes zeichnet sich ab, daß eine große Koalition an den Einleitungsworten des Grundgesetzes ‘Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...‘ festhält. Der ostdeutsche Theologe und Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne), der eine völlige Neuformulierung der Präambel vorschlug und dabei auf Gott verzichten will, stand mit diesem Bestreben weitgehend allein. Lediglich der PDS-Bundestagsabgeordnete Uwe-Jens Heuer unterstützte die Ullmann-Initiative. Für die CDU meinte deren Rechtspolitiker Horst Eylmann zu dem Ullmann-Antrag, er sei bestürzt, wie wenig Gefühl darin der Haltung und dem Ethos der Mütter und Väter des Grundgesetzes entgegengebracht werde. Die Bezugnahme auf Gott, die seit 1949 das Grundgesetz einleitet, sei durch die Abkehr von dem atheistischen Regime der Nazis motiviert gewesen. An dem Gottesbezug in der Präambel will auch der FDP-Politiker Burkhard Hirsch nicht rütteln. Dies sei eine ‘erhabene' Formulierung, wie man sie nicht besser machen könne. Respekt für die Meinung Ullmanns und dessen theologische Argumente für die Streichung Gottes aus dem Grundgesetz bekundete der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel. In einem sehr persönlichen Votum legte er jedoch dar, warum er an der Verankerung der ‘Verantwortung vor Gott‘ in der Präambel festhalten will. Vor dem Hintergrund der Herrschaft der Nationalsozialisten werde mit dem Gottesbezug daran erinnert, daß der Mensch nicht allmächtig und letzte Instanz sei. ..." (HH A 24.04.93) Nicht nur wir, aber insbesondere wir Deutsche haben aller Welt den Beweis dafür geliefert, dass Wissenschaft dem Menschen zwar Wissen liefert, aber nicht zwangsläufig damit verbunden auch Gewissen. Darum muss Recht Grenzen setzen, dessen Wertmaßstab letztlich aus einem religiösen Rückbezug gewonnen werden kann – aber seit Kant nicht mehr aus der Religion gewonnen werden muss -, wenn der religiöse Wertmaßstab den Menschenrechten entspricht. Gegenbeispiel: Ajatollah Khomeini qualifizierte aus seinem Islamverständnis heraus die Menschenrechte als „von Zionisten ausgedachte Regelsammlung“ ab, die „alle wahren Religionen zerstören will“ (SPIEGEL 29.09.03). Vielleicht hatte die katholische Kirche das zunächst ähnlich gesehen, denn nach einer Bemerkung des renommierten katholischen Universitätslehrers der Universität Tübingen Hans Küng

42

im DLF vom 22.12.04 sind die Menschenrechte von der katholischen Kirche erst durch das Zweite Vatikanische Konzil (Vaticanum II) 1962-1964 anerkannt worden! Die von ihrem Ansatz her mit Anspruch auf universelle Geltung gedachten, allgemeinen Menschenrechte sind mit Sicherheit der wichtigere Bezugspunkt als ein religiöser Rückbezug, denn sie sind auf Toleranz gegründet. Dagegen gibt es zu viele Religionen mit sich gegenseitig ausschließenden Ausschließlichkeitsansprüchen. Und da »Religion« – oft auf Grund behaupteter göttlicher Eingebung - von Menschen zur Rettung ihrer Seele oder zur Verfolgung ihrer Instinkte und Triebe, nicht aber zur Gestaltung eines möglichst konfliktfreien Zusammenlebens mit Andersgläubigen »gemacht« und von ihnen teilweise hemmungslos gelebt wurde und wird, ist Toleranz kein Wesensmerkmal für Religionen! Auch bei der Schaffung der Verfassung Europas versuchten christliche Kräfte – in Deutschland CDU und CSU , in der geplanten Präambel einen Gottesbezug zu verankern, was aber in dem zwar überwiegend katholischen Frankreich an dessen strikt laizistischer Tradition scheiterte. So gab es in dem Entwurf stattdessen einen Bezug auf die 2.000-jährige Tradition Europas. Das ließ jedoch die katholische Kirche, bei der ihre zumindest unterschwellige Frontstellung zu den anderen christlichen Religionen, insbesondere aber zu den nichtchristlichen Religionen immer mitgedacht werden muss, nicht ruhen: Papst: EU-Verfassung muss sich auf Christentum beziehen Das Christentum ist nach Ansicht von Papst Johannes Paul II. Hauptgarant für Frieden in Europa. Deshalb müsse es auch in der EU-Verfassung entsprechend erwähnt werden, meint er. Nach der Auffassung von Papst Johannes Paul II. sind christliche Werte eine Garantie für die Zukunft des europäischen Kontinents. Das Christentum stehe für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in Europa, sagte der Papst am Sonntag beim Angelusgebet in seiner Sommerresidenz in Castelgandolfo bei Rom. Eine ausdrückliche Erwähnung der christlichen Wurzeln des Kontinents in der künftigen EU-Verfassung sei daher dringend notwendig, forderte er. Mit einem solchen Schritt könne das Gemeinwohl sowohl für Gläubige als auch für Nichtgläubige geschützt werden, betonte er. Zur Begründung führte der Papst an, dass das Christentum über Jahrhunderte hinweg als einigendes Element für die europäischen Völker gewirkt habe. Noch heute stelle es eine unerschöpfliche Quelle für Spiritualität und Werte dar, die beim Aufbau der Europäischen Union unersetzlich seien, sagte er. Die Europäische Verfassung soll noch in diesem Jahr in Rom unterzeichnet werden. (nz) (netzzeitung 24.08.03) Eine Präambel ist kein hehres aber letztlich »unwesentliches Geplapper«. Würde der christliche Ursprung Europas als verpflichtende Tradition für alle Staaten der EU in der zu schaffenden Verfassung der EU festgeschrieben, würde damit die Tür Europas für die Türkei und Marokko, von dem auch immer wieder geschrieben wird, dass es – warum eigentlich? – ein Aufnahmekandidat für die EU sei, automatisch geschlossen. Natürlich richtet sich darum eine solche Stellungnahme wie die des Vatikans unausgesprochen, aber ganz explizit, gegen eine Mitgliedschaft der muslimischen Türkei in der EU, die der Türkei laut Radiomeldungen zwei Wochen zuvor – unverschämter- weil unzuständigerweise - von den USA(!), nicht jedoch von der EU, für den Fall versprochen worden sein soll, dass die Türkei 2003 Truppen für die militärische Verwaltung des Iraks zur Verfügung stellen sollte. Da stellt sich die Frage: Was ist Europa? Was macht seine Identität aus? Erst wenn diese Frage hinlänglich beantwortet ist, erhalten wir den meist nur dumpf gefühlten Maßstab für die Beurteilung der Frage, welche Länder zu Europa gehören – und welche eben nicht! Nur ein solcher Maßstab bewahrt uns vor einer unsere Identität als Europäer berührenden oder gar treffenden geographischen, von einigen gleichwohl politisch gewollten Überdehnung dessen, was »Europa« ist. Es kann nicht als Maßstab dienen, dass aus der islamischen Welt heraus eine Terrorwelle den ganzen Globus überzieht. Wenn verübter Terrorismus ein Ausschlusskriterium wäre, hätte Deutschland in den Zeiten der RAF nicht zu Europa gehört, dürften Großbritannien mit dem Bombenterror in Nordirland und Spanien mit dem ETA-Terror im Baskenland nicht zu Europa gehören. Man könnte den Gehalt dessen, was das »geistige Europa« ausmacht, vielleicht schon an der Musik festzumachen versuchen: Wer mal an einem Tag von einem islamisch geprägten arabischen oder türkischen Land nach Hause gekommen ist, wird das vielleicht auch dann empfunden haben, wenn er nicht morgens Mozart, mittags Beethoven und abends Bach zu hören pflegt. Das sind so offensichtlich andere Musikkulturen, die nichts miteinander gemeinsam haben. Aber viele europäische »Musik« wird (wohl nicht nur von mir) als so störend empfunden, dass über den Bereich

43

der Musik vermutlich kein verlässlicher Maßstab dafür zu gewinnen ist, was »Europa« ausmacht. Wir brauchen einen anderen Maßstab. Und wenn es um die Frage der europäischen Identität geht, dann kann das nicht so sehr ein geographischer, sondern muss eher ein geistiger Maßstab sein, der an die Jahrhunderte der europäischen Geistesgeschichte und -entwicklung, der an die europäische Identitätsbildung angelegt wird. Europa ist ganz entscheidend vom Christentum geprägt worden. Der Aufbau Europas im Mittelalter wurde zu großen Teilen insbesondere durch die vorbildliche Arbeit der Klöster christlicher Orden im Zuge der Christianisierung Europas und der Ostkolonisation geleistet. Der europäische Urwald, der zuvor nur entlang der großen Flüsse durchquert werden konnte, wurde gerodet, das Land urbar gemacht. Schriftlichkeit, Voraussetzung jeder Hochkultur, wurde durch die Klöster bewahrt und verbreitet. Es gab nichts anderes Verbindendes im zerrissenen, sich untereinander - meist aus Glaubensabgründen - teilweise bis aufs Äußerste befehdenden christlichen Abendland als das in seiner Auslegung heftig umkämpfte Christentum. Und es stimmt darüber hinaus, was kaum jemand anzusprechen für opportun hält: Der christliche Grundkonsens Europas wurde in dem Abwehrkampf gegen den Islam mit geschaffen: durch die gemeinsame Abwehr des zunächst von Westen über Spanien eindringenden Islam seit dessen Einfall in Europa mit der Überquerung der Meerenge von Gibraltar 711 n.Chr., der Doppelschlacht von Tours und Poitiers 732 n.Chr., die während des Mittelalters im Rolandslied in Frankreich, England und Deutschland gedichtete und viel besungene Abwehr der „Sarazenen“ (als Sinnbild der Araber, Muselmanen und aller anderen Nichtchristen, gegen die das Kreuz gepredigt wurde), weiter über die Rückeroberung Spaniens von den Mauren (die 1492 abgeschlossene „Reconquista“, die in Spanien noch heutzutage in Volksfesten gelebte Geschichte ist) und dann nach dem Fall des 1.000-jährigen oströmischen Reiches mit seiner Hauptstadt Konstantinopel 1453 das Eindringen der aus der Mongolei auf einem langen Treck nach Westen eingedrungenen Turkvölker und mit ihnen des Islam von Osten in den Bereich Ostroms über den Balkan bis zur zweifachen Belagerung Wiens 1529 und 1683 durch die muslimischen Heere der osmanischen Hohen Pforte, von wo sie letztlich durch eine gesamteuropäische Kraftanstrengung der von Papst Innozenz XI. initiierten Heiligen Liga von 1684 (bestehend aus dem Heiligen Stuhl, den direkt angegriffenen Habsburger Landen und den anderen Teilen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Polen und Venedig) zurückgeschlagen wurden, zwischen den beiden Belagerungen Wiens 1571 in der Seeschlacht von Lepanto/Naupaktos (Griechenland), der letzten Galeerenschlacht und mit 50.000 Toten der bisher größten und opferreichsten Seeschlacht der Kriegsgeschichte, und dann die Zurückdrängung der osmanischen Truppen vom Balkan im 18. und 19. Jahrhundert bis zu dem von anderen europäischchristlichen Ländern bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit unterstützten Freiheitskampf der Griechen 1821-29 gegen die Türken. Die Bannung der „Türkengefahr“ wurde wegen ihrer ernsthaften Bedrohung der christlich-abendländischen Staatengemeinschaft von vielen europäischen Mächten über Jahrhunderte als abendländische Gemeinschaftsaufgabe verstanden und wahrgenommen und wurde so auch mit identitätsstiftend für »Europa«. Die zunächst im »finsteren Mittelalter« von den islamischen Wissenschaftlern – insbesondere der MaurenGebietsherrschaften in Spanien, nicht der Türkei - geistig befruchteten europäischen Gelehrten entwickelten in der Neuzeit, insbesondere in der der Renaissance mit dem Humanismus als geistiger Hauptströmung folgenden Zeit der Aufklärung, die den Aberglauben und den verkündeten Glauben mehr und mehr durch das erforschte Wissen ersetzte, unter Beschreitung auch vieler Irrwege Geistes-, Staats- und damit auch Rechtsideen, an denen weder der arabische Islam noch die Türkei teilhatte – und nach Vermutung des VG Köln in dem Abschiebungsverfahren Kaplan, einem der 16 von ihm gegen seine Abschiebung betriebenen Verfahren, die Türkei selbst im Jahre 2003 nicht teilhatte: Anders ist es nicht zu erklären, dass der fundamentalistische „Kalif von Köln“, Kaplan, der 1992 wegen drohender Verfolgung in der Türkei als Asylberechtigter anerkannt worden war – nach seiner Verurteilung wegen der Anstiftung zum Mord wurde die ihm 1992 gewährte Asylberechtigung aber widerrufen, seine Frau bleibt jedoch weiterhin asylberechtigt -, nach Verbüßung seiner mehrjährigen Gefängnisstrafe zunächst nicht dem Wunsch der Bundesregierung und der Türkei folgend in die Türkei abgeschoben werden durfte, weil ihm dort ein Hochverratsverfahren wegen „bewaffneten Versuchs zum Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung” droht, weil er sich 1995 zum Kalifen ausgerufen hatte, 1997 den "Anatolischen Föderalen Islamischen Staat" gegründet und das in einem Brief den türkischen Abgeordneten mitgeteilt hatte - als Beweis dafür, dass Kaplan versucht haben soll, die Türkei zu spalten, dient ein Artikel aus dem Organ seines Islamstaats - und er 1998 zum 75. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei auf das Mausoleum Atatürks, wo sich die ganz Staatsspitze versammelt hatte, einen Anschlag mit einem Flugzeug geplant haben solle. Ein weiterer Anschlag sei auf eine Moschee geplant gewesen. Die Verwaltungsrichter der ersten Instanz nahmen an, dass der Prozess nicht in rechtsstaatlichen Bahnen verlaufen werde, obwohl die Türkei die Todesstrafe abgeschafft und als Voraussetzung für eine Auslieferung Kaplans der Bundesregierung die Durchführung eines rechtsstaatlich einwandfreien Verfahrens schriftlich zugesagt hatte! Ohne diese Garantie eines rechtsstaatlichen Verfahrens in der Türkei wäre die mühsam

44

erkämpfte Abschiebung Kaplans unzulässig gewesen. Aber die Verwaltungsrichter des VG Köln sahen die sehr reale Gefahr, dass in den Hochverratsprozess gegen Kaplan zuvor unzulässig erlangte »Beweismittel« eingebracht werden könnten, die durch die Folterung von Kaplans Anhängern erlangt worden waren, als die 1998 ein Flugzeug (angeblich) für ein Attentat auf das Atatürk-Mausoleum in Ankara hatten entführen wollen. Ähnlich sah es das OVG Düsseldorf 2003 in dem Auslieferungsverfahren Kaplan. Wörtlich heißt es in dessen Urteilsbegründung: Die Anhänger Kaplans, die im Verfahren gegen ihn als Belastungszeugen vorgesehen waren, seien von türkischen Sicherheitskräften "hauptsächlich mit groben Schlägen, Aufhängen an den Schultern, Behandlung mit heißem, kaltem und unter Druck gesetztem Wasser, Quetschung der Hoden und deren Mißhandlung durch Stromstöße" gefoltert worden. Der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD sind ausreichend andere Fälle von Folterungen in türkischen Gefängnissen bekannt, so dass einen auf Grund von Zusicherungen für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens unter Verzicht auf Folterung an die Türkei ausgelieferten „Kalifen“ nur sein Prominentenstatus schützen könnte. An den Schultern aufgehängt zu werden und dann mit verdrehten Armen hängend die Hoden gequetscht oder mit Stromstößen malträtiert zu bekommen, macht beflissen gesprächsbereit! Das kann jeder Leser an sich selbst ausprobieren (lassen), ohne zusätzlich unter der Decke zu hängen. Da erzählt man alles, was die Vernehmenden hören wollen – wenn nur der Schmerz aufhört! Nachdem die Türkei durch u.a. auch eine Strafrechtsreform erreicht hatte, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bezüglich einer EU-Mitgliedschaft begonnen werden sollen, sie weiß, dass sie unter verschärfter Beobachtung steht und u.a. auch der Prozess gegen Kaplan wegen Hochverrats und versuchten Umsturzes als einer der vielen erforderlichen Lackmustests auf ihre Demokratiefähigkeit angesehen werden wird, ist der Hassprediger Kaplan trotz geltend gemachter inlandsbezogener Abschiebungshindernisse in Form einer Prostata-Krebserkrankung, die eine Abschiebung angeblich unmöglich mache und darüber hinaus in der Türkei nicht (richtig) behandelt würde, mit Billigung des BVerwGs in Leipzig trotz weiterlaufender Revisionsverhandlung gegen ein Urteil des OVGs Münster und weiteren Verbleibs seiner Familie in Deutschland Ende 2004 zum Abschluss des sechzehnten(!) diesbezüglichen Verfahrens an die Türkei ausgeliefert worden. Im Fall einer Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. Auf Grund der Tatsache, dass die Geschichte des Abendlandes auch die Geschichte der gemeinsamen Abwehr des Okzidents gegen den Islam ist und dass die Türkei an der europäischen Geistesentwicklung der Neuzeit nicht teilhatte, gehört selbst die heutige Türkei nach den 1920 eingeleiteten Atatürkschen Reformen und der seit ca. 2000 inzwischen eingeleiteten Hinwendung zu demokratischen Staatsstrukturen weder aus historischen noch aus kulturellen Gründen mit zu Europa! Es gibt nach meinem Dafürhalten kein einziges historisches oder kulturelles Argument, das die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa zu stützen in der Lage wäre. Es reicht nicht, dass die Türkei einst auf dem Balkan große Gebiete Europas beherrscht hatte. Das Fehlen historisch-kultureller Argumente für eine mir unmöglich erscheinende Zugehörigkeit der Türkei zur EU kann auch nicht dadurch geheilt werden, dass dort möglicherweise irgendwann einmal die Menschenrechte bis in die abgelegenste Polizeiwache Geltung erlangt haben könnten und die Gerichte sie beherzigen sollten: Dass die Europäer durch die vor Wien geschlagenen Türken als Beute deren Kaffe kennen gelernt haben und sich daraus die Wiener Kaffeehauskultur entwickelt hat, reicht nicht als tragfähiges kulturelles Argument. Zählte das als Argument, müsste auch China zu Europa gehören, denn wir tragen – wenigstens ab und zu – auch mal Seidenhemden. Und freundschaftliche diplomatische Beziehungen begründen auch nicht die Zugehörigkeit eines Landes zu Europa; die haben wir schließlich auch zu Australien und Ozeanien. Wenn alle außereuropäischen Randstaaten, und dazu muss man die Türkei trotz ihres dreiprozentigen europäischen Gebietszipfels rechnen, in die EU aufgenommen werden sollten: wo wäre da die Grenze? Am Irak? In Nord-Afrika, da auch Marokko in die EU drängte? Was sollte das einigende historisch-kulturelle Band einer solchen Europäischen Union sein? Gibt es vielleicht in Ermangelung historisch-kultureller andere durchschlagende Gründe für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei? Politische? „Eine demokratische Türkei wäre ein Aushängeschild für die gesamte arabische Welt“, lautet ein Argument des Ministerpräsidenten Luxemburgs, Junkers. Das kann schon sein: Aber muss deswegen die Türkei in die EU aufgenommen werden? Dann müssten ja alle anderen autoritären Staaten z.B. der SEATO, die wie die Türkei mit den USA einen Ring von Staaten um die damals aggressiv ausgreifende UdSSR gelegt hatten, zum Erlernen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die Europäische Union aufgenommen werden! Was wäre an der EU dann - aber außer ihrem Ursprung - noch europäisch? Junkers sieht in der EU darüber hinaus „keinen Christenverein“ und die Türkei seit dem 16 Jahrhundert als „europäische Macht“ (Interview im DLF am 03.09.03). Es hätten in Europa schon immer Völker mit unterschiedlicher religiöser Ausprägung zusammen gelebt. Sicher, deswegen hatten wir ja auch so viele Religionskriege in Europa! Und das nur unter denjenigen, die sich als Christen - mit dem sie an sich verpflichtenden zentralen Gebot des Christentums: der Feindesliebe - begriffen. Religiöse Toleranz herrscht

45

unter den Christen erst, seitdem die Religion offiziell zur Privatsache geworden ist. Aber das ist im Islam nach dessen Grundannahme, dass Religion und Staat eins zu sein hätten, nicht möglich! Was sollen wir uns mit noch mehr islamistischen Fundamentalisten belasten, die in der Türkei ihr teilweise mörderisches Unwesen treiben, um die Vorrangstellung des Korans in ihrer dem 7. Jahrhundert zugewandten Blickrichtung vor jeglicher zivilen Regelung herbeizubomben? Beispiele gab es zu Hauf, dass Andersdenkende umgebracht wurden, indem z.B. Parlamentsangehörige umgebracht wurden, ein Hotel angezündet wurde, in dem dann viele der dort versammelten kritischen Schriftsteller verbrannten. Eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU wird sehr stark von den USA aus deren geostrategischen Interessen heraus »gepuscht«. So wurde der Türkei von den USA unverschämterweise eine Mitgliedschaft in der EU versprochen, um sie in den Krieg gegen den Irak Saddam Husseins zu locken. Unverschämt finde ich daran, dass die USA Versprechungen zu Lasten Dritter macht, denn sie hat die die sich daraus ergebenden Probleme ja nicht auszubaden. Die USA würden es sich höchlichst verbitten, wenn die EU Mexiko eine Angliederung an die USA verspräche, um das Problem der mexikanischen Wanderarbeiter auf diese Weise zu lösen! Und das katholische Mexiko steht den religiös christlich-bigotten USA kulturell wesentlich näher als der EU die islamische Türkei! Was im geostrategischen Interesse der USA liegt, muss längst nicht im Interesse der EU liegen! Die Befürworter eines Beitritts der Türkei zur EU werfen den konservativen Gegnern eines Türkei-Beitritts vor, eine hilflose und längst überholte Debatte zu führen: Die Türkei, so heiße es in hauptsächlich konservativen Kreisen, passe nicht ins christliche Europa und gehöre geografisch gar zu Asien. Beide Argumente zielen nach Meinung der Befürworter ins Leere: Nicht einmal der EU-Konvent habe es für angebracht gehalten, einen Bezug zum Christentum im Entwurf der EU-Verfassung festzuschreiben. Und mit dem Assoziierungsvertrag von 1963 und der Verleihung des Status eines Beitrittskandidaten 1999 habe die EU die Türkei als europäisches Land (angeblich) akzeptiert. Die politischen Fakten würden jetzt in absehbarer Zeit den rechtlich abgesicherten Status einer Vollmitgliedschaft erzwingen – weil man damals aus politischer Feigheit die erforderliche Diskussion um die andere ausschließende Identität Europas nicht hat führen wollen und sich darauf verlassen hat, dass sich der – ehemalige?1 - Folterstaat Türkei nicht demokratisch wandeln werde und somit unter Hinweis auf die politischen und gesellschaftlichen Defizite ein Beitritt jederzeit abgelehnt werden könnte. Nun wandelt sich die Türkei rapide; und das unter einer konservativen, dezidiert islamischen Führung! Aber ehe die Türkei Mitglied der EU wird, müsste z.B. Israel Mitglied in diesem Staatenbund werden! Israel? Sicher: Wenn historisch-kulturelle Argumente bei der dann auch juristisch zu fixierenden Bestimmung dessen, was Europa ausmacht, ausmachen soll, zählen, dann hätte die einzige Demokratie des Vorderen Orients auf Grund ihrer Staatsform und angesichts der Tatsache, dass der Staat Israel von europäischen Juden - mit ihren Wurzeln auch in der europäischen Geistesgeschichte und ihrer jahrhundertelangen Teilhabe an der Herausbildung des »europäischen Geistes« - gegründet und entscheidend geprägt worden ist, dann hätte Israel am ehesten von allen weiteren in die Diskussion gebrachten Bewerbern ein Anrecht auf eine Mitgliedschaft in der EU! Da das Christentum das Ideenfundament Europas ist, wäre es trotz der Kirchenferne des weit überwiegenden Teiles der Bevölkerung Europas nicht unangebracht, wenn man – nicht nur dem Wunsch des Vatikans folgend diese gemeinsame Wurzel in der ansonsten säkularen Verfassung Europas in deren Präambel durch eine angemessen moderate Formulierung zum Ausdruck brächte. Damit vergäbe man sich nichts, denn so sind ja die historischen Fakten. Warum schamhaft verschweigen? Trotzdem wird dieser historische Bezug auf die jüdischchristlichen Wurzeln des mehrtausendjährigen europäischen Geisteslebens wegen des Drucks vieler EUPolitiker im Europäischen Parlament und einiger Länderchefs unterbleiben. Das spricht aber nicht gegen die Richtigkeit der christlichen Wurzel Europas und den Kampf um die Befreiung des europäischen Geistes aus den Fesseln der katholischen Kirche. Weil der Außenminister der BRD seine »grünen« Parteigenossen via Telekonferenz auf ihrem Parteitag Ende 2003 aufforderte, sich „nicht feige wegzuducken und die Aufnahme der Türkei in die EU offensiv zu vertreten“, ist die Frage der Aufnahme der Türkei in die EU für mich das entscheidende Kriterium, einer Partei, die die von mir aus den vorstehend dargelegten Gründen abgelehnte Mitgliedschaft der Türkei in der EU herbeiführen will, bei der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament meine Stimme zu verweigern! „Ich stehe hier, ich kann nicht anders!“ 1

Im September 04 sprach die türkische Menschenrechtsorganisationen Human Rights Foundation mit Sitz in Ankara noch von systematisch angewandter Folter in der Türkei in 597 dokumentierten Fällen, als der EU-Erweiterungskommissar Verheugen die Türkei vor Abgabe seines Fortschrittsberichts bezüglich der möglichen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen besuchte. Dann setzte die Regierung Erdogan im Zuge der Angleichung des türkischen Strafgesetzbuches an den EU-Standard eine Strafbarkeit der Folter mit einer Strafdrohung bis zu zehn Jahren Gefängnis durch.

46

Es ist so, wie der Papst es auch sieht und sagt, dass Europa ganz entscheidend vom Christentum geprägt worden ist. Nur das macht Europas historische und geistige Identität aus!

1.1.2 Text der Präambel als Auslegungsregel für das GG Präambel als Auslegun gsregel

für das GG

Weil die Juristen als Freunde des gespaltenen Haares nach dem Motto: "Nur keinen Streit vermeiden!" keinen rechtlichen Streit auslassen, war die Präambel (das »Vorangehende«, der Vorspruch in Verfassungsurkunden oder Staatsverträgen) im Verlauf der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik in einer Gesamtbewertung ihrer Bedeutung als »Vor-Wort« zunächst überwiegend als rechtlich bedeutungslos eingestuft worden, bis sich in vielen Aufsätzen die jetzt herrschende Lehre durchsetzte, dass die Präambel Bestandteil der Verfassung sei und grundsätzliche Auslegungsregeln für die bestehende und Richtlinien für die künftige staatliche Ausgestaltung enthalte. Bei dieser Sicht der Stellung und des rechtlichen Gewichts der Präambel ist es dann auch zweitrangig, ob die von mehr als 400 Abgeordneten des Bundestages geforderte Aufnahme des Programmsatzes in unsere Verfassung: "Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen“, an entweder Art. 2 GG oder die Präambel angebunden wird. Und gleich eine wohlgemeinte Warnung aus eigener leidvoller Erfahrung eines sich über siebeneinhalb Jahre hingezogen habenden Rechtsstreites als Anmerkung zu solchen hehren Sätzen - außerhalb oder in rechtlichen Regelungen -, vor denen man sich gar nicht genug hüten kann: Wichtiger als so ein unverbindlicher Programmsatz kann - auf jeden Fall für den einzelnen, der so »blöd« ist, solch einen Satz mit so hehren Zielen für bare Münze zu nehmen - da schon die Frage sein: "Wie schützt man die zum Engagement für diesen Staat bereiten Bürger vor eben diesem Staat?" (Vgl. dazu den später detaillierter dargestellten Fall: "Würdest Du eine Bonner Sekretärin heiraten?" Wer Gemeinsinn bis zur Bereitschaft zur Selbstaufgabe gezeigt hatte, indem er seine Beamtung auf Lebenszeit aufgeopfert und sich unter dem Risiko langjähriger Haft in DDR-Gefängnissen dem bundesrepublikanischen Verfassungsschutz gegenüber auf dessen(!) Wunsch hin bereiterklärt hatte, als Agent gegen das MfS zu arbeiten, um dessen Machenschaften in der Bundesrepublik nach besten Kräften vereiteln zu helfen, konnte, wenn er abgeschaltet worden war, im Extremfall vom Staat bedenkenlos um seine bürgerliche Existenzgrundlage gebracht werden. Und einige Gerichte haben dabei mitgespielt!) Bei solchen erhabenen Formulierungen mit Aufforderungscharakter sollte man sich zur eigenen Vorsicht lieber an das von dem Bundeskanzler Willy Brandt gern gebrauchte Wort erinnern: „Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?“

1.2 »Grundgesetz« oder »Verfassung«? »Grundg esetz« oder »Verfass ung«?

Das Grundgesetz hatte zunächst nur für das in der Präambel a.F. aufgeführte »Alt-Alt-Bundesgebiet« ohne das von Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - wie schon nach dem Ersten Weltkrieg - erneut annektierte Saarland, nach Anschluss des Saarlandes an das Bundesgebiet am 01.01.1957 als 10. Bundesland dann für das »Alt-Bundesgebiet« Geltung gehabt; auch für Bayern, obwohl der Bayerische Landtag mit Beschluss vom 20.05.49 das Grundgesetz (wegen nach bayerischer Meinung zu geringer Beachtung der Länderkompetenzen) als einziges Landesparlament abgelehnt, gleichwohl aber dessen Rechtsverbindlichkeit für Bayern anerkannt hatte, wogegen die Bayernpartei mehr als 40 Jahre später 1991 in Wiederholung alter Schlachten vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof vergeblich geklagt hatte. (Nach der Hauptstadtentscheidung des Deutschen Bundestages für Berlin forderte die Bayernpartei, die Selbstständigkeit Bayerns zu fördern, was über Artikel 6 der Landesverfassung möglich wäre und erreicht werden sollte, in dem bisher ohne das dazu notwendige Ausführungsgesetz - eine eigene bayerische Staatsbürgerschaft vorgesehen ist, die durch "Geburt, Legitimation, Eheschließung und Einbürgerung" erworben werden kann. Bayerische Staatsbürgerschaft contra EG-Bürgerschaft, wo doch § 1 der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit seit dem 05.02.1934 bestimmt: § 1 (1) Die Staatsangehörigkeit in den deutschen Ländern fällt fort. (2) Es gibt nur noch eine deutsche Staatsangehörigkeit.

47

Wir werden noch öfters Gelegenheit haben zu bestaunen, zu welchen Zwecken das Instrument des Rechts eingesetzt werden soll!) Berlin hatte nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Wiedervereinigung auf der Grundlage der »2+4 Verträge« unter der gemeinsamen Verwaltung der vier alliierten Siegermächte gestanden. Es war - trotz zwischenzeitlich ergangener anderslautender, die Rechtstatsachen verdrehender Urteile des BVerfGs - bis zuletzt kein Bundesland der Bundesrepublik gewesen und war darum z.B. auch nicht in der Präambel unter den dort aufgeführten Ländern erwähnt worden. Für Berlin war die Geltung des Grundgesetzes vom Anfang des staatlichen Neubeginns der Bundesrepublik an bis zur Ratifizierung der »2+4-Verträge« und der erst auf dieser Grundlage erfolgten Wiedervereinigung durch die Besatzungsrechte der drei Alliierten im Westteil eingeschränkt und im Ostteil der Stadt durch die UdSSR verhindert worden. So hatten z.B. die Westberliner Abgeordneten im Bundestag kein Stimmrecht. Gleiches galt übrigens die meisten Jahre der SED-Herrschaft auch für die Ostberliner Abgeordneten in der Volkskammer. Erst durch die »2+4-Verträge« sind alle bis dahin noch in Kraft gewesenen Besatzungsrechte aufgehoben worden, hat das wiedervereinte Deutschland alle durch die bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkrieges verlorenen Souveränitätsrechte (wegen der Gebietsverluste Polens an die UdSSR zur Kompensation dieser Gebietsverluste an Polen abgetretenen Gebiete in einem gegenüber 1937 um ca. ein Viertel kleineren Staatsgebiet) uneingeschränkt zurückerhalten. Die Bezeichnung »Grundgesetz« statt »Verfassung« hatte also den räumlich und zeitlich vorläufigen Charakter der bundesdeutschen Verfassung sowie das durch fortgeltende Siegerrechte bedingte Fehlen voller rechtlicher Freiheit zu souveräner eigenständiger Verfassungsgebung für den dem Westen zugehörenden Teil Rumpfdeutschlands deutlich machen sollen. Nach der überraschend erlangten Wiedervereinigung hatte die SPD im Februar 1992 - die Verfassung war als Anpassung an die neue Rechtslage schon in einer ganzen Anzahl ihrer Bestimmungen und insbesondere in der Präambel und dem Art. 146, aber erstaunlicherweise nicht in „Art. 144 GG (1) Dieses Grundgesetz bedarf der Annahme durch die Volksvertretung in zwei Dritteln der deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll." [Wieso jetzt noch "zunächst"? Das GG gilt ja in allen nunmehr 16 Ländern der Bundesrepublik. Die Präambel stellt in ihrem letzten Satz ausdrücklich fest: „Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“ Auf Grund der "2+4-Verträge" ist außerdem der alte Art. 23 GG mit dem darin teilweise aus illusionärem Wunschdenken angeordneten räumlichen Geltungsbereich ("GroßBerlin"!) aufgehoben worden und sowohl Präambel als auch Art. 146 GG sind geändert worden, um deutlich zu machen, dass keine weiteren - noch weiter östlich gelegenen ehemaligen deutschen Länder mehr der Bundesrepublik beitreten können sollen. Insbesondere sollen nach der Zwangsaussiedlung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges keine Gebietsansprüche mehr gegen die Republik Polen auf Rückgabe der zur Kompensation für an die UdSSR verlorenen Gebiete erworbenen ehemaligen deutschen Länder bestehen, wie sie z.B. aber von der UNO für die durch Israel besetzten palästinensischen Gebiete bejaht werden!] geändert worden - folgerichtig den Vorschlag unterbreitet, das zu der Zeit schon durch die Gemeinsame Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates in Überarbeitung befindliche »Grundgesetz« künftig als »Bundesverfassung« zu bezeichnen. Damit wäre z.B. an die demokratische Tradition der "Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung von 1849" und der "Verfassung des Deutschen Reiches von 1919" (»Weimarer Verfassung«) angeknüpft worden. Und bei so grundlegenden Staatsakten wie einer Verfassungsgebung oder -überarbeitung ist Tradition ein üblicherweise sehr starkes Argument. Das ist in solchen Fällen demokratisches Hartgeld. Da gibt man sich nicht geschichtslos! CDU/CSU hatten diesen von der SPD in die Diskussion gebrachten Vorschlag, kaum unterbreitet, umgehend rundweg abgelehnt: Es solle bei "Grundgesetz" bleiben, denn das Grundgesetz habe sich in den bis dahin mehr als 40 Jahren seines Bestehens als Verfassung des westlichen deutschen Teilstaates bewährt.

1.2.1 Der räumliche Geltungsbereich des GG Der räumliche Geltungsbe reich des GG

Der neue räumliche Geltungsbereich des GG ergibt sich aus der Präambel n.F. Ein Vergleich zwischen alter und neuer Fassung der Präambel lohnt sich nicht nur für einen Historiker, weil die dort angegebene Länderaufzählung wegen des im Einigungsvertrag vorgesehenen und nach einer negativ verlaufenen Volksabstimmung auf eventuell später verschobenen projektierten Zusammenschlusses der jetzt noch getrennten Länder Brandenburg und Berlin möglicherweise auch schon bald überholt sein könnte - wenn nicht aus finanziellen Erwägungen wegen der Zahlungen in und der Leistungen aus dem Länderfinanzausgleichsfonds eine Änderung dieses Vorhabens eintritt. (Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe rechnet auch nach der ersten, negativ verlaufenen Volksabstimmung immer noch mit einem Zusammenschluss dieser beiden Länder in baldiger Zukunft. Der neue Regierende Bürgermeister von Berlin, Wowereit SPD, gab dieses Ziel als von ihm für 2009 angestrebt an.) "Chronik der Woche Montag, 18. Januar Berlin und Brandenburg wollen von der geplanten Länderfusion Abstand nehmen, wenn sie dadurch im neuen Bund-Länder-Finanzausgleich schlechter gestellt werden als bei getrennter Finanzverteilung. Dies hätten die Regierungschefs beider Länder dem Bundeskanzler mitgeteilt, sagt der Berliner Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) vor der Presse in Bonn. Zugleich fordert er übergangsweise bis 1995 weitere Leistungen und die Obhut des Bundes für Berlin." (Das Parlament 29.01.93)

1.2.2 GG und Länderneugliederung Ursprünglich lautete „Art. 29 I GG Das Bundesgebiet ist unter Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des sozialen Gefüges durch Bundesgesetz neu zu gliedern. Die Neugliederung soll Länder schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können." Der 1976 geänderte Art. 29 I GG lautet nunmehr: "Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Dabei sind die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftlichen Zweckmäßigkeiten sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung zu berücksichtigen." Der zum besseren Verständnis durch Schrägdruck kenntlich gemachte unterschiedliche rechtliche Gehalt der beiden gegenübergestellten Fassungen des Art. 29 GG besteht darin, dass aus dem strikten Verfassungsauftrag "... ist ... neu zu gliedern", also einer »Muss«-Vorschrift nunmehr eine »Kann«-Vorschrift geworden ist. Die Politiker sind das ihnen lästige Problem damit zunächst durch eine gemäß Art. 79 I GG vorgenommene Verfassungsänderung losgeworden. Das Problem geistert aber als einer der bundesdeutschen politischen Untoten immer wieder durch die politische Landschaft und durch Politiker-Diskussionen. "Stoiber: Hamburg soll verschwinden o Der CSU-Innenminister will höchstens 10 Bundesländer o Nordlichter stärker zur Kasse bitten/ Curilla kontert o "Dann dürfte es Bayern schon längst nicht mehr geben" Ozapft is? Die bayerische Staatsregierung will das Bundesland Hamburg von der Landkarte radieren. Innenminister Edmund Stoiber (CSU) denkt laut darüber nach, nachdem das Bundesverfassungsgericht am vergangenen Mittwoch Hamburg beim Länderfinanzausgleich um 148 Millionen Mark entlastet hat. `Mit kleinen oder finanzschwachen Ländern wie dem Saarland,

49

Bremen und Hamburg wird es nicht gelingen, den Föderalismus zu stärken', schimpfte Stoiber. In München macht man schon Planspiele über eine Zusammenlegung Hamburgs mit Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Hamburgs Finanzsenator Wolfgang Curilla (SPD) kontert: Wenn Stoiber recht hätte, wäre Bayern längst weg. Stoiber will die Zahl der Bundesländer von 16 auf neun oder zehn senken: `Es schwächt das Gewicht der Länder insgesamt, wenn allein nicht lebensfähige Länder auf Dauer am Tropf der reicheren Länder und des Bundes hängen.' Mittels des Länderfinanzausgleichs sollen regionale Unterschiede beim Steueraufkommen gemildert werden - reiche Länder zahlen ein, arme kassieren. Stoibers Ziel: Wenn ab 1995 die bitterarmen ostdeutschen Länder in den Finanzausgleich einbezogen werden, sollen die Nordlichter stärker zur Kasse gebeten werden. Bayern wolle nicht allein dastehen, wenn es um die Lasten der Einheit gehe, hieß es gestern aus dem bayerischen Innenministerium. In der [Hamburger] Finanzbehörde am Gänsemarkt kommt Oktoberfeststimmung auf: `Wir zahlen die Zeche, und Herr Stoiber will auch noch das Trinkgeld kassieren.' Seit 1970 habe jeder Hamburger 4430 Mark in den Finanzausgleich gelöhnt, während jeder Bayer 348 Mark einstrich. Finanzsenator Curilla: `Hamburg hat bislang 13 Milliarden eingezahlt, Bayern hat über 6,6 Milliarden Mark kassiert. Nach der Logik von Herrn Stoiber dürfte es Bayern als eigenständiges Bundesland schon längst nicht mehr geben.' ‘In der Diskussion ist alles erlaubt', schwächte der Sprecher des bayerischen Innenministeriums gestern die Anti-Hamburg-Aktion seines Dienstherrn ab. ..." (Morgenpost 03.06.92) „Geschichte ohne Wahrheit ist wie ein Gesicht ohne Augen“ (Polykrates). Der historischen Wahrheit halber, zu der gehört, dass Hamburg bis heute eines der Geberländern ist, sei aus einer Gesamtbilanz aus dem STERN vom 08.01.98 (S. 109) über Nettoerlöse aus dem Länderfinanzausgleich über die Jahre 1950 (Einführung des Finanzausgleichs) bis 1996 zitiert: „Länderfinanzausgleich Erst kassieren, dann lamentieren Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) läßt keine Gelegenheit aus, gegen angebliche Ungerechtigkeiten im Finanzausgleich zwischen den Bundesländern zu wettern. Erfolgreiche Länder würden »bestraft«, klagt er, andere dagegen hätten »überhaupt keinen Anlaß, sich besonders anzustrengen«. Was Stoiber verschweigt: Sein Freistaat hat vom bestehenden System selbst kräftig profitiert. Das zeigt eine Gesamtbilanz aller Zahlungen seit 1950 - dem Jahr, als der Finanzausgleich eingeführt wurde, um wirtschaftlich schwachen Bundesländern auf die Beine zu helfen. Bayern hat von 1950 bis 1996 aus dem Finanzausgleich exakt 6,69 Milliarden Mark bekommen, bislang aber nur 6,18 Milliarden eingezahlt - ein Plus von rund 500 Millionen Mark. Ohnehin zahlen die Bayern erst seit 1989. Bis 1986 ließen sie sich ohne Unterbrechung von anderen Ländern unter die Arme greifen. ...“ Fünf Jahre später hat sich das Missverhältnis der unverhältnismäßig hohen Zahlungen Hamburgs noch immer nicht geändert: „Finanzausgleich: Hamburger zahlen am meisten Hamburg musste noch nie so viel Geld in den Länderfinanzausgleich einzahlen wie in diesem Jahr. Insgesamt zahlt die Stadt 500 Millionen Euro – das sind pro Bürger 281 Euro. Damit nimmt die Hansestadt – bezogen auf die Einwohnerzahl – den Spitzenplatz ein. Zum Vergleich: NordrheinWestfalen zahlt 1,8 Millionen Euro – rund 10 Cent pro Einwohner. ...“ (HH A 07.11.03) Hamburg gibt, Berlin nimmt … Sven Kummereincke Hamburg musste 2003 mit 654 Millionen Euro so viel Geld in den Länderfinanzausgleich zahlen, wie nie zuvor. Eine gute Nachricht oder eine schlechte? Beides zugleich. Gut, weil es ein Zeichen der wirtschaftlichen Stärke Hamburgs ist. Und schlecht, weil das Gels fehlt, um die gewaltige Finanzierungslücke im eigenen Haushalt (1,5 Milliarden Euro allein in diesem Jahr) zu verkleinern. Politisch problematisch wird die Sache wegen des Falls Berlin. Die bankrotte Hauptstadt bekommt mehr als fünf Milliarden Euro Hilfe, je rund zur Hälfte vom Bund und von den anderen Bundesländern. Doch offenbar hat Berlin noch Geld genug, um Hamburger Unternehmen mit

50

üppigen Subventionsversprechungen an die Spree zu locken. Wenn Berlin aber mit Hamburger Geld Hamburger Firmen weglockt, dann wird der Gedanke des Länderfinanzausgleichs ad absurdum geführt. Hamburg, seit jeher ein Geberland, hätte also durchaus das Recht, sich zu beschweren. Andere Länder sollten da zurückhaltender sein. Bayern etwa hat jahrzehntelang kassiert und fing just in dem Moment an, das System in Frage zu stellen, als es selber vom Nehmer- zum Geberland wurde.“ (HH A 17.02.04) In diesem Zusammenhang wurde die folgende Aufstellung mit abgedruckt: WER GIBT, WER NIMMT? ZAHLERLÄNDER Land € je Einwohner Hamburg 378 Hessen 308 Baden-Württemberg 203 Bayern 150 Nordrhein-Westfalen 3

Betrag in Mio. € 654,3 1.873,9 2.165,8 1.858,0 49,5

EMPFÄNGERLÄNDER Land € je Einwohner Betrag in Mio. € Berlin 777 2.636,6 Bremen 524 347,1 Mecklenburg-Vorpommern 226 392,1 Sachsen 215 933,4 Thüringen 209 498,1 Sachsen-Anhalt 205 518,6 Brandenburg 194 500,8 Saarland 100 106,5 Rheinland-Pfalz 64 258,9 Niedersachsen 49 393,0 Schleswig-Holstein 6 16,2 Bei der Sachlage kann man das Lamentieren der bayrischen Staatsregierung und deren Klage vor dem BVerfG schon fast als degoutant empfinden! Aber die Geberländer ärgert neben den wegen ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik ständig gestiegenen Ausgleichszahlungen an die ärmeren Bundesländer u.a. auch das Stadtstaatenprivileg - obwohl Hamburg ebenfalls zu den Geberländern gehört -, demzufolge die Einwohner eines Stadtstaates wegen der von diesem geleisteten Metropolfunktion für das sie umgebende Umland anderer Bundesländer höher bewertet werden als die Einwohner anderer (kleinerer) Städte, bei denen innerhalb des jeweiligen Bundeslandes ein interner Ausgleich vorgenommen werden kann. Doch das Umland leistet sich nicht z.B. Theater und Opern von Weltniveau und keine Hochleistungskrankenhäuser, die von den „SpeckgürtelBewohnern“ mit genutzt werden. Die von der Großstadt in den „Speckgürtel“ gezogenen und nun im Umland in einem Eigenheim lebenden Neuzugänge der Flächenstaaten haben weiterhin ihre Arbeitsplätze in den Stadtstaaten, erwirtschaften dort ihr Einkommen und sind auf diese Arbeitsplätze angewiesen, schicken teilweise ihre Kinder weiterhin auf die Schulen des von ihnen wegen des Eigenheimbezuges verlassenen Stadtstaates, zahlen aber nach einer gravierenden juristischen Änderung, der Änderung der Steuererhebung von der Arbeitsplatz- auf die Wohnsitzbesteuerung1, ihre Steuern nicht mehr dort, wo sie ihr Gehalt erwirtschaften, sondern machen den Wohnsitz-Flächenstaat reich, ... . So ist das Stadtstaatenprivileg cum grano salis berechtigt, demzufolge bei der Berechnung des Länderfinanzausgleichs davon ausgegangen wird, dass z.B. für Hamburg jeder Einwohner wie 1,35 Einwohner von Flächenstaaten gezählt werden. Gäbe es die Stadtstaatenwertung nicht, müsste Berlin 4,1 Mrd., Hamburg 1,6 Mrd. und das inzwischen hoch verschuldete, nach der Änderung des Steuererhebungsprinzips ausgeblutete Bremen - dem es so lange wirtschaftlich blendend ging, wie die Arbeitsplatzbesteuerung galt, bevor die die Stadtstaaten benachteiligende Wohnsitzbesteuerung eingeführt worden ist - 750 Mill. mehr in den Länderfinanzausgleich zahlen. Der bis vor das BVerfG getriebene juristische 1

Das für den Arbeitsplatz zuständige Finanzamt war auch für die Abgabe der Steuererklärungen der Arbeitnehmer zuständig, gleichgültig, wo sie wohnten. Dorthin mussten die individuellen Steuern abgeführt werden, die somit den Stadtstaaten zuflossen, die ja auch die Arbeitsplätze in ihrer Gebietskörperschaft schufen und durch ihre Infrastrukturmaßnahmen irgendwie auch »vorhielten«.

51

Kampf um das so behauptete eigene »Recht« insbesondere der süddeutschen Geberländer geht jetzt neben einem erhöhten Selbstbehalt auf Grund durch eigene Anstrengungen gestiegenen Steueraufkommen u.a. um die Quote, mit der die Stadtstaatenbürger Berlins, Hamburgs und Bremens in die anzustellenden Berechnungen einbezogen werden sollen. Und das ist für jeden der Stadtstaaten eine nach „Recht und Gesetz“ zu regelnde Frage der nackten Existenz!. Um die Daumenschrauben anzusetzen, forderte Bayern zu Anfang der Diskussion in gewollter (und wie aus den vorstehenden Auszügen aus Zeitungsartikeln ersichtlich: schon fast verlogener) Verkennung der Realitäten und mit der gleichen mit unredlichen Argumenten vorgebrachten, wegen ihrer alle anderen Regierungschefs nervenden Penetranz dann aber letztlich erfolgreichen Attitüde der ehemaligen britischen Premierministerin »Tina« Margaret Thatcher auf EG-Ebene – „I want my money back!“ - eine generelle Abschaffung des Stadtstaatenprivilegs. Bayern weiß aber die Metropolfunktion seiner Landeshauptstadt München innerhalb des eigenen Landes durchaus angemessen zu honorieren; so erhält München eine »innerstaatliche« Einwohnerwertung von 1,85 Einwohnern! (Und z.B. Düsseldorf wird von seinem Bundesland mit 1,75 gewertet. Auch Stuttgart erfährt von seinem Bundesland eine höhere Wertung, als sie den Stadtstaaten zunächst abgesprochen wurde.) Was aber die drittgrößte Stadt der Bundesrepublik für ihr süddeutsches Umland ist, das ist die zweitgrößte Stadt der Bundesrepublik für ihr norddeutsches Umland. Ich vermag da keinen hinreichend plausiblen juristischen Differenzierungsgrund zu erkennen! Die Stadtstaaten wehren sich mit Gutachten. Nach einem solchen Gutachten von Anfang 2001 könnte Berlin im Vergleich zu 100 Einwohnern eines Flächenstaates eine Verrechnung mit mindestens 144 Einwohner beanspruchen, Bremen bis zu 147 und Hamburg eine Einwohnerwertung von 139 bis 141. Sogar eine höhere Wertung wäre nach dem aktualisierten Gutachten der Professorin Hummel möglich. Angesichts der Vergleichszahlen für den innerstaatlichen Ausgleich, den die jeweiligen Landesmetropolen für ihre Leistungen für ihr Umland von ihren jeweiligen Ländern erhalten, erscheinen die bisher den Stadtstaaten zur »Einwohnerveredelung« zugestandenen Bemessungszahlen ausgesprochen maßvoll angesetzt! Neben den eben genannten Faktoren als Leistung ihrer Metropolfunktion für die angrenzenden Gebiete der Flächenstaaten haben sie höhere Aufwendungen für Sozialhilfeempfänger zu tragen, in den größeren Städten herrscht ein höheres Preisniveau als in den meisten Gebieten der Flächenstaaten, ... Am 24.06.01 gab es in der Frage des Länderfinanzausgleichs dann doch noch einen Kompromiss, dessen Annahme die Bundesregierung durch zusätzliche Zahlungen ermöglichte. Nach diesem Kompromiss, der als „Sieg des Föderalismus“ ausgerufen wurde und mit dem die Diskussion um Länderneugliederungen erst einmal (wieder) auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurden, gelten für die Jahre 2005 bis 2020 nunmehr u.a. folgenden Regelungen:  Die Pro-Kopf-Einnahmen der finanzschwachen Länder werden durch Ausgleichszahlungen aus dem Länderfinanzausgleichsfonds auf 95 % des Mittelwertes der Einkünfte aller Länder angehoben. Die Bundesländer Saarland und Bremen erhalten wegen ihrer desolaten Finanzstruktur darüber hinaus Ergänzungszuweisungen des Bundes.  Die Geberländer dürfen durch ihre Zahlungen nicht mehr unter 100 % dieses Mittelwertes der Einkünfte aller Länder sinken.  Ein Geberland muss künftig von seinen überdurchschnittlichen Steuereinnahmen nicht mehr als 72,5 % abführen.  Das Stadtstaatenprivileg wird weiterhin anerkannt. Ihm wird dadurch Rechnung getragen, dass die Einwohnerzahlen von Berlin, Hamburg und Bremen jeweils zu 135 % bewertet werden. GG und Länderne uordnung

Würde aber eine Neugliederung des Bundesgebietes in andere Länder nicht vielleicht gegen die zurzeit geltende Bestimmung des Art. 79 III GG "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder ... berührt werden, ist unzulässig." verstoßen? Ist somit eine Neugliederung des Bundesgebietes mit dem Ziel der Schaffung von in etwa gleich leistungsfähigen Ländern blockiert? Zur eigenen Meinungsbildung und als Argumentationshilfe sei zunächst auf Art. 118 GG verwiesen. So gehen die Juristen auch vor. Auflösung: Schon allein die Lektüre der alten Fassung der Präambel des Grundgesetzes macht deutlich, dass vor der Wiedervereinigung einige der ursprünglichen Bundesländer weggefallen waren und statt dessen durch Zusammenschluss der dann weggefallenen ursprünglichen Länder das Bundesland Baden-Württemberg

52

entstanden war. Weitere an sich sinnvolle und in der ursprünglichen Regelung des Art. 29 GG zunächst als Verpflichtung aufgegebene, dann nach einer geschwinden Verfassungsänderung nur noch als möglich zugelassene Zusammenschlüsse bisher zu kleiner Länder zu sinnvollen wirtschaftlichen Einheiten scheiterten bisher an landsmannschaftlichen Eifersüchteleien insbesondere der Parteien und Politiker, die dann zum Teil die Macht in einem Bundesland und insbesondere ihre Ministerposten und/oder Abgeordnetensitze in den bisherigen, aber dann aufzulösenden Landesparlamenten verlieren würden. Da gäbe es dann u.a. zwangsläufig auch weniger Startlöcher für das bisher alle vier Jahre stattfindende Rennen um die Kanzlerschaft mit Kandidatur und Gegenkandidatur! Eine Neugliederung des Bundesgebietes ist also durch Art. 79 III GG nicht blockiert, denn der spricht nur grundsätzlich von der Gliederung des Bundes in Länder. Es gibt aber keine grundgesetzliche Bestandsgarantie für ein bestimmtes Bundesland. (Das Land Bremen hat allerdings als kleinstes Bundesland und darum das Bundesland mit den größten Befürchtungen um seine Eigenstaatlichkeit eine niederrangigere Bestandsgarantie ausgehandelt.) Die Bestandsgarantie des Art. 79 III GG bezieht sich also nur auf das Föderalismusprinzip, nicht aber auf die Existenz eines jeden Bundeslandes. Das Fehlen einer grundgesetzlichen Bestandsgarantie für ein bestimmtes Bundesland ergibt sich als Umkehrschluss aus Art. 118 GG, der ebenfalls von Anfang an in der Verfassung stand und die Neugliederung des Landes Baden-Württemberg ausdrücklich vorsah. Eine große Chance, wirtschaftlich tragfähige Ländereinheiten zu bilden, ist bei der Schaffung der ostdeutschen Bundesländer 1990 erst einmal vertan worden, als sich entgegen allem Rat der Wirtschafts- und Finanzexperten die neu zu bildenden Länder in den Grenzen etablierten, in denen sie vor Auflösung durch die DDR bis 1950 existiert hatten. Darauf bestanden sie 1990 - mochte die Kleinstaaterei aus vordringlich wirtschafts- und raumordnungspolitischen Gesichtspunkten heraus auch noch so sinnlos(!) sein - als ihrem so geglaubten guten »Recht«. Wer mochte gegen solche Befindlichkeiten die sinnvollere Lösung eines großen Wurfes durchsetzen? Niemand! Schließlich ist ja jedes der ostdeutschen Bundesländer größer und bevölkerungsreicher als der kleinste westdeutsche Flächenstaat, das Saarland, das allerdings durch den historischen Sonderfall einer zunächst erfolgten erzwungenen Abtrennung durch Abtretung an Frankreich und späteren Wiedervereinigung nach positiv verlaufener Volksabstimmung entstanden war. (Aber was kostet das an Mehrfachem für die Gehälter der Ministerpräsidenten, Minister, Spitzenbeamten, Beamten, Parlamentarier, von denen es insgesamt rund 2.000 geben soll, Mehrkosten für Gebäude, ... !) Es kam erneute Bewegung in die Diskussion der Länderneugliederung, weil einer der beiden Vorsitzenden des "Gemeinsamen Verfassungsausschusses des Deutschen Bundestages und des Bundesrates" zur Erarbeitung einer neuen Verfassung, Prof. Scholz, die Bildung einer "Neugliederungs-Kommission" zur Zusammenlegung von Bundesländern angeregt hat, um "das Grundgesetz für die europäische Einheit fit zu machen, weil die deutsche 16-Länderstruktur noch nicht ausreichend lebensfähig" sei (HH A 12.02.92). Diese Anregungen eines der beiden Kommissionsvorsitzenden verpufften - bis auf eine Verärgerung der Betroffenen – völlig wirkungslos, weil ihre Konkretisierung außer der Neubildung eines Nordstaates u.a. auch vorsah, Niedersachsen mit Sachsen-Anhalt und "das reiche Hessen mit dem schwierigen Thüringen zusammenzutun". Wäre ernsthaft erwogen worden, diese letzteren Vorschläge politisch umzusetzen, hätten sich die Ostdeutschen in ihrer Befindlichkeit ja noch mehr "vereinnahmt" oder "abgewickelt" gefühlt, wenn ihre Länder z.T. in westdeutschen Ländern aufgegangen wären. Das war politisch nicht machbar. Dieser Teil des Vorschlages war aus den vorgenannten Gründen politisch instinktlos! (Das hätte auch der ehemalige »Kurzzeit«-Verteidigungsminister Scholz und jetzige Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages wissen und bei seinen Äußerungen in Rechnung stellen müssen, wenn er nicht das Ansehen der von ihm mitgeleiteten gemeinsamen Bundestags- und Bundesratskommission zur Neuformulierung der Verfassung hätte beschädigen wollen!) Sinnvoll könnte in Ostdeutschland nur ein Zusammenschluss zu kleiner ostdeutscher Länder untereinander sein - wie es diese Überlegungen für das Gebiet der westdeutschen Bundesländer seit Jahrzehnten, z.B. durch das Gutachten der Günther-Kommission, gibt. (Ein Stichwort hierzu war der »Nordstaat«, ein weiteres ist ein »Südwest-Staat«.) Das Thema wird immer ein politischer Dauerbrenner bleiben – der vorläufig letzte Beitrag kam von der Landeschefin der Hamburger Grünen, die sich Ende 2001 gegen die die ganze Region schwächende „norddeutsche Kleinstaaterei“ und für die Schaffung zweier Nordländer aus einerseits Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern und andererseits Niedersachsen und Bremen aussprach - und es werden die unterschiedlichsten Lösungsvorschläge für den Papierkorb erarbeitet werden, z.B.: „Zu viele Länder? ADN Bonn - Bis zu zehn Milliarden Mark an Steuergeldern könnten jährlich gespart werden, wenn

53

die 16 Länderparlamente und -regierungen reduziert und der Bundestag verkleinert würden. Dies hat der Deutsche Beamtenbund (DBB) ausgerechnet. Zusammenschließen sollten sich: SchleswigHolstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern; Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Bremen; Berlin, Brandenburg und Sachsen; Hessen und Thüringen; Rheinland-Pfalz, das Saarland und Baden-Württemberg.“ ( HH A 28.12.95) 1998 forderte der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf eine Reduzierung der Zahl der Bundesländer auf sieben: nur Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sollten in ihrer jetzigen Form erhalten bleiben. Auch die (jetzt) reichen Bundesländer strebten nach Meinung einiger Beobachter mit der 1998 beim BVerfG eingereichten und von ihm 1999 angeordneten Neuordnung des Länderfinanzausgleichs angeblich neben einer schon auf „sehr eigennützige“ (heuchlerische) Argumente gestützten Zahlungsentlastung ebenfalls eine Umgestaltung der Struktur der Bundesländer in annähernd gleich große und an Wirtschaftskraft gleich starke Länder an. Wir werden sehen - eine solche Länderumgestaltung aber wohl eher nicht erleben. Politische Traditionen stehen dagegen. Und die sind meist sehr zäh! 2003 wurde parteiübergreifend(!) von Politikern aus der CDU, der FDP und den Grünen ein neuer Anlauf zur Reduzierung der 16 Bundesländer auf 11, nach einem noch weitergehenden Vorschlag auf 9 2 neu zuzuschneidende Länder unternommen. Später forderte der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel, den Föderalismus auf nur noch 8 leistungsfähige Länder zu begrenzen. Deutschland könne sich die teure und ineffiziente Lösung mit 16 Bundesländern nicht mehr leisten. So solle ein „Nordstaat“ oder „Küstenstaat“ aus den bisherigen Ländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen, wahlweise mit oder Mecklenburg-Vorpommern, gebildet werden. Die in der nach der Wiedervereinigung erfolgten Neufassung der Präambel nunmehr genannte Aufgliederung des Bundesgebietes in Bundesländer kann schon bald durch den trotz zunächst erfolgter Ablehnung durch die Bevölkerung von den Parteien weiterhin projektierten Zusammenschluss der Länder Berlin und Brandenburg von der neuesten Entwicklung überrollt werden. Doch wie immer, so auch 2003: Spätestens wenn es zum Schwur kommt, setzen sich wieder die Leute mit den kleinsten geistigen Karos und den größten landsmannschaftlichen Bedenken oder Vorurteilen durch: „Same procedure as every time!“ Vielleicht wird das 2006 ja anders, und die Brandenburger überwinden ihre Abneigung gegen die Hauptstädter. Anzunehmen ist das meiner Meinung nach aber nicht: bei der Kassenlage des nach der Berliner Bankenpleite und der damit ausgelösten finanziellen Verpflichtungen Berlins ist das eher unwahrscheinlich! Für die 2006 wieder anstehende Befragung der Bürger von Brandenburg und Berlin nach einem Zusammenschluss dieser Länder wurde auch schon statt „Berlin-Brandenburg“ die Wiederauferstehung des Namens „Preußen“ für das neue Gebilde vorgeschlagen, obwohl der Alliierte Kontrollrat das Land Preußen 1947 als „Träger des Militarismus und der Reaktion“ aufgelöst hatte. Neu ist allerdings das mit dem Vorstoß zum Aufbau größerer und - so erhofft - leistungsfähigerer Bundesländer zeitgleiche vereinzelte Bemühen zu einer noch weitergehenden staatlichen Zersplitterung Deutschlands: “Abspaltung Rügen denkt an eigenen Staat von n-tv-Reporter Jörg Jelinnek Ein eigener Inselstaat Rügen. Die Verwaltung der Ostseeinsel hat ein solches Vorhaben in Erwägung gezogen. Dabei wurde geprüft, ob eine Abspaltung von Deutschland wirtschaftliche Vorteile bringen könnte. Landrätin Kerstin Kassner erläutert: "Im Zuge von Diskussionen in Brüssel wurde die Idee geboren, ob die Insel allein lebensfähig ist. Ein positives Beispiel ist dabei die Isle of Man. Und da haben wir gedacht, wir können ja mal schauen, ob vielleicht so ein Vorhaben für uns schlüssig ist." Im Klartext: Außenpolitisch würde zwar Deutschland die Insel vertreten. Innenpolitisch hätte der Inselstaat einen hohen Grad an Eigenverantwortung. So könnten eigene Euros geprägt werden, ebenso Briefmarken. Sammlerobjekte also, die dem Staat viel Geld einbringen könnten. Auch der 2

Angedacht sind folgende, teilweise neue, Gebietseinheiten: Schleswig-Holstein + Hamburg + Mecklenburg-Vorpommern / Bremen + Niedersachsen + Sachsen-Anhalt / Brandenburg + Berlin / Nordrhein-Westfalen / Hessen + Thüringen / Sachsen / Rheinland-Pfalz + Saarland / Baden-Württemberg / Bayern. Strittig ist die dabei u.a. die dann erforderliche neue Stimmengewichtung im Bundesrat.

54

Tourismus könnte davon profitieren. "Wenn man sich die anderen Inseln ansieht, die einen unabhängigen Status haben, dann fällt einem auf, dass sie alle Vorteile davon haben. Denn viele Touristen sind neugierig, die Unabhängigkeit kennenzulernen. Wie die Kanalinseln oder die Isle of Man könnte auch die schöne Insel Rügen von einer solchen Neugier profitieren“, erklärt TourismusVerbandssprecher Raymond Kiesbye. Einige Urlauber haben kein Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Insel. Anderen ist es egal. Sie würden sowieso Rügen besuchen - als größte Insel Deutschlands oder als unabhängige Republik. Ihnen gefällt die Insel. ’Da spielt es keine Rolle, ob sie nun zu Deutschland gehört oder nicht. Die Insel ist einfach eine Reise wert.’ Finanzexperten aus Mecklenburg Vorpommern halten den Plan für nicht finanzierbar. Denn 30 Prozent der Einnahmen erhält die Insel vom Land und vom Bund. Diese würden bei einer Unabhängigkeit Rügens fehlen. Der Finanzbeamte Udo Knapp kann seine Ironie nicht im Zaune halten: ’Da könnte sich Frau Kassner ein Kriegsschiff kaufen und auf dem Schweriner See das Schloss belagern, um damit die Zuschüsse zu erpressen. Vielleicht fahren sie ja auf der Spree zum Bundeskanzleramt und beschießen es.’ Er glaubt, dass viele Rügener mit der Abspaltung von Deutschland vor allem drohen wollen. Denn die Landesregierung in Schwerin bereitet eine radikale Verwaltungsreform vor, die in den nächsten zwei Jahren umgesetzt werden soll. Die Rügener befürchten Nachteile, da sie gemeinsam mit Landkreisen vom Festland verbunden wären und damit ihre Eigenverwaltung der Vergangenheit angehören würde. Das Finanzministerium rät aber den Insulanern, lieber an der Spitze der Kreisgebietsreform zu marschieren und die eigenen Interessen zu sichern.“ (n-tv.de Freitag, 10. Januar 2003) Im Zuge der Föderalismusdiskussion um eine entzerrende Neuregelung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern hat Bundeskanzler Schröder 2004 - wieder einmal - eine Diskussion über eine Neuordnung der Bundesländer angemahnt: es müsse die Frage thematisiert werden, „ob wir wirklich 16 Bundesländer brauchen“. So befürwortet der Kanzler z.B. die Bildung eines Nordstaates – ohne zu sagen, welcher der schon lange angedachten vielen Varianten er dabei den Vorzug geben würde.

1.3 Das GG als oberste rechtliche Norm unseres Staates für insbesondere staatliches, eingeschränkt aber auch privates Handeln Das GG als oberste rechtliche Norm unseres Staates für insbesonder e staatliches, eingeschrän kt aber auch privates Handeln

Das »Grundgesetz« ist als unsere Verfassung unsere oberste rechtliche Norm, an der sich alles staatliche - und wesentlich eingeschränkter auch das private - Handeln auszurichten hat. Wohlgemerkt: (zunächst einmal vorrangig) alles staatliche Handeln. So verbietet z.B. der in seiner Aufzählung der Verbotsgründe anschauliche (spezielle) Gleichheitssatz des Art. 3 III GG „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." zunächst einmal vorrangig und unmittelbar dem Staat eine sachfremde Benachteiligung von einzelnen Bürgern oder Bevölkerungsgruppen aus einem der angeführten Verbotsgründe. Diese Einsicht gilt nur für die letzten Millisekunden der von (nicht nur) rechtlicher Ungleichheit geprägten Menschheitsgeschichte – und auch für diese Millisekunden nicht uneingeschränkt: Als in Kambodscha ab ca. 1975 die Roten Khmer unter Führung von Pol Pot, des "Bruders Nr. 1", die Herrschaft an sich gerissen hatten und ihren »Steinzeitkommunismus« der Bevölkerung oktroyierten, erschlugen sie vor rund 30 Jahren sofort jeden, der eine Brille trug, denn er konnte, so wurde vermutet, lesen - und galt damit als subversiv. Auch andere Lesekundige, die sich nicht verstellt hatten, auf jeden Fall die Leute mit höherer Schulbildung, sind allein ihrer intellektuellen Fähigkeiten wegen entweder gleich umgebracht worden oder sie wurden, um Munition zu sparen, in den „killing fields“ auf den Reisfeldern entweder mit Spaten erschlagen oder durch überharte Arbeit vernichtet, damit sie dem System, das ca. ein Drittel der Bevölkerung getötet hat, nicht gefährlich werden konnten: „Die Macht des Volkes errichten heißt, die Bourgeousie zerstören.“

55

Ein anschauliches historisches Beispiel für die rechtliche Ungleichbehandlung der Geschlechter liefert die Theologieprofessorin Ranke-Heinemann mit ihrem Hinweis auf das jüdische Eheverständnis zu Lebzeiten Jesu: „Das Eheverständnis der Jünger wurde durch Jesu Wort auf den Kopf gestellt. »Du sollst nicht ehebrechen«, bei diesem Verbot der Zehn Gebote verstanden die Juden für Männer und Frauen etwas Verschiedenes: Für den Mann ist nur der Verkehr mit der Frau eines anderen Ehebruch, für die Frau ist jeder Ausbruch aus der eigenen Ehe Ehebruch. Der Mann kann nur eine fremde Ehe brechen, die Frau dagegen auch die eigene. Für den Mann ist Ehebruch nur Einbruch in eine fremde, für sie ist Ehebruch jeder Ausbruch aus ihrer eigenen Ehe. Das liegt daran, daß die Frau nicht als Partnerin, sondern als Besitz des Mannes gewertet wird. Die Frau mindert durch Ehebruch den Besitz ihres eigenen Mannes. Der Mann dagegen mindert durch Ehebruch den Besitz eines anderen Mannes. Ehebruch ist eine Art Eigentumsdelikt. Verkehr mit einer unverheirateten Frau bedeutet darum für den Mann keinen Ehebruch. Laut Jesu Lehre von der Bedeutung des Ein–Leib-Werdens als einer unzertrennlichen Einheit ist diese privilegierte männliche Auffassung von Ehebruch aufgehoben. Aufgehoben ist auch die Vielehe der Männer, die dem Judentum als von Gott gestattet erschien. Galten die Wünsche eines Ehemannes nämlich einer anderen, nicht verheirateten Frau, so konnte er sie neben seiner schon vorhandenen Ehefrau heiraten. Das Judentum zur Zeit Jesu – außer der Qumransekte – bejaht die Polygamie. Das heißt: Ein Ehemann kann seine eigene Ehe nie brechen. Die Frau gehört ihrem Mann, der Mann gehört aber nicht seiner Frau. Jesu Art, den Schöpfungsbericht zu deuten, machte das alles zunichte, was patriarchalische Sicht aufgebaut hatte. Kein Wunder, daß die Jünger meinen, wenn das so ist, heiratet man am besten gar nicht. Solche Ehe ist nicht nach ihrem Sinn.“3

Den Glauben an die Geltung unserer heute aktuell geltenden Gesetze verlor der seit zehn Jahren als Goldschmied in Rheinland-Pfalz lebende, unbezweifelt deutschstämmige Togolese Liebl, der 2001 im Vertrauen auf diese grundgesetzliche Regelung nach einer anfänglichen Stellung eines Asylantrages die Anerkennung als deutscher Staatsbürger beantragte: Sein Großvater war ein bayrischer Kolonialarzt gewesen, der in Togo eine togolesische Prinzessin geheiratet hatte. In § 4 I des seit einiger Zeit auf der politischen Agenda zur Änderung anstehenden Reichs- und Staatsbürgerschaftsgesetzes4 hieß es zum Zeitpunkt der Antragsstellung über den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft: § 4 [Geburt] (1) Durch die Geburt erwirbt die Staatsangehörigkeit 1. das eheliche Kind, wenn ein Elternteil Deutscher ist, 2. das nichteheliche Kind, wenn seine Mutter Deutsche ist. (2) ... Der schwarzhäutige Nachfahre des deutschen Arztes vermutet nun in der Ablehnung seiner Anerkennung als Deutscher – weil auf irgendeinem Papier die Unterschrift des Kaisers fehlen soll - einen Verstoß gegen den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 III GG. Vielleicht wird irgendwann das BVerfG mit diesem Fall befasst sein, weil sich der Antragsteller auf Grund rassistischer Bestimmungen aus der Kolonialzeit diskriminiert fühlt. Wenn Spitzensportler im Wege des weltweit praktizierten „Sportler-Shoppings“ aus so verstandenem nationalen Interesse u.a. auch bei uns eingebürgert werden, warum dann keine Anerkennung als Deutscher für einen schwarzhäutigen Nachfahren eines Deutschen? GG und Zivilrecht

1.3.1 GG und Zivilrecht 1.3.1.1 Grundsätzliche Vertragsfreiheit im Bereich des Zivilrechts und (meist nur) eingeschränkte »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte 3 4

Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 38 f Seit 2000 wird die deutsche Staatsbürgerschaft nicht mehr nur durch das Abstammungsprinzip begründet, sondern auch durch das jus soli, den Grundsatz, dass die deutsche Staatsbürgerschaft an das Territorium (Territorialprinzip) gebunden ist und nicht mehr an die Blutverwandtschaft (Abstammungsprinzip).

56

Grundsätzliche Vertragsfre iheit im Bereich des Zivilrechts und (meist nur) eingeschrä nkte »mittelbare Drittwirku ng« der Grundrecht e

Das dem Staat auferlegte Benachteiligungsverbot gilt für den Privatmann aber nicht so direkt und so umfassend. Der Grund ist die unter Privatleuten eingeschränkte Geltung der Grundrechte. Im privaten Bereich haben die zunächst einmal als Abwehrrechte gegen die Übermacht des Staates gerichteten Grundrechte nur eine »mittelbare Drittwirkung«, was z. B. einige »Blaublüter« sogar im Wortsinne beklagen, weil sie enterbt worden sind, da sie unter ihrem in der Verfassung ihres Hauses vorgesehenen Stand geheiratet haben. Sie sehen sich wegen der Abstammung der nach der Meinung ihrer Clans nicht sorgfältig genug ausgewählten jeweiligen Ehefrauen diskriminiert. Eine diesbezügliche Klage wurde vor längerer Zeit beim BVerfG rechtshängig gemacht; da man aber nichts mehr davon hörte, kann man davon ausgehen, dass das Begehren erfolglos verlaufen war. Ein Vermieter kann nicht jederzeit die von seinem Mieter bezogene Wohnung inspizieren. Einen Mieter schützt über die in der Generalklausel des § 242 BGB normierte Verpflichtung zur Erbringung jeglicher vertraglichen Leistung nach dem Grundsatz von »Treu und Glauben« als eines der mit dieser Bestimmung geöffneten »Einfallstore der Grundrechte in das Privatrecht«, als »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte, das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 I GG. Durch die von Lehre und Rechtsprechung entwickelte »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte kann also - in beschränktem Umfang - eine Grundrechtsbindung sogar zwischen Privaten entstehen, obwohl die Grundrechte zunächst einmal die Beziehung zwischen Individuum und Staat betreffen. Auch wenn selbstverständlich nicht alles in einer Verfassung geregelt ist, gar nicht alles geregelt sein kann, weil zukünftige Entwicklungen nicht absehbar sind, so kann die Rechtsprechung trotzdem über vorhandene Generalklauseln den Zeitgeist auffangen und mit den Wertungen des Grundgesetzes in Übereinstimmung bringen. Unstrittig kann hingegen ohne mittelbare Drittwirkung z.B. ein privater Vermieter bei der Auswahl seiner Mieter ohne Verstoß gegen das Grundgesetz nach jedem ihm gut dünkenden Gesichtspunkt differenzieren und seine Wohnung z.B. nur an Einheimische oder kinderlose Ehepaare vermieten. Er braucht nicht Fremde oder Eltern mit lärmenden Bälgern, die vielleicht dann noch in unmittelbarer häuslicher Gemeinschaft mit ihm wohnen und ihm so seine Mittagsruhe rauben würden, zu berücksichtigen. Für ihn gilt das das Zivilrecht beherrschende Prinzip der grundsätzlichen Vertragsfreiheit, was sowohl die Freiheit umfasst, einen Vertrag zu schließen, wie auch die Freiheit, einen Vertrag nicht zu schließen. Ein zwar privatwirtschaftlich organisiertes Versorgungsunternehmen hingegen, das aber als Monopolist die Einwohner eines Wohngebietes allein mit Gas, Wasser oder bis 1999 auch mit Strom versorgt(e), dürfte nicht die Belieferung mit seinem Produkt verweigern, weder gegenüber z.B. einem erwiesenen Atomkraftgegner, noch gegenüber einem Ausländer. Wer ein Monopol innehat, steht unter Abschluss-/»Kontrahierungs-« und Lieferzwang. Alles andere dazwischen ist juristische Grauzone und wird nach tatsächlichen und Zumutbarkeitsgesichtspunkten gemäß § 242 BGB unter Berücksichtigung des Grundsatzes von »Treu und Glauben« innerhalb der durch das BGB vorgegebenen Strukturen entschieden: Ein Einzelhändler, der sich darüber geärgert hatte, dass eine bestimmte Kundin bei ihm immer nur Sonderangebote gekauft, die teuren Waren dagegen liegen gelassen und ihr deswegen Hausverbot erteilt hatte und daraufhin von der pfennigbewussten Hausfrau mit dem Hinweis auf die erst in ca. 4 km Entfernung gelegene nächste Einkaufsmöglichkeit auf Verkaufszwang aus (behaupteter) Monopolstellung heraus verklagt worden war, obsiegte in dem ihm von der sparsamen Hausfrau aufgenötigten Prozess. 4 km seien eine noch zumutbare Entfernung für Einkäufe, entschieden die Richter, da könne noch nicht von einer Monopolstellung gesprochen werden. Das Hausverbot wurde vom Gericht nicht aufgehoben. (Für die entstandenen und von ihr als verlierende Prozesspartei nun zu zahlenden Rechtsanwalts- und Gerichtskosten hätte sie jahrelang teuer einkaufen können. Das kommt davon, wenn man sich im »Recht« glaubt, ohne es jedenfalls nach Meinung des den Prozess entscheidenden Richters - zu sein!) Kritischer wird es mit der»grundsätzlichen«5 Vertragsfreiheit des Zivilrechts, abgesehen von der aufgehobenen Vertragsfreiheit bei Monopolstellung von Versorgungsunternehmen, vielleicht bei folgendem Sachverhalt:

1.3.1.2 Privates Hausrecht überwindet das Diskriminierungsverbot des (speziellen) Gleichheitssatzes aus Art. 3 III GG "Diskotheken Ausländer werden ausgegrenzt 5

Wenn ein Jurist »grundsätzlich« sagt, dann bedeutet das, dass es mindestens eine juristisch relevante Ausnahme gibt, bei der es dann nicht so ist wie in dem aufgestellten Grundsatz; daher das Sprichwort: "Keine Regel ohne Ausnahme", das seinerseits auch nur grundsätzliche Geltung hat, denn: „Alle Menschen müssen sterben!“, und davon gibt es keine Ausnahme.

57

Türsteher verlangen Ausweise mit Arbeitsnachweis Mit den Worten `Ausländer kommen hier nicht rein' verweigern die Türsteher vieler Hamburger Diskotheken ausländischen Jugendlichen den Zutritt. Abendblatt-Mitarbeiterin Petra Neumann versuchte am Wochenende, gemeinsam mit Ciro (24) aus Italien, seiner deutschen Freundin Sabine (22) und den türkischen Studenten Halis (24) und Ersel (23) zum Tanzen zu gehen. Um 23.30 Uhr vor dem `Posemuckel' an der Bleichenbrücke hat Ciro, ein 24 Jahre alter Italiener aus Mailand, noch gute Laune. Der hochgewachsene junge Mann, der seit vier Jahren als Koch in einem italienischen Restaurant arbeitet, will zusammen mit seinen Freunden in der Diskothek in seinen Geburtstag hineinfeiern. Die Jugendlichen haben sich schick für die Szene gemacht. Ersel, ein 23 Jahre alter GermanistikStudent und seit sieben Jahren in Hamburg, trägt sogar einen dunklen Anzug. Doch aus der Geburtstagsfeier wird nichts. `Ausländer lassen wir nur mit Clubausweis rein,' sagt der Türsteher des `Posemuckel'. `Die Frauen können durch, aber ihr müßt erst Ausweise beantragen.' Es dauere allerdings sechs Wochen, bis der Antrag bearbeitet sei, auf dem neben einer Fotokopie des Passes und der Aufenthaltsgenehmigung auch der Name des Arbeitgebers angegeben werden muß. `Wir hatten viel Ärger mit Türken und können keine Ausnahme machen', heißt es zur Begründung. `Sehen wir denn aus wie Verbrecher?' fragt Halis, der in Istanbul geboren wurde und seit sechs Semestern in Hamburg Erziehungswissenschaften studiert. Daß Ausländer - und nur sie - eine Clubkarte brauchen, habe die Polizei angeordnet, sagt der Türsteher. So könnten Ausländer nach Schlägereien leichter ermittelt werden. Der Polizei ist allerdings von solchen Absprachen nichts bekannt. `Das wäre extrem ungewöhnlich', sagt Polizeisprecher Ralf Stahlberg. Nächste Station auf der Suche nach einer Diskothek ist der `Fürstenhof' an der Bramfelder Straße. Es ist mittlerweile 1 Uhr. Die Abweisung vor Hamburgs ältester Diskothek ist unverhohlen und schroff: `Wir dürfen keine Ausländer reinlassen', sagt die Kassiererin. Der Türsteher bestätigt: `Anordnung vom Chef.' `Fürstenhof'-Chef Ernst Utesch will so etwas jedoch nie gesagt haben. `Ausländer dürfen natürlich in den `Fürstenhof'. Wir haben da auch Schwarze', sagt er. `Vielleicht waren die Abgewiesenen in diesem Fall nicht gut angezogen. Wer direkt vom Sportplatz zu uns kommt, darf natürlich nicht rein.' Es ist kurz vor zwei Uhr, als die Gruppe vor dem `Madhouse' am Valentinskamp steht. Aus der Disco dröhnt Musik, Jugendliche kommen und gehen. Doch auch hier werden Ersel, Halis und Ciro abgewiesen. `Einlaß nur mit Einladungskarte', lautet die `Madhouse'-Formulierung, um unliebsame Besucher fernzuhalten. Aus der Disco kommende deutsche Jugendliche versichern uns, daß sie weder Stammgäste noch Besitzer einer Einladungskarte seien. `Was soll's', sagt Ciro resigniert. `Große Lust, meinen Geburtstag in einer Hamburger Disco zu feiern, habe ich mittlerweile sowieso nicht mehr." (HH A 11.01.93) Die Verbitterung über diese (vermutlich von den Chefs der Diskotheken angeordnete) Aussortierpraxis der Türsteher kommt auch in dem Satz des als einer der 11 von 88 für Deutschland bei der LeichtathletikWeltmeisterschaft 1999 in Sevilla gestarteten farbigen Athleten Charles Friedek nach dem Gewinn der Goldmedaille im Dreisprung zum Ausdruck: „Mit meiner Hautfarbe komme ich nicht in die Discos rein, aber Gold für Deutschland darf ich holen.“ Genau so sieht es der Weitspringer Xavier Naidoo, der sich darum mit anderen in der Kampagne »Rock gegen rechte Gewalt« engagierte. Hätten die Jugendlichen Einlass in ein staatliches Jugendzentrum begehrt, hätten sie nicht abgewiesen werden dürfen. Dem Staat wäre eine (diskriminierende?) Einlasspraxis nach der Nationalität der Besucher verwehrt, wenn nicht vielleicht gerade z. B. ein Nationalitätenfest oder Ähnliches als geschlossene Gesellschaft gefeiert würde. Doch dem Privatunternehmer wird die Freiheit des „Aussortierens“ zugestanden: Selbst wenn es sich um die einzige privatwirtschaftlich betriebene Diskothek in einem weiten Umkreis handelt, beständen für klagende ausländische Jugendliche vor Gericht wohl kaum Chancen, Einlass durch ein stattgebendes Urteil zu erzwingen, da Disko-Besuche nicht zu den lebenswichtigen Gütern gehören. Wenn aber viele Discotheken existieren, die mit sogar noch unterschiedlicher Begründung Ausländern den Zutritt verweigern, dann wird da außer ein bisschen Imponiergehabe von Seiten einer für Jugendbelange zuständigen Behörde juristisch nichts zu machen sein. Die ausländischen Jugendlichen können (nach meiner unmaßgeblichen juristischen Einschätzung) jedenfalls nicht unter Berufung auf Art. 3 III GG den Zutritt zu den in dem Zeitungsartikel genannten Hamburger Diskotheken durch ein stattgebendes Gerichtsurteil erzwingen.

58

Privates Hausrech t überwindet das Diskrimi nierungs verbot des (spezielle n) Gleichhe itssatzes aus Art. 3 III GG

"Jugendschutz reagiert auf Diskriminierung von Ausländern Klage gegen Disco-Betreiber? Disco-Betreiber, die Ausländern generell den Zutritt verweigern, müssen sich möglicherweise vor Gericht für ihre diskriminierende Praxis verantworten. Wolfgang Hammer, Leiter des Referates Jugendschutz, will Inhaber, die nur Deutsche in ihre Disco lassen, wegen `Anstachelung zum Rassenhaß' anzeigen. `Unsere Rechtsabteilung prüft zurzeit, welche strafrechtlichen Sanktionen gegen dieses ausländerfeindliche Verhalten möglich sind,' sagt Wolfgang Hammer. `Es kann nicht angehen, daß durch dieses Geschäftsgebaren jungen Ausländern ein wesentlicher Freizeitbereich verwehrt wird.' Hammer will außerdem zusammen mit Jugendorganisationen wie dem Landesjugendring eine Kampagne gegen die Diskriminierung ausländischer Jugendlicher starten. Wie berichtet, kommen zum Beispiel in den Fürsthof und in das Posemuckel Ausländer entweder gar nicht oder nur nach Vorlage des Reisepasses und eines Beschäftigungsnachweises hinein. Wolfgang Hammer selbst erhielt kurz nach Erscheinen des Berichts Anrufe, in denen anonym gedroht wurde: `Wir werfen dir Molotow-Cocktails ins Büro, wenn du dich weiter gegen kanakenfreie Discos einsetzt.'" (HH A 15.01.93) Mit seiner Drohung der Erstattung einer Strafanzeige wegen "Aufstachelung zum Rassenhass" gemäß § 131 StGB schlägt der Herr Hammer vor der ihn interviewenden Presse natürlich nur wie ein Pfau ein großes publizistisches Rad ohne jeden weiteren Effekt, damit die ausländischen Jugendlichen glauben, ihnen würde von Behördenseite wirkungsvoll geholfen. Doch schon die Suche nach einem Hebel aus dem Bereich des Strafrechts zur Lösung eines zivilrechtlichen Problems zeigt, wie wenig aussichtsreich ein Unterfangen der Behörde in diesem Zivilrechtsstreit gewesen war, als es noch nicht das Antidiskriminierungsgesetz gab. Ehrlicher wäre es gewesen einzugestehen, dass von staatlicher Seite in diesem Fall nicht geholfen werden konnte. Die Erzwingung von Einlass für Ausländer in eine Disco ist eher ein marktwirtschaftliches, genauer: ein betriebswirtschaftliches, aber bestimmt kein (straf-)juristisches Problem! Da muss jemand die Marktlücke des Disco-Angebotes für Ausländer oder Ausländer und ihre deutschen Freunde erkennen und durch das Angebot der Eröffnung einer Disco "Multi-Kulti" wahrnehmen. (Der Staat kann dabei vielleicht durch Bereitstellung eines geeigneten Grundstücks oder Gebäudes unterstützend tätig werden.) Aber wenn man unter Hinweis auf § 131 StGB in Discotheken den Zutritt für Ausländer erzwingen zu können vorgab, dann gab man sich der Lächerlichkeit preis! Das zeigt ein Blick in das Gesetz - und ein Blick in das Gesetz behebt manchen Zweifel: "§ 131 StGB Verherrlichung von Gewalt; Aufstachelung zum Rassenhaß (1) Wer Schriften (...), die Gewalttätigkeiten gegen Menschen in grausamer oder sonst unmenschlicher Weise schildern und dadurch eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrücken oder die zum Rassenhaß aufstacheln, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, 3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder 4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine Darbietung des in Absatz 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk verbreitet. (3) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient. (4) Abs. 1 Nr. 3 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt." Losgelöst von den vielen unterschiedlichen im "Tatbestand" (Gesetzeswortlaut) des § 131 StGB aufgeführten Tatmodalitäten einer möglichen Verhetzungshandlung muss irgend etwas mit Schriften oder ihnen gleichgesetzten Verbreitungsweisen unternommen worden sein, das zur Verherrlichung von Gewalt anregte oder zum Rassenhass aufstachelte. Ist das nicht der Fall, so kann die jeweilige (straf-)gesetzliche Bestimmung nicht angewendet werden. Das beinhaltet die in Art. 103 II GG u.a. geregelte und später noch genauer zu besprechende "Garantiefunktion" der strafgesetzlichen Tatbestände.

59

Art. 103 II GG „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Da die Türsteher keine Schriften verbreitet, sondern nur gesagt hatten: "Du kommst hier nicht rein!", kann die von dem Leiter des Hamburger Referates Jugendschutz wohl nur zu Pressezwecken bemühte Strafnorm gar nicht einschlägig sein! Der Anwalt des Diskothekenbetreibers wird sich bei einer Strafanzeige völlig entspannt zurücklehnen! (Das müsste die Rechtsabteilung des Bezirksamtes dem Leiter des Referates Jugendschutz gesagt haben - und wird es wohl auch getan haben!) Aber die Hamburger Jugendbehörde blieb verbissen - und wohl mehr auf Medienwirksamkeit bedacht - am Ball: "Klage gegen Disco-Betreiber? Kein Zutritt für Ausländer - Jugendbehörde prüft rechtliche Schritte Betreiber von Discotheken, die ausländischen Jugendlichen keinen Einlaß gewähren (das Abendblatt berichtete), könnten sich bald auf der Anklagebank wiederfinden: Jugendbehörde und Landesjugendring prüfen, ob juristische Schritte möglich sind. `Wir haben mehrere Rechtsanwälte mit der Prüfung beauftragt', sagt Klaus Groß-Weege, Geschäftsführer des Landesjugendrings. Juristen halten Klagen gegen `ausländerfeindliche' Disco-Betreiber auf strafrechtlicher und zivilrechtlicher Ebene für möglich. `Vor einem Zivilgericht könnte man wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, der sich aus Artikel 3 des Grundgesetzes ergibt, klagen', so der Hamburger Rechtsanwalt Frank Vogler. Voraussetzung sei eine eindeutige Diskriminierung. Die diskriminierten Jugendlichen könnten aber auch Anzeige wegen Beleidigung oder Volksverhetzung erheben. Folge für die Betreiber könnte der Entzug der Konzession sein, so Vogler. Der Erfolg der Klagen ist unklar. Professor Reinhard Bork, Zivilrechtler an der Universität Hamburg: `Bei diesem Problem greift der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Er gilt in unserem Rechtssystem als sehr hohes Gut. Ob Gerichte solchen Klagen entsprechen, ist daher sehr unsicher.' Rechtsanwalt Falk Vogler ist optimistischer: `Der Gleichheitsgrundsatzes aus dem Grundgesetz gilt nicht nur gegenüber dem Staat, sondern mittelbar auch gegenüber Privatleuten.' Es sei daher durchaus möglich, daß ausländische Jugendliche sich auf ihn berufen könnten, wenn sie diskriminiert würden. Deutsche Jugendliche, die sich über die Türsteher vor Hamburgs `In'-Discos ärgern, weil auch sie draußen bleiben müssen, haben allerdings keine Chance, den Eintritt mit Hilfe eines Gerichts zu erzwingen. Der Dicotheken-Besitzer hat das Hausrecht. Wenn sein Laden voll ist, ein Gast nach Randale aussieht oder sonst seinen Vorstellungen nicht entspricht, kann er ihn abweisen', sagt Rechtsanwalt Vogler. Einzige Ausnahme sind auch hier eindeutige Diskriminierungen. `Aber die wird man fast nie beweisen können.' Zivilrechtler Bork: `Krawattenzwang ist keine Diskriminierung.' Die CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Madeleine Göhring will unterdessen in einer Kleinen Anfrage wissen, warum die Jugendbehörde erst jetzt gegen `ausländerfeindliche Disco-Betreiber' vorgehen will. Der Senat schöpfe seine rechtlichen Möglichkeiten offenbar nicht aus." (HH A 15.02.93) Frau Göhring: Der Senat hat gar keine! Darum ist er ja auch gar nicht "vorgegangen". Er schlägt nur, wie ein Pfau, der Presse gegenüber das große Rad. Da helfen nur „Türken-Discos“. Zwölf Jahre später versuchte Ende 2004 die rot-grüne Regierungskoalition mit einem projektierten Anti-Diskriminierungsgesetz eine rechtliche Möglichkeit für ein Eingreifen zu schaffen. (Näheres siehe im übernächsten Kapitel 1.3.2.1.1) Die Verweigerung des Zutritts zu einer Disco durch den Türsteher ist Madonna in New York laut einer Pressemeldung auch passiert. Sie konnte aber drohen: "Wenn ich hier nicht gleich reingelassen werde, dann kaufe ich den Laden, und Du fliegst." Das half! Die ausländischen Jugendlichen in Hamburg und Madonna in New York sind nicht die einzigen, denen der Zutritt zu einer Lokalität verwehrt wurde. Das passiert hunderten, tausenden deutschen Jugendlichen jedes Wochenende, ohne dass einer der Einlass Begehrenden die Chance hätte, mit einer Strafanzeige wegen Beleidigung den Eintritt zu erzwingen. Wieso soll dann ausländischen Jugendlichen rechtlich gestattet werden, was deutschen Jugendlichen rechtlich versagt wird? Schon allein diese Kontrollüberlegung zeigt die Schwäche des (behaupteten) strafjuristischen Argumentes der Hamburger Jugendbehörde! Und in anderen Ländern Europas ist das ebenso. Die Problematik gilt übrigens nicht nur für Jugendliche und Discotheken. So habe auch ich einmal Lokalverbot

60

in einem meinem Haus sehr nahe gelegenen und von einem Deutschen geführten Restaurant erhalten - nachdem ich ein zu zähes Steak hatte zurückgehen lassen -, ohne dass die Chance bestände, dieses Verbot gerichtlich für ungültig erklären zu lassen. Ich hätte halt gleich ins Block-House gehen sollen! Nun gehe ich noch mehr als vorher zu Chinesen, Griechen, Indern, Italienern, Jugoslawen und Spaniern essen. Und wenn bei nachmittäglichem Vorstadtbummel ein griechischer Gastwirt in seinem völlig leeren Lokal ganz untypischerweise das Ausschenken von je einem Glas Wein an meine Frau und mich verweigerte, weil wir nicht gleichzeitig auch Essen mitbestellten, sondern - in Erinnerung eines wunderschönen Segeltörns durch den Dodekanes von Samos nach Rhodos - nur einfach den Wein trinken wollten, dann besteht für den unfreundlichen Wirt, der sicher kein Nachfahre der für ihre Gastfreundschaft heute immer noch berühmten Philemon und Baucis gewesen sein kann, auch kein »Kontrahierungszwang«. Da muss man sich dann einen anderen Griechen suchen. Gedacht, getan - gefunden. Wie gesagt: Dem Staat ist eine sachfremde Benachteiligung von einzelnen Bürgern oder Bevölkerungsgruppen aus einem der im speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 III GG angeführten Verbotsgründe untersagt. Dabei kann im Einzelfall immer strittig sein, inwieweit eine Benachteiligung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe sachfremd ist - oder auch nicht. Dieses zuvörderst dem Staat aufgegebene Benachteiligungsverbot gilt für den Privatmann aber nicht so umfassend. "Unerwünschte Gäste ap Karlsruhe - Spielbanken dürfen Kunden ohne Begründung den Zutritt verweigern. Das hat der Bundesgerichtshof im Falle eines Ehepaares entschieden. Es spielte 18 Jahre im Kasino Travemünde und lebte von den Gewinnen." (HH A 26.08.94)

1.3.2 Grundrechte und ihre Bedeutung am Beispiel des allgemeinen und des speziellen Gleichheitssatzes von Art. 3 GG 1.3.2.1 Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 I GG Bisher war nur von dem speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 III GG die Rede, um das Wesen der Grundrechte zu erklären. Die Formulierung »spezieller« Gleichheitssatz legt die Vermutung nahe, dass es auch einen »allgemeinen« Gleichheitssatz geben muss, denn sonst wäre die Formulierung ja unsinnig. (Rückschlüsse auf den Sinn einer Formulierung zu ziehen, ist bei ungenau formulierten Gesetzen eine wichtige juristische Tätigkeit!) Der allgemeine Gleichheitssatz lautet: Allge meiner Gleich heitssa tz des Art. 3 I GG

„Art. 3 I GG Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." (Wohlgemerkt: „vor dem Gesetz“; nicht unbedingt im privaten Bereich, z.B. vor einem den Einlass in eine Disco recht willkürlich regulierenden Türsteher, wie wir ihn im letzen Kapitel kennen gelernt haben!) Den in Art. 3 I GG zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Gleichheitssatz erklärte Gerhard Branstner mit den Worten: „Die Objektivität der Gesetze besteht darin, daß sie sich nicht bestechen lassen.“ Humorvoller und darum eingängiger formulierte Germund Fitzhum: „Das Auge des Gesetzes zwinkert nicht!“ Das große Ziel des allgemeinen und des zur notwendig erachteten Klarstellung zusätzlich speziell normierten Gleichheitsgebotes in Art. 3 ist die Verwirklichung von „Gerechtigkeit“. Eine von den Gedanken und Forderungen der Französischen Revolution inspirierte Demokratie muss allen ihren politischen Vorstellungen und Maßnahmen den Gleichheitssatz (in welcher Ausprägung auch immer) zu Grunde legen! Vor dem Gesetz dürfen nicht einige Bürger »gleicher« sein als wir anderen: Der Staat darf keinen Bürger ungerechtfertigt und damit willkürlich benachteiligen oder bevorzugen. Natürlich beziehen immer einige Gruppen Leistungen, die

61

andere nicht beziehen. Will man feststellen, ob z.B. eine nicht begünstigte Gruppe unberechtigt schlechter und damit ungleich behandelt wurde, dann muss geprüft werden, ob sie ohne sachlich vertretbaren Grund und damit willkürlich effektiv schlechter gestellt wurde als die Vergleichsgruppe. 1.3.2.1.1 Gleichheitssatz des Art. 3 GG als »Willkürverbot« Dieses Grundrecht auf Gleichbehandlung aller Bürger ohne sachfremde Differenzierung in der Form von Bevorzugung oder Diskriminierung bindet als »Willkürverbot« alle staatlichen Gewalten. Es verlangt nach dem schon von dem größten Gelehrten der Antike mit Wirkung in die Neuzeit, Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), aufgestellten Gleichheits- oder Gleichbehandlungsgrundsatz, wesentlich Gleiches rechtlich gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend rechtlich ungleich zu behandeln. Andersherum ausgedrückt ist es dem Staat also verboten, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln. Damit ist dem Staat eine willkürliche, d. h. sachfremde, sich zum Vorteil des Einen oder einer Benachteiligung des Anderen auswirkende Differenzierung verboten. Wenn sich der Staat in einer bestimmten Problemlage für eine bestimmte rechtliche Vorgehensweise entschieden hat, dann darf er in den nächsten gleichgelagerten Fällen grundsätzlich nicht davon abweichen und muss sie analog den zuvor entschiedenen behandeln – wenn er nicht mit seiner anders gelagerten Entscheidung aus wohl erwogenen und eventuell vor den Verwaltungsgerichten zu rechtfertigenden Gründen eine andere Verwaltungspraxis beginnen will, an die er sich dann (erst einmal) zu halten hat. Es tritt somit auf Grund des Gleichheits- oder Gleichbehandlungsgrundsatzes eine Selbstbindung der Verwaltung durch vorgängiges Verwaltungshandeln ein. Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz und die sich daraus ergebende Selbstbindung der Verwaltung ist auch anderen Rechtssystemen nicht fremd: Der britische Thronfolger Prinz Charles hatte in Anwesenheit seiner Mutter, der Queen, auf Schloss Windsor seine zweite Trauung mit seiner Dauerliebe, der nach der Terminologie der unter diesem Verhältnis zerbrochenen ersten Ehefrau des Thronfolgers, Lady Diana, als „Rottweiler“ beschimpften Camilla Parker Bowles, vornehmen lassen wollen. Die Rechtsberater der Queen hatten jedoch übersehen, dass nach einem britischen Gesetz ein Ort, der einmal die Trauungslizenz erhält, für drei weitere Jahre danach allen anderen Kandidaten offen stehen muss, die an gleicher Stelle den Bund fürs Leben schließen wollen. Erschreckt ob der Aussicht, dass eine Heerschar von Heiratswilligen sich demnächst zur Trauung auf Schloss Windsor würde anmelden wollen, war die Queen „not amused“! Die Familie machte einen Rückzieher und entschied sich für die standesamtliche Trauung in der Guildhall von Windsor auf dem Standesamt, wobei sich ein weiteres juristisches Problem auftat, denn ein Thronfolger ist ja nicht so jemand wie Sie und ich: Der Lordrichter Charles Falconer hatte zwar erklärt, die Regierung befinde die standesamtliche Trauung von Prinz Charles und Camilla Parker Bowles für legal. Andere Rechtsexperten führten demgegenüber an, dass für Mitglieder des Königshauses ausschließlich eine kirchliche Eheschließung erlaubt sei: Als 1836 per Gesetz die zivile Trauung in England und Wales eingeführt worden war, waren die Mitglieder der königlichen Familie ausdrücklich davon ausgeschlossen worden! Als das Gesetz 1949 aktualisiert worden war, blieb die Ausnahme für die Royals bestehen. Darum durfte Prinzessin Maregret, die Schweseter der Queen, in den 50er Jahren auch nicht den geschiedenen Peter Townsend heiraten. Und Charles’ Schwester Anne ehelichte Tim Laurence 1992 in zweiter Ehe in Schottland, wo andere Gesetze gelten. Weil aber Charles und Camilla (wegen ihrer ehebrecherischen Beziehung zueinander) geschieden sind, verbietet die anglikanische Kirche eine kirchliche Trauung! Ein juristisches Dilemma, aus dem es nach britischem Recht eigentlich keinen Ausweg gab! Und trotzdem heirateten sie in Windsor und der Erzbischof von Canterburry vollzog den kirchlichen Ritus, nachdem beide die früheren ehelichen Verfehlungen ihrer Liebesbeziehung bekannt hatten. Das war nur möglich, weil Großbritannien sieben Jahre zuvor der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten war, und nach der sind alle Menschen gleich, auch ein Kronprinz und seine frühere Geliebte! Simmel hat wieder einmal Recht mit seinem schönen Buchtitel: „Gott schützt die Liebenden!“ Dem so abstrakt formulierten Grundsatz, wesentlich Gleiches rechtlich gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend rechtlich ungleich zu behandeln, kann man zustimmen. Er hört sich nicht unbillig an und darum wurde der von Aristoteles formulierte Gleichheitssatz vom BVerfG aufgegriffen und seiner Rechtsprechung zu Grunde gelegt. Dabei kann allerdings im Einzelfall durchaus strittig sein, wann etwas »gleich« und wann etwas anderes »ungleich« ist! Zum bloßen Wundern, da in der Presse ohne nähere Begründung mitgeteilt: „Unterschiedliche Bezahlung verfassungsgemäß Gefangenenlohn Es verstößt nicht gegen das Grundgesetz, dass Strafgefangene etwas mehr Lohn für ihre Arbeit

62

erhalten als Untersuchungshäftlinge. Diese Entscheidung hat am Mittwoch eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe veröffentlicht. Das Gericht nahm die Verfassungsbeschwerde eines Untersuchungsgefangenen mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung an. (AP)“ (Die Welt 13.05.2004)

Für Aristoteles ergab sich auf Grund der ihm offensichtlichen biologischen Ungleichheit der menschlichen Körper – wobei der weibliche, (unter den Menschen) allein Leben spendende nicht als der vollkommenere, sondern aus auf Hippokrates’ »Erkenntnissen« fußender männerzentrierter Sicht als der wesenhaft unvollkommene weil menstruierende Körper angesehen wurde, der nicht im Stande sei, Unreinheiten über den Schweiß auf sanfte und anmutige Weise auszuscheiden und darum zu seiner Reinigung auf die Menstruation angewiesen sei - aus dem von ihm formulierten Gleichheitssatz z.B. zwingend, dass Männer untereinander gleich, Frauen6 und Sklaven im Vergleich zu jenen aber ungleich und somit von den Staatsbürgerrechten auszuschließen seien: Weil Frauen menstruieren, seien sie juristisch als minderwertig zu behandeln! Und was galt dann aber für Frauen nach ihrer Fruchtbarkeitsphase? Da wurden ihnen keine Rechte neu eingeräumt. Männerlogik, auch in der das Geistesleben der Antike und des gesamten Mittelalters prägender »aristotelischer Vollkommenheit«: Nein danke! Solch eine gravierende rechtliche Benachteiligung musste - wenigstens dem äußeren Schein nach - mit irgendeinem und wenn auch noch so flauen (Schein-)Argument begründet werden; und wenn die (Schein-)Begründung ideologisch auch noch so weit hergesucht wurde. Aber amüsant-interessant ist sie noch heute. Dahinter steckte u.a. der Streit, was bei der Entstehung neuen Lebens wichtiger ist: die (weibliche) Eizelle oder der (männliche) Samen? Auf Autofahrerniveau veranschaulicht: Der Motor oder der Starter. Die meinungsbildenden Männer des alten Griechenlands wie Aristoteles waren selbstverständlich der Meinung: der Samen. Das verwundert nicht, insbesondere da die Eizelle erst 1827 entdeckt wurde, der Samen hingegen von Anbeginn an offensichtlich, so oder so in aller Munde war. Bis zur Entdeckung der Eizelle, bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts also, glaubte man, dass vom Mann ein klitzekleiner Mensch in das „Gefäß“ Frau ergossen werde und „Homunkulus“ – so wurde er genannt – dort zu Babygröße heranwachse. Interessant ist jedoch die Begründung, mit der von den »alten Griechen« die Rechte der Frauen beschnitten wurden: Wie ja jeder (göttergläubige Grieche) »wisse«, sei in früher Vorzeit die Göttin Athene ohne Mutter geboren worden, da sie im Hirn des Zeus entstanden (und als Kopfgeburt darum später als Göttin mit dem Referat „Weisheit“ betraut) und dem Haupte des Zeus direkt entsprungen sei (nachdem der zuvor seine mit Athene schwangere Geliebte vorsichtshalber gefressen hatte, weil ihm, ähnlich wie später dem König Laios, dem Vater von Ödipus, orakelt worden war, dass er für seinen Vatermord an Kronos von einem eigenen Sohn vom Götterthron gestürzt werden würde, so er denn einen Sohn zeugen würde). Also, schlussfolgerten gelehrte Griechen spitzfindig auf Grund der angeblichen göttlichen Kopfgeburt der Göttin durch Göttervater Zeus – was den irdischen Männern nicht möglich war, war also dem obersten der Götter möglich: ohne Zwischenschaltung einer Frau als »Gefäß« Leben zu spenden –, also folgerten die für die rechtliche Benachteiligung der Frauen juristische Scheinargumente suchenden griechischen Männer als weitere männliche, aber dieses Mal irdische männliche Kopfgeburt, sei der mütterliche Teil für die Entstehung neuen Lebens nicht ausschlaggebend. Folglich seien die Männer wichtiger, darum ständen ihnen mehr Rechte zu als den Frauen. Eine sophistische Spitzfindigkeit! Und eines Aristoteles nicht würdig - zumal 150 Jahre früher von anderen Griechen die soziale Gleichstellung der Frauen mit den Männern als gesellschaftlicher Alternativentwurf zu der praktizierten Realität schon gedacht worden war. Strathern erzählt in „Pythagoras & sein Satz“, dass von den dem Glauben der Wiedergeburt in jeglicher lebender Gestalt und Form anhängenden Pythagoräern nicht nur die Sklaven (trotz ihrer nicht durch Freilassung aufgehobenen Sklavenstellung), sondern auch sogar(!) die Frauen als 6

Frauen wurden von den frühen griechischen Anatomen und »Körper«-Philosophen - insbesondere Hippokrates (460 – 377 v.Chr.) und darauf fußend Galen/Galemos (131 – 201 n. Chr.), dessen Schriften die gesamte antike Heilkunde zusammenfassten und das ganze Mittelalter hindurch die medizinische Lehrgrundlage waren, - als „umgekehrte Männer“ angesehenen. Laqueur fasst in seinem Buch „Auf den Leib geschneidert. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud“ die damaligen »phallozentrischen Vorstellungen« der Männer in den Worten zusammen: „Frauen [waren] im Grunde genommen Männer ..., bei denen ein Mangel an vitaler Hitze – an Perfektion – zum Zurückbehalten von Strukturen im Inneren des Leibes geführt hat[te].“ Vgl. und zitiert nach Angier, N.: Frau - Eine intime Geographie des weiblichen Körpers, S. 75 f Und so »phallozentrisch« definierte gravierende körperliche Mängel bedingten Rechtsmängel: Es war nach dem Gleichheitssatz des Aristoteles nur »gerecht«, dass »Mangel-Männer« selbstverständlich den ihnen von den »vollendeten« Männern zudiktierten staatsbürgerlichen Rechtsmangel hinzunehmen hatten!

63 gleichberechtigt behandelt wurden: „Diese Toleranz erstreckte sich sogar auf Frauen. (Aufmüpfige Männer, denen es schwerfiel, sich mit diesem unerhörten Sachverhalt abzufinden, wurden daran erinnert, daß ihre Seele in einem früheren Leben den Körper einer Frau bewohnt haben oder in einem zukünftigen zu einem solchen Schicksal verurteilt sein könnte.)“ 7 Hätte Pythagoras’ (565 – 490 v.Chr.) zahlenmystische Religionsphilosophie eine größere und andauerndere Bedeutung erlangt, wäre die Gleichberechtigung der Frauen möglicherweise viel früher und viel leichter durchsetzbar gewesen. Aber gegen Aristoteles’ überragende Bedeutung für die Zeitspanne von der Antike bis zur beginnenden Neuzeit und gegen seine Vorurteile konnte sich der Gedanke der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht durchsetzen. Das wäre vermutlich anders gewesen, wenn nicht Christus, sondern eine als Religionsstifterin gewirkt habende Christa ans Kreuz geschlagen worden wäre! Lysistratas und ihrer Geschlechtsgenossinnen Kampfmittel („Liebe Männer, ihr dürft es euch so lange selber besorgen, bis ihr vernünftig werdet!“) konnte auch keine allzu große Durchschlagskraft gegen die aristotelischen Ansichten und Vorurteile entwickeln, da die gesellschaftlich tonangebenden griechischen Männer dem Ideal der Knabenliebe ganz praktisch frönten! Aber nicht nur Männer spinnen - damals und heute! Auch manche Frauen spinnen: damals und heute. Denn als solches empfinde ich es, wenn - weil die Initiatorin dort beschäftigt war - über die „Hamburger Landeszentrale für politische Bildung“ Zettel verteilt wurden, aus deren Text nachfolgender Schwachsinn auszugsweise zitiert wird: „GARTEN DER FRAUEN Eine letzte Ruhestätte nur für Frauen und ein musealer Ort für alte Grabsteine von Gräbern bekannter Frauen WAS IST DER GARTEN DER FRAUEN? Der Garten der Frauen ist ein Ort, auf dem Frauen ihre letzte Ruhestätte finden können, die auch im Tod gern unter Frauen sein wollen. ... WER FINDET IM GARTEN DER FRAUEN EINE LETZTE RUHESTÄTTE? Frauen, die sich gut vorstellen können, inmitten von Frauen ihre letzte Ruhestätte zu finden. Vielleicht haben sie zu Lebzeiten ... und, und, und, oder empfanden zu Lebzeiten die Gesellschaft mit Frauen als angenehm, so dass sie dies im Tod fortführen möchten.“ Ich versichere, in dem vorstehenden Zitat - wie bei allen anderen auch: ich übernehme als gelernter Historiker sogar die Rechtschreibfehler der Ursprungstexte (baue höchstens aus Versehen selber welche ein) - keinen Buchstaben des mir hirnrissig erscheinenden Textes geändert und nur weggelassene Wörter durch die üblichen drei Punkte kenntlich gemacht zu haben! Mit dem Gleichheitssatz im Hinterkopf sollte man sich zwei Satzteile noch einmal vergegenwärtigen: „... Frauen ..., die auch im Tod gern unter Frauen sein wollen“ „... empfanden zu Lebzeiten die Gesellschaft mit Frauen als angenehm, so dass sie dies im Tod fortführen möchten.“ Eigenartiger Friedhofsfeminismus! Und ich dachte immer: „Leiche ist Leiche“, wenn es nur um das Bestatten geht. Und erst recht gilt das nach meinem Dafürhalten für die Asche aus einer Feuerbestattung. Nach dem Gleichheitssatz würde ich auf einem Friedhof Asche wie Asche und Leiche wie Leiche behandeln. Aber das scheint selbst einer promovierten Frau wie der Initiatorin nicht zu vermitteln zu sein. Die emanzenhaft verschrobene Frau und ich, wir müssen einen sehr unterschiedlichen Biologie- und Chemieunterricht erteilt bekommen haben! Der Hamburger Senat beugte sich der Pression von »Emanzen-Seite«, richtete den geforderten „Garten der Frauen“ ein und behandelt damit nach meiner Ansicht - andere mögen es anders sehen - Gleiches ungleich, da auf den Friedhöfen der Freien und Hansestadt Hamburg keine Geschlechtertrennung über den Tod hinaus vorgenommen wird. Und warum auch? Warum sollten meine Überreste nach Verwendung meines Körpers zu medizinischen Zwecken in der Ärzteausbildung, wozu ich ihn freigeben möchte, nicht neben der dort schon lange ruhenden Asche meiner Frau beigesetzt werden? Doch sollen an dieser Stelle nicht alte oder neue Schlachten geschlagen werden. Nur weil es sich anbot, sollte an 7

Strathern, P.: „Pythagoras & sein Satz“, S. 54

64

dieser Stelle an dem historischen Beispiel der Ungleichbehandlung von Frauen im alten Griechenland en passant anschaulich gemacht werden, wie teilweise hergesucht, fadenscheinig und damit äußerst fragwürdig juristische Machtfragen begründet wurden (und werden!), um zu eigenem Nutz und Frommen Vorrechte weiterhin aufrecht zu erhalten. Das kann wachsam machen und den Blick für die Jetztzeit schärfen, der wir uns nun wieder zuwenden wollen. Versuchen wir dabei, das jeweilige Argument hinter einer juristischen Entscheidung zu erkennen und zu bewerten. Ein x-beliebiger Fall für eine Abwägung nach dem Gleichheitsgrundsatz: Nachdem schon vor Jahren in einigen Bundesländern und im Ausland Menschen, insbesondere Kinder, von sogenannten »Kampfhunden« (die sich mit Vorliebe Zuhälter hielten, um die Tiere durch Abrichtung zu Kampfmaschinen ohne Beißhemmung u.a. für die Kämpfe um die Aufteilung der Damen, der Gebiete und für Hundewettkämpfe in ihrem Wesen zu pervertieren) angefallen und teilweise zerfleischt worden waren, verschärfte damals Hamburg - wie andere Bundesländer auch - die Hundehaltung durch die Schaffung einer sogenannten "Kampfhundeverordnung". In ihr wurde den Haltern von Kampfhunden u.a. auferlegt, ihre Befähigung zur Haltung der dort aufgeführten Hunderassen durch Erwerb eines »Kampfhund-Führerscheins« nachzuweisen (der nach der Intention der Innenbehörde Zuhältern verweigert werden sollte) und ihre Tiere stets angeleint zu halten. Hiergegen klagte ein betroffener Hundehalter. Damit stand die erlassene "Kampfhundeverordnung" auf dem juristischen Prüfstand. Durften den Besitzern von Kampfhunden Beschränkungen auferlegt werden, die anderen Hundehaltern erspart blieben? (Man darf dabei ja nicht nur an Dackelhalter denken!) Das Hamburger VG gab dem Kläger Recht: Nach Ansicht der Richter verletzte die Verordnung (VO) in der ursprünglichen Form willkürlich den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung. Es sei nicht erwiesen, dass Hunde der Rassen Pitbullterrier, Bandog oder Mastino Napoletano gefährlicher seien als z.B. Schäferhunde. Den richterlichen Erwägungen lag die (nur eingeschränkt brauchbare) Statistik zugrunde, derzufolge in Hamburg pro Jahr etwa 500 Bisswunden bei den Bezirksämtern gemeldet werden, von denen nur 5 % von Kampfhunden stammen. 50 % der Fälle gingen dagegen auf das Konto von Schäferhunden oder Schäferhundmischlingen, je 8 % entfielen auf Boxer und Rottweiler. (Die Richter setzten die Zahl der Bissverletzungen durch Kampfhunde aber nicht in Relation zu der Prozentzahl der Kampfhunde am gesamten Hamburger Hundebestand! Das ist ein schwerer Fehler in ihrer Argumentation. Es könnte ja theoretisch sein, dass die aus der Statistik herausgelesenen 5 % Kampfhunde alle schon gebissen hätten. Das wären dann 100 % der Kampfhunde, was sicher die Aufnahme dieser Rassen in die Kampfhundeverordnung gerechtfertigt hätte.) Weil der Behörde in der bewussten Hundeverordnung die Differenzierung nach Kampfhundearten gerichtlich untersagt worden ist, sie andererseits aber für potenziell gefährliche Hundearten den Leinenzwang aufrechterhalten wollte, erwog sie, die VO umzuformulieren, so dass jetzt alle »gefährlichen« Hunde einem Leinenzwang unterliegen sollten. Sie musste dazu aber mit einem "unbestimmten Rechtsbegriff" arbeiten - welche Hunde sind als potenziell gefährlich einzustufen und in einer Liste auszuweisen? -, der sicher wieder Anlass zu gerichtlichen Auseinandersetzungen hätte geben können. Nachdem im Jahre 2000 erneut ein kleiner Junge von Kampfhunden totgebissen wurden war, waren die Verwaltungsrichter der Hamburger Verwaltung bei der neuen Hundeverordnung aber nicht mehr in den Arm gefallen! Ein Blick über den Zaun: In den Niederlanden gibt es ein "Gesetz zur Abschaffung von Pitbullterriern", in vielen großen amerikanischen Städten, wie z.B. Denver, Cincinnati und San Francisco, ist das Halten und Züchten von American Pitbullterriern total verboten. Angetroffene Kampfhunde werden beschlagnahmt und eingeschläfert. Gleichhei tssatz des Art. 3 GG als »Willkürv erbot«

Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz hat sich - weil allgemein befriedend, da das empörte Gerechtigkeitsgefühl der meisten beruhigend - als sehr segensreich für die Ausgestaltung unseres politischen Zusammenlebens erwiesen. Als übergeordneter Grundsatz für eine »gerechte(re)« Ausgestaltung der Lebensverhältnisse wird diese aristotelische »Gerechtigkeits-Elle« für staatliches Handeln immer unverzichtbar bleiben! Und immer wieder angewandt werden: 2005 entschied das Sozialgericht Düsseldorf in einer einstweiligen Anordnung (AZ S 35 SO 28/05 ER) auf die Klage einer arbeitslosen Frau hin, die bei einem berufstätigen Mann lebt, dass entgegen der Meinung der Bundesagentur für Arbeit – nach Rechtsauffassung der Bundesagentur hätte der Mann die unverheiratet mit ihm zusammenlebende Frau zu unterstützen, sein Einkommen müsste bei der

65 Bedarfsberechnung mit herangezogen werden, weil die beiden eine Bedarfsgemeinschaft bildeten – die Anrechnung von Partnereinkommen bei unverheiratet zusammenlebenden heterosexuellen Paaren, von denen ein Partner einen Antrag auf den Bezug von Arbeitslosengeld II gestellt habe, gegen das Grundgesetz verstoße und damit - möglicherweise - verfassungswidrig sei, weil diese Anrechnung bei außerhalb der Bindungen einer legalisierten homosexuellen Partnerschaft zusammenlebenden gleichgeschlechtlichen Paaren nicht vorgesehen sei. Bei denen läge, wenn sie nicht in der Form einer eingetragenen Partnerschaft zusammenleben, keine Bedarfsgemeinschaft in Form einer nicht legalisierten "eheähnliche Gemeinschaft" vor, bei zusammenlebenden Heterosexuellen hingegen wird sie als "wilde Ehe" unwiderleglich vermutet. Die Schlechterstellung unverheirateter heterosexueller Partnerschaften gegenüber insoweit bevorzugten homosexuellen Partnerschaften verstoße damit gegen den Gleichheitsgrundsatz. Deshalb wollte das Sozialgericht das Gesetz nicht mehr anwenden; was es aber nicht so einfach darf. Da ein Fachgericht kein Gesetz für verfassungswidrig erklären oder einfach ignorieren darf, muss die Sache dem BVerfG vorgelegt und von ihm entschieden werden. Sollte sich die Auffassung das Sozialgerichts durchsetzen, wären hunderttausende Bescheide unrechtmäßig ergangen und letztlich würde der Staat wegen des Gleichheitssatzes über die Transferleistungen an die Bundesagentur für Arbeit zur Ader gelassen.

Die über den staatlichen Bereich hinausgehende Anwendung der aristotelischen »Gerechtigkeits-Elle« auch im nichtstaatlichen Bereich wurde durch ein spezielles Antidiskriminierungsgesetz angestrebt, dass Ende 2004 zum zweiten Mal in den Gesetzgebungsgang gebracht wurde, nachdem vier Jahre zuvor die damalige Justizministerin mit der von ihr begonnenen Umsetzung von vier EU-Richtlinien mit unterschiedlichem Regelungsbereich gescheitert war. Inzwischen war Eile geboten, weil Deutschland als letztes Land in der EU hinterher hinkte, die EU-Kommission schon Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim EuGH eingereicht hatte und unserem Land wegen Versäumens der schon abgelaufenen Umsetzungsfrist mehrere Millionen Euro pro Tag an Strafgeldern drohten. Die Gesetzgebung komplizierte sich dadurch, dass die von der rot-grünen Regierung geplanten Regelungen als Herzensvorhaben der Grünen – auch gegen den Widerstand führender Sozialdemokraten in Bund und Ländern - über die EU-Vorgaben teilweise hinaus gingen. Es wurde von allen Seiten an dem Gesetzesentwurf gezerrt. Seine Behandlung im politischen Raum macht anschaulich deutlich, wie ein Gesetz entsteht, und wird darum in einem kleinen Pressespiegel nachgezeichnet: Künftig sollten dem Gesetzentwurf zufolge im Arbeits- und Privatrecht Benachteiligungen wegen der sechs Kriterien a) Rasse oder ethnischer Herkunft, b) Geschlecht, c) Religion oder Weltanschauung, d) Behinderung, e) Alter und f) sexueller Identität grundsätzlich verboten sein. Im Privatrecht schreibt die EU in einer ihrer Richtlinien nur den Ausschluss von Diskriminierungen wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft sowie wegen des Geschlechts vor. Die Regierung will aber auf Drängen des kleineren Koalitionspartners Benachteiligungen umfassend in allen Bereichen durch ein alle Diskriminierungen zusammenfassend regelndes Gesetz verhindern. Auch soll, was durchaus Sinn macht, nur eine Antidiskriminierungsstelle eingerichtet werden. Arbeitgeber wie auch Betreiber von Gaststätten, Wohnungsvermieter oder Versicherungen sollen nunmehr Beschäftigte und Kunden nicht mehr auf Grund von Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Identität und auch nicht auf Grund des Geschlechts benachteiligen dürfen. Andernfalls könnten die Benachteiligten Schadenersatz und Schmerzensgeld gerichtlich geltend zu machen versuchen: Anti-Diskriminierungsgesetz Rot-Grün verständigt sich auf Gesetz gegen Diskriminierung Keiner soll wegen Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion oder Behinderung benachteiligt werden / Konflikte in der Auslegung absehbar Nach langen Kontroversen hat Rot-Grün sich auf ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz verständigt. Das Gesetz soll im Beruf und im Alltag vor Benachteiligung aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion oder Behinderung schützen VON VERA GASEROW Berlin · 11. November · Noch gibt es zwar keinen abgestimmten Entwurf der Koalition für das lang versprochene Antidiskriminierungsgesetz (ADG). Doch Olaf Scholz, der für die SPD die Verhandlungen koordiniert, ist optimistisch: ’Wir sind uns zu 99 Prozent einig’. ’Die Einigung ist so gut wie perfekt’, heißt es auch bei den Grünen. Möglicherweise könnte eine abschließende Koalitionsrunde schon an diesem Freitag den endgültigen Entwurf für das Gesetz unter Dach und Fach bringen. Bis Ende des Jahres soll das ADG auf dem parlamentarischen Weg sein. Über die Details des schwierigen Projekts, das in der vorigen Legislaturperiode vor allem am

66

Widerstand der Wirtschaft und der Kirchen gescheitert war, schweigen die rot-grünen Unterhändler noch eisern. Nach Informationen der FR stehen aber zumindest die groben Linien fest. Wer anhand von Tatsachen glaubhaft machen kann, dass er etwa allein wegen seiner ausländischen Herkunft, seines Geschlechts oder seiner geistigen Behinderung benachteiligt wurde, soll sich künftig gegen diese Diskriminierung wehren können, lautet der Kerngedanke des ADG. Wer also nicht in die Disco gelassen wird, weil er eine dunkle Hautfarbe hat oder wer wegen seiner Behinderung von einem Hotel abgewiesen wurde, der könnte dann auf Unterlassung dieser Ausgrenzung klagen - und auch Schadenersatz einfordern. Disco-Betreiber oder Reisebüro müssten dann ihrerseits nachweisen, dass es andere Gründe für die Abweisung gab. Schützen soll das Gesetz künftig auch ältere Menschen, wenn ihnen mit Hinweis auf ihre Lebensjahre etwa ein Kredit oder eine Versicherung verweigert wird. Allerdings will das Gesetz hier Ausnahmen machen. Das einklagbare Diskriminierungsverbot soll nur für ’Massengeschäfte’ gelten, nicht für den kleinen individuellen Handel. Auch Mieter, die Anhaltspunkte dafür haben, dass sie etwa wegen ihrer ausländischen Herkunft, ihres Glaubens, oder ihrer homosexuellen Veranlagung eine Wohnung nicht bekommen haben, sollen klagen können. Auch hier will das Gesetz aber Ausnahmen erlauben. Im persönlichen Nahbereich, bei der Untervermietung in der eigenen Wohnung etwa oder im Privathaus müssen Vermieter nicht jeden Bewerber akzeptieren. Dort könnten sie durchaus sagen: ich will nur mit einem Deutschen oder nur mit einer Frau Tür an Tür wohnen. Lange umstritten war, ob das Gesetz auch die Ungleichbehandlung aufgrund der Religionszugehörigkeit ahnden sollte. Besonders die Kirchen hatten sich gegen die Aufnahme der Konfession in den Katalog der Diskriminierungsmerkmale gesperrt. Sie fürchteten um die Autonomie ihrer konfessionellen Einrichtungen. Nach den Plänen von Rot-Grün soll das Gesetz nun zwar ausdrücklich auch vor einer Benachteiligung aufgrund der Religion schützen. Die Kirchen sollen aber weiterhin das Recht haben, nur Mitarbeiter ihrer eigenen Konfession einzustellen. Auch dürfen sie weiterhin Plätze in ihren sozialen Einrichtungen wie Kindergärten oder Altenheimen nur an eigene Konfessionsangehörige vergeben. In der parlamentarischen Beratung und später in der praktischen Auslegung dürfte das Gesetz noch für allerhand Konflikte sorgen. Koordinator Scholz meint dennoch ‚Ich glaube, dass das ein sehr schönes Gesetz wird, mit dem sich die meisten anfreunden werden.’" (FR 12.11.04) Ein Gesetz, das Bauchschmerzen verursacht Kommentar Von Maike Röttger Die Regierung hat sich mit einer Ausarbeitung des Antidiskriminierungsgesetzes, das jetzt erst nach mehr als drei Jahren auf dem Tisch liegt, sehr schwer getan. Zu Recht. Denn man muß sich wirklich fragen, wie sich ein plakativ angepriesener Bürokratieabbau mit einem zusätzlichen Regelungswust verträgt. Eigentlich gar nicht. Diskriminierung ist zweifellos eine häßliche und schädliche Sache, und jedermann, der sie betreibt oder unterstützt, gehört dafür zur Rechenschaft gezogen. Die Richtlinien der EU dagegen, die jetzt von den europäischen Staaten umgesetzt werden müssen, wollten in der europaweit fremdenfeindlichen Welle der 90er Jahre genau darauf eine Antwort geben. Daß diese noch wesentlich strenger und strikter in die Freiheiten eingreifen kann als künftig in Deutschland, läßt sich derzeit in Frankreich studieren. Fraglich ist jedoch, ob tatsächlich Gesetze verhindern können, Arbeitsplatz-Bewerber - wie in Frankreich - allein wegen ihres ausländischen Namens abzulehnen. Im Zweifel folgt ein aufreibender Gerichtsprozeß, in dem letztlich nur die Anwälte mit hohen Rechnungen gewinnen - ohne daß sich tatsächlich in den Köpfen etwas wandelt. Justizministerin Brigitte Zypries, die das Gesetz offenbar nur mit Bauchschmerzen auf den Weg gebracht hat, glaubt, daß es auch anders gehen kann. "Die Freiheit für Bürgerinnen und Bürger in einem liberalen Staat besteht auch und gerade darin, Unterschiede zu machen und ungleich behandeln zu dürfen", hat sie richtigerweise gesagt. Doch wo die Ministerin eine zu große Regelungswut verhindern wollte, sah der grüne Koalitionspartner mit heftigem Rückenwind der EU aus Brüssel sogar eine Regelungspflicht. Zypries gelang es, diesen Spagat zu meistern. Dafür haben wir bald schon wieder ein Gesetz mehr. (HH A 16.12.04) Wer diskriminiert wird, kann Entschädigung einklagen

67

Gesetzentwurf: Vermieter, Arbeitgeber, Gastwirte müssen aufpassen, wen sie warum ablehnen ... Von Maike Röttger Hamburg - Ein Arbeitgeber, der künftig beim Bewerbungsgespräch einen Behinderten abblitzen läßt, wird vielleicht später vor Gericht nachweisen müssen, daß dies rein gar nichts mit dessen körperlicher Verfassung zu tun hatte. Ein Diskothekenbesitzer wird vielleicht erklären müssen, warum er den Türken nicht hineingelassen hat. Nicht mehr der, der sich diskriminiert fühlt, sondern der mutmaßliche Verursacher wird in der Pflicht stehen, das Gegenteil zu beweisen. So steht es in dem Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes (ADG), auf den sich die rot-grüne Koalition gestern geeinigt hat. Damit macht die Regierung ihre europäischen Hausaufgaben und setzt drei EURichtlinien um. Kritiker fürchten eine Klagewelle. Künftig soll niemand im Privat- oder Arbeitsleben wegen Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Alter oder sexueller Ausrichtung benachteiligt werden. Sonst kann er auf "angemessene Entschädigung" klagen und wird von einer Antidiskriminierungsstelle (Kosten: 5,6 Millionen Euro jährlich) unterstützt. Während es für die Grünen "höchste Zeit" für ein entsprechendes Gesetz ist, fürchtete Justizministerin Brigitte Zypries bisher immer eine unnötige Bürokratisierung und einen zu starken Eingriff in die Privatautonomie. Es sind deswegen diverse Ausnahmeregeln eingebaut. Die Sorge, man werde nicht "die Kraft haben, alle erforderlichen Ausnahmen durchzusetzen", habe sich nicht bestätigt, sagt der Hamburger SPD-Abgeordnete Olaf Scholz, der an dem Entwurf mitgearbeitet hat, gestern dem Abendblatt nicht ohne Stolz. Das Gesetz müsse so funktionieren, daß die 95 Prozent der Deutschen, die sich völlig korrekt verhalten, das Gesetz gar nicht bemerken. Bestimmte Unterschiede, die als Diskriminierungen ausgelegt werden könnten, sind ja auch durchaus gewollt: Parkplätze für Frauen, Cafés nur für Lesben und Schwule, günstigeres Essen und Eintritt für Senioren und Studenten. Soll der Staat einem Wohnungseigentümer verbieten, seine Räume lieber an eine ältere Dame als an einen jungen Mann zu vermieten? Soll er nicht. So werden die Antidiskriminierungs-Regelungen nur bei "Massengeschäften" gelten, womit Verträge zwischen Privatpersonen ausgenommen wären. Wer also unbedingt meint, er wolle sein Auto keinem Schwulen verkaufen, dürfe das weiterhin tun. Die Einliegerwohnung darf an wen auch immer vermietet werden. Die Eigentümerschutz-Gemeinschaft Haus & Grund lehnt dennoch auch diesen Entwurf strikt ab. Private Vermieter würden grundsätzlich dem Risiko einer Schadenersatzpflicht ausgesetzt. "Die Folge wird eine Flut von Klagen und Prozessen vor den heute schon völlig überlasteten Gerichten sein", sagt der Präsident der Gemeinschaft, Rüdiger Dorn. Auch die Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA) fürchtet höhere Belastungen für die Wirtschaft durch häufigere Schadenersatzforderungen. Der Verband hält die bisherigen Regelungen für einen ausreichenden Diskriminierungsschutz. Dorn nennt die Regierung sogar "anmaßend", weil sie auf die EU-Richtlinie sogar noch draufgesattelt habe. Die gibt als Diskriminierungsgründe nämlich nur ethnische Herkunft und Rasse vor. Die Erweiterung der Gründe wird als ein Zugeständnis der SPD an die Grünen gesehen. Ilja Seifert hat für die brüske Ablehnung der Wirtschaft und Eigentümerverbände hingegen überhaupt kein Verständnis. Der stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland empfindet täglich noch ganz andere Diskriminierungen. Wenn etwa Treppen wie Barrieren vor ihm stehen. Wo sei die Gerechtigkeit, wenn Häuser nicht behindertengerecht gebaut werden? "Ist das keine Diskriminierung?" (HH A 16.12.04) Gleiches Geld für gleiche Arbeit Gesetzentwurf mit großen Folgen für Firmen und Vermieter: Klagen kann, wer sich wegen Religion, Nationalität oder Geschlecht benachteiligt sieht. Hamburg - Wer wegen seines Geschlechts, der ethnischen Herkunft, Religion oder Weltanschauung, sexueller Identität, Alters oder einer Behinderung benachteiligt wird, soll künftig auf Schadenersatz klagen können. Das sieht der Entwurf zum Antidiskriminierungsgesetz (ADG) der Koalitionsfraktionen vor, der gestern in Berlin vorgestellt wurde. Die rot-grüne Regierung setzt damit nach jahrelangem Streit drei EU-Richtlinien um. Der Gesetzentwurf, der im Januar in den Bundestag kommen soll und vom Bundesrat nicht mehr blockiert werden kann, sieht unter anderem vor:  Wohnungseigentümer dürfen Ausländer, Muslime oder Behinderte nicht mehr als Mieter

68

ablehnen. "Anzeigen wie: ,Juden und Behinderte zwecklos' sind dann verboten", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck. Als Ausnahme gilt, wenn ein Hausbesitzer im selbstbewohnten Haus eine Wohnung vermietet.  Versicherer sollen künftig ausführlich begründen, warum sie ihre Leistungen etwa nach dem Geschlecht oder der sexuellen Identität differenzieren. "Daß Krankenversicherer Homosexuellen den Versicherungsschutz verweigern, weil sie eine zu hohe Risikogruppe für HIV seien, wird es nicht mehr geben", sagte Beck.  Frauen sollen für die gleiche Arbeit in einem Betrieb nicht schlechter bezahlt werden dürfen als Männer. Dieser Grundsatz wird durch das ADG noch einmal verstärkt. Sollte die schlechtere Bezahlung generelle Firmenpolitik sein, kann jede Frau eine Gleichbehandlung einklagen.  Für Kirchen gibt es Ausnahmen: Katholische Kindergärten zum Beispiel dürfen weiterhin Kinder oder Mitarbeiter anderer Konfession ablehnen.  Gaststätten- und Hotelbesitzer dürfen Ausländer, Behinderte oder Homosexuelle nicht abweisen. "Die Lösung bietet Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung, ohne den privaten Wirtschaftsverkehr mit bürokratischen Regeln zu überziehen", sagte Justizministerin Brigitte Zypries (SPD). Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände warnte dagegen mit Blick auf Schadenersatzforderungen vor einer unnötigen Mehrbelastung der Wirtschaft. mai/dpa (HH A 16.12.04) Antidiskriminierungsgesetz (ADG) Deutsche sollen vor Diskriminierung geschützt werden Rot-Grün einigt sich auf Gesetzentwurf - Bürger, die sich benachteiligt fühlen, dürfen auf Schadenersatz klagen - Prozeßflut droht von Ansgar Graw Berlin - Olaf Scholz, Berichterstatter der SPD-Fraktion, ist mit dem "smarten" Entwurf zufrieden, und Irmingard Schewe-Gerigk, frauen- und altenpolitische Sprecherin der Grünen, auch. Aber bei der Vorstellung des Antidiskriminierungsgesetzes (ADG) drängt sich der Eindruck auf, die beiden Koalitionspolitiker sprechen von unterschiedlichen Projekten: Während Scholz versichert, daß sich "95 Prozent der Bürger und 95 Prozent der Betriebe anständig benehmen" und daher mit dem Gesetz niemals konfrontiert würden, nennt Schewe-Gerigk ganz andere Zahlen: So stellten 60 Prozent der Betriebe niemanden ein, der älter als 50 Jahre sei, und bei gleichwertiger Qualifikation bekämen Frauen rund 30 Prozent weniger Gehalt. Die Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und der Ethnie fordert seit Juni 2000 eine EUAntirassismus-Richtlinie, und jetzt sollen die Deutschen gleich gegen sechs weitere Diskriminierungsgründe geschützt werden - nämlich zusätzlich gegen Benachteiligungen wegen des Geschlechtes, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Identität. Rot-Grün wolle "natürlich keine Prozeßflut", sagt der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck. Tatsächlich ist das federführend vom Familienministerium betreute Prestigeprojekt der Grünen gegenüber älteren Entwürfen verbessert. Doch die Bestimmungen zum Arbeits- und zum Zivilrecht dürften nach wie vor zu Klagen einladen. Nach dem Gesetz ist benachteiligt, wer wegen einem der genannten Gründe "eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde". Wie aber läßt sich feststellen, ob der Vermieter einem Türken die Wohnung verweigerte, weil er keine Ausländer mag - vielleicht erschien ihm der andere Interessent solventer? Und hat der Arbeitgeber die Bewerberin abgelehnt, weil sie Frau ist - oder weil der männliche Anwärter "irgendwie" geeigneter wirkte? Können der verhinderte Mieter oder die abgelehnte Bewerberin "Tatsachen glaubhaft" machen, die eine Diskriminierung "vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, daß (...) sachliche Gründe" ausschlaggebend waren. Das ist zumindest eine partielle Beweislastumkehr. Kompliziert wird das Gesetz auch durch den Mix aus europäischen Vor- und nationalen Zugaben. So gelten die sechs zusätzlichen Diskriminierungsmerkmale im Zivilrecht nur für "Massengeschäfte", während bei sonstigen zivilrechtlichen Schuldverhältnissen lediglich Benachteiligungen wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft unzulässig sind. Darum könnte ein Homosexueller klagen, wenn er eine entgangene Beförderung auf seine sexuelle Orientierung zurückführt. Wegen einer ihm verweigerten Wohnung kann er hingegen nur klagen, wenn er sie von einer Wohnungsgesellschaft ("Massengeschäft") mieten wollte, aber nicht, wenn es sich um einen Privateigentümer handelt. Ein

69

Ausländer wiederum könnte in beiden Fällen vor Gericht ziehen - allerdings nicht bei einer verweigerten Mietwohnung in der direkten Nachbarschaft des Vermieters, weil in diesem Fall die Privatsphäre besonders geschützt bleibt. Wer eine "vorsätzliche oder grob fahrlässige" Diskriminierung durch den Arbeitgeber gerichtsfest machen kann, hat Anspruch auf Entschädigung und Schadenersatz für den Vermögensschaden und für den Nichtvermögensschaden (Schmerzensgeld). Das ADG sieht "wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen" vor. "Positive Diskriminierung" bleibt hingegen erlaubt, so daß etwa kirchliche Kindergärten in der Personalauswahl frei bleiben. Auch "Frauenparkplätze, Kinder- und Seniorenteller" werde es weiter geben, sagt Scholz. Und Barbesitzer müssen keine 50-jährigen Barmädchen einstellen. Das nicht zustimmungspflichtige Gesetz sei eben "wirklich gut gelungen". (DIE WELT 16.12.04) „KOMMENTAR: ANTIDISKRIMINIERUNG Zangengeburt VON VERA GASEROW In der Medizin nennt man so etwas eine Zangengeburt. Geschlagene sechs Jahre ist es her, dass die rot-grünen Koalitionäre den gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung auf die Liste der eigenen Vorzeigeprojekte setzten. Doch aus dem einstigen Wunschkind nicht allein der Grünen wurde eine leidige Dauerschwangerschaft. Mal sperrte sich die Versicherungslobby gegen ein Antidiskriminierunsgesetz, mal die Touristikbrache. Mal witterten Hausbesitzer Ungemach, mal fürchteten die Kirchen um Pfründe. Eine ganze Phalanx unterschiedlicher Interessengruppen legte dem Antidiskriminierungsgesetz so eifrig Steine in den Weg, bis Rot-Grün das Projekt lange auf Eis legte. Dort würde es womöglich noch jetzt selig schlummern, wenn nicht Vorgaben der Europäischen Union Berlin Beine gemacht hätten. Denn Deutschland klappert beim Schutz vor Diskriminierung bislang peinlich hinterher. Auch jetzt ist das Gesetz nicht unter Dach und Fach. Aber zumindest der Grundkonsens scheint gefunden und der Zeitplan fixiert. Damit ist die unendliche Geschichte gewiss nicht beendet. Denn das Gesetz ist vor allem ein Experiment. Sein Lackmustest ist ohnehin die Praxis. Dort werden sich Schwachstellen zeigen, Unstimmigkeiten, Auslegungsstreitigkeiten zuhauf. Aber Stolpern ist in diesem Fall besser als Nichtstun. Wer allzu lange zögert, Neuland zu betreten, riskiert halt Probleme beim Laufenlernen. (FR 12.11.04)

Gegen den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen machen die Wirtschaftsverbände vehement Front. Es dürfe nicht nutzlose und zusätzlich Bürokratie beim Staat und bei den Unternehmen aufgebaut werden: Die totale Diskriminierung Jeder, der sich benachteiligt fühlt, kann künftig klagen. Mißbrauch ist programmiert. Die Wirtschaft fürchtet unkalkulierbare Kosten von Stefan von Borstel und Christoph B. Schiltz Claudia Roth hatte einen Traum. Niemand soll wegen Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter, Behinderung und sexueller Orientierung benachteiligt werden können. Homosexuelle, denen pauschal eine Lebensversicherung verweigert wird. Alte, die keine Konsumentenkredite mehr bekommen. Frauen, die höhere Beiträge zur Lebensversicherung bezahlen müssen als Männer. Behinderte, die keinen Tisch im Restaurant bekommen. Junge Araber, die an der Disko-Tür abgewiesen werden. Sie alle sollen sich künftig per Gesetz gegen Diskriminierung wehren können. Aus diesem Traum ist Wirklichkeit geworden: Das deutsche Antidiskriminierungsgesetz. Gestern wurde der Gesetzentwurf in erster Lesung im Bundestag beraten. Und nichts, so scheint es jedenfalls, kann ihn mehr aufhalten. Für Grünen-Chefin Roth ist das Gesetz ein "wichtiger Baustein der gesellschaftlichen Demokratisierung". Für die Opposition ist es eine Kampfansage an die Freiheit, für die Wirtschaft ein "Beschäftigungsprogramm für Juristen". Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. In den Jahren 2000 und 2002 verabschiedete die EU drei Richtlinien, die in Europa für Gleichheit zwischen den Rassen und Geschlechtern sorgen sollten. Die Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement und Familienministerin Renate Schmidt (beide SPD) wollten die Richtlinie in nationales Recht umsetzen, aber auf keinen Fall zusätzliche Regeln aufnehmen. Doch sie hatten die Rechnung ohne die grünen Gutmenschen gemacht. Claudia Roth,

70

Volker Beck und Teile der Grünen-Fraktion sorgten dafür, daß aus der schlichten Umsetzung dreier EU-Richtlinien ein Gesetz wurde, daß jedem in Deutschland die Tür öffnet, sich einmal so richtig diskriminiert zu fühlen. Für Arbeitgeber, Vermieter, Wohnungsgesellschaften, Versicherungen und Gastwirte kann das neue Gesetz teuer werden. Jeder, der sich diskriminiert fühlt und dies glaubhaft machen kann, kann sie künftig vor Gericht zerren. Dort müssen sie dann beweisen, daß sie nicht diskriminiert haben. Im Deutsch der Juristen heißt das "Umkehr der Beweislast". Beispiel: Ein abgewiesener Bewerber könnte behaupten, er sei nicht eingestellt worden, weil der Arbeitgeber Ausländer diskriminiere. Als Indiz für die ausländerfeindliche Gesinnung des Arbeitgebers nennt er die unterdurchschnittliche Ausländerquote im Unternehmen. Der Arbeitgeber müßte dann vor Gericht beweisen, daß er den ausländischen Bewerber nicht wegen seiner Herkunft abgelehnt hat. Dazu muß er auch die Bewerbungsunterlagen aufbewahren. Das ist nicht so einfach: Allein die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport erhält im Jahr 16 000 Bewerbungsmappen. Auch Vermieter müssen in Zukunft umfangreiche Dokumentationspflichten erfüllen, um Mietverhältnisse jederzeit nachweisbar begründen zu können. Versicherungen wiederum müssen unterschiedliche Tarife - so sieht es der Gesetzestext vor - mit einer auf "genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung" belegen. Dem Arbeitgeber drohen aber nicht nur Klagen, wenn er selbst seine Arbeitnehmer diskriminiert haben soll. Auch wenn Dritte, etwa Kunden oder Lieferanten, diskriminieren, soll er haften. In der Praxis könnte das so aussehen: Ein Kunde kommt in eine Bank und weigert sich, von einer Frau in Gelddingen beraten zu werden. Laut Gesetz wäre dies eine Diskriminierung der Frau aufgrund ihres Geschlechts. Der Arbeitgeber muß die Frau nun vor Diskriminierung schützen. "Realitätsfern" nennt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt diese Regelung, die in den europäischen Richtlinie auch gar nicht gefordert wird. Zudem sieht der Gesetzentwurf eine Art Verbandsklagerecht für Betriebsräte und Gewerkschaften vor - selbst gegen den Willen des Arbeitnehmers. Der Betriebsrat als Sittenpolizei? Neben Gewerkschaften und Betriebsräten sollen künftig auch "Antidiskriminierungsvereine" Ansprüche einklagen können, die der Arbeitnehmer an sie abgetreten hat. "Diese Vereine werden medienwirksam gegen die Arbeitgeber zu Felde ziehen - und ganz nebenbei viel Geld damit verdienen", vermutet Unionsfraktionsvize Karl-Josef Laumann. "Unkalkulierbare Prozeßrisiken" sieht Arbeitgeberpräsident Hundt auf die Wirtschaft zurollen und verweist auf das "wenig ermutigende Beispiel" der Abmahnvereine. Auch für die Kirchen birgt das Gesetz Risiken. Zwar sieht es Gesetz ausdrücklich eine "zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung" vor. Doch die Kriterien dafür sind schwammig formuliert. Niemand weiß, wie sich die Kulturrevolution auf dem Papier in der Praxis auswirken wird. Wird ein Arbeitnehmer, der sich diskriminiert fühlt, in Zeiten großer Jobangst auch wirklich gegen seinen Arbeitgeber klagen? Werden die Richter mit den "sachlichen Gründen", die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, klug umgehen? Ein Volk von rechtskräftig Diskriminierten ist derzeit nicht in Sicht. Aber dem Mißbrauch des Diskriminierungsvorwurfs sind mit diesem Gesetz Tür und Tor geöffnet. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk, versucht zu beruhigen: "Der Kinderteller, das Seniorenticket und die Frauensauna bleiben trotz Antidiskriminierungsgesetz erhalten." (DIE WELT 22.01.05) Bei Diskriminierung droht Schadenersatz 15. Dezember 2004 Im Arbeitsleben und bei „Massengeschäften” des Alltags darf künftig niemand mehr aus einer Reihe von Gründen benachteiligt werden. Auf den Entwurf für ein entsprechendes Antidiskriminierungsgesetz haben sich die Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnisgrünen nun endgültig verständigt. Damit sollen vier EU-Richtlinien umgesetzt, aber auch deutlich erweitert werden (F.A.Z. vom 30. November). Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) sagte am Mittwoch in Berlin, es sei ein „tragfähiger Kompromiß” gefunden worden. Dieser biete den Betroffenen wirksamen Schutz, „ohne den privaten Wirtschaftsverkehr mit bürokratischen Regeln zu überziehen”. Reihe von Ausnahmen sollen die Regelungen entschärfen Verbotene Unterscheidungsmerkmale sind danach Rasse und ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion und Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexuelle Identität. Die Vorgaben aus Brüssel verlangen eine solche Bandbreite jedoch nur für das Arbeitsrecht; im allgemeinen Zivilrecht

71

beschränken sie sich dagegen auf die Merkmale Ethnie und Geschlecht. Für Beruf und Beschäftigung erstreckt sich das Verbot etwa auf Einstellungen und Kündigungen, Beförderungen und die Bezahlung, und zwar sowohl in der Privatwirtschaft wie im öffentlichen Dienst. Ansonsten sind vor allem Verträge mit Lieferanten, Dienstleistern und Vermietern sowie private Versicherungen, Hotels, Gaststätten und Kaufhäuser betroffen. Eine Reihe von Ausnahmen sollen die Regelungen entschärfen. So sei im Berufsleben nicht jede unterschiedliche Behandlung eine verbotene Benachteilung, sagte Zypries. Erlaubt sei etwa „die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes”. Auch besondere Fördermaßnahmen für Frauen und Behinderte seien zulässig. Einen Zwang zu „Unisex-Tarifen” für Versicherungen gebe es nicht, wenn Risiken auf „statistisch gesicherter Grundlage” kalkuliert würden. Der „gesamte private Lebensbereich” bleibe ausgenommen, etwa beim Verkauf eines Privatwagens oder der Vermietung einer Einliegerwohnung. Wo dieser „persönliche Nähebereich” endet, definiert das Gesetz allerdings nicht. „Antidiskriminierungsstelle” wird eingerichtet Vorgesehen sind zudem Beweiserleichterungen für Kläger, die sich benachteiligt glauben. Auch Verbände, Betriebsräte und Gewerkschaften können für sie vor Gericht ziehen. Wer diskriminiert worden ist, hat Anspruch auf Schadensersatz, beispielsweise für die „Mehrkosten für eine Ersatzbeschaffung” oder als „Entschädigung für die Würdeverletzung”. Sofern noch möglich, muß das Gericht den Abschluß des gewünschten Vertrags erzwingen. Damit sieht die Regierung die Maßgabe der Europäischen Union erfüllt, einen „abschreckenden” Schadensersatz einzuführen. Auch eine „Antidiskriminierungsstelle” des Bundes wird eingerichtet. Die Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck und Irmingard Schewe-Gerigk, sprachen von einem „weiteren Meilenstein rot-grüner Gesellschaftspolitik”. Beck zeigte sich zufrieden, daß es gelungen sei, die „Zweifler in der SPD in einem zähen Überzeugungskampf” zur Zustimmung zu bewegen. Der rechtspolitische Sprecher von CDU/CSU, Norbert Röttgen, kritisierte dagegen, das geltende Verfassungsrecht und Zivilrecht enthalte bereits ein umfassendes Verbot von Diskriminierungen. Röttgen warnte vor „Prozeß- und Kostenlawinen”. Bei dem Gesetzentwurf gehe es darum, „weit über die EU-Vorgaben hinaus Bürger in ihrer wirtschaftlichen Lebensgestaltung staatlich zu bevormunden”. (FAZ 15.12.04) „Rot-Grün stoppt Diskriminierung Gesetz: Wer etwa als Behinderter im Restaurant abgewiesen wird, soll bald vor Gericht Schadenersatz einklagen können. Berlin - Ein Behinderter wird an der Hotelrezeption abgewiesen, eine türkische Familie geht bei der Wohnungssuche leer aus: Die Fälle von Benachteiligungen sind vielfältig. Das Antidiskriminierungsgesetz der rot-grünen Koalition, das am Freitag in den Bundestag eingebracht wurde, will damit Schluß machen. Wer benachteiligt wird, soll auf Schadenersatz oder Schmerzensgeld klagen können. Die Regelung, die auch eine Antidiskriminierungsstelle bei der Bundesregierung vorsieht, benötigt nicht die Zustimmung des Bundesrats. Das Gesetz, das noch dieses Jahr in Kraft treten soll, setzt EU-Richtlinien zur Antidiskriminierungspolitik um, geht aber im Fall der Behinderten über die darin definierten Anforderungen hinaus. Beispiele für den neuen Schutz vor Diskriminierung:  Ethnische Herkunft Bislang kann ein Vermieter einen Wohnungsinteressenten wegen ausländischer Herkunft oder seiner Hautfarbe ungestraft abweisen. Diese Praxis soll nun verboten werden. Ausgenommen ist hier lediglich der private Nahbereich, also etwa dann, wenn Vermieter und Mieter oder deren Angehörige Wohnraum auf demselben Grundstück nutzen.  Religion Bislang können sich Händler ihre Kunden nach religiösen Kriterien aussuchen. Ein islamischer Metzger etwa darf die Bedienung von Frauen verweigern, die kein Kopftuch tragen. Nach dem neuen Gesetz kann er dies nur dann beibehalten, wenn er darlegen kann, daß seine Religion ihm diese Auswahl gebietet. Allerdings dürfen Religionsgemeinschaften weiter von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen, etwa wenn ein katholischer Kindergarten nur Kinder aufnimmt, die dieser Glaubensrichtung angehören.  Alter

72

Daß eine Bank zum Beispiel einem 70jährigen den Dispo-Kredit wegen seines Alters streicht, soll künftig per Gesetz verboten sein. Denn die Neuregelung sieht vor, daß Menschen nicht auf Grund ihres Alters beim Erwerb von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen benachteiligt werden dürfen. Weiter erlaubt sind Vergünstigungen für jüngere oder ältere Kunden - wie etwa der Seniorenteller im Restaurant.  Behinderung Bislang können Gastwirte und Hotelbesitzer Behinderte unter Hinweis auf ihr Hausrecht abweisen. Das soll verboten werden. Nach dem Antidiskriminierungsgesetz dürfen Versicherungsunternehmen eine Behinderung nur dann berücksichtigen, wenn sich das zu versichernde Risiko erhöht. Pauschale Ablehnungen werden damit unterbunden.  Sexuelle Identität Bislang kann etwa ein Hotel die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Paare verweigern. Nach dem Antidiskriminierungsgesetz ist dies nicht mehr möglich. Versicherungen konnten bisher Vorbehalte gegen Homosexuelle - etwa wegen erhöhten Aids-Risikos - ohne Begründung kaschieren. Nach dem Gesetz müßten Unterscheidungen wegen der sexuellen Identität gerechtfertigt werden.  Arbeitswelt Einem Bewerber darf eine Stelle nicht mehr wegen seines Alters verwehrt werden, Frauen haben Anspruch auf das gleiche Gehalt wie ihre männlichen Kollegen. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. So bleibt der Tendenzschutz erhalten, den etwa kirchliche Arbeitgeber genießen. Sie können damit weiterhin Mitarbeiter auf Grund ihrer Homosexualität entlassen. afp/HA“ (HH A 22.01.05) Kusch kritisiert Gesetz Roger Kusch (CDU) hat das Anti-Diskriminierungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung scharf kritisiert. Bei ohnehin „dramatisch vielen Arbeitslosen“ errichte es zusätzliche Einstellungshürden für Unternehmen. Hamburg hat deshalb gemeinsam mit Baden-Württemberg eine Bundesratsinitiative gegen das Gesetz gestartet. dpa HH A 07.02.05 Auch der sich zu der Zeit im Wahlkampf befunden habende SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hatte angekündigt, dass sein Land dem nicht zustimmungspflichtigen Gesetzesvorhaben - gegen das der Bundesrat zwar (praktisch als bloßer Anstoß zum nochmaligen Überdenken) Einspruch einlegen kann, der dann aber von der rot-grünen Bundestagsmehrheit zurückgewiesen werden kann - in der vorgelegten Form im Bundesrat mit den CDU-geführten Ländern zusammen nicht zustimmen werde: das Gesetz sei insbesondere in der schwierigen wirtschaftlichen Lage der BRD eine „Job-Vernichtungsmaschine“. Es dürfe nicht nutzlose und zusätzliche Bürokratie beim Staat und bei den Unternehmen aufgebaut werden, betonten als Opposition innerhalb der Regierung die drei Bundesminister des Inneren, für Wirtschaft und die Familienministerin vor dem Hintergrund von auf über 5 Mill. gestiegener Arbeitslosenzahlen, der die vorgeschlagenen Regelungen zu weit gingen – womit ein Argument der CDU/CSU und der FDP aufgenommen wurde, die bemängelten, dass SPD und Grüne bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Antidiskriminierung des Guten zuviel getan und Regelungen draufgesattelt hätten, die nach den EU-Vorgaben nicht erforderlich gewesen wären. Das deutsche Zivil- und Arbeitsrecht würde zu stark verändert. Ein Verzicht auf das Gesetz "wäre ein echter Beitrag zum Bürokratieabbau". "Es geht zunächst um die Garantie der Grundrechte, dass alle Menschen uneingeschränkten Zugang im Berufsund Privatleben haben", hielt die Verbraucherschutzministerin den Kritikern des vorgelegten Gesetzentwurfes entgegen. Unter Verweis auf Benachteiligungen etwa am Arbeitsplatz oder auf dem Wohnungsmarkt sagte die Grünen-Politikerin, man könne nicht "mit dem Ruf der Ent-Bürokratisierung loslegen, um damit als Folge vorhandene Diskriminierung zu rechtfertigen". DGB-Chef widerspricht Kusch Hamburgs DGB-Chef Erhard Pumm (SPD) hat das neue Anti-Diskriminierungsgesetz begrüßt. "Anders als Justizsenator Kusch halten die Gewerkschaften das Gesetz für erforderlich und richtig, weil Benachteiligungen nach wie vor Alltag sind", so Pumm. Mit dem Gesetz sollen Diskriminierungen wegen des Alters, Geschlechts, wegen Behinderung, sexueller Orientierung, ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung verhindert werden. "Dieser umfassende Ansatz ist nötig, damit Diskriminierung im öffentlichen Bewußtsein als Problem erkannt und abgestellt

73

wird", so Erhard Pumm. jmw HH A 24.02.05 Diskriminierung darf nicht toleriert werden Ansichtssache Von Christa Goetsch * Mustafa Y. steht am Sonnabend vor einer In-Disco auf dem Kiez. "Sorry", sagt der Türsteher, "aber Türken kommen hier nicht rein." Barbara R. ist eine erfahrene Ingenieurin, auf der Suche nach einer neuen Anstellung. "Unser Unternehmen xy.com sucht einen zeitlich flexiblen Ingenieur mit mindestens fünf Jahren Berufserfahrung", liest sie in der Stellenanzeige. Fünf Jahre Berufserfahrung hat sie. Zeitlich flexibel ist sie auch. Ein Mann ist sie nicht. Erna P., 65 Jahre alt, sitzt vor dem Kundenberater ihrer Sparkasse. "Tut mir leid, Frau P., ab 65 vergebenwir grundsätzlich gar keine Kredite mehr." Diskriminierung ist alltäglich in Deutschland. Das heißt nicht, daß sie toleriert werden darf. Schutz vor Diskriminierung bedeutet nicht Privilegien für bestimmte Gruppen, sondern Anspruch auf Respekt und gleiche Chancen. Mit dem Antidiskriminierungsgesetz (ADG) setzt die Bundesregierung nun EURichtlinien gegen Diskriminierung maßvoll in deutsches Recht um. Das Gesetz tritt Benachteiligungen auf Grund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, der sexuellen Identität, des Alters oder auf Grund einer Behinderung wirksam entgegen. Es legt ein Diskriminierungsverbot fest im Berufsbereich und beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, wie z. B. Versicherungen. Derartige Antidiskriminierungsgesetze gibt es in vielen europäischen Ländern, z. B. in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Skandinavien. Sie haben sich in der Praxis bewährt, sind kein Anschlag auf die Vertragsfreiheit und keineswegs belastend für die Wirtschaft. Ein solches Benachteiligungsverbot ist im Übrigen auch in Deutschland nichts Neues. Artikel 3 des Grundgesetzes benennt die Gleichheit vor dem Gesetz und verbietet Ausgrenzungen wegen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Einige beschwören nun das Ende des Wirtschaftsstandortes Deutschland herauf. Wenn jeder nach dem ADG einfach behaupten könne, er wäre in einem Bewerbungsverfahren benachteiligt worden, stünden die deutschen Unternehmen vor einer riesigen Klagewelle, prophezeit die CDU. Das gleiche hatte sie auch bei der Einführung des Rechtsanspruchs auf Teilzeit behauptet. Die Klagewelle ist aber ausgeblieben. Tatsächlich haben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den meisten Fällen einvernehmlich geeinigt. Die Beschwörung einer Klagewelle ist Panikmache, die durch nichts belegt ist. Weder die britische noch die französische oder die niederländische Wirtschaft ist in den Ruin getrieben worden. In Großbritannien werden im allgemeinen sogar deutlich bessere Bedingungen für Investitionen ? auch in Arbeitsplätze ? gesehen. Schadet es dem Wirtschaftsstandort Deutschland nicht eher, wenn ein latent ausländerfeindliches Klima herrscht, das Investoren aus dem Ausland abschreckt und Migranten behindert, die hier unternehmerisch tätig sind? Und auch mit der Beweislastumkehr ? nicht der Arbeitnehmer muß die Diskriminierung beweisen, sondern der Arbeitgeber das Gegenteil ? ist das nicht so einfach, wie die CDU glauben machen will: Es reicht eben nicht zu behaupten, man wäre diskriminiert worden, man muß es glaubhaft machen. Das ist rechtlich ein entscheidender Unterschied, mit dem die Gerichte in Deutschland gut vertraut sind. Ein Bewerber um eine Stelle kann schlecht beweisen, daß er diskriminiert wurde, schließlich kennt nur der Arbeitgeber alle Unterlagen. Natürlich bleiben spezielle Anforderungen an bestimmte Jobs oder in besonderen Situationen weiterhin zulässig, wenn sie sachlich zu begründen sind. Ein Frauenhaus darf weiterhin nach einer Mitarbeiterin suchen. Ein indisches Restaurant darf indische Köche bevorzugen. Private Vermieter dürfen sich ihre Wohnungsnachbarn weiterhin nach Sympathie aussuchen. Der Kinderoder Seniorenteller darf weiterhin auf der Speisekarte stehen. Und für das Bundespräsidentenamt muß man oder frau weiter mindestens 40 Jahre alt sein. Arbeitgeber, Vermieter, Unternehmer, die nicht diskriminieren, haben nichts zu befürchten. Sie notieren jeweils kurz, warum sie sich wie entschieden haben. Wer aber immer schon lieber Männer angestellt hat, weil es einfacher und toller ist, nur mit Kerlen zusammenzuarbeiten, der wird es künftig schwerer haben. Gut so. Wir wollen nämlich, daß Diskriminierung bald nicht mehr alltäglich ist in Deutschland. * Christa Goetsch antwortet hier auf einen Artikel von Justizsenator Roger Kusch (CDU) im Abendblatt vom 18. Februar.

74

Christa Goetsch (52) ist Vorsitzende der GAL-Bürgerschaftsfraktion. Zuvor arbeitete sie als Lehrerin für Chemie und Biologie. (HH A 25.02.05) Angst vor dem Jobkiller Wer künftig einen Bewerber ablehnt, muß nachweisen, daß er ihn nicht diskriminiert hat. Wie das gehen soll, weiß niemand. Die Wirtschaft fürchtet eine Prozeßlawine - und unkalkulierbare Kosten von Stefan von Borstel Alle sollen sie künftig besser gegen Diskriminierungen geschützt werden: Behinderte, die keinen Tisch im Lokal bekommen - obwohl Platz genug ist. Junge Türken, die vom Türsteher der Diskothek abgewiesen werden. Die libanesische Familie, der beim Wohnungsbesichtigungstermin gesagt wird: "Die Wohnung ist schon vermietet." Homosexuelle, denen pauschal eine Lebensversicherung verweigert wird. Mit einem Gesetz zum Schutz vor Diskriminierungen soll ihnen geholfen werden. Ziel des Antidiskriminierungsgesetzes (ADG) ist es, so heißt es im ersten Paragraphen, "Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung , des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen." Das Ziel ist ehrenwert - dennoch stößt das Gesetz nicht auf ungeteilte Zustimmung, wie die Expertenanhörung am Montag vor dem Familienausschuß zeigte. Während manche Rechtsexperten von einem "längst überfälligen Schritt" sprechen und das Gesetz ausdrücklich begrüßen, warnen andere vor einem "inakzeptablen Eingriff in das Grundrecht auf Vertragsfreiheit" und bezweifeln grundsätzlich, ob der Gesetzgeber mit dem Antidiskriminierungsgesetz einen fairen Umgang mit Minderheiten von seinen Bürgern erzwingen kann. Vor allem in der Wirtschaft schlagen die Wellen der Empörung hoch: Die Unternehmen fürchten eine Welle der Bürokratie und warnen vor einem neuen Jobkiller. Im Mittelpunkt der Kritik steht die so genannte Umkehr der Beweislast. Danach kann jeder, der sich diskriminiert fühlt und dies "glaubhaft" machen kann, vor den Kadi ziehen. Es ist dann am beklagten Gastwirt, Vermieter oder Arbeitgeber, zu beweisen, daß er nicht diskriminiert hat. So könnte ein abgewiesener Stellenbewerber behaupten, er sei nicht eingestellt worden, weil der Arbeitgeber Ausländer diskriminiere. Als Indiz für die ausländerfeindliche Gesinnung des Arbeitgebers nennt er die unterdurchschnittliche Ausländerquote im Unternehmen. Der Arbeitgeber müßte dann vor Gericht beweisen, daß er den Ausländer nicht wegen seiner Herkunft abgelehnt hat. Dazu müßte er sämtliche Bewerbungsunterlagen aufbewahren und das Bewerbungsgespräch protokollieren - oder aber es auf die Verurteilung und Schadensersatz ankommen lassen. "Ein mittelständischer Einzelhändler für Damenunterwäsche muß doch künftig schon bei der Stellenanzeige einen Rechtsanwalt einschalten, um sicher zu sein, daß er sich bei der Suche nach der "jungen, dynamischen Verkäuferin mit guten Deutschkenntnissen" nicht gleich dreifach der Verfolgung durch graue Panther, Männerschutzverbände und durch die Vertreter ethnischer Minderheiten aussetzt", schreibt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag bissig in seiner Stellungnahme. Vor allem die kleinen Mittelständler dürften unter dem ADG leiden. Sie werden sich im Zweifel gegen Diskriminierungsvorwürfe kaum zur Wehr setzen können, fürchtet der Gaststättenverband Dehoga. "Weil das Bewerbungsgespräch nicht unter Zeugen, sondern lediglich zwischen Betriebsinhaber und Bewerber geführt wurde, weil kein Jurist die Formulierung der Stellenanzeige unterstützt hat oder weil der Arbeitsvertrag aus einem veralteten Musterhandbuch entnommen wurde." Doch nicht nur bei der Stellenausschreibung und dem Bewerbungsgespräch, bei jeder Zielvereinbarung, Gehaltserhöhung und Beförderung im Betrieb greifen die Paragraphen der Antidiskriminierung - und droht Schadensersatz. Eine Obergrenze für etwaige Schadensersatzzahlungen ist im Gesetz nicht vorgesehen. Und so fürchtet sich die Wirtschaft vor "amerikanischen Verhältnissen". In den USA haben Konzerne schon dreistelligen Millionensummen wegen "Rassendiskriminierung" oder "sexueller Belästigung" zahlen müssen. Die Befürworter des Gesetzes verweisen dagegen darauf, daß deutsche Richter solche Auswüchse wohl verhindern würden. Über drei Monatsgehälter oder das, was heute bei Beleidigungsklagen üblich sei, dürfte der Schadensersatz kaum hinausgehen, hieß es bei der Anhörung. Auch die Furcht vor einer Prozeßwelle sei maßlos übertrieben. Die Kritiker des Gesetzes sehen das anders. Sie fürchten "ein Eldorado für Rechtsanwälte", wie Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagt. Zumal die vermeintlichen Diskriminierungsopfer ihre Ansprüche an "Antidiskriminierungsvereine" abtreten können. Diese Vereine werden dann medienwirksam zu Felde ziehen - und damit eine Menge Geld verdienen.

75

Den Arbeitgebern drohen aber nicht nur Klagen, wenn er selbst seine Arbeitnehmer diskriminiert haben soll. Auch wenn Dritte, etwa Lieferanten oder Kunden, diskriminieren, soll er haften. Dieser Fall kann schnell eintreten. Was ist, wenn ein Mann in der Technikabteilung eines Kaufhauses nicht von einer jungen Frau bedient werden will? Muß der Arbeitgeber dann der Mitarbeiterin eine Entschädigung für diese "Diskriminierung" zahlen, fragt sich der Handelsverband BAG. Und was ist mit der Kellnerin, die sich bei einer feuchtfröhlichen Bierrunde anzügliche Bemerkungen der Gäste anhören muß? "Die Grenzen zwischen bloßen Witzeleien und Belästigungen oder echten diskriminierenden Äußerungen sind fließend und situationsabhängig", schreibt der Gaststättenverband Dehoga. "Der Arbeitgeber kann keine Verantwortung für das Verhalten Dritter tragen, es ist für ihn nicht kontrollier- und steuerbar." Besonders betroffen sind auch die großen Wohnungsunternehmen und die Versicherungswirtschaft. Die Wohnungsgesellschaften müssen nicht nur Millionen von Mietverträgen gerichtssicher dokumentieren. Sie können auch nicht mehr gezielt vermieten, um zum Beispiel Ausländerghettos zu verhindern. Und die Versicherer dürfen ihre Prämien nur noch differenzieren, wenn sie dies auch mit verläßlichen Daten begründen können. Die gibt es aber kaum, klagt die Versicherungswirtschaft. Sie fürchtet um den Versicherungsstandort Deutschland. Aber auch auf die Tarifpartner und den Gesetzgeber selbst kommen Probleme: Denn ältere Arbeitnehmer werden bei einer Kündigung und bei der Bezahlung in Tarifverträgen und auch Gesetzen vielfach bevorzugt behandelt - und die Jüngeren damit "diskriminiert". Selbst die Altersgrenze von 65 Jahren wackelt. "Extreme Rechtsunsicherheit" konstatieren Experten, der DIHK warnt vor einem juristischem Minenfeld: "Wahrscheinlich wird erst nach Jahren durch die Rechtsprechung einigermaßen klar umrissen sein, was genau verboten ist und was noch zulässig ist." (DIE WELT 08.03.05 Vermieter wollen diskriminieren dürfen Die SPD streitet um das Antidiskriminierungsgesetz. Die Gegner erhalten Auftrieb bei einer Bundestagsanhörung BERLIN taz Das geplante Antidiskriminierungsgesetz entzweit die SPD weiter. Nun zeigte sich auch Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck skeptisch - Peer Steinbrück aus NordrheinWestfalen kritisiert die Vorlage schon länger. Ohne ihre Stimmen würde das Gesetz im Bundesrat scheitern. Schon letzte Woche hatten diverse SPD-Kabinettsmitglieder erkennen lassen, dass sie das geplante Antidiskriminierungsgesetz nicht mehr unterstützen. Dazu gehörten Finanzminister Eichel, Wirtschaftsminister Clement und Innenminister Schily. Auch Kanzler Schröder gilt nicht als Freund des Antidiskriminierungsgesetzes. SPD-Chef Müntefering hingegen verteidigte das Vorhaben. Auch die Grünen halten daran fest, sind jedoch zu Einzelkorrekturen bereit. Die Opposition ist sowieso dagegen. Gestern wiederholte CDU-Chefin Merkel, dass der zu erwartende bürokratische Wust "aktiv zur Vernichtung von Arbeitsplätzen beitragen" würde. Das Antidiskriminierungsgesetz wird sich jedoch nicht vollständig vermeiden lassen - sind doch vier EU-Richtlinien umzusetzen. Allerdings weicht der rot-grüne Gesetzesplan an einigen Stellen von der europäischen Vorgabe ab. Dort ist nur für das Arbeitsrecht vorgesehen, dass Benachteiligung nach acht Kriterien verboten ist: Rasse, Ethnie, sexuelle Identität, Alter, Weltanschauung, Religion, Behinderung und Geschlecht. Für das Zivilrecht hingegen sollen nur zwei Kategorien wichtig sein: Ethnie und Geschlecht. Im deutschen Entwurf gelten hingegen auch dort alle acht Kriterien. Seither tobt der Streit. Gestern lud der zuständige Familienausschuss im Bundestag zu einer Expertenanhörung. Die Meinungen waren erwartungsgemäß geteilt. Die Sachverständigen der Regierungsparteien betonten das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes - daher müssten im Zivilrecht dieselben Kategorien wie im Arbeitsrecht gelten. Doch auch die Experten der Opposition kannten die Verfassung und zitierten immer wieder die Vertragsfreiheit. Dissens gab es auch im Detail. So müssen die acht Kategorien im privaten Rechtsverkehr nur berücksichtigt werden, wenn es sich um ein "Massengeschäft" handelt. Bei einem Abschluss wie der Kreditvergabe, wo es sehr stark auf die Bonität des einzelnen Kunden ankommt, würde das Gesetz nicht gelten. Besonders die privaten Versicherungen sind alarmiert, die als "Massengeschäft" zählen und daher alle acht Kategorien befolgen müssen. Ihre Experten wandten ein, dass man Behinderung, Alter oder geschlechtliche Orientierung nicht immer sauber von einem Krankheitsrisiko trennen könne. Wenn etwa Homosexuelle nicht versichert würden - dann doch nicht weil sie schwul seien, sondern weil sie

76

ein erhöhtes Risiko für Aids oder Hepatitis mitbrächten. Die Versicherer streben daher an, dass sie wie die Kreditinstitute nicht länger als "Massengeschäft" gelten. Genau das wollen auch die großen Wohnungsunternehmen für sich erreichen, die ebenfalls nicht alle acht Kriterien befolgen möchten. Sie argumentierten gestern, dass sie ihre Mieter stets sehr sorgsam und persönlich auswählen - ob sie etwa in die Nachbarschaft passen. Und schließlich: Wie wird eigentlich eine Diskriminierung nachgewiesen? Die Arbeitgeber fürchten eine "Beweisumkehr" - dass sie künftig darlegen müssten, dass sie nicht diskriminiert haben. Diese Sorgen konnten die Regierungsexperten nicht teilen: In den EU-Richtlinien sei nur eine Beweiserleichterung festgeschrieben. Ohne konkreten Anfangsverdacht ließe sich aber kein Gericht überzeugen, einen Diskriminierungsfall überhaupt anzunehmen. " ULRIKE HERRMANN (taz 08.03.05) Der Kanzler schien – zu Recht - über das schlechte Regierungsmanagement ungehalten zu sein: „Schröder rüffelt Clement und Schily Kanzler verteidigt Antidiskriminierungsgesetz - ... Berlin - Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich auf der Kabinettssitzung in den koalitionsinternen Streit um das Antidiskriminierungsgesetz eingeschaltet. Grundlegende Änderungswünsche von Innenminister Otto Schily und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (beide SPD) an dem Gesetz lehnte Schröder nach WELT-Informationen ab. Die Ministerien hätten den Fraktionen bei dem Gesetzentwurf zugearbeitet. Im nachhinein könne man sich jetzt nicht hinstellen und dies selbst kritisieren. Mehrere Minister hatten moniert, das Gesetz gehe über die EU-Vorgaben hinaus, schaffe unnötig Bürokratie und sei in Teilen zu wirtschaftsfeindlich. Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck sagte zu der Kritik, der arbeitsrechtliche Teil des Gesetzes sei vollständig im Wirtschaftsministerium ausgearbeitet und von den Regierungsfraktionen übernommen worden: "Es ist schon seltsam, daß mancher jetzt nicht mehr wissen will, was er uns da reingeschrieben hat." Beck signalisierte aber Kompromißbereitschaft bei Details. Demnach sollten Wohnungsgesellschaften ihren bisherigen Handlungsspielraum behalten, wonach sie in Großsiedlungen auf eine ausgewogene Mischung von Mietern achten können. Ferner schlug Beck vor, Klagen gegen Diskriminierung nur in einer bestimmten Frist zuzulassen. Er kann sich zudem vorstellen, entgegen den ursprünglichen Plänen keine kostspielige Antidiskriminierungsstelle einzurichten, sondern die Aufgabe bei der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung anzusiedeln. Sein SPD-Kollege Wilhelm Schmidt erklärte, das Gesetz solle noch im April im Bundestag verabschiedet werden. Er sei zuversichtlich, daß die Koalition dann auch die SPD-regierten Länder an ihrer Seite habe. Die Abstimmung über das umstrittene Gesetz im Bundesrat sei für den 27. Mai geplant - fünf Tage nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen. Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) hatte damit gedroht, sein Land werde dem vorliegenden Gesetzentwurf in der Länderkammer nicht zustimmen. Der Bundesrat kann das Gesetz mit einer Zweidrittelmehrheit kippen, da es sich um ein Einspruchsgesetz handelt. ...“ (DIE WELT 10.03.05)

Grundsätzliche Bedenken gegen ein Antidiskriminierungsgesetz bringt der Politologe Leggewie vor (FR 09.03.05): Antidiskriminierungspolitik verleitet Individuen dazu, sich in "ihrer" Minderheit zu verschanzen und den sozialen Partikularismus zu verschärfen, statt die konkrete Benachteiligung im Rahmen einer menschenrechtlich fundierten Ordnung aufzuheben. Und sie ermöglicht selbst ernannten Advokaten und politischen Unternehmern, sich schützend vor Minderheiten zu stellen, nicht immer zu deren Vorteil und auch hier wieder mit der Tendenz, ethnische und andere Unterschiede festzuschreiben statt sie aufzuweichen. Zudem erlaubt dieses Eingraben in der eigenen Gruppenidentität, innere Kritiker mundtot zu machen und die Meinungsfreiheit, ein allemal überzuordnendes Gut, zu beschädigen. Gerade religiöse Gruppen berufen sich jetzt auf Antidiskriminierung, um auf diesem Weg Bigotterie und Unterdrückung in eigenen Reihen unantastbar zu machen. Ein fundamentalistischer Moslem, Christ oder Hindu kann jederzeit auf Beleidigung oder Blasphemie klagen, um die Klage über tatsächlich

77

begangene Diskriminierungen, von Frauen und Mädchen, so genannten Häretikern und Außenseitern abzuwehren. Doch die teilweise erbittert geführten Auseinandersetzungen um die Verabschiedung des Antidiskriminierungsgesetzes stellten sich dann im Mai 2005 als vergeblich aufgewandte Energie im politischjuristischen Bereich heraus, weil der Bundeskanzler der bis dahin rot-grünen Bundestagsmehrheit nach der für diese Parteienkonstellation verlorenen Landtagswahl im »SPD-Stammland« NRW angekündigt hatte, über den holprigen verfassungsrechtlichen Weg des Art. 68 GG (Stellung der Vertrauensfrage mit selbst organisierter Abstimmungsniederlage) die Auflösung des Bundestages zu betreiben und vier Monate später Neuwahlen anzustreben. Die Regierungskoalition hatte nach der verloren gegangenen NRW-Wahl nicht einmal mehr die Geschäftsordnungsmehrheit im Vermittlungsausschuss. So konnte die bürgerliche Opposition das Thema von der Geschäftsordnung absetzen und vertagen. Das Gesetz fiel damit der in § 125 der Geschäftsordnung des Bundestages geregelten zeitlichen "Diskontinuität" anheim. Der Diskontinuitätsgrundsatz bedeutet, dass die am Ende einer Wahlperiode nicht mehr abschließend beratenen Gesetzesentwürfe schon allein durch diesen Fristablauf erledigt sind. Um sie weiterzuverfolgen, müssten sie erst von dem neugewählten Bundestag wieder aufgenommen werden - der dann die Antidiskriminierungsregeln leicht auf den von ihm gewünschten Mindestumfang zusammenstutzen könnte, um gerade noch der EU-Richtlinie in ausreichendem Maße nachgekommen zu sein.

Juristisch interessant war in dem Zusammenhang des Antidiskriminierungsgesetzes und der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit, insbesondere des Art. 4 II GG „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“, die von der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Schavan zuvor 2004 in die öffentliche Diskussion gebrachte Forderung, dass in den damals rund 2.500 in Deutschland gelegenen Moscheen nur noch Deutsch gepredigt werden dürfe, um den in arabisch oder türkisch predigenden islamischen Hass-/Dschihadpredigern - leichter auf die Schliche kommen zu können – womit man aber höchstens das religiöse Vorfeld der „Bomben-Muslime“/ “Islam-Bomber“ ins Visier nehmen könnte, religiöse Selbstmordattentäter schotten sich auch von ihren nicht (so) fanatischen Glaubensbrüdern ab: „Imame sollen in Deutsch predigen Moscheen: Türkische Gemeinde und Zentralrat der Muslime unterstützen Forderung aus der CDU Von Maike Röttger Hamburg - Angesichts der nicht abreißenden Anschläge gegen muslimische und christliche Einrichtungen in den Niederlanden haben auch deutsche Politiker vor gefährlichen Parallelgesellschaften gewarnt. Baden-Württembergs Kultusministerin Annette Schavan (CDU) forderte deswegen eine Pflicht für Imame, in Deutsch zu predigen. "Wir dürfen nicht weiter zulassen, daß in Moscheen in Sprachen gepredigt wird, die außerhalb der islamischen Gemeinde nicht verstanden werden", sagte sie. Andernfalls würden kulturelle Abgrenzung und Skepsis gefördert. Geistliche Führer, die in Arabisch oder anderen Sprachen predigten, setzten sich dem Verdacht von Hetzreden gegen Andersgläubige aus. Vorstellbar sei eine entsprechende Gesetzesinitiative Baden-Württembergs. …“ (HH A 15.11.04)

Die Forderung von Anette Schavan war eine wohlfeil in den politischen Raum gestellte populistische Forderung - und wohl eher ihren damaligen Ambitionen auf den Stuhl des/der baden-württembergischen Ministerpräsident/in geschuldet, um in der parteiinternen Mitgliederbefragung zu punkten. „Law made simple“, oder: wie sich die kleine Annette »das Recht« vorstellt. Natürlich hat der Gedanke Schavans auf den ersten Blick etwas Bestechendes. Jeder juristisch Unbeleckte - und dazu gehört Schavan: darum sind ihre diesbezüglichen Äußerungen mehr peinlich als ärgerlich - glaubt sofort, dass Schavan mit ihrer eingängigen Forderung für das Hass-/Dschihadprediger-Problem das „Ei des Kolumbus“ gefunden habe. Aber mit einem bisschen Nachdenken, das man von einem/einer herausragenden Politiker/in verlangen kann, hätte sie selber darauf kommen müssen(!), dass sie ihren Vorschlag „in die Tonne treten“ sollte; und wenn sie es nicht macht, dann wird es das Bundesverfassungsgericht machen, dessen bin ich absolut sicher, denn Art. 4 II GG regelt: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Zur Freiheit des kultischen Handelns gehört nach heutigem Verständnis,

78

dass der/die Gottesdienstbesucher/in auch verstehen können müsse, was sein/ihr Prediger ihm/ihr sagt. Auch demjenigen, der keine ausreichenden Deutschkenntnisse besitzt, sichert unser Grundgesetz als eines der wenigen in unserer Verfassung vor gesetzlichem Eingriff geschützten Rechte eine „ungestörte Religionsausübung“ zu. Das Recht der freien Religionsausübung wird innerhalb der Schranken der durch das Grundgesetz konkretisierten Wertordnung vorbehaltlos gewährt. Wir leben nicht mehr in der Zeit von vor einigen hundert Jahren, als in der katholischen Kirche der Gottesdienst ausschließlich auf Latein abgehalten wurde und die Glaubensschäfchen teilweise erst im Beichtgespräch die Konkretisierung dessen erfuhren, was ihnen ihr Priester in einer ihnen fremden Sprache im Gottesdienst verkündet hatte. Und wie sollte es mit dem in Art. 3 GG normierten Gleichheitsgrundsatz zu vereinbaren sein, wenn muslimische Prediger gezwungen würden, in einer ihren Gläubigen teilweise unverständlicher Sprache zu predigen – wobei hinzu kommt, dass z.B. die vom türkischen Religionsministerium geschickten Imame nicht unbedingt Deutsch sprechen können oder, wenn sie vielleicht ein wenig Deutsch können, nicht über für die Besorgung von Alltagsgeschäften hinausgehende deutsche Sprachkenntnisse verfügen – und orthodoxe Pfarrer einer russisch-orthodoxen Gemeinde oder katholische Priester einer polnischen Gemeinde ihren Gottesdienstbesuchern in der ihnen vertrauten und teilweise allein verständlichen Sprache die Segnungen ihrer Mutterkirche zukommen lassen können? BEERDIGUNG IN WOLFSBURG Ergreifender Abschied von Nowak Unter großer Anteilnahme ist am Samstag der ehemalige Bundesliga-Profi Krzysztof Nowak beigesetzt worden. Rund 1500 Trauergäste, darunter viele ehemalige Mitspieler, nahmen Abschied vom polnischen Nationalspieler und Mittelfeldregisseur des VfL Wolfsburg. Wolfsburg - Nowak war vor zehn Tagen im Alter von 29 Jahren an den Folgen der unheilbaren Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) gestorben. Er hinterlässt Ehefrau sowie zwei Kinder (vier und neun Jahre). Die Beisetzung fand auf dem Wolfsburger Waldfriedhof statt. Zuvor hatten rund 600 Menschen beim Requiem in der St. Christophoros Kirche Nowak die letzte Ehre erwiesen. Sowohl das Requiem als auch die Beisetzung fanden in deutscher und polnischer Sprache statt. ... Die Krankheit ALS zerstört Nervenzellen, die für die Kontrolle der Muskeln zuständig sind, was zu einer zunehmenden Lähmung des ganzen Körpers und schließlich meist zum Tod der Patienten führt. Der wohl bekannteste Patient ist der britische Astrophysiker Stephen Hawking. Auch der deutsche Maler Jörg Immendorf leidet an ALS. Pro Jahr erkranken etwa 1 bis 2 von 100.000 Menschen an der Krankheit. (SPIEGEL ONLINE 06.06.05) Ein allein auf die Moscheen zielendes Gesetz, wäre – auch wenn durch einschlägige Vorkommnisse veranlasst – ein die islamische Religionsausübung diskriminierendes Gesetz. Das grundgesetzlich geschützte Recht der „ungestörten Religionsausübung“ kann Schavan den des Deutschen teilweise unkundigen Muslimen nicht nehmen! „Die Gerichtssprache ist deutsch.“, heißt es in § 184 Gerichtsverfassungsgesetz; die »Religionssprache« ist nicht ebenso verbindlich geregelt, und aus grundgesetzlichen Erwägungen heraus kann man das auch nicht machen – wie man das bei der Gerichtssprache trotz der genannten eindeutigen gesetzlichen Regelung anscheinend noch näher konkretisieren muss: GESETZESENTWURF Schöffen sollen Deutsch können Von Sebastian Fischer Das rheinland-pfälzische Kabinett hat eine Gesetzesinitiative gestartet, die Selbstverständliches garantieren soll: Schöffen an deutschen Amts- und Landgerichten müssen die deutsche Sprache beherrschen. Berlin - Die Gerichtsverhandlung am Amtsgericht Mainz geriet ins Stocken. Schnell musste eine Dolmetscherin herbeigeschafft werden. Doch es war nicht etwa der Angeklagte, der der Verhandlung nicht mehr folgen konnte - es war die ehrenamtliche Richterin. Die Deutsch-Rumänin, Anfang des Jahres gerade erst auf vier Jahre zur Schöffin bestellt, verstand kein Wort. Im rheinland-pfälzischen Justizministerium schrillten die Alarmglocken: "Es kann nicht sein, dass Angeklagte von Schöffen verurteilt werden, die gar kein Deutsch verstehen", so der zuständige Minister Herbert Mertin. In Windeseile ließ er einen Gesetzesentwurf für den Bundesrat formulieren. Am Dienstag beschloss ihn das Kabinett unter Ministerpräsident Kurt Beck. Rheinland-Pfalz will den Entwurf nun am 17. Juni in den Bundesrat einbringen - und ist sich der

79

Unterstützung gewiss: "Die anderen Länder werden diese Problematik erkennen, wir gehen davon aus, dass sie unserem Entwurf zustimmen", sagt Fabian Scherf, Sprecher des Justizministers. Dolmetscher für die Übersetzung der Eidesformel Die Problematik ist seit Jahren bekannt. Zum Beispiel im Stadtstaat Hamburg: Im März 2001 musste am Amtsgericht Altona ein Prozess abgebrochen werden, weil der Hilfsschöffe als Russlanddeutscher des Deutschen nicht mächtig war. Für die Übersetzung der Eidesformel musste ein Dolmetscher hinzugezogen werden. Bisher kann das Ehrenamt des Schöffen von jedem deutschen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Die Schöffen wirken als gesetzliche Richter im Sinne des Grundgesetzes an der Entscheidungsfindung mit. Im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sind zur Zeit nur einige wenige Beschränkungen der Schöffenberufung geregelt. So sollen die Laienrichter über 25, aber unter 70 Jahre alt sein, mindestens seit einem Jahr in der entsprechenden Gemeinde wohnen und nicht wegen einer strafbaren Handlung zu mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden sein. Wie wird man Schöffe? Die Auswahl der Schöffen erfolgt über eine Vorschlagsliste, die von der Gemeindevertretung mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen werden muss. Auf der Liste sollen alle Gruppen der Bevölkerung repräsentiert sein. Über Aufrufe und Anzeigen finden die Gemeinden Kandidaten, die sich selbst melden. Möglich sind auch Nominierungen durch Parteien, Religionsgemeinschaften oder Vereine. Die von der Gemeindevertretung beschlossene Vorschlagsliste wird eine Woche lang öffentlich ausgelegt. Jeder hat das Recht, gegen die Kandidaten Einspruch einzulegen. Von den Amts- und Landgerichten wird dann die erforderliche Anzahl an Laienrichtern von den Listen ausgewählt. In Bayern wurde im Jahr 2001 der Fall einer nicht deutsch sprechenden Hilfsschöffin ans Justizministerium gemeldet. Man habe die Sache damals "pragmatisch gelöst", sagt Ministeriumssprecherin Beate Ehrt. Nach einem Gespräch mit der Schöffin sei diese zurückgetreten. Der Freistaat Bayern schickte in der Folge ein Rundschreiben an die deutschen Landesjustizministerien, um deren Praxiserfahrungen abzufragen. Das Ergebnis war Uneinigkeit: "Die einen sagten, man müsse das regeln, die anderen sahen das nicht als dringlich an", so Sprecherin Ehrt. Eine Gesetzesinitiative im Bundesrat habe sich deshalb aus bayerischer Sicht damals nicht gelohnt. Kleine Verzögerung durch anstehende Neuwahlen In diesem Jahr aber sei das Thema wieder auf die politische Agenda des Justizministeriums geraten: Weil am 1. Januar 2005 bundesweit die neuen Schöffen auf vier Jahre gewählt worden sind, laufe in Bayern derzeit eine "Praxisabfrage". Trotz bayerischen Problembewusstseins sieht der Freistaat seine Zustimmung zur rheinland-pfälzischen Gesetzesinitiative im Juni nicht als schon im Vorhinein gegeben an: "Manchmal ist weniger Bürokratie besser, wir sehen zur Zeit Schwierigkeiten darin, die Deutschkenntnisse von potentiellen Schöffen zu prüfen", so Ehrt. Außerdem müsse man auch die Signale bedenken, die man damit an die nicht deutschstämmigen Bürger sende Rheinland-Pfalz will mit seiner Gesetzesinitiative nun "Personen, die nicht über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen" vom Schöffenamt ausschließen, so der vorgelegte Neuformulierungsvorschlag für Paragraph 33 GVG. Außerdem, so Justizsprecher Fabian Scherf, "sollen mit Hilfe des Gesetzes in Zukunft auch bereits gewählte, aber nicht deutsch sprechende Schöffen abberufen werden können, ohne dass es Folgen für den Prozessverlauf hat". Eine kleine Verzögerung müssen die schnellen Rheinland-Pfälzer noch hinnehmen: Zwar kann der Bundesrat das Gesetz im Falle einer Mehrheit für das sozialliberal regierte Bundesland schnell durchwinken, doch wird sich die Lesung im Bundestag durch die wahrscheinlich im Herbst anstehenden Neuwahlen verzögern. "Das macht aber nicht viel aus", sagt Scherf, "wir würden das Gesetz dann eben sofort in den neu konstituierten Bundestag einreichen". (SPIEGEL ONLINE 01.06.05)

In dem undurchdachten »Bauch-Vorschlag« der Ministerin steckt ein weiterer Grundrechtsverstoß, nämlich gegen den mit Verfassungsrang ausgestatteten, vom Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aller den Bürger belastenden staatlichen Maßnahmen: der Staat soll nicht mit Kanonen auf uns Spatzen schießen dürfen! Auf das Problem der Predigtsprache in Moscheen angewandt, gäbe es eine die Gläubigen weniger belastende Maßnahme staatlicher Kontrolle: von den vielen eingedeutschten Türken arbeitet ein Teil als Polizist – und kann deswegen ohne weiteres zum dienstlichen Predigtbesuch in einer Moschee abgestellt werden; da braucht nicht den des Deutschen nicht ausreichend Kundigen das Verstehen der geistlichen Labsal unmöglich gemacht zu werden! Außerdem stehen die als »problematisch« erkannten Moscheen bereits

80

unter ständiger Beobachtung der Verfassungsschutzbehörden. Ein Rat in Frau Dr. Schavan: Schon die »alten Römer« wussten: „Si tacuisses, philosophus mansisses!“ [„Wenn Du geschwiegen (und kein dummes Zeug geredet) hättest, hätte man dich weiterhin für einen Philosophen halten können!“] Die juristische Ahnungslosigkeit von Frau Schavan wurde von ihrem Parteikollegen Schönbohm, dem damaligen Innenminister des Landes Brandenburg, noch übertroffen; und es ist ärgerlich, dass ein Innenminister so eine eklatante Ahnungslosigkeit gegenüber den Grundrechten offenbart, die zu verteidigen als Aufgabe seines Amtes auch ganz speziell mit in seinen Amtsbereich fällt: Der Ex-General hatte mit einem politischen Schnellschuss nach Cowboy-Manier aus der Hüfte heraus die Forderung erhoben, dass Hasspredigern die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden sollte. Das setzt natürlich voraus, dass ein Hassprediger Inhaber der deutschen Staatsbürgerschaft ist; andernfalls könnte man ihn ja leichter aus der BRD hinauskomplimentieren. Und da der deutsche Staat Mehrfachstaatsbürgerschaften grundsätzlich unterbindet und von z.B. Türken, die sich hier hatten einbürgern lassen wollen, bisher verlangt/e, dass sie zuvor ihre türkische Staatsbürgerschaft aufgeben, würden solche Leute ja staatenlos werden. Das aber nicht zu tun, hat sich die BRD durch Ratifizierung internationaler Konventionen, u.a. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte8, verpflichtet. Und nun kommt Art. 16 I 1 GG ins Spiel, der ganz eindeutig regelt: „Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.“ Punkt! Aber man darf sie natürlich freiwillig durch ordnungsgemäßen Antrag aufgeben, wie es z.B. der ehemals deutsche Soziologe und jetzige Brite Lord Dahrendorf gemacht hat. Das ist in § 26 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz so geregelt. Nicht freiwillig verliert man die deutsche Staatsangehörigkeit durch die - aber grundsätzlich nicht erlaubte „Entziehung“. Die „Entziehung“ ist ein Staatsakt, durch den jemand ohne oder gegen seinen Willen seine Staatsangehörigkeit verliert, d.h. laut BVerfG ein „Verlust, den der Betroffene nicht beeinflussen kann.“ Mit dem so schlicht klingenden Verbot der Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit durch alle drei staatlichen Gewalten, insbesondere den Gesetzgeber, ist jede einseitige Wegnahme der Staatsangehörigkeit durch eine hoheitliche Maßnahme durch Gesetz, Richterspruch oder Verwaltungsakt auf Grund der historischen Erfahrung mit der Ausbürgerungspolitik des NS-Staates9 „aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen“ (Art. 116 II 1 GG) und der daran gekoppelten Vermögenskonfiszierung durch das Reich (und später der Ausbürgerungspolitik der DDR) nunmehr grundsätzlich grundgesetzlich verboten. Die zuständige Regierungsbehörde kann grundsätzlich nicht durch eine hoheitliche Einzelfallmaßnahme einen ihr missliebig gewordenen deutschen Staatsbürger ausbürgern, keinen Hassprediger - und noch nicht einmal einen Terroristen. Kein Deutscher darf durch die Entziehung der Staatsbürgerschaft staatenlos werden. Das würde der Schutzpflicht des Heimatstaates widersprechen. Könnte einem unserem Staat missliebig gewordenen deutschen Staatsbürger die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden, müsste man u.a. um das für das Funktionieren einer Demokratie fundamentale Recht der freien Meinungsäußerung aus Art. 5 GG fürchten, wenn jeder scharfe Kritiker bundesrepublikanischer Missstände, die immer einmal wieder zu Tage treten, kujoniert werden, ihm sogar seine Staatsangehörigkeit entzogen und er dann des Landes verwiesen werden könnte, denn das ist ja letztlich das Ziel der Entziehung einer Staatsbürgerschaft, wie manche Staaten das machen, z.B. Saudi-Arabien mit Osama bin Laden. Und nun fordert der »Verfassungsschutzminister«, wie sich die Innenminister inoffiziell gerne nennen und nennen lassen, dass gegen das Grundgesetz verstoßen werden sollte! „Da haben Herr General mit seiner Forderung, durch Eindeutschung zu deutschen Staatsbürgern gemachten Hasspredigern die verliehene deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen, einen ziemlichen Bock geschossen!“ Bewusst war bei der Erörterung der „Entziehung“ der Staatsangehörigkeit gerade wieder einmal das in 8 9

Art. 15 2., 1. HS.: „Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen … werden, …“ Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Vom 14. Juli 1933 und die Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Vom 26 Juli 1933. In letzterer hieß es keine sechs Monate nach der „Machtübernahme“, drei Jahre vor den Olympischen Spielen in Berlin und sechs Jahre vor dem Überfall auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg in Gang gesetzt wurde, u.a.: „Ein der Treuepflicht gegen Reich und Volk widersprechendes Verhalten ist insbesondere gegeben, wenn ein Deutscher der feindseligen Propaganda gegen Deutschland Vorschub leistet oder das deutsche Ansehen oder die Maßnahmen der deutschen Regierung herabzuwürdigen gesucht hat.“

81

juristischen Zusammenhängen bedeutungsvolle Wörtchen »grundsätzlich« benutzt worden, das andeutet, dass es mindestens eine juristisch relevante Ausnahme von der grundsätzlich geltenden Regelung gibt, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht – wieder - entzogen werden könne. „Weil er an exponierter Stelle in der PKK mitgearbeitet haben soll, hat das Regierungspräsidium (RP) Gießen einem gebürtigen Türken die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt. Der Mann habe im Vorstand eines der PKK nahe stehenden Vereins mitgearbeitet und an ’PKK-nahen Aktivitäten’ teilgenommen, teilt die Behörde mit. Damit habe er ’Bestrebungen verfolgt, die gegen die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind’. Daraus folgert das RP, dass sein anlässlich der Einbürgerung im Sommer 2002 abgegebenes Bekenntnis zur freiheitlichen Grundordnung (Loyalitätserklärung) falsch war. Denn das Bundesinnenministerium habe die Organisation im Jahr 1993 verboten. RP-Regierungsdirektor Manfred Becker: ’Das Verbot in Artikel 16 des Grundgesetzes (Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden) gilt nach einheitlicher Rechtsauffassung nicht für erschlichene, unter falschen Voraussetzungen zustande gekommene Einbürgerungen.’ Diese Entscheidung habe der Verwaltungsgerichtshof Gießen im Mai 2004 bestätigt. Vorwurf: Falsche Loyalitätserklärung zur fdGO anlässlich der Einbürgerung.“ (FR 04.01.05) „Wer ins Grundgesetz schaut, könnte über den Fall zunächst verwundert sein, heißt es doch in Artikel 16: ’Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.’ Es gibt jedoch eine wichtige Einschränkung, die im Fall des hessischen Kurden angewandt wurde. ’Der Verlust der Staatsangehörigkeit’, heißt es im Grundgesetz, dürfe ’gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird’. Dies aber ist bei dem Deutschkurden nicht der Fall. Seine türkische Staatsbürgerschaft hatte er auch nach seiner Einbürgerung in Deutschland behalten dürfen. Jetzt sei er wieder ’nur noch Türke’, sagte ein Sprecher des Regierungspräsidiums gestern, und müsse seine Aufenthaltserlaubnis bei der Ausländerbehörde neu beantragen. ’Doppelpass’-Besitzer wie der hessische Kurde haben schlechte Karten. Aber auch wer nach seiner Einbürgerung vorerst nur noch Deutscher ist, kann sich nicht in Sicherheit wiegen. Über die Auslegung der Schutzbestimmungen des Grundgesetzes gab es in der Vergangenheit verschiedene Gerichtsurteile. Während das Berliner Verwaltungsgericht vor zwei Jahren entschied, eine Einbürgerung könne nicht rückgängig gemacht werden, urteilte das hessische Oberverwaltungsgericht schon 1996, die grundgesetzlich garantierte Unentziehbarkeit der Staatsbürgerschaft sei ’bei einer erschlichenen Einbürgerung wegen der fehlenden Schutzwürdigkeit des Eingebürgerten ausgeschlossen’. Im Bezug auf ’Scheinehen’ befand das Bundesverwaltungsgericht Ende 2003: ’Eine erschlichene Einbürgerung, die durch eine vorsätzliche Täuschung der Einbürgerungsbehörde erreicht wurde, darf keinen Bestand haben.’" (taz 05.01.05) Juristisch ähnlich zu bewerten ist der Fall, dass jemand nach der seit 2000 geltenden Gesetzeslage § 85 AuslG Einbürgerungsanspruch für Ausländer mit längerem Aufenthalt; Miteinbürgerung ausländischer Ehegatten und minderjähriger Kinder (1) Ein Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ist auf Antrag einzubürgern, wenn er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bekennt und erklärt, daß er keine Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, oder glaubhaft macht, daß er sich von der früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat, eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung besitzt, den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe bestreiten kann, seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert und nicht wegen einer Straftat verurteilt worden ist.

82

... die deutsche Staatsbürgerschaft unter der Verpflichtung erworben hat, seine bisherige Staatsbürgerschaft aufzugeben, er das weiß und tut - und sich dann, weil er um das Verbotene seines Handelns weiß, aus teilweise nachvollziehbaren Gründen (erbrechtliche Ansprüche wahren, Immobilienerwerb im Ursprungsland) heimlich wieder seine alte Staatsbürgerschaft zusätzlich verschafft. Nicht hinnehmbar ist es für unser Land, wenn ihn sein Ursprungsland dabei durch Verschleierungsmaßnahmen auch noch komplizenhaft unterstützt: „50 000 Türken beschafften sich illegal den Doppelpaß Union: Regierung unterschätzt das Problem von Ansgar Graw Berlin - Die Union hat die Bundesregierung aufgefordert, von der türkischen Regierung eine Liste mit den Namen von rund 50 000 türkischstämmigen Personen mit illegaler doppelter Staatsangehörigkeit zu verlangen. Die Innenpolitiker Wolfgang Bosbach (CDU) und Hartmut Koschyk (CSU) sagten vor Journalisten, die Bundesregierung unterschätze offenkundig die Probleme, die mit dieser Frage zusammenhingen. Zuvor hatte die Bundesregierung in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Union unter Berufung auf offizielle Angaben aus Ankara die Zahl der türkischstämmigen Personen, die sich nach Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit erneut einen zusätzlichen türkischen Paß beschafft hatten, auf etwa 50 000 beziffert. Das Verfahren widerspricht dem am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, nach dem Deutsche ausländischer Abstammung, die sich wieder die ursprüngliche Staatsangehörigkeit beschaffen, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. Obwohl diese Rechtslage bekannt war, hat die türkische Regierung nach Darstellung der Union per Runderlaß vom 10. September 2001 alle Gouverneursämter angewiesen, die in Deutschland verlangten Registerauszüge zu manipulieren und so den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit gegenüber deutschen Behörden zu verschleiern. "Der Vorgang ist ein unfreundlicher Akt", sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Bosbach, der zugleich betonte, es gehe nicht darum, die betroffenen Türken einzuschüchtern oder ihnen Sanktionen etwa hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus anzudrohen. Sie hätten sich durch den Wiedererwerb des türkischen Passes bislang nicht strafbar gemacht, daher sollten sie sich freiwillig melden und unter Verzicht auf die türkische Staatsangehörigkeit den Prozeß zur deutschen Einbürgerung erneut durchlaufen - "ohne Bonus und ohne Malus, wie jeder andere Türke auch, der einen deutschen Paß haben möchte", so Koschyk, der innenpolitischer Sprecher der Fraktion ist. Bosbach sagte, die Bundesregierung ignoriere bislang, welche Fragen mit der Staatsangehörigkeit zusammenhingen. So hätten Deutsche die Möglichkeit der Verbeamtung, das Recht auf diplomatischen Schutz im Ausland und seien in Fragen des Familiennachzuges privilegiert. Von allen diesen Rechten dürften Inhaber der türkischen Staatsangehörigkeit keinen Gebrauch machen. Sollten sie dies dennoch tun, könnten sich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Tatbestand bekannt würde, beispielsweise "immense Rückzahlungsforderungen" ergeben. Dies gelte, so Koschyk, beispielsweise, wenn Hartz-Bezüge gezahlt worden seien, die für einen Deutschen höher sein könnten als für einen Ausländer mit Duldungsrecht. Koschyk wies zudem auf das Problem der Teilnahme an Wahlen hin. So habe die SPD bei der Bundestagswahl 2002 nur um 6027 Stimmen vor der Union gelegen. Der CSU-Politiker forderte dazu auf, eine solche unklare Situation bereits vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai zu vermeiden. Bosbach wie Koschyk erklärten allerdings, es gehe nicht um eine Anfechtung zurückliegender oder künftiger Wahlen.“ (DIE WELT 10.03.05) Faruk Sen, der Direktor des Zentrums für Türkeistudien (ZfT), hatte schon vor der Landtagswahl in NordrheinWestfalen auf die Bedeutung der 180.000 wahlberechtigten türkischen Migranten hingewiesen (DIE WELT 07.04.05). Er forderte sie auf, die Bestimmungen des Staatsangehörigkeitsrechts zu achten, das spätestens seit der ab 2000 geltenden Neuregelung eine doppelte Staatsbürgerschaft bei Erwerb der deutschen ausschließt. Es müsse akzeptiert werden, wenn die Landesregierung Doppelstaatler aufdecken wolle, um die Legitimität der Wahl nicht zu gefährden. Das galt und gilt genau so für die kommenden Bundestags- und Europawahlen! Die SPD hatte die Bundestagswahl 2002 vor der CDU/CSU mit einem Zweitstimmenvorsprung von nur 6.027 Stimmen gewonnen. Da können zehntausende von Türken unberechtigt abgegebene Stimmen das Wahlergebnis ohne weiteres verfälschen! Da die türkischen Einwanderer bisher zu rund 60 % zur SPD und zu 9-14 % zur CDU tendierten

83

(SPIEGEL 04.10.04) und sich dieses Wahlverhalten noch deshalb verstärken wird, weil SPD und Grüne für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU eintreten, die CDU/CSU aber nur eine „privilegierte Partnerschaft“ zulassen will, könnten durch die Staatsbürgerschaftsmanipulationen der Türken die Siegchancen der in den Umfragen vorne liegenden CDU/CSU entscheidend geschwächt werden. Neben der freiwilligen Aufgabe und der - grundsätzlich nicht erlaubten - Entziehung gibt es noch den „Verlust“ als automatischen Wegfall der deutschen Staatsbürgerschaft durch dauerhaften Aufenthalt in einem anderen Land, wo dann irgendwann die Staatsbürgerschaft des Aufenthaltslandes beantragt und kein gleichzeitiger Antrag auf Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft gestellt wird. Diese Fälle sind gemeint mit Art. 16 I 2 GG: „Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.“ Diese Fälle sind in § 25 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz näher geregelt.

Die eingangs dieses Kapitels angesprochene aristotelische »Gerechtigkeits-Elle« der Geltung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes für jedes staatliche Handeln hat selbstverständlich auch Geltung für die Regelung von Fragen, die bei der Schaffung des Grundgesetzes gar nicht in Erwägung gezogen worden sind. Beispiele aus jüngerer Zeit: Als im Zuge der Parteispendenaffäre der CDU, und insbesondere ihres langjährigsten Vorsitzenden, des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, dessen MfS-Akten auftauchten, in der viele natürlich illegal mitgeschnittene Telefongespräche gesammelt sind, beanspruchte der Bürger Kohl von der »Gauck-Behörde« eine ihn privilegierende Ungleichbehandlung gegenüber der bislang anderen MfS-Opfern gegenüber geübten Behördenpraxis: Obwohl – so die von den meisten Juristen angenommene Intention des Gesetzgebers - das von allen Parteien des Bundestages beschlossene Stasiunterlagengesetz von 1991 in bewusstem Gegensatz zum Bundesarchivgesetz der Pressefreiheit zum Zwecke der Aufklärung der Öffentlichkeit Vorrang vor dem Persönlichkeitsrecht eines Bürgers eingeräumt habe, soweit es dessen öffentliche Tätigkeit angeht - der Privatbereich soll auch durch dieses Gesetz geschützt bleiben -, verhinderte der ehemalige Bundeskanzler Einblicke in seine Akte durch den wegen seines Schweigens eigens zur Untersuchung der Spendenaffäre eingesetzten Untersuchungsausschuss des Bundestages oder durch Journalisten. Der Leiter der »GauckBehörde« und seine Nachfolgerin wiesen in mehreren Interviews auf die nach Meinung des Amtes eindeutige Gesetzeslage hin, die eine solche Privilegierung gegenüber anderen von dem MfS/Stasi10 bespitzelten Personen nicht zuließe: Wenn auf Grund der bewussten Entscheidung des Bundesgesetzgebers andere »prominente« (meist ostdeutsche) MfS-Opfer Einblick in die sie betreffenden Akten durch Parlamente und Journalisten hätten hinnehmen müssen - ohne dass die CDU aufgeschrieen hatte -, dann müsste das bis zu einer immer möglichen Änderung der Gesetzeslage auch für einen überaus prominenten westdeutschen Politiker gelten, wenn dessen Wirken in der Öffentlichkeit untersucht werde. Dessen ungeachtet bleibe es dem Untersuchungsausschuss völlig unbenommen, für seine Arbeit die Akten zu verwerten oder auf deren Verwertung zu verzichten, aber nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz habe die Behörde nach derzeit gültiger Gesetzeslage, wie sie von den Juristen der »Gauck-Behörde« interpretiert wurde, dem in dem Stasiunterlagengesetz als berechtigt aufgeführten Personenkreis die Akten - unter für unsere Rechtsordnung selbstverständlichem Schutz der Privatsphäre - zur Verfügung zu stellen: Bei Prominenten der Zeitgeschichte solle das Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit an dem öffentlichen Wirken des Ausgespähten und Ausgehorchten seinem Opferstatus vorgehen. Eine, wie mir scheint, auf unserem Grundgesetz fußende juristisch völlig einwandfreie Argumentation, wenn das die Intention des Gesetzgebers war! Keiner solle gleicher als gleich sein. Das mit der Klage Kohls befasste Verwaltungsgericht Berlin gab jedoch dem Kläger in erster Instanz Recht, machte sich dabei aber eine Interpretation des Gesetzes zu eigen, die eine Arbeit der Behörde im bisherigen Umfang unmöglich machte: Der Schutz der Opfer des MfS-Überwachungsapparates für „Betroffene oder Dritte“ 10

Es ist zwar üblich, „die Stasi“ als Meta-Chiffre für die Chiffre „die Staatssicherheit“ zu sagen, womit aber immer das „Ministerium für Staatssicherheit“ oder der Staatssicherheitsdienst gemeint war. So ist die Begriffsbildung „die Stasi“ falsch, denn gemeint ist immer „der Staatssicherheitsdienst“, und dann muss es – gleichgültig ob üblich, oder nicht – „der Stasi“ heißen. Beispiel: Die Erfordernisse der Staatssicherheit der DDR vor dem Klassenfeind geboten nach Ansicht des Politbüros die Einrichtung des Staatssicherheitsdienstes.

84

habe nach § 32 I Stasi-Unterlagengesetz, so wie er von der Kammer dieses Gerichts interpretiert wurde, Vorrang vor allen anderen Zielen. Damit wurde eine zehnjährige Praxis der Gesetzesauslegung und -anwendung als unrechtmäßig eingestuft. Die Vorab-Begründung des Vorsitzenden Richters gegenüber insbesondere ostdeutscher Kritik: „Es kommt nicht darauf an, wie die Praxis bislang war, sondern wie sie (nach der Gesetzeslage) sein muss.“ Darin kann man dem Richter nur Recht geben - auch wenn das für manche ostdeutsche Kritiker nicht nachvollziehbar zu sein scheint. Die Frage ist aber, ob das erkennende Gericht mit der von ihm vorgenommenen wörtlichen Auslegung des Gesetzestextes das Gesetz richtig angewandt hat, denn es gibt neben der wörtlichen auch andere Auslegungsgesichtspunkte. Doch die nächste Instanz entschied genau so: Die ausschließliche Intention des Stasiunterlagen-Gesetzes sei gewesen, das Täterunrecht des MfS zu entlarven. Dabei zufällig gewonnene Erkenntnisse über Opferunrecht dürfe deswegen nach bestehender Gesetzeslage nicht mitverwertet werden, auch dann nicht, wenn es sich um Personen in öffentlichen Funktionen handelt, da diese Erkenntnisse durch Verletzung des durch Art. 10 GG geschützten Post- und Fernmeldegeheimnisses zustande gekommen sind. Das BVerwG machte sich 2002 genau diese, von der Rechtsauffassung der „Gauck-Behörde“ abweichende einschränkende Interpretationsmöglichkeit des Stasiunterlagen-Gesetzes zu Eigen. Es räumte dem Recht auf Privatheit und Datenschutz eines durch Bespitzelung betroffen Gewesenen auch in seinem öffentlichen Wirken den grundsätzlichen Vorrang gegenüber dem Interesse der Öffentlichkeit an der Aufarbeitung der letzten Diktatur auf deutschem Boden ein. Das BVerwG untersagte die Einsicht in die Akten ohne Einwilligung eines Betroffenen. Die Verbrechen des MfS können nunmehr detailliert letztlich nur noch im Rahmen der Einwilligung eines durch das Schnüffel-Vorgehen des MfS jeweils Betroffenen aufgedeckt werden. Nur er erhält das Einsichtsrecht in die Manipulation seines Lebens durch den Überwachungsapparat der SED; und das auch nur mit teilweisen Schwärzungen, wenn andernfalls die Involvierungen Dritter aus den ihn betreffenden Unterlagen ersichtlich würden. (Rückschlüsse auf denjenigen, der ihn an das MfS verraten haben könnte, kann ein Betroffener so nur indirekt ziehen, indem er überlegt, wem er wann was erzählt haben könnte: Wenn es nur der eigene Ehepartner war, dann lag für manchen Bespitzelten schon der Schluss nahe, dass er von dem dann gemutmaßten »Feind im eigenen Bett« verraten worden sein muss – wenn das MfS nicht »Wanzen« in seiner Wohnung installiert und so mitgehört hatte.) Da es weder eine begünstigende noch eine belastende »Gleichbehandlung im Unrecht« gibt, müsse sich der Kläger nicht so behandeln lassen, wie es vor ihm alle anderen widerspruchslos hingenommen hatten. Die Verwertung von unrechtmäßig erlangten »Zufallsfunden« durch die Presse als Vertreter der Öffentlichkeit wurde entgegen bisher geübter jahrelanger Praxis unterbunden: Opferschutz vor Medien- und Forschungsinteressen. Nur das Parlament könnte, wenn überhaupt, durch eine Gesetzesänderung – innerhalb der durch das BVerwG aufgezeigten engen Grenzen - dafür sorgen, dass dem Interesse der Öffentlichkeit an Aufklärung ein größeres Gewicht eingeräumt werde. Aber keiner wusste, wie die Änderung ausfallen müsse. Die Verwaltungsjuristen waren am Grübeln! Die nach diesem heftigem Grübeln durch die parlamentarischen Instanzen gebrachte Gesetzesänderung veranlasste das BVerwG jedoch nicht zu einer Revidierung seiner diesbezüglichen Rechtsprechung, denn bei der Ende 2002 erfolgten Novellierung des Stasiunterlagengesetzes wurde dessen § 5 nicht geändert. Die das Gesetz vorbereitenden Juristen des Deutschen Bundestages und des Bundesministeriums der Justiz hielten das nicht für erforderlich. Sie passten nur den § 32 an die Klarstellungsintention des Gesetzgebers an. Das reichte den Richtern des BVerwGs in Leipzig aber immer noch nicht. Nach ihrer Meinung dürfen bei dieser Gesetzeslage "personenbezogene Informationen über Betroffene oder Dritte", die illegal erworben wurden, (weiterhin) nicht zum Nachteil dieser Personen verwendet werden. Informationen über Kohl, zu denen die Stasi bekanntermaßen auf illegalem Wege kam, dürften nicht herausgegeben werden. Paragraph 32 des Stasiunterlagengesetzes erlaube zwar, dass von der Behörde "personenbezogene Informationen" über "Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger" weitergegeben werden dürften, soweit sie "ihre zeitgeschichtliche Rolle, Funktions- oder Amtsausübung" betreffen. Voraussetzung für eine Verwertung sei jedoch, dass die Informationen nicht unter Verletzung von Menschenrechten durch IM, Stasi-Offiziere oder wen auch immer gesammelt worden seien. Da Geheimdienste aber insbesondere nie das Post- und Fernmeldegeheimnis beachten, sondern es bewusst brechen, können die auf diesem Wege beschafften Informationen bei Beibehaltung dieser Rechtsprechung nicht verwendet werden. Das betrifft so gut wie alle interessanten bis brisanten Informationen. Ebenso wie das BVerwG entschied 2004 das in dieser Grundrechtsfrage als höchste Instanz letztinstanzlich angerufene BVerfG. Es wurden daraufhin rund 1.300 Seiten Kohl-Akten von der Birthler-Behörde herausgesucht, den Anwälten Kohls im gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsverfahren mitgeteilt und als der Alt-Bundeskanzler seine zunächst erhobenen Einwände zurückzog, 2005 an sieben interessierte Journalisten und zwei Historiker herausgegeben. 6.000 Seiten bleiben unter Verschluss. Aus den jetzt letztlich vorliegenden

85

Akten werde ausschließlich das Schnüffel-Vorgehen des MfS ersichtlich. Journalisten, die einen Skandal um das Verhalten Kohls in der Parteispendenaffäre und einigen anderen delikaten Punkten seines Regierungshandelns zu entdecken hofften, würden enttäuscht sein, ließ die Behördenchefin verlauten, da weder Unterlagen zu der Regierungstätigkeit Kohls als Bundeskanzler noch gar Hinweise in Sachen Parteispendenaffäre in dem zusammengestellten und abgesegneten Konvolut enthalten seien. Weitere, relativ beliebig aus alltäglichen Zeitungsnotizen zusammengestellte Anwendungsfälle für das Gleichbehandlungsgebot aus neuerer und neuester Zeit; und diese Beliebigkeit - die Entscheidungen, in die das Gleichbehandlungsgebot hinein strahlt, sind Legion, jede Auswahl kann nur zufällig sein - soll ja gerade die Ausstrahlungsbreite dieser Grundrechtsnorm zeigen, damit ihre manchmal unvermutete Wichtigkeit für unser Alltagsleben erahnbar wird und bei Ihnen die entsprechende gedankliche juristische Schublade geöffnet wird, wenn Sie solche Meldungen lesen: Noch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung erhielten ostdeutsche Kriegsinvaliden des Zweiten Weltkrieges eine geringere Kriegsinvalidenrente als die durch Zufall oder Flucht im Westen des ehemaligen Deutschen Reiches wohnenden Kriegsinvaliden. Warum? Man wird schamrot, wenn man sich das Handeln der Politiker betrachtet. Worin soll die innere Berechtigung für diese bis zum Jahre 2000 verweigerte Gleichbehandlung zu sehen gewesen sein? Ich weiß nicht, was die jeweilige Regierung an Gründen vorschob, um Geld zu sparen. Waren es angeblich niedrigere Lebenshaltungskosten in den östlichen Bundesländern? Das Argument müsste sich ja inzwischen als Legende erwiesen haben: Das Mietniveau des Jahres 2000 ist in Ostfriesland bestimmt nicht höher als in Berlin, Dresden oder Leipzig, die Reisekonzerne haben keine nach Ost und West gestaffelten Tarife für einen Urlaub in der Karibik, und in Ost- und Westdeutschland muss beim Einkauf bei Aldi oder anderen Lebensmittelketten das Gleiche gezahlt werden. Warum dann diese Ungleichbehandlung bei staatlichen Versorgungsleistungen, die auf gleichen Voraussetzungen beruht11? Ein im Krieg an einer der Fronten für das Vaterland verlorenes Bein ist in Ost- wie in Westdeutschland ein »abbes« Bein! Die Ungleichbehandlung wurde darum auch von dem BVerfG gekippt: Da alle deutschen Männer gleichermaßen ihre Knochen für denselben Staat hingehalten haben und daran beschädigt wurden, stehe ihnen die mit der Kriegsinvalidenrente verbundene Genugtuungsfunktion in gleicher Höhe zu. Wie gut, dass wir das BVerfG haben, damit es – nicht nur bei verlorenen Invalidenbeinen! - den Politikern notfalls Beine macht, wenn sie zu »gerechtigkeitsblind« sind; jedenfalls »gerechtigkeitsblinder« als das BVerfG – denn freisprechen von dem Vorwurf partieller »Gerechtigkeitsblindheit« kann ich auch das BVerfG, wie Sie gleich lesen werden, nicht immer! Verheiratete männliche Beamte haben Anspruch auf einen Tag bezahlten Sonderurlaub, wenn ihre Frau ein Kind zur Welt bringt. Die Ehe ist aber selbst unter Beamten nicht die einzige Form einer Partnerschaft. Darum beantragte ein in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebender Beamter die gleiche Vergünstigung, als die Zeit heran kam, dass seine ihm nicht angetraute Lebens(abschnitts?)partnerin ihr Kind gebären sollte. (Im Gegensatz zu Maria und Josef waren sie sich aber einig, dass es ihr gemeinsames Kind sei, und der Staat scheint auch keine diesbezüglichen Zweifel geäußert zu haben.) Das Begehren des Petenten muss abschlägig beschieden worden sein, denn zum Schluss landete der sich daran entzündet habende Rechtsstreit beim BVerfG. Und das entschied - meiner Meinung nach falsch! -, dass der Dienstherr nicht verpflichtet sei, eine einem Verheirateten zustehende Vergünstigung in Form eines Sonderurlaubes zur Teilnahme an der Geburt seines eigenen Kindes auch einem Ledigen zu gewähren. Ist in dieser Sache Ungleiches - hier einerseits: verheirateter Vater, dagegen andererseits: unverheirateter Erzeuger - sachgerecht ungleich entschieden worden, was nicht nur zulässig, sondern dann sogar geboten wäre oder Gleiches ungleich - beide Male werdender Vater in einer stabilen Dauerbeziehung -, was letztlich einen in Verkennung einer Grundrechtsnorm durch das BVerfG begangenen Verfassungsverstoß begründen würde? Wie war zuvor die Abgrenzung bei der Gruppenbildung zur Bestimmung von Gleichem oder Ungleichem sachgerecht(!) vorzunehmen, um dann die Elle des Artikels 3 GG an die präjudizierend(!) so vorgenommene Gruppenbildung zur Beurteilung des Falles anzulegen? Wer sich mit dem BVerfG anlegt, muss gute Gründe auf seiner Seite glauben oder wissen. Ich kenne leider weder die Einzelheiten des Falles, noch die tragenden Gründe, die zu der in einer Zeitungsnotiz vom 18.04.98 mitgeteilten Entscheidung geführt haben. Vermutlich hat sich unser höchstes Gericht dahingehend entschieden, dass laut Art. 6 I GG die Ehe unter dem besonderen Schutz des Staates stehe. Aber ich kritisiere die 11

Für betriebliche Lohnzahlungen ist diese Argumentation aber nicht so zwingend, denn die ostdeutschen Betriebe würden bei gleicher Lohnzahlung ihren Kosten- und Standortvorteil im gesamtdeutschen Wettbewerb verlieren, müssen aber erst noch mit kostengünstig produzierten Produkten um ihre Platzierung im Wettbewerb kämpfen, um überleben zu können.

86

Entscheidung in der mitgeteilten Form (unter dem Vorbehalt, dass es möglicherweise mir nicht bekannte Differenzierungsgründe geben sollte: so könnten die Eltern z.B. gar nicht zusammengelebt haben) als grundgesetzwidrig, weil sich jede Entscheidung teleologisch (zielgerichtet)12 auf den Schutzzweck der jeweils entscheidungserheblichen Norm beziehen muss: Zu der Geburt ihres Kindes werden die Väter deswegen Sonderurlaub bekommen, um dieses auch für ihr Leben einschneidende Ereignis teilweise sogar im Wortsinne hautnah miterleben zu können. Die sich anbahnende Vater-Kind-Beziehung soll auf einer möglichst tiefen emotionalen Basis gründen. „Neue Väter braucht das Land!“, wird uns straßauf, straßab zugerufen. Nach der Zeitungsmeldung hat das BVerfG seine Entscheidung aber mit dem unterschiedlichen Personenstandsstatus zwischen Vater und Mutter begründet, und nicht mit einer tatsächlich bestehenden oder vielleicht nicht bestehenden Lebensgemeinschaft. Das Vater-Kind-Verhältnis scheint in der Entscheidung überhaupt nicht zum Tragen gekommen zu sein. Da es aber in Art. 6 I GG heißt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.“ dürfte man meiner unmaßgeblichen Meinung nach einem werdenden Vater auch dann nicht den Sonderurlaub zum Miterleben der Geburt seines Kindes versagen, wenn er mit der Mutter seines Kindes nicht verheiratet ist, sondern (»nur«) in einer „wilden Ehe“ lebt; auch die ist mit der Geburt des Kindes eine Familie! So betrachtet stellt sich mir die Entscheidung als ein willkürlicher Verstoß gegen das Gleichheitsgebot dar. Maßstab sei dabei die Definition des Begriffes „Familie“, wie sie das BVerfG in seiner Entscheidung BVerfGE 10/59,66 selber formuliert hat: „Ehe ist auch für das Grundgesetz die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft und Familie ist die umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Rechte und Pflichten zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen. Dieser Ordnungskern der Institute ist für das allgemeine Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein unantastbar.“13 Damit ist mit „Ehe“ die „Hetero-Ehe“ eines Mannes und einer Frau festgeschrieben – ohne dass die Singularisierung extra betont worden war. Das war für das BVerfG damals – vor der Zeit der Millionen Muslime in Deutschland – einfach selbstverständlich, ist es aber inzwischen nicht mehr, wie eine Entscheidung des BVerwGs mit multikulturellem Verständnis zeigt: „Zweitfrau darf bleiben Koblenz – Die Zweitehefrau eines in Deutschland lebenden Irakers kann hier für sich eine Aufenthaltsbefugnis verlangen. Das OVG Koblenz entschied, es sei für die Zweitfrau unzumutbar, in die Heimat geschickt zu werden, während der Gatte mit seiner ersten Frau bleiben dürfe (Az.: 10 A 11717/03). (ap)“ (HH A 30.03.04)

Um aber nun den Ausgangsfall für die Veranschaulichung des Gleichheitsgrundsatzes weiterzuspinnen - als kreativer Mensch kann man seine Gedanken ja nicht anhalten -, denken wir uns die Fallkonstellation etwas abgewandelt, und zwar so, dass die nicht gebärende Partnerin in einer »Lesben-Ehe« die Geburt des Kindes der Lebenspartnerin miterleben möchte und dafür Sonderurlaub beantragt (um den Jahresurlaubsanspruch zu schonen, falls sie noch welchen hatte). Im Unterschied zum Miterleben der Geburt eines eigenen Kindes durch den nichtehelichen, in einer Lebenspartnerschaft mit der werdenden Mutter lebenden Vater liegt in diesem umgebildeten Fall keine eigene »Vaterschaft« vor, so dass nach dem von mir zur Gruppenbildung vorgeschlagenen Kriterium nun eine Ungleichbehandlung zwischen dem Miterleben der Geburt eines eigenen leiblichen oder eines fremden Kindes sachdienlich ist. Dieser von mir vorgetragene Gedanke ist einige Jahre später von dem schleswig-holsteinischen Landesparlament anders gesehen worden: 12

Vielleicht wird die Notwendigkeit einer allgemeinen teleologischen Arbeitsweise - nicht nur bei der Systematik und Auslegung gesetzlicher Tatbestände - ganz gut durch einen Witz kenntlich gemacht, der nahe legt, sich auch im Alltagsleben zielorientiert zu verhalten: Ein Kunde fragt im Baumarkt in „körperlicher Bedrängnis“: „Wo sind denn hier die Toiletten?“ Antwortet der Verkäufer: „Da hinten im Regal links!“ 13 Zitiert nach Hesselberger, D.: Das Grundgesetz / Kommentar für die politische Bildung 1995 9 S. 97

87

„Mehr Rechte für Homosexuelle Kiel - Schleswig-Holsteins Landtag hat Regelungen zur Ehe auf eingetragene Lebenspartnerschaften Homosexueller erweitert. Zum Beispiel kann eine Beamtin künftig Sonderurlaub bekommen, wenn ihre Lebensgefährtin niederkommt. epd“ (HH A 17.12.04) Vielleicht wurde als gleich zu beurteilendes Kriterium die Ankunft eines neuen Familienmitgliedes angesehen. Ich hatte in meiner Auseinandersetzung mit der von mir kritisierten und für falsch gehaltenen Entscheidung des BVerfGs in meinen vorgetragenen damaligen Überlegungen als unterscheidungserhebliches Kriterium ausschließlich auf die eigene Elternschaft abgestellt und gemeint, man müsste im Falle zweier Lesben, die durch die Hilfe der modernen Biomedizin mittels Entkernens einer Eizelle und Einpflanzens eines neuen Kernes, der von der nichtgebärenden Partnerin stammt, ein gemeinsames Kind erwarten, den Sachverhalt analog der Regelung bei einer eigenen Vaterschaft eines Ehepaares bewerten; was dann natürlich eine Freistellung vom Dienst bei nicht eigener Elternschaft ausschließt. Aber wenn der Landtag des Landes Schleswig-Holstein großzügiger sein und die mit der Geburt neu eingetretene Situation im Zusammenleben der (eingetragenen?) Lebenspartner unterstützen will, so ist dagegen nichts einzuwenden. Die von mir aufgestellte Freistellungsforderung ist ja eine in Konfrontation zum Urteil des BVerfGs aufgestellte Minimalforderung. Ein wenig Aufmerksamkeit, aber keine große Erregung, lieferte der Fall, dass die Bundeswehr 1999 einen homosexuellen Zeitsoldaten im Range eines Feldwebels wegen von ihr befürchteten möglichen Autoritätsverlustes nicht als Berufssoldat übernehmen wollte. In diesem ablehnenden Verwaltungsakt (VA) sah das Lüneburger VG einen Verstoß gegen das Willkürverbot oder Gleichbehandlungsgebot und verurteilte die Bundeswehr zur Übernahme dieses Mannes trotz seiner speziellen Männerneigung. Dabei ist nach meiner zweijährigen Erfahrung als Zeitsoldat Anfang der 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Befürchtung der Dienststelle wegen eines möglichen Autoritätsverlustes gar nicht so abwegig: Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diesem Feldwebel in der nicht unbedingt auf gesellschaftlichen Schliff hin angelegten Männergesellschaft der Bundeswehr im Konfliktfall durch einen renitenten Untergebenen seine sexuelle Präferenz mit der abschätzigen Kampfansage: „Von einem Arschficker lasse ich mir gar nichts sagen!“, entgegengeschleudert werden könnte! (Pardon! In der - jedenfalls bis 1999 - reinen Männergesellschaft drückte man sich meistens nicht sehr fein aus.) Und alle anderen stehen dabei und feixen! Das zieht, auch wenn der renitente Soldat bestraft wird, unweigerlich einen – bleibenden - Autoritätsverlust nach sich! Die Geschichte einer solchen Auseinandersetzung wird perpetuiert werden, unter Garantie. Ich war lange genug beim Militär, um das genau zu wissen! Die drei letzten von mir gleich angesprochenen innerstaatlichen Fälle zur Gleichbehandlungsproblematik zielen nicht auf den Geschlechterunterschied, sondern haben ganz im Gegenteil die Gleichheit des betroffenen Geschlechts zur Voraussetzung. Es geht im ersten und zweiten der drei Fälle um die Stellung und bisherige Ungleichbehandlung von verheiratet gewesenen aber dann geschiedenen gegenüber unverheirateten Müttern und um den Unterhaltsanspruch gegen den ehelich verbunden gewesenen oder den bewusst nie mit ihnen verheiratet gewesenen Vater ihrer Kinder: „Wilde Ehen vor Gericht Werden uneheliche Kinder vom Gesetzgeber benachteiligt? Karlsruhe soll darüber entscheiden, ob mehr als eine halbe Million betroffene Väter zu wenig Alimenten bezahlen. Deutschlands meistgekaufte Zeitung nannte es vor drei Jahren den "Steffi-Graf-Trend" - das Kinderkriegen ohne Trauschein. Da nichteheliche Kinder ehelichen gleichgestellt seien, "muss also nicht geheiratet werden, damit das Kind versorgt ist", warb "Bild". Den Trend hatte das Blatt richtig erkannt: Während bis dato noch jedes fünfte Kind nichtehelich geboren wurde, ist es heute schon jedes vierte. In den neuen Ländern werden sogar mehr als die Hälfte aller Babys in "wilden Ehen" gezeugt. Tennisstar Steffi Graf indessen heiratete doch noch, vier Tage vor der Geburt des Sprösslings. Ein kluger Schritt: Denn die Absicherung von Mutter und Kind ist ohne Heirat eben doch längst nicht so gut wie mit Trauschein. Die Alimente, die Väter für nichteheliche Nachkommen zu zahlen haben, sind zwar gleich hoch wie für eheliche, die für ihre ledigen Mütter sind es aber mitnichten. Drei Jahre nach der Geburt eines unehelichen Kindes erlischt der Unterhaltsanspruch der Mutter gegenüber dessen Vater; es sei denn, das Kind wäre etwa schwer behindert. Geschiedene dagegen haben Anspruch auf Unterhalt, bis das jüngste Kind 15 Jahre alt ist. So lange

88

soll eine Ex-Gattin den Nachwuchs persönlich betreuen können - die ersten acht Jahre voll, weitere sieben gilt ein Teilzeitjob als zumutbar. Diese gesetzliche Ungleichbehandlung von Müttern sei schlicht "verfassungswidrig", befand jetzt das Oberlandesgericht (OLG) Hamm. Allerdings nicht wegen etwaiger Diskriminierung von Frauen, sondern weil sich nichteheliche Trennungskinder im Gegensatz zu jenen aus Ehen ab dem dritten Geburtstag Fremdbetreuung gefallen lassen müssten. "Aus Sicht des Kindes", so der Richterspruch, könne es aber "keine Rolle spielen, ob seine Eltern miteinander verheiratet waren oder nicht". Das OLG hat den Fall der Klägerin Heike Preuß, Mutter zweier nichtehelicher Kinder, dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Die höchste Instanz hatte die Oberlandesrichter zu dieser Radikalentscheidung ermuntert, als sie im Februar der Verfassungsbeschwerde der Sozialhilfeempfängerin auf Prozesskostenhilfe zur Klärung ihres Falls stattgab. "Die Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Ausgestaltung" des Unterhalts je nach Familienstand im Hinblick auf die im Grundgesetz geforderte Gleichbehandlung aller Kinder, stellte Karlsruhe damals fest, sei "fraglich". Die Zweifel der Juristen am geltenden Recht sind in Berlin offenbar als Warnschuss angekommen. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) bereitet eine Reform des Unterhaltsrechts vor, von der auch nicht verheiratete Mütter profitieren. Der Gesetzentwurf soll noch dieses Jahr vorgestellt werden. Die bisherige Schlechterstellung bei den finanziellen Lasten trägt in hohem Maß Vater Staat. Wenn es Müttern nicht gelingt, für sich selbst zu sorgen, beantragen sie Sozialhilfe. So wie Klägerin Preuß aus dem westfälischen Isselburg: "Ich verlange von den Vätern meiner Kinder keinen Cent mehr als vom Sozialamt", argumentiert sie. "Sie sollen ihren Kindern nur das Dach über dem Kopf zahlen." Etwa ein Drittel der unverheirateten Mütter wirtschaftet auf Sozialhilfeniveau - laut einer Studie von 1997 doppelt so viele wie geschiedene. Von den rund eine Million Kindern, die Stütze beziehen, leben knapp 600 000 bei Alleinerziehenden. Die Armut der Betroffenen sei auch der Grund, glaubt der Anwalt der Klägerin, Eckhard Benkelberg aus Emmerich, warum diese relativ selten gegen ihre offenkundige Benachteiligung zu Felde zögen. Der Jurist hat sich darauf kapriziert, die Gleichstellung der geschiedenen mit den ledigen Müttern zu erlangen. Und Benkelberg zeigt sich zuversichtlich: Neben dem Verfassungsgericht hat auch der Bundesgerichtshof (BGH) die Verfahren zweier seiner Mandantinnen angenommen. Im Dezember muss der BGH über die Rechtmäßigkeit einer weiteren Ungereimtheit im Nichtehelichen-Recht befinden: Warum hat ein lediger unterhaltspflichtiger Vater Anspruch auf einen höheren Selbstbehalt als ein verheirateter? Denn: Je mehr er von seinem Einkommen behalten darf, desto weniger bleibt für Mutter und Kind. Eine berechtigte Frage, finden auch Experten wie die Vorsitzende der Unterhaltskommission des Deutschen Familiengerichtstags, die Hamburger OLG-Richterin Jutta Puls. "Kinder fallen nicht vom Himmel", sagt Puls - "und auch die ohne Trauschein nicht." Durch das seit 1995 geltende Gesetz sind in den Augen der Familienrechtlerin keineswegs nur die betroffenen Kinder benachteiligt. Auch zwischen den Eltern sei das Risiko "schief" verteilt: "Der Vater zahlt und macht weiter Karriere, während die Mutter das Kind als Klotz am Bein hat. Selbst im Alter wird sie noch dafür bestraft. Denn der Vater eines nichtehelichen Kindes muss für keinen Rentenausgleich bei der Mutter sorgen." Leidtragende, die bisher gegen diese Benachteiligung klagten, fanden kein Gehör: Das OLG Nürnberg verweigerte einer Mutter, die arbeitslos wurde, weil sie die Unterbringung ihres Kleinkindes und den Job nicht vereinbaren konnte, das Recht auf Unterstützung vom Vater. Begründung: Der Gesetzgeber habe "in Kauf genommen, dass die Notwendigkeit der Betreuung eines gerade drei Jahre alten Kindes eine Mutter in größte Schwierigkeiten bringt, ihren angemessenen Unterhalt selbst zu verdienen". Im vergangenen Jahr urteilte das OLG Koblenz, eine allein erziehende Krankenschwester, die sich mit Familie und Job überfordert sah, könne ja Nachtdienste schieben. Währenddessen könne ihr 15jähriger Sohn das uneheliche Kleinkind beaufsichtigen. Führende Familienrechtler wie der Kölner Experte Helmut Büttner sympathisieren mit der Entscheidung des OLG Hamm, das geltende Unterhaltsrecht als verfassungswidrig einzustufen. Was es aber in der Praxis bringt, wenn Karlsruhe vom Gesetzgeber zu Gunsten der nichtehelichen Kinder Verbesserungen beim Mütterunterhalt einfordert, bleibt einstweilen offen. Betroffene sind skeptisch. "Die Väter sind als Zahlesel überfordert", warnt Peggi Liebisch vom Verband allein erziehender Mütter und Väter. Denn selbst wenn die über eine halbe Million getrennt

89

lebenden Väter unehelicher Kinder mehr zahlen müssten, sei nicht gesagt, dass sie dies auch täten. "Mütterunterhalt wird auch nach Scheidungen in nur zwölf Prozent aller Fälle wirklich geleistet", weiß Liebisch. Die Forderungen der Alleinerziehenden-Lobbyistin: mehr Kindergeld, mehr öffentliche Kinderbetreuung - und diese, bitte schön, "zum Nulltarif". Was nützten schließlich Kindergärten, wenn die Mütter sie nicht bezahlen könnten? ANNETTE BRUHNS“ (Spiegel 11.10.04) Gleicher Unterhalt für Ledige und Geschiedene Karlsruhe - Unverheiratete Mütter dürfen beim Unterhalt für sich nicht besser gestellt werden als Geschiedene. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Danach bekommen Mütter in jedem Fall vom Vater des gemeinsamen Kindes nicht mehr als die Hälfte seines Einkommens. Die Richter stellten damit nicht-eheliche Eltern geschiedenen Eltern gleich (Az: XII ZR 121/03). Laut Unterhaltsrecht hat neben dem Kind auch die Mutter Anspruch auf Unterhalt, wenn sie in den ersten drei Lebensjahren des Kindes nicht arbeitet. dpa (HH A 17.12.04)

Der dritte der von mir anzusprechenden und uns noch längere Zeit beschäftigenden Gleichbehandlungsfälle, dieses Mal nur innerhalb des männlichen Geschlechts, betrifft das Problem der Wehrgerechtigkeit mit der Frage der Beibehaltung der Wehrpflicht oder ihrer Abschaffung und die Ersetzung der bisherigen Wehrmachtsstruktur durch die Einführung einer Berufsarmee: Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks, der dadurch verursachten Beendigung des Kalten Krieges, der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die NATO und zuletzt der Erweiterung der EU um zunächst neun mittel- und osteuropäische Staaten liegt die BRD in der Mitte der EU und ist rundherum von befreundeten und mit ihr verbündeten Staaten umgeben. Von Freunden umgeben zu sein, kann tödlich enden: das musste schon Caesar erfahren, und Parteipolitiker insbesondere der CDU beklagten ebenfalls ihre politische »Ermordung« durch Parteifreunde aus nächster Nähe. Aber für die Sicherheitslage eines Staates ist solch eine Konstellation nur von Vorteil; damit kann man nicht nur gut mit dem Hinweis auf die uns umgebenden sicheren Drittstaaten den Asylantenstrom abwehren. Die Bedrohungslage der BRD hat sich mit dem politischen Umbau Europas grundlegend zum Positiven verändert. Es ist nicht mehr von der Notwendigkeit einer Landesverteidigung mit großen Panzerverbänden und vielen Infanteriedivisionen auszugehen, die sich in der norddeutschen Tiefebene, im „Kassel-gap“, hereinbrechenden Panzertruppen der Sowjetunion und ihrer im Warschauer Pakt mit ihr Verbündeten entgegenstellen müssten. Im Zuge der Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Landesverteidigungs- zu einer weltweit einsatzfähigen Eingriffsarmee – weil die Freiheit Deutschlands (angeblich) am Hindukusch verteidigt werden müsse wurde die Truppenstärke um fast 15 % zurückgefahren. Seitdem braucht man nicht mehr alle zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen: Wer muss nun weiterhin mit seiner Einberufung rechnen und dem Vaterland dienen, wenn – aber diese Zahl ist vermutlich eher der politischen Agitation geschuldet – nach lauthals propagierter Ansicht der Grünen angeblich nur noch 10 % der Wehrpflichtigen überhaupt eingezogen werden können, weil damit die Aufnahmekapazität der Bundeswehr erschöpft sei? Gleichgültig, welche Gründe für oder gegen die Abschaffung der Wehrpflicht aus militärischen und militärpolitischen Erwägungen sprechen – sie sollen an dieser Stelle nicht untersucht werden -, steht nach dem in Art. 3 GG in verschiedenen Variationen zum Ausdruck gebrachten Gleichheitsgrundsatz und insbesondere nach dem 1978 ergangenen klarstellenden Urteil des BVerfGs die „Pflichtgleichheit“ aller (männlichen) Staatsbürger unter dem Gebot des Gleichheitsgrundsatzes des Grundgesetzes. Das BVerfG betonte schon damals ausdrücklich, dass eine Freistellung von der Wehrpflicht durch Nichteinberufung, die sich am jeweiligen Personalbedarf orientiert, gegen den zu beachtenden Gleichheitsgrundsatz verstößt, weil die Wehrgerechtigkeit nicht gewahrt ist, wenn nur eine Minderheit der an sich Wehrpflichtigen der den betroffenen Einzelnen erheblich belastenden Wehrpflicht nachkommen müsse. Die Wehrgerechtigkeit verlange wegen des erheblichen Eingriffs in die persönliche Lebensführung und in die berufliche Entwicklung, dass bei der Erfüllung der Wehrpflicht nicht willkürlich oder ohne sachlich zwingenden Grund unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Die Wehrpflicht dürfe nicht zur Lotterie werden!

90

Unterschi edliche Geltung des Gleichheit ssatzes im öffentlichrechtliche n Bereich von Kirche und Staat

1.3.2.1.2 Unterschiedliche Geltung des Gleichheitssatzes im öffentlich-rechtlichen Bereich von Kirche und Staat Ein Beispiel für die nur bedingte Geltung der Grundrechte bezüglich des Gleichheitssatzes, des Ausgangspunktes unserer Betrachtung, im öffentlich-rechtlichen aber nichtstaatlichen Bereich: Die großen Kirchen müssen in der Bundesrepublik selbst unter der (grundsätzlichen) Geltung des Grundgesetzes nicht Gläubige einer anderen Konfession als der eigenen in ihre Dienste aufnehmen. Das ist nur zu verständlich bei seelsorgerischer Tätigkeit, könnte aber etwas großzügiger gesehen werden, wenn es sich um nichtseelsorgerische Tätigkeit handelt, z.B. bei Psychologen in kirchlichen Beratungsstellen, Lehrern an Schulen konfessioneller Träger, Sozialpädagogen in kirchlichen Sozialeinrichtungen, ... . Anderes, noch augenfälligeres Beispiel: Dem Staat wäre es nicht erlaubt, nur Männer in seinen Dienst aufzunehmen, die katholische Kirche aber verweigert Frauen bislang den Zugang zum Priesterberuf. 1.3.2.1.3 Art. 33 GG als den Staat verpflichtende spezielle Ausgestaltung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes Im Gegensatz zu den Großkirchen muss aber der Staat unter der Geltung des „Art. 33 GG (1) Jeder Deutsche hat in jedem Land die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. (2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. (3) Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen. ..." und der Geltung des schon zitierten Art. 3 III GG einen Deutschen evangelischen, katholischen, jüdischen, islamischen oder buddhistischen Glaubens in gleicher Weise bei einer Bewerbung berücksichtigen und darf nur nach den im Grundgesetz in Art. 33 II genannten Gesichtspunkten "Eignung, Befähigung und fachliche Leistung" seine Auswahl treffen, wobei alle Bewerber die Gewähr dafür bieten müssen, dass sie für die »fdGO«, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, einstehen. Und daran hapert es bei fundamentalistischen Islamisten, die ihren Nachwuchs in der BRD in Koranschulen, in Internaten des Verbandes der islamischen Kulturzentren in der BRD (VIKZ) oder dem Internat der saudiarabisch-islamischen Fachd-Akademie in Bonn heranziehen (Panoramabericht 02.10.03) und die Kopftücher ihrer Frauen als Flagge in ihrem Kampf um die Abschaffung der Trennung von Staat und Religion in einem durch die islamische Religion dominierten Gottesstaat, um die Abschaffung der staatlichen Toleranz zu Gunsten ihrer religiösen Intoleranz, benutzen. Nach der Verfassungstheorie geht es, auf der vorausgesetzten Basis der »fdGO«, also nur um "Eignung, Befähigung und fachliche Leistung". Die Verfassungswirklichkeit sieht natürlich anders aus, denn sonst gäbe es in den Beamtenapparaten nicht immer wieder u.a. die Erscheinungen, die mit dem Schlagwort "Parteienfilz" zu Recht gegeißelt werden. Da werden dann fachliche Gründe vorgeschoben, um politisch nicht genehme Bewerber ablehnen und politisch genehme um sich scharen zu können; was in Spitzenpositionen allerdings berechtigt ist: Ein Minister muss sich darauf verlassen können, dass z.B. sein Staatssekretär seine politische Linie vertritt! Relevanz und öffentliche Aufmerksamkeit über brodelnde Stammtische hinaus erlangte Art. 33 GG in Fragen der Beschäftigung deutscher Frauen muslimischen Glaubens als Lehrerin, wenn sie vor ihren Klassen mit Kopftuch auftreten wollten. Diese zunächst politisch und dann letztlich juristisch zu entscheidende Frage hat sich als eine große Herausforderung für die deutsche Leit- und Rechtskultur herausgestellt: „Soll eine muslimische Lehrerin im Unterricht an einer staatlichen, bekenntnisfreien Schule ihr Haupt in ein Kopftuch gehüllt lassen dürfen? ... Es geht um die Frage, wie religiös der weltliche Staat westeuropäischer Prägung werden darf, ohne seine Identität zu verlieren. Richter Hassemer [Vizepräsident des BVerfGs und Vorsitzender des mit der Entscheidung in dieser Frage befassten Senats; d. Autor] hat schon Recht, wenn er feststellt, ’dass diese Frage Staat und Gesellschaft von Grund auf beschäftigt und auch weiter beschäftigen wird ...’“ (SPIEGEL 29.09.03). In der BRD ist es – im Gegensatz zu z.B. Frankreich und der muslimischen Türkei - klar und (inzwischen) völlig unbestritten, dass der Staat als Ausbildungsmonopolist für den Lehrerberuf diesen »Kopftuch-Lehrerinnen« bis zum Ende ihrer Ausbildung, d.h., bis zur Beendigung des Referendariates, einen Ausbildungsplatz zur

91

Verfügung stellen muss, damit die zweiphasige Lehrerausbildung - mit der ersten Phase des Studiums an einer Universität oder pädagogischen Hochschule und der anschließenden praktischen Phase im Vorbereitungsdienst ordnungsgemäß abgeschlossen werden kann. Aber was danach? Soll eine solche »Kopftuch-Lehrerin« in den öffentlichen Schuldienst übernommen werden wegen ihres guten Examens sogar übernommen werden müssen, bevor Lehrerinnen mit schlechteren Examensnoten und somit nachgewiesener geringerer fachlicher Eignung und Befähigung eingestellt werden dürfen -, wo wegen des Toleranzgebotes und der aus den Artikeln 4 I, 3 III, 33 III und 140 GG i.V.m. den entsprechenden Artikeln der Weimarer Verfassung folgenden Neutralitätspflicht des Staates der Unterricht ohne jede Art - oder gar latente Gefahr - einer Indoktrination insbesondere kleinerer Kinder weltanschaulich und religiös neutral zu erteilen ist, wie zuletzt in dem 1995 ergangenen »Kruzifix-Urteil« des BVerfGs erneut festgestellt wurde? Allerdings ging es in dem Verfahren um die Kruzifixe in jedem bayrischen Klassenzimmer vorrangig um die Neutralitätspflicht des Staates auf der einen und die Freiheitsrechte von Eltern und Schülern auf der anderen Seite. Zur vorherigen Klarstellung: Die vom BVerfG wiederholt festgestellte weltanschauliche Neutralitätspflicht des Staates bezieht sich auf alle Aspekte staatlichen Handelns, nicht nur auf die in katholisch geprägten Bundesländern lange üblich gewesene Bildung mancher deutscher Landeskinder unter dem Kruzifix: „Recht auf Prozess ohne Kruzifix Saarbrücken – An saarländischen Gerichten darf gegen den Willen nicht christlicher Beteiligten keine Verhandlung mehr unter dem Zeichen des Kruzifixes geführt werden. Das entschied das Landgericht Saarbrücken (Az.: 1 Qs 137/01). (HH A 05.09.01) Das empfindet ein Heutiger in einer - wenigstens in den Städten - zunehmend multikulturell geprägten Gesellschaft als ein angemessenes Urteil. Einen Juristen hingegen muss nicht das Urteil, sondern der Umstand, dass es so gefällt werden musste, erstaunen und empören, denn schon mehr als eine Generation zuvor hatte das BVerfG genau so entschieden! Schwierigkeiten könnten sich für Polizistinnen ergeben, wenn sie wegen der Neutralitätspflicht des Staates »unanständig« gekleidet gegen konservative muslimische Männer vorgehen müssen. Aber Kopftücher tragende Polizistinnen hätten bei den sich oft als »Machos« gebärdenden Konservativen auch kein wesentlich größeres Ansehen. Mit der nicht nur auf Schulen beschränkten grundsätzlichen Neutralitätspflicht des Staates – derentwegen Kruzifixe auch von Richtertischen oder aus Gerichtssälen entfernt werden mussten und z.B. das Justizministerium des Landes Niedersachsen nach dem vom BVerfG ergangenen »Lehrerinnen-Kopftuchurteil« im November 2003 seine Richterinnen und Staatsanwältinnen anwies, dass während des Dienstes kein Kopftuch getragen werden dürfe - soll u.a. eine mit staatlichem Korsett ausstaffierte öffentliche Zur-Schau-Tragung von Religiosität verhindert werden. Für das BVerfG und das BVerwG war bei seinem »Lehrerinnen-Kopftuchurteil« ausschlaggebend, dass Schüler in Fragen von Weltanschauung und Religion nicht zwangsweise mit etwas konfrontiert werden sollen, was sie oder ihre Eltern nicht wollen. Es gilt in dem »Sonderrechtsverhältnis« Schule das vom BVerwG in seiner Entscheidung so genannte „Überwältigungsverbot“: Wer missionieren wolle, habe an öffentlichen Schulen nichts zu suchen. Im Fall der »Kopftuch-Lehrerinnen« kommt aber zusätzlich zu den vorgenannten Gesichtspunkten die grundgesetzlich geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der einer strengen Islaminterpretation – im Falle der afghanisch gebürtigen Klägerin Ludin, die in »Backfisch«-Jahren in Saudi-Arabien zum Kopftuch bekehrt wurde und später ihren deutschen Ehemann zum Islam bekehrt hat: aus dem Dunstkreis der als potentiell verfassungsfeindlich eingestuften Organisation Milli Görüs - anhängenden muslimischen Lehrerinnen aus Art. 4 GG mit ins Spiel! Hat eine »Kopftuch-Lehrerin« durch Art. 33 III GG „... die Zulassung zu öffentlichen Ämtern ... sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit ... zu einem Bekenntnis ... ein Nachteil erwachsen.“ und Art. 4 I GG „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

92

möglicherweise sogar einen Rechtsanspruch auf Übernahme als Beamtin? Baden-Württemberg verneinte das mit der Begründung, dass der Koran und damit der Islam nicht zwingend das Tragen eines Kopftuches vorschreibe. Zwar gäbe es in den die Frauen grundsätzlich unterdrückenden Ländern Saudi-Arabien und dem Iran einen strengen Kopftuch-Zwang in der Öffentlichkeit, um die Ehrbarkeit und »Reinheit« einer Frau zu demonstrieren und damit sie nicht als Lockmittel des Teufels auf Männer sexuelle Reize ausübe – „Weil die Muslime ihre Triebe nicht in den Griff bekommen, muss ich ein Kopftuch tragen“, schimpfte in Deutschland eine aufmüpfige türkische Schülerin in einem SPIEGEL-Artikel, weil sie dagegen rebelliert, von ihren Eltern und der Großfamilie zum Tragen eines Kopftuches gezwungen zu sein - , in den meisten arabischen Ländern aber bestehe dieser Zwang nicht; in der durch Atatürk säkularisierten, gleichwohl stark muslimisch geprägten Türkei ist es sogar generell verboten, in öffentlichen Räumlichkeiten ein Kopftuch zu tragen, denn dort wird das Tragen eines Kopftuches als politische Äußerung gewertet. (Schon Atatürk hatte den Türken aufs Haupt geschaut und das Tragen des Fes’ als Symbol für die »alte« Türkei verboten. Nun hat das Kopftuch den Fes als Symbolkleidungsstück der »Ewig-Gestrigen«, der Gottesstaat-Verfechter, abgelöst.) Eine Frau, die in der Türkei gegen das Kopftuch-Verbot verstößt, wird bestraft, muss z.B. die Universität verlassen und ihre akademische Ausbildung abbrechen. Die sich den Gerichten aus dieser Sachlage aufdrängende Schlussfolgerung: Das Tragen eines Kopftuches gehöre also nicht zu den religiösen Pflichten einer Muslimin. Im Koran werde es nicht verlangt. Es gibt, wie in der Sure 33/59, in den religiösen Schriften nur Hinweise, dass Frauen sich außerhalb des Hauses „ehrbar“ kleiden sollten. Überwiegend werde von muslimischen Frauen in deren Heimatländern jedoch kein Kopftuch getragen, wenn sie nicht durch Ehemänner und traditionell geprägte Familien(oberhäupter), religiöse Sittenwächter oder staatliche Strafsanktionen bis hin zur Tötung dazu gezwungen würden. Das Tragen eines Kopftuches (aus behaupteten religiösen Gründen) gehöre nicht zwingend zum Islam! Dem islamischen Fundamentalismus zuneigende Frauen würden aber ein solches Tuch (mehr oder minder) freiwillig tragen. Für sie, so argumentierte die Klägerin Ludin14 in ihren jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem 14

Alice Schwarzer in der Frankfurter Rundschau vom 28.5.2003 (gekürzt) „Alice Schwarzer: Der Fall Ludin Die junge Frau kommt aus einer großbürgerlichen afghanischen Familie. Ihr Vater war vor den Sowjets und den Taliban Innenminister, ihre Mutter eine unverschleierte Lehrerin. Im Exil in Riad erschien das Mädchen als 13-Jährige zur Überraschung der eigenen Eltern plötzlich mit Schleier zuhause - der Einfluss in der saudi-arabischen Schule hatte das Seine bewirkt. Mit 18 heiratete Fereshta, die nun mit ihren Eltern in Deutschland lebte, den fünf Jahre älteren Raimund Proschaska, einen zum Islam konvertierten Lehrer. Ab 1993 studiert Ludin dann Pädagogik an der Hochschule in Schwäbisch Gmünd, wo die vom Verfassungsschutz inzwischen verbotene islamistische Milli Görüs besonders präsent ist. In den "Fortbildungskursen", die die muslimische Studentin Ludin für Lehrerinnen gab, dozierte sie, laut einer Teilnehmerin, "deutsche Frauen seien unrein, nur muslimische Frauen seien rein". Ab etwa 1995 weigert Ludin sich, Männern noch die Hand zu geben. 1997 reist sie mit ihrem Mann nach Pakistan. Nach ihrer Rückkehr weigert die Uhland-Schule sich, die verschleierte Lehrerin in die Klasse zu lassen. Seither kämpft Ludin, unterstützt von der als "links" geltenden Lehrergewerkschaft wie von der als "verfassungsfeindlich" verdächtigten Milli Görüs, gegen "das Berufsverbot für praktizierende Muslimas". Die gebürtige Afghanin tut das in einer Zeit, in der in ihrer Heimat Frauen, denen die Burka verrutscht, totgeschlagen werden wie die räudigen Hunde, und Ärzte auch eine todkranke Afghanin nicht behandeln dürfen, weil ein Mann keine Frau anfassen darf. In Deutschland aber wird keine Frau gesteinigt, wenn sie kein Kopftuch trägt. Und seit mindestens 20 Jahren ist der Schleier keine Frage von Tradition oder Glauben mehr, sondern - eine politische Demonstration. Er ist die Flagge des islamistischen Kreuzzuges, der die ganze Welt zum Gottesstaat deformieren will. Wehret den Anfängen! Das lässt sich in diesen Zeiten leider nicht sagen. In Zeiten, in denen muslimische Schülerinnen mitten in Deutschland mit Einverständnis der Schulleitungen von Sportunterricht und Ausflügen suspendiert werden; und es niemanden irritiert an Hamburger Hochschulen, wenn arabische Studenten Frauen nicht mehr die Hand geben.“ Wie solche willkürlichen Einschränkungen der persönlichen Freiheit der Frauen religiös begründet werden? Für die theologisch verbrämte Missachtung der Rechte der Frauen sind nur ein paar diffamierende Grundannahmen Voraussetzung, dann ergibt sich der religiöse (Trug-)Schluss fast zwangsläufig. Der Islam lehrt, dass Allah Mann und Frau mit einer je eigenen Natur (fitra) geschaffen habe, und dass nur der Islam dem Menschen eine Ordnung anbiete, in der er in Einklang mit seiner jeweiligen Fitra leben könne. Ein Verstoß gegen die Fitra bedeutet eine Versündigung gegen Gott. Weiter ist der islamischen Orthodoxie zufolge die Frau emotional, willenlos und leicht beeinflussbar - obwohl das von der Frau des Propheten und auch von seiner Tochter Fatima nicht gesagt werden kann! Eine seelisch gesunde Frau verlange nach einem Mann, dem sie gehorchen kann und muss. Nach traditionell männlich-islamischer Überzeugung müssen die Frauen mit einem Gen der Unterwerfung geboren sein. Da die "Frauen die Fangschlingen des Teufels sind" (Y. Anwar), ist der Umgang zwischen den Geschlechtern außerhalb der Familie zum Wohle von Mann und Frau nicht erlaubt. Der angemessene Lebensbereich der Frau sei das Haus, ihre Erfüllung finde sie in Ehe und Mutterschaft. Aufgrund seiner überlegenen Fitra soll nun der Mann seine Frau ver-

93

Land Baden-Württemberg, sei das Tragen eines Kopftuches ein wichtiger Ausdruck ihres Glaubens und weiter: Man könne einer Frau nicht ihre demokratische Einstellung und Emanzipation nur deswegen absprechen, weil sie ein Kopftuch trage. Dass dem nicht so sei, beweise ja ihr langjähriger Rechtsstreit durch alle Instanzen. Ohne Emanzipation hätte sie die Entscheidung des Oberschulamtes Stuttgart hingenommen; eine durchsichtige, schwache Argumentation. Man kann auch andersherum argumentieren: Wenn eine Frau nicht emanzipiert ist, dann fügt sie sich starken familiären, gesellschaftlichen und religiösen Pressionen und lässt sich von islamischen Fundamentalisten als Werkzeug in einem jahrelangen juristischen Kampf für deren letztlich auf die Errichtung eines auf Intoleranz ausgerichteten Zieles, den alles Weltliche dominierenden islamischen Gottesstaat, instrumentalisieren. Die Verwaltungsgerichte bis rauf zum BVerwG teilten nicht die Ansicht der Klägerin Ludin: Wer in einem freien Land trotz der dazu nicht bestehenden Pflicht als Symbol seines Glaubens auf dem Tragen eines Kopftuches bestehe, wolle damit etwas ausdrücken, etwas demonstrieren. Durch das Tragen eines Kopftuchs aus religiösen Gründen werde mit aggressivem Geltungsanspruch eine kulturelle Extremposition betont, die unserem auf die Gleichheit der Geschlechter ausgerichteten Verständnis der Frauen in der Gesellschaft widerspreche. Als Beleg kann auf Allah selbst verwiesen werden, der Mohammed durch seinen Erzengel Gabriel als vierte Koransure offenbarend diktiert habe: „Die Männer gehen vor den Weibern, weil Gott ihnen den Vorzug gab, und auch weil sie das Vermögen aufbringen. Ehrbare Frauen sind gehorsam und bewahren das Geheimnis, weil Gott sie bewahrt. Doch wenn ihr bei ihnen Ungehorsam fürchtet, vermahnt sie und scheidet euer Lager von dem ihren und schlagt sie.“ Dieser auf Grund der durch das Tragen eines Kopftuches symbolisierten kulturellen Extremposition bestehende Vorbehalt des Staates wiege schwerer als die Religionsfreiheit der (angeblich) aus (rein) religiösen Gründen auf dem Tragen eines Kopftuches vehement bestehenden Lehrerinnen. Das demonstrativ getragene Kopftuch sei nach Meinung der baden-württembergischen Kultusverwaltung als ein Symbol kultureller Abgrenzung, verweigerter Integration, als Fanal eines intoleranten, die westliche Kultur ablehnenden Islam zu werten und verstoße wegen seiner – von konservativen muslimischen Verbänden vehement bestrittenen - Signalwirkung gegen das manchmal als »Verfassungsfolklore« bespöttelte oder diffamierte Toleranzgebot, auf dessen Einhaltung Schüler und Eltern in unserem Land ein Anrecht haben. Individuelle religiöse wie politische Einstellungen dürften an einer Schule nicht quasi als Monstranz vorangetragen werden. Eine solche Lehrerin einzustellen habe nichts mit Toleranz, sondern mit Pseudo-Toleranz zu tun. Die Verwaltungsgerichte bis rauf zum BVerwG gaben dem Land Baden-Württemberg recht: Die durch ein Kopftuch zum Ausdruck gebrachte Glaubensüberzeugung einer Lehrerin könne Kindern zwischen 4 und 14 Jahren „durchaus vorbildhaft und befolgungswürdig erscheinen.“ Baden-Württemberg habe die Übernahme der »Kopftuch-Lehrerin« in den Schuldienst im Rahmen seines Ermessensspielraumes ablehnen dürfen. Das in solchen Fragen liberalere Hamburg hat hingegen eine kopftuchtragende Lehrerin verbeamtet, NRW ebenfalls einige wenige eingestellt. Das BVerwG entschied 2002 in seinem Grundsatzurteil, dass seiner Ansicht nach das von einer muslimischen Frau im Unterricht getragene Kopftuch ein „deutlich wahrnehmbares Symbol ihrer muslimischen Religion“ sei, das in einer Schule selbst dann nichts zu suchen habe, wenn die Klägerin keine missionarischen Absichten damit verbinde. Die aus Afghanistan stammende, seit 1995 in Deutschland eingebürgerte Lehrerin wurde nicht damit gehört, dass es für sie einer »Entblößung« gleichkäme, wenn sie ohne Kopftuch vor eine Klasse treten müsste: „Die Pflicht zu strikter Neutralität im Bereich der staatlichen Schule wird verletzt, wenn eine Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch trägt.“ Wegen der pädagogisch prägenden Funktion, die eine Lehrerin an Grund- und Hauptschulen ausübe, und die die ihr anvertrauten Kinder auch in Opposition zu ihren Eltern treiben könne, dürfe sie den in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigten Schülern keine bestimmte Glaubensüberzeugung ständig und unübersehbar vor Augen führen. In einer immer mehr von multikulturellen Einflüssen geprägten Gesellschaft gelte das Gebot der Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen in staatlichen Pflichteinrichtungen umso mehr. Alle Schüler und ihre Eltern haben auf Grund ihrer Religionsfreiheit einen Anspruch darauf, vom Staat nicht dem Einfluss einer fremden Religion, und wenn auch »nur« in Gestalt eines von Menschen ständig vermittelten Symbols, ausgesetzt zu werden. Die Eltern religionsunmündiger Schüler könnten verlangen, dass der Staat sich in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral verhalte, da Art. 6 II 1 GG ausdrücklich bestimme: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“

ständnisvoll ertragen und ihre Eigenheiten mit Nachsicht hinnehmen. Dahinter steht ganz nackt das männliche Dominanzstreben.

94

Der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland, Keskin, kommentierte die Entscheidung der Behörden und des BVerwGs als „richtig“: „In der Tat hat das Kopftuch einen Symbolcharakter.“ Man bringe dadurch eine bestimmte – »traditionelle«, politisch »fundamentalistisch« ausgerichtete – religiöse Orientierung zum Ausdruck, die von dem Orientforscher Hans-Peter Raddatz in seinem Buch „Allahs Schleier – Die Frau im Kampf der Kulturen“ mit den Worten charakterisiert wurde: „ Es ist der umfassende Dienst am Mann, der durch Schleier und Verhüllung seinen uniformen Ausdruck erhalten soll.“ Darum dürfe diese gegen den in unserer Verfassung als Grundrecht abgesicherten Gleichheitsgrundsatz verstoßende „islamspezifische“ Haltung nicht ohne weiteres akzeptiert und toleriert werden. Sollte man in staatlichen Schulen ausschließlich das Tragen eines Kopftuches verbieten – und damit alle Muslima unter den Generalverdacht einer fundamentalistisch ausgerichteten Religionsausübung stellen? Was die doch meistens bestreiten und darauf hinweisen, dass sie ja gerade dadurch, dass sie sich durch ihre Berufsausübung dem hiesigen Leben öffnen, zeigen, dass sie einen weltoffenen Islam leben, ihren muslimischen Glauben mit westlicher Lebensart verbinden möchten; woran sie teilweise von ihren »traditionell« eingestellten Familien oder Ehemännern gehindert und zum Tragen des Kopftuches gezwungen werden. Muslime in der CDU gegen Kopftuch-Verbot Union diskutiert über ihr Verhältnis zum Islam. Leitsätze gefordert In der Union kommt die Diskussion über die Rolle der Muslime in Deutschland neu in Gang. Das Deutsch-Türkische-Forum in der CDU verabschiedete "Leitsätze einer christlich-demokratischen Islampolitik für Deutschland". Darin lehnt das Forum unter anderem ein generelles Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst ab. Die CDU-Spitze in Berlin wollte sich zu den Leitsätzen nicht äußern. Bislang hat sich die CDU klar für ein Kopftuch-Verbot zum Beispiel für Lehrerinnen ausgesprochen. Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan sieht das Kopftuch als politisches Bekenntnis. Es sei ein "Symbol kultureller Abgrenzung und Teil der Unterdrückungsgeschichte der Frau". Auch CDU/CSU-Fraktionsvize Friedrich Merz akzeptiert "das Tragen von Kopftüchern aus religiösen Gründen" an Schulen nicht. Das Deutsch-Türkische Forum stellt sich also gegen die bisherige Parteilinie. Das Forum ist bislang auf Nordrhein-Westfalen begrenzt. Zum Jahresende wird daraus die Deutsch-Türkische Union entstehen, in der dann bundesweit Türken Mitglied werden können. Rund 2000 türkischstämmige Deutsche sind derzeit Mitglied der CDU. Ziel der Union ist es, künftig die muslimischen Wählerschichten besser zu erschließen. … (DIEWELT 29.08.04)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied 2001 im Fall einer klagenden schweizerischen Lehrerin ebenfalls gegen diese »Kopftuch-Lehrerin« und billigte die ablehnende Haltung der Schweizer Behörden. Ich habe aber noch nie gehört, dass ein an einer Halskette getragenes Kreuz hätte abgenommen werden müssen. Die in den meisten Bundesländern Deutschlands geltende, alle Religionen und Religionsausprägungen umfassende Neutralitätspflicht15 des Staates kennt heutzutage - jedenfalls außerhalb Baden-Württembergs und Bayerns - keinen christlichen Kulturbonus, der – im Gegensatz zum Kulturmalus einer beim Unterrichten aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragenden Muslimin - das Tragen christlicher Symbole durch Lehrer oder deren demonstratives Zeigen in Klassenräumen für Schüler hinnehmbar oder hinnehmbarer machen würde, weil diese Religion bei uns schon seit mehr als einem Jahrtausend heimisch ist und unsere Kultur entscheidend geprägt hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Davidstern: Ich habe noch nie gelesen oder gehört, dass einer jüdischen Lehrerin ihre diesbezügliche Busenzierde mit einem Hinweis auf die nach dem Beamtenrecht ihr obliegende Neutralitätspflicht verboten worden wäre. Und so nehmen die Bundesländer, die eine gesetzliche Regelung anstreben, die grundsätzliche Position ein: Jesus am Kreuz zwischen den wogenden Brüsten oder ein Davidstern als kleiner Schmuck oder diskretes Bekenntnis an Hals oder Handgelenk: ja; Mohammed auffallender, da auf dem Kopf: nein! Diskrete Zugehörigkeitssymbole zu einer Religion: ja; ostentativ bis provokativ zur Schau gestellte Religionssymbole hingegen: nein. 15

Einige »katholischere« Länder sehen das anders; Baden-Württemberg z.B. hat, wie auch viele andere Landesverfassungen ab 1945, nach der entmenschlichten Gewaltausübung der Nazis zum staatlichen Neuanfang auf dezidiert christlicher Basis als Schutz gegen ideologisch verbrämte menschenmordende Inhumanität »expressis verbis« in seiner Landesverfassung das Postulat einer Erziehung zu christlichen Werten aufgestellt und – im Gegensatz zu den anderen Bundesländern - bislang beibehalten. Art. 12 I LV B-W: „Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe ... zu erziehen.“

95

Einige Bundesländer haben Schwierigkeiten mit dieser Position und wollen dem Christentum wegen seiner jahrtausende langen Verwurzelung in unserem Kulturkreis Sonderrechte zugestehen und außerhalb des Religionsunterrichts Mönche in Kutte, Nonnen im Habit und Juden mit der Kipa trotz des für staatliche Schulen geltenden Neutralitätsgebotes weiterhin bekleidet mit einem Kleidungsstück unterrichten lassen, das ihre Religionszugehörigkeit sehr augenscheinlich deutlich macht. Diese Position ist aber fragwürdig und wird in Karlsruhe - wenn überhaupt - nur sehr schwer durchzuhalten sein! Wo soll für muslimisch gekleidete Lehrerinnen die Grenze sein? Schon beim Kopftuch? Oder erst beim Tschador – nicht wesentlich verhüllender wie der Habit einer Nonne - oder gar erst bei der Burkha, die aus »religiösen« Gründen in der Schule zu tragen eine in Deutschland unterrichtende Muslimin ja ebenfalls beanspruchen könnte, wenn die Bekleidung frei wählbar wäre? Oder selbst bei einer religiös motivierten Ganzkörperverhüllung nicht? Auch wenn dahinter ein für uns nicht akzeptables Bild von der Gesellschaft steckt? Wir haben aber durch die Geschehnisse während der Weimarer Republik gelernt, dass es keine schrankenlose Freiheit geben darf, die von Feinden der Freiheit zur Abschaffung der Freiheit genutzt werden kann und auch genutzt worden war! So hatte der spätere Reichspropagandaminister Goebbels fünf Jahre vor der dann erst 1933 erfolgten „Machtübernahme“ schon 1928 als Herausgeber des „Angriff“ geschrieben und als NSDAP-Gauleiter von Berlin gesagt – und jeder hatte es lesen und hören können, viele hatten es gelesen und gehört und daraufhin nicht nur trotzdem, sondern gerade deswegen die NSDAP gewählt: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit deren eigener Gesinnung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. … Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in eine Schafherde einbricht, so kommen wir.“ Das soll nie wieder möglich sein! Darum gilt jetzt als äußerste Schranke der bei uns zulässigen demokratischen Freiheit die im Grundgesetz geregelte und ihm immanente »fdGO«, die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Gemeinwesens. Wie sollen in unserer vom GG vorgegebenen Wertordnung der „wehrhaften Demokratie“ mit u.a. der Geltung des Gleichheitssatzes die religiösen Bekleidungssymbole einiger durch eine entsprechende Regelung bevorrechtigter Religionsgemeinschaften juristisch unangreifbar zugelassen werden und andere nicht? Es wäre doch nur Wortklauberei, wenn man zur bevorrechtigten Abgrenzung der eigenen Religion und damit gleichzeitig verbundenen Ausgrenzung der anderen Glaubensüberzeugungen in seit fast 1.500 Jahren hier beheimatetes christliches »Brauchtum« einerseits und neu hinzugekommene »religiöse Symbole« anderer Religionen unterscheiden wollte! Eine solche Differenzierung wäre nicht jedem verständlich zu machen; am wenigsten hoffentlich den „Richterkönigen“ des BVerfGs. Eine solche Differenzierung ist unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes äußerst angreifbar, sie ist wohl nicht zu halten! Darum muss man, wenn man sie trotzdem per Gesetz durchzusetzen versucht, sich um eine irgendwie geartete (Schein-)Rechtfertigung mühen. Die bayerische Kultusministerin sprach von einem „Verbot von Symbolen, die sich gegen die Wertordnung des Grundgesetzes und die Bayerische Verfassung richten oder geeignet sind, den Schulfrieden zu stören“. Und: „Die Kirchen haben sich immer eindeutig zum Grundgesetz bekannt. Kopftücher aber sind in einigen Ländern im Unterricht verboten, weil sie als Symbol einer fundamentalistischen Grundhaltung gelten.“ BAYERN Landtag verbietet Kopftuch für Lehrerinnen München · 11. November · dpa/kna · Muslimischen Lehrerinnen in Bayern wird zum Jahresbeginn 2005 das Tragen eines Kopftuches an öffentlichen Schulen verboten. Der Landtag beschloss mit den Stimmen der CSU-Mehrheit eine Änderung des Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes. Das Gesetz verbietet nicht ausdrücklich das Kopftuch, sondern religiöse Symbole und Kleidungsstücke, die als eine "mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten unvereinbare Haltung" verstanden werden könnten. Die Kopfbedeckung katholischer Nonnen ist laut CSU nicht davon betroffen, weil die christlichen Kirchen fest zu den Grundwerten der Verfassung stünden. Bislang gab es in Bayern keinen einzigen Fall einer muslimischen Lehrerin, die ein Kopftuch trägt. (FR 12.11.04) „Von der Türkei lernen, heißt siegen lernen!“, ist man geneigt, in Abwandlung des ehemals in der DDR

96

bezüglich des großen Bruders Sowjetunion meist gebrauchten Mottos zu formulieren. Mit dieser Begründung der bayerischen Kultusministerin würden dezidiert christliche Erscheinungsformen wie das Kruzifix in jedem Klassenzimmer, wenn niemand dessen Entfernen ausdrücklich verlangt, und im Habit (Ordenstracht mit großem Kreuz an einem auffällig großen Rosenkranz) unterrichtende Nonnen von der als Verteidigungswall gegen islamische Einflüsse hochgehaltenen Neutralitätspflicht ausgenommen. Kopftücher aber sind des Teufels. Wir sehen: Es kommt immer darauf an, wer die Definitionsmacht hat und wie sie genutzt wird, damit nicht »einer usrer Leit« in Mitleidenschaft gezogen wird. Das Saarland will ein entsprechend ablehnendes Gesetz formulieren und assistiert den bayerisch-regierungsamtlichen Begründungen: „Kopftücher sind eine bewusste Abkehr von den Werten, auf denen unsere Demokratie beruht und ein Zeichen der Intoleranz.“ Das lässt sich, wenn man will, ohne weiteres nachvollziehen - hebelt aber nicht eine strenge Neutralitätspflicht aus, die bisher in überwiegend katholischen Bundesländern durch dezidiert christliche »Überwältigung« verletzt wurde: Nicht ohne Grund gibt es den diesen Missstand charakterisierenden Witz, dass der Vater des kleinen Fritzchens von Berlin nach Süddeutschland versetzt wird und die Berliner Göre nun einem sehr katholisch geprägten Umfeld ausgesetzt ist. Als die Biologielehrerin in einer Stunde fragt: „Was ist das: Es ist braun, hat einen großen buschigen Schwanz und hüpft von Baum zu Baum?“, meldet sich die hellwache Großstadtpflanze und berlinert: „Ick würd ja sajen, det is ’n Eichhörnchen, aber wie ick den Laden hier inzwischen kenne, is det dat liebe Jesulein.“ Ohne den gut erfundenen Witz wurde die dezidiert christliche »Überwältigung« in insbesondere den Vorkommnissen deutlich, die zu dem „Kruzifix-Urteil“ des BVerfGs geführt hatten. Aus Gründen der Neutralitätspflicht war - auch in dem großstädtisch-liberalen Hamburg - bisher nur gegenüber Bhagwan-Jüngern, die die roten Jacken und Halsketten ihrer indischen Sekte im Unterricht getragen hatten, ein Bekleidungsverbot ergangen. Ein »liberal« eingestelltes oder in täglichen Auseinandersetzungen mit sich nicht unbedingt nach der »deutschen Leitkultur« verhaltenden Ausländern »gehärtetes« Bundesland wird durch das Urteil des BVerwGs nicht verpflichtet, seine »gewährendere« Haltung aufzugeben. Das BVerwG hat nur durch Urteil festgestellt, dass eine im Unterricht ein Kopftuch tragende Lehrerin ihre Anstellung nicht erzwingen könne. Das ist ein Unterschied! Mit der Entscheidung des BVerwGs war nunmehr der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet. Und u.a. das Land Hamburg mit einer beamteten, im Unterricht ein Kopftuch tragenden Muslimin wartete erst einmal ab, ob und wie der Rechtsstreit weiterging, bevor es bezüglich seiner mit einem Syrer verheirateten und daraufhin zum Islam konvertierten deutschen Lehrerin entscheiden wollte, wie es weitergehen solle. Ein Richter des BVerfGs stellte in der dem Urteilsspruch vorangehenden Anhörung die Frage: „Wie viel fremde Religiosität glauben wir uns in unserer Gesellschaft leisten zu können?“ Das ist der Kern des Problems! Und man kann ja nicht sagen, dass der in unserem Land gelebte Islam immer harmlos sei! Dafür muss man nicht unbedingt auf die selbsternannten „Kalif(en) von Köln“ verweisen. Auch unterhalb der Schwelle von religiös gegründeten Straftaten wirkt der Islam durch manche seiner Interpreten ausgesprochen aggressiv: Dem SPIEGEL vom 29.09.03 verdanken wir den Hinweis auf ein in Deutschland ergangenes »Kamel-Fatwa«: Ohne männlichen Anstandswauwau dürfe sich eine muslimische Frau nur 81 Kilometer von ihrer Wohnung entfernen, das ist genau die Strecke, die eine Kamelkarawane(!!) in 24 Stunden zurücklegen kann. Diese Regelung wurde nicht in einem erzkonservativen islamischen Land wie Saudi-Arabien oder dem Iran getroffen, dieses Fatwa wurde als Verhaltensmaßregel für unter uns lebende muslimische Frauen vom Islamgelehrten Amir Zaidan, dem ehemaligen Vorsitzenden der Islamistischen Religionsgemeinschaft in Hessen, erlassen! Solche Leute üben mit ihren Ansichten den gesellschaftlichen Druck aus, der auch bei uns viele Musliminnen zum Kopftuch greifen lässt oder zum Tragen eines Kopftuches zwingt. Und eine sehr bewusst auf dem religiös motivierten Tragen eines Kopftuches bestehende Muslimin begehrte durch alle ihr möglichen Gerichtsinstanzen ihre Verbeamtung als Lehrerin in Baden-Württemberg. Schließlich war der Rechtsstreit nach fünf Jahren beim BVerfG rechtshängig. Das BVerfG war dann in seiner Entscheidung vom 24.09.03 gespalten. Mit fünf gegen drei Stimmen erkannte es für Recht, dass das Land Baden-Württemberg die Religionsfreiheit der ihre Einstellung in den Staatsdienst begehrenden Muslimin verletzt habe, da bislang eine - von der Mehrheit der Richter für erforderlich gehaltene hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für eine solche Ablehnung fehle. Das Tragen eines Kopftuchs stehe laut dem im Urteil zum Ausdruck kommenden Mehrheitsvotum unter dem Schutz der Religionsfreiheit der Klägerin. Weiter müsse nach dem Grundgesetz der Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig von der

97 Religionszugehörigkeit gewährt und gewahrt werden. Andererseits müssten sich Staat und Schulen – anders als Privatleute - in religiös-weltanschaulichen Dingen neutral verhalten. Schließlich müsse das Erziehungsrecht der Eltern und die negative Religionsfreiheit von Eltern und Schülern beachtet werden, von religiösen Kulten und Symbolen verschont zu werden. In diesem "unvermeidlichen Spannungsverhältnis" der Abwägung der Grundrechte der Betroffenen sei es nach unserem föderalistischen Staatsaufbau mit der grundsätzlichen Gesetzgebungskompetenz und der Kulturverwaltungshoheit bei den Ländern – O-Ton BVerfG: "Das Grundgesetz lässt den Ländern im Schulwesen umfassende Gestaltungsfreiheit", „wieweit der Gesetzgeber auf die gewachsene religiöse Vielfalt reagiert, bleibt ihm überlassen“ - Aufgabe des jeweiligen Landesgesetzgebers, in einem hoch komplizierten Abwägungsprozess unter Beachtung der verfassungsimmanenten Schranken16 "einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen". In der zunehmenden religiösen Pluralität in unserem Staat sei der Streit um das aus religiösen Gründen getragene Kopftuch Anlass für eine Neubestimmung des "zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule", forderte das Gericht. Und diese Klärung könne nach dem Urteilsspruch keine Sache von Gerichten oder Behörden sein, sondern gehöre in die Parlamente. Der Landesgesetzgeber dürfe dabei innerhalb eines "Gestaltungsspielraumes im Blick auf besondere kulturelle Traditionen" unter Berücksichtigung der Schultradition, der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung und ihrer mehr oder minder starken religiösen Verwurzelung unterschiedliche Regelungen vorgeben, die, wie das Gericht ausdrücklich betonte, von der Ablehnung des Tragens von Kopftüchern aus religiösen Gründen bis zu ihrer Gestattung reichen könne. Würde - was jedes Bundesland für sich tun könne und rund die Hälfte aller Bundesländer zu tun angekündigt hat17 - eine solche gesetzliche Grundlage geschaffen, durch die das unvermeidliche Spannungsfeld zwischen der Glaubensfreiheit einer Lehrkraft und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität geregelt wird, wäre auch eine Ablehnung des religiös motivierten Tragens von Kopftüchern rechtens. Der "Gesetzesvorbehalt" der Verfassung verlange nur, dass der Repräsentant des Souveräns, das Parlament, einen so schwierigen gesellschaftlichen Konflikt behandle. Die »Richter-Könige« des BVerfGs gaben aber – leider? – keinerlei konkrete Hinweise, was in einem solchen »Kopftuch-Gesetz« geregelt werden solle und welche Grenzen außer den immer geltenden „verfassungsimmanenten Schranken“ dabei zu beachten seien. Bei den vermutlich sehr unterschiedlichen landesgesetzlichen Regelungen, die nun wohl ergriffen werden, ist eine Klageflut vor zunächst die Landesverfassungsgerichte und das BVerwG und zuletzt abermals vor das BVerfG abzusehen, die das BVerfG durch sachdienliche Hinweise von vornherein hätte eindämmen können; und wegen des absehbaren weiteren Verlaufs dieses Rechtsstreites hätte eindämmen sollen. Gesetzgeber können nicht über die Verfassungsgemäßheit der von ihnen beschlossenen Gesetze bestimmen. Eine solche Interpretation muss ausschließlich - unser oberstes Gericht vornehmen. Darum hätte es das gleich tun sollen. Nach Meinung der in der Abstimmung unterlegenen Richter war die Sache entscheidungsreif und eine Entscheidung wäre sachdienlich gewesen: Wenn auf Grund der nun zu schaffenden Landesgesetze eine Muslimin vor dem BVerfG wegen Verletzung ihres Grundrechtes klagt, kann sich Karlsruhe nicht mehr wegducken, sondern muss entscheiden. Da hätte man gleich die Leitlinien für die zu schaffenden Gesetze aufzeigen und so heraufziehende Klagen eventuell verhindern können. Die »Minderheitsrichter« zerpflücken in ihrem Sondervotum die Argumente der »Mehrheitsrichter«, u.a. weil diese die verfassungsrechtliche Grundsatzfrage nach der staatlichen Neutralität im Bildungs- und Erziehungsraum der Schule unentschieden gelassen haben. Nach der Meinung der »Minderheitsrichter« sei das von der Klägerin "begehrte kompromisslose Tragen des Kopftuchs" mit dem "Mäßigungs- und Neutralitätsgebot eines Beamten nicht vereinbar", betonten die drei von der Senatsmehrheit abweichenden Richter in ihrem Minderheitsvotum. Der zu der Zeit amtierende Bundestagspräsident Thierse schloss sich dieser Meinung in einer für sein hohes Amt befremdlichen Wortwahl an: Er schimpfte das Urteil „enttäuschend und eigentümlich feige“; andere Kritiker des Urteils sprachen von einer „Rechts-“ oder einer „Entscheidungs-Verweigerung“ durch das Zurückspielen des 16

Die meisten Grundrechte unterliegen in ihrer Ausübung einem Gesetzesvorbehalt und sich daraus ergebenden gesetzlich fixierten Beschränkungen, nur sehr wenige werden ohne in der Verfassung formulierte oder vorgesehene Einschränkungen »vorbehaltlos« gewährt. Dazu gehört u.a. die Religionsfreiheit. Trotzdem werden auch die bei unbefangener Betrachtung für schrankenlos gewährt gehaltenen Grundrechte nicht schrankenlos gewährt: »Forschung und Lehre« und die »höchstrichterliche Rechtsprechung« haben herausgearbeitet, dass es auch für die in der jeweiligen Formulierung schrankenlos gehaltenen Grundrechte Schranken gibt, die sich aus der Gesamtschau und Gesamtwürdigung der Verfassung ergeben, die also „verfassungsimmanent“ sind. Diese schwierige juristische Konstruktion ist auch sinnvoll, denn sonst könnte unter Hinweis auf die in Art. 4 GG schrankenlos formulierte Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit z.B. der Sati-Brauch der Witwenverbrennung praktiziert werden. 17 Ein gesetzliches Kopftuch-Verbot erwogen daraufhin: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen und das Saarland. Der Meinungsbildungsprozess ist aber noch nicht überall abgeschlossen.

98

juristischen Balles in den politischen Raum. Der Präsident des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofes, der vielleicht bald in dieser Frage auf Landesebene zu entscheiden hat, wenn in NRW ein entsprechendes Gesetz geschaffen und dagegen geklagt werden sollte, meinte: Das Karlsruher Urteil verdiene als Urteil unseres obersten Gerichts Respekt, aber keine Zustimmung, weil es kein Wort zur „religiös begründeten Degradierung der Frau“ wage; ein unvorsichtiges, ein keckes Wort für einen Richter, der wegen solcher frühen vorlauten Äußerungen im Vorfeld einer von ihm später möglicherweise zu entscheidenden Frage dann, wenn es zum diesbezüglichen Verfahren kommen sollte, problemlos als befangen abgelehnt werden kann – oder sich selbst für befangen erklären muss! Nun muss jeder Landesgesetzgeber für sich die Gretchenfrage: „Wie hältst du es mit der Religion?“, beantworten. Weil die Diskussion in unserem Land bezüglich des Problems der »Kopftuch-Lehrerinnen« mit diesem Urteil und seinem Verweis auf mögliche Länderregelungen erst begonnen hat und das Sondervotum in der nun aufbrechenden politischen Diskussion einige bedenkenswerte Gesichtspunkte dazu enthält, nachfolgend ein zusammengekürzter Auszug daraus: „Wer Beamter wird, stellt sich in freier Willensentschließung auf die Seite des Staates. Der Beamte kann sich deshalb nicht in gleicher Weise auf die freiheitssichernde Wirkung der Grundrechte berufen wie jemand, der nicht in die Staatsorganisation eingegliedert ist. In Ausübung seines öffentlichen Amtes kommt ihm deshalb das durch die Grundrechte verbürgte Freiheitsversprechen gegen den Staat nur insoweit zu, als sich aus dem besonderen Funktionsvorbehalt des öffentlichen Dienstes keine Einschränkungen ergeben. Der beamtete Lehrer unterrichtet auch im Rahmen seiner persönlichen pädagogischen Verantwortung nicht in Wahrnehmung eigener Freiheit, sondern im Auftrag der Allgemeinheit und in Verantwortung des Staates. Beamtete Lehrer genießen deshalb bereits vom Ansatz her nicht denselben Grundrechtsschutz wie Eltern und Schüler: Die Lehrer sind vielmehr an Grundrechte gebunden, weil sie teilhaben an der Ausübung öffentlicher Gewalt. Der freiwillige Eintritt in das Beamtenverhältnis ist eine vom Bewerber in Freiheit getroffene Entscheidung für die Bindung an das Gemeinwohl und die Treue zu einem Dienstherren, der in der Demokratie für das Volk und kontrolliert durch das Volk handelt. Wer Beamter werden will, darf deshalb das Gebot der Mäßigung und der beruflichen Neutralität nicht ablehnen, weder generell noch in Bezug auf bestimmte, vorweg erkennbare dienstliche oder außerdienstliche Konstellationen. Mit diesen Pflichten ist jedenfalls nicht zu vereinbaren, dass der Beamte den Dienst im Innenverhältnis prononciert als Aktionsraum für Bekenntnisse, gleichsam als Bühne grundrechtlicher Entfaltung nutzt. Die ihm übertragene Aufgabe besteht darin, dem demokratischen Willen, d.h. dem Gesetzeswillen und dem der verantwortlichen Regierung fachlich, sachlich, nüchtern und neutral zur Wirksamkeit zu verhelfen und als Individuum dort zurückzustehen, wo seine Ansprüche auf Verwirklichung der Persönlichkeit geeignet sein können, Konflikte im Dienstverhältnis und damit Hindernisse für die Verwirklichung demokratisch gebildeten Willens zu erzeugen. Wer Beamter werden will, muss sich mit dem Verfassungsstaat in wichtigen Grundsatzfragen und bei der Wahrnehmung seiner dienstlichen Aufgaben loyal identifizieren, weil umgekehrt auch der Staat durch seinen öffentlichen Dienst repräsentiert und deshalb mit dem konkreten Bediensteten identifiziert wird. Von dieser Idee der Gegenseitigkeit und der Nähe sind alle Grundsätze des Berufsbeamtentums beherrscht. Grundrechtliche Freiheitsansprüche eines Beamten oder des Bewerbers um ein öffentliches Amt sind deshalb von vornherein nur insoweit gewährleistet, als sie mit diesen Sachgesetzlichkeiten vereinbar sind. Die Eignungsbeurteilung im Rahmen des speziellen Gleichheitsrechts aus Art. 33 Abs. 2 GG darf nicht mit einem Eingriff in die Freiheitssphäre des Art. 4 Abs. 1 GG verwechselt werden. Voraussetzung und gleichsam Normalfall klassischer Freiheitsrechte ist ein Eindringen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre des Bürgers. Davon weichen diejenigen Konstellationen ab, in denen der Bürger auf den Staat zugeht, von der Allgemeinheit Leistungen einfordert oder ihr seine Dienste anbietet. Nicht die öffentliche Gewalt dringt hier in die Gesellschaft ein, sondern Grundrechtsträger suchen die Nähe zur staatlichen Organisation, erstreben deren Handeln, suchen eine Rechtsbeziehung. Verbietet der Staat jemandem das zumindest auch religiös motivierte Tragen des Kopftuches auf einem öffentlichen Platz, greift er zweifellos in das Grundrecht der Religionsfreiheit ein. Möchte der

99

Art. 33 GG als den Staat verpflicht ende spezielle Ausgestaltung des allgemein en Gleichheit sgrundsat zes

Beamte dagegen in einem bereits von der Verfassung als neutral bestimmten Bereich - hier im Unterricht einer staatlichen Pflichtschule - und als Repräsentant der Allgemeinheit religiös begriffene Zeichen setzen, so übt er nicht eine ihm als Individuum zustehende Freiheit im gesellschaftlichen Raum aus. Die Freiheitsentfaltung des Beamten im Dienst ist von vornherein durch die Sachnotwendigkeiten und vor allem die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Amtes begrenzt - anders würde die Verwirklichung des Volkswillens an einem Übermaß an Freiheitsansprüchen der Repräsentanten des Staates scheitern. Bei der Wahrnehmung des Schuldienstes hat der Lehrer die Grundrechte der Schüler und ihrer Eltern zu achten, er steht nicht nur auf der Seite des Staates, der Staat handelt durch ihn. Wer den Beamten, abgesehen von Statusfragen, als uneingeschränkt grundrechtsberechtigt gegenüber seinem Dienstherren sieht, löst die um der Freiheit von Kindern und Eltern willen gezogene Grenze zwischen Staat und Gesellschaft auf. Er nimmt damit in Kauf, dass die Durchsetzung demokratischer Willensbildung erschwert wird und ebnet stattdessen einer schwer kontrollierbaren juristischen Abwägung zwischen Grundrechtspositionen von Lehrern, Eltern und Schülern den Weg. Wer ein öffentliches Amt erstrebt, sucht im status activus die Nähe zur öffentlichen Gewalt und begehrt - wie die Beschwerdeführerin - die Begründung eines besonderen Dienst- und Treueverhältnisses zum Staat. Diese besondere, durch Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich abgesicherte Pflichtenstellung überlagert den grundsätzlich auch für Beamte geltenden Schutz der Grundrechte (vgl. BVerfGE 39, 334 ), soweit Aufgabe und Zweck des öffentlichen Amts dies erfordern. Dementsprechend gewährt auch der aus Art. 33 Abs. 2 GG folgende staatsbürgerliche Anspruch gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern nur, wenn der Bewerber die Tatbestandsvoraussetzungen des grundrechtsgleichen Rechts - Eignung, Befähigung, fachliche Leistung - erfüllt. Der Dienstherr ist befugt und von Verfassungs wegen verpflichtet, die Eignung eines Bewerbers für ein öffentliches Amt festzustellen (Art. 33 Abs. 2 GG). Die im Rahmen der Ermessensentscheidung vorzunehmende Beurteilung von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ist ein Akt wertender Erkenntnis, der vom Gericht nur beschränkt darauf zu überprüfen ist, ob die Verwaltung der Beurteilung einen unrichtigen Sachverhalt zu Grunde gelegt und ob sie den beamtenrechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat. Im Übrigen ist die Nachprüfung, da es keinen Anspruch auf Übernahme in das Beamtenverhältnis gibt, auf die Willkürkontrolle beschränkt (vgl. BVerfGE 39, 334 ). Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Eignung erfordert eine Prognoseentscheidung, wobei der Dienstherr die Gesamtheit der Eigenschaften, die das jeweilige Amt von seinem Inhaber fordert, umfassend zu bewerten hat (vgl. BVerfGE 4, 294 ; BVerwGE 11, 139 ). Hierbei hat der Dienstherr auch zu prognostizieren, ob der Bewerber zukünftig seine Dienstpflichten in dem angestrebten Amt erfüllen wird. Zur Eignung zählt nicht nur die Gewähr, dass der Beamte den fachlichen Aufgaben gewachsen ist, sondern auch, dass er in seiner Person die grundlegenden Voraussetzungen erfüllt, die für die Wahrnehmung eines übertragenen öffentlichen Amtes unabdingbar sind. Zu diesen Voraussetzungen, die Art. 33 Abs. 5 GG mit Verfassungsrang schützt, rechnet die Gewähr für eine neutrale Wahrnehmung der dienstlichen Aufgaben des Beamten. Welches Maß an Zurückhaltung und Neutralität vom Beamten im Einzelfall verlangt werden darf, bestimmt sich nicht nur aus allgemeinen Grundsätzen, sondern auch aus den konkreten Anforderungen des Amtes. Der Staat und seine Organe sind nach Art. 4 Abs. 1 GG sowie aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV verpflichtet, sich in Fragen des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses neutral zu verhalten und nicht den religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gefährden (BVerfGE 105, 279 ). Auch deshalb muss der Beamte bereits beim Zugang zum öffentlichen Dienst von Verfassungs wegen die persönliche Gewähr für ein neutrales, nicht provozierendes oder herausforderndes Verhalten im Rahmen der künftigen Amtsführung bieten (Art. 33 Abs. 5 GG). Die allgemeine Neutralitätspflicht gilt in besonderem Maße für Beamte, die das Amt des Lehrers an öffentlichen Schulen ausüben. Lehrer erfüllen den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates (Art. 7 Abs. 1 GG). Sie haben dabei die unmittelbare pädagogische Verantwortung für den Unterricht und die Erziehung der Schüler. Auf Grund ihrer Funktion werden sie in die Lage versetzt, in einer den Eltern vergleichbaren Weise Einfluss auf die Entwicklung der anvertrauten Schüler zu nehmen. Damit verbunden ist eine Einschränkung des grundrechtlich garantierten Erziehungsrechts der Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), die nur hingenommen werden kann, wenn sich die Schule um größtmögliche Objektivität und Neutralität nicht nur im politischen, sondern auch im religiösen und weltanschaulichen Bereich bemüht. Dies gilt auch deshalb, weil den Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1

100

GG das Recht zur Kindererziehung auch in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht zusteht und diese für falsch empfundene Glaubensüberzeugungen grundsätzlich von ihren Kindern fern halten können (vgl. BVerfGE 41, 29 ; 41, 88 ). Die Beachtung dieser Rechte gehört zu den wesentlichen bereits vom Grundgesetz geforderten Aufgaben der Schule; sie bestimmen zugleich spiegelbildlich die von den Lehrern zu beachtenden Dienstpflichten. Eine Lehrerin an einer Grund- oder Hauptschule verstößt gegen Dienstpflichten, wenn sie im Unterricht mit ihrer Kleidung Symbole verwendet, die objektiv geeignet sind, Hindernisse im Schulbetrieb oder gar grundrechtlich bedeutsame Konflikte im Schulverhältnis hervorzurufen. Das von der Beschwerdeführerin begehrte kompromisslose Tragen des Kopftuchs im Schulunterricht ist mit dem Mäßigungs- und Neutralitätsgebot eines Beamten nicht zu vereinbaren. Die Schulverwaltung hat ausweislich des Protokolls der Eignungsgespräche und nach den Bekundungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht durchaus Verständnis für die Glaubensüberzeugung der Beschwerdeführerin gezeigt; die Beschwerdeführerin hat umgekehrt aber ersichtlich dem Neutralitätsanliegen des Dienstherren kein Verständnis entgegengebracht. Sie hat sich - abgesehen von Extremfällen wie unmittelbar drohender Gewalt außer Stande gesehen, auf ein Symbol von starker religiöser und weltanschaulicher Aussagekraft im Dienst zu verzichten. Abgesehen davon, dass diese Rigidität Zweifel an der vorrangigen Loyalität der Beschwerdeführerin zu den politischen Zielen des Dienstherren und der Werteordnung des Grundgesetzes auch in einem möglichen Konflikt mit religiösen Überzeugungen des Islam hervorruft, sind damit bereits bei der Eignungsbeurteilung Umstände bekannt geworden, die eine allseitige Verwendung der Bewerberin im Schuldienst erheblich erschweren würden und die Landesstaatsgewalt in heute bereits voraussehbare Konflikte mit Schülern und deren Eltern, aber womöglich auch mit anderen Lehrern brächten. Das von der Beschwerdeführerin getragene Kopftuch ist dabei nicht abstrakt oder aus der Sicht der Beschwerdeführerin zu beurteilen, sondern im konkreten Schulverhältnis. Zu den Anforderungen des Amtes einer Grund- und Hauptschullehrerin zählt die Pflicht, objektiv ausdrucksstarke politische, weltanschauliche oder religiöse Symbole für ihre Person zu vermeiden. Im Schuldienst hat der Lehrer die Verwendung solcher signifikanter Symbole zu unterlassen, die geeignet sind, Zweifel an seiner Neutralität und professionellen Distanz in politisch, religiös oder kulturell umstrittenen Themen zu wecken. Dabei kann es nicht darauf ankommen, welchen subjektiven Sinn der beamtete Lehrer mit dem von ihm verwendeten Symbol verbindet. Entscheidend ist vielmehr die objektive Wirkung des Symbols. Eine solche Wirkung in konkret wechselnden Lagen jeweils einzuschätzen, ist grundsätzlich Sache des Dienstherren und kann von Gerichten nur in eingeschränktem Umfang auf Plausibilität und Schlüssigkeit überprüft werden. Für die Einschätzung ist die fachlich kompetente Verwaltung am besten geeignet, die Konkretisierung der Dienstpflichten ist traditionell eine Domäne des Dienstherren. Dabei hat er auf wechselnde Lagen zu reagieren. Die Verwendung von Symbolen verändert sich ebenso im Laufe der Zeit wie die Heftigkeit der durch sie hervorgerufenen Resonanz: mal stehen politische Plaketten (z.B. "Stoppt Strauß", "Atomkraft - nein danke"), mal religiös hergeleitete Zeichen wie die orangefarbene Kleidung der Bhagwan(Osho)-Anhänger im Vordergrund (BVerwG, NVwZ 1988, S. 937). Die die angegriffenen Entscheidungen tragende Annahme, dass bei einer Einstellung der Beschwerdeführerin in einer allgemeinen Grund- oder Hauptschule in Baden-Württemberg Beeinträchtigungen des Schulfriedens zu besorgen sind, ist nachvollziehbar. Auch die Senatsmehrheit geht davon aus, dass eine Lehrerin, die das Kopftuch als islamisches Symbol dauerhaft im Unterricht trägt, jedenfalls eine "abstrakte Gefahr" hervorruft. In der Tat ist ein von der Lehrerin getragenes – gegenwärtig – ausdrucksstarkes Symbol mit objektiven religiösen, politischen und kulturellen Sinngehalten geeignet, in die negative Religionsfreiheit von Schülern und Eltern und in das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) einzugreifen. Gerade das Tragen eines Kleidungsstücks, das eindeutig auf eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Überzeugung eines Lehrers an öffentlichen Schulen hinweist, kann auf Unverständnis oder Ablehnung bei andersdenkenden Schülern oder deren Erziehungsberechtigten stoßen und diesen Personenkreis in seinem Grundrecht negativer Bekenntnisfreiheit treffen, weil sich die Schüler einer solchen Demonstration religiöser Überzeugung nicht entziehen können. Unterricht

101

und Erziehung an öffentlichen Schulen sind staatliche Leistungen, deren Inanspruchnahme den Kindern zur gesetzlichen Pflicht gemacht ist. Für Kinder und ihre Eltern ist deshalb die Teilnahme am Schulunterricht grundsätzlich unausweichlich. Zudem hängen vom Leistungsniveau und von der Fähigkeit schulischer Einrichtungen sowie ihrer Praxis zu sachgerechter Förderung und Erziehung die Lebenschancen der Kinder maßgeblich ab. Weder den Eltern noch dem Staat ist es deshalb zuzumuten, angesichts einer schon im Einstellungsgespräch erkennbaren künftigen Konfliktlage abzuwarten, ob und wie sich Konflikte im Einzelfall entwickeln. Überdies liegt nahe, dass einige Eltern von einem Protest absehen werden, weil sie deswegen Nachteile für ihr Kind befürchten. Die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Schulfriedens ist im Fall der Beschwerdeführerin im Übrigen auch schon konkret geworden, wie Erfahrungen im Vorbereitungsdienst und die ablehnende Reaktion von anderen Lehrerinnen zeigen. Lehrerinnen und Lehrer prägen als Person und als Persönlichkeit - gerade in der Grundschule und in der Funktion des Klassenleiters - die Kinder maßgeblich. Trägt eine Lehrerin auffällige Kleidung, ruft dies Eindrücke hervor, gibt zu Fragen Anlass und spornt zur Nachahmung an. Der Sachverständige Professor Bliesener hat in der mündlichen Verhandlung dazu ausgeführt, dass das Lehrerverhalten die Kinder zur Nachahmung anregt: dies geschähe auf Grund der oft engen emotionalen Bindung der Grundschülerinnen und Grundschüler, die von der Lehrkraft aus pädagogischen Gründen auch angestrebt werden soll, sowie der eindeutigen Ausrichtung der kindlichen Aufmerksamkeit auf die Lehrkraft und der ebenfalls wahrgenommenen Autorität der Lehrkraft im Kontext der Schule. Die Erklärung der Beschwerdeführerin, sie würde durch das Kopftuch ausgelöste Fragen wahrheitswidrig beantworten und wider ihrer Glaubensüberzeugung behaupten, es handele sich nur um ein Modeaccessoire, ist nicht geeignet, einen Grundrechtskonflikt zu vermeiden. Denn auch Kinder wissen um die religiöse Bedeutung eines ständig, also auch in geschlossenen Räumen getragenen Kopftuchs. Überdies interagieren Schulkinder nicht nur mit der Lehrerin, sondern auch mit ihren Eltern und einem weiteren sozialen Umfeld. Eltern, die im Rahmen ihrer Erziehungsvorstellung Fragen ihrer Kinder wahrheitsgemäß beantworten, werden nicht umhin können zu erläutern, die Lehrerin trage das Kopftuch, weil sie anders ihre Würde als Frau in der Öffentlichkeit nicht wahren könne. Damit ist aber bei Schülern mit nichtislamischen, möglicherweise auch bei islamischen Eltern, die nicht von einem Verhüllungsgebot der Frau in der Öffentlichkeit ausgehen, ein Konflikt mit ihren Wertvorstellungen angelegt. Die objektive Reizwirkung eines auch politisch-kulturellen Symbols kann sich über Reaktionen im sozialen Umfeld leicht auf das Kind übertragen und es zu der Frage führen, ob es sich in einem Wertedisput, den es nicht beurteilen kann, auf die Seite der Lehrerin oder auf die Seite eines das Kopftuch dezidiert ablehnenden sozialen Umfeldes schlägt, zu dem auch die Eltern rechnen können. Der Sachverständige Bliesener hat in der mündlichen Verhandlung insoweit auf die mögliche emotionale Überforderung der Kinder im Grundschulalter hingewiesen, die eintreten könne, wenn sich zwischen der Lehrkraft auf der einen Seite und der Elternschaft oder einzelnen Eltern auf der anderen Seite ein dauerhafter Konflikt entwickelt. Durch die Verwendung signifikanter Bekleidungssymbole erscheint ein Konflikt in nachvollziehbarer Weise als möglich oder sogar naheliegend, weil das Kopftuch offenkundig - das zeigen bereits die öffentlichen Reaktionen auf die von der Beschwerdeführerin angestrengten gerichtlichen Verfahren - jedenfalls auch als Symbol des politischen Islamismus mit starkem Symbolgehalt aufgeladen ist und entsprechende Abwehrreaktionen zu erwarten sind. Zu diesem objektiven Aussagegehalt gehört auch die Betonung eines sittlichen Unterschieds zwischen Frauen und Männern, die geeignet ist, Konflikte mit denjenigen hervorzurufen, die ihrerseits die Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit und gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 GG) als hohen ethischen Wert vertreten. Die Einschätzung, dass das beständige Tragen eines Kopftuchs im Schulunterricht mit der Pflicht zur weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Beamten unvereinbar ist, wurde durch alle drei verwaltungsgerichtliche Urteile überzeugend als fehlerfrei gekennzeichnet. Das Kopftuch als religiöses und weltanschauliches Zeichen für die Notwendigkeit der Verhüllung der Frau in der Öffentlichkeit ist jedenfalls zurzeit objektiv geeignet, Widerspruch und Polarisierung hervorzurufen. Die Beschwerdeführerin hat bekundet, sie fühle sich in ihrer Würde verletzt, wenn sie sich mit unbedecktem Haupthaar in der Öffentlichkeit zeige. Auch wenn die Beschwerdeführerin sich nicht

102

ausdrücklich entsprechend eingelassen hat, so liegt doch im Umkehrschluss nahe, dass eine Frau, die sich nicht verhüllt, sich ihrer Würde begibt. Eine solche Unterscheidung ist objektiv geeignet, Wertkonflikte in der Schule hervorzurufen. Dies gilt schon im Verhältnis der Lehrer untereinander, aber erst recht im Verhältnis zu Eltern, deren Kinder gerade in der Grundschule erfahrungsgemäß eine besondere Beziehung zu ihrer Lehrerin aufbauen. Das Kopftuch, getragen als kompromisslose Erfüllung eines von der Beschwerdeführerin angenommenen islamischen Verhüllungsgebotes der Frau, steht gegenwärtig für viele Menschen innerhalb und außerhalb der islamischen Religionsgemeinschaft für eine religiös begründete kulturpolitische Aussage, insbesondere das Verhältnis der Geschlechter zueinander betreffend. Immerhin wurzelt auch nach Meinung wichtiger Kommentatoren des Korans das Gebot der Verhüllung der Frau - unabhängig von der Frage, ob es überhaupt ein striktes Gebot in diese Richtung gibt - in der Notwendigkeit, die Frau in ihrer dem Mann dienenden Rolle zu halten. Diese Unterscheidung zwischen Mann und Frau steht dem Wertebild des Art. 3 Abs. 2 GG fern. Es kommt insofern nicht darauf an, ob eine solche Meinung innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft allein gültig oder auch nur vorherrschend ist oder ob die im Verfahren vorgetragene Auffassung der Beschwerdeführerin, das Kopftuch sei eher ein Zeichen für das wachsende Selbstbewusstsein und die Emanzipation islamisch gläubiger Frauen, zahlenmäßig stark vertreten wird. Es ist ausreichend, dass die Auffassung, eine Verhüllung der Frauen gewährleiste ihre Unterordnung unter den Mann, offenbar von einer nicht unbedeutenden Zahl der Anhänger islamischen Glaubens vertreten wird und deshalb geeignet ist, Konflikte mit der auch im Grundgesetz deutlich akzentuierten Gleichberechtigung von Mann und Frau hervorzurufen. Das Grundgesetz achtet - in der Sphäre der Gesellschaft - auch solche religiösen und weltanschaulichen Auffassungen, die ein mit der grundgesetzlichen Wertordnung schwer zu vereinbarendes Verhältnis der Geschlechterbeziehungen dokumentieren, solange sie nicht die Grenzen der staatlichen Friedens- und Rechtsordnung überschreiten. Das Wertesystem des Grundgesetzes einschließlich seines Verständnisses der Gleichheit von Mann und Frau schließt sich nicht vor allen Veränderungen ab, es stellt sich Herausforderungen, reagiert und bewahrt die Identität im Wandel. Diese Offenheit und Toleranz geht aber nicht soweit, solchen Symbolen Eingang in den Staatsdienst zu eröffnen, die herrschende Wertmaßstäbe herausfordern und deshalb geeignet sind, Konflikte zu verursachen. Die grundsätzliche Offenheit und Toleranz in der Gesellschaft darf nicht auf das staatliche Binnenverhältnis übertragen werden. Es ist vielmehr von Verfassungs wegen geboten, die innere Organisation der staatlichen Verwaltung von der ersichtlichen Möglichkeit solch schwerwiegender Konflikte frei zu halten, damit - im konkreten Fall - Schulunterricht und schulische Erziehung störungsfrei erfolgen können und allgemein, weil der Staat handlungsfähig bleiben und mit einem Minimum an Einheitlichkeit auftreten können muss.“

Zur Illustration der vom BVerfG angesprochenen sittlichen Ungleichwertigkeit zwischen Männern und Frauen im Islam kann auf Sure 4/Vers 34 (in der mir vorliegenden Übersetzung): „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Ehrbare Frauen sind gehorsam und bewahren das Geheimnis, weil sie Gott bewahrt. Doch wenn ihr bei ihnen Ungehorsam fürchtet, vermahnt sie und scheidet euer Lager von dem ihren und schlagt sie. Denn Gott ist erhaben und mächtig.“ verwiesen werden und darauf hingewiesen werden, dass - neben allen rituellen Hintansetzungen der Frauen - als Ausfluss dieser im Koran und in der Scharia religiös verbrämten Ungleichwertigkeit Frauen u.a. viel weniger als Männer erben, ihr Zeugnis vor Gericht nur halb so viel wie das von Männern zählt, Muslime auch Christinnen und Jüdinnen als Mitglieder von Buchreligionen heiraten dürfen, es hingegen einer Muslimin verboten ist, einen Nichtmuslim zu heiraten, Männer laut Sure 4/3 bis zu vier (Haupt-)Frauen haben dürfen, wenn sie ihnen gerecht werden, d.h. sie ernähren, können, eine Frau aber nur einen Mann haben darf, den sie sich eventuell sogar mit anderen Frauen teilen muss, ein Mann seine Frau verstoßen kann, wenn er ihrer überdrüsig ist: „Talaq, talaq, talaq“ („Ich verstoße dich, ich verstoße dich, ich verstoße dich!“), einer Frau dieses Recht aber nicht zusteht, sie

103

auch im Vergleich zu den Möglichkeiten des Mannes eingeschränktere Scheidungsmöglichkeiten hat. Bundeskanzler Schröder (Jurist) und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Vollmer (Pfarrerin), forderten im Verlauf der durch das BVerfG angestoßenen »Kopftuch-Diskussion« ein Verbot von Kopftuch tragenden Lehrerinnen an öffentlichen Schulen: Das Kopftuch sei ein politisches Symbol der islamistischen Bewegung und ihrer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die die Frau dem Manne unterordne. Das Grundgesetz verlange aber die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Diesem Grundrecht entgegenstehende Dominanzansprüche seien somit grundgesetzwidrig und dürften nicht auch noch durch ein »religiöses Kampfsymbol« in Schulen zum Ausdruck gebracht werden. Der damalige Bundespräsident Rau (Jurist und bekennender Christ) sprach sich in dem Kopftuchstreit für eine Gleichbehandlung der Religionen aus. Die Haltung der Länder müsse konsequent und in sich stimmig sein: „Wenn das Kopftuch in Schulen verboten wird, muss das auch für Mönchskutte und Kruzifix gelten.“ (Rau im ZDF und HH A 29.12.03). Rau betonte in der "Welt am Sonntag" (04.01.04), die Verfassung fordere eine Gleichbehandlung der Religionen im öffentlichen Raum, somit auch in den Schulen. Bei einem Verbot des Kopftuches als religiöses Zeichen an Schulen könne man "die Mönchskutte nur schwer verteidigen. Damit wird ja nicht unser christliches Erbe infrage gestellt." (Wie sich ein Jahr später herausstellte, sah das BVerwG das genau so!) Gegen die rechtliche Gleichsetzung von Kreuz und Kopftuch wandte sich der protokollarisch zweite oder dritte Mann im Staat, Bundestagspräsident Thierse. Er fuhr dem Bundespräsidenten in die Parade: Zwar habe der Staat grundsätzlich die Pflicht zur Neutralität gegenüber allen Religionen. Der Unterschied zwischen Kreuz und Kopftuch bestehe seiner Meinung nach aber darin, dass ein in Deutschland von Frauen getragenes Kreuz kein Zeichen von Unterdrückung sei, das von muslimischen Frauen getragene Kopftuch hingegen sei jedoch kein bloßes religiöses Symbol, sondern für viele dieser Frauen sehr wohl ein Zeichen für ihre Unterdrückung durch reaktionäre Familien- oder Gruppenmitglieder! Daher verbiete sich eine rechtliche Gleichbehandlung von Kreuz und Kopftuch. Aber da irrt Herr Thierse, da er nicht die hier vertretene Meinung teilt, die auch das BVerwG für Recht erkannt hat: „URTEIL Auch Nonnen müssen jetzt oben ohne Im Streit um die Kopftücher muslimischer Lehrerinnen sind nun christliche Nonnen im Schuldienst die Leidtragenden. Laut Bundesverwaltungsgericht müssen auch sie in Baden-Württemberg zukünftig ablegen, bevor sie das Klassenzimmer betreten. Berlin - Aus der schriftlichen Begründung des jüngsten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts zum baden-württembergischen Kopftuchverbot, die jetzt vorliegt, geht hervor, dass die Ordensfrauen ihr Habit ablegen oder den Schuldienst quittieren müssen. Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) hatte versucht, mit einer Novelle des Schulgesetzes zwar das Tragen islamischer Kopftücher durch Lehrerinnen zu verbieten, christliche Symbole aber weiterhin zuzulassen - im katholisch geprägten Schwarzwald erteilen auch Ordensschwestern im Habit staatlichen Unterricht. Das Verbot religiöser Bekundungen, so die Leipziger Richter nun aber, müsse auf Grund des Gesetzes in Baden-Württemberg für alle Religionen gelten. "Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung in bestimmten Regionen", so das Urteil, "kommen daher nicht in Betracht." Schavans Gesetzesautor und Prozessvertreter, der Tübinger Juraprofessor Ferdinand Kirchhof, hält dagegen, beim Nonnen-Habit handle es sich um eine "Berufstracht", die als solche von dem Verbot religiöser Kleidung nicht erfasst sei.“ (SPIEGEL ONLINE 09.10.04) „NONNEN AN SCHULEN Nicht ohne meine Kutte Auch Nonnen müssen laut Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ihre Ordenstracht im Klassenzimmer ablegen. Baden-Württembergs Kultusministerin sieht das anders: Diese "Berufskleidung" sei weiterhin erlaubt, glaubt die Katholikin Annette Schavan - eine windige Argumentation. Für Annette Schavan war es eine gute Nachricht: Am Freitag erklärte die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin, dass sie im zähen Rechtsstreit um das Kopftuchverbot an staatlichen Schulen BadenWürttembergs aufgibt. "Es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem ich dem gerichtlichen Weg ein Ende setzen möchte", so Ludin. Kultusministerin Schavan (CDU) reagierte erfreut: "Frau Ludin hat

104

nun offenbar eingesehen, dass eine Verfassungsbeschwerde keinen Sinn haben würde", sagte Schavan. Sie begrüßte den Rückzug als "Bestätigung unserer Vorgehensweise und des badenwürttembergischen 'Kopftuch-Gesetzes', das mit großer Mehrheit des Landtags verabschiedet worden ist und abschließende Klarheit geschaffen hat". Abschließende Klarheit? Nun ja. Das Gesetz hat so seine Tücken. Wie der SPIEGEL in seiner aktuellen Ausgabe meldet, müssen auch Ordensfrauen ihr Habit ablegen oder den Schuldienst quittieren; das gehe aus einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Kopftuchstreit hervor. Das Verbot religiöser Bekundungen, so die Leipziger Richter, müsse auf Grund des Gesetzes in BadenWürttemberg für alle Religionen gelten. "Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung in bestimmten Regionen", so das Urteil, "kommen daher nicht in Betracht." Gesetz könnte auf das Land zurückfallen Mit ihrer Gesetzesnovelle hatte die katholische Kultusministerin versucht, zwar das Tragen islamischer Kopftücher durch Lehrerinnen zu verbieten, christliche Symbole aber weiterhin zuzulassen - im katholisch geprägten Schwarzwald erteilen auch Ordensschwestern im Habit staatlichen Unterricht. Mit der strikten Neutralität des Staates und dem Verbot aller religiösen Symbole ist es in BadenWürttemberg nicht weit her. Auch andere Bundesländer haben Gesetze verabschiedet, die Kopftuchtragen vereiteln, aber zugleich die Vermittlung "christlicher und abendländischer Kulturwerte" weiter zulassen sollen. Dieser Balanceakt könnte rechtlich unangenehme Folgen haben. Annette Schavan aber hält das Tragen einer Nonnentracht im öffentlichen Schuldienst weiterhin für möglich. Das baden-württembergische Kopftuchverbot stimme "völlig mit dem Grundgesetz überein", sagte Schavan. Über das "Tragen einer Berufskleidung von Ordensschwestern" habe das Bundesverwaltungsgericht "nicht ausdrücklich entschieden, weil diese Frage nicht Ausgangspunkt des Prozesses war". Die Darstellung christlicher Traditionen als historische Wurzeln des Landes" sei erlaubt, dazu zähle "nach Auffassung des Landes das Tragen einer Ordenstracht". Bumerangeffekt wahrscheinlich Auch Schavans Gesetzesautor und Prozessvertreter, der Tübinger Juraprofessor Ferdinand Kirchhof, hatte argumentiert, beim Nonnen-Habit handle es sich um eine "Berufstracht", die als solche vom Verbot religiöser Kleidung nicht erfasst sei. Das Bundesverfassungsgericht hatte nicht einfach das Kopftuchverbot abgelehnt oder durchgewinkt, sondern die Landesparlamente aufgefordert, erst einmal eine Gesetzesregelung zu verabschieden. Damit hat sich Baden-Württemberg besonders beeilt. Und wie andere Länder versucht, bei gleichzeitiger Verbannung muslimischer Symbole die christlichen Traditionen zu wahren. Nach Auffassung der Kopftuchgegner ist Ordenskleidung nicht gleichzusetzen mit einer Kopfbedeckung, die neben einer rein religiösen Haltung auch andere Botschaften transportiere und etwa Zustimmung zum muslimischen Fundamentalismus signalisiere. Juristisch indes ist die Interpretation einigermaßen verwegen, die Kluft der Nonnen sei keine religiös motivierte Kleidung, sondern "Berufskleidung" - wie etwa der Overall eines Automechanikers, eine Kochmütze oder die Schutzweste eines Straßenarbeiters. Früher oder später dürfte sich das Bundesverfassungsgericht abermals damit beschäftigen.“ (Jochen Leffers SPIEGEL ONLINE 14.10.04) „SCHULE Unterricht ohne Haube Der Kopftuch-Streit geht in die nächste Runde - damit könnten auch lehrende Nonnen Opfer des baden-württembergischen Verbotsgesetzes werden. Es ist ja nicht so, dass niemand sie gewarnt hätte. Doch die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan ließ sich bei ihrem Vorhaben, muslimischen Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs an der Schule per Gesetz zu verbieten, von niemandem beirren - nicht einmal vom ehemaligen Verfassungsrichter Ernst-Gottfried Mahrenholz, der prophezeite: "Wenn Sie das Kopftuch nicht in Kauf nehmen, dürfen Sie auch nicht die Nonnentracht dulden." Jetzt sieht es so aus, dass die "Amtsaskese", die die Katholikin Schavan muslimischen Lehrerinnen verordnet hat, zum Bumerang wird und Bekennende aller Glaubensrichtungen trifft. Und das nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch in Bayern, Hessen und im Saarland, wo ähnliche Gesetze verabschiedet oder vorbereitet worden sind. Denn das Leipziger Bundesverwaltungsgericht hat in der jetzt nachgereichten schriftlichen Begründung seines Kopftuchverbot-Urteils die "strikte Gleichbehandlung" der Religionen verordnet

105

und "Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung" ausgeschlossen. Kein Wunder also, dass Maria Bernadette Hein, Äbtissin des Zisterzienserklosters im BadenBadener Stadtteil Lichtenthal, beunruhigt ist. Die Grundschule im altehrwürdigen Kloster im Nordschwarzwald ist eine von zwei staatlichen Schulen in Baden-Württemberg, an denen Nonnen im Habit normalen Unterricht erteilen - noch. Die Äbtissin glaubt fest daran, dass das so bleibt: "Die Ministerin hat sich eindeutig geäußert, dass unsere Schwestern die Ordenstracht nicht ausziehen müssen", sagt Hein. "Sie hat uns das versprochen." Dieses Versprechen zu halten dürfte schwer fallen: "Auch Frau Schavan muss sich an die Rechtsprechung halten", fürchtet Klaus Hälbig, Sprecher der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Tatsächlich ist das "Ende des Kopftuch-Rechtsstreits", das Schavan nach dem Rückzieher der Klägerin Fereshta Ludin per Pressemitteilung ausrufen ließ, noch lange nicht in Sicht. Zwar sieht die aus Afghanistan stammende Lehramtsbewerberin, an deren Fall sich die Kopftuch-Debatte entzündet hatte, von weiteren gerichtlichen Schritten ab. Doch schon in Kürze könnte ein weiterer Rechtsstreit mit einer Kopftuch tragenden Lehrerin die Ministerin zwingen, mit der Gleichbehandlung der Religionen Ernst zu machen. Es geht um die Lehrerin Doris G., die an einer Grund- und Hauptschule in Stuttgart unterrichtet. Seit 1973 ist Doris G. Lehrerin, seit 1978 Beamtin auf Lebenszeit. 1984 konvertierte sie zum Islam, seit 1995 trägt sie im Schuldienst ein Kopftuch, allerdings bedeckt sie nur locker die Haare. Doris G. erklärte im März 2000 im Ludin-Verfahren, auch sie trage ihr Kopftuch aus religiösen Gründen, ohne dass sie von der Schulaufsicht behelligt worden wäre. Diesem Bekenntnis folgten prompt mehrere "Personalgespräche", danach kam die Order des Oberschulamts, "ihren Dienst immer dann ohne Kopfbedeckung zu versehen, wenn sie in Kontakt mit Schülern ist". Doris G. klagte vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart. Dort ließ man die Sache bis zum Abschluss des Falls Ludin ruhen - jetzt soll es im Dezember zur Verhandlung kommen. Sollten Schavans Beamte darauf bestehen, dass Doris G. ihr Kopftuch abnimmt, könnten auch lehrende Nonnen ein Problem bekommen. Denn dann, so der Freiburger Staatsrechtler und ExVerfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, könne Doris G. "einwenden, dies sei eine unzulässige Diskriminierung", die das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verletze. Schavan wäre in der Zwickmühle: Entweder geht sie auch gegen die Nonnen vor - oder sie lässt das Verdikt gegen Doris G. fallen. Verzweifelt sucht die Ministerin nach Argumenten, die einseitige Praxis zu retten - und richtet damit weiteren Flurschaden an. Die Behauptung, der Nonnenhabit falle als "Berufstracht" nicht unter das Verbot religiös motivierter Kleidung, empört die Gottesfrauen. Äbtissin Hein fühlt sich durch solch eine Verkürzung beleidigt. Der Habit sei "ein Zeichen der Religiosität und der Beziehung zu Gott", findet auch die Vorsitzende der Vereinigung der Ordensoberinnen in Deutschland, Aloisia Höing. Um ihre katholische Klientel zu befrieden, lenkte Schavan vergangene Woche ein: Ob die Ordenstracht nur ein Berufskleid oder ein religiöses Zeichen sei, spiele "keine Rolle". Sie verbiete das Kopftuch wegen seiner "politischen Mehrdeutigkeit", und die sei dem Habit nicht zu unterstellen. Verfassungsrechtler Mahrenholz sieht als einzigen Ausweg für Schavan, eine Einzelfallprüfung ins Gesetz aufzunehmen, für Nonnen wie für Muslima. Dass genaues Hinsehen sinnvoll sein kann, zeigt ein Fall an einer Grundschule in NordrheinWestfalen: Dort war eine Kopftuch tragende Lehrerin, die sogar in Sachen Kopftuch politisch aktiv war, lange Jahre als Konrektorin tätig. Erst als sie Schulleiterin werden wollte, musste sie auf die Bedeckung ihres Hauptes verzichten. DIETMAR HIPP, CAROLINE SCHMIDT“ (SPIEGEL ONLINE 20.10.04) Das BVerwG hat nicht nur entschieden, dass Lehrer „… in der Schule keine Kleidung oder sonstigen Zeichen tragen dürfen, die ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft erkennen lassen. … Ausnahmen für bestimmte Formen religiöser Kleidung in bestimmten Regionen kommen nicht in Betracht.“ Bei einer so klaren kann Aussage kann man sich nur über den Bundestagspräsidenten und andere Ignoranten wie die baden-württembergische Kultusministerin und ihre Rechtsberater wundern!

Dieses unsere Gerichte und nun manche Länderparlamente beschäftigende Grundsatzproblem der Abwägung zwischen einerseits der Religionsfreiheit der ein Kopftuch tragenden Lehrerinnen und andererseits der Neutralitätspflicht des Staates besteht auch in anderen Ländern der EU und wird unterschiedlich gelöst: In der laizistischen Republik Frankreich mit ihren rund 4 Mill. Muslimen und 600.00 Juden ist die Frage seit fast

106 einem Jahrhundert durch das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche von 1905 entschieden – aber, wie die Spannungen in den Vorstädten und der »Kleinkrieg« in den Schulen zwischen Schülern verschiedener religiöser Bekenntnisse zeigt: nicht gelöst. Insbesondere in den Kämpfen islamischer Schüler gegen jüdische spiegeln sich die Spannungen des Nahen Ostens wider. Der Staatsrat erklärte 1989 das Tragen religiöser Zeichen als "nicht vereinbar mit der religiösen Neutralität öffentlicher Schulen" und verbot "diskriminierende, den Unterricht störende oder prahlerisch-angeberische religiöse Zeichen". Doch kein Gesetzgeber kann den Übergang vom neutralen Zeichen zum "prahlerisch-angeberischen" oder "offenkundigen" zweifelsfrei definieren. Darum wurden die Bestimmungen neu gefasst und verschärft. So ist es nunmehr allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst während der Ausübung ihrer öffentlichen Funktion und den Schülern in den staatlichen Schulen untersagt, irgendwelche Zeichen ihrer jeweiligen religiösen Zugehörigkeit zu tragen. Muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch gibt es deshalb in Frankreich nicht, und Schülerinnen mit Kopftuch werden auch nicht (mehr) geduldet. Der strikte Laizismus18, seit der Französischen Revolution von 1789 einer der Pfeiler der französischen Staatsphilosophie, soll gewährleisten, dass der Staat sich aus jedem religiösen Streit heraushält. KOPFTUCHVERBOT IN FRANKREICH Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen Das Verbot religiöser Symbole an Frankreichs Schulen beginnt zu greifen. Nun sind erstmals fünf muslimische Schülerinnen des Unterrichts verwiesen worden, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch abzulegen. Unterdessen klagen Sikhs gegen die brisante Vorschrift, die auch Turbane erfasst. Erstmals seit Inkrafttreten des Kopftuchverbots an französischen Schulen sind mehrere muslimische Mädchen des Unterrichts verwiesen worden. Nach einer Anhörung schlossen Schulen im elsässischen Mulhouse (Mülhausen) am Mittwoch zwei 17-Jährige aus, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch abzulegen. Eine weitere Schülerin in Flers, Normandie, darf ebenfalls nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Bereits am Dienstag wurden in Mulhouse zwei 12 und 13 Jahre alte Mädchen der Schule verwiesen. Das im Februar erlassene Gesetz, das an Frankreichs staatlichen Schulen "Symbole und Kleidungsstücke" verbietet, die "ostentativ die Religionszugehörigkeit der Schüler zur Schau stellen", ist hoch brisant. In der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend auf ein Kopftuchverbot verkürzt, hat es nicht nur zu Protesten muslimischer Schüler geführt, sondern auch zu einem außenpolitischen Problem für die Regierung in Paris. Die Entführer, die im Irak die beiden französischen Journalisten Georges Malbrunot und Christian Chesnot als Geiseln genommen haben, begründen ihre Tat mit dem französischen Gesetz und fordern dessen Abschaffung. Zwar haben sich die meisten muslimischen Verbände in Frankreich mittlerweile demonstrativ hinter die Bemühungen um eine Freilassung der beiden Journalisten gestellt. Auch unterstützen viele islamische Vereine den in der Verfassung vorgeschriebenen strikten Laizismus. Doch in der Praxis führt das Gesetz dennoch zu handfesten Problemen im Schulbetrieb. Sikhs klagen So waren zu Beginn der Woche landesweit 72 Schülerinnen und Schüler vom Schulverweis bedroht. Das Erziehungsministerium gab den Schulbezirken grünes Licht, gegen die Betroffenen vorzugehen. Meist handelt es sich dabei um muslimische Schülerinnen, die sich weigern, ihr Kopftuch abzulegen. Betroffen sind aber auch einige Sikhs. Deren Religionsgemeinschaft reichte vor einem Pariser Verwaltungsgericht im Fall von drei Schülern Klage ein, die seit Beginn des Schuljahres nicht am 18

Den in Frankreich an sich sehr strikt gehandhabten Laizismus sahen manche seiner Verfechter in Frage gestellt, als zum Tod des Papstes Johannes Paul II. Trauerbeflaggung angeordnet worden war: „Die Trauerbeflaggung zu Ehren des toten Papstes hat in Frankreich eine hitzige Debatte ausgelöst. Kritiker werfen der Regierung vor, mit zweierlei Maß zu messen: Während muslimische Kopftücher in Schulen verboten seien, werde die Trennung von Kirche und Staat bei der Trauer um Johannes Paul II. ignoriert. ... ’Wir leben in einer Zeit, in der wir sehr vorsichtig mit der genauen Trennung von Kirche und Staat sind, besonders nach dem Erlass eines Gesetzes, das religiöse Symbole aus Schulen verbannt hat’, sagte der sozialistische Senator Jean-Luc Melenchon. Andere Kritiker warfen der französischen Regierung Scheinheiligkeit vor und forderten eine strikte Einhaltung der 100-jährigen Säkularismus-Tradition. ... Innenminister Dominique de Villepin rechtfertigte die öffentliche Trauerbekundung mit der Tradition des Landes. Auch beim Tod vorherige Päpste seien die Fahnen auf halbmast gesetzt worden. Für die Beisetzung des Papstes ist erneut Trauerbeflaggung angeordnet. Auch in der Schweiz gibt es derweil öffentlichen Streit um die Staatstrauer. Der Kanton Genf hat aus seiner calvinistischen Tradition heraus eine Trauerbebeflaggung abgelehnt. Man werde die geltende Regel nicht brechen, die besage, dass die Fahnen nur beim Tod eines Schweizer Bürgers auf halbmast gesetzt würden, sagte eine Sprecherin des Kantons.“ (SPIEGEL ONLINE 08.04.05)

107

Unterricht teilnehmen dürfen, weil sie einen Turban tragen. Eine Entscheidung wird am Freitag erwartet. Das Gesetz verbietet neben dem muslimischen Kopftuch unter anderem auch die jüdische Kippa und auffallende christliche Kreuze. Künftige Konflikte um das umstrittene Gesetz sind programmiert. Bildungsminister Francois Fillon bezifferte am Dienstag die Streitfälle zu Beginn des Schuljahres im September auf rund 600. Die Mehrzahl habe aber in Gesprächen mit den betroffenen Schülern beigelegt werden können. Reibungen im Schulbetrieb Dass sich die Fälle der ausgeschlossenen Schüler jetzt häufen, geht auf eine Anweisung der Regierung zurück. Offenbar mit Rücksicht auf die entführten Journalisten hatte die Regierung in Paris das Verbot bislang nur sehr zurückhaltend durchgesetzt. Wenn Schüler sich dem Gesetz aufgrund ihres Glaubens nicht beugen wollen, sind sie mit weitreichenden Schwierigkeiten konfrontiert, die ihren Ausbildungsweg erschweren können. Zwar können sie bei der Schulaufsicht Beschwerde einlegen, doch verspricht dies kaum Erfolg. Sind sie unter 16 Jahre alt, müssen sie ihre Ausbildung an Privatschulen oder per Fernunterricht fortsetzen und dies nachweisen, um die Schulpflicht zu erfüllen. (SPIEGEL ONLINE 22.10.04)

Trotz der kompromisslos durchgesetzten religiösen Neutralität des Staates im Schulwesen ist die französische Gesellschaft mit ihrem relativ hohen Bevölkerungsanteil an Muslimen nicht frei von (teilweise nicht mehr nur) unterschwelligen Spannungen, die sich aber meist in den muslimischen Ghettos der Vorstädte großer Bevölkerungsmetropolen abspielen: Im Frühling 2003 gab es nun einen viel beachteten Aufstand junger Frauen in Paris. Sie brachen das Gesetz des Schweigens. Darüber, dass sie in den mehrheitlich islamischen Vorstädten von ihren Vätern, Brüdern und Nachbarn terrorisiert und aufgeteilt werden in "Heilige oder Huren", als lebten sie in Kabul. Durchgesetzt wird das islamische Gesetz der islamischen Männer mit Gewalt: Gruppenvergewaltigungen seien an der Tagesordnung, und jüngst wurde die 17-jährige Sohane Benziane bei lebendigem Leibe verbrannt.19 Nach der Ermordung des niederländischen Filmemachers van Gogh 2004 wurde nun auch international bekannt, dass in den Niederlanden auf den Straßen „herumhängende“, in ihren jeweiligen Ethnien „versäulte Niederländer“, wie der Mörder van Goghs meist aus voll integrierten Familien marokkanischer Herkunft stammend, unter Anleitung radikalisierter islamischer Brigaden anstreben, dass in »ihren« Vierteln nicht mehr die niederländischen Gesetze, sondern die »ihren« gelten; es gebe „No-go-areas“ und Stadtviertel mit einem erschreckend niedrigen Bildungsniveau marokkanisch- und türkischstämmiger Kinder und Jugendlicher, denen in den dortigen Ghettos die Lehren des Ibn Taimija, eines der Urväter des puristischen Islam, der den „heiligen Krieg“ als Lebensart predigte, beigebracht werden. In diese Stadtviertel mit regelrecht marodierenden Jugendbanden, wo die Gegengewalt zu groß sei und Puppen mit den Namen von Polizisten an Bäumen und Laternenpfählen aufgehängt seien, traue sich selbst die Polizei nicht mehr rein (ARD Presseclub 14.11.04). Diese radikalisierten Muslime sehen es als »tugendhaft« an, wenn sie mit Todesdrohungen Kritiker und Gegner des Islams zum Schweigen bringen. Hilft die Drohung nicht, erfolgt notfalls der Vollzug; wie bei van Gogh. Nach dem Mord an dem Filmemacher, der wegen des mit van Gogh zusammen gedrehten und über das Fernsehen ausgestrahlten Films über Gewalt islamischer Männer gegenüber Frauen auf die ehemals muslimische, dann aber zum Christentum konvertierte somalischstämmige niederländische Parlamentsabgeordnete Ali zielte – in van Goghs Leiche steckte ein Messer mit einer diesbezüglichen Botschaft an Ayaan Hirsi Ali -, brannten in den Niederlanden Moscheen und von Muslimen besuchte Schulen; und als darauf antwortende Gegengewalt christliche Kirchen. Nun war Holland in Not. Der Luftraum über Den Haag wurde gesperrt: Die Feuerzeichen des Menetekels einer gescheiterten Multikulti-Parallelgesellschaft waren im ganzen Land zu sehen. Beängstigend für die Niederländer ist, dass auf Grund der wesentlich höheren Geburtenrate der muslimischen Staatsbürger – Mohammed ist schon 2004 der häufigste Vorname der in Amsterdam geborenen Babys gewesen – in sechs bis acht Jahren in den vier größten Städten der Niederlande 19

Gruppenvergewaltigungen zur Disziplinierung islamischer Mädchen zur Wahrung der so empfundenen Familienehre scheint keine nur in Frankreich praktizierte Vorgehensweise zu sein. So berichtete der SPIEGEL vom 29.09.03 von einem in dritter Generation in Deutschland lebenden 18-jährigen türkischen Mädchen, das bis zu ihrem 14. Lebensjahr außer zur Schule nur in Begleitung eines Bruders oder der Mutter aus dem Haus durfte. Als ihr Onkel sie vergewaltigt hatte, schwieg sie aus Scham. Der Vergewaltiger machte ihr das Leben danach weiterhin zur Hölle, indem er der Mutter immer wieder erzählte, er habe ihre Tochter mit Jungs herumstehen sehen. „Die Mutter glaubte es und drohte, wenn ihre Tochter nicht aufhöre, ihr Schande zu machen, hole sie ’fünf Männer, die vergewaltigen dich dann, und ich selbst werde dabei deine Hände festhalten.’“

108

eine muslimische Bevölkerungsmehrheit zu erwarten ist; das schreit geradezu nach rechtlichen Regelungen gegen Einwanderung aus insbesondere Marokko, weil von dieser Bevölkerungsgruppe den Niederländern die größten Schwierigkeiten erwachsen. Und die Niederlande sind in dieser Beziehung kein europäischer Einzelfall, denn ein französischer Minister griff diesen Punkt auf und tat nach dem zweiten Attentat in den Niederlanden ebenfalls Ende 2004 kund, dass es in Frankreich in großen Städten rund 500 »eurabische«20 Stadtviertel gebe, in denen faktisch nicht mehr die französischen Gesetze gelten würden! In diesen nicht mehr kontrollierbaren Parallelgesellschaften gelte nur die Scharia (ARD Presseclub 14.11.04)! In diesen Vierteln stellt sich für die Bewohner schon (fast) gar nicht mehr die Frage des mit allen(!) gesetzlich zugelassenen Mitteln durchzusetzenden staatlichen Gewaltmonopols! Für alle anderen Franzosen hingegen stellt sich die Frage des islamistischen Gebietsbeherrschern gegenüber mit allen(!) Mitteln durchzusetzenden staatlichen Gewaltmonopols ausgesprochen dringlich – selbstverständlich unter demokratischer Zügelung! In der Schweiz war einer seit 1990 im staatlichen Schuldienst unterrichtenden Lehrerin nach ihrem 1991 erfolgten Übertritt zum Islam und dem damit verbundenen späteren Tragen eines Kopftuches 1996 von den Behörden das demonstrative Tragen des Kopftuchs im Unterricht verboten worden. Das Schweizer Bundesgericht bestätigte 1997 die Entscheidung der Behörde. Eine daraufhin von der Muslimin beim Europäischen Gerichtshof eingereichte Klage wurde 2001 dort ebenfalls abschlägig beschieden. Das behördliche Verbot verstoße weder gegen die Religionsfreiheit noch gegen das Diskriminierungsverbot. Aus allen anderen Ländern der EU sind bisher keine die Bekleidung für öffentlich Bedienstete einschränkenden Regelungen bekannt. In dem Vereinigten Königreich von Großbritannien darf man auf dem Haupte tragen, was man will, gleichgültig ob Muslim oder Sikh; es gibt keinen Kopftuch- oder Turbanerlass. Das wird als Ausfluss der – von manchen überdehnten - Religionsfreiheit gesehen. ENGLISCHE SCHULEN Muslimin darf bodenlanges Gewand tragen Britische Schüler tragen normalerweise Schuluniform. Das kann gegen die Menschenrechte verstoßen, entschieden Richter im Fall von Shabina Begum, 16. Die Schülerin kämpft für das Recht, mit einem Umhang ihren Körper bis auf Hände und Gesicht ganz zu bedecken. Ihre Anwältin: Cherie Blair, die Frau des Premierministers. Seit über zwei Jahren prozessiert Shabina Begum dafür, dass sie in einem traditionellen Gewand in den Unterricht kommen darf. 2002 wurde sie nach Hause geschickt, weil sie die Kleidungsregeln der Denbigh High School in Luton nicht befolgte. Anschließend ging die britische Muslimin nicht mehr zur Schule. Jetzt hat das zweithöchste britische Gericht in einem Musterverfahren entschieden, dass die 16-Jährige den "Dschilbab" tragen darf. Dieses Gewand reicht bis auf den Boden und lässt nur Gesicht und Hände unbedeckt. Nach Auffassung der Richter wurde Shabina Begum das Recht verweigert, sich durch die Kleidung zu ihrer Religion zu bekennen; sie hätte nicht vom Unterricht ausgeschlossen werden dürfen. Über dem Berufungsgericht stehen nur noch die Lordrichter des Oberhauses. Der Richter forderte das Bildungsministerium auf, für mehr Klarheit zu sorgen, wie die Schulen mit ihren Verpflichtungen unter Menschenrechtsaspekten umgehen sollen. In vielen Ländern Europas ist umstritten, welche Kleidung in den Schulen getragen werden darf, um religiöse und möglicherweise auch politische Überzeugungen auszudrücken. So gibt es in Deutschland eine anhaltende Debatte über Kopftücher muslimischer Lehrerinnen. Frankreich hat Kopftücher, Kippas und Turbane auch für Schülerinnen und Schüler verboten, ebenso wie große christliche Kreuze in den Schulen; die Türkei hält religiöse Symbole ähnlich strikt aus den Schulen und Universitäten fern.

20

Der Ausdruck „Eurabien“ wurde von der italienischen Journalistin und Schriftstellerin Oriana Fallaci geprägt, die mit ihren polemischen Bestsellern „Die Wut und der Stolz“ (1990) und "Die Kraft der Vernunft" (2004) Europa aufzurütteln und vor der ihm durch den Islamismus drohenden Gefahr zu warnen versucht.

109

Schutz vor fundamentalistischem Druck Gebums Fall sorgt in Großbritannien seit Jahren für Aufsehen und dürfte nach dem neuen Urteil zu weiteren Streitigkeiten an anderen Schulen führen. In erster Instanz hatte die Schule noch Recht bekommen. Damals verwies der Richter darauf, dass 79 Prozent der insgesamt 1000 Schüler an der Denbigh High School Muslime seien und diese sich nicht diskriminiert fühlten; zudem seien auch Kopftücher bereits erlaubt. Die Schule hatte argumentiert, das Gewand sei ein Gesundheits- und Sicherheitsrisiko. Außerdem könne es zu Spannungen kommen, weil Schüler mit dem traditionellen Gewand als "bessere Muslime" angesehen werden könnten. Nach Darstellung der Schule berücksichtigen ihre Kleidungsregeln alle Glaubensrichtungen und Kulturen. Erlaubt seien beispielsweise Kleider oder weite Hosen und eine Tunika. Auch Shabina Begum hatte diese Form islamischer Kleidung zunächst an der High School getragen, bis sie sich im Dezember 2002 für den bodenlangen "Dschilbab" entschied und dies - gemeinsam mit ihrem Bruder Shuweb Rahman - der Schulleitung mitteilte. Die Direktorin Yasmin Bevan sagte, es gehe bei den Kleidungsregeln auch darum, die Kinder vor den Rekrutierungsbemühungen extremistischer muslimischer Gruppen zu schützen. Unterstützt wurde sie dabei vom Verband britischer Schuldirektoren, der ebenfalls fundamentalistischen Druck auf die Schüler befürchtet. Ein "Sieg für alle Muslime"? In Großbritannien können die Schule ihre Bekleidungsregeln selbst festlegen. Die meisten setzen auf die traditionellen Schuluniformen, manche multikulturell geprägte Schulen lassen ihren Schülern größeren Spielraum. Welche Kleidungsregeln jeweils vernünftig und angemessen seien, müsse den Schulen überlassen bleiben, argumentierte der Verband. Beim Berufungsverfahren berief sich Shabina Begum auf die europäische Menschenrechtskonvention. Artikel 9 garantiert die "Freiheit, die eigene Religion oder den Glauben auszudrücken". Vertreten wurde die Schülerin von Cherie Blair, der Frau des britischen Premierministers. Es gehe um "grundsätzliche Fragen" der Bildung und der Religionsfreiheit, trug Cherie Blair dem Berufungsgericht bei einer Anhörung im Dezember vor. Einer Schulleitung stehe es nicht zu, sich die ihr genehmen religiösen Überzeugungen "herauszupicken". Nach der Gerichtsentscheidung am Mittwoch sagte Begum, das Vorgehen der Schule sei die "Folge einer Atmosphäre, die nach den Anschläge vom 11. September 2001 in den westlichen Gesellschaften entstand, einer Atmosphäre, in der der Islam im Namen des 'Anti-Terror-Krieges' kriminalisiert wurde". In ihrer vorbereiteten Stellungnahme sprach sie von einem "Sieg für alle Muslime, die ihre Identität und Werte trotz aller Vorurteile und Borniertheit bewahren wollen". Es sei "erstaunlich", dass sie in der "so genannten freien Welt für ihr Recht auf diese Kleidung kämpfen" müsse. Die Dachorganisation Muslim Council of Britain begrüßte das Urteil. Inzwischen besucht Shabina Begum, deren Vater und Mutter tot sind, eine andere Schule. Dort ist der "Dschilbab" erlaubt. (SPIEGEL ONLINE 03.03.05)

2004 hatte das BVerwG über die Rechtmäßigkeit der ersten »Landeskopftuchgesetze« zu entscheiden, u.a. in der nächsten Runde der Sache der Klägerin Ludin gegen das Land Baden-Württemberg. Bei der Verhandlung in Leipzig ging es nun vor allem darum, ob die Änderung des baden-württembergischen Schulgesetzes rechtmäßig ist. Baden-Württemberg verbietet darin "politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche äußere Bekundungen", die "geeignet sind, den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden". Allerdings werden christliche und abendländische Symbole davon ausgenommen, weil sie dem "Erziehungsauftrag der Landesverfassung" entsprächen. Die Leipziger Richter erklärten das baden-württembergische Kopftuchverbot für rechtens. "Dieses Gesetz entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und bietet eine ausreichende Rechtsgrundlage, die Unterrichtserteilung mit Kopftuch zu untersagen", hieß es in der Urteilsbegründung des Gerichts. Es enthalte trotz der Erwähnung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte keine Bevorzugung christlicher

110

Religionen - meinten die Richter. Es biete eine ausreichende Grundlage, um das Tragen eines Kopftuches in der Schule zu untersagen, sagte der Senatsvorsitzende Hartmut Albers. Weiter argumentierten die Richter durchaus fragwürdig: Da die Klägerin nicht bereit sei, dem Kopftuchverbot nachzukommen, fehle ihr die für die Einstellung als Beamtin erforderliche Eignung. Hätte die Klägerin Ludin ihre zunächst erwogene Absicht in die Tat umgesetzt – sie gab gut einen Monat nach der Entscheidung des BVerwGs seelisch ermüdet auf und wollte nicht ein zweites Mal vor dem BVerfG klagen, aber es wird mit Sicherheit irgendwann eine andere Muslimin ein ihrem (auf jeden Fall angeblichen) religiösen Bedürfnis entgegenstehendes Landesgesetz wegen des Kopftuchverbots mit einer Verfassungsbeschwerde angreifen – und sollte dann in dieser Sache das BVerfG die Ansicht der Klägerin teilen und die entsprechende Bestimmung im baden-württembergischen oder einem anderen ähnlich lautenden Landesschulgesetz mit Blick auf die Religionsfreiheit der Klägerin als nicht ausreichend für die vorgenommene Einschränkung ansehen, dann verfügt die jeweilige Klägerin plötzlich doch wieder über die ihr vom BVerwG aus grundsätzlichen Erwägungen heraus höchstrichterlich abgesprochene und für eine Einstellung als Beamtin erforderlich angesehene Eignung, ohne dass sie sich geändert hätte! In Baden-Württemberg ist das Tragen von Kopftüchern und anderen religiösen Symbolen trotz des Leipziger Urteils nicht generell untersagt. Bei der Verhandlung in Leipzig räumte der Prozessvertreter des Landes ein, es könne "regionale Ausnahmen" für Kopftuchträgerinnen geben: In einer Stadt mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil etwa könne die Prognose, ob das Kopftuch einer Lehrerin den Schulfrieden störe, anders ausfallen als im katholisch geprägten Schwarzwald. Dies gelte allerdings nur für Lehrerinnen, die bereits in den Schuldienst eingestellt seien. Hintergrund ist, dass in Baden-Württemberg an einigen Schulen Ordensschwestern im Habit »normalen« Unterricht geben, das Bundesverfassungsgericht aber auf einer Gleichbehandlung der Religionen bestehen wird. Das Gesetz sei "bewusst abstrakt" gehalten, um auch den "Turban von Sikhs" bei Lehrern in öffentlichen Schulen zu verhindern, betonte der Vertreter des Landes Baden-Württemberg. Ordenstrachten von Nonnen hingegen seien eine "Berufsbekleidung für einen religiösen Beruf". Eine mehr als gewagte Behauptung! „NONNENTRACHT AN SCHULEN ’Eindeutig religiös motivierte Kleidung’ Baden-Württemberg hat Kopftücher bei Lehrerinnen verboten, will Nonnen aber weiter in ihrer Tracht unterrichten lassen - das sei nur ’Berufskleidung’, so die eigenwillige Definition von Kultusministerin Schavan. Ein ehemaliger Verfassungsrichter widerspricht energisch. Und Deutschlands oberste Ordensschwester ebenfalls. Der Streit um die Reichweite des Kopftuchverbots in Baden-Württemberg spitzt sich zu. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde vertritt im Gegensatz zum Land die Auffassung, dass das Verbot sich auch auf die Nonnentracht erstrecke. Das inzwischen schriftlich vorliegende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Juni, das der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin den Zugang zum Schuldienst des Landes verwehrte, sei in dieser Frage ’eindeutig’, betonte Böckenförde am Mittwoch: ’Es trifft das Kopftuch und das Ordensgewand, das Kreuz am Revers und die jüdische Kippa’, so Böckenförde in der ’Süddeutschen Zeitung’. Der Versuch des Landes Baden-Württemberg, das Ordensgewand als ’Berufskleidung’ zu deklarieren, tue ’allen Nonnen einen Tort an’, sagte der Staatsrechtler weiter. Wer das Ordenskleid zur Berufskleidung umdeute und ihm damit ’den Charakter des religiösen Bekenntnisses nehmen’ wolle, beleidige alle Nonnen: ’Der sollte sich mal über den Ritus der Einkleidung informieren, wenn die Ordensschwestern ihre Gelübde ablegen und ihren Ordenshabit überreicht bekommen, als Zeichen dafür, dass sie ihr Leben in besonderer Weise Gott widmen.’ Auch die oberste Ordensschwester in Deutschland bewertet das Ordensgewand anders als das Land. Die Nonnentracht sei ’eindeutig eine religiös motivierte Kleidung’, sagte die Vorsitzende der Vereinigung der Ordensoberinnen Deutschlands (VOD), Schwester Aloisia Höing, im thüringischen Heiligenstadt. Die Auffassung vom Habit als ’Berufskleidung’ sei hingegen ‘zu eng’ und ‘etwas komisch’. ‘Land muss sein eigenes Gesetz befolgen’ Kultusministerin Annette Schavan (CDU) hatte am Montag Darstellungen zurückgewiesen, wonach das Kopftuchverbot auch Nonnen trifft. Das Bundesverwaltungsgericht habe zwar den Grundsatz der

111 strikten Gleichbehandlung der Religionen betont. Über das Tragen einer ‘Berufskleidung’ von Ordensschwestern habe es aber nicht ausdrücklich entschieden, da diese Frage nicht Ausgangspunkt des Prozesses gewesen sei. Böckenförde verwies jedoch auf eine Urteilspassage, in der es heißt: ‘Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung in bestimmten Regionen’ kämen ‘nicht in Betracht’. Der Jurist sieht das Land jetzt in einem Dilemma. ‘Befolgt es sein eigenes Gesetz so, wie es nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verfassungsrechtlich nur Bestand haben kann, muss es den Nonnenhabit verbieten’, sagte er. Ansonsten nähme das Land ‘sein eigenes Schulgesetz nicht ernst’. Eine muslimische Lehrerin, der das Kopftuch verboten werde, könne nun gerichtlich durchsetzen, dass Nonnen in der Schule den Schleier ausziehen müssen. Höing sagte, wenn man an Schulen ‘generell jede Religiosität ausblenden’ wolle, wäre auch ein Verbot des christlichen Ordensgewands nur folgerichtig. Sie könne sich aber ‘nicht vorstellen, dass dies in unserer Gesellschaft stillschweigend hingenommen’ würde. Höing, die Generaloberin der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel (SMMP) ist, betonte, dass Nonnen das Ordenskleid auch privat tragen. Es sei ‘ein Lebenskleid’. Der Habit sei ‘ein Zeichen der Religiosität und der Beziehung zu Gott’. Die Tracht verweise auf ‘eine Lebensform in Gelübden’. Die VOD vertritt knapp 28.000 Ordensfrauen aus mehr als 300 verschiedenen Gemeinschaften. Als Lehrerinnen sind nach Angaben Höings 693 Nonnen tätig, die meisten jedoch nicht an staatlichen, sondern an ordenseigenen oder kirchlichen Schulen. Von Norbert Demuth, ddp“ (SPIEGEL ONLINE 13.10.04)

Vor dem BVerwG war gleichzeitig die Klage einer niedersächsischen muslimischen Lehrerin verhandelt worden. Niedersachsen hatte ähnlich der Formulierung in dem baden-württembergischen Gesetz zunächst auch an eine Formulierung gedacht, die dezidiert christliche Bekleidung oder Symbole von der Neutralitätspflicht freigestellt hätte, dann aber die Ausnahmeklausel wegen verfassungsrechtlicher Bedenken wieder gestrichen. Dort heißt es im Schulgesetz nun: "Das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften in der Schule darf, auch wenn es von einer Lehrkraft aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen gewählt wird, keine Zweifel an der Eignung der Lehrkraft begründen, den Bildungsauftrag der Schule überzeugend erfüllen zu können." Deswegen konnte die gegen das Land klagende Lehrerin Iyman Alzayed nicht obsiegen. Sie zog während der Verhandlung die Klage zurück, sicherte zu, dass sie in der Schule kein Kopftuch tragen würde und erhielt auf Grund dieser »negativen Bekleidungszusage« noch im Gerichtssaal eine Einstellungs- und Verbeamtungszusage. Den Ausschlag für ihren »Teilerfolg durch Aufgabe« gab laut "Focus" ihre finanzielle Situation: Die Klägerin ist keine Einwanderin, sondern gebürtige Deutsche. Sie hieß früher Iris Pörtge, wurde in Hamburg geboren und wuchs in einem Dorf nahe Hannover auf. Nach ihrem Studium der Pädagogik für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen sattelte sie noch Waldorfpädagogik und Arabistik drauf. Später heiratete sie einen Syrer und konvertierte 1990 vom evangelischen zum islamischen Bekenntnis. Alzayed unterrichtete an einer Privatschule für verhaltensgestörte Kinder, an Waldorfschulen und an der Volkshochschule. 1999 schien ihr eine Stelle an einer staatlichen Grundschule in Soltau in der Lüneburger Heide bereits sicher. Der Personalrat beschrieb sie als "kompetente, offene und sehr aufgeschlossene Pädagogin, die rasch unsere Herzen gewann", trotz Kopftuch. Und auch der Schulleiter sagte, Alzayed sei "hervorragend für die Arbeit an unserer Schule qualifiziert". Im Stundenplan war sie bereits für die Klasse 3b eingeteilt, durfte die Stelle dann aber nicht antreten, weil die Lüneburger Bezirksregierung wegen ihres Wunsches, im Unterricht ein Kopftuch tragen zu können, gegen sie entschieden hatte. Die Eltern bangten um den geregelten Unterricht. Mitsamt den Drittklässlern reisten Mütter und Väter nach Hannover, wo die Schüler sich Kopftücher aufsetzten und vor dem Kultusministerium demonstrierten. Die Proteste fruchteten nicht. Obwohl es keine Indizien dafür gab, dass Alzayed den Schulfrieden gefährdete, stellte das Land sie vor die Wahl "Kopftuch oder Klassenzimmer". Die Muslimin wehrte sich gegen das "Berufsverbot" und kämpfte für ihr "Recht auf Unterricht". Ob sie Kopftuch trage oder barhäuptig unterrichte, hält sie für ihre Privatsache: "Ich habe immer nur positive Resonanz von Seiten der Eltern und Schüler erhalten und nie versucht zu indoktrinieren. Das Kopftuch ist einfach meine Art mich zu kleiden. Dass ich meine Haare nicht zeige, ist selbstverständlich religiös und nicht politisch motiviert." Nach der Scheidung kämpfte sie um das materielle Überleben, schlug sich bis dahin als Honorarkraft durch und hatte mit 46 Jahren - einem Alter, in dem seit einigen Jahren in der Privatwirtschaft schon viele mehr oder minder rücksichtslos aus dem Berufsleben ausgemustert werden - wegen ihrer auf Grund der vom Land verweigerten Anstellung weiterhin unsicheren Berufsaussichten nicht mehr die Kraft für weitere grundsätzliche Kämpfe: "Ich bin sehr glücklich, dass ich den Schlussstrich unter das Verfahren gezogen habe", sagte sie, "ich bin nun sehr gespannt darauf, wie es sich anfühlt, ohne Kopftuch in die Schule zu gehen. Die Umstellung wird

112

mir sicher nicht leicht fallen." Zwar lasse das niedersächsische Gesetz viele Deutungen zu, "aber ich habe nicht mehr die Kraft, die genaue Interpretation durch sämtliche Gerichte prüfen zu lassen". Obwohl in diesem Fall der Grundsatzstreit irgendwann bis zur letztmöglichen Instanz gerichtlich geklärt werden muss, um genau zu wissen, was fürderhin „Sache sein soll“, wird an dem persönlichen Schicksal der Klägerin die Tendenz von Behörden, Versicherungen und großen Firmen andeutungsweise deutlich, einen Rechtsstreit möglichst so lange hinzuziehen, bis dem armen Würstchen auf der Gegenseite die Luft zum Atmen, das Stück Brot zum Überleben fehlt; das kann keiner bis hinab auf den abgrundtief ängstigenden Grund der Seele verstehen, der nicht selber eine ähnliche Situation hatte durchleiden müssen – wie sie auch der Autor in seinem siebeneinhalbjährigen juristischen Kampf gegen das Land Hamburg nach durch Landesverrat im Bundesamt für Verfassungsschutz durch den „Fall Tietge“ verursachter Beendigung seiner Doppelagententätigkeit gegen das MfS und für das Land Hamburg um seine Wiedereinstellung als Lehrer selber jahrelang hatte durchleiden müssen (SPIEGEL 39/85 S. 103).21 Unter Muslimen herrsche nach dem Leipziger Urteil zunächst große Enttäuschung, die sich aber nach zwei Monaten legte und in erneute Begeisterung umschlug: „Eine deutsche Heldin des Islam aus Hannover Fünf Jahre kämpfte Iyman Alzayed vergeblich für das Recht auf Kopftuch in deutschen Klassenzimmern. Nun wandert sie aus - nach Österreich von Till-R. Stoldt Furchtbar waren Iyman Alzayeds Nächte zwischen dem 13. und dem 16. August. Immer wieder wachte die deutsche Muslima schweißgebadet auf. Schlief sie wieder ein, kamen sofort die unruhigen Träume, in denen es stets um eine Frage ging: Durfte sie das Kopftuch ablegen, um eine Stelle als Lehrerin in ihrer Heimatstadt Hannover zu bekommen - oder sollte sie nach Wien auswandern, wo sie mit Kopftuch lehren dürfte? Nun hat sich die Deutsche, die vor 15 Jahren zum Islam konvertierte und vor ihrer Ehe mit einem Syrer Pörtge hieß, für Wien entschieden. Seitdem gilt sie unter Muslimen als Heldin der islamischen Sache. Im Juni war das noch anders. Gemeinsam mit der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin wartete sie im Leipziger Bundesverwaltungsgericht auf das vorerst letzte ‘Kopftuch-Urteil’. Die Richter hatten über zwei Schulgesetze zu entscheiden, denen zufolge muslimische Lehrerinnen entweder aufs Kopftuch oder aufs staatliche Klassenzimmer verzichten müssen. Das in Baden-Württemberg erlassene Gesetz betraf Frau Ludin, das niedersächsische Frau Alzayed. Nachdem das württembergische Schulgesetz für rechtens erklärt worden war, kam Alzayed an die Reihe. Die 46-Jährige hatte mit ihrem Anwalt auf der Sitzbank gegenüber den Richtern Platz genommen, neben ihr saßen die Prozessvertreter Niedersachsens. Plötzlich erhob sie sich und sagte, sie habe nie beabsichtigt, geltendes Recht zu missachten. Anders als Frau Ludin sei sie bereit, ohne Kopfbedeckung zu lehren, ihr Fall müsse nicht verhandelt werden. Die überraschten Mienen der Prozessteilnehmer dürften nicht in allen Fällen spontan gewesen sein, schließlich hatte Alzayed ihren Entschluss dem Kultusministerium zuvor schriftlich mitgeteilt. Noch im Saal versprach ihr der Vertreter Niedersachsens daraufhin eine Anstellung. Die deutsche Muslima freute sich über die späte Aussicht auf eine Beamtenstelle, steckte sie doch nach der Scheidung von ihrem syrischen Mann in einer finanziellen Notlage. Und: Sie war des Streitens müde. Die anderen Muslime im Gerichtssaal, zum Beispiel Ali Kizilkaya, Vorsitzender des deutschen Islamrats, waren indes enttäuscht von der kapitulierenden Kopftuch-Kämpferin. Dennoch: ‘Von dem Moment an’, erzählt Alzayed, ‘waren alle bemüht, mir entgegenzukommen.’ Umgehend bekam sie die Stelle an einer Hauptschule in Hannover angeboten. Die Vorstellungsgespräche mit den Schulleitern wurden auf den Nachmittag gelegt - wenn nur wenige Menschen die Schule bevölkerten und Alzayeds offenes Haar sehen konnten. Denn zu diesen Gesprächen musste sie schon ohne Tuch erscheinen. ‘Es war ein ziemlich befremdliches Gefühl, nach 15 Jahren unbedeckt durch die Öffentlichkeit zu laufen’, erinnert sie sich. Die Kollegen in spe waren freundlich und einfühlsam, niemand ließ Zweifel aufkommen, ob die neue Lehrerin willkommen sei, und keiner sprach sie auf ihr Kopftuch an. Durfte sie die Chance ausschlagen? Zumal die studierte Orientalistin, Deutsch- und Kunstlehrerin Erfolge in Sachen Integration vorweisen kann. So bewegte sie schon manch muslimisches Elternpaar, ihre Tochter selbst entscheiden zu lassen, ob die das Kopftuch tragen wolle. ‘Denn der 21

Näheres zu dem Fall, in den vier Gerichtszweige mit teilweise jeweils mehreren Instanzen eingebunden waren, siehe 7.16 Gerichtswesen.

113 Gott des Islam verwirft jeden Zwang in Glaubensfragen’, argumentierte Alzayed mit Koran und Propheten-Worten. Sie konnte mit einem Moslem-Bonus arbeiten. Was lag da näher, als diese Arbeit fortzusetzen? Doch zur gleichen Zeit spürte sie leisen Widerwillen aufsteigen gegen den Traumjob ohne Kopftuch. Wenn sie früh morgens ihren blauen Gebetsteppich auf den beigen Holzboden des Wohnzimmers legte, zum Gebet niederkniete und Zwiesprache mit ihrem Schöpfer hielt, beschlich sie eine Sorge: ‘Werde ich ohne Kopftuch mein Glaubensleben weiterführen? Wird es verfallen? Werde ich dann eine andere?’ Auch wurde ihr zusehends klarer, dass sie nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch auf Schulfahrten, auf dem Schulhof oder bei Elternbesprechungen ihre Haare würde lüften müssen. Je näher der Tag ihrer Beamten-Vereidigung rückte, umso unbehaglicher war ihr zu Mute. Doch dann, am Freitag, den 13. August, klingelte das Telefon. Es meldete sich ein Politiker aus Österreich, dessen Namen Alzayed nicht nennen möchte. Er schlug ihr vor, bei der Islamischen Akademie für Religionspädagogik in Wien zu arbeiten. Dort werde ein Abteilungsleiter bei der Ausbildung islamischer Religionslehrer gesucht. Alzayed war hin und her gerissen. Binnen zwei Tagen musste sie entscheiden, am Montag stand die Vereidigung an. Hektische Telefonkonferenzen mit ihrer Mutter und ihrer Tochter begannen. ‘Kind, sei nicht dumm, nimm die Beamtenstelle an’, riet die 81-jährige Mutter Alzayeds. ‘Ich freue mich auf die Besuche in Wien’, jubelte dagegen ihre Tochter. In den Telefonpausen saß Alzayed auf ihrem bunt bepflanzten Balkon und wog Argumente ab. Vor allem ein Gedanke kam ihr dabei in den Sinn: Fünf Jahre lang hatte sie durch mehrere Instanzen prozessiert, seit ihr die Stelle an einer öffentlichen Schule wegen des Kopftuchs verweigert worden war. Fünf Jahre war sie bei Podiumsdiskussionen und Fernseh-Talk-Shows (unter anderem mit Alice Schwarzer) als verklemmt oder reaktionär verunglimpft worden, wurde ihr Verfassungs- und Frauenfeindlichkeit, Naivität oder gleich alles zusammen unterstellt. Fünf Jahre kämpfte sie für das Recht auf Kopftuch im Klassenzimmer und für eine Botschaft, die sie damit einhergehen sah: dass Deutschland eine gute Heimat auch für gläubige Muslime sei, und ‘dass integrationswillige muslimische Frauen eine berufliche Chance bekommen, auch wenn sie ihrer Religion treu bleiben wollen.’ Nach all dem sollte sie selbst nun ohne Kopftuch lehren? Am Tag der Vereidigung trat sie vor den Direktor der Hauptschule, der sie in bester Laune empfing, und sagte ab. ‘Aber der Direktor wurde nicht im geringsten wütend oder unwirsch’, erzählt Alzayed, während sie an ihrem vielleicht 15 Zentimeter niedrigen arabischen Wohnzimmertisch auf dem Boden sitzt und ziemlich gerührt in ihren Café schaut. ‘In dem Moment stiegen mir wirklich Tränen in die Augen’, sagt sie. Und während sie das ausspricht, steigen ihr die Tränen gleich noch einmal hoch. Es hat sie beeindruckt, wie wohlwollend eigentlich alle auf Seiten der ‘Kopftuch-Gegner’ waren - ob in der Schule, in der Bezirksregierung oder im Kultusministerium. Diesen Mittwoch wird sie vieles, das ihr lieb ist, hinter sich lassen: Familie, Freunde, ihre schöne Wohnung mit den zwei kleinen Balkons und ihre Heimatstadt, an der sie ‘jämmerlich hängt’, wie sie sagt. Dann fliegt sie nach Wien, um den Vertrag zu unterschreiben und ihre Bleibe, die Wohnung einer Freundin, zu besichtigen. Nun gilt sie wieder als Heldin der Gläubigen. Auf manchen islamischen Websites wird ihr Umzug gar als ‘kleine Hidschra’ gefeiert. ‘Hidschra’ heißt die Auswanderung des Propheten Mohammed, der 622 aus seiner Heimat Mekka floh, weil er dort wegen seines Glaubens verfolgt wurde. Alzayed will von diesem Vergleich allerdings nichts wissen. Was ihr Prophet erlebt habe, sei ‘doch etliche Nummern größer.’ Dabei könnte ihr die Geschichte des Propheten Mut spenden: Mohammed kehrte acht Jahre später zurück in seine Heimatstadt - im Triumphzug.“ (DIE WELT 29.08.04)

Nach dem Urteil des BVerwGs hatte der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland noch erklärt, christliche und jüdische Traditionen würden privilegiert, die islamische Religionsausübung benachteiligt. Das ist aber ausweislich des nächsten Falles nicht immer so ist: Zweit- und Drittfrauen kostenlos mitversichert Kritik an Regelung für Moslems … Hamburg - Von der Familienversicherung der gesetzlichen Krankenkassen profitieren nicht nur der Ehepartner und alle Kinder, auch Zweit- und Drittfrauen sind kostenlos mitversichert. Frauen, die mit einem moslemischen Mann nach nicht-deutschem Recht wirksam in polygamer Ehe verheiratet seien, hätten auch einen Unterhaltsanspruch gegenüber dem Ehemann, heißt es laut dem

114

Nachrichtenmagazin "Spiegel" in einer Stellungnahme des Gesundheitsministeriums für den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags. Es sei daher rechtlich nicht zu beanstanden, wenn diese Frauen beitragsfrei familienversichert sind. Um wie viele Fälle es sich handelt, ist unbekannt. Kritik an der Praxis übte der FDPBundestagsabgeordnete Volker Wissing. Die Ehe mit mehreren Harems-Frauen sei mit westlichen Werten unvereinbar. Die Bundesregierung müsse darauf achten, diese nicht über den Umweg der Sozialversicherung zu stützen. … (HH A 18.10.04) Allerdings können sich solche Leute keinerlei Hoffnung darauf machen, dass ihrem Antrag auf Einbürgerung in Deutschland stattgegeben wird. Sie müssen sogar in Kauf nehmen, dass sie ihre irgendwann irgendwie erworbene deutsche Staatsangehörigkeit verlieren, wenn sie in (nur) vom Koran erlaubter Vielehe leben: „Wer Doppelehe führt, darf nicht Deutscher sein Lüneburg - Eingebürgerte Ausländer verlieren bei Doppelehe die deutsche Staatsangehörigkeit. Das hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg entschieden (Az.: 14 LA 58/04). Es ging um einen 1998 eingebürgerten Mann, der zu der Zeit in Niedersachsen mit einer Deutschen und in Pakistan mit einer Pakistani verheiratet war. Das OVG: Dem Mann fehle die ’Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse’. dpa“ (HH A 02.11.04)

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland sieht eine einseitige Erlaubnis zum Tragen christlicher oder jüdischer Symbole zu Recht als verfassungswidrig an. Inzwischen bat die Generaldirektion Beschäftigung und Soziales der EU-Kommission um nähere Auskünfte. Die EU-Kommission äußerte die Sorge, dass die Anti-Kopftuch-Gesetze verschiedener Bundesländer mit dem Diskriminierungsverbot des europäischen Rechts unvereinbar sein könnten. Grundlage dafür seien drei Gleichbehandlungs-Richtlinien der EU sowie die Europäische Konvention der Menschenrechte. Nun steht für die Klägerin Ludin der nächste Gang nach Karlsruhe vor das BVerfG an; vielleicht wird dann zusätzlich der Europäische Gerichtshof in Straßburg angerufen – und dann könnte sich bei gegensätzlichen Urteilsaussprüchen erneut das spannende juristische Problem auftun: Welche Rechtsprechung hat in Grundrechtsfragen in Deutschland Vorrang: die des BVerfGs oder die des EuGH?

Zum Schluss dieses Kapitels noch ein albernes Beispiel, das deutlich machen soll, dass der in mehreren Grundrechtsartikeln geregelte, den Staat verpflichtende Gleichbehandlungsgrundsatz im reinen Zivilrecht zwischen Privatpersonen nicht immer gilt, auch gar nicht immer gelten kann: Wenn ein Mann eine attraktive Frau durch eine Heiratsannonce kennen gelernt hat, so kann er nicht von ihr verlangen, dass sie ihn heiraten müsse, weil er der erste passable Bewerber gewesen und ihr wegen der Geltung des speziellen Gleichheitssatzes eine Differenzierung verboten sei. U.a. in diesem Bereich des Privatrechts kann Art. 3 GG keine Geltung beanspruchen. Da gilt die »Vertragsfreiheit« uneingeschränkt: Man kann sich aussuchen, wo man »Haussklave« sein, wen man als »Haussklaven« um sich haben möchte. Für die genaueren Bedingungen, unter denen man »Haussklave« oder frau »Haussklavin« sein möchte hingegen, gilt die »Vertragsfreiheit« in Eheverträgen nicht uneingeschränkt. Die Gerichte der USA scheinen da eine größere »Vertragsfreiheit« zu akzeptieren als bei uns, denn die Latino-Diva Jennifer Lopez wollte sich von ihrem Zukünftigen Ben Affleck per Ehevertrag vier Mal pro Woche Sex versprechen lassen und für jeden Seitensprung fünf Millionen Dollar. Ob solche Sex-Klauseln in Deutschland wirksam wären, ist umstritten. Der BGH hat bereits vor Jahren entschieden, selbst der „Gebrauch empfängnisverhütender Mittel“, mit denen einer Schwangerschaft und den damit verbundenen Unterhaltszahlungen im Falle des Scheiterns der Ehe von vornherein vorgebeugt werden sollte, sei „einer rechtsgeschäftlichen Regelung nicht zugänglich“.22 In Amerika scheint das mit der Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Zivilrecht anders zu sein. Da scheint eine staatliche Institution die Rechtsmacht zu haben, anordnen zu können, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz auch im Zivilrecht außerhalb des Monopolbereiches zwischen völlig willkürlichen Vertragspartnern zu gelten habe:

22

SPIEGEL 08.12.03

115 „Gleichberechtigung SAD New York – Steigen die Preise für Herrenhaarschnitte beim Friseur und für Oberhemden in der Reinigung jetzt auf Damen-Niveau? Die Stadt New York hat jedenfalls per Gesetz verboten, daß Frauen beim Haar-Stylisten und für die Säuberung ihrer Blusen mehr bezahlen müssen als Männer.“ (HH A 14.01.98) Was meinen Sie: Wurde da von dem Gesetzgeber gemäß dem dort wohl auch zum Tragen kommenden Gleichbehandlungsgebot wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend ungleich behandelt? Ich habe da so meine Zweifel: Hinsichtlich der Blusen vermag ich die Gleichbehandlung so zu sehen, aber wie wenige Frauen sind bei ihrem Friseur nach spätestens einer Viertelstunde wieder draußen, wie ich? Wenn allerdings eine Frau eine sportliche Kurzhaarfrisur trägt wie viele andere Männer außer mir, dann vermag ich ebenfalls keine Berechtigung für abzockende überhöhte Preise zu erkennen. Und noch ein »obiter dictum«: Ich würde als Arbeitgeber nicht gleichen Lohn für gleiche Arbeit an Männer und Frauen zahlen. Welcher Mann muss schon z.B. hinreißend schöne Spitzen-BHs, Nagellack, teure Dessous und Lippenstifte kaufen und rund fünffach so teure Friseurrechnungen bezahlen? Von den Kosten für die Anti-BabyPille und andere periodisch notwendige Aufwendungen fast zu schweigen. Ich finde, dass Frauen wegen ihres erhöhten »Renovierungsaufwandes«, der dann uns Männer verstohlen oder offen bewundernd hinschauen lässt, bei gleicher Arbeit einen »Frauenzuschlag« für »Kunst am Bau« bekommen müssten! Die in Art. 3 II GG angeordn ete Gleichber echtigung von Frau und Mann als Konkretis ierung des allgemein en Gleichhei tssatzes

1.3.2.2 Gleichberechtigungsproblematik 1.3.2.2.1 Die in Art. 3 II GG angeordnete Gleichberechtigung von Frau und Mann als Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes Nach der an dem letzten Beispiel für ein relativ unwichtiges juristisches Problemfeld exemplarisch aufgezeigten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 I GG nun zu dessen als Konkretisierung angesehenem Absatz 2. Der auf Vorschlag der Sozialdemokratin Selbert nach zwei Abstimmungsniederlagen doch noch in das GG gebrachte und bis 1994 ausschließlich so formulierte Art. 3 II GG "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." ist eine (zur stärkeren Betonung der immer noch nicht voll verwirklichten juristischen Gleichberechtigung der Frauen) der Neuformulierung unterliegende Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes für das spezielle Gebiet der rechtlichen Behandlung der beiden Geschlechter: Dem »kleinen Unterschied« soll unter der Geltung des Grundgesetzes grundsätzlich keine rechtliche Bedeutung mehr zukommen, obwohl es Unterschiede auch weiterhin geben wird: Ein Mann, der nur mit einem Mantel bekleidet ist und ab und zu »etwas« blicken lässt, kann gemäß „§ 183 StGB Exhibitionistische Handlungen (1) Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft.“ strafrechtlich verfolgt werden. Wenn aber Frauen nicht nur in tief ausgeschnittenen Kleidern ohne BH, sondern im Sommer 1999 vorzugsweise »slipless« rumliefen und auf Grund äußerst kurzer Kleidchen bewusst tiefe Einblicke nehmen ließen, dann war das in dem Sommer Zeitschriften zufolge eine von den USA auf Europa rüberschwappende Modewelle, die aber nicht strafbewehrt ist. Der Gesetzgeber mochte den Frauen nicht unter die Röcke kucken. Als aber die bauchfreie Mode und das Tragen der Tanga-Strings überhand nahmen, erließ 2004 in den USA ein Bundesstaat ein Gesetz gegen zu knappe Hüfthosen, aus denen die Unterwäsche ansatzweise hervorlugt. Ein anderer Bundesstaat folgte:

116 „Zu knappe Jeans – erstes Verbot? Washington – Tief sitzende Hosen werden im US-Bundesstaat Louisiana möglicherweise bald strafbar. Mehrere Abgeordnete wollen Hosen, die Slips herausragen lassen, per Gesetz verbieten. Geplante Strafe: 175 Dollar. (afp)“ (HH A 13.05.04) Also doch slippless: Dann spart man nicht nur das Geld für die ansonsten fällige Strafe. (Und weniger infizierend als ein zwischen den Schamlippen besonders tief einschneidender Tanga-String soll diese gewollt mangelhafte Be- oder besser: Entkleidung einer 2004 veröffentlichten medizinischen Untersuchung zufolge auch noch sein!) Aber nicht alle us-bundesstaatlichen Gesetzgeber waren so prüde wie die in Sachen Bekleidungsmoral vorpreschenden: „Tangas dürfen weiter blitzen Washington - Teenager im US-Staat Virginia dürfen ihre Hüfthosen weiter so tief tragen, daß sie den Blick auf Shorts und Tangas erlauben. Das Parlament wollte das, wie berichtet, wegen "Unzüchtigkeit" unter Strafe stellen (50 Dollar). Doch der Senat kippte den Entwurf. ap“ (HH A 12.02.05)

Die Männer der Königinnen von Großbritannien, Dänemark und die inzwischen verstorbenen Ehemänner der Königinnen der Niederlande sind in diesen Adelsstand erhobene Prinzen. Der französischstämmige dänische Prinzgemahl äußerte darum gegenüber Reportern mehrfach sein Unverständnis - und wohl auch ein bisschen seinen Unwillen: vielleicht auch, weil dänische Staatsrechtler seine Rolle im dänischen Staatsgefüge einmal als die eines „nichtexistierenden Gastes“ definiert hatten - darüber, dass eine Frau durch Heirat mit einem Regenten zur Kaiserin oder Königin wird, er und seine Leidensgenossen jedoch nur zu Prinzen ernannt worden seien. Aber in Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden gilt halt nicht das Grundgesetz. Aber auch dort gelten Antidiskriminierungsgesetze, wie einer anderen Zeitungsmeldung zu entnehmen ist: Mediziner sagt Jetzt können auch Männer schwanger werden SAD London - ... Für Lord Robert Winston (58), Professor an der Londoner Universitätsklinik Hammersmith Hospital, sind schwangere Männer keine Utopie mehr. Mit der von ihm entwickelten Methode ... werden Männer zu Müttern. ... Und so funktioniert es: ... Es gibt sogar schon Freiwillige, die sich dieser revolutionären Behandlung, die die Evolution der Menschheit auf den Kopf stellt, unterziehen wollen. ... Tim Hedgley, Direktor der britischen Gesellschaft für Fruchtbarkeitsbehandlungen, zeigte sich erfreut: ‘Das ist keineswegs pervers. Schon unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung wäre es nicht möglich, einen Mann daran zu hindern, so etwas zu tun – das wäre Diskriminierung.‘“ (HH A 22.02.99)

Trotz der eindeutigen Regelung im GG gibt es in unserer Gesellschaft Konservative, denen die ganze Richtung der Gleichberechtigung nicht passt. Damit ist nicht der Ehemann der folgenden Meldung gemeint: „Rotlichtposse Ehemann traf Frau im Bordell ddp Aachen – Dumm gelaufen: Einem 37-jährigen Aachener wird sein jüngster Bordellbesuch wohl in dauerhafter Erinnerung bleiben. Der Mann hatte ein einschlägiges Etablissement in der Kaiserstadt aufgesucht. Dabei traf er zu seiner großen Überraschung auf seine 30-jährige Ehefrau, die als Gelegenheits-Prostituierte ihr Haushaltsgeld aufbesserte. ...“ (HH A 26.05.01) Das kommt davon, wenn Mann zu knickerig ist und seine Frau zu knapp hält! Aber gemeint waren eben Konservative der nachfolgend zum Ausdruck kommenden (Un-)Geisteshaltung: „Konservative Der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, Rolf Hille, hat bekräftigt, daß eine

117 Unterordnung von Frauen unter ihre Ehemänner ‘von der Schöpfung her begründet‘ sei. Es bestehe ein ‘Gefälle‘ in der Rangordnung zwischen Mann und Frau. ...“ (HH A 05.01.96) Damit steht er nicht nur national, sondern auch international nicht allein: Im niederländischen Parlament gab es 2004 eine christliche Partei, in der Frauen qua Satzung keine öffentlichen Ämter übernehmen dürfen. Solche Leute können zur Begründung ihrer frauenfeindlichen Haltung zwar - für sie: ärgerlicherweise - auf kein diesbezügliches Jesus-Wort verweisen, da Jesus eine solche diffamierende Geisteshaltung nicht eigen war. Es wäre für sie natürlich am schönsten, da am »beweiskräftigsten«, wenn ein »Gotteswort« ihre verquere Argumentation stützen könnte! Doch in der sich durch das Fehlen eines »Gotteswortes« auftuenden Argumentationsnot helfen Bibelstellen mit Aussagen des Heidenapostels Paulus als Begründer des erst durch seine Missionsreisen über den jüdischen Kulturkreis hinausgreifenden Christentums als beginnende Weltreligion. Der nur in seiner Glaubensausrichtung, nicht aber in seiner sonstigen Geisteshaltung vom Judentum zum Christentum gewandelte Saulus verkündete und schrieb (laut älterer, inzwischen sprachlich ein wenig abgemilderter Bibelübersetzung ) als Paulus, die Weiber sollen den Männern „untertan sein, wie auch das Gesetz sagt“ (1. Korinther 14/34) – wobei unklar bleibt, ob der aus streng pharisäischer Familie stammende römische Bürger Saul/us das damals geltende römische Gesetz meinte, das dem „pater familias“ (Plural, da Vater der - ihm untergeordneten - Familien) als Familienoberhaupt absolute Gewalt über die seinem Willen und seiner Willkür unterstellten anderen Familienangehörigen, auch in den Familien seiner Nachkommen(!), einräumte, oder das jüdische Gesetz, von dem er das Christentum ja abgelöst hat. „Einem Weibe aber gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei“ (1. Timotheus 2/12). „Ich lasse euch aber wissen, dass Christus ist eines jeglichen Mannes Haupt; der Mann aber ist des Weibes Haupt ...“ (1. Korinther 11/3). „Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne. Und der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes Willen, sondern das Weib um des Mannes willen“ (1. Korinther 11/8 und 9), „denn Adam ist am ersten gemacht, darnach Eva. Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward verführt und hat die Übertretung eingeführt“ (1. Timotheus 2/13 und 14). Weil es in der Thora im 1. Buch Moses („Genesis“) in Kapitel 2 so steht, dass Gott als ersten Menschen Adam geschaffen habe, der Herr dann befand: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei“ (1. Moses 2/18), er unter dem Getier nichts Passendes fand und deswegen dem in tiefen Schlaf versetzten Adam eine Rippe entnahm und daraus als seine „Gehilfin“ Eva formte, wurde daraus Jahrtausende lang - und von einigen Unverbesserlichen bis in unsere heutige Zeit - eine rechtliche Minderwertigkeit der Frauen gegenüber den Männern abgeleitet! Diese kirchlich geprägte Haltung der Frauendiffamierung und die darauf fußende Jahrtausende lange Benachteiligung der Frauen hat in der christlichen Kirche eine sehr lange zölibatär veranlasste Tradition, wobei sich die Verfechter dieser unchristlichen Geisteshaltung, einige Versatzstücke – teilweise ohne Rücksicht auf den Zusammenhang oder nachfolgende Sätze zu berücksichtigen – als Scheinargument aus dem Bibeltext23 herausgreifen. Ranke-Heinemann weist in ihrem verdienstvollen Buch „Eunuchen für das Himmelreich - Katholische Kirche und Sexualität“ durch belegte Zitate nach, wie Frauen durch Kirchenlehrer diffamiert und der Bibeltext zu diesem Zweck teilweise verfälscht wurde. So wird die Frau Junia, von Paulus in Römer 16/7 als „berühmt unter den Aposteln“ charakterisiert, sogar in meinem von der Deutschen Bibelstiftung Stuttgart 1975 als auf der Übersetzung Martin Luthers fußender „Revidierter Text“ herausgegeben, in den Worten Ranke-Heinemanns „... durch transsexuelle Manipulation zu einem Mann namens Junias umfunktioniert. Aber die alte Kirche wußte es besser. Für Hieronymus und Chrysostomus († 407) z. B. ist es ganz selbstverständlich, daß Junia eine Frau war. Chrysostomus schreibt: »Was muß das für eine erleuchtete Tüchtigkeit dieser Frau gewesen sein, daß sie des Titels eines Apostels würdig erachtet wurde, ja sogar unter den Aposteln hervorragend war« (... [Belegstelle; der Autor]). Bis in das späte Mittelalter hinein gab es keinen einzigen Ausleger, der in Römer 16,7 einen Männernamen gesehen hätte (...). Aber in dem anhaltenden Frauenverdrängungsprozeß der Kirche ist dieser Frauenname inzwischen von den Männern vereinnahmt. Die Geschichte des Christentums ist auch eine Geschichte des fortschreitenden Totschweigens und Entmündigens der Frauen. Und wenn diese Entmündigung sich heute im christlichen Abendland nicht mehr fortsetzt, so nicht dank, sondern trotz der Kirche und schon gar nicht in der Kirche. Der Frauendiffamierung in der Kirche liegt die Idee zugrunde, daß Frauen dem Sakralen als etwas Unreines entgegenstehen. Frauen waren nach klerikaler Einschätzung Menschen zweiter Klasse. Clemens Alexandrinus († vor 215) schreibt: Bei der Frau »muß schon das Bewußtsein von dem eigenen Wesen

23

Vgl. dazu Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, insbesondere S. 131 ff

118 Schamgefühl hervorrufen« ...“24 Diese von Clemens postulierte Wesensschande der Frauen, die in der frühen christlichen Kirche in rechtliche Form gegossen wurde und sich dann wegen der christlichen Leitwerte Europas für die Frauen in Europa und der von Europa beeinflussten oder beherrschten Welt zu einer nicht nur kirchlichen, sondern auch staatlichen Leidkultur - bis zum Wahnsinn der abergläubischen Hexenverbrennungen - auslebte, die sich in der Bundesrepublik Deutschland über die Schaffung des Grundgesetzes hinaus bis zum 31.03.1953 in den zahlreichen offenen rechtlichen Benachteiligungen der Frauen niedergeschlagen hat – die über diese vom BVerfG gesetzte Datumsfrist hinaus noch Jahrzehnte weiterhin fortlebenden Benachteiligungen der Frauen, z.B. im Ehegattennamensrecht, sollen einen Augenblick unberücksichtigt bleiben -, wurde von christlichen Theologen, u.a. im von den fanatischen deutschen Dominikanern Institoris und Sprenger 1487 publizierten „Hexenhammer“, der sich als Kommentar der „Hexenbulle“ des Papstes Innozenz VIII. von 1484 verstand und als Anleitung für die Folterungen im Namen der Inquisition die Grundlage für die sadistischen und perversen Frauenverfolgungen der Zeit der Hexenverfolgungen bildete, als diffamierendstes, von Frauen weder biologisch noch theologisch entkräftbares Totschlagsargument damit begründet, dass Gott selbst das männliche Geschlecht ganz offensichtlich bevorzugt habe und damit die Bevorzugung der Männer gottgewollt sei, weil Gott, wie jeder gläubige Christ im Glaubensbekenntnis anerkennt, in Jesus als Mann habe wiedergeboren und leiden wollen, das auch so getan und dieser Art die Sünden der Welt auf sich genommen habe, um so die Menschheit von ihrer Erbsünde zu befreien. Der Mann sei der Frau ganz offensichtlich auf göttlichen Willen hin auch deswegen übergeordnet, weil Gott in Adam zunächst einen Mann geschaffen habe, für den er dann aus dessen Körper eine Gefährtin moduliert habe, damit sie ihm diene. Außerdem ergebe sich die Minderwertigkeit der Frau gegenüber dem Mann aus ihrer lateinischen Bezeichnung „femina“: »Das Wort femina nämlich kommt von fe und minus. Fe = fides, Glaube, minus = weniger, also femina = die weniger Glauben hat; ...«“25 Das letztere, jahrhundertelang nicht mit einem Augenzwinkern, sondern wirklich ernsthaft vorgebrachte Argument setzt allem die Dornenkrone auf. Es ist ein schönes Beispiel für einen diabolisch-sophistischen, schnöden juristischen Scheinbeweis, mit dem etwas zur Wahrung des äußeren Scheins zu rechtfertigen versucht wird, was keine innere Rechtfertigung besitzt und auch nie erlangen kann, aber aus nacktem Machtinteresse heraus trotzdem durchgesetzt werden soll: die Unterdrückung der Frauen durch in ihrem Urgrund ängstliche Männer, die vor der Weiblichkeit und der ihr innewohnenden Kraft erzittern! „Von allen zeitbedingten Anordnungen des Neuen Testaments hat die katholische Kirche diejenigen, die sich auf eine Minderstellung der Frau beziehen, am sorgfältigsten bewahrt und noch aufgestockt.“26 Als ein Beleg für die unbiblisch-repressive Haltung der katholischen Kirche unter vielen wird darauf verwiesen, dass die Synode von Elvira am Anfang des 4. Jahrhunderts bestimmte, Frauen dürften im eigenen Namen weder Briefe schreiben noch empfangen. „Frauen hatten in der Kirche nach dem Willen ihrer geistlichen Hirten still zu sein, so still, daß sie nur tonlos die Lippen bewegen durften. ... Auch im Osten, auf einer persischen Synode in Nisibis 485, verboten der Metropolit Barsamus und seine Bischöfe den Frauen das Betreten des Baptisteriums und das Zuschauen bei der Taufe, weil daraus Unzuchtvergehen und unerlaubte Heiraten entstanden seien. ... Frauen dürfen nicht in der Kirche singen, bestimmten die Synodalstatuten des hl. Bonifazius († 754)“ (die im Hinblick auf den Frauengesang in der katholischen Kirche erst von Pius XII. 1958 vorsichtig geöffnet wurden, wenn die Frauen außerhalb des dem Priester und seinen männlichen Helfern vorbehaltenen Presbyteriums oder der Altarschranke singen; es stehen halt keine in z.B. der Sixtinischen Kapelle noch zu Beginn des 20 Jahrhunderts eingesetzte Kastraten mehr für die Sopran- und Altstimmen zur Verfügung, da braucht man für manche kirchlichen Gesänge nun doch Frauen). Wurde in den katholischen Kirchen das Singverbot für Frauen in Erinnerung an die männermordenden (weiblichen) Sirenen und die Versuchung des Odysseus propagiert und ausgesprochen? Dieses Verbot wurde noch 1903 von Pius X. bekräftigt, weil die Sänger in der Kirche ein liturgisches Amt bekleiden.27 Der 263. Papst Johannes Paul II. hat 1980 in einer Instruktion mit dem Titel »Das unschätzbare Geschenk« angeordnet: „Frauen sind nicht die Funktionen eines Meßdieners gestattet.“28 „Nimmt man die Repressionen gegen die Frauen, ihre Zurückdrängung, Diffamierung und Verteufelung alles in allem, so bedeutet die ganze Kirchengeschichte eine einzige lange Kette männlicher bornierter Willkürherrschaft über die Frau.“29 Wenn es nicht das von Hitler mit dem Apostolischen Stuhl geschlossene Konkordat und in religiösen Belangen 24

ebenda S. 132 f ebenda S. 245 f 26 ebenda S. 135 27 ebenda S. 137 ff 28 Vgl. ebenda S. 139 29 ebenda S. 140 25

119

den Rückgriff auf die Weimarer Verfassung gäbe, wäre das alles in Deutschland nach meinem Dafürhalten ganz offensichtlich und ohne jede weitere juristische Argumentationsnotwendigkeit grundgesetzwidrig! Nun wird aber in Art. 140 GG bestimmt, dass einige genau genannte Artikel aus der Weimarer Verfassung (WV) Bestandteil des Grundgesetzes seien. Art. 140 GG ist wie ein "Mantel-Gesetz" zu sehen, das alles von ihm Umhüllte ohne (nochmalige) nähere Ausführung auch im Grundgesetz zur Geltung bringt. Deswegen gilt u.a. "Art. 137 III WV Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde." Da jedoch in der Bundesrepublik das Grundgesetz für alle gilt und in Art. 3 II 1 steht: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." habe ich keinerlei juristische Schwierigkeiten damit, eine solche, die Frauen diskriminierende päpstliche Anordnung und kirchliche Praxis trotz des über Art. 140 GG mit Rückgriff auf Art. 137 III WV zugestandenen Rechtes, die kirchlichen Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde zu verleihen, als grundgesetzwidrig anzunehmen, da durch päpstliche Anordnung und kirchliche Praxis das Grundrecht, in diesem Fall der Frauen, aus Art. 3 II 1 GG nicht gewahrt ist! Und Grundrechte sind die höchsten juristischen Normen in unserem Staat. Außerdem wurde durch die Übergangsregelung des Art. 117 I GG bestimmt, dass dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 II GG entgegenstehendes (niederrangiges) Recht bis zum 31.03.1953 angepasst zu sein habe. Da müsste die Bundesrepublik im Vatikan vorstellig werden, dass das Konkordat den Forderungen des Grundgesetzes angepasst werden müsste, weil es sonst wegen seines Grundrechtsverstoßes einseitig von der Bundesrepublik Deutschland als nichtig erklärt werden müsste. Aber dieses Rückgrat hat keine Bundesregierung! In der evangelischen Kirche gibt es von den zuständigen Gremien gewählte Bischöfinnen! Wie soll da bei solchen gegensätzlichen Auffassungen eine Ökumene zwischen Protestanten und Katholiken gelebt werden? Die von Ranke-Heinemann sehr eindringlich nachgewiesene kirchlich veranlasste und über fast zwei Jahrtausende erfolgte repressive Frauendiffamierung und dann darauf gegründete Entmündigung der Frauen hat sich selbstverständlich in den eineinhalb Jahrtausenden seiner Praktizierung an Sonn- und kirchlichen Festtagen, von denen es in früherer Zeit wesentlich mehr gab, auch in dem Bewusstsein der Männer, die die Gesetze machten, festgesetzt und zu der die Männer viele, viele Jahrhunderte lang bevorzugenden Gesetzgebung geführt! Wir sehen wieder einmal: Letztlich waren und sind Gesetze oft (auch) durch religiöses Bewusstsein gegründet, auch heute noch, gleichgültig, ob es sich um Abtreibungsregelungen, das Embryonenschutzgesetz oder ... handelt. Und mein Gerechtigkeitsempfinden packt die kalte Wut auf die die Frauen diffamiert habenden - und die, wie aus der vorstehenden Zeitungsnotiz über den Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz ersichtlich, die Frauen immer noch diffamierenden - Männer, wenn ich mir das Wissen erarbeite, dass die Sozialdemokratin Selbert bei der Schaffung des Grundgesetzes 1948/49 zwei Abstimmungsniederlagen hinnehmen musste, bevor die Männer - wenigstens mehrheitlich - nachgaben und im Grundgesetz stehen konnte: Art. 3 II GG "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Was »be-recht-igt(e)« die Männer zu einer dem Wortlaut entgegenstehenden, die Frauen benachteiligenden Haltung? Wie kann es sein, dass ein solcher Mann mit einer solchen, in den Jahren seines gesellschaftlichen „Aufstiegs“ bestimmt nicht verheimlichten, sondern sicher offensiv vertretenen „Denke“ auf Grund einer solchen Geisteshaltung an die Spitze des von ihm vertretenen Verbandes gewählt und Rolf Hille als Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz 1996, nach 50 Jahren der Geltung des Grundgesetzes, solche „bekräftigende“ Frauendiffamierung absondern konnte, ohne noch am selben Tag von seinem Amt zurücktreten zu müssen? Was tummelt sich da selbst in der evangelischen Kirche noch für ein an seit Jahrtausenden veraltetem Denken orientierter Verband und wagt es, heute noch mit solchen grundgesetzwidrigen Verlautbarungen an die bundesrepublikanische Öffentlichkeit zu treten? Eine Unterordnung von Frauen unter ihre Ehemänner sei „von der Schöpfung her begründet. Es bestehe ein Gefälle in der Rangordnung zwischen Mann und Frau“. KirchenMacho! Ich gebe allerdings auch zu, gleichermaßen Schwierigkeiten mit den religiös gebundenen Feministinnen zu

120

haben, die - in psychologisch nachvollziehbarer Überreaktion auf die Jahrtausende lang praktizierte Zurücksetzung - beten: „Vater und Mutter unser, ...“ und die „Heilige Geistin“ anrufen; was die katholische Kirche im Mai 2001 für ihren Bereich ausdrücklich verbot. Und selbst in den USA, wo man so sehr auf »political correctness« achtet und sie selbst im nicht-öffentlichen Bereich durch horrende Strafgelder auch erzwingen kann, werden aus übergeordneten Gesichtspunkten Abweichungen vom Grundsatz der Gleichberechtigung vorgenommen: „Der König hört nicht auf Frauen Washington – Saudische Vertretet haben im Vorfeld des US-Besuchs von Kronprinz Abdullah den Flughafen von Waco aufgefordert, Frauen aus dem Tower zu verbannen, damit das Flugzeug nicht von Frauen angesprochen wird. Der Bitte sei entsprochen worden. (afp)” (HH A 23.04.02)

Doch wenden wir uns wieder der Gleichberechtigungsproblematik des Grundgesetzes zu. "Neutrale Sprache ddp Bonn - Der Bundestag hat sich dafür ausgesprochen, geschlechtsspezifische Formulierungen in der Rechtssprache künftig zu vermeiden. Bezeichnungen wie Vertrauensmann oder Lehrherr sollen durch neutrale Begriffe ersetzt werden." (HH A 16.01.93) Und damit kann man sich schwer tun: Nebenwirkinnen Hamburg · 13. März · dpa · Die Bundesregierung will die Pharmaindustrie zwingen, die Gleichstellung von Mann und Frau auch bei der Reklame für Arzneimittel zu beachten. Mussten die Pillenhersteller den Verbrauchern bislang anraten, den "Arzt oder Apotheker" zu befragen, soll es künftig nach einem Bericht des Magazins Der Spiegel den "geschlechtergerechten" Hinweis geben: "Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage, holen Sie ärztlichen Rat ein und fragen Sie Ihre Apothekerin oder Ihren Apotheker." Arzneifirmen und Werbewirtschaft gefalle der neue Text überhaupt nicht, schreibt das Magazin: Der Warneffekt gehe verloren, wenn der Satz noch länger werde. Befürchtet werde zudem, Drogistinnen und Drogisten könnten ebenfalls verlangen, erwähnt zu werden. (FR 14.03.05)

Das kann man aber auch übertreiben und ins Groteske übersteigern. Dabei hat sich die Stadt Buchholz in der Nordheide hervorgetan und das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet: "Die Bürgermeisterin ist ein Mann Buchholz will künftig ausschließlich weibliche Amtstitel benutzen Die Stadt Buchholz schafft die männlichen Formen im Behörden-Deutsch ab. Die Ratsmitglieder beschlossen mit klarer Mehrheit, künftig nur noch die weiblichen Formen für Amtsbezeichnungen zu benutzen - zumindest in der Gemeindeverfassung. Bisher kamen in dem Schriftstück Frauen nicht vor. Bürgermeister, Ratsherr, Stadtdirektor, Beamter - in der Sprache der Satzung waren die Männer unter sich. In Zukunft fehlen sie. Von der niedersächsischen Landesregierung kam zuvor die Empfehlung, in Rechts- und Verwaltungsvorschriften beide Geschlechter zu benennen. So schlug Stadtdirektor Andreas Bendt in der Sitzung vom 22. November eine `Schrägstrich-Regelung' vor, also zum Beispiel `Beamter/Beamtin'. Doch dieser Vorschlag wurde von der CDU mit dem Argument, solche Schreibweisen seien zu umständlich und schwerfällig, abgelehnt. Daraufhin stellte der FDP-Ratsherr Jürgen Kempf den Antrag, künftig nur noch die rein weibliche Form in der Hauptsatzung zu verwenden. Von den 30 Ratsmitgliedern stimmten 24 dafür. Bürgermeister Joachim Schleif, der auf dem Papier nun `Bürgermeisterin' heißt, ist von dem Beschluß nicht begeistert, er stimmte dagegen: `Ich gehe nicht davon aus, daß weibliche Ratsmitglieder sich beleidigt fühlen, nur weil in der Satzung Ratsherr steht. Diese ganze Vokabeldiskussion halte ich nicht für sehr förderlich.' Dennoch unterschrieb er die Hauptsatzung: `Dagegen kann ich nichts machen, es war eine eindeutige Entscheidung.'

121

Die Frauenbeauftragte Martha Vogelsang wehrt sich gegen den Vorwurf, das Ganze sei ein Jux. Es sei ein Signal für alle Männer, sich einmal über die diskriminierende Behandlung von Frauen in der Sprache Gedanken zu machen. Derzeit wird die Hauptsatzung von der Kommunalaufsicht bei der Kreisverwaltung in Winsen juristisch überprüft. `Wir haben von denen aber telefonisch schon grünes Licht bekommen', sagte Rathaus-Sprecherin Ingrid Fischer. Wird das Schriftstück dann im `Amtsblatt für den Kreis Harburg' veröffentlicht, tritt die Verfassung offiziell in Kraft. Dann können Männer, die sich durch die neue Regelung eventuell diskriminiert fühlen, zumindest juristisch nichts mehr einwenden. ... (HH A 08.12.94)

Sicher haben auch Sie sich schon wiederholt über die »vermännlichte« Sprache geärgert, die Frauen sprachlich nicht ausreichend berücksichtigt - eine Spracheigentümlichkeit, die z.B. im sprachlich ausgesprochen machohaften Spanischen noch wesentlich ausgeprägter gegeben ist und manch kämpferische Frauen in Spanien und Hispano-Amerika in die Nähe zum (hoffentlich nur geistig bleibenden) Amok-Lauf treibt. Da ist mit mancher Maria oder Carmen ob dieser sprachlichen Benachteiligung der Frauen nicht mehr zu spaßen! Betrachten Sie es als (Ihnen möglicherweise nicht hinreichend erscheinenden) Ausgleich - und von mir als von meiner Mutter vor über 60 Jahren mit durchaus passablem Erfolg angelerntem „Frauenversteher“, der »Frauen« mag und den charmanten unter ihnen keinen Wunsch abschlagen kann, verabreichten Trost - , dass das Gesetz, wenn es eine strafbar handelnde Person nicht ganz allgemein als „Wer“, sondern nur noch ziemlich allgemein bezeichnet, immer nur von »dem alten Adam« spricht: Z.B. in § 211 StGB „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Mörder ist, wer ...“ oder in § 212 StGB „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“ Als wenn »Frauen« nicht töten oder gar morden würden! Sie machen es zwar seltener, aber auch, und dann bevorzugt lieber »weicher« und diskreter: mit Gift. Hoffentlich ist es mir mit diesem Hinweis gelungen, Sie ob der sprachlichen Ungerechtigkeit ein wenig getröstet zu haben. 1.3.2.2.2 Benachteiligung von Frauen unter der Geltung des GG seit 1949 im niederrangigeren Recht trotz Art. 3 II GG und allmähliche rechtliche Angleichung Die volle rechtliche Gleichstellung der Frauen ist aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch längst nicht verwirklicht, obwohl das GG seit 1949 in Kraft ist. Zwar ist es inzwischen nicht mehr so, dass das Vermögen einer Frau bei Heirat automatisch dem Ehemann zufällt, der Ehemann ein von seiner Ehefrau eingegangenes Arbeitsverhältnis nach eigenem Belieben kündigen kann, die Antibabypille ausschließlich verheirateten Frauen erst dann verschrieben wird, wenn zuvor die Einverständniserklärung ihres Ehemannes vorliegt, oder dass der Vater in Sachen der Kinder den sogenannten »Stichentscheid« hat: Konnten sich die beiden Eltern über ein Erziehungsproblem nicht einigen, so wurde gemacht, was Vatern sagte. (Das wurde natürlich nur rein rechtlich, nicht aber unbedingt tatsächlich so gehandhabt. Im privaten Bereich gilt eher das Wort von Oscar Wilde: „Männer, die behaupten, sie seien die uneingeschränkten Herren im Haus, lügen auch bei anderer Gelegenheit.“) Die juristische Benachteiligung der Frauen hatte selbstverständlich auch einen schönen juristischen Namen: „Letztentscheid des Vaters“. Diese gesetzliche Regelung des BGB ist erst 1959 durch BVerfGE 10/59 für grundgesetzwidrig erklärt worden, obwohl Art. 117 1 GG von Anfang an bestimmt hatte: Art. 117 GG „(1) Das dem Artikel 3 Abs. 2 entgegenstehende Recht bleibt bis zu seiner Anpassung an diese Bestimmung des Grundgesetzes in Kraft, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953. ..." Doch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik vollständig durchgesetzt war die Gleichberechtigung damit noch längst nicht. So wurden nach dem stringenten Beamtenrecht Frauen bis 1953, wenn sie heirateten, aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Bis dahin hatte z.B. eine Lehrerin „Fräulein“ zu bleiben – was auch für den privaten Lebenswandel galt: Es wurde zwar nicht als Einstellungsvoraussetzung überprüft, ob sie noch eine »virgo intacta« sei, aber wenn ruchbar wurde, dass ein Mann ihrem schönen Leib nach Meinung ihres Dienstherrn zu nahe gekommen war, dann konnte sie bei einem bei ihrem Dienstherrn Anstoß erregenden Lebenswandel disziplinarisch bestraft und notfalls sogar aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden! Es galt kein gleiches Recht für alle: Es ist mir nicht bekannt, dass ein Kollege, der den Lockungen des schönen Leibes einer Kollegin nicht hatte widerstehen können, disziplinarisch belangt, jedenfalls nicht aus dem

122

Benachteili gung von Frauen unter der Geltung des GG seit 1949 im niederrangi geren Recht trotz Art. 3 II GG

Beamtenverhältnis entfernt worden wäre! Und wenn es das gegeben haben sollte, dann bestimmt nicht so häufig wie bei Frauen. Im Bereich der Politik z.B. gab es erst im 4. Kabinett Adenauer mit Elisabeth Schwarzhaupt im November 1961 die erste Bundesministerin, nachdem die Frauen innerhalb der CDU lange in dieser Richtung ihre Forderung angemeldet hatten und mit Hinweis auf den übergroßen Frauenstimmenanteil der CDU bei Wahlen, der der CDU erst die überragenden Wahlerfolge beschert hatte, eine Repräsentantin mit Ministerrang einforderten. Das Bundesgesundheitsministerium erschien dann lange Jahre unbedeutend genug, die den Männern innerhalb der CDU mit der Zeit doch lästigen Quengeleien der Frauen mit einem Leckerli resignierend abwürgen zu können - wie Eltern seufzend nachgeben, wenn ihre Kleinen vor der Kasse des Supermarktes etwas von der dort ganz bewusst aufgebauten „Quengelware“ erbetteln. Es gibt immer noch genügend zu tun, wenn die Gesellschaft der Bundesrepublik ihre „human resources“ zum gesellschaftlichen Gesamtnutzen weiter ausschöpfen will: "Gesetz-Entwurf ein `Treppenwitz' `Der Entwurf des Gleichstellungsgesetzes von Frauenministerin Angela Merkel wird als Treppenwitz in die Frauengeschichte eingehen', sagt Christa Randzio-Plath, Vorsitzende der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Hier werde den Arbeitnehmerinnen 'mal wieder `die Möglichkeit vorgegaukelt, berufliche Chancen per Gesetz zu verbessern.' Randzio-Plath fordert Frauensenatorin Traute Müller auf, `dazu beizutragen, daß die Gleichberechtigung keine Leerformel bleibt.'" (Morgenpost 19.01.93) Nun soll eventuell in Art. 3 II 1 GG die Reihenfolge der Nennung der Geschlechter „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ geändert und es sollen dadurch die Frauen vor den Männern genannt werden, um dem Gesetzgeber das zwar schon seit langem grundgesetzlich aufgetragene aber noch immer nicht voll durchgesetzte Gleichberechtigungsgebot auch deklaratorisch vor Augen zu stellen. Welcher Kavalier sollte etwas dagegen haben? Außerdem ist Art. 3 II GG 1994 durch den Satz 2 erweitert worden: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Auf jeden Fall ist nun durch die vorstehende Formulierung in Art. 3 II 2 GG die Reihenfolge der Geschlechternennung im Gegensatz zu dessen Satz 1 umgestellt worden. Vielleicht bleibt es in Art. 3 II GG ja nun dabei: ein schlicht, ein kraus. In manchen Bundesländern sind zur Beseitigung der Benachteiligung von Frauen und zu ihrer prozentual angemessenen Repräsentation auch in höheren und Spitzenpositionen des Öffentlichen Dienstes spezielle Quotenregelungen durch Gesetze beschlossen worden. Bis zur Erfüllung der Quote seien Frauen bevorzugt bei Stellenbesetzungen zu berücksichtigen. Dagegen haben männliche Bewerber geklagt, wenn sie bei gleicher Befähigung „nur“ wegen ihres Geschlechts unterlegen waren. Lag ein Verstoß gegen die Euro-Richtlinie 76/20/EWG „zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen“ aus dem Jahr 1976 vor? Die 15 obersten (männlichen) europäischen Richter des Europäischen Gerichtshofes haben solche gesetzlichen Bestimmungen gekippt, in denen die Bevorzugung von Frauen „absolut und. unbedingt“ ohne eine Härtefallregelung für Männer vorgesehen gewesen waren, wie z.B. die rigide Regelung 1995 in Bremen. Das Grundrecht eines einzelnen auf Gleichbehandlung dürfe nicht verletzt werden, um zurückliegende Benachteiligungen einer Gruppe zu bekämpfen. War das Ziel der ausgleichend bevorzugenden Frauenförderung wie im Frauenförderungsgesetz von NRW im Gesetz nur als Absicht formuliert, die auch ein Abweichen zuließ, wurde die Bevorzugung von Frauen bis zur Erreichung einer angemessenen Repräsentanzquote als mit der EUGleichheitsrichtlinie vereinbar angesehen, wenn die objektive Beurteilung jedes Bewerbers gewährleistet und die Beförderung eines Mannes nicht von vornherein ausgeschlossen ist. In der nordrhein-westfälischen Bestimmung heißt es in einer Härteklausel, dass Frauen bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung bis zur Erreichung einer 50-%-Quote bevorzugt befördert werden sollen, solange sie unterrepräsentiert sind, falls nicht „in der Person eines Mitbewerbers liegende schwerwiegende Gründe überwiegen“. Welch ein ungeheurer Weg ist durch mühseligste Kämpfe der "Blaustrümpfe" gegen die ignorante Männerwelt schon zurückgelegt worden! Ein Blick zurück belegt das:

123

"Bestimmend Das Landrecht von 1794 machte den Ehemann zum gerichtlichen Vormund, `schuldig und befugt, die Person, die Ehre und das Vermögen seiner Frau in und außer Gerichten zu verteidigen'. Dasselbe Landrecht wies Mütter an: `Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet. Wie lange sie aber dem Kinde die Brust reichen solle, hängt von der Bestimmung des Vaters ab!" (HH A) Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1796 mit seinen zwei Teilen, 43 Titeln und rund 19.000 Paragraphen ist das erste moderne Gesetzbuch Deutschlands. Es galt (in weiten Teilen Deutschlands) bis zu der Einführung des BGB zum 01.01.1900.30 Bis dahin war ein Ehemann also »Vormund« seiner Frau, wie es bis vor kurzem die Eltern gegenüber ihren noch minderjährigen Kindern waren (nun sind sie „Sorgeberechtigte“) - oder es ein Amtsvormund gegenüber einem Geisteskranken ist. Wenn eine vor der Heirat schon volljährige Frau zunächst voll rechtsfähig gewesen war und durch die Heirat ihr nunmehriger Ehemann zu ihrem Vormund geworden ist, dann muss durch den Akt der Eheschließung zwangsläufig eine rechtliche Entmündigung der Frau eingetreten sein! Das kann auch ich als Mann empörend empfinden. Es gab keinen Grund für eine solche dümmliche zivilrechtliche Regelung außer reinem Machodenken! Und auch das Strafgesetz ordnete für eine Frau, die heiratete, einen erheblichen Rechtsverlust an: Vor dem Eingehen einer Ehe war eine Frau in ihrem sexuellen Selbstbestimmungsrecht durch Strafnormen vollständig geschützt, durch Eheschließung ging sie plötzlich eines Teiles dieses Schutzes verlustig. Durch das "Ja-Wort", das vor dem Standesbeamten und eventuell auch dem Pfarrer abgegeben worden war und sich nur auf den Willen zur Eheschließung bezog, soll eine »Nunmehr-Ehefrau« automatisch auch ihr Einverständnis zu Vergewaltigungen in der ehelichen Lebensgemeinschaft durch den »Nunmehr-Ehemann« gegeben haben, denn die Möglichkeit einer Vergewaltigung durch einen Ehemann wurde in § 177 StGB tatbestandlich ausgeschlossen. Durch diese Strafnorm war eine Frau ab Eheschließung nur noch gegen erzwungenen außerehelichen „Beischlaf“ geschützt. (Wenn der Ehemann der Täter war, wurde das außerhalb der Ehe als einschlägig angenommene Verbrechen der Vergewaltigung zu dem Vergehenstatbestand einer - sexuellen Nötigung herunterformuliert. Der BGH belehrte noch 1966 eine Ehefrau dahingehend, dass die Ehe die Gewährung des Geschlechtsverkehrs „in Zuneigung und Opferbereitschaft“ und „ohne Gleichgültigkeit und Widerwillen“ verlange - auch wenn die Ehe schon nicht mehr prickelnd war, die Frau ihren Mann inzwischen vielleicht schon hasste wie die Pest und ein Scheidungsverfahren lief. Natürlich war Gewalt gegenüber einer physisch meist Schwächeren nicht so ganz in Ordnung, aber als ein Verbrechen mochte es der Gesetzgeber nicht werten. Ein bisschen Gewalt gegenüber einer unwilligen Ehefrau wurde - unausgesprochen - vielleicht wie eine Art Notwehrrecht gegen die Verweigerung von „natürlicher und legitimer Befriedigung“ angesehen.) Erst 1995 bahnte sich nach über 20-jährigem Bemühen insbesondere der SPD in diesem Punkt eine Besserung an. Nach Rückzugsgefechten um die Ausgestaltung einer »Verzeih-Klausel«, mit der der durch eine Anzeige der vergewaltigten Ehefrau angeworfene Justizmotor vor Ausspruch eines Urteils "mit Freiheitsstrafe nicht unter 2 Jahren" noch wieder hätte abgewürgt werden können, wurde in einem Entwurf auch eine Vergewaltigung durch den Ehemann durch Streichung nur eines Wortes - „durch Gewalt ... zum außerehelichen Beischlaf nötigt“ unter Strafe gestellt. So einfach kann Rechtsgüterschutz sein; wenn Mann nur will! Inzwischen wurde „Vergewaltigung“ im Verlauf der parlamentarischen Beratung völlig umdefiniert: Unter Vergewaltigung versteht man jetzt nicht mehr nur die weitestgehende Einschränkung, eine Frau zum außerehelichen Beischlaf zu zwingen, auch nicht nur, eine Frau überhaupt zum Beischlaf zu zwingen, sondern erweiterte den Rechtsgüterschutz auf das unerlaubte Eindringen mit irgend etwas in den Körper eines anderen mit der Konsequenz, dass jetzt nicht nur von ihnen ungewollte »Fingerspiele« an Frauen durch diese Strafnorm miterfasst sind, sondern nunmehr auch Männer strafrechtlich relevant vergewaltigt werden können, wie es in Gefängnissen durch Analverkehr oder das Reinrammen von Gegenständen in den Anus ja schon öfters passiert war, ohne dass den männlichen Opfern wegen der bisherigen, die Männer ausschließenden Legaldefinition im vormaligen § 177 StGB der Rechtsgüterschutz des Vergewaltigungsparagraphen mit seiner Mindeststrafdrohung von zwei Jahren Freiheitsstrafe zur Seite gestanden hätte. „Fünf Jahre Haft für Vergewaltiger Itzehoe – Das Landgericht Itzehoe hat einen 17-Jährigen wegen Vergewaltigung und räuberischer Erpressung zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt. Er hatte in Heide zwei Jungen (13) ausgeraubt und in einen Müllcontainer gesperrt und einen von ihnen sexuell missbraucht. (dpa)“ (HH A 24.03.04) 30

In anderen Teilen Deutschlands galten bis zum 31.12.1899 andere Gesetze. In Thüringen und Anhalt wurde durch die Einführung des BGB der um 1224 geschaffene Sachsenspiegel abgelöst: Fast 700 Jahre Geltung des Sachsenspiegels in Teilen Deutschlands!

124

»Vergewaltigung« wird nicht in jeder Gesellschaft gleich gesehen, gleich definiert und rechtlich gleich gewertet. Als Beispiel dafür, dass die jeweilige Definition eines Straftatbestandes die Strafbarkeit in einer Weise begründet, wie wir sie nicht kennen, sei ein berühmter Fall aus Amerika angeführt, der bei uns nicht unter die Strafbestimmung einer „Vergewaltigung“ im Sinne des § 177 StGB gefallen wäre: VERBOTENE LIEBE Lehrerin und ihr Ex-Schüler träumen von Hochzeit Als 34-jährige Lehrerin hatte Mary Letourneau Sex mit einem Sechstklässler - und musste wegen Vergewaltigung hinter Gitter. Kaum ist sie wieder frei, hat das Gericht die lebenslange Kontaktsperre aufgehoben. Mit 21 ist Vili Fualauu immer noch verrückt nach Mary, und sie denkt sogar an ein weiteres gemeinsames Kind. Mary Letourneau ließ sich auf eine Affäre mit ihrem zwölfjährigen Schüler Vili Fualauu ein, und die ganze Welt schaute zu. Nach siebeneinhalb Jahren Haft wurde sie am letzten Donnerstag aus einem Frauengefängnis entlassen. Nur wenige Stunden später reichte der Anwalt von Fualauu einen Antrag auf Aufhebung des Kontaktverbotes ein, das 1997 das Gericht verhängt hatte. Die Entscheidung fiel schnell, die beiden dürfen wieder "uneingeschränkten Kontakt" miteinander haben. Die einzige Basis für die Anklage sei das Alter des Schülers gewesen, schrieb Anwalt Scott Stewart in seinem Antrag: "Mr. Fualauu ist jetzt 21 Jahre alt, er hat keine Angst vor Mary L. Letourneau." Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf einen Einspruch; es gebe "keine Rechtsbasis", das Kontaktverbot aufrecht zu erhalten. So sah es auch Linda Lau - dieselbe Richterin, die Letourneau zuvor verurteilt hatte. Aus der Beziehung zwischen Mary Letourneau, inzwischen 42, und Vili Fualauu entstanden zwei Töchter, die fünf und sieben Jahre alt sind. Letourneau hat vier weitere Kinder aus ihrer früheren Ehe. Die Affäre zwischen der Lehrerin und ihrem Schüler hatte in den neunziger Jahren weltweit für Schlagzeilen gesorgt und zu einem spektakulären Prozess geführt. 1997 wurde Letourneau zunächst wegen "Vergewaltigung eines Kindes in einem leichteren Fall" zu sechs Monaten Haft verurteilt. Nach ihrer Freilassung traf sie sich trotz Verbots sofort wieder mit dem Jungen - und nur einen Monat später wurden die beiden beim Sex im Auto erwischt. Die Lehrerin, im sechsten Monat schwanger, musste daraufhin abermals ins Gefängnis, wo sie eine Tochter zur Welt brachte. Er habe lange auf die Freilassung von Letourneau gewartet, sagte Fualauu dem Sender NBC: "Ich möchte sehen, wer sie ist und ob sie der gleiche Mensch ist, in den ich mich verliebt habe - und ob sie meine Gefühle erwidert. Wenn wir uns noch lieben, werden wir heiraten." Sich mit gleichaltrigen Frauen zu treffen, habe ihn nicht glücklich gemacht. Er habe alle Mädchen oder Frauen mit Mary verglichen und immer nur an sie gedacht, so Fualauu. Nun wolle er bis Ende des Monats herausfinden, ob die Beziehung eine Zukunft hat. Fualauu ist derzeit arbeitslos und lernt für den Abschluss an einer weiterführenden Schule. Mary Letourneau musste sich unmittelbar nach ihrer Haftentlassung als Triebtäterin bei den Behörden registrieren lassen. Sie hatte stets betont, es handele sich um eine romantische Beziehung, um wahre Liebe. Über ihre Zukunftspläne hat Letourneau bisher wenig verraten. Dem Sender Komo-TV sagte sie nur, ihr Hauptziel sei eine "Wiedervereinigung" ihrer Familie. Auch ein weiteres Kind mit Fualauu hält sie für möglich: "Wenn wir das Glück haben, eine Beziehung fortsetzen zu können, und wenn es das ist, was er will, dann würde ich es für ihn tun", sagte Letourneau in einem Interview noch vor ihrer Entlassung aus dem Gefängnis. Inzwischen wohnt sie bei einem Ehepaar in einem Haus in der Nähe von Seattle. Reporter setzten sich sogleich auf ihre Fährte. Der Medienrummel um das ungleiche Paar ist ohnedies ungebrochen, die moralische Bandbreite der öffentlichen Kommentare enorm - die einen bedauern Letourneau und Fualauu für ihre unglückliche, romantische Liebe, die anderen sehen die Beziehung ein schlichtes Verbrechen mit lebenslangen Folgen. So beschreibt die Kolumnistin Susan Payntner den Fall in der Zeitung "Seattle Post" als klassischen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung. Kapital schlagen können beide daraus allemal. Bereits während ihrer Haft hatte Letourneau gemeinsam mit Fualauu ein Buch veröffentlicht ("Einziges Verbrechen: Liebe"). Über die beiden entstanden auch eine Biographie ("If Loving You Is Wrong") sowie ein Fernsehfilm. Eine Hollywood-Verfilmung scheint angesichts der drehbuchtauglichen Geschichte ziemlich naheliegend. Die Kinderschutzorganisation "Team Amber Alert" hat die Filmindustrie bereits davor gewarnt: Amerika werde jeden Film boykottieren, wenn es um die Verherrlichung des Falles gehe, in dem

125

eine 35-jährige Frau einen zwölfjährigen Jungen verführe und später eine glücklich vereinigte Familie gezeigt werde. (Spiegel Online 10.08.04) 2005 haben die zu dem Zeitpunkt 37-Jährige und der 21-Jährige geheiratet. Ein anderes Beispiel für eine gesetzlich so definierte »Vergewaltigung«, das außerdem zeigt, dass es notwendig ist, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung eines Straftatbestandes sehr sorgfältig nach allen Seiten hin abwägen und möglichst alle denkbaren Fallvarianten im Blick haben muss, war der Presse zu entnehmen, als es vor dem BVerfG um die Rechtmäßigkeit der Auslieferung eines Deutschen an ein anderes EU-Land auf Grund eines dort ergangenen europäischen Haftbefehls ging. In der Anhörung fragte der Richter am BVerfG Udo da Fabio den Sachverständigen der Bundesregierung: "Wenn ein Deutscher im Kölner Karneval einer Holländerin einen Zungenkuss aufnötigt, gilt das in den Niederlanden als vollendete Vergewaltigung. Ist es richtig, dass ein Deutscher, der das nicht wusste, in den Niederlanden vor Gericht gestellt wird?" Die Antwort fiel ausweichend aus. Wenn man »Vergewaltigung« als ungewolltes In-denKörper-Eindringen definiert, dann werden davon nicht nur u.a. die in Altersheimen sich wiederholt ereignenden gravierenden Fälle erfasst, „97jährige von Heim-Mitarbeiter sexuell mißbraucht Köln Eine 97jährige Bewohnerin eines Seniorenheims in Köln ist von einem leitenden Mitarbeiter des Heims sexuell mißbraucht worden. Der 43jährige sei durch eine DNA-Probe überführt worden, berichtete die Kölner Polizei am Montag. Auf die Spur des Verbrechens war die Polizei gekommen, als bei einer routinemäßigen Untersuchung im Urin der alten Dame Spermien gefunden wurden. Der Gesundheitszustand der Seniorin ließ eine Befragung nicht zu. Eine Altenpflegerin gab dann den Hinweis auf den Stationsleiter, in dessen Obhut sich die Seniorin befand. Eine Speichelprobe des Tatverdächtigen zeigte, daß die DNA des 43jährigen mit dem genetischen Fingerabdruck der Spermien übereinstimmte, wie die Polizei mitteilte. AP“ (DIE WELT 19.04.05) sondern auch ein in Karnevalslaune aufgenötigter Zungenkuss. Aber dafür dann ebenfalls eine Mindeststrafe von zwei Jahren Freiheitsstrafe? 1.3.2.2.3 Art. 3 II GG und Ehenamensrecht Wie die Überschrift deutlich macht, geht es in diesem Kapitel nicht um das Recht der Vornamensgebung, das wesentlich mehr Freiräume lässt als das Recht der Ehenamensfindung. Im Bereich des Vornamensrechts können sich die Eltern in fast schrankenloser Willkür austoben – und ihr Kind hat dann ein Leben lang darunter zu leiden: das Vornamensrecht ist zu oft die Lieblingsspielwiese spinnert ausgelebter elterlicher Willkür! „Standesamt: Kinder dürfen Keanu-Neo, Pumuckl, Fanta und Gneisenauette heißen Eltern aus Halle haben vor einigen Tagen vom Standesamt die Erlaubnis bekommen, ihren Sohn Keanu-Neo zu nennen. Der Name ist zurückzuführen auf den Schauspieler Keanu Reeves, welcher im Film 'Matrix' 'Neo' darstellt. Doch es gibt weitere Namen, die Eltern ihren Kindern geben dürfen. Bei den Jungen sind es beispielsweise Pumuckel, Rasputin sowie Leonardo da Vinci Franz. Mädchen hingegen dürfen Fanta, Gneisenauette und Pepsi-Carola genannt werden. Auf der Liste der nicht erlaubten Namen für Jungen stehen unter anderem Atomfried, Bierstübl und Crazy Horse. Bei Mädchen wurden die Namen Nagina, Gift, Emma-Tiger sowie Pfefferminze verboten.“ (stern shortnews 08.02.05)

Früher bremsten Standesbeamte allzu willkürliche Vornamensfindungen und -gebungen ziemlich rigoros. Doch dann gestand das BVerfG den Eltern sehr weitgehende Rechte zu, sogar auf erfundene, selbst konstruierte Namen, wenn sie denn männlichen oder weiblichen Anklang haben. Allerdings bekräftigten die Verfassungsrichter am 20.02.2004, dass es Willkürschranken gebe: „Der Staat hat die Pflicht, das Kind als Grundrechtsträger vor verantwortungsloser Namenswahl durch die Eltern zu schützen.“ Das BVerfG schränkte außerdem das Recht der Eltern auf die Vergabe einer beliebigen Anzahl von Vornamen ein; es handelt sich ja schließlich nicht um Mitglieder des britischen Königshauses. Fünf Vornamen wurden für ausreichend erachtet,

126

als eine Mutter aus Nordrhein-Westfalen, die in ihrer Jugend offensichtlich zu viele Indianergeschichten gelesen hatte, ihrem Kind die zwölf Vornamen geben wollte: Chenekwahow Tecumseh Migiskau Kioma Ernesto Inti Prithibi Pathar Chajara Majim Henriko Alesandro. Art. 3 II GG Im Gegensatz zu der fast schrankenlosen Namensgebungsfreiheit im Vornamensrecht ist in Deutschland im und Ehenamensrecht - im Gegensatz zu den entsprechenden gesetzlichen Regelungen in anderen Staaten wie z.B. Ehenamens Großbritannien, wo die Eheleute bei der Eheschließung völlig frei einen Ehenamen wählen können, der sogar recht

keinem der bisher geführten Nachnamen entsprechen muss - die Wahl des Ehenamens seit dem Ende des 18.Jahrhunderts wesentlich reglementierter; bis dahin brauchten die Eheleute in Deutschland keinen gemeinsamen Ehenamen zu führen und ihre Kinder nicht diesen (nicht vorhandenen) Ehenamen zu übernehmen, so dass Harry alias Heinrich Heine (* 1797) mit dem Nachnamen seiner Mutter einen anderen Nachnamen führte als seine Brüder, die den Nachnamen ihres Vaters angenommen hatten. Das deutsche Ehenamensrecht ist ein anderes Beispiel für die bis in unsere Tage gültig gewesene Ungleichbehandlung der Frauen durch den Bundesgesetzgeber, sprich die (männliche) Mehrheit der Parlamentsabgeordneten. Das Ehenamensrecht war wegen seiner rigiden Reglementierung bis zu seiner vom BVerfG in mehreren Entscheidungen angeordneten jetzigen relativen Wahlfreiheit auf den jeweiligen Etappen der gesetzlichen Neuregelung aus ideologischen Gründen und auf Grund des starken Einflusses der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände sehr umkämpft. In der aktuellen Diskussion war die x-te erneute Neuregelung des Ehenamensrechts, bei dessen Neufassung auch in der vor dem Erlass des Verfassungsgerichtsurteils gültigen, schon mehrfach geänderten Form des „§ 1355 BGB (1) Die Ehegatten führen einen gemeinsamen Familiennamen (Ehenamen). (2) Zum Ehenamen können die Ehegatten bei der Eheschließung durch Erklärung gegenüber dem Standesbeamten den Geburtsnamen des Mannes oder den Geburtsnamen der Frau bestimmen. Treffen sie keine Bestimmung, so ist Ehename der Geburtsname des Mannes. Geburtsname ist der Name, der in die Geburtsurkunde der Verlobten zur Zeit der Eheschließung einzutragen ist. ..."

bisher von dem in Art. 3 II GG geregelten Diskriminierungsverbot keine ausreichende Notiz genommen worden war. "Urteil zum Namensrecht - Ein Richter sagt: Ein Stück des Obrigkeitsstaates ist abgeschafft Von Christian Bommarius Ohne das Bundesverfassungsgericht wäre die Ehe vermutlich noch immer Männersache. Die Zerstörung des Leitbildes von der Hausfrauenehe, in der die Frau die Schlüsselgewalt, der Mann jedoch die Bankvollmacht hat - die Realisierung also des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebots ist vom Bonner Gesetzgeber immer wieder verschleppt, erst vom Karlsruher Gericht vorangetrieben worden. In keinem anderen Bereich wird dies deutlicher als im Ehenamensrecht. Seit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs 189631 galt auf unterschiedliche Weise: Der Name des Mannes hat Vorrang, die Frau in der Regel das Nachsehen. Obwohl seit 1949 in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) verbindlich vorgeschrieben, hat sich die Gleichberechtigung auf diesem Gebiet erst jetzt mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durchgesetzt. Die Diskussion um das Ehenamensrecht spiegelt die Geschichte der Diskriminierung und der einsetzenden Emanzipation der Frau. Von 1896 bis zum Erlaß des Gleichberechtigungsgesetzes vom 18. Juni 1957 erhielt die Frau bei der Eheschließung automatisch den Namen des Mannes. Doch auch die neue Regelung - die nur nach ungeduldigem Drängeln der Karlsruher Richter zustande kam - wollte von einer vollständigen Gleichstellung der Frau nichts wissen. Die Frauen bekamen lediglich das Recht, ihren Mädchennamen dem gemeinsamen Familiennamen anzufügen. Erst 21 Jahre später stellte das Bundesverfassungsgericht am 31. Mai 1978 fest, daß auch das Gleichberechtigungsgesetz mit dieser Regelung gegen Artikel 3 Absatz 2 verstieß. Doch schon kurz vor diesem Verdikt hatte sich der Bonner Gesetzgeber zu einer Reform des Ehenamensrechts aufgeschwungen. Dieses erhielt die Fassung, die nunmehr wiederum vom 31

Das BGB ist 1896 im Reichstag verabschiedet worden und dann, nach 4jähriger Vorlauf- und Vorbereitungszeit, zum 01.01.1900 in Kraft getreten.

127

Karlsruher Gericht für verfassungswidrig erklärt wurde: Zwar war die Wahl des Ehenamens den Partnern freigestellt, doch sollte stets dann der Name des Mannes dazu werden, wenn die Gatten keine Bestimmung trafen. Auf vielen tausend Seiten haben - überwiegend männliche - Juristen diese Benachteiligung der Frauen mit angeblich soziologischen Unterschieden gerechtfertigt. Vor allem die geringere Berufstätigkeit der Frauen war herangezogen worden, um `objektive funktionale Unterschiede zwischen den Geschlechtern' zu begründen. Das hieß im Klartext: Der Name zählt nur im Berufsleben - und dort stehen vor allem Männer. Ganze elf Seiten benötigten die Richter (nur), um diesen juristischen `Nominalismusstreit' zu entscheiden. Zwar seien tatsächlich weniger Frauen als Männer berufstätig, erkannten sie, doch das beruhe wohl eher auf einer `traditionell typischen Arbeitsteilung', die das Grundgesetz `gerade nicht verfestigen will'. Auch die geringere Präsenz von Frauen in höheren beruflichen Positionen sei `teilweise selbst das Ergebnis ungerechtfertigter Benachteiligung'. Alles in allem - es gibt keinen Grund, warum der Name der Frau im Fall der Ehe hinter dem des Mannes zurückstehen sollte. Die Karlsruher Entscheidung ist nicht nur ein Triumph der Frauen, sondern auch ein Erfolg der Hartnäckigkeit des Tübinger Amtsrichters Udo Hochschild. Hätte er nicht die verfassungswidrige Benachteiligung im Ehenamensrecht erkannt und zwei Fälle dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt, wären gewiß noch Jahre bis zur Entscheidung vergangen. So aber konnte Hochschild schon 41 Jahre nach Einführung der Gleichberechtigung von Mann und Frau feststellen: `Mit dieser Entscheidung wurde ein Stück obrigkeitsstaatlicher Bevormundung abgeschafft.'" (HH A 15.03.91) Der Tübinger Amtsrichter konnte auf Antrag einer Kieferorthopädin, die sich gegen den gesetzlichen Zwang gewehrt hatte, den Namen ihres Mannes vollständig oder zumindest hinter dem Bindestrich zu übernehmen, so verdienstvoll rechtsfortbildend tätig werden, weil durch Art. 100 I GG „Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich ... um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. ..." und dem darauf fußenden § 13 Nr. 11 BVerfGG das sogenannte "konkrete Normenkontrollverfahren" eröffnet ist. Hätte der Amtsrichter die zwei Sachen nicht vorgelegt, hätte das BVerfG nicht seine die Verfassung zur Geltung bringenden Entscheidungen fällen und die grundgesetzwidrigen rechtlich tieferrangigen weil einfachgesetzlichen, mit einfacher parlamentarischer Mehrheit änderbaren Regelungen des BGB und seiner Nebengesetze wegen Verstoßes gegen die höherrangige Norm des GG verwerfen können, denn das BVerfG hat nicht die Möglichkeit, analog den Strafverfolgungsbehörden bei ihm bekannt werdenden Verfassungsverstößen eine Sache von sich aus zu verfolgen, an sich zu ziehen und für Abhilfe zu sorgen. Es muss warten, bis es angerufen wird und dann die Vereinbarkeit der mit dem Rechtsmittel angegriffenen niederrangigeren mit unserer obersten rechtlichen Norm, den im GG getroffenen Bestimmungen, prüfen. (Ein anderes Rangverhältnis rechtlicher Normen ist in Art. 31 GG: "Bundesrecht bricht Landesrecht“ geregelt. Ein solcher Normenkonflikt, z.B. bezüglich der in der hessischen Verfassung trotz der letzten, 2002 in Kraft getretenen Verfassungsänderung in Artikel 21 I 2 noch immer nicht gänzlich getilgten Erwähnung der Todesstrafe, bedarf nach der in Art. 31 GG getroffenen eindeutigen Regelung nicht mehr der Klärung durch das BVerfG.) Nun war der Gesetzgeber gefordert, ein neues »Ehenamen-Recht« zu verabschieden. "Die Männer verzögern das neue Namensrecht Von ULRIKE BRENDLIN Bonn - Mit Nachdruck drängt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) darauf, daß das von ihrem Ministerium entworfene neue Namensrecht nun rasch in den zuständigen Bundestagsausschüssen beraten wird. `Ich habe den Rechtsausschuß gebeten, er möge den Gesetzentwurf gleich Anfang des Jahres auf seine Tagesordnung setzen', sagte die Ministerin dem Hamburger Abendblatt. Bislang aber verzögern die Männer in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Verabschiedung des neuen Namensrechts. Sie ließen erst kürzlich die Beratung im Ausschuß für Frauen und Jugend absetzen.

128

Ebenso wie die FDP wollen auch die Frauen der CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion den Gesetzentwurf unverändert lassen. `Demzufolge dürfen beide Eheleute nach der Heirat ihren jeweiligen Geburtsnamen weiterführen', sagte die Justizministerin. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diesen Vorschlag gebe es nicht: `Denn das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber ein weites Ermessen eingeräumt.' Der Gesetzentwurf des Justizministeriums sieht weiter vor: Bei der Geburt eines Kindes muß sich das Ehepaar über dessen Familiennamen verständigen. Können sie sich nicht einigen, bekommt das Kind beide Namen, also den der Mutter und den des Vaters. Über die Reihenfolge des Doppelnamens soll der Standesbeamte durch Los entscheiden. Gegen diese `Willkür' regt sich - wie es heißt - bei den männlichen Unions-Abgeordneten `erheblicher Widerstand'. Das bisherige Namensrecht, das den Geburtsnamen des Mannes als gemeinsamen Familiennamen eindeutig bevorzugte, war vom Bundesverfassungsgericht am 5. März 1991 für unvereinbar mit dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes erklärt worden. Bereits der erste Entwurf für ein neues Namensrecht war von Unions-Seite heftig kritisiert worden, weil er auf den Zwang zum gemeinsamen Namen verzichtete. Danach wurde die Vorlage in ihre jetzige Form gebracht: Die Formulierung, Eheleute `können' einen gemeinsamen Familiennamen tragen, wurde in `sollen' geändert. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger geht nunmehr davon aus, `daß der Entwurf in den Ausschüssen zügig beraten wird und alsbald in Kraft treten kann. Der Rechtssicherheit wäre damit ein großer Dienst erwiesen.'" (HH A 02.01.93) Man hätte ja ein bisschen über den Zaun blicken können - so etwas weitet den geistigen Horizont -, wie partnerschaftlich andere Länder das Problem gelöst haben. Und ich bin sicher, dass das auch in den Expertenanhörungen zur Sprache gebracht worden sein wird. Wir bringen uns auf den im Ausschuss sicher erarbeiteten Sachstand durch (auszugsweise) Lektüre der nächsten beiden Zeitungsartikel: "Namensrecht in Europa: Um eine Nasenlänge voraus Das Bundesverfassungsgericht hatte das deutsche Namensrecht vor zwei Jahren als patriarchalisch und unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz gerügt. ... Um so erstaunlicher muten die Argumente an, erlaubt man sich einen Blick auf das Namensrecht in den anderen Staaten Europas: Er nämlich zeigt, daß - was bei uns jetzt angekündigt ist - fast überall schon Praxis ist. Und das selbst in Ländern, deren Standard in Sachen Gleichberechtigung von deutscher Seite gemeinhin als unterentwickelt wahrgenommen wird. Daß in Skandinavien jeder Ehepartner seinen Geburtsnamen behalten, ebenso aber auch einen gemeinsamen Ehenamen wählen kann, mag noch niemanden sonderlich verwundern, zumal sich der Norden Europas immer schon besonderer Progressivität rühmte. Daß aber auch die Südländer Deutschland in puncto Namensrecht voraus sind, dürfte erstaunen: Rechtlich gilt in Frankreich ebenso wie in Griechenland, Portugal und Spanien das Trennungsprinzip, d.h., die Eheschließung bleibt ohne Auswirkung auf die Nachnamen der Beteiligten. Im praktischen Leben bleibt dies jedoch dem Beobachter zumeist verborgen: Kraft Gewohnheitsrecht nämlich ist es `Madame Boucher', der Gattin von `Monseur Grande', gestattet, sich in der Gesellschaft `Madame Grande' zu nennen - und damit allen deutlich zu bekunden, daß sie eben nicht bloß eine `Lebensabschnittsgefährtin', sondern die gesetzlich angetraute Ehepartnerin ist. Was die Tatsache, daß sie vor dem Gesetz und möglicherweise auch etwa am Arbeitsplatz weiter unter ihrem Mädchennamen firmiert, keinesfalls berührt. Die Alternative, zwischen dem Trennungsprinzip und einem gemeinsamen Familiennamen wählen zu können, gab und gibt es selbst in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, dort also, wo der Staat in jeden Bereich reglementierend eingreift. Eine Ausnahme bildete die DDR: Hier galt es, sich für einen gemeinsamen Nachnamen - den des Mannes oder der Frau - zu entscheiden. ..." (Das Parlament 07.05.93) "In der vergangenen Woche hat der Bundestag das neue Namensrecht verabschiedet. Die Chance zum Neubeginn wurde verspielt. Im Namen der Bürokratie Von Christoph J. Partsch ... Das jetzt vom Bundestag verabschiedete Namensrechtsänderungsgesetz erfüllt nur das Minimum

129

dessen, was das Verfassungsgericht forderte. Die im April ausgetüftelte Koalitionsabsprache bleibt selbst hinter dem ursprünglichen Regierungsentwurf weit zurück. Der hatte noch die Bildung von echten Doppelnamen vorgesehen, die als Ehenamen daher auch auf die Kinder übergehen konnten. Doch diese Doppelnamen waren der Koalition nicht geheuer. Sie malte bereits das Schreckgespenst des Vierernamens in der nachfolgenden Generation an die Wand - ein Schreckgespenst, mit dem im übrigen Spanier und Portugiesen schon seit Jahrhunderten problemlos leben. Die Spanier etwa lassen sich im täglichen Leben mit ihrem ersten Namen anreden, während ihr Ehename aus je einem Namensteil der Elterndoppelnamen zusammengesetzt wird. Auf Visitenkarten und Briefumschlägen führen viele aber auch Vierernamen. Neuerdings dürfen die Spanier sogar wählen, welcher Teil des Vaternamens und welcher Teil des Mutternamens zum neuen Kindesnamen zusammengefügt wird. ... So gibt es in Dänemark die Möglichkeit, den nicht übernommenen Namen als Mittelnamen zu erhalten; in den USA wird er oft zum neuen Vornamen. ... Das Wall Street Journal machte sich denn auch über die deutsche Namensbürokratie lustig: Selbst Hillary Rodham Clinton dürfte in Deutschland nicht so heißen. ... In Preußen wurde ein fester Familienname erst 1816 eingeführt - zur besseren Erfassung für die frisch eingeführte Wehrpflicht. Davor konnte man sich tatsächlich nennen wie man wollte. ... Die jetzt beschworene Tradition des Namensrechts entstand erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur Jahrhundertwende - und mit den Gesetzen zur Namensänderung der Nazizeit. ... 1938 verboten die Nazis, den Namen der Frau als Kindesnamen zu wählen. Nur wenn der Familienname ausstarb oder ein Hof übernommen wurde, gestatteten sie eine Ausnahme. Namensänderungen durften nur noch auf wichtigen Grund hin erfolgen, etwa wenn der Vor- oder Familienname jüdisch oder slawisch klang, der Namensträger aber `arisch' war. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Bestimmung über die jüdischen Namen schamhaft gestrichen, alle anderen Traditionen aber 1957 übernommen. ... Der erzwungene, von allen Familienmitgliedern getragene, aus dem Mannesnamen gebildete Familienname stigmatisiert nichteheliche Kinder oder solche aus geschiedenen Ehen, die aus achtbaren Gründen ihren Namen fortführen wollen. Der Dichter Heinrich Heine nannte sich nach seiner Mutter, der Bruder nach dem Vater. Auch dieses ist heute nicht mehr möglich und soll es nach dem neuen Gesetz auch nicht werden. Völlig widersinnig werden dann aber die Kinder verschiedener Staatsangehöriger behandelt. So zwang der Bundesgerichtshof 1990 ein deutsch-spanisches Ehepaar, ihrem dritten Kind einen anderen Familiennamen zu geben, als dessen älteren Geschwistern, obwohl alle drei in Spanien geboren worden waren. Die Rechtsprechung habe sich geändert, so stellte das Gericht lapidar fest, es sei nunmehr deutsches Namensrecht auf das Kind anzuwenden. Ob den Deutschen doch noch wieder mehr Freiheit, etwa bei der Vornamensbildung oder in Form des Doppelnamens zugetraut wird, darf bezweifelt werden. Daß echte Doppelnamen einer eigenständigeren Rolle der Frau eher gerecht werden, daß sie sich im Ausland seit Jahrhunderten bewährt haben, ja daß selbst die Germanen sie kannten, wird im Namen obskurer Traditionen und Ordnungsprinzipien beiseite gewischt. ..." (Die Zeit 05.11.93)32 Es war also in dem zuständigen Parlamentsausschuss ein neues, das Diskriminierungsverbot des Bundesverfassungsgerichts achtendes Ehenamensrecht zu entwickeln. Die Bandbreite dafür war, wie die vorstehenden Artikel zeigen, sehr groß. Doch so etwas geht nicht nüchtern, nicht ohne ideologische Grabenkämpfe ab. Als Lehrstück, wie ein Gesetz entsteht, wird der Artikel aus FR 17.09.93 wiedergegeben: "Frau Zimmerfrau - eine Groteske mit viel Schall und Rauch Seit zweieinhalb Jahren tobt in Bonn der Kampf um den Ehenamen, zuweilen über die Grenze der Lächerlichkeit hinaus Von Charima Reinhardt (Bonn) ... Vor zweieinhalb Jahren, am 5. März 1991, hat das Bundesverfassungsgericht das seit dem Ehereformgesetz 1976 geltende Namensrecht für unvereinbar mit dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes erklärt, weil im Zweifel der Name des Mannes zum Zuge kam. Seitdem tobt in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages ein erbitterter, bisweilen grotesker Streit um ein neues Gesetz, das die derzeit geltende Übergangsregelung des Verfassungsgerichts ablösen soll. ... 32

Die in dem Artikel angesprochene Befürchtung hinsichtlich einer Vierernamensregelung kann – wie das spanische Beispiel zeigt, wo »nur« der erste Vater- und der erste Muttername zur Nachnamensbildung für die Kinder verwendet werden – leicht ausgeräumt werden. Es muss nicht zu einer solchen, von einigen als Schreckgespenst ausgemalten, massierten Namensteilanhäufung kommen.

130

Bereits am 24. Juli 1991 legt das FDP-geführte Justizministerium einen Gesetzentwurf vor. Doch dessen Inhalt erregt konservative Gemüter derart, daß sie das `Ende der Familie' nahen sehen. Nachgerade erschüttert reagiert die Union im Rechtsausschuß des Bundestages auf die in ihren Augen allzu liberale Auslegung des Verfassungsgerichtsurteils im zu beratenden Entwurf: Mann und Frau können nach der Heirat den jeweils eigenen Namen beibehalten. Das darf nach Meinung der Union nicht sein. Paare sollen sich gefälligst auf einen Ehenamen verständigen, sonst muß der Standesbeamte die Eheschließung verweigern, empfehlen Konservative allen Ernstes. `Wer sich nicht auf einen gemeinsamen Namen einigen kann, braucht eigentlich gar nicht erst zu heiraten', findet der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hermann Freiherr von Stetten immer noch. `Wir hätten am liebsten im Gesetz drinstehen gehabt, daß Eheleute einen gemeinsamen Familiennamen haben müssen.' Zum Glück scheitert die Union an sich selbst. Monatelang zermartern sich Unionspolitiker das Hirn, wie ein gemeinsamer Familienname auch dann hinzukriegen ist, wenn das Paar selbst sich nicht einigen kann. CDU-Familienministerin Rönsch schlägt vor, der Standesbeamte soll entscheiden. Die FDP wirft ihr daraufhin ein `antiquiertes Eheverständnis' vor, wenn sie den Ehenamen durch `autoritäre Fremdbestimmung' regeln wolle. Folgende weitere Vorschläge werden ernsthaft geprüft: Der ältere des Paares bestimmt den Ehenamen. Das wird als unzumutbar für die in der Regel jüngeren Frauen verworfen. Der an einem geraden Tag geborene Partner entscheidet. Aber was, wenn beide an einem ungeraden Tag geboren sind? Die alphabetische Reihenfolge ist ausschlaggebend. Doch dann, so die Befürchtung, stirbt irgendwann der letzte Buchstabe des Alphabets in der Namensgebung aus, und alle heißen Adam. Das Los entscheidet. Aber wie? Würfeln? Kegeln? Streichholz ziehen? Weniger ernst gemeinte Vorschläge lauten: Preis-Schafkopf oder Elfmeterschießen. `Irgendwie war das alles ziemlich lächerlich', gesteht CDU-Mann von Stetten. ... Die (Union) sieht besonders dann Probleme, wenn ein Ehepartner sich scheiden läßt, erneut heiratet und den alten Ehenamen auf die neue Ehe überträgt: `Das darf nicht sein, daß der geschiedene Ehename auf das corpus delicti, nämlich den Scheidungsgrund übertragen werden kann', empört sich von Stetten stellvertretend für seine Fraktionskollegen. `Es geht doch nicht, daß der Gehörnte seinem eigenen Namen begegnet', schickt er hinterher. Dem offensichtlich in diesem Punkt nicht ganz einsichtigen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, seinem Parteifreund Horst Eylmann, versucht von Stetten die ganze Tragweite an einem Beispiel zu verdeutlichen: `Stell dir vor, deine Frau läßt sich wegen eines Studenten, mit dem sie ein Verhältnis hat, von dir scheiden, und der nimmt dann bei einer Heirat mit ihr deinen Namen an!' Die Sache mit der Übernahme des Namens aus einer geschiedenen Ehe hat einen weiteren Haken: Der deutsche Adel befürchtet eine wundersame Vermehrung von Adelstiteln. Daß eine geschiedene Baronin den Titel auf einen popeligen Herrn Meier übertragen kann, muß verhindert werden! Gehörnte und Adelige können aufatmen: Im Falle einer Wiederheirat muß der oder die Geschiedene den Namen aus der Altehe aufgeben. ..." Die wichtigsten Ergebnisse der auf Grund der vielen divergierenden Interessen teilweise erbittert geführten Auseinandersetzung über das bis 2005 geltende Namensrecht gibt nachfolgend der zusammenfassende Artikel wieder: "Namensrecht geändert Eheleute müssen künftig nicht mehr einen gemeinsamen Familiennamen als Ehenamen führen. Sie können demnach nach der Heirat ihre jeweiligen Namen beibehalten. Treffen sie eine Bestimmung über den Familiennamen, so können sie nur jeweils einen der jeweiligen Geburtsnamen zum Ehenamen wählen. Geschiedene oder verwitwete Ehegatten können demnach einen in einer Vorehe ‘erheirateten‘ Namen nicht zum Ehenamen in einer neuen Ehe bestimmen. ... Das Gesetz sieht darüber hinaus vor, daß die Bestimmung eines Ehenamens bis zum Ablauf von fünf Jahren nach der Eheschließung nachgeholt werden kann. Eine Kombination beider Namen mit dem Resultat eines Doppel- oder Mehrfachnamens ist nicht möglich. Bestimmen die Ehegatten einen gemeinsamen Ehenamen, kann der `verlierende Teil' seinen Geburtsnamen oder den aktuell geführten Namen dem Ehenamen voranstellen oder anfügen. Besteht der hinzuzufügende Name aus mehreren Namen, muß er sich nach dem Gesetz für einen entscheiden. Eheliche Kinder sollen den Ehenamen der Eltern als Geburtsnamen erhalten. Führen die Eltern keinen Ehenamen und können sie sich über den Familiennamen des Kindes binnen eines Monats nach der Geburt nicht einigen, muß das Vormundschaftsgericht das Bestimmungsrecht einem Elternteil übertragen." (Das Parlament

131

03.12.93) Es wurde vergessen hinzuzufügen: Übt der Elternteil, dem vom Vormundschaftsgericht die Bestimmung des Geburtsnamens des Kindes übertragen wurde, dieses Recht nicht binnen eines Monats aus, so wird nach Ablauf der Frist der Name dieses Ehegatten automatisch zum Geburtsnamen des Kindes. Eltern, die sich nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen konnten oder wollten und ihren Kinder die Addition ihrer beiden Nachnamen zukommen lassen wollten, klagten mit Hilfe des Amtsgerichts gegen diese Regelung des Namensrechts vor dem BVerfG. Das AG hatte in dem geltenden Namensrecht eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Kindes und des Elternrechts in solchen Fällen für möglich gehalten. „Den Eltern müsse die Möglichkeit gegeben werden, die Verwandtschaft ihres Kindes zu beiden Elternteilen mit Hilfe des Namens zu dokumentieren.“ Ein nachvollziehbares Argument. Das BVerfG sah das aber anders. Es befürchtet »Namensketten« und entschied darum am 30.01.02: Der Gesetzgeber habe das Namensrecht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise geregelt. Nach dieser Regelung seien Doppelnamen für Kinder aus den beiden Namen der Eltern ausgeschlossen. Durch Namensketten würde der Nachname seinen Sinn als „identifikationsstiftender Bezugspunkt“ verlieren. Die spanische Lösung, dass jedes Kind den ersten Nachnamen des Vaters und der Mutter als neuen Doppelnamen erhalte und so die Herkunftslinien im Namen erhalten bleiben, wurde nicht zugelassen. Wir sehen an dem vorstehenden Beispiel, dass das GG als oberste staatliche Norm - eventuell erst unter Zuhilfenahme des BVerfGs als "Wächter des Grundgesetzes" - selbst den Gesetzgeber, das Bundesparlament (konkret: die Parlamentsmehrheit der Regierungspartei oder der Regierungskoalition) zu einem bestimmten, an den im GG getroffenen Wertentscheidungen, Regelungen und ihrer Interpretation durch das BVerfG ausgerichteten gesetzgeberischen Verhalten zwingen kann. Das BVerfG kann sogar mit seiner in § 31 II 1 BVerfGG "In den Fällen des § 13 Nr. 6, 11, 12 und 14 hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft." geregelten »Verwerfungskompetenz mit Gesetzeskraft« von der Legislative beschlossene Gesetze verbieten. (Das große Bevölkerungsteile aufwühlendste Urteil in dieser Hinsicht war bisher das am 25.02.75 ausgesprochene Verbot der - von der Parlamentsmehrheit unter Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates beschlossenen - Fristenregelung im Bereich des § 218 StGB.) In dem die Entscheidung des BVerfGs auslösenden Fall des Ehenamensrechts, dessen Prüfung nach Vorlage durch den Tübinger Amtsrichter vom BVerfG im Zuge eines konkreten Normenkontrollverfahrens nach § 13 Nr. 11 BVerfGG vorgenommen worden ist, ist die trotz mehrfacher Änderungen die Frauen bis zuletzt immer noch diskriminierende Regelung des § 1355 BGB auch gegen den Widerstand konservativer Abgeordneter abgeschafft worden. "Künftig kann man anhand des Familiennamens nicht mehr zwischen verheirateten und unverheirateten Paaren unterscheiden. Denn jetzt dürfen nicht nur Männer ihren Mädchennamen behalten." (Aus dem ‘Gießener Anzeiger', aufgespießt in den ‘Fundsachen' des STERN vom 12.03.92.) Das ist eine Auswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 I GG in seiner auf den kleinen Unterschied abzielenden Konkretisierung in Art 3 II GG. Erstaunlich ist, dass bei den jahrelangen Beratungen der Änderung des Ehenamensrechts eine solche Panne oder ist es vielleicht doch keine, sondern eine gewollte diskriminierende Entscheidung? -, wie aus der nachfolgenden Pressenotiz ersichtlich, möglich war: „Namenswirrwarr Mehrere Elternpaare haben beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingereicht, weil ihre Kinder unterschiedliche Nachnamen tragen müssen. Hintergrund: Seit einem 1991 in Kraft getretenen Gesetz dürfen Ehepaare einen Doppelnamen führen, mithin auch ihre Kinder: Das 1994 geänderte Gesetz bestimmte, daß weitere Kinder entweder den Namen des Vaters oder der Mutter tragen. Der eineinhalbjährige Julian aus Freiburg heißt beispielsweise Rößler - nach dem Namen der Mutter, seine vierjährige Schwester Melanie dagegen Rößler-Weis. Manche Kinder haben überhaupt keinen Nachnamen, etwa der einjährige Jasper aus Tübingen. Eine Geburtsurkunde kann nicht

132

ausgestellt werden - die Eltern streiten sich mit dem Vormundschaftsgericht über den Nachnamen. Bundesweit sind schätzungsweise 1000 Kinder vom Namenswirrwarr betroffen.“ (STERN 03.04.96) Mir fallen viele gute pädagogische, aber auch juristische Gründe ein, Kindern zu ermöglichen, so zu heißen, wie ihre Geschwister. Hoffentlich vermag auch das BVerfG in der momentanen gesetzlichen Regelung einen Grundgesetzverstoß zu erkennen, wenn schon der Gesetzgeber zu blöd dazu ist!

Zum Abschluss der in Deutschland bis 2005 gültig gewesenen gesetzlichen Regelung einige statistische Werte über die Auswirkung der Änderung des Ehenamensrechts: Zehn Jahre nach der Liberalisierung des Ehenamensrechts entschieden sich im Jahr 2000 noch immer 80 % der Paare auf dem Standesamt für den Namen des Mannes, 4 % wählten den der Frau und 16 % behielten ihren Geburtsnamen bei. Aber nicht allen Frauen wird der Name des Mannes als Ehename genehmigt: Eine Dame aus Mühlhausen hatte im Frühjahr 01 im amerikanischen Reno den Indianer Ed Walkinstik-Man-Alone geheiratet, so dass ihr neuer Familienname zu deutsch: „das Hermelin, das alleine läuft“, heißt. Trotz erfolgtem Namenseintrag im Pass machte das Standesamt neun Monate später einen Rückzieher, um die rechtliche Zulässigkeit überprüfen zu lassen. Als Begründung wurde angegeben, dass es sich um einen Eigennamen handle, der erfunden sein könne. Und so etwas dürfe in Deutschland kein Familienname sein. Nun hat das Familiengericht zu entscheiden. Und damit wir nicht vor der neuen gesetzlichen Regelung des Namenrechts in Ehrfurcht erstarren und die nunmehr getroffene Regelung zwingend als der Weisheit letzten Schluss ansehen, sollten wir zum Abschluss dieses Punktes noch einen kurzen Blick über den Zaun zu zwei europäischen Nachbarn werfen, ohne dass wir deren jeweilige Regelung anstreben müssten. Aber ein Blick über den Zaun auf andere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten weitet den gedanklichen Horizont: „Menschlich gesehen ... Kristjan Kr istj ansso n ist der Sohn des isländischen Kapitäns Kristjan Oskarsson und verbrachte die ersten Jahre seines Lebens auf Frachtschiffen. Kristjansson ist kein Künstlername, sondern Brauch: Der Nachname von Kindern wird in Island aus dem Vornamen des Vaters abgeleitet. ...“ (HH Abendblatt 17.02.00) Und in Spanien, das war in den Zeitungsartikeln zuvor nicht ganz klar herausgekommen, gilt das Trennungsprinzip derart, dass eine Frau auch nach der Heirat ihre beiden Nachnamen behält, von denen der erste vom Vater, der zweite von der Mutter ererbt wurde. Entsprechend erhalten die gemeinsamen Kinder als ersten Nachnamen den ersten Nachnamen des Vaters und als zweiten Nachnamen den ersten Nachnamen der Mutter. Halbgeschwister können demzufolge nur dann den gleichen Namen haben, wenn rein zufällig bei Wiederverheiratung die jeweiligen Mütter und die Väter den gleichen ersten Nachnamen haben. Früher war das auch in Deutschland selbst bei vollbürtigen Geschwistern vielleicht unüblich, aber rechtlich nicht unmöglich. So nannten sich (im 19. Jahrhundert) in der Familie von Heinrich Heine die Kinder teils nach der Mutter, teils nach dem Vater – ohne dass dadurch das deutsche Rechtssystem zusammengebrochen oder der Untergang der deutschen Rechtskultur eingeläutet worden wäre. Dieses geschichtliche Beispiel der Ehenamensbildung in Deutschland als von den damaligen männlichen Gesetzgebern ganz selbstverständlich, fast mit naturrechtlicher Unabdingbarkeit beanspruchtes (Vor-)Recht, ausschließlich den Mannesnamen als Ehenamen weiterzugeben, zeigt sehr schön, dass man keineswegs bestehende rechtliche Regelungen in einem nach dem – teils unerfindlichen - Ratschluss des Gesetzgebers dann eintretenden Denkverbot fraglos hinzunehmen hätte. Der Papst kann auf Grund des zu seiner Machterhaltung ausgedachten und beinahe 2000 Jahre nach der Gründung des Stuhles Petri erst 1870 in das katholische Kirchenrecht eingeführten Unfehlbarkeitsdogmas nach dem Motto handeln: „Roma locuta, causa finita!“33 Dieses Motto kann aber nicht für staatliche Rechtschöpfung in einer Demokratie gelten – was zu sein die römisch-katholische Kirche auch nie beansprucht hat! Gesetze sind keine Glaubensdogmen! Sie verpflichten uns nicht unter Androhung von Höllenqualen, das für richtig zu halten, was sich eine relativ zufällige Zusammensetzung eines Gesetzgebungsorgans ausgedacht hat. Ein Blick auf rechtliche Regelungen gleicher gesellschaftlicher Problemfelder in anderen Ländern bewahrt vor geistiger Einseitigkeit, denn er zeigt, dass es durchaus auch anders gehen könnte, in anderen Ländern - oftmals durchaus mindestens genau so gut - auch anders geht. Irgendwann getroffene gesetzliche Regelungen sind nicht eo ipso sakrosankt, nicht unabdingbar 33

„Rom (= der Papst) hat gesprochen, damit ist die Rechtssache (letztgültig) entschieden.“

133

geschweige denn eo ipso »gerecht«, nur weil irgendwann ein Rechtssatz geschaffen wurde. (Das wird später noch durch Verweis auf die Nazi-Unrechts-Gesetzgebung exemplarisch verdeutlicht.) Es lohnt sich durchaus, bei sich einstellendem rechtlichen Unbehagen eine als anstößig empfundene rechtliche Regelung auf ihren – an welcher »rechtlichen Elle« auch immer zu messenden - Gerechtigkeitsgehalt hin zu hinterfragen! Und das tat das BVerfG bei nächst sich bietender Gelegenheit. Doch bevor Sie den nächsten Zeitungsartikel lesen, sollten Sie noch einmal drei Seiten zurückblättern und an Hand des Artikels aus der FR vom 17.09.93 nachlesen, was der Gesetzgeber – insbesondere in der Person des CDU-Abgeordneten von Stetten - sich bei der Neuregelung des Ehenamensrechts 1993 vorstellen konnte – und was nicht: Keine Weiterreichung des angeheirateten Ehenamens an einen neuen Ehepartner, insbesondere dann nicht, wenn es sich um einen Adelsnamen handelt. Und nun die Entscheidung des BVerfGs 2004: „Neue Ehe im Namen des Ex-Partners Urteil: Geschiedene dürfen erheirateten Namen weitergeben. Wird Ex-Minister Scharping jetzt Graf? Karlsruhe - Geschiedene dürfen ’erheiratete’ Namen aus früheren Ehen künftig auch dem neuen Partner geben, wenn sie einen gemeinsamen Familiennamen wählen. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erklärte die bisherige Regelung für verfassungswidrig, wonach als gemeinsamer Name nur die Geburtsnamen der Partner möglich sind (Az.: 1 BvR 193/97). In der Begründung verwiesen die Richter auf die Persönlichkeitsrechte und auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Folge: Der Gesetzgeber muss bis 31. März 2005 eine Neuregelung schaffen, aber auch für zurückliegende Fälle Änderungen möglich machen, wie das Gericht erklärte. In dem zu Grunde liegenden Fall hatte die Designerin Elke Arora Verfassungsbeschwerde eingereicht, weil sie nach ihrer Heirat 1993 ihren Namen nicht an ihren neuen Mann weitergeben durfte. Arora hatte geltend gemacht, dass sie ihren Namen bereits seit 35 Jahren trage und er ihre Identität bedeute. Standesamt und ein Kammergericht hatten den Wunsch abgelehnt. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries erklärte in Berlin, die Regierung werde dem Auftrag aus Karlsruhe nachkommen. Das Ministerium hatte vor dem Urteil für die Beibehaltung des bisherigen Rechts plädiert - und unter anderem mit dem Schutzbedürfnis der Namensgeber aus einer Vorehe argumentiert. Die Bundesrichter sahen dies anders: Auch ein bei der Heirat angenommener Ehename sei ein eigener und nicht etwa nur ein ’geliehener’ Name. Wenn ein Partner nach der Scheidung den alten Ehenamen behalte, ihn aber in einer neuen Ehe nicht auch zum Familiennamen machen dürfe, komme das einem Entzug des Namensschutzes gleich. ’Ein Recht auf Namensexklusivität enthält die Verfassung nicht’, urteilten die Richter. Zudem habe sich die bisherige Regelung einseitig zu Gunsten des Mannes ausgewirkt, der seinen Geburtsnamen als Ehenamen beibehalten durfte. Ausdrücklich wiesen die Richter Bedenken über eine Missbrauchsgefahr als ’nicht ausreichend’ zurück. Weder die Nutzung ’besonders schöner Namen’ oder von Adelsnamen seien missbräuchlich. Das Justizministerium hatte unter anderem vor Scheinehen gewarnt. Das Urteil betrifft auch die Ehe des ehemaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping (56), der sich nun Graf Pilati nennen könnte, obwohl seine Frau diesen Namen selbst durch Heirat erworben hat. Kristina Gräfin Pilati (55) stellte gestern aber klar, dass dies nie zur Diskussion gestanden habe. ap/dpa“ (HHA 19. Feb 2004) Das Schutzbedürfnis eines Namensgebers aus einer Vorehe wird also geringer gewertet als das sich auch in dem neuen Namen manifestierende Persönlichkeitsrecht des geschiedenen Ehepartners. Die Argumentationskette des BVerfGs lautete: Der Name sei ein Ausdruck der Identität eines Menschen. Die Identität eines Menschen münde in sein Persönlichkeitsrecht. Auch ein neu erheirateter Name könne zu der nun neuen Identität so untrennbar dazugehören, dass sich daraus eine neue Persönlichkeit bilde, die bei einer Ehescheidung nicht aufgegeben werden müsse. Auch diese neue Persönlichkeit unterliege dem grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrecht, so dass der erheiratete Name bei einer erneuten Eheschließung nicht aufgegeben werden müsse, sondern an den neuen Ehepartner weitergegeben werden könne. Die Bundesverfassungsrichter sahen zudem das Gleichbehandlungsgebot deswegen verletzt, weil der erheiratete Name nach geltendem Recht zwar nicht an neue Ehepartner weitergegeben werden konnte, dafür aber durchaus an Kinder mit dem neuen oder anderen Partner weitergegeben werden kann. Das Gericht wertete die bisherige Regelung auch als Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung, da vor allem Frauen bei der Heirat ihren Geburtsnamen aufgeben. Nach bisherigem Recht waren sie bei einer neuen Eheschließung gezwungen, ihren Namen erneut zu ändern - während ihr Exmann eine neue Frau unter seinem gewohnten Namen heiraten

134

konnte. All diese Gesichtspunkte führten dazu, dass das BVerfG die vom Bundesgesetzgeber nach langwierigen Erörterungen 10 Jahre zuvor getroffene Entscheidung als einen Verfassungsverstoß wertete. Da dem Gesetzgeber bei der Abfassung der Gesetze ein Ermessensspielraum zusteht, den das BVerfG dem Parlament nicht einengen darf, wurde darauf verzichtet, an Stelle des Gesetzgebers eine verfassungskonforme Neuregelung zu verkünden. Es wurde aber – aus schlechten Erfahrungen gewitzigt – dem Deutschen Bundestag eine Frist von einem Jahr zur Erledigung der ihm von unseren obersten Richtern oktroyierten Hausaufgabe gesetzt. „Ehepartner bekommt Namen ’geschenkt’ Gesetz: Geschiedene dürfen angeheirateten Namen mit in die neue Ehe bringen Von Wolfgang Janisch Karlsruhe - Der Bundestag hat ein weiteres Kapitel bei der Liberalisierung des Namensrechts abgeschlossen - eine Geschichte, bei der es letztlich um die Gleichberechtigung von Frau und Mann geht. Fortan gilt: Geschiedene, die wieder heiraten, dürfen den angeheirateten Nachnamen des ExPartners auch zum gemeinsamen Familiennamen in der neuen Ehe machen. Und wer bereits in zweiter Ehe verheiratet ist, kann die neue Möglichkeit der Namenswahl nachholen und innerhalb eines Jahres von der Neuregelung Gebrauch machen. Der Bundestag verabschiedete jetzt ein entsprechendes Gesetz und setzte damit ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts um. Vor dem Bundesrat ist es nicht zustimmungspflichtig. Mit der Neuregelung ist nun klargestellt, daß der angeheiratete Name nicht nur ’geliehen’, sondern ’geschenkt’ wird. Das Verfassungsgericht formulierte es so: ’Er ist Teil und Ausdruck der eigenen Persönlichkeit’ geworden. Die Konsequenzen dürften den Adelsverbänden mißfallen, die im Vorfeld vor Titelmißbrauch gewarnt hatten, vor allem aber den verlassenen Ehemännern. Läßt sich nämlich die angeheiratete Frau Meier scheiden, dann darf sie nicht nur "seinen" Nachnamen mitnehmen; sie darf ihn auch, wenn sie wieder heiratet, an den Rivalen ihres Ex-Mannes weitergeben, der dann ebenfalls Meier hieße. Auch Freunde des Doppelnamens profitieren von dem Gesetz. Heiratet Frau Müller-Schulze nach der Scheidung von Herrn Schulze erneut, dann darf der neue Gatte auch Müller-Schulze heißen. Seinen bisherigen Namen muß er aber aufgeben, denn das Gesetz untersagt die Bildung dreigliedriger Ungetüme. Außerdem gilt die Novelle für eingetragene schwule oder lesbische Partnerschaften. Die bisherige Regelung, wonach Geschiedene nur ihren Geburtsnamen an den neuen Ehepartner weitergeben dürfen, war im Februar von den Karlsruher Richtern für verfassungswidrig erklärt worden. Damit beseitigten sie eine faktische Benachteiligung der Frauen: Denn Eheleute steht es zwar längst frei, ihren oder seinen Namen zu wählen, beide zu behalten oder sich für eine Bindestrich-Lösung zu entscheiden. In der Praxis setzen sich aber immer noch die Männer durch. Laut Untersuchungen tragen in etwa vier Fünftel der Fälle Paare einen gemeinsamen Namen, der vom Mann stammt. Der damals in Karlsruhe entschiedene Fall illustriert die Folgen der alten Regelung besonders deutlich. Die Beschwerdeführerin, eine international erfolgreiche Designerin, hatte ihren Namen zwar seit ihrer ersten Heirat im Jahr 1968 mehr als die Hälfte ihres Lebens geführt. Um in der neuen Ehe einen gemeinsamen Nachnamen führen zu können, hätte sie ihn dennoch aufgeben müssen - es sei denn, sie hätte den oftmals ungeliebten, weil sperrigen Doppelnamen in Kauf genommen. Das alte Namensrecht war seit jeher patriarchalisch geprägt. 1896 bestimmte das Bürgerliche Gesetzbuch, daß die Frau mit der Eheschließung nach dem Manne zu heißen habe. 1957 durfte sie immerhin ihren Geburtsnamen per Bindestrich anfügen. Und ab 1976 durften sich die Eheleute einen der beiden Namen aussuchen - wobei der Mann allerdings im Streitfall den Vorrang behielt. Diese Regelung kippte das Bundesverfassungsgericht 1991, und seither gilt freie Namenswahl. Aber nur in vier Prozent der Fälle machen Paare den Geburtsnamen der Frau zum Familiennamen. Heiratet Frau Müller-Schulze nach der Scheidung von Herrn Schulze erneut, darf der neue Gatte auch Müller-Schulze heißen. Nur dreigliedrige Namensungetüme bleiben weiterhin verboten.“ (HH A 13.11.04)

135

"Schwang erschaftsu rlaub" und der Gleichhei tssatz des Art. 3 II GG

1.3.2.2.4 »Schwangerschaftsurlaub« und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 II GG Wenden wir das über die grundgesetzlich geforderte Gleichbehandlung von Mann und Frau bisher Gelernte einmal in einer einfachen Überlegung an: Wie ist es, wenn ein werdender Vater - vielleicht an Stelle seiner Frau, weil ihn das alles mehr mitnimmt als sie - »Schwangerschaftsurlaub« haben möchte, weil nicht nur seine Frau, sondern auch er Familienzuwachs erwartet? Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, "wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich" zu behandeln. Da es nun einmal so ist, dass bestimmungsgemäß grundsätzlich Frauen die Kinder gebären (teilweise müssen: an moslemischen Frauen in Bosnien-Herzegowina wiederholt bis mindestens zur erwarteten Befruchtung begangene Massenvergewaltigungen mit Geburtszwang durch freiheitsberaubende Inhaftierung bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat, damit eine Abtreibung nicht mehr möglich ist), kann der entnervte Vater keinen Schwangerschaftsurlaub erhalten. Der Schwangerschaftsurlaub ist nur zum Austragen der Schwangerschaft vorgesehen - das ist keine sachfremde Differenzierung - und kann von Männern nur im extremsten Ausnahmefall beansprucht werden: "Mutterschutz afp Manila - Edwin Bayron (32) erhält 45 Tage Mutterschaftsurlaub wie eine weibliche Angestellte. Das erklärte das Ministerium in Manila. Der Hermaphrodit `Carlo' ließ sich 1988 operieren, um Kinder zu bekommen. Er ist im siebten Monat schwanger." (HH A 05.06.92)

Erziehung surlaub und Gleichhei tssatz des Art. 3 II GG

1.3.2.2.5 Erziehungsurlaub und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 II GG Und wie ist es mit dem halben Jahr Erziehungsurlaub nach der Geburt? Weil idealtypisch beide Eltern die Erziehung gemeinsam und einverständlich wahrnehmen sollen, dürfen sie sich den gesetzlich zugestandenen Gesamt-Erziehungsurlaub völlig nach eigenen Vorstellungen einteilen, auch wenn verschiedene Arbeitgeber betroffen sind. Jedes Elternteil kann wie bisher - in Absprache mit dem Ehepartner – den Urlaub ganz für sich allein beanspruchen; der andere Ehepartner arbeitet dann voll weiter. Die Eltern können sich den Erziehungsurlaub aber auch nach eigenem Belieben in einer ihnen genehmen Stückelung aufteilen. Nach einer Anfang 2000 geplanten Gesetzesänderung sollen Eltern den Erziehungsurlaub bald auch gemeinsam nehmen dürfen. 1.3.2.2.6 »Mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte, insbesondere des Gleichheitssatzes, im Arbeitsrecht Es wäre ein zum Schadensersatz verpflichtender Verstoß gegen die Grundrechte, wenn ein Arbeitgeber (noch immer) so dumm wäre, einer Bewerberin zu schreiben, dass ihre Bewerbung um die ausgeschriebene Stelle von ihm trotz gleichwertiger oder sogar besserer Qualifikation nur deswegen abgelehnt werde, weil sie eine Frau sei. Da kämen dann doch die im ersten Abschnitt der Verfassung normierten Grundrechte, die vorrangig den Staat verpflichten, sich aus der Privatsphäre des Bürgers herauszuhalten, auch zwischen Privatleuten diskriminierungshemmend in “mittelbarer Drittwirkung“ zum Tragen. Deswegen werden solche Absagen von Arbeitgebern inzwischen natürlich geschickter formuliert. Die Geltung des Grundgesetzes spricht sich ja auch unter den konservativsten Arbeitgebern herum. Dafür sorgen u.a. die an Art. 3 GG ausgerichteten Urteile des BAG. So war das BAG u.a. angerufen worden, weil (bis 1955) die Entlohnung von Frauen mit der sogenannten »Frauenabschlagsklausel« verbunden war. Nach dieser Klausel erhielten Frauen einen um ca. 25 % geringeren Lohn als mit gleicher Tätigkeit beschäftigte Männer, weil ihre Beschäftigung mit einem größeren Kostenrisiko, z.B. durch den Eintritt einer Schwangerschaft, behaftet ist. Mit dieser Argumentation wurde den Frauen von den Arbeitgebern »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« verweigert, obwohl viele Frauen die einzigen Ernährer ihrer Restfamilie waren, nachdem ihre Männer ihr Leben im Zweiten Weltkrieg gelassen hatten. Dieser ungerechten Entlohnungspraxis versuchte das BAG mit seinem Urteil vom 15.01.55 einen Riegel vorzuschieben, indem es sie für verfassungswidrig erklärte. In den Urteilsgründen heißt es u.a.:

136

»Mittelba re Drittwirk ung« des Gleichhei tssatzes im Arbeitsre cht

„Der Gleichberechtigungsgrundsatz und das Benachteiligungsverbot umfassen auch den Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit. Der Lohngleichheitsgrundsatz bindet als Grundrecht nicht nur die staatliche Gewalt, sondern auch die Tarifvertragsparteien. Eine Tarifklausel, die generell und schematisch weiblichen Arbeitskräften bei gleicher Arbeit nur einen bestimmten Hundertsatz der tariflichen Löhne als Mindestlohn zubilligt, verstößt gegen den Lohngleichheitsgrundsatz und ist nichtig. Der Grundsatz der Lohngleichheit schließt es aus, daß die Arbeit der Frau mit Rücksicht auf die zu ihren Gunsten erlassenen Schutznormen geringer entlohnt wird. Nur solche Lohndifferenzierungen sind zulässig, die auch bei Männern vorgenommen werden, wenn und soweit es sich um Arbeiten handelt, die in gleicher Weise für Männer und Frauen tariflich vorgesehen sind.“

Ich weiß nicht, ob Sie eben die Begründung des BAG aufmerksam genug gelesen und dann gleich mitgedacht haben; es wäre zwar erfreulich, aber doch verwunderlich, denn schließlich sind Sie ja gerade erst am Anfang dieses Buches und noch nicht auf »juristische Zwischentöne« geeicht: Das BAG sprach von Tarifvertragsparteien, zwischen denen der vom Gleichberechtigungsgrundsatz und dem Benachteiligungsverbot abgeleitete Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit zu gelten habe. Über die Entlohnung außertariflich eingestufter Mitarbeiter ist damit überhaupt nichts entschieden worden. Da herrscht darum ein halbes Jahrhundert später immer noch der Grundsatz der Lohnungleichheit: „Bekannter Aufreger Frauen verdienen viel weniger Frauen verdienen einer Studie zufolge trotz gleicher Qualifikation im gleichen Job bis zu 30 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Für die Untersuchung der Vergütungsberatung Personalmarkt im Auftrag des Magazins "stern" seien mehr als 250 000 Gehälter in 22 Berufen analysiert worden. So bekomme ein 45-jähriger Controller durchschnittlich 61 744 Euro brutto im Jahr, eine gleich alte Controllerin aber nur 42 480 Euro, ein Unterschied von 31 Prozent. Eine 40-jährige Ingenieurin verdiene mit knapp 40 000 Euro im Schnitt ein Viertel weniger als ihr Kollege. Eklatant seien die Unterschiede bei Unternehmensberatern: Eine 35- Jährige verdiene durchschnittlich 48 255 Euro, der gleichaltrige Kollege mit 68 850 Euro 30 Prozent mehr. Auch bei Führungsjobs sehe es nicht besser aus: Eine Frau, die mehr als 30 Mitarbeiter leitet, bekomme durchschnittlich ein Drittel weniger als ein Mann mit gleicher Qualifikation im gleichen Job. Eine 45-Jährige erhält 77 464 Euro, ihr gleichaltriger Kollege 113 706. Im europäischen Vergleich der Abstände zwischen den Gehältern von Männern und Frauen lande Deutschland mit 24 Prozent auf den hintersten Rängen. Die Untersuchung zeige auch, dass die Unterschiede beim Eintritt ins Berufsleben noch nicht so groß seien. Aber in fast allen untersuchten Berufen öffne sich ab Mitte dreißig die Gehaltsschere - wenn viele Frauen sich zwischen Kind und Karriere hin- und hergerissen fühlten.“ (n-tv.de 03.11.04)

Zurück zum Eingangsfall dieses Kapitels: Die Frauen, die nach der zitierten BAG-Entscheidung gehofft hatten, dass ihre Löhne nun angehoben würden, wurden bitter enttäuscht. Es stellte sich heraus, dass sie nur einen Etappensieg errungen hatten, denn die nach dem Urteil anstehende Erhöhung der Frauenlöhne wurde durch die Einführung neuer Lohngruppensysteme mit Leichtlohngruppen für typischerweise von Frauen verrichtete Arbeiten umgangen. Das gab dem BAG Anlass, seine Grundsatzentscheidung »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« in weiteren Urteilen zu bekräftigen und auch im Einzelfall durchzusetzen. Ein solcher Fall wird nachfolgend dargestellt. Es werden die wichtigsten auf den Gleichheitssatz des Art. 3 GG bezogenen Urteilserwägungen aus dem Urteil zitiert: Fall: In einem Betrieb wurde in der Abteilung Filmentwicklung in mehreren sich teilweise überschneidenden Schichten gearbeitet. In dem abgeschlossenen Manteltarifvertrag (MTV) wurde als zulagenpflichtige Nachtarbeitszeit die Zeit von 20.00 - 06.00 Uhr vereinbart. In der Spätschicht von 18.00 - 24.00 Uhr arbeiteten fast ausschließlich Frauen, in der Nachtschicht von 22.00 - 06.00 Uhr ausschließlich Männer.

137

Für die Spätschicht zahlte der Arbeitgeber den dort beschäftigten Frauen eine geringe übertarifliche, gestaffelte Zulage von DM 0,42 - 1,42 pro Stunde, für die Arbeit während der Nachtschicht zahlte der Arbeitgeber den dort beschäftigten Männern eine Zulage von DM 0,70 - 2,00 pro Stunde, die im Mittelwert aber mehr als DM 1,50 betrug. Der Arbeitgeber begründete in seiner Stellungnahme vor dem Arbeitsgericht die erhöhte Zulage für die Nachtschicht - und damit nur für die Männer - mit der enormen gesundheitlichen Belastung durch die Nachtarbeit, der insbesondere die Arbeitnehmer ausgesetzt seien, die eine volle Nachtschicht ableisten. Die Frauen aus der Spätschicht begehrten die finanzielle Gleichstellung in der Bezahlung mit ihren männlichen Kollegen für die Stunden von 20.00 - 24.00 Uhr, weil sie laut des abgeschlossenen MTV teilweise ja auch Nachtarbeit leisteten. Wie war zu entscheiden? Das Arbeitsgericht (ArbG) hatte der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht (LAG) hingegen hatte in der Berufung die Klage abgewiesen. Die daraufhin von den Klägerinnen eingelegte Revision führte zur Aufhebung des LAG-Urteils und zur Wiederherstellung des ArbG-Urteils. Aus den Gründen des BAG: "I.1. Der Anspruch auf Zahlung einer übertariflichen Zulage in Höhe von DM 1,50 je Arbeitsstunde ist aus dem arbeitsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung begründet. Dieser wird inhaltlich vom Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG und vom Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG geprägt. Art. 3 Abs. 2 und 3 GG verbieten jede Differenzierung nach dem Geschlecht. Aus diesem Verfassungsgebot hat das Bundesarbeitsgericht den Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau hergeleitet. Danach darf der Lohn nur nach der zu leistenden Arbeit ohne Rücksicht darauf bestimmt werden, ob sie von einem Mann oder einer Frau erbracht wird (so die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts). 2. ... Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet es dem Arbeitgeber, bei freiwilligen Leistungen die Leistungsvoraussetzungen so abzugrenzen, daß kein Arbeitnehmer seines Betriebes hiervon aus sachfremden oder willkürlichen Gründen ausgeschlossen bleibt. ... Auch im Schrifttum ist anerkannt, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz dem Arbeitgeber zwar die Freiheit läßt, den Personenkreis abzugrenzen, dem freiwillige Leistungen zukommen sollen, er kann also Gruppen bilden; diese Gruppenbildung muß jedoch sachlich gerechtfertigt sein. Eine Differenzierung, die auf der Geschlechtszugehörigkeit beruht, ist nicht zulässig. ... II. 1. In dem Betrieb der Beklagten liegt eine allgemein geltende Zulagenregelung vor. ... Das LAG ist davon ausgegangen, daß eine generelle Zulagenregelung im Betrieb der Beklagten nicht besteht. ... Das LAG hat angenommen, von einer einheitlichen Zulagenregelung könne schon deshalb keine Rede sein, weil die Beklagte allein an die männlichen Arbeitnehmer sieben unterschiedlich hohe Zulagen zwischen 0,70 DM und 2,- DM je Stunde zahle, ... . Die Zulagen an die Männer heben sich deutlich von den Zahlungen an die Frauen ab. Es kann nicht darauf ankommen, ob alle Männer einheitlich hohe Zulagen erhalten. Wolle man darauf abstellen, dann könnte die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes schon dadurch verhindert werden, daß der Arbeitgeber die Höhe der an eine Gruppe von Arbeitnehmern gezahlten Zulagen staffelt. ... 2. Die von der Beklagten vorgenommene Differenzierung der Zulagen an Männer und Frauen ist sachlich nicht gerechtfertigt. ... ... 4. Nach alledem kann nur davon ausgegangen werden, daß den männlichen Arbeitnehmern Zulagen oder höhere Zulagen deshalb gewährt wurden, weil sie nicht bereit waren, zum Tariflohn zu arbeiten. Dies hat die Beklagte auch selbst eingeräumt. Die Klägerinnen, die für die gleiche Arbeit mit dem Tariflohn oder geringeren Zulagen bezahlt wurden, sind daher allein deshalb ungünstiger behandelt worden, weil ihre Arbeitskraft nicht ebenso bewertet wurde wie die der Männer. Darin liegt gerade die Diskriminierung, die Art. 3 Abs. 2 GG verbietet. III. Da die Klagen schon aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung Erfolg haben, konnte dahinstehen, ob auch andere Rechtsgrundlagen ... den Klageanspruch ebenfalls stützen konnten." (Der Betrieb 2/82 S. 119) Der Gleichheitssatz kommt im Arbeitsrecht natürlich nicht nur dann zum Tragen, wenn es bei gleicher Arbeit um Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen geht. So hat z.B. das OLG Düsseldorf 1999 entschieden, dass Funktaxizentralen ausländische Arbeitnehmer nicht von bestimmten (lukrativen) Touren ausschließen dürfen. Geklagt und gewonnen hatten türkische Fahrer aus Duisburg, von denen einer sogar einen deutschen Pass hatte. Entscheidungsgrundlage kann nur der allgemeine Gleichheitsgrundsatz und seine Anwendung im Arbeitsrecht gewesen sein.

138

Ein weiterer Fall einer »mittelbaren Drittwirkung« der Grundrechte im Arbeitsrecht wurde 2003 vom BVerfG entschieden, als eine türkische muslimische Verkäuferin gegen ihre Entlassung aus dem (privatrechtlich eingegangenen) Arbeitsverhältnis in einem deutschen Kaufhaus klagte: Sie war – ohne zu der Zeit der Aufnahme des Arbeitsverhältnisses ein Kopftuch zu tragen – als Verkäuferin eingestellt und in der Kosmetikabteilung eingesetzt worden. Wie Sie durch Augenscheinseinnahme überprüfen können, werden auf solchen Positionen üblicherweise fast ausschließlich hübsche, zumindest aber meist sehr gepflegt wirkende Frauen eingesetzt. (Wenn es sich um Kosmetik für junge Frauen handelt, können allerdings auch sehr »schräg« gestylte Typen dort beschäftigt sein.) Nach der Baby-Pause brach bei der jungen Türkin eine fundamentalistische Haltung ihrem islamischen Glauben gegenüber durch, so dass sie ab dem Zeitpunkt ihrer Wiederbeschäftigung ein Kopftuch zu tragen begehrte. Das wollte die Arbeitgeberin nicht hinnehmen, weil die Verkäuferin auch Andersgläubige aus dem ländlich-konservativen Umkreis bedienen müsse und die sich beim Kauf hochwertiger Kosmetika von der fundamentalistischen Verkleidung gestört fühlen könnten. Das Tragen des Kopftuches könnte zu Geschäftseinbußen führen. Vom Arbeitgeber wurde wohl so etwas wie eine »Neutralitätspflicht« den Kundinnen gegenüber gesehen und angemahnt, die durch die ostentative äußerliche Glaubensbekundung mittels des demonstrativ getragenen Kopftuches verletzt sei. Die Türkin gab nicht nach, woraufhin ihr gekündigt wurde. Das Kaufhaus obsiegte in der ersten und zweiten Instanz, nicht aber beim BAG. Das ließ das ursprünglich gegen staatliche Eingriffe erkämpfte Grundrecht der Glaubensfreiheit in mittelbarer Drittwirkung auch in dem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis zu Gunsten der Muslimin durchgreifen. Hierzu führte das nach Ausschöpfung des üblichen Rechtsweges wegen der intendierten Grundrechtsproblematik zuletzt angerufenen BVerfG in seinem ablehnenden Beschluss, das Urteil des BAG zu revidieren, aus: „Privatpersonen unterliegen grundsätzlich nicht der Bindung der Grundrechte. Gleichwohl sind die Grundrechte auch in privatrechtlichen Beziehungen von Bedeutung. Sie beeinflussen die Auslegung der zivilrechtlichen Vorschriften, die im Geiste der Grundrechte ausgelegt und angewandt werden müssen, was sich vor allem auf die zivilrechtlichen Generalklauseln und die sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe auswirkt. Dies gilt auch im Arbeitsrecht.“ Da sich die Verkäuferin auf ihr Grundrecht der Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG berief und erklärte, dass das Tragen des Kopftuches für sie eine Glaubensäußerung darstelle, bewirke die »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte im Arbeitsrecht, dass der Arbeitgeber das religiös motivierte Tragen des Kopftuches hinzunehmen habe, auch wenn in einer »Gummi-Klausel« des Arbeitsvertrages ganz allgemein das Tragen „dezenter Kleidung“ vertraglich vereinbart worden war. Da die Türkin aber sicher ganz allgemein als Verkäuferin eingestellt worden sein wird, bestimmt auch mit der Maßgabe, dass sie nach dem Willen der Leitung des Kaufhauses überall eingesetzt werden könne – und nicht ausschließlich als Fachverkäuferin für Kosmetik –, kann sie unter Berufung auf das Direktionsrecht des Arbeitgebers sehr wohl dort eingesetzt werden, wo aus Hygienegründen eine Kopfbedeckung getragen werden muss. Die Verkäuferin könne ja auch weniger exponiert als in der Parfümerieabteilung des Kaufhauses eingesetzt werden: Also ein bisschen mehr Kreativität - und ab in die Fischabteilung! Dann kündigt sie vielleicht von sich aus. Oder zum Verkauf der Fleisch- und Wurstwaren. (Die Arbeitgeberin wird sich ärgern, nicht gleich diesen Weg beschritten zu haben, denn dann hätte sie sich die gerichtlichen Scherereien und all die Kosten gespart.) Schwieriger ist das gleichgelagerte Problem für den Staat im Fall einer zum Islam konvertierten und daraufhin ein Kopftuch tragenden Lehrerin zu lösen, denn die kann der Staat ja nicht als Putzfrau, sondern höchstens als Hauswirtschaftslehrerin einsetzen.

Art. 3 II GG schützt auch die Männer

1.3.2.2.7 Art. 3 II GG schützt auch die Männer Trotz der Geltung des in Art. 3 I GG festgeschriebenen Gleichheitssatzes und insbesondere seiner weiteren Konkretisierungen in dessen Absätzen 2 und 3 und der durch ihn gebotenen Gleichbehandlung der Geschlechter sind nicht nur die Frauen, sondern ist auch eine spezielle Gruppe der Männer - vom BVerfG in mehreren Entscheidungen abgesegnet - von staatlichen Stellen, insbesondere den Staatsanwaltschaften und Gerichten, jahrzehntelang aufs Äußerste benachteiligt und verfolgt worden: die männlichen Homosexuellen. Bis zur 4. Reform des Gesetzes zur Änderung des Strafrechts Ende 1973 galt die Homosexualität selbst unter erwachsenen Männern als strafwürdig und wurde mit Gefängnisstrafe, in schweren Fällen gar mit (der mit der 1. Reform des Gesetzes zur Änderung des Strafrechts Ende 1969 abgeschafften) Zuchthausstrafe geahndet. Wo ist aber bitte der qualitative Unterschied, der männliche Homosexualität so schwer bestrafen, weibliche Homosexualität

139

hingegen völlig straffrei ließ? Was war an der männlichen gleichgeschlechtlich gelebten Sexualität soviel »ungleicher«, dass damit im Gegensatz zu praktizierter weiblicher gleichgeschlechtlicher Sexualität eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen gewesen wäre – und zu rechtfertigen ist? Denn der mehrfach neugefasste § 175 StGB bedroht weiterhin einen „Mann, über achtzehn Jahre, der sexuelle Handlungen an einem Mann unter achtzehn Jahren vornimmt oder von einem Mann unter achtzehn Jahren an sich vornehmen lässt ... mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe.“ Als durch den § 175 StGB geschütztes Rechtsgut wird zwar nicht mehr ganz allgemein die früher als „unsittlich“ betrachtete gleichgeschlechtliche Betätigung unter Männern angegeben, sondern nur noch die ungestörte sexuelle Entwicklung männlicher Jugendlicher: Ein durch einen Älteren verführter Jugendlicher solle nicht »an das andere Ufer« abdriften. Aber was ist mit der ungestörten sexuellen Entwicklung einer weiblichen Jugendlichen? Wenn eine 20-Jährige ihre Lust mit einer 17Jährigen lebt, die durch diese Erfahrungen für die Männerwelt verloren geht, dann bleibt das straffrei! Der Erwerb einer möglicherweise durch Verführung umgepolten sexuellen Neigung ist nicht auf männliche Jugendliche beschränkt! Die Vorschrift des § 175 StGB verstoße aber trotz der nicht in gleicher Weise unter Strafe gestellten lesbischen Betätigung nach Meinung des BVerfGs nicht gegen Art. 3 GG. Egal, welche Argumentationsklimmzüge da gemacht worden sind: Es ist eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung! Wegen ungefähr eines Teelöffels voll »vergeudeten«, jederzeit wieder reproduzierbaren milchig-weißen männlichen Samens? Dahinter stecken wohl noch die durch Erziehungstradition tief verwurzelten, aus der christlichen Religion und falschem medizinischem Wissen herrührenden religiösen Vorbehalte und damit verbundenen Abneigungen gegenüber männlicher gleichgeschlechtlicher Aktivität: Als weibliche Eizellen noch gänzlich unbekannt waren, hielt man den durch Ejakulation sichtbaren männlichen Samen für die alleinige lebensspendende göttliche Gabe, die in das bloße Gefäß Frau gegossen werde. Und nach jüdischer und dann christlicher Anschauung durfte dieses Göttliche nicht unsachgemäß verschleudert werden. So durfte Onan nicht durch einen coitus interruptus »in der Kurve abspringen« und nicht seinen Samen beim ihm aus jüdischreligiöser Verpflichtung auferlegten Coitus mit seiner verwitweten Schwägerin in den Sand tropfen lassen, wo er verdorrte. Diese Einstellung hat sich im Gegensatz zu ihrer Bewertung in romanischen Ländern in Deutschland erhalten und schimmert noch immer durch die Ungleichbehandlung von männlicher und weiblicher gleichgeschlechtlich praktizierter Sexualität durch. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG und seine Konkretisierung in Art. 3 II GG schützt aber nicht nur die Rechte der Frauen vor Ungleichbehandlung. Auch die Männer können sich bei sachfremder Ungleichbehandlung auf das Grundrecht der Gleichbehandlung berufen. Das tat z.B. ein Mann, der Hebamme werden und das für Männer (jedenfalls damals) bestehende Zugangsverbot zu dieser Berufsausbildung nicht hinnehmen wollte. Dieser Fall wiederholte sich 1993: "Streit um ‘Hebammer' dpa Oldenburg - Eine Einigungsstelle unter Vorsitz des Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Bremen, Martin Bertzbach, muß über den Wunsch eines Oldenburger Krankenpflegers (36) entscheiden. Er möchte zum ‘Hebammer' ausgebildet werden. Die Leitung der städtischen Kliniken: Das ist den werdenden Müttern nicht zuzumuten." (HH A 26.05.93) Da fragt sich der (nur) logisch denkende Zeitgenosse: "Wieso nicht, da die meisten Gynäkologen (noch) Männer sind?" Und wenn man regelmäßig Zeitung liest und die Reporter an selbst einem kleinen Thema dranbleiben - das ist aber leider nur selten der Fall -, dann kann man manchmal auch noch die Auflösung mitbekommen: "Mann als Hebamme dpa Oldenburg - Endlich darf er Babys zur Welt bringen. Eine Einigungsstelle am Bremer Landesarbeitsgericht bescheinigte einem Krankenpfleger (36) den Anspruch auf einen Ausbildungsplatz an der Hebammenschule der Städtischen Kliniken. Er sei besser qualifiziert als seine Mitbewerberinnen." (HH A 10.06.93) Ein anderer Fall: Das "Gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen über Freizeitgewährung für Frauen mit eigenem Hausstand" vom 27.07.48 besagte in seinem § 1 HATG NRW

140

"In Betrieben und Verwaltungen aller Art haben Frauen mit eigenem Haushalt, die im Durchschnitt wöchentlich mindestens 40 Stunden arbeiten, Anspruch auf einen arbeitsfreien Wochentag (Hausarbeitstag) in jedem Monat." Ähnliche gesetzliche Regelungen bestanden zu der Zeit in Bremen, Hamburg und Niedersachsen. M (= Mann), Krankenpfleger im Dienst des Landes NRW, war ledig und wohnte allein in einer Wohnung von ca. 80 qm. Er arbeitete 40 Stunden an 6 Tagen in der Woche. Sein Arbeitgeber lehnte seinen Antrag vom 01.10.77 ab, ihm von Oktober 1977 an einen Hausarbeitstag zu gewähren. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren beantragte M daraufhin zuletzt, das Land NRW zu verurteilen, ihm für einen arbeitsfreien Hausarbeitstag eine Abgeltung von DM 120,- brutto zu zahlen. Das Land NRW berief sich in seiner Ablehnung auf den damals schon seit mehr als 29 Jahren unangefochten bestehenden Wortlaut des § 1 HATG NRW, in dem nur "Frauen" als begünstigter Personenkreis aufgeführt waren, und auf die fast drei Jahrzehnte lang geübte Praxis, nur diesem Personenkreis die in der Vorschrift geregelte Vergünstigung zukommen zu lassen. (Als wenn es ein durchschlagendes Argument sein könnte, dass etwas jahre- oder sogar jahrzehntelang lang möglicherweise falsch gemacht worden ist!) M hielt diese Vorschrift für verfassungswidrig, da sie seiner Meinung nach gegen Art. 3 II GG verstoße. Wie war zu entscheiden? Das Arbeitsgericht hat die Klage in Verfolgung der Rechtsprechung des BAG abgewiesen. Nach der in mehreren Prozessen erstrittenen und zwischenzeitlich gefestigten Rechtsprechung des BAG konnten nicht nur die auf Grund der Kriegsbelastung 1943 ursprünglich vorgesehenen verheirateten, sondern auch alleinlebende Arbeitnehmerinnen, die unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen einen eigenen Haushalt führten, einen Hausarbeitstag beanspruchen, aber eben nur Frauen, nicht jedoch Männer. Das an sich oft recht fortschrittlich eingestellte BAG hielt die Vorschrift in dieser Auslegung mit dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 II GG für vereinbar. Sie knüpfe an die typische Arbeitsteilung der Geschlechter an und sei als Arbeitsschutzrecht für erwerbstätige Frauen anzusehen. (Wie ein weiblicher Single in seinem Einpersonen-Haushalt eine typische Arbeitsteilung mit einem - von gewissen Stunden vielleicht abgesehen - nicht vorhandenen Mann vornimmt, hatte das BAG aber nicht erklärt!) Das ArbG Köln führte darum in Anlehnung an die BAG-Rechtsprechung aus: Der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch finde weder in dem Hausarbeitsgesetz NRW (HATG NRW ) noch in Art. 3 II GG eine Rechtsgrundlage. In § 1 HATG NRW seien als Anspruchsberechtigte nur Frauen genannt. Wenn das Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG unwirksam wäre, weil es Frauen unzulässig begünstige, habe das nicht die von dem Kläger erhoffte Rechtsfolge, dass Männer die gleichen Rechte erhielten. Es sei Sinn des Gleichberechtigungsgrundsatzes, die Frauen, die bisher rechtlich benachteiligt gewesen seien, auf den Status der Männer anzuheben. Aus Art. 3 GG könne jedoch nicht abgeleitet werden, dass den Männern, wenn der Gesetzgeber in seinem Bestreben, die Frauen den Männern gleichzustellen, über das Ziel "hinausgeschossen" sei und die Frauen "überprivilegiert" habe, die den Frauen gewährten Rechte auch eingeräumt werden müssten. (Hinter diesen Ausführungen des ArbG steht als Überlegung der allgemein anerkannte Grundsatz, dass es keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht geben könne.) Diese vorstehend referierte Auslegung des ArbG ist eine Auslegung des § 1 HATG NRW, die starr am Wortlaut dieses Gesetzes orientiert war. Doch wie wir noch sehen werden, brauchen sich Gesetz und Recht nicht zu entsprechen. Darum die Kontrollfrage: War diese Gesetzesauslegung des § 1 HATG NRW durch das Kölner ArbG auch am höherrangigen Grundgesetz und ganz allgemein am Recht - was immer das auch sei; zunächst: was jeder dumpf in sich zu fühlen glaubt - ausgerichtet? Der Rechtsanwalt des Klägers meinte nein und machte die Sache gemäß „Art. 93 GG Das Bundesverfassungsgericht entscheidet ... 4a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte ... verletzt zu sein." und des auf Art. 93 GG basierenden, fast wortgleich lautenden § 13 Nr. 8 a BVerfGG bei unserem höchsten Gericht anhängig (BVerfGE 52/369 ff). Er argumentierte: Die Nichtgewährung des Hausarbeitstages an männliche Arbeitnehmer könne mit dem Hinweis auf die

141

traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter nicht gerechtfertigt werden. Zwar werde eine Arbeitsteilung, nach der die Frau den Haushalt führe und der Mann im Berufsleben stehe, noch häufig praktiziert. Als gesellschaftliches Prinzip sei dieser Grundsatz jedoch längst überwunden. Es gelte heute gesellschaftlich keineswegs mehr als anrüchig, wenn eine Frau am Berufsleben teilnehme. Auch sei es nicht mehr typisch, dass die alleinstehende Frau ihren Haushalt selbst führe, während bei dem Mann das Gegenteil der Fall sei. Es sei ausschließlich eine Frage der finanziellen Situation oder der persönlichen Neigung, ob eine alleinstehende Person, gleichgültig ob Mann oder Frau, sich selbst versorge oder gegen Bezahlung durch Dritte versorgen lasse. Entscheide sie sich für die Selbstversorgung, sei die Situation für Mann und Frau gleich. Im übrigen komme dem Gleichberechtigungsgrundsatz eine gewisse korrigierende Funktion hinsichtlich dessen zu, was bisher als typische Rollenverteilung angesehen worden sei. Das BVerfG hatte, wie üblich, alle in die zu entscheidende Rechtsproblematik irgendwie Involvierten für seine anstehenden Beratungen um eine Stellungnahme gebeten. Die Bundesregierung, der Ministerpräsident des Landes NRW und das BAG haben daraufhin aber nur auf die bisherige Rechtsprechung des BAG hingewiesen und im übrigen von Stellungnahmen abgesehen. Und das BAG hatte im zuvor abgehandelten "LohnzulagenFall" doch gezeigt, dass es den Art. 3 GG kennt, ernst nimmt und zur gezielten, am Geist des Grundgesetzes orientierten Rechtsfortbildung einsetzt. Nun erhielten die im Vergleich zu vielen anderen Richtern an sich schon recht fortschrittlich eingestellten obersten Arbeitsrichter der Bundesrepublik eine Nachhilfestunde in richtiger Grundgesetzinterpretation von den hierzu berufenen BVerfG-Richtern: "Die Regelung des § 1 HATG NRW knüpft bei der Bestimmung, welchen Personen der Hausarbeitstag zu gewähren ist, allein an den Geschlechtsunterschied an und nimmt damit eine verfassungsrechtlich unzulässige Differenzierung vor. ... Eine Doppelbelastung durch Berufstätigkeit und Haushaltsführung kann auch bei Männern in Betracht kommen. Dies gilt insbesondere für Alleinstehende, die sich in einer eigenen Wohnung selbst versorgen, da bei ihnen Berufstätigkeit und Haushaltsführung zwangsläufig in einer Person zusammentreffen. Soweit ein alleinstehender Arbeitnehmer die Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt trägt, ist es nicht gerechtfertigt, ihn bei der Gewährung des Hausarbeitstages anders als eine alleinstehende Arbeitnehmerin zu behandeln. ... Der Umfang der zu erledigenden Hausarbeit ist nicht geringer, wenn der Haushalt von einem Mann statt von einer Frau geführt wird. Bei dieser Sachlage kann die Gewährung des bezahlten Hausarbeitstages nur an Frauen mit den biologischen Unterschieden der Geschlechter nicht begründet werden. ... Jedenfalls verletzt die einseitige Hausarbeitsregelung zugunsten der alleinstehenden Frauen den Grundsatz der Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 GG. Diese Frauen unterscheiden sich in keinem wesentlichen Punkt von Männern in gleicher Lage. ... Es verstößt gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz, wenn den privaten Interessen der weiblichen Arbeitnehmer an einer bestimmten außerbetrieblichen Tätigkeit durch eine Ungleichbehandlung Rechnung getragen wird. ... Das BVerfG kann die Vorschrift des § 1 HATG NRW nicht für nichtig erklären, sondern muß sich darauf beschränken, ihre Verfassungswidrigkeit festzustellen, da dem Gesetzgeber verschiedene Wege offenstehen, die von der Verfassung geforderte Gleichheit herzustellen. Das Urteil des Arbeitsgerichts Köln ist aufzuheben, da es auf der für verfassungswidrig erklärten Vorschrift des § 1 HATG NRW beruht (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Sache ist an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen. ..." Kein Argument des BAG wurde gelten gelassen! Das war eine »6:0-6:0-Höchststrafe« des BVerfGs an das BAG, wie eine überragend spielende Steffi Graf sie in besonders erfolgreichen Spielen an Gegnerinnen austeilte, wenn die »neben sich standen« und sie denen in einem Endspiel Tennisunterricht erteilte. Und drei letzte Meldungen zu dem Problemkreis der Gleichberechtigungsproblematik: Einen rechtskräftig als Mann anerkannten Transsexuellen muss die private Krankenversicherung in den günstigeren Männertarif einordnen (OLG Köln Az. 5 U 80/93). Der wegen seiner Transsexualität im November 1998 von seiner Gemeinde abgewählte Bürgermeister von Quellendorf in Sachsen-Anhalt, Michael/a Lindner, der - wie ca. 300 Personen in der Bundesrepublik jedes Jahr - eine mit DM 40.000 (auf Grund seiner Arbeitslosigkeit durch das Sozialamt) bezahlte Geschlechtsumwandlung hinter sich brachte - „Es war eine Laseroperation. Und die neuen Körperteile funktionieren prächtig. Es ist

142 richtig schön im Bett“, gab er dem STERN zu Protokoll -, will seine Abwahl durch das BVerfG überprüfen lassen. Übrigens hat die Kostenübernahme der Operationskosten durch das Sozialamt auch etwas mit Grundrechten und Gesetz zu tun; aber das soll nicht weiter ausgeführt werden. 1999 verklagte die 22-jährige deutsche Elektronikerin Tanja Kreil vor dem VG Hannover die Bundesrepublik Deutschland, in der Bundeswehr Dienst mit der Waffe - und nicht nur wie 4.340 andere (seit 1975 ) in Sanitätsund 60 (seit 1991) in Musikkompanien - tun zu dürfen. Sie war 1996 mit diesem Begehren von der Bundeswehr abgewiesen worden. An waffentragende Polizistinnen ist man(n) inzwischen gewöhnt. Warum dann - unter dem Gleichbehandlungsgebot des Artikels 3 GG - nicht auch in der Bundeswehr, da in anderen europäischen Streitkräften Frauen Bomber fliegen, Schiffe kommandieren und Panzer steuern? In Österreich z.B. waren die Frauen durch Parlamentsbeschluss mit Zweidrittelmehrheit schon seit dem 01.04.98 zum freiwilligen Dienst beim Heer zugelassen. Ihnen stehen alle Karrierewege - und nicht nur der im Medizinal- und Musikchordienst bis hin zur Generalin offen. Warum ist das in der Bundeswehr nicht möglich? So wohl die Argumentation der Klägerin. Aber eine solche Klage kann sich für ihre Geschlechtsgenossinnen als »Danaer-Geschenk« erweisen, denn sie wirft - da wir im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten (noch?) keine Freiwilligen-, sondern eine Wehrpflichtarmee haben - im Erfolgsfalle dann automatisch die Frage nach einer Wehrpflicht für Frauen auf! Für einen Einsatz von Frauen in Kampftruppen musste dann zunächst einmal Art. 12 a GG geändert werden, der bisher in Abs. I S. 1 bestimmte, dass (nur) Männer zum Dienst in u.a. den Streitkräften verpflichtet werden können, und dessen Abs. IV letzter Satz ausdrücklich bezüglich im Verteidigungsfall dienstverpflichteter Frauen bestimmt: „Sie dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten.“; bisher ein Berufsverbot mit Verfassungsrang! Das VG Hannover verwies die Klage der Tanja Kreil an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zur Entscheidung, weil außer der Verfassung der Bundesrepublik auch europäisches Recht tangiert war. Seit 1999 ist dem EuGH außerdem mit dem Vertrag von Amsterdam auch die Zuständigkeit für die Wahrung von Grundrechten in der EU übertragen worden und es waren die Grundrechte aus Art. 3 auf Gleichberechtigung und Art. 12 auf Berufsfreiheit betroffen. Von der militärischen Führung wurde während des beim EuGH laufenden Prozesses wegen des befürchteten Obsiegens der Klägerin ein Kompromiss angedacht, da es sich bei dieser Frau um eine Elektronikerin handelte. Sie könnte ja vielleicht innerhalb der Bundeswehr etwas für die Aufklärung tun, ohne dabei eine Handfeuerwaffe in die Hand nehmen zu müssen. Allerdings gibt es keine Bundeswehreinheiten, in denen Soldaten ohne Waffenausbildung und ohne generellen Waffenbesitz Dienst tun wie in den Baukompanien der DDR, wo - weil es in dem Staat kein Recht auf Wehrdienstverweigerung gab - Waffendienstverweigerer zusammengezogen, diskriminiert und schikaniert worden sind. Selbst Sanitätssoldaten der Bundeswehr tragen z.B. im Manöver eine Waffe (Pistole), an der sie zuvor ausgebildet worden sind, um im Notfall ihre Patienten und/oder sich selbst verteidigen zu können. Plötzlich aber überschlugen sich die männlichen Vorstellungskräfte auf der Harthöhe; und die Zeitungsmeldungen: Auf einmal war es denkbar, dass Frauen mit Waffen im Wachdienst eingesetzt werden könnten. Mit Fortschreiten des Prozesses vor dem EuGH schritt auch der Denkprozess in der Spitze des Bundesministeriums der Verteidigung voran und man dachte immer wieder ein Stückchen weiter: Schon im Zweiten Weltkrieg gab es in der Wehrmacht ja z.B. Pilotinnen wie Beate Uhse. Und die Frau verstand was von »Kampfeinsätzen«! (Damit ist sie später sehr reich und berühmt geworden!) Warum sollten Frauen nicht u.a. auch Kampfjets fliegen dürfen? Anfang des Jahres 2000 entschied dann der EuGH zu Gunsten der Klägerin, die damit Rechtsgeschichte schrieb. Auf der Grundlage der „Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen“ vom 09.02.1976 und insbesondere seines „Art. 2 (1) Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden Bestimmungen beinhaltet, daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts ... erfolgen darf. (2) Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, solche beruflichen Tätigkeiten und gegebenenfalls die dazu jeweils erforderliche Ausbildung, für die das Geschlecht auf Grund ihrer Art oder der Bedingung ihrer Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen. (3) Diese Richtlinie steht nicht den Vorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft, entgegen.“ wurde die Ablehnung der Klägerin als rechtswidrig eingestuft: die deutsche Rechtslage (vor Erlass des Urteils)

143 gleiche einem „Berufsverbot für Frauen“. Das Verfahren wurde vom EuGH an das VG Hannover zurück verwiesen, das nunmehr in seiner Entscheidung die Rechtsüberlegungen aus dem EuGH-Urteil zu berücksichtigen hatte. Der Ausgang des zunächst unterbrochenen Verwaltungsgerichtsverfahrens war damit klar, da die Klägerin nicht begehrt hatte, als Kampfschwimmerin ausgebildet und eingesetzt zu werden. (Der Zugang zu dieser Spezialeinheit mit ihren übergroßen physischen Anforderungen wäre ihr vom EuGH eventuell verwehrt worden, wie vor der Klage der Deutschen eine britische Klägerin vom EuGH ablehnend beschieden worden war.) In den Augen konservativer Kritiker, wie des Vorsitzenden des Bundestagsrechtsausschusses Rupert Scholz (CDU), ist das in der Frage der Wehrberechtigung von Frauen ergangene EuGH-Urteil ein „unglaublicher Skandal“. Die Kritiker des EuGH-Urteils bezüglich des Rechts der Frauen auf Dienst in der Bundeswehr auch mit der Waffe weisen darauf hin, dass die EU, laut BVerfG ein "Staatenverbund neuer Art", für Verteidigungspolitik gar nicht zuständig sei. Die Organisation der Bundeswehr sei eine Aufgabe der nicht abgetretenen nationalen Souveränität der Bundesrepublik wie der anderen EU-Staaten, in die sich der EuGH und das Europarecht nicht einzumischen hätten. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber kommentierte die Entscheidung sauertöpfisch: „Demnächst wird die Gleichstellungsrichtlinie erzwingen, dass der nächste Bundeskanzler eine Frau ist.“ [Das hatte Stoiber als gemeinsamer Kanzlerkandidat von CDU und CSU bei der Bundestagswahl 2002 schon im Ansatz verhindert, obwohl Angelika Merkel als seine Mitkonkurrentin um die Kanzlerkandidatur der CDU/CSU in einem SPIEGEL-Interview hatte verlauten lassen, dass die deutsche Gesellschaft nach ihrer Einschätzung „im Grundsatz reif für eine Kanzlerin“ sei.] Nach Stoibers Scheitern bei der Bundestagswahl 2002 und dem Desaster der SPD in der nordrhein-westfälischen Landtagswahl mit der daraufhin um ein Jahr auf 2005 vorgezogenen Bundestagswahl – der angeschossene Keiler Schröder brach aus dem Unterholz und nahm seine Jäger direkt an - hat sie sehr gute Chancen, es zu werden. Die Entscheidung des EuGH in dem ihm vorgelegten Einzelfall hinsichtlich des Rechts der Klägerin auf gleichberechtigten Zugang zum Waffendienst in der Bundeswehr bedingte dann auch eine GG-Änderung, um aus Gründen der Gleichberechtigung nunmehr allen Frauen diesen Zugang zu eröffnen. Der Deutsche Bundestag hat mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen seiner gesetzlichen Mitglieder - und damit auch mit den Stimmen von CDU-Abgeordneten - die grundgesetzliche Sperre des Satzes aus Artikel 12 a GG: „Sie dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten.“ abgeändert in die Formulierung: „Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.“ Ab 2001 konnten Frauen in (fast?) allen Kampfverbänden freiwillig Dienst an der Waffe verrichten, und es wird durch ein seit 2005 geltendes Gleichstellungsgesetz bis 2010 ein Frauenanteil in allen Laufbahnen der Bundeswehr von rund 15 % angestrebt, der dann in etwa dem Frauenanteil in der US-Armee (14 % 34) entspräche. 2003 waren es bei einer Truppenstärke von rund 280.000 »Mann« aber erst 7.734 Frauen: 4.982 Soldatinnen im Sanitäts- und Musikdienst und 2.752 im normalen Truppendienst inklusive dem Militärgeographischen Informationsdienst. Über kurz oder lang wird mit 20 % Frauen in der Bundeswehr gerechnet.

Weil man nicht zum Vergnügen zum Bund geht, hat die Truppe mit dem steigenden Frauenanteil zu kämpfen: Wo Menschen sind, menschelt es – besonders zwischen Männern und Frauen in Kampfeinsätzen! Das kann auch nicht die Anlage zur Zentralen Dienstvorschrift 14/3 unterbinden; nur reglementieren, indem sie eine „sexuell neutrale“ Dienstausführung fordert. Aber gegen das Menscheln helfen keine Erlasse, da ist die Natur stärker. Darum gibt es seit Sommer 2004 einen "Kuschelerlaß", der Sex in der Bundeswehr erlaubt - im gegenseitigen Einvernehmen, in der Freizeit und nur dann, wenn es den Dienstbetrieb nicht be- oder verhindert. Natürlich gibt es "Delikte gegen die sexuelle Freiheit", wie sexuelle Übergriffe bei der Bundeswehr genannt werden, bis hin zum Mord wegen verweigerten Geschlechtsverkehrs oder aus Eifersucht. Warum sollte sich das Zusammenleben zwischen Männern und Frauen in der Bundeswehr problemloser gestalten als außerhalb der Kasernenanlagen im »normalen« Leben?! Die Klägerin gehört aber nicht zu den Frauen an der »Geschlechterfront« der Bundeswehr. Im August 2000 zog sie nach gewonnenem Prozess ihre Bewerbung zurück.

Mit der Öffnung der Bundeswehr für Frauen zum Dienst mit der Waffe sind weitere Probleme aufgeworfen: 34

Der Frauenanteil in der Armee der USA liegt seit Jahren recht konstant bei rund 14 %, in der britischen bei etwa 7,5 %, in Dänemark bei rund 4 % und in Frankreich bei etwa 5,5 Prozent.

144

Wenn Frauen nun dienen dürfen, aber nicht dienen müssen, warum sollen dann die Männer dienen müssen? Dagegen klagte ein Wehrpflichtiger aus Göppingen - und das auch vor dem EuGH. Er sah in diesem nur Männern gegenüber ausgeübten Zwang einen Verstoß gegen europäisches Recht, woraufhin das LG Stuttgart diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegte, der die Klage aber abwies. Hätte der EuGH dem Kläger Recht gegeben, hätte die Wehrpflicht abgeschafft werden müssen; insbesondere da die Bundeswehr seit 2002 durch einen erhöhten Anteil freiwilliger Zeit- oder Berufssoldaten so umgebaut wird, dass schätzungsweise nur noch die Hälfte bis ein Viertel der zur Wehrpflicht Anstehenden zwangsweise eingezogen werden wird. Zu diesem Zweck muss der Prozentsatz der angeblich Dienstuntauglichen auf 22 % eines Jahrganges willkürlich heraufgestuft werden. Da stellt sich verschärft die Frage der Wehrgerechtigkeit! Soweit zunächst einmal zu Problemen der in Art. 3 II GG angeordneten Gleichberechtigung von Frau und Mann.

Mit den beiden angesprochenen EuGH-Entscheidungen sind zwar die beiden Einzelfälle der kampfbereiten Frau und des sich der Wehrhaftmachung verweigernden Mannes erledigt und sogar so grundsätzlich beantwortet worden, dass es im Sinne der Gleichberechtigung hinsichtlich des Rechts der Frauen zum Dienst mit der Waffe zu den erforderlichen Grundgesetzesänderungen gekommen ist. Nicht aber sind alle damit im Zusammenhang stehenden juristischen Probleme gelöst. Gemeint ist das damit im Zusammenhang stehende gravierende juristische Problem der Verbindlichkeit der EuGH-Rechtsprechung in Grundrechtsfragen unter der Geltung des Grundgesetzes! Mit der Entscheidung des EuGH in den eben behandelten Fällen war das grundsätzliche Problem der Geltung der supranationalen EuGH-Rechtsprechung in Grundrechtsfragen für Bundesbürger juristisch noch nicht in trockenen Tüchern: Wessen Rechtsprechung solle gelten, wenn BVerfG und EuGH zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen? Wer ist dann Platzhirsch und darf in unserem Staat seine Ansichten in der Bevölkerung mit seinen Ergüssen fortpflanzen - und wer muss das Revier räumen? Bis 1986 lernten die Juristen in ihrer Ausbildung, dass entsprechend der Regelung in Art. 25 GG „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ europäisches Gemeinschaftsrecht (nur) einfaches bundesrepublikanisches Gesetzesrecht breche, nicht aber das höherrangige bundesdeutsche Verfassungsrecht. Die diesbezüglichen Urteile des EuGH seien innerhalb der EU für den nationalen Gesetzgeber der Bundesrepublik und alle seine Gerichte unterhalb der Schwelle der Verfassung bindend. Nicht ausdrücklich, sondern nur implizit, war damit gesagt worden: Da der EuGH nur über Recht entscheiden könne, dass sich in der Rangordnung der Gesetze unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts befindet, gehe im Zweifelsfall die die Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grundgesetz kontrollierende Rechtsprechung des BVerfGs vor und damit habe in Fragen einer möglichen Grundrechtsproblematik die Rechtsprechung des BVerfGs Vorrang vor der EuGH-Rechtsprechung. Das hatte das BVerfG 1974 - mit Geltung bis 1986 - u.a. deswegen so entschieden, weil es in seiner juristischen Nachprüfung zu dem Ergebnis gekommen war, dass 1974 der Integrationsprozess der Gemeinschaft in tatsächlicher Hinsicht noch nicht so weit fortgeschritten gewesen sei, „... daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthalte, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat sei.“ 1986 sah das BVerfG durch die inzwischen ergangene EuGH-Rechtsprechung einen grundsätzlich qualitativ gleichwertigen Grundrechtsschutz gewährleistet und entschied darum in seiner (später abkürzend so genannten) „Solange-II-Entscheidung“: Weil „im Hoheitsbereich der EG mittlerweile ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen sei, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten sei“, sei nunmehr der EuGH auch für den Grundrechtsschutz der Bundesbürger zuständig, der sich aus dem sekundären Gemeinschaftsrecht ergebe, „solange“ sich der EuGH an die vom BVerfG in der Entscheidung BVerfGE 73/339 ff (378-381) gemachten Vorgaben halte. [Dahinter stand wieder die „Machtfrage“: Wir Bundesverfassungsrichter räumen euch EuGH-Richtern (nur) solange Entscheidungskompetenz ein, wie wir unseren Primat als Wächter der bundesrepublikanischen Grundrechte nicht durch euch als gefährdet ansehen! Das Grundgesetz verzichte nicht auf „die im letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“. Auch wenn Rahmenbeschlüsse, EU-Richtlinien und Brüsseler Weisungen schon über die Hälfte unserer Gesetzesvorhaben ausmachen, so gelte trotzdem der Souveränitätsvorbehalt, dass trotzdem das „letzte Wort“ in den Bestimmungen des Grundgesetzes liegen müsse – und damit bei den Karlsruher Verfassungsrichtern!] Der

145 EuGH sei unter den in der Entscheidung genannten Voraussetzungen somit „auch für den Grundrechtsschutz der Bürger der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Akten der nationalen (deutschen) öffentlichen Gewalt, die auf Grund von sekundärem Gemeinschaftsrecht ergehen, zuständig.“ Vorlagen an das BVerfG zur Überprüfung solchen Rechts seien danach unzulässig, solange die das BVerfG anrufenden Gerichte nicht fundiert im Einzelnen darlegten, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH generell unter den Grundrechtsstandard abgesunken sei, den das GG für die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik lebenden Menschen festgelegt hat. Erst dann und nur dann werde das BVerfG im Rahmen seiner weiterhin fortbestehenden, aber nicht mehr ausgeübten Grundrechtsgerichtsbarkeit wieder tätig werden, wenn der EuGH den vom BVerfG vorgezeichneten Grundrechtsstandard verlassen sollte, den der zuständige Senat in seiner Entscheidung festgelegt habe. Insoweit gelte ein Souveränitätsvorbehalt des BVerfGs gegenüber der EuGH-Rechtsprechung – den der natürlich nicht so zu sehen vermag! Das BVerfG hielt sich in dem Rechtsstreit um die Bananenmarktordnung (BVerfGE 89/155) an diese von ihm vorgezeichnete Linie, obwohl die Fruchtimport-Firmen nach einer Abfuhr beim EuGH beim BVerfG eine Verletzung ihres Grundrechts auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geltend machten. Seit 1999 ist dem EuGH außerdem mit dem Vertrag von Amsterdam u.a die Zuständigkeit für die Wahrung von Grundrechten in der EU übertragen worden. Das BVerfG beansprucht in Grundrechtsfragen der Deutschen aber gleichwohl grundsätzlich immer noch das Recht des „letzten Wortes“. Der latent schwelende Konflikt brach auf, als nach der Änderung des Art. 16 II GG mit seinem bis dahin geltenden Wortlaut „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.“ durch einen angefügten Satz 2 Art. 16 II GG seit dem 02.12.00 nunmehr lautet: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“

Bis Ende 2000 bestand, wie gesagt, ein absolutes Auslieferungsverbot: Bis dahin durfte kein Deutscher unter keinen Umständen an einen fremden Staat ausgeliefert werden, wobei man unter Auslieferung die zwangsweise Überführung in den Hoheitsbereich eines fremden Staates auf dessen Ersuchen hin zur dortigen Strafverfolgung versteht. War z.B. ein Deutscher verdächtig, im Ausland eine Straftat begangen zu haben, und der jeweilige Staat hatte einen Auslieferungsantrag gestellt, so konnte die beantragte Auslieferung unter Verweis auf Art. 102 GG als absolutes Auslieferungshemmnis dennoch in keinem Fall stattfinden. Durch Art. 16 II 2 GG wurde eine partielle Auslieferungsverpflichtung zur Strafverfolgung eines Deutschen durch einen anderen Staat eingeführt, derzufolge nunmehr nur noch ein eingeschränktes Auslieferungsverbot an andere Staaten besteht. Nach der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag am 17.07.98, der für die Verfolgung der vier Verbrechen a) Völkermord, b) Verbrechen gegen die Menschlichkeit, c) Kriegsverbrechen und d) das Verbrechen der Führung eines Angriffskrieges zuständig ist, wenn entweder der Staat, in dem die Tat begangen wurde, oder der Staat, dessen Angehöriger der mutmaßliche Täter ist, Vertragspartei des internationalen Gerichtsstatuts sind, wurde der bisher absolute Schutz der Deutschen dergestalt eingeschränkt, dass sie an den Internationalen Gerichtshof ausgeliefert werden (können). Im Zuge der dafür erforderlichen Grundgesetzänderung wurde auch eine EU-Richtlinie umgesetzt, dass Deutsche ebenfalls an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgeliefert werden dürfen, „… soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“ Durch Art. 16 II 2 GG wurde somit bei Vorliegen eines europäischen Haftbefehls eine partielle Auslieferungsverpflichtung zur Strafverfolgung eines Deutschen durch einen anderen Staat oder ein internationales Gericht eingeführt, derzufolge nunmehr nur noch ein eingeschränktes Auslieferungsverbot an andere Staaten besteht. Der EU-Haftbefehl listet 32 Straftaten auf, bei denen die Mitgliedstaaten "ohne Überprüfung des Vorliegens beiderseitiger Strafbarkeit" ihre Bürger ausliefern. Darunter fallen Terrorismus, Waffen- und Drogenhandel, vorsätzliche Tötung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, aber auch unklare Begriffe wie Betrug, Cyberkriminalität oder Sabotage. Für viele Europa- und Verfassungs- und Strafrechtler ist der europäische Haftbefehl mit der deutschen Verfassung nicht vereinbar, weil er ehernen Rechtsgrundsätzen widerspreche, insbesondere dem fundamentalen Rechtssatz: „Keine Strafe ohne Gesetz“ („nulla poena sine lege“), gegen den während der Nazi-Diktatur so eklatant verstoßen worden war.

146

Die neue Gesetzeslage sollte zum ersten Mal 2004 einem des Terrorismus verdächtigten ehemals syrischen Staatsbürger gegenüber angewandt werden, der 1990 eine Deutsche geheiratet hatte und sich dann auf Grund seiner anschließend irgendwann erfolgten Einbürgerung hier als nunmehr deutscher Staatsbürger vor Auslieferung sicher fühlen konnte. Der nunmehr deutsche Staatsbürger syrischer Herkunft stand im Verdacht, die Terrorpiloten des 11.09.01 unterstützt zu haben, konnte aber nicht an die USA ausgeliefert werden, weil er erstens Deutscher war und zweitens in den USA in 38 Staaten immer noch die Todesstrafe verhängt werden kann. Da die Todesstrafe gemäß Art. 102 GG in Deutschland abgeschafft ist, darf niemand, auch kein Ausländer, von Deutschland an einen Staat ausgeliefert werden, wenn ihm dort die Todesstrafe droht. Eine Auslieferung eines Ausländers war nur dann möglich, wenn der Staat, der die Auslieferung beantragte, zuvor schriftlich versichert hatte, auf die Verhängung der Todesstrafe zu verzichten. Deutsche konnten wegen des in Art. 16 II (a.F.) GG geregelten absoluten Auslieferungsverbotes sowieso nicht ausgeliefert werden. Der eingedeutschte Syrer Darkazanli wurde über die Unterstützung der Terrorpiloten von New York hinaus von Spanien verdächtigt, die Madrider U-Bahn-Terroristen vom 15.03.04 finanziert zu haben. Er galt als Schlüsselfigur von Al Queida in Spanien, Frankreich und der BRD. Als Spanien wegen des Anschlags auf die Madrider U-Bahnen auf Grund der auch von Deutschland umgesetzten EU-Richtlinie mittels eines europäischen Haftbefehls seine Auslieferung beantragte, wurde dem Ersuchen der Auslieferung eines Deutschen zur Strafverfolgung im Ausland durch den I. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 23.11.04 zum ersten Male stattgegeben. Das Hanseatische OLG begründete die von ihm so gesehene Rechtmäßigkeit der Auslieferung in seinem Beschluss mit u.a. den ziemlich apodiktisch vorgetragenen Argumenten: „Da keine Auslieferungshindernisse bestehen, ist dem zulässigen Ersuchen nach § 79 I RG stattzugeben. Die beiderseitige Strafbarkeit im ersuchenden und im ersuchten Staat ist nach § 81 Abs. I Nr. 4 IRG nicht zu prüfen, wenn - wie hier - die dem Ersuchen zugrundeliegende Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates eine Strafbestimmung verletzt (vorliegend: Art. 515.2 und 516.2 des spanischen StGB), die den in Art. 2 Abc. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in Bezug genommenen Deliktsgruppen (hier: Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und Terrorismus) zugehörig ist. Auf eine Strafbarkeit des Verfolgten nach deutschem Recht kommt es danach nicht an.... Die Auffassung des Beistands, die Vollstreckung einer in Spanien gegen den Verfolgten verhängten Freiheitsstrafe in Deutschland verstoße gegen den ordre public, beruht ausschließlich auf der vom Senat nicht geteilten Prämisse, dass schon die Auslieferung unzulässig sei, weil hier ein deutscher Staatsangehöriger wegen ausschließlich in Deutschland begangener Handlungen, die zur Tatzeit im Inland nicht strafbar waren, nach Spanien überstellt werden soll. Das aber ist hier nicht der Fall. Nach dem im Haftbefehl geschilderten Sachverhalt, dessen Grundlage zu überprüfen der Senat keinen Anlaß hat (§ 10 Abs. 2 IRG), soll der Verfolgte die terroristische Vereinigung u.a. auch im Kosovo unterstützt und zum Zwecke der Förderdung dieser Organisation bei seinen Aufenthalten (u.a.) in Madrid und Granada persönlich Verbindung zu Mitgliedern der Al Qaida-Zelle in Spanien gehalten haben. Soweit der Verfolgte einwendet, daß die Straflosigkeit seines Verhaltens in Deutschland zur Tatzeit wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit dazu führe, daß er vor Strafverfolgung sicher sei, solange er nur die Bundesrepublik Deutschland nicht verlasse, trifft dies in dieser Allgemeinheit nicht zu. Vielmehr kann ein Deutscher auch dann an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgeliefert werden, wenn er - wie hier - (auch) außerhalb Deutschlands eine Straftat begangen haben soll und sich dadurch nach dem Recht des ersuchenden Staates strafbar gemacht hat. ... Denn es trifft - wie bereits ausgeführt - nicht zu. daß der Verfolgte als Deutscher wegen einer Tat, die ausschließlich auf deutschem Hoheitsgebiet verübt wurde und die nach deutschem Recht zur Tatzeit nicht strafbar war, ausgeliefert werden soll (vgl. S. 4 Abs. I des Schriftsatzes). Vielmehr soll er seine nach spanischem Recht strafbaren Aktivitäten zur Förderung der terroristischen Vereinigung auch in Spanien und im Kosovo entfaltet haben. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG wird durch die Auslieferung - entgegen den Ausführungen unter II. 1. im Schriftsatz der Rechtsanwältin Pinar vom 31. Oktober 2004 - nicht verletzt. Auslieferungsrecht ist Verfahrensrecht, in dem das im materiellen Strafrecht geltende Rückwirkungsverbot grundsätzlich keine Anwendung findet (OLG Stuttgart in NJW 2004, 3437, 3438). Der Verfolgte soll zudem nicht von einem deutschen Gericht wegen einer Tat, deren Strafbarkeit vor ihrer Begehung nicht gesetzlich bestimmt

147

war, bestraft werden. Vielmehr soll er an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union überstellt werden, gegen dessen Strafnormen er im Ausland zu einem Zeitpunkt verstoßen haben soll, als die Tat dort nach dem Recht des ersuchenden Staates strafbar war. Insoweit widerspräche die Auslieferung nicht wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung, die eine solche Rechtshilfe nach § 73 IRG unzulässig machte. ... Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Verfolgten gegen die Neuregelung des Auslieferungsrechts teilt der Senat aus den Gründen seines Beschlusses vom 5. November 2004, an denen er nach nochmaliger Überprüfung festhält, nicht.“ Das sah das BVerfG aber wesentlich kritischer und stoppte die Auslieferung auf Antrag der Anwälte des Beschuldigten im Eilverfahren für zunächst ein halbes Jahr bis zur Behandlung der eingereichten Verfassungsbeschwerde. Der Zweite Senat des BVerfGs plante – Az.: 2. BvR 2236/04 –, nicht nur die justizielle Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsländer, sondern ganz Europa zur Disposition zu stellen. Für die damit befassten Verfassungsrichter stellt sich neben dem Problem des europäischen Haftbefehls die Grundsatzfrage der demokratischen Legitimation der EU. Die höchsten deutschen Richter befassen sich ganz grundsätzlich mit der Frage, inwieweit nationalstaatliche Kernkompetenzen auf die EU-Ebene verlagert werden können. Die Themen "Schrittweise Entstaatlichung durch Übertragung von Kernkompetenzen" und "Identität des deutschen Verfassungsstaates und sekundäres Unionsrecht" sind auf der Verhandlungsgliederung des BVerfGs ausdrücklich genannt. Es geht u.a. darum, ob europäisches Recht, das von den EU-Regierungen verabschiedet wird, ohne die Möglichkeit der Änderung durch die deutschen Verfassungsorgane in deutsches Recht umgesetzt wird. So geschieht es bei beispielsweise EU-Richtlinien. Es geht um die in ihren Auswirkungen gravierende juristische Frage, ob die EU-weite Zusammenarbeit an der „dritten Säule“ Justiz und Inneres schrittweise zu einem europäischen Superstaat geführt habe, ohne dass die nationalen Parlamente so etwas beschlossen haben, sodass durch den schleichenden Entstaatlichungsprozess insoweit ein Verstoß gegen das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip vorliege: Sind durch den Umfang der schleichend übertragenen Aufgaben und Befugnisse auf die Zentralbehörde in Brüssel, durch die Einräumung von Kompetenz-Kompetenzen auf die EU, die Kontroll- und Entscheidungszuständigkeiten des Deutschen Bundestages so weit ausgehöhlt worden, dass ein Verstoß gegen das über Art. 79 III GG mit einer „Ewigkeitsgarantie“ versehene, aus Art. 20 I 1 GG – „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ - abgeleitete Demokratieprinzip vorliegt? Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des GG verpflichten den Bundesgesetzgeber, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der jeweiligen Verwaltung - sei es der der Länder, des Bundes oder der EU – zu überlassen. Insoweit bestehe ein unbedingt zu beachtender Parlamentsvorbehalt! Ist möglicherweise durch eine schleichende schrittweise europafreundliche Aufweichung des Grundgesetzes dagegen verstoßen worden, sodass wir uns nach dem Willen der »Richterkönige« aus Karlsruhe in weiten Teilen aus der EU verabschieden müssten, wie es der Bundesjustizministerin schwant? Hauptargument: Der Vertrag übertrage der EU zuviel Kompetenz, Europa werde zum Staat. Soviel Macht dürfe der Bundestag nicht abgeben. Darüber müsse das Volk abstimmen. Den Richtern des Bundesverfassungsgerichts stieß aktuell insbesondere sauer auf, dass seit August 04 Deutschland auf Anforderung anderer Mitgliedstaaten eigene Staatsbürger wegen Taten ausliefern muss, die in der Bundesrepublik gar nicht strafbar waren oder strafbar sind. Damit wird gegen das Grundgesetz verstoßen und die Garantiefunktion unseres Strafrechts unterlaufen, die u.a. besagt, dass ein Deutscher nur dann bestraft werden kann, wenn sein Verhalten unter einer deutschen Strafnorm subsumiert werden kann: Verhalten, das keiner deutschen Strafnorm unterfällt, hat damit straffrei zu bleiben! Der Syrer mit inzwischen deutschem Pass soll in Spanien wegen der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung angeklagt werden, eine in Spanien verfolgte Straftat, die bei uns in dem Zeitraum, der von dem spanischen Richter verfolgt wird, aber gegen keine bundesdeutsche Strafnorm verstieß! „Besonders problematisch erscheint solche Rechtshilfe, wenn es um Dinge geht, die der Verdächtige gar nicht in dem Land getan hat, in das er ausgeliefert werden soll. Wenn es möglich ist, so die Verteidiger Darkazanlis, dass ein Deutscher wegen einer in Deutschland begangenen und in Deutschland rechtmäßigen Handlung ohne weitere Prüfung in die Fremde ausgeliefert wird, um dort bestraft zu werden, verliere das Strafrecht seinen Sinn. Denn kein Bürger könne wissen, ob das, was er guten Gewissens tut, nicht irgendwo in einem der 25 EU-Mitgliedsländer strafbar ist. Auch Strafrechtswissenschaftler wie der Münchner Ordinarius Bernd Schünemann kritisieren, dass das ’Prinzip der gegenseitigen Anerkennung’, das dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, zu ’einer europaweiten Exekutierbarkeit’ der jeweils schärfsten Strafrechtsnorm führt. Noch gibt es eklatante Unterschiede. So ist beispielsweise das Verwenden einer manipulierten Fotokopie in Deutschland keine Urkundenfälschung, in Großbritannien schon. Und wir hatten zuvor schon das Beispiel des Bundesverfassungsrichters da Fabio anlässlich der Verhandlung um den europäischen Haftbefehl gehört, dass es in den Niederlanden als vollendete Vergewaltigung gelte, wenn ein Mann einer Frau im Karneval einen Zungenkuss aufnötige. ...

148

Die Verfolgung der sogenannten Auschwitz-Lüge, des Leugnens des Holocaust, ist eine deutsche Spezialität. Gerade in heikelsten Fragen der Moral und der nationalen Kultur verbietet sich das Barbieren über den europäischen Löffel: Sterbehilfe gilt in manchen Ländern als Totschlag, in anderen ist es Mildtätigkeit. Abtreibung ist in Teilen Europas ein Tötungsdelikt, in anderen nicht. ’Die Vorstellung, dass die Niederlande künftig ihre Abtreibungsärzte nach Madrid ausliefern würden, hat etwas Beängstigendes’ wendet der DarkazanliAnwalt ein. ... Nicht nur Strafrechtler sehen die staatliche Hoheit bei der Entscheidung über Gut und Böse, Schuld und Strafe, über Freiheit und Eigentum der Bürger als Kernbestand nationaler Souveränität. Wenn ein Staat seine Bürger nicht mehr vor der Verfolgung durch andere Mächte bewahrt, hat die Staatsbürgerschaft ihre zentrale Funktion verloren: als steuerpflichtige Mitgliedschaft in einer schutzgewährenden Vereinigung. Die klassische Staatsidee des durch seine pure Macht die schwachen Menschen schützenden Leviathan ist dann ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie das daraus sich rechtfertigende staatliche Gewaltmonopol“ (SPIEGEL 14.03.05). Die Position der Bundesregierung lautet: Der europäische Haftbefehl beruhe auf zwingendem weil vorrangigem europäischen Recht und könne deswegen vom BVerfG nicht überprüft werden. Angesichts des Standes der europäischen Integration sei der Haftbefehl "nicht am Maßstab des deutschen Grundgesetzes zu prüfen". Es gebe keinen nationalen Verfassungsvorbehalt. Das aber sehen die Bundesverfassungsrichter möglicherweise völlig anders! Wir haben schon gehört, dass das BVerfG sich nur solange zurückzunehmen gewillt gewesen war, wie die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nicht unter den Grundrechtsstandard absinke, den das GG für die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik lebenden Menschen festgelegt hat. EU-Recht gelte nur, "solange" die deutschen Grundrechte gewahrt bleiben. Sollte das nicht mehr der Fall sein, und nur dann, werde das BVerfG im Rahmen seiner von ihm so gesehenen weiterhin fortbestehenden, aber nicht mehr ausgeübten Grundrechtsgerichtsbarkeit wieder tätig werden, wenn der EuGH den vom BVerfG vorgezeichneten Grundrechtsstandard verlassen sollte, den der zuständige Senat in seiner Entscheidung festgelegt habe. Mit dem Fall Darkazanli sahen die Richter des BVerfGs den Rubikon als möglicherweise überschritten an. „Die Europäische Union wurde zum Binnenmarkt. Doch zu einem Raum des Rechts wurde Europa nicht. Als EU-Richtlinien gegen Grundrechte verstießen, begann der Dauerclinch zwischen den Verfassungsrichtern aus Karlsruhe und ihren EU-Kollegen in Luxemburg. Erst 1986 urteilten dann die Deutschen: Solange die EU und ihre Gerichte die Grundrechte generell wahren, verzichte Karlsruhe auf das letzte Wort. Doch die europäische Integration erschloß sich immer neue Bereiche. Das Maastricht-Urteil ist durchwoben vom Unbehagen gegen einen Überstaat Europa. Beim Strafrecht, also jenem Rechtsgebiet, das die Freiheit der Bürger am weitesten beschneidet, könnte die Zeit des Zuschauens nun wieder vorbei sein. Vor allem der Strafrechtler im Zweiten Senat, Vizepräsident Hassemer, hat im Vorfeld bereits deutlich gemacht: Eine gerichtliche Vergewisserung sei notwendig, "wo die unverzichtbaren Bestandteile der nationalen Rechtsordnungen liegen". Der Europäische Haftbefehl zum Beispiel höhlt gleich mehrere rechtsstaatliche Grundsätze aus. "Keine Strafe ohne Gesetz" etwa, diese alte Säule des Strafrechts wird brüchig, wie gerade der Fall Darkazanli zeigt. Die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung war in den Jahren, die in seinem Fall eine Rolle spielen, in Deutschland noch nicht strafbar. Jedoch ist "Terrorismus" im Auslieferungskatalog des EU-Rahmenbeschlusses zum Haftbefehl genannt, wie andere schwammige Begriffe, die eher gesellschaftliche Phänomene als klare Straftatbestände beschreiben. Ohnehin sind die gemeinsam nach Straftätern jagenden Europäer oft uneins, was ihnen denn als strafwürdig erscheint. So kann in Deutschland als Betrug gelten, was in anderen Ländern als cleveres Geschäftemachen durchgeht. Sterbehilfe wird in Holland als mildtätig gewertet, andernorts aber als Totschlag. Kiffen ist in Amsterdam erlaubt, Cannabisbesitz in München verboten. ... (DIE WELT 10.04.05) 1.3.2.2.8 Beispiele für den Kampf um Gleichberechtigung in einigen anderen Ländern Frauen-Diskriminierungsverbote gibt es - auch ohne Grundgesetz - ebenfalls in anderen Staaten. Trotzdem werden Frauen immer wieder diskriminiert. Und nicht immer helfen dann die Gerichte wie im nachfolgenden Fall:

149

"Benachteiligt: Frau erhält zehn Millionen dpa Los Angeles - Ein ungewöhnliches Urteil fällte ein Gericht in Los Angeles: Der USMineralölkonzern Texaco muß einer Angestellten zehn Millionen Mark Schadenersatz zahlen. Das ist die höchste Summe, die jemals in einem Diskriminierungsprozess zugesprochen wurde. Janella Martin (48) hatte geklagt, weil sie zweimal wegen ihres Geschlechts bei einer Beförderung übergangen worden war." (HH A 27.09.91)

Beispiele für den Kampf um Gleichbe rechtigu ng in einigen anderen Ländern

Da lacht das Herz des us-amerikanischen Anwalts, denn im Gegensatz zu unserem Rechtssystem erhalten in den USA Rechtsanwälte üblicherweise ein Drittel der ausgeurteilten Summe, was im Falle der Verurteilung von Tabakwarenkonzernen wegen verharmlosender, bewusst falscher, die Gefahren des Rauchens negierender35, verführender Werbung zu Anwaltshonoraren von bis zu 5 Milliarden(!) Dollar geführt hatte und von einem Teil selbst der US-amerikanischen Öffentlichkeit nicht mehr hingenommen wurde. Die hauptsächlich mit amerikanischen Rechtsanwälten geführten Verhandlungen wegen der Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern zogen sich zuletzt u.a. auch wegen dieser von deutscher Seite befürchteten „Gebührenschneiderei“ in die Länge. Nur durch solche schmerzenden Urteile lernen Machos die Grundprinzipien der Gleichberechtigung - oder das geschicktere Abfassen von Ablehnungen. Eine uns eher zum Schmunzeln reizende, aber auf einem für konservativ eingestellte Japaner sehr ernsten weil religiösen Hintergrund basierende Meldung zu dem Problemkreis der noch längst nicht überall durchgesetzten Gleichberechtigung der Geschlechter: "Mädchen im Sumo-Ring Fall für Regierung Tokio (dpa). Die Siegesserie einer zehnjährigen japanischen Schülerin als Sumo-Ringerin hat jetzt die Regierung in Tokio auf den Plan gerufen. Nach japanischen Presseberichten vom Samstag läßt das Büro von Premierminister Toshiki Kaifu untersuchen, ob der Ausschluß des Mädchens von einem nationalen Nachwuchsturnier eine unzulässige Diskriminierung ist. Sumo-Ringen ist ein uraltes japanisches Ritual, das bislang allein von Männern betrieben wurde. Die Kämpfer, die ein Gewicht von bis zu 150 Kilogramm erreichen, versuchen, sich gegenseitig aus dem Ring zu stoßen oder sich gegenseitig zu Fall zu bringen. Die Frauenbeauftragte der Regierung, Mitsuko Horiuchi, will klären, ob der kleinen Ringerin der Auftritt im Kokugikan-Sumo-Stadion von Tokio aus religiösen Gründen verwehrt wird oder ob es um eine Benachteiligung der Frau geht." (Allgäuer Zeitung 15.07.91) Noch eine Anmerkung zum Sumo-Ringen: "’Der Klops aus Hawaii’. Weil der amerikanische Sumo-Ringer Salevaa Atisanoe mit 262 Kilo Kampfgewicht seine Gegner serienweise niederwalzt und nach dem Titel eines ’yokozuna’ (Großmeisters) strebt, wofür in einer Zweierserie je zwanzig Siege in Folge erforderlich sind, tobt in Japan ein Kulturkampf. Die Traditionalisten wollen ihn laut einiger Drohbriefe am liebsten ’zu Sushi schneiden’ denn mit ihm ist ein ’Keto’, ’ein ausländischer Teufel’ - schlimmer noch: ein amerikanischer - in das Zentrum der japanischen Seele getrampelt. Die ’Yuppies’ dagegen, die ohnehin amerikanischen Moden hinterherlaufen, unterstützen den Ami-Eindringling. An sich hatte ’Konishiki’ (’Kleiner Brokat’), wie sich der Amerikaner in Japan nennt, sein Ziel eigentlich schon erreicht, als er bei seinem letzten Kampf nach 39 Siegen auch dieses Mal seinen Gegner umwarf. Doch der Schiedsrichter, gekleidet wie ein Shinto-Priester, machte aus Konishikis Sieg ein Unentschieden, damit die ausländische Bulette nicht sozusagen Burger King wird. Schließlich erwartet ihn als Großmeister eine besondere traditionelle Ehre: Die jüngeren Sumo-Ringer müssen ihm als Yokozuna nach jedem Stuhlgang den Hintern abwischen.“ (STERN 21.05.92) Letzteres Beispiel für ein durch Leistung erworbenes ehemals anerkanntes Recht, das sich auf Grund 35

Die Zigarettenindustrie hatte jahrelang dem Tabak heimlich suchtsteigernde (u.a. Aceton) und letztlich krebsauslösende Stoffe (zur Versüßung des Rauches hinzugegebener Zucker und hinzugegebene Schokolade verbrennen unter Freisetzung von u.a. krebsauslösendem Acetaldehyd) beigemischt und diese sucht- und krankheitsverursachenden Praktiken vehement bestritten.

150

seines nicht mehr zeitgemäßen, antiquierten Ursprungs heutzutage in ein Vor-Recht verwandelt hat, hinter dem die Mühsal steht, wenn man sich so viele siegnotwendige Kilo angefressen hat, zum Abputzen um den unförmig gewordenen Leib rumlangen zu müssen: Der Leib wird dicker, die Arme wachsen aber nicht mit. Da kann man bei fünf Zentnern schlecht rumfassen. Aber man muss ja nicht jedes Vorrecht ausnutzen. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang das kluge Wort von Marie von Ebner-Eschenbach: „Der größte Feind des Rechts ist das Vorrecht.“ Vielleicht hängt dieses Recht, das der Zeitungsmeldung zu Folge noch nicht als antiquiertes Vorrecht empfunden wird, auch mit dem mythisch-religiösen Ursprung des Sumo-Ringens zusammen: Zwei Götter, die sich um das japanische Volk stritten, fochten ihren jeweils erhobenen Anspruch in einem Sumo-Ringkampf aus. Wegen dieses mythischen Ursprungs dieses Sports, der auch heutzutage noch von den traditionsbewussten Japanern als religiöser Ursprung empfunden wird, wollte die damalige Frauenbeauftragte der Regierung klären, ob der kleinen Ringerin der Auftritt im Kokugikan-SumoStadion von Tokio aus religiösen Gründen verwehrt wird oder ob es um eine Benachteiligung der Frau gehe. Wegen dieses mythischen Ursprungs ihres Sports - und seiner wenigen sehr einfachen, klaren Regeln - ist das Sumo-Ringen noch heute so populär in Japan. Und die Funktionäre des Sumo-Verbandes sind so traditionsverhaftet, dass sie der Bürgermeisterin einer japanischen Millionenstadt nicht erlaubten, den Ring zu betreten und dort dem Sieger den Pokal zu überreichen, weil sie eine Frau ist! Und noch eine Anmerkung zu dem sehr fülligen Ringer: Er wird es als Wiedergutmachung für alles in Japan vormals erlittenes Wettkampf-Unrecht empfunden haben, dass - nach seiner einige Zeit zuvor vollzogenen Einbürgerung - er es als nunmehriger Großmeister Akebond (in Vertretung für einen erkrankten japanisch gebürtigen Großmeister) sein durfte, dem die ganze Welt zur Eröffnung der letzten Winter-Olympiade in Japan als schwerstgewichtigem Sumo-Ringer im Eröffnungsprogramm bei den rituellen Bewegungen der Reinigungszeremonie der Sumo-Ringer zuschauen durfte. Nun kämpft er als Yokozuna (Großmeister) Musashimaru.

Nach dem Fall der japanischen Ringerin nun ein Beispiel für das andere Extrem im Geschlechterkampf: Unsinnig fortschrittlich in puncto Gleichberechtigung scheinen manche Australier zu sein, denn "Mann wurde ‘Miß' ap Sydney - Der 24jährige Surfer Damien Taylor wurde in Queensland zur `Miß Wintersonne' gekürt. Neben Aussehen zählten Persönlichkeit und Allgemeinwissen. Nun will der Kämpfer für die Gleichberechtigung (1,82 Meter, 77-66-88) den Titel `Miß Australia' gewinnen." (HH A 17.06.93) Ob da unter den Juroren ungewöhnlicherweise nur Damen saßen? Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, wesentlich Gleiches gleich, aber wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln. Und es gibt nun einmal den kleinen Unterschied! Da scheint in dem vorstehenden Fall eine sachfremde Nivellierung vorgenommen worden zu sein: Wozu gibt es neben den jährlichen Wahlen der schönsten Frau der Welt die Wahl zum Mister Universum? Man lässt bei olympischen Wettkämpfen ja auch nicht Damen gegen Herren starten, denn das wäre genau so missverstandene Gleichberechtigung. Es gibt, wie gesagt, nun einmal den kleinen Unterschied – auch wenn manche Frauen ihn nicht gelten lassen wollen: „Frauen auf die Pissoirs! Der norwegische Ombudsmann für Gleichberechtigung hat die Klage einer Frau gegen die Gebühren für die Toilettenbenutzung abgewiesen. Die Zeitung "Dagbladet" berichtete am Dienstag, eine Studentin habe geklagt, dass sie für die Benutzung der Toilette im Zentrum von Trondheim 65 Cent zahlen muss, Männer aber umsonst ans Pinkelbecken treten dürften. Frauen und Männer können gleichermaßen wählen Die Antwort verblüffte nicht nur die Klägerin: Der Hersteller der Unisex-Toilette stellte klar, dass auch Frauen die Urinale benutzen dürften. Dazu müssten sie nur in die Hocke gehen. Es gebe in der Stadt Trondheim nachweislich Frauen, die das auch täten. Der Klageausschuss beim Ombudsmann zusammengesetzt aus vier Frauen und zwei Männer - wies daher die Eingabe der Studentin ab: ’Frauen und Männer können gleichermaßen wählen, ob sie für ihren Toilettenbesuch zahlen wollen

151 oder nicht.’" mdr.de boulevard 29.04.2003 14:02 Uhr

1.3.3 Art. 3 III GG und Asylrecht Art. 3 III GG und Asylrech t

Weil dem Staat eine sachfremde Benachteiligung von einzelnen Bevölkerungsgruppen aus einem der in Art. 3 III GG angeführten Verbotsgründe untersagt ist, konnte keine Regierung der (ehemaligen Rumpf-)Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung unter der vor seiner Neufassung in keiner Weise einschränkend formulierten Geltung des Art. 16 II 2 GG „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." bestimmen, dass nur deutschstämmige Asylanten aus z.B. Osteuropa in unserem Staat aufgenommen werden dürften, weil die Mütter und Väter des Grundgesetzes auf Grund der historischen Erfahrungen der NS-Zeit den Wortlaut des Art. 16 II 2 GG bewusst umfassend weit gefasst hatten und es bis dahin mangels der für eine in diesem Punkte an sich zulässigen Verfassungsänderung nicht zu der hierfür erforderlichen Zweidrittelmehrheit gekommen war. Nach der in dem neuen Artikel 16 a GG vorgenommenen einschränkenden Neuregelung des Asylrechts - des einzigen Grundrechts, das schon begrifflich keinem Deutschen zustehen kann - äußerten Kritiker ihre Meinung dahingehend: "Mit dieser Neuregelung ist das Asylrecht trotz seiner weiterhin bestehenden Nennung in Art. 16 a I GG faktisch abgeschafft, denn Asyl kann jetzt nur noch erhalten, wer mit einem Drachen über die Alpen kommt, mit einem Fallschirm über der Lüneburger Heide abspringt oder schwimmend von seinem Land kommend an der Küste angespült wird." Und die Süddeutsche Zeitung kommentierte: "Der bisherige Artikel 16 Absatz 2 war ein kompromißloses Grundrecht. Der Asylkompromiß nimmt dem Asylgrundrecht nicht nur diese Kompromißlosigkeit, sondern damit auch die Grundrechtsqualität. Wenn beschwichtigend von einer bloßen Beschränkung dieses Grundrechts die Rede ist, so führt dies in die Irre. Andere Grundrechte lassen sich einschränken, ohne daß dieses den Grundrechtscharakter verändert: Wird etwa das Grundrecht auf Freizügigkeit beschränkt, so bleibt das Grundrecht als solches prinzipiell erhalten; Menschenwürde, Freiheit, körperliche Unversehrtheit werden nicht berührt - nur die Bewegungsfreiheit begrenzt. Beim Asylgrundrecht ist dies anders: Wird einem politisch Verfolgten, wie das künftig der Fall sein wird, der Aufenthalt in Deutschland von vornherein verweigert, dann handelt es sich für ihn nicht um eine bloße Beschränkung, sondern um eine Vernichtung seines Asylrechts - mit potentiellen Folgen für Leib und Leben. Das künftige Asylrecht nimmt dies in Kauf. Die großen Parteien sollten dies deutlich sagen: Das Asyl steht künftig nur noch aus Gründen der Tradition im Grundrechtsteil der Verfassung. Es wird zu kleiner Münze geschlagen." (SZ 22.01.93) 1995 hat sowohl die damalige Präsidentin des BVerfGs wie auch die (katholische) Deutsche Bischofskonferenz gegen die Neufassung des Asylrechts Front gemacht. Das hat aber gegen u.a. die Überfremdungsängste rechtskonservativer Kreise und Parteien und die Kassenlage der Bundesländer, die für den Unterhalt der Asylsuchenden aufkommen müssen, nichts ausrichten können. Eine Lockerung der einschränkenden Neuregelung ist erst zu erwarten, wenn sich selbst bis zu den Stammtischen die Erkenntnis herumgesprochen haben wird, dass Deutschland nach Berechnungen der UNO für alle wichtigen Industriestaaten wegen der Vergreisung seiner Bevölkerung und der mit Platz 185 von 191 UN-Staaten zu geringen Geburtenrate in einigen Jahren eine jährliche Quote von rund 500.000 Ausländern als Zuwanderungsgewinn benötigt, um nur den jetzigen Stand seiner uns alle absichernden Sozialsysteme bewahren zu können! Eine von der SPD-geführten Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission unter der Leitung der CDUPolitikerin Süssmuth erarbeitete Vorschläge zur Änderung des Asylrechts. Die auf Grund dieser Vorlage erarbeitete Gesetzesänderung wurde im Bundestag mit rosa-grüner Mehrheit beschlossen und in einem Kraftakt der SPD-geführten Länder auch durch den Bundesrat gepaukt, aber die CDU-geführten Länder kündigten dagegen eine Klage vor dem BVerfG an, falls der Bundespräsident das Gesetz unterschreiben werde. So sollte auf unser höchstes Staatsorgan politischer Druck ausgeübt werden. Der Bundespräsident zögert, prüft jedenfalls

152

(ungewöhnlich) lange und bedächtig, voraussichtlich bis zu dem ein halbes Jahr später anstehenden Wahltermin. Bei einem Wahlsieg der CDU/CSU wird eine neue Regierungskoalition das Gesetz in ihrem Sinne ändern - und die angekündigte Klage hat sich dann durch Zeitablauf erledigt.

1.3.4 »Wesensgehaltssperre« bei Grundrechtseinschränkungen und Asylrecht Bezüglich der die Existenz des Asylrechts sehr stark einschränkenden bis faktisch fast abschaffenden Grundrechtsänderung könnte ein Verstoß gegen die »Wesensgehaltssperre« des Art. 19 II GG „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt eingeschränkt werden." "Wesensg ehaltssper re" bei GREinschrän kungen

vorliegen. Dieser Begriff besagt, dass nach der Interpretation des BVerfGs jedes Grundrecht aus einem seinen Wesensgehalt ausmachenden Kernbereich und einem unterschiedlich weit interpretierbaren Randbereich bestehe. Ein Grundrecht dürfe bei Vorliegen hinreichender Gründe nur in seinen den Kernbereich wie eine Hülle umgebenden Randbereichen eingeschränkt werden. Der Kernbereich hingegen, der seinen Wesensgehalt ausmache, müsse immer unangetastet erhalten bleiben, damit der durch dieses Grundrecht angestrebte Grundrechtsschutz erhalten bleibe und das Grundrecht nicht faktisch leer laufe. Selbst von kollidierenden anderen Grundrechten dürfe ein in Frage stehendes Grundrecht nicht in seinem – im Konfliktfall letztlich vom BVerfG zu interpretierenden und damit für alle unter der Rechtsordnung des GG Lebenden rechtsverbindlich festzulegenden - Wesensgehalt verletzt, sondern nur irgendwo in seinem Randbereich einschränkend tangiert werden: Grundrechtsdelle ja, substanzieller Grundrechtsschaden, Grundrechtstotalschaden gar, nein! „Keine Witze mehr über Lisa Loch Forderung nach Berufsverbot für Raab unerfüllt Die Scherze über die 17-jährige Lisa Loch kommen TV-Star Stefan Raab teuer zu stehen. Er musste wegen Beleidigung eine "stattliche Summe" an eine gemeinnützige Einrichtung in München überweisen. Im Gegenzug sei das Ermittlungsverfahren gegen den Entertainer eingestellt worden, teilte die Staatsanwaltschaft München I mit. Die genaue Höhe der Summe wollte die Behörde nicht nennen. Raab hatte sich in seiner Sendung "TV total" mehrfach über den Namen der Jugendlichen lustig gemacht hatte. So zeigte er zum Beispiel am 8. Mai ein Plakat, auf dem ein Paar Sex hatte und warb damit für die "Lisa Loch Partei". Oberstaatsanwalt August Stern sagte: "Es war ganz eindeutig eine Beleidigung. Das hat mit Satire nichts mehr zu tun." Raab könne sich auch nicht auf die grundgesetzliche Freiheit der Kunst berufen, da der Schutz der Menschenwürde schwerer wiege. Der Bescheid der Staatsanwaltschaft wurde Raab und seinen Anwälten bereits Mitte Dezember zugestellt. Die Zahlung an die nicht näher benannte gemeinnützige Einrichtung erfolgte am Dienstag. Damit war dann das Erfahren offiziell eingestellt. Oberstaatsanwalt Stern begründete seine Entscheidung mit dem nicht so großen öffentlichen Interesse an einer Strafverfolgung. Der Forderung des Anwaltes der Schülerin, Frank Roeser, Raab ganz vom Bildschirm zu verbannen und mit einem Berufsverbot zu belegen, folgte die Staatsanwaltschaft erwartungsgemäß nicht. Dies hatte nach Aussage von Stern nie Aussicht auf Erfolg. Anwalt Frank Roeser hatte argumentiert, Raab missbrauche seine Stellung als Moderator für Straftaten wie Beleidigung, gefährliche Körperverletzung, Verleumdung und Nötigung.“ (N24.de 10. Januar 2003) Das Strafrechtliche ist aber nur die eine Seite der Medaille. Zivilrechtlich musste Raab nach mehreren Instanzen für seine bekannt geschmacklosen bis beleidigenden und ehrverletzenden Späße auf Kosten anderer in dieser Sache (statt der zunächst geforderten 300.000 € schlussendlich) 70.000 € Schmerzensgeld zahlen. Das Grundrecht der Menschenwürde der Diffamierten aus Art. 1 GG steht gegen die Grundrechte Freiheit der Kunst – wenn man eine Raab-Sendung juristisch so einordnen will – aus Art. 5 III GG und die Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG des Satirikers. Letztlich müssen sich Freiheit der Kunst und Berufsfreiheit dem obersten Wert unserer Verfassung, der Menschenwürde, unterordnen. Aber das anwaltlich geforderte Berufsverbot schießt weit über das Ziel des Schutzes der Menschenwürde hinaus. Und das muss ein Anwalt wissen – und trotzdem forderte er es (angeblich). Das ist nur als juristische Schaumschlägerei zu werten, mit der wohl versucht werden sollte, den

153

Richter unter Druck zu setzen. Bezüglich der Einschränkung des Asylrechts durch die neugeschaffene „Drittstaaten-Klausel“, die nach der Grundgesetzänderung die Abschiebung eines Asylsuchenden in das Drittland erlaubt, das er – ohne dort Verfolgung zu erleiden, wenn er dort geblieben wäre - durchquert hat, um auf dem größten Arbeitsmarkt der EU mit einem der höchsten Sozialhilfesätze innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Überlebens- und neue Existenzgrundlage zu finden, müsste aber erst einmal ein Betroffener vor dem BVerfG gegen die Neufassungsregelung klagen. Doch wie sollte er das vom Ausland aus tun? Kritische Verwaltungsrichter kritisieren außerdem, dass durch die Asylgesetzgebung mit der ohne vorheriges Gerichtsverfahren vorgesehenen Abschiebung der Asylbegehrenden in ein sicheres Drittland, aus dem sie in die Bundesrepublik gekommen sind, der Rechtsschutz der "Rechtsweg-Garantie" des Art. 19 IV 1 GG "Rechtsw egGarantie" des Art. 19 IV 1 GG

Art. 19 IV 1 GG „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen." stillschweigend unterlaufen werde. Wer Art. 19 IV 1 GG ändern wolle, der müsse das auch durch eine Verfassungsänderung expressis verbis deutlich zum Ausdruck bringen. 1995 beschwerte sich die damalige Präsidentin des BVerfGs öffentlich, dass das BVerfG mit Eilanträgen gegen drohende Abschiebungen überschüttet werde und auch an Wochenenden tagen müsse, weil der Verfassungsgesetzgeber den Art. 16 a GG mit zu heißer Nadel genäht habe und die unteren Gerichte den neugeschaffenen Asylrechtsartikel nicht verfassungskonform weit genug auslegten. Das BVerfG verkommt so zur unnötigerweise im großen Stil tätig werden müssenden Reparaturinstanz für falsche unterinstanzliche Entscheidungen einfacher Verwaltungsgerichte.

1.3.5 Auslegung von Grundrechtsbestimmungen am Beispiel von Art. 6 GG Ehe und Familie und Art. 16 GG Asylrecht So, wie zuvor am Beispiel der Gleichberechtigungsproblematik von Frau und Mann aufgezeigt, regelt das GG direkt oder indirekt viele Bereiche der in seinem Geltungsbereich Lebenden. Aber die vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen sind oder scheinen nicht immer zweifelsfrei, weder im Grundgesetz, noch in anderen Gesetzen. Dann muss »ausgelegt« werden, um den mutmaßlichen Sinn einer gesetzlichen Regelung und deren zweifelhafte Anwendungsmöglichkeit auf den zu entscheidenden Fall auszuloten. Das soll an zwei Fällen zu dem der staatlichen Ordnung in Art. 6 GG als besondere Verpflichtung auferlegten Schutz von Ehe und Familie auch wenn sie zwischen einem 86-jährigen Deutschen und einer 19-jährigen Frau aus Hongkong in Freiburg geschlossen wurde (13.01.00) - aufgezeigt werden. Zunächst der Wortlaut der fallerheblichen Grundgesetzbestimmung: "Art. 6 GG (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern." Eine klar gefasste, in ihrer Handhabung einfach erscheinende Verfassungsbestimmung. Aber interne Behördenrichtlinien versuchen oftmals, den für jeden juristisch Unverbildeten erkennbaren Sinn einer gesetzlichen Bestimmung zu unterlaufen, um Geld zu sparen. Hinzu kann dann auch noch Ignoranz kommen:

154

Auslegun g von Grundrec htsbestim mungen am Beispiel von Art. 6 GG Ehe und Familie und Art. 16 GG Asylrecht

"`Misere selbst verschuldet' Nach der Hochzeit: Bezirksamt lehnt Dringlichkeitsschein für größere Wohnung ab Von BIRGIT MÜLLER Normalerweise gibt's zur Hochzeit Glückwünsche und Geschenke. Beim Bezirksamt Mitte ist das anders. Da gilt die Eheschließung zweier Menschen als `selbstverschuldete Misere'. Und aus diesem Grund verweigert das Bezirksamt Peter Rieck (48), der vor anderthalb Jahren eine Frau mit vier Kindern geheiratet hat und in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebt, einen Dringlichkeitsschein für eine größere Wohnung. ... Statt eines Dringlichkeitsscheines bekam Rieck einen Brief vom Bezirksamt. Tenor: Nur der bekommt einen Dringlichkeitsschein, der seine Lage nicht selbst verursacht hat. `Nach Meinung des Einwohneramtes haben Sie Ihre jetzige Wohnmisere eindeutig selbst zu verantworten', stand in dem Schreiben. Die letzten drei Wörter waren gefettet und unterstrichen. `Sie haben eine für sich ausreichend große Wohnung zur Verfügung. Sie haben dann Ihre Familie nach Hamburg geholt, obwohl sie hätten erkennen müssen, daß Ihre gegenwärtigen Wohnverhältnisse für nunmehr sechs Personen nicht ausreichend sein werden.' Dann wird noch einmal belehrt: `Welche Beweggründe Sie auch immer zu diesem Schritt veranlaßt haben, Sie hätten sich über seine Folgen im klaren sein müssen.' ... Hilfe bekam Rieck von der CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Birgit Schnieber-Jastram. Sie war empört: `Ist es übliche Praxis, eine Eheschließung als Eigenverschulden zu bezeichnen und eine notwendige Unterstützung bei der Wohnungssuche mit diesem Hinweis zu verweigern?' wollte sie vom Senat wissen. Der antwortete knapp mit nein. Geändert hat sich trotzdem nichts. ..." (HH A)

So ein Fall von Behördenbockbeinigkeit sei ein Ausnahmefall? Da hätten Sie regelmäßig die Sendung "Wie bitte?" anschauen sollen! Da verging einem das Lachen - jedenfalls den Betroffenen; aber auch denjenigen, die sich in die ohnmächtige Lage der Betroffenen hineinversetzen konnten. Und ich halte jede Wette, dass RTL der Stoff für diese Alptraum-Sendung nie ausgegangen wäre! Aber der »geistige Dünnschiss« der »Spaßunkultursendungen«36 mit Kreti und Pleti, die als Akteure solcher schwachsinnigen Belanglosigkeiten von denjenigen, denen laut Jesu’ in der Bergpredigt geäußerter Verheißung wegen ihrer geistigen Armut das Himmelreich gehören solle, zu Semi-Prominenten hochgejubelt werden, die sie meist nicht einmal sind, denn ich kenne sie meist nicht, und die so als gut honorierte »Fernsehaffen« allwöchentlich das Karl-Kraus-Wort: „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge Schatten“ für ein Millionenpublikum erfahrbar personifizieren, die trotz ihres von denselben Zuschauern in einer weiteren Sendung verliehenen Status’ als „nervigste Deutsche“ unerträglicherweise immer wieder zu bestimmten Sendungen herangezogen werden, über die dann auch noch am nächsten Tag in schreiend großen Lettern (z.B. zur Wahl des deutschen Kurienkardinals Joseph Ratzinger zum Papst Benedikt XVI. mit den drei Wörtern: „Wir sind Papst“) in genauso unerträglichen Zeitungen genauso Unerträgliches für die berichtet wird, bei denen sich das einzige, was sich in ihrem Kopf länger als zehn Minuten zu halten vermag, eine Erkältung ist, diese geistige Verarmung in unserer momentan spaßgegeißelten Gesellschaft hat wohl zu der Einstellung der wesentlich gehaltvolleren Sendung "Wie bitte?" geführt. („Wir amüsieren uns zu Tode“ hieß ein alarmierender Buchtitel, der auf die Gefahr einer allseits um sich greifenden geistigen Verarmung aufmerksam machen wollte.) Weitere illustrierende Intermezzi für nicht nachvollziehbare Behördenbockbeinigkeit gefällig? "Der Fährmann und der Fiskus joc/kg Hamburg - Der Fährmann versteht die Welt nicht mehr: Karl-Heinz Büchel (`Käpt`n Kuddel') wurden 900 Liter Diesel aus dem Tank der `Spieker Möwe' gestohlen. Ein Verlust von 360 Mark. Doch es kommt noch schlimmer: jetzt bittet ihn auch noch der Fiskus zur Kasse. Büchel, dessen Fähre von März bis November zwischen Zollenspieker und Hoopte verkehrt, soll Steuern nachzahlen - 558 Mark. Als Gewerbetreibender kauft Büchel Diesel steuerbegünstigt. Deshalb würde die 36

„Das Fernsehen ist eine große Wundertüte. Und zu den erstaunlichsten Mirakeln televisionären Schaffens zählt die verblüffende Fähigkeit, Überflüssiges bis nahezu Schwachsinniges zu produzieren. Ja, einigen nimmermüden Koryphäen der Zunft gelingt es tatsächlich, das kopfschüttelnde Publikum immer wieder dadurch zu faszinieren, dass sie die nieveaulosesten Ergüsse ihrer Kollegen souverän unterbieten.“ (STERN tv-magazin zu einer Schwachsinnssendung am 09.09.04)

155

Oberfinanzdirektion ihre Forderung erst zurückziehen, `wenn der Dieb nachweisen würde, daß er den Sprit gewerblich verwendet'. Büchel ist baff: `So etwas habe ich in 35 Jahren als Schiffsführer noch nicht erlebt.' Den Diebstahl hatte er umgehend der Polizei gemeldet. Die Schwierigkeiten begannen erst, als der Zoll kontrollieren wollte, ob sein steuerbegünstigter Treibstoff gewerblich genutzt wird. Der Zöllner wurde über den Diebstahl informiert, und deshalb muß Büchel nun blechen: `Weil diese Menge nicht der Ihnen bewilligten, steuerbegünstigten Verwendung als Schiffsbetriebsstoff zugeführt wurde', heißt es in der Begründung des Hauptzollamtes St. Annen, einer Unterbehörde der Oberfinanzdirektion. Günther Losse, Hamburger Zoll-Sprecher bestätigte den Sachverhalt: `Wir können nicht mehr feststellen, wer den Sprit wie verwendet hat. Da wir den Dieb nicht kennen, hält sich die Steuer an den Fährmann.' Auch er bedauere, daß Büchel nun doppelt geschädigt werde. Gleichzeitig deutet er einen Ausweg an: `Wenn der Dieb nachweisen würde, daß auch er den Sprit gewerblich verwenden würde ...' In dem Falle sähe wohl alles anders aus. Karl-Heinz Büchel findet kaum Worte: `Das ist ein dicker Hund.' Gegen die `sittenwidrige Forderung' des Fiskus legt er Widerspruch ein." (HH A 09.02.95) „Familie W. will das Gelände ihres Reiterhofes in Brandenburg arrondieren und benötigt für den Kauf eines Grundstücks einen Kredit. Die Bank bewilligt ihn problemlos, zahlt aber nicht aus. Der Grund: Zwei Behörden streiten sich, wie der Kauf im Grundbuch einzutragen sei. Das Amt für ländliche Entwicklung besteht auf der Schreibweise ’Flur 5/9’, die Grundbuchstelle des Amtsgerichts fordert für den Eintrag ’Flur fünf/neun’. Die beiden Behörden ziehen mit ihrem Streit vor das Verwaltungsgericht. Das dauert natürlich – den Bürokraten ist das egal. ... Im bayerischen Degendorf zog ein Bauer mit dem Traktor einen PKW aus dem Graben. Daraufhin schickte ihm das Finanzamt einen Gebührenbescheid über 29 Euro – pro Kilo Traktorgewicht einen halben Cent. Begründung: missbräuchliche Benutzung einer steuerbefreiten landwirtschaftlichen Zugmaschine.“ (STERN 18.09.03)

Doch zurück zu unserem Problemkreis Ehe und Asylrecht. Soll ein vom Verfassungsgesetzgeber ohne Gesetzesvorbehalt gewährtes Grundrecht wie das Recht auf Ehe und Familie uneingeschränkt gelten, so dass mit ihm auch Missbrauch getrieben werden kann? „Scheinehe für Döner dpa Nürnberg – Döner auf Lebenszeit hat ein türkischer Gastwirt einem Schüler (18) in Nürnberg für die Heirat seiner in der Türkei lebenden Schwester versprochen. Zudem wollte der 35-Jährige dem jungen Mann den Führerschein bezahlen und einen Urlaub sponsern, teilte die Polizei mit. Der Schüler habe sich darauf eingelassen, aber kurz nach der Heirat ging er zur Polizei. Gegen die Eheleute läuft ein Verfahren.“ (HH A 21.04.01) "Scheinehen: Die erkaufte Sicherheit Immer häufiger werden in Hamburg Scheinehen geschlossen. Der Leiter des Sachgebietes 1 der Ausländer-Behörde, Gerhard Horter, deckt bei seiner Arbeit jede Woche `mindestens' eine Ehe auf, die nur zu dem Zweck geschlossen wurde, daß ein Asylbewerber, dem die Abschiebung droht, in Deutschland bleiben kann. Denn Ausländer, die rechtmäßig mit einem Deutschen verheiratet sind, erhalten automatisch eine fünfjährige Arbeitsgenehmigung. Danach können sie sogar die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Ein Dokument, für das viele Asylbewerber teuer bezahlen. Horter schätzt, daß die deutschen Partner, die meist in Kneipen oder Discos zu dem Deal überredet werden, Beträge von bis zu 10.000 Mark für eine Scheinehe kassieren. `Bei Hamburgs Prostituierten gilt das als beliebte zusätzliche Einnahmequelle', sagt Horter. `Oft heiraten aber auch Drogenabhängige, die ein paar hundert Mark verlangen, mit denen sie den nächsten Druck bezahlen.' Wenn die Ehen dann geschlossen sind, kommen die Schein-Eheleute zur Ausländerbehörde, um die Arbeitserlaubnis zu beantragen. Dort werden sie von Horter und seinen Kollegen in die Pflicht genommen.

156

Die Beamten überprüfen dabei nicht nur, ob die Eheleute einen gemeinsamen Wohnsitz haben. Sie wollen zum Beispiel auch wissen, ob die Eheleute am Vorabend gemeinsam zu Hause waren. Wird dieses bejaht, und die Eheleute geben beispielsweise an, gemeinsam Fernsehen geguckt zu haben, fragt der Beamte die beiden getrennt, welchen Film sie sich angeschaut haben. Kommt es bei dem Interview zu Widersprüchen, ‘geben die meisten deutschen Partner von selbst zu, daß sie nur zum Schein geheiratet haben', berichtet Horter. ‘Sie wissen, daß ihnen sonst eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr droht. Der Asylbewerber wird sofort abgeschoben.'" (HH A 11.02.93) Das GG als "Dealer- und Prostituierten-Geldeinnahme-Schutzgesetz"? Das wäre ja noch schöner! Ausländer, die einer solchen Täuschung überführt werden, können nach dem Ausländergesetz (Paragraph 92) mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden und verlieren ihr Aufenthaltsrecht. Deutsche Staatsbürger machen sich dabei der „Unterstützung eines illegalen Aufenthalts” strafbar, die bis zu einem Jahr Gefängnis eintragen kann. Diese Strafbestimmung wird aber fast nie angewandt, geschweige denn ausgeschöpft. Auf Grund der Strafbestimmungen des Ausländergesetzes § 92 I Nr. 7 Erschleichen von Berechtigungen durch falsche Angaben wird in Verbindung mit §§ 45 und 46 AuslG meist die unverzügliche Ausweisung vorgenommen. Einige Politiker fordern, wie einem Zeitungsartikel vom 11.02.98 zu entnehmen war, unter Berufung auf eine entsprechende in Dänemark geltende gesetzliche Bestimmung ein Heiratsverbot für Asylbewerber, um so einem Betrug mit Scheinehen entgegenwirken zu können. Wenn die Partner des Scheinehen-Deals sich dann aus dieser oft leichtsinnig eingegangenen Verbindung mit u.U. auch Nachteilen für sie selbst bezüglich des Verlustes staatlicher Unterstützungszahlungen, da ja z.B. zunächst einmal der wenn auch aus Deutschland ausgewiesene Ehepartner unterhaltspflichtig ist, bevor "Stütze" und Wohngeld beantragt werden können, lösen wollen, müssen sie sich – wie rund 90.000 andere pro Jahr auch scheiden lassen. Das kostet und dauert! Selbst ein noch in Deutschland sich aufhaltender ausländischer Scheinehen-Partner ist oft nicht auffindbar. In der Zwischenzeit eine wirkliche Ehe einzugehen, wäre strafbare Bigamie und wird nicht nur mit zwei Schwiegermüttern bestraft. Ganz besonders schwierig gestalten sich die Lebensumstände zuvor schon Geschiedener, die durch das Eingehen der angebotenen Scheinehe ganz schnell ca. € 5.000,- zusätzlich verdienen wollten: Nach der Annullierung der Scheinehe lebt der alte Unterhaltsanspruch gegen den vorherigen Ehemann nicht wieder auf! Das ist gesetzlich so festgelegt und nach Billigkeitserwägungen wohl auch rechtens. Das alles spricht für den von der Behörde ausgefochtenen Kampf gegen die Scheinehen mit Ausländern. Andererseits aber wurde in der vorstehenden Zeitungsmeldung berichtet, dass eine Ehe formularmäßig rechtens schon geschlossen worden war: " ... und erkläre Sie hiermit vor dem Gesetz für Mann und Frau." Es waren ja nicht Brautleute in der Zeit des damals noch notwendigerweise zu bestellenden Aufgebotes zum Ausländeramt einbestellt und befragt worden, sondern Eheleute. Und das GG schützt doch an sich die Ehe in Art. 6 GG! Soll dann die Behörde in aus welchen Gründen auch immer geschlossenen Ehen herumschnüffeln dürfen? Ist das kein Verstoß gegen das Grundgesetz? Und es gab schon die Fälle weltberühmter verschwiegen homosexueller Schauspieler, die ihre weibliche FanGemeinde nicht vor den Kopf stoßen konnten oder wollten und deswegen auch eine Scheinehe eingegangen sind. Da wird dann höchstens von der Klatsch-Presse nach dem fraglichen Vollzug der Ehe gefahndet, nicht aber vom Staat. (Aber diese Leute wollten sich mit ihrer Scheinehe auch keine staatlichen Berechtigungen erschleichen.) Und wenn schon geschlossene Ehen offensichtlich nicht immer geschützt werden: Wie soll es dann bei den juristisch viel lockerer gebundenen nichtehelichen Lebensgemeinschaften sein, wo die Partner relativ leicht wieder auseinanderlaufen können? Da müssten doch erst recht Ausweisungen vorgenommen werden dürfen! Auch wenn ein Kind bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit "abgefallen" ist und nicht nur eine Ehe geschlossen, sondern sogar eine Familie gegründet worden sein kann. (Zur Bedienung von Stammtischen: Da könnte sich ja sonst jeder Schwarze an einen weichen weißen Leib heranschmusen und eine Deutsche schwängern, um die Gesetze zu unterlaufen und in Deutschland Bleiberecht zu erhalten.) Jedenfalls die beiden Sätze vor der Klammer dachte die Hamburger Ausländerbehörde im nachfolgenden Fall; nicht ganz zu Unrecht, wie ihr die Verwaltungsgerichte bestätigten - die dabei genau so wenig das Wesen der Familie inhaltlich hinreichend berücksichtigten wie der Hamburger Staat durch seine Ausländerbehörde. Dabei hätte ein Blick in einen Grundrechtskommentar z.B. die Erklärung finden lassen: "Art. 6 umfaßt nicht den Schutz der Generationen-Großfamilie. Familie bedeutet hier die in der Hausgemeinschaft geeinte engere Familie, das sind die Eltern mit ihren Kindern. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Familie im Sinne des

157

Art. 6 Abs. 1 GG nur als die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern verstanden." Der ghanesische Asylant der nachfolgenden Zeitungsmeldung lebte bis zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung mit einer Deutschen in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammen und hatte mit ihr ein Kind. Die an sich schon längere Zeit geplante Eheschließung konnte wegen fehlender und aus Ghana nur äußerst mühsam zu beschaffender Papiere nicht vollzogen werden. Der Asylantrag des Ghanaers war zwischenzeitlich rechtskräftig abgelehnt worden. Sämtliche gegen seine Abschiebung angestrengten Verwaltungsprozesse hatte er schon verloren. Nach Ausschöpfung des Rechtsweges konnte der mit seiner deutschen Braut und dem gemeinsamen Kind zusammenlebende Asylant aber noch das BVerfG anrufen: "Aufschub statt Abschiebung Heiratsabsicht: Darf Ghanaer in Deutschland bleiben? Der Ghanaer Sulleimann Ahmed Toloba darf vorläufig in Deutschland bleiben. Das entschied das Bundesverfassungsgericht. Der 28jährige sollte nach der Ablehnung seines Asylantrages abgeschoben werden, obwohl er die Hamburgerin Heike Reimer, Mutter seines 15 Monate alten Sohnes, heiraten will. Wie berichtet, wollen Sulleimann Ahmed Toloba und Heike Reimer seit einem Jahr heiraten. Doch die notwendigen Dokumente aus Ghana wurden von den Behörden bisher nicht anerkannt. Mal galten sie als veraltet, mal gingen sie auf dem Weg von der deutschen Botschaft in Ghana nach Hamburg verloren. Dann kam das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg: Abschiebung - und das, obwohl ein Gutachten der Sozialen Dienste vorlag. Darin wurde bestätigt, daß es sich bei der Familie nicht um eine `Schein-Familie' handele, sondern um eine stabile Gemeinschaft, in der der Vater eine wichtige Rolle spiele. Die Anwältin des Ghanaers, Cornelia Ganten-Lange, wollte das Urteil nicht akzeptieren. Sie rief das Bundesverfassungsgericht an. Sie sah in der Abschiebung trotz Heiratswillens und trotz Familie einen Verstoß gegen den im Grundgesetz verankerten Schutz der Familie. Das Verfassungsgericht gab ihr recht. Dieser Schutz der Familie `verpflichtet die Ausländerbehörde, bei einer Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung die familiären Bindungen des Aufenthalt begehrenden Ausländers ... in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen'. Auch für einen nichtehelichen Vater gelte der Artikel 6 im Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg auf. Es muß jetzt neu verhandelt werden." (HH A 16.11.92) Da wundert es einen, dass es zu dem der folgenden Meldung zugrunde liegenden Prozess kommen konnte - aber Behörden und selbst höhere Gerichte sind - jedenfalls in Asylsachen - oft verbockt und nicht unbedingt lernwillig. Wenn sie auch nur eine unwesentliche Abweichung in der Fallgestaltung erkennen zu können glauben, versuchen sie zunächst einmal, die für den Betroffenen rigidere Gesetzesauslegung anzuwenden, ohne sich (zu große) Gedanken um den Sinn oder den Schutzzweck einer grundgesetzlichen Norm zu machen: "Bundesverfassungsgericht entschied: Türkischer Vater darf bleiben Weil er mit einer Hamburgerin ein Kind hat, darf ein von Abschiebung bedrohter Türke vorerst in der Hansestadt bleiben. Das entschied das Bundesverfassungsgericht und hob damit eine gegenteilige Entscheidung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts auf (Aktenzeichen: 2 BVR 1542/94). Der Fall: Kerim B. lebt seit 1981 in der Bundesrepublik. 1987 heiratete er eine Deutsche. Die eheliche Lebensgemeinschaft besteht aber nicht mehr, die Scheidung läuft. Seit 6. Juni dieses Jahres hat der 37jährige eine Tochter mit einer Hamburgerin. Seit 19. Juli saß er in Abschiebehaft, weil er sich nach Ansicht der Hamburger Behörden und Richter seit drei Jahren illegal hier aufhält. Die Wende in der juristischen Beurteilung des Falles brachte die neue eheähnliche Beziehung. Zwar hat B. eine Wohnung in Altona, seine Freundin eine in Eimsbüttel. Doch sie verbrächten nahezu jeden Tag gemeinsam, versicherte die Kindesmutter. Der Türke argumentierte in seiner Verfassungsbeschwerde, auch für die nichteheliche Lebensgemeinschaft eines Ausländers mit einer Deutschen und ihrem gemeinsamen Kind gelte der Grundgesetz-Artikel sechs. Artikel sechs lautet: `Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.' Für die Karlsruher Richter hat die Verfassungsvorschrift Vorrang. Kernsatz ihrer Entscheidung: Könne die `Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und einem von ihm als

158

Vater anerkannten deutschen Kind nur in der Bundesrepublik stattfinden, weil dem deutschen Kind wegen dessen Beziehung zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück'. Die rechtliche Beurteilung ändere sich auch nicht dadurch, daß der Beschwerdeführer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen habe. Jedenfalls könne sich auch ein nichtehelicher Vater grundsätzlich auf den Schutz des Artikels sechs berufen, wenn er mit Kind und Mutter zusammenlebe. Das Bundesverfassungsgericht verwies den Fall an das Oberverwaltungsgericht zurück. Das OVG verfügte noch gestern eine Aussetzung der Abschiebung. Gestern wurde Kerim B. auch aus der Haft entlassen. rup" (HH A 17.08.94) Ob der Nachhilfeunterricht des BVerfGs in Sachen Beachtung des Art. 6 GG auch bei von Abschiebung bedrohten Ausländern nun sitzt? Das BVerfG trägt dem geänderten Familienbild Rechnung und definiert „Familie“ als eine „umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen“ - ohne dass dazu ein Trauschein gehören muss. So sehen das auch die Grünen: „Familie ist da, wo Kinder sind.“ Aber so vermochten es 2002 die katholische Deutsche Bischofskonferenz und konservativere Teile der CDU/CSU immer noch nicht zu sehen, die vor der Bundestagswahl 2002 gemeinsam dagegen Front machten, dass eine 28-jährige ledige Mutter, die mit ihrem Partner in einem „Konkubinat“ – schon allein das Wort ist anstößig! – zusammenlebte und weiterhin unverheiratet ihr zweites Kind bekam, in der CDU/CSU an herausragender Stelle für „Familie“ zuständig sein, eventuell die nächste Familienministerin werden sollte. Und zum Schluss als anwaltlicher Rat für einen von Abschiebung bedrohten Ausländer: Es kommt nur darauf an, sich mindestens neun Monate im Bett einer Deutschen versteckt zu halten und dabei schleunigst mit Fleiß und Freude einen Bleibegrund zu produzieren; zu dem man(n) aber dann auch stehen muss. Das ist praktizierte Juristerei! Und das war vor 10 Jahren, als ich am Manuskript dieses Buches an dieser Stelle schrieb, als juristischer Gag für meine Leser gedacht: Ich hatte nur die sich auftuenden Möglichkeiten juristisch gedanklich durchgespielt und zu Ende gedacht. Aber da ich – zum Glück – kein Privileg aufs Denken besitze, wunderte es mich nicht, dass ich zehn Jahre später im SPIEGEL vom 25.10.04 die Notiz fand, dass Islamisten und ausreisepflichtige Ausländer das liberale Familienrecht in Dänemark ausnutzen würden, um in Sonderburg oder Tondern ohne zeitraubende Formalitäten eine deutsche Frau zu heiraten. Ein anderer, seit der Reform des Kindschaftsrechts 1988 häufig genutzter, viel eleganterer weil straffreier Trick ist die Anerkennung von (angeblich bestehenden) Vaterschaften: (Schein-)Eheschließungen können behördlich angefochten und gerichtlich geahndet werden, Scheinvaterschaften nicht! Wer als ausreisepflichtiger Ausländer die Vaterschaft eines in Deutschland geborenen Kindes anerkennt, dem ist seit der Reform 1988 zumindest ein vorläufiger Aufenthaltstitel sicher. So kommt es, dass in 70 % aller Fälle, in denen Ausländer zwischen April 03 und April 04 Kinder deutscher Frauen anerkannt hatten, die Väter ausreisepflichtig gewesen waren. Diese (angeblichen) Väter konnten so mit dem Hinweis auf den Schutz der Familie ihre Abschiebung umgehen. Nun wird erwogen, eine rechtliche Regelung zu schaffen, dass derartige Vaterschaftsanerkenntnisse von Behörden angefochten werden können. „Trägern öffentlicher Belange soll „ein befristetes Anfechtungsrecht bei Vaterschaftsanerkennungen im Bürgerlichen Gesetzbuch” verschafft werden, das heißt, die Behörden sollen das Recht erhalten, vor Gericht einen DNS-Test zu erstreiten. Die gleiche Forderung hatte die CDU/CSU-Fraktion schon im Oktober in den Bundestag eingebracht. Die Union stellte in ihrem Antrag besonders „die verheerenden Folgen für die betroffenen Kinder” heraus, denen durch den Mißbrauch des Familienrechts das Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung und der Umgang mit dem leiblichen Vater verwehrt werde. Bundestag und Bundesrat haben bisher wenig Neigung gezeigt, sich mit der Sache zu befassen. Die für den 11. November angesetzte Bundestagsdebatte über den Antrag der Union entfiel; die vorbereiteten Reden wurden nur zu Protokoll genommen. Dort riet der GrünenAbgeordnete Winkler den Christlichen Demokraten, sie sollten sich bei diesem Thema „mal an die Weihnachtsgeschichte - in der ja die Frage der Vaterschaftsanerkennung eine wesentliche Rolle spielt - erinnern”, um sich in die verzweifelte Lage einer ausländischen Mutter zu versetzen, „wenn sie die Abstammung ihres Kindes wegen einer Aufenthaltserlaubnis verleugnet”. Die Abgeordneten der Koalition warfen der Union vor, das Phänomen der Scheinvaterschaften aufzubauschen, Ausländer durch einen „Generalverdacht” zu diskriminieren und „vorschnell” nach

159 Gesetzesänderung zu rufen. Vorrang habe in jedem Fall „die Wertentscheidung der Kindschaftsreform von 1998”, heißt es im Redemanuskript der SPD-Abgeordneten Lambrecht, „die ganz bewußt die Rechtsstellung und die Verantwortung der Mutter eines nicht ehelich geborenen Kindes stärkt”. Der Berliner CDU-Abgeordnete Gewalt hingegen gab zu Protokoll, die Gesetzeslücke, die sich durch das Kindschaftsrecht aufgetan habe, sei „so groß wie ein Scheunentor”. Der Bundesregierung sei das Problem seit 2001 bekannt. Dennoch spiele sie es in unverantwortlicher Weise herunter. Nach dem gleichen Schema verlief die Debatte im Rechtsausschuß des Bundestags, der das Thema Scheinvaterschaften schließlich unter Hinweis auf die ausstehende Stellungnahme der Justizminister vertagte. Gelebte Vaterschaften Die Justizministerkonferenz wiederum wird sich nach Auskunft des nordrhein-westfälischen Justizministers Gerhards (SPD) voraussichtlich überhaupt nicht mit den Scheinvaterschaften befassen. Diesen Eindruck hat Gerhards zumindest aus den ersten Reaktionen seiner Justizkollegen auf den Antrag der Innenminister gewonnen. Seiner Meinung nach ist dieser Vorstoß einfach überflüssig: „Man ruft nach dem Gesetzgeber, obwohl man einfach nur die geltenden Gesetze anwenden müßte.” Statt den umständlichen Weg zu beschreiten, Vaterschaften anzufechten, müßten die Ausländerbehörden lediglich den Nachweis verlangen, daß erklärte Vaterschaften tatsächlich gelebt und etwa durch Unterhaltszahlungen glaubhaft gemacht würden. Sei das nicht der Fall, gebe es auch keinen Grund, einen Aufenthalt wegen familienrechtlicher Interessen zu verlängern. „Ich negiere nicht das Problem”, sagte Gerhards dieser Zeitung, „nur die von der IMK vorgeschlagene Lösung.” Senator Röwekamp beharrt indes darauf, daß die Ausländerbehörden auch bei begründetem Verdacht auf eine Scheinvaterschaft keinerlei Handhabe hätten, den Aufenthalt des Betreffenden zu beenden. „In dem Augenblick, in dem beim Standesamt eine Vaterschaft angezeigt wird, kann sie nicht mehr angezweifelt werden. In einem Anfechtungsverfahren dagegen könnte ein DNSGutachten eingeholt und die Fiktion der Vaterschaft durch Gerichtsbeschluß aufgehoben werden.” Röwekamp weicht freilich dem Argument aus, daß die biologische Verwandtschaft nicht die alleinige Voraussetzung für eine Vaterschaftsanerkennung ist. Neben der fehlenden biologischen Verwandtschaft müßte die Behörde weiterhin das Fehlen einer sozialen Vater-Kind-Beziehung nachweisen, um eine Scheinvaterschaft zu enttarnen. Auf dem grauen Markt werden sowohl für die Vermittlung, als auch für die Übernahme von Scheinvaterschaften beträchtliche Summen gezahlt. Der Abgeordnete Gewalt sieht darin bereits einen neuen Geschäftszweig der organisierten Kriminalität. Dem Bundeskriminalamt liegen keine entsprechenden Erkenntnisse vor. Auch Röwekamp, der für dieses Thema in der Innenministerkonferenz zuständig ist, hat dafür keine Anhaltspunkte. Das könnte sich jedoch ändern, wenn die Politik weiterhin zögert, sich des Problems anzunehmen.“ (F.A.Z. 01.03.05)

Auch von Abschiebung bedrohte (logischerweise ausländische) Frauen unterlaufen elegant und völlig risikolos ihre Abschiebung, wenn sie – selbstverständlich gegen (der Behörde nicht bekannt gewordene) Bezahlung – einen pekuniär »nicht ganz momentanen« Deutschen finden, der bereit ist, seine angebliche Vaterschaft an ihrer »in statu nascendi« befindlichen Leibesfrucht anzuerkennen: Eine in Deutschland niederkommende Ausländerin erwirbt ein Bleiberecht, sobald sie für ihr Kind einen deutschen Vater nachweisen kann. Das gilt sogar dann, wenn sie hochschwanger eingereist ist und schon an der Hautfarbe des Kindes zu erkennen ist, dass der zum Vater erklärte Mann nicht der Erzeuger gewesen sein kann, denn die biologische Vaterschaft ist nicht Voraussetzung für die amtliche Anerkennung einer Vaterschaft. Das war bis 1998 noch anders. Vor der Reform des Kindschaftsrechts wurde regelmäßig das Jugendamt zum Vormund nichtehelich geborener Kinder bestellt. Der Amtsvormund befand unter anderem darüber, ob ein von der Mutter als Vater angegebener Mann in seine Vaterrechte eingesetzt wurde. Das wurde zu Recht als Bevormundung der Mütter empfunden und mit der Kindschaftsreform geändert. Seither ist Vater der, der sich dazu bekennt und von der Mutter als solcher anerkannt wird. Dass diese Regelung zu Missbrauch führen könnte, ist damals niemandem in den Sinn gekommen. Dem Staat scheint es neben der Abschaffung der Bevormundung von ledigen Müttern auch darum gegangen zu sein, jemanden zu haben, der rechtlich für den Unterhalt des Kindes einzustehen hat. Die in bürgerlicher Normalität lebenden Abgeordneten, der Gesetzgeber, hatte sich nicht hinreichend in die »Denke« dieser eine Vaterschaft anerkennenden Looser hineinversetzt. Sie waren von ihren Lebensumständen ausgegangen und in denen sind mit einer Vaterschaft mehr Pflichten als Rechte verbunden. Da aber die Randständigen selber von »Stütze« leben, sie den kleinen Zuverdienst für die Anerkennung der angeblichen

160

Vaterschaft geheim halten, da er sonst auf ihre »Stütze« angerechnet würde, verfügen sie auch über keine Einkünfte, aus denen heraus sie für den Unterhalt »ihres« Kindes aufkommen müssten. Das Ergebnis: nun müssen sowohl die ohne vorgeschobene Anerkennung nicht aufenthaltsberechtigte Kindsmutter und ihr/e Kind/der von der aus unseren Steuergeldern aufgebrachten Sozialhilfe durchgebracht werden. Das Elegante dieser äußerst erfolgreichen Methode besteht auch hier darin, dass zwar das Eingehen von Scheinehen strafbar ist, nicht aber die Anerkennung von Scheinvaterschaften! »Looser«, die auf Grund ihrer wirtschaftlichen Lage nie die wirtschaftlichen Folgen ihrer Anerkenntnis tragen müssen, selber von »Stütze« leben, nie Unterhalt zahlen werden und denen es völlig gleichgültig ist, dass durch ihre Vaterschaftsanerkenntnis die deutschen Sozialkassen ausgeplündert werden, weil die Allgemeinheit über die Sozialhilfe für sowohl die Mütter, die sich auf diesem Wege die Aufenthaltsberechtigung erschleichen, als auch deren Kinder aufkommen muss, »Looser«, denen die Finanzierung ihrer täglichen Alkohol- oder/und Rauschgiftration durch eine heimlich »cash in de Täsch« gewährte Prämie näher liegt, als die berechtigten Belange des Staates, erkennen angebliche Vaterschaften im großen Stil an und bescheißen so unsere sozialen Sicherungssysteme. Das ist das Problem der „Imbissbudenväter“. 2004 sind 1.694 Verdachtsfälle (Fakt 17.01.05) notiert worden. Die Fälle der von deutschen Männern oder bei uns aufenthaltsberechtigten Ausländern durch Geldzuwendungen schwangerer Ausländerinnen anerkannten (Schein-)Vaterschaften, um den Müttern und ihren Kindern den Aufenthalt und den Anspruch auf Sozialhilfe zu ermöglichen, sind in dieser Zahl nicht enthalten. Sie übersteigen die Erschwindelung des Aufenthaltes unter Missbrauch der Möglichkeiten des Familienrechts durch die Männer um einiges. Für den Staat „lassen die Daten eine Dimension erkennen, die eine Vernachlässigung des Problems nicht rechtfertigen”, heißt es in einem Bericht des Bremer Innensenators Röwekamp (CDU) an die Innenministerkonferenz. Volker Koop Realität oder nur Phantome? "Imbissväter" - Diskussion um erneute Reform des Kindschaftsrechts Ein 31 Jahre alter Berliner dürfte derzeit in Deutschland einen wohl einsamen Rekord halten: Er ist Vater von neun Kindern - allerdings nur auf dem Papier. Die Vaterschaft hat er für Kinder anerkannt, deren Mütter, Migrantinnen, vor der Ausweisung standen. Die Kinder bekamen damit die deutsche Staatsangehörigkeit, die Mütter ein Bleiberecht - und der Berliner für jede "Vaterschaft", wie er einräumte, ein gutes Honorar. "Imbissväter" - so heißen im Alltagsjargon die deutschen Männer, die ihre Vaterschaft verkaufen. Gezielt wird an öffentlichen Plätzen eine gewisse Klientel - meist Sozialhilfeempfänger - für eine Vaterschaftsanerkennung gesucht, und dies ist laut Jürgen Gehb kein Zufall. "Denn", so der CDUBundestagsabgeordnete, "aufgrund ihrer besonderen Lage müssen und können diese Männer ihre mit der Anerkennung entstehenden Unterhaltsverpflichtungen für das Kind und selbstverständlich auch für die Mutter nicht tragen. Stattdessen zahlt der Steuerzahler." Eine Handhabe gegen diese "Vaterschaften" gebe es bisher nicht, die rechtliche Anerkennung nicht leiblicher Kinder sei legal. Es sei kein Geheimnis, dass es hierfür regelrechte Tarife gebe: um die 50.000 Euro liege der Lohn für den Scheinvater. Sei die Mutter ausreisepflichtige Ausländerin, sei darüber hinaus mit der Vaterschaftsanerkennung eines deutschen Mannes das Bleiberecht für Mutter und Kind verbunden. Der CDU-Parlamentarier verweist darauf, dass die Innenministerkonferenz davon ausgehe, dass es in nicht unerheblicher Anzahl zu Vaterschaftsanerkennungen komme, die primär der Vermittlung eben dieses Bleiberechtes dienten. Gehb: "Folgerichtig plädieren die Innenminister dafür, dass im Bürgerlichen Gesetzbuch bei Vaterschaftsanerkennungen ein befristetes Anfechtungsrecht für einen Träger öffentlicher Belange geschaffen werden soll." Die Union habe deshalb im Herbst des vergangenen Jahres die Bundesregierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorzulegen, passiert sei jedoch noch nichts. Einen solchen Handlungsbedarf sieht der Grünen-Abgeordnete Josef Winkler aus mehreren Gründen nicht. Für ihn ist unklar, wie die Union zu der Einschätzung komme, dass die Zahl von Scheinvaterschaften seit 2001 zunehme, denn eine von der Innenministerkonferenz initiierte Erhebung erfasse nur den Zeitraum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004. Außerdem handele es sich um Verdachts- und nicht um Missbrauchsfälle. "In der Erhebung der Ausländerbehörden wurde nämlich allein die Zahl der Vaterschaftsanerkennungen erfasst, woraus noch lange nicht die Missbrauchsfälle abzulesen sind." Dass es im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtsordnungen eine Anfechtungsbefugnis öffentlicher Stellen noch nicht gebe, liege unter anderem auch am reformierten Kindschaftsrecht. Vor dieser Reform, habe auch ein nichteheliches Kind einer Vaterschaftsanerkennung zustimmen müssen, was aber durch das Jugendamt in Amtspflegschaft erfolgt sei. Diese Bevormundung der Mutter durch den Staat habe man jedoch gerade abschaffen

161

wollen. Winkler: "Die Feststellung der sozialen Beziehung kann nicht wie bei einer Scheinehe an einer familiären Lebensgemeinschaft festgemacht werden. Väter kümmern sich heutzutage häufig auch viel um ihre Kinder, ohne mit ihnen zusammen zu wohnen. Ein Abstellen auf die fehlende Bereitschaft des Vaters, für das Kind zu sorgen, würde zu einer Diskriminierung und zu einem Generalverdacht gegen Sozialhilfeempfänger führen." Der Grünen-Politiker wendet sich strikt gegen ein Zurückdrehen der Kindschaftsrechtsreform. Der Gesetzgeber habe bewusst auf eine behördliche Beteiligung bei der Vaterschaftsfeststellung unehelicher Kinder verzichtet und damit die Rechte der Mütter gestärkt: "Staatliche Stellen haben weder bei ehelichen noch bei unehelichen Kindern von Deutschen das Recht, die Vaterschaft des biologischen oder auch des sozialen Vaters in Zweifel zu ziehen. Gleiches muss auch für die Kinder von ausländischen Vätern oder Müttern und binationale Paare gelten." Auf den erwähnten Bericht der Innenministerkonferenz geht auch Joachim Stünker als rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion ein. Die Erhebungen hätten zwar einen hohen Anteil von Fällen ergeben, in denen die Vaterschaftsanerkennung für ein deutsches oder ausländisches Kind mit der Ausreisepflicht der unverheirateten ausländischen Mutter (72 Prozent) zusammengetroffen sei. Mit 83 Prozent sei der Anteil der Vaterschaftsanerkennungen durch deutsche Männer ebenfalls hoch gewesen. Der Bericht räume jedoch ein, dass es sich bei diesen Zahlen nur um ein Indiz handele. Es fehlten Kriterien, anhand derer festgestellt worden sei, ob die Anerkennung "echt" oder nur zur Erlangung von Aufenthaltstiteln beziehungsweise Sozialleistungen vollzogen worden sei. Die Rechtspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion plädierten deshalb dafür, sich mit dem Zahlenmaterial sachlich auseinanderzusetzen. Bei der Reform hätten sie sich mit gutem Grund gegen eine behördliche Beteiligung bei der Vaterschaftsfeststellung entschieden. Joachim Stünker: "Es besteht kein Anlass, diesen Grundsatz unüberlegt über Bord zu werfen. Hinzu kommt, dass die geforderten Änderungen Ausländer und Ausländerinnen betreffen. Zur Begründung einer derartigen Gesetzesänderung muss das Zahlenmaterial besonders belastbar sein." Sollten sich die Befürchtungen jedoch bestätigen, werde sich die SPD-Bundestagsfraktion des Themas annehmen und eine Lösung erarbeiten. Unter Verweis auf ein nicht gesichertes Datenmaterial lehnt auch die FDP-Bundestagsabgeordnete Sibylle Laurischk eine Änderung des derzeitigen Kindschaftsrechtes ab. Die Daten der Innenministerkonferenz wiesen nur nach, wie viele ausreisepflichtige Ausländerinnen einen Aufenthaltstitel erhalten hätten, nachdem ein Deutscher die Vaterschaft für ihr Kind anerkannt habe. "Schon hier von vornherein zu unterstellen, dass diesen Vaterschaftsanerkenntnissen nicht auch eine tatsächliche, biologische oder sozial-familiär vermittelte Vaterschaft zugrunde liegt, ist voreilig." Mit der Reform des Kindschaftsrechtes 1998 sei die Rechtsstellung und Verantwortung der nichtehelichen Mutter gestärkt worden. Für Sibylle Laurischk gilt: "Ein ausländerrechtliches Problem mit den Mitteln des Zivilrechtes lösen zu wollen, ist abwegig, da die Auswirkungen auf in der Mehrzahl legal verlaufende Fälle eine überbordende Schnüffelbürokratie bedeuten würde. Vielmehr sollten die ausländerrechtlichen Instrumente voll ausgeschöpft werden, um im Tatsächlichen zu ermitteln, ob die Vaterschaft auch sozial-familiär oder materiell durch Unterhaltszahlungen gelebt wird und damit der Artikel 6 unserer Verfassung tatsächlich einem Verlassen der Bundesrepublik Deutschland entgegenstünde." Binationale Kinder dürften nicht mit dem Generalverdacht der fehlenden Legitimation belegt werden. (Das Parlament 21.03.05) Mit mehreren tausend Euro sind solche von schwangeren Ausländerinnen erkauften Vaterschaften keineswegs überbezahlt. Die Käuferinnen erwerben damit nicht nur dauerhafte Ansprüche auf Sozialhilfe, sondern nach einer gewissen Zeit auch die Möglichkeit, weitere Familienmitglieder nach Deutschland zu holen. Etwas schwerer hat es ein Ausländer, der sich eine Vaterschaftsanerkennung von einer deutschen Frau kauft. Bei ihm kann die Ausländerbehörde immerhin prüfen, ob er seinen Pflichten nachkommt. Ist das nicht der Fall, erlischt auch sein Bleiberecht als Familienvater, denn in seinem Bleiberecht wird nicht geschützt, wer in Verkennung der Rechtsprechung zwar – tatsächlich oder nur juristsich - einen grundsätzlichen Bleibegrund produziert hat, ihn dann aber für sich selbst als nicht existent betrachtet: Urteil: Vater wird abgeschoben Braunschweig - Ein Kind mit einer Deutschen sichert einem Ausländer nicht in jedem Fall ein Aufenthaltsrecht. Wenn der Vater sich nicht um das Kind kümmert und keinen Unterhalt zahlt, kann er abgeschoben werden, urteilte das Verwaltungsgericht Braunschweig (Az.: 6 B 56/05). dpa

162

HH A 01.03.05 Daran wird die besondere Eleganz der den Frauen offen stehenden juristischen Möglichkeit noch einmal sehr augenfällig: ein deutsche Scheinvater, der sich nach der Anerkenntniserklärung nicht um sein »anerkanntes Kind« kümmert, kann nicht abgeschoben werden und die Mütter mit ihren »anerkannten Kindern« auch nicht.

Nach den Vorstellungen des innenpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion während der 15. Legislaturperiode, des ehemaligen Verwaltungsrichters und als MdB nebenbei als Rechtsanwalt tätigen Wiefelspütz, soll der Bestandsschutz von Ehe und Familie für nachweislich gefährliche Ausländer selbst dann entfallen, „wenn sie schon jahrelange bei uns leben, eine deutsche Ehefrau und Familie haben.“ Ob das BVerfG das in Ansehung von Art. 6 GG „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“ so mitmachen wird, wenn ein nichtdeutscher Vater sich um seine Familie kümmert, bleibt abzuwarten!

Die vom Verfassungsgesetzgeber im GG getroffenen Regelungen müssen immer neu ernstgenommen, interpretiert und oft auch fortentwickelt werden. U.a. das ist die Aufgabe des hierzu berufenen BVerfGs als "Wächter des Grundgesetzes". Die Hamburger Ausländerbehörde, das Verwaltungs- und das jeweils zuständig gewesene Oberverwaltungsgericht hatten den Wortlaut des Art. 6 GG "Ehe und Familie" wohl als Pleonasmus oder Tautologie, als eine Bezeichnung derselben Sache durch zwei (oder mehrere) gleichbedeutende Ausdrücke, angesehen. Vielleicht kam hier (in der Rechtssoziologie oft untersuchtes) schichtspezifisches Denken der Richter zum Tragen. In ihrer Sozialschicht sind "Ehe" und "Familie" wohl überwiegend deckungsgleich. Das BVerfG sah - und sieht - vermutlich jedes Wort einzeln und erkannte damit einen Unterschied zwischen "Ehe" und "Familie". „Asyl-Urteil: Familie darf getrennt sein ap Karlsruhe – Angehörige einer Familie, die in verschiedenen europäischen Ländern Asyl beantragen, haben keinen Anspruch auf Zusammenleben während der Dauer des Verfahrens. Das Bundesverfassungsgericht entschied, eine solche zeitweilige Trennung verstoße nicht gegen den Schutz von Ehe und Familie (2 BvR 99/97).“ (HH A 13.08.98)

2 »Gesetz« und »Recht« Nachdem wir uns eine schwache Ahnung dazu erarbeitet haben, was das Grundgesetz für unser Leben in der Bundesrepublik bedeutet, wie es - teilweise von uns völlig unbemerkt (z.B. beim „angemessenen“ Länderfinanzausgleich gemäß Art. 107 II GG mit seinen Transfer-Zahlungen von den reichen und reicheren an die ärmeren, armen und ärmsten (LCD-)37Bundesländer zur Sicherung deren nackter Existenz, zur Herstellung annähernd gleicher Lebenschancen in ganz Deutschland oder zur Umgestaltung der Länderstruktur) - unsere Lebenswirklichkeit beeinflusst, wollen wir uns nun wieder unserer ganz zu Anfang aufgeworfenen Eingangsfrage zuwenden: Was ist »Recht«, was »Gesetz« - zunächst einmal ruhig auch nur in einem vorjuristischen Verständnis? Sind diese Begriffe deckungsgleich oder sinnlos verdoppelnde Redeweisen wie z.B. "runder Kreis" oder "schwarzer Rabe"? Sind diese beiden zentralen Begriffe des Rechtslebens neben- oder gegeneinandergestellt? Was sagt das Grundgesetz in Art. 20 III über "Gesetz und Recht"? Wie ist diese Formulierung zu verstehen oder zu interpretieren? Artikel 20 GG wird wegen der darin getroffenen Regelungen bezüglich der tragenden Grundsätze unseres Staatsaufbaus auch als »Verfassung in Kurzform« bezeichnet. Er steht in dem Abschnitt "II. Der Bund und die Länder". Der darin geregelte Absatz 3 lautet: "Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."

»Gesetz« und »Recht«

Leider nimmt die vollziehende Gewalt, die Verwaltung oder "Exekutive", mit der der Bürger es vorrangig zu tun 37

Damit Sie sich nicht über diese eigenmächtige Wortbildung wundern: Ich greife den von der UNO für die ärmsten der Entwicklungsländer verwendeten Begriff der „LCDs“ (Least developed countries) auf.

163

hat, das Grundgesetz und die anderen Gesetze selbst trotz eindeutigen Gesetzeswortlauts nicht immer ernst genug - und einer ihrer obersten Repräsentanten, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, stellte sogar sein (angebliches) „Ehren“-Wort über Gesetz und Recht. (Kritisch wurde dazu von dem Finanzier des ersten Parteispenden-Skandals, dem ehemaligen Flick-Manager von Brauchitsch, angemerkt: Es kann keine »Ehre« geben, die über rechtmäßigen Gesetzen und dem Recht steht.) Die Verwaltung interpretiert die ihr grundgesetzlich auferlegte Gesetzesbindung leider zu oft so, dass ihr die zuständigen Gerichte auf die Finger sehen und oft auch hauen müssen. Das kann an leider zu vielen Beispielen belegt werden. Um die dem Bürger wegen ihrer Machtmittel mindestens anfangs überlegene Verwaltung zu zügeln und notfalls in die Schranken zu verweisen, wurde ein eigener Gerichtszweig geschaffen: die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wenn ihre Gerichte in einer Entscheidung die Grundrechte verkennen, muss das BVerfG Nachhilfeunterricht erteilen. Weil uns der in Art. 4 GG geregelte Bereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit – „Jeder soll nach seiner Facon selig werden können“ (Friedrich II., der Große) - und dessen Auswirkung auf die in Art. 12 a GG geregelte allgemeine Wehrpflicht schwerpunktmäßig später noch näher beschäftigen wird, sei für die eben aufgestellte Behauptung, die Verwaltung nehme die Gesetze nicht immer im gebotenen Umfang ernst, unter der Legion möglicher Fälle ein Beispiel aus diesem Bereich gewählt. Zum besseren Verständnis der Problematik zunächst die Wiedergabe der einschlägigen gesetzlichen Normen. Die Artikel 4 und 12 a GG lauten (auszugsweise): „Art. 4 GG (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz." „Art. 12 a GG (1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden. (2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht. (3) - (6) ..." Eines der Gesetze, die das Nähere der in Art. 12 a normierten Wehr- und Dienstpflicht regeln, ist - z.B. neben dem Zivildienstgesetz - das Wehrpflichtgesetz (WPflG). Dort sind in den §§ 9 – 13 b WPflG die Wehrdienstausnahmen geregelt. In § 11 WPflG heißt es u.a.: „§ 11 WPflG Befreiung vom Wehrdienst (1) Vom Wehrdienst sind befreit 1. ordinierte Geistliche evangelischen Bekenntnisses 2. Geistliche römisch-katholischen Bekenntnisses, die die Subdiakonatsweihe empfangen haben, 3. hauptamtlich tätige Geistliche anderer Bekenntnisse, deren Amt dem eines ordinierten Geistlichen evangelischen oder eines Geistlichen römisch-katholischen Bekenntnisses, der die Subdiakonatsweihe empfangen hat, entspricht, ..." Bei dieser Gesetzeslage ist man erstaunt, die folgende Zeitungsmeldung zu finden: "Kein Wehr- oder Zivildienst für Prediger der `Zeugen Jehovas' KOBLENZ; 7. Februar (dpa). Prediger der Religionsgemeinschaft `Zeugen Jehovas' müssen weder Wehr- noch Zivildienst leisten. Das hat das Verwaltungsgericht Koblenz in einem jetzt veröffentlichten Grundsatzurteil entschieden. Solche Personen seien hauptamtlich tätigen Geistlichen der römisch-katholischen oder evangelischen Kirche gleichzustellen. Das Gericht gab damit der Klage eines jungen Mannes, der Mitglied der Religionsgemeinschaft ist, gegen die Bundesrepublik statt. Es komme nicht darauf an, befanden die Richter, ob es sich um ein Amt der großen

164 Glaubensgemeinschaften handele. Der Gesetzgeber habe auch Geistliche ‘anderer Bekenntnisse' von Wehr- und Zivildienst freistellen wollen. (Aktenzeichen: 2 K 3953/91.) (FAZ 08.02.93) Aber das steht doch so schon wörtlich in § 11 I Nr. 3 WPflG! Da fragt man sich, warum die wie alle anderen Juristen nach dem deutschen Richtergesetz ausgebildeten Juristen der Verwaltung, die den jungen Mann unbedingt einziehen wollten, selbst bei so eindeutiger Gesetzeslage von den Verwaltungsgerichtsjuristen Nachhilfeunterricht im Lesen, Interpretieren und Ernstnehmen von Gesetzen erhalten müssen. Glaubte die wehrfreudige Verwaltung, die Gesetze ignorieren zu können? Dann muss sie von den Verwaltungsgerichten, soweit sie einen Gesetzesverstoß zu erkennen vermögen, eines Besseren belehrt werden. Und wenn die Verwaltungsgerichte »daneben liegen«, muss das BVerfG Nachhilfeunterricht erteilen - und wenn das BVerfG falsch entschieden hat, muss man das hinnehmen. "Rien ne va plus!" Aus ähnlicher gedanklicher Tradition des begründeten Misstrauens der mächtigen Exekutive gegenüber merkte der damals noch nur designierte amerikanische Präsident und Rechtsdozent Clinton anlässlich der von seinem Vorgänger Bush in letzter Minute ausgesprochenen fragwürdigen weil die Aufklärung der Hintergründe verdunkelnden Begnadigung des ehemaligen Verteidigungsministers Weinberger wegen dessen Verstrickung in die "Iran-Contra-Affäre" (und vor seiner nach seiner Interpretation der Buchstaben des Gesetzes angeblich nichtsexuellen Beziehung zu der weltberühmtesten Praktikantin) kritisch an: "Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, die Regierung stehe über dem Gesetz!" Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber nicht jeder Regierungschef sieht das so: „Ein Mann über dem Gesetz? Silvio Berlusconi - Italiens Regierungschef ist Multimilliardär und wegen Bestechung angeklagt. Nun will er die Verfassung ändern. ... Die italienische Justiz glaubt nachweisen zu können, dass Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein skrupelloser Verbrecher ist, der zusammen mit seinem bereits verurteilten Staatssekretär und ehemaligen Verteidigungsminister Cesare Prevetti Italien schwer geschadet hat. ... Der Multimilliardär verlangt sogar eine radikale Verfassungsänderung zu seinen Gunsten. ... Italien fragt sich: Steht Silvio Berlusconi über dem Gesetz? ... Das Mailänder Gericht glaubt aber, dass Berlusconi nicht nur einmal, sondern mehrfach einen Richter erfolgreich bestach. ... Prevetti wurde dafür vor einer Woche zu acht Jahren Haft in erster Instanz verurteilt. ... Mit allen Mitteln will Silvio Berlusconi verhindern, dass der Prozess gegen ihn weitergeführt werden kann. Er hat bereits mehrere Gesetze durch das Parlament gepaukt, die die Kompetenzen der Gerichte betrafen und ihm erhebliche Vorteile als Angeklagtem verschaffen. Seine Mindestforderung besteht darin, dass die Verfassung dergestalt geändert werden muss, dass gegen die fünf obersten Repräsentanten Italiens [während ihrer Amtszeit; der Autor] keine Strafverfahren angestrengt werden dürfen. Er will auch noch Staatspräsident werden.“ (HH A 07.05.03) Das Verfassungsgericht erklärte das von Berlusconis Parlamentsmehrheit beschlossene Immunitätsgesetz anschließend aber für verfassungswidrig, sodass die Ermittlungen bis zur Anklageerhebung weitergeführt werden konnten. Und der amerikanische Präsident Bush jun. zeigt durch die von ihm vorgenommene »Guantanamoisierung« des Rechts, dass er ähnlich denkt. Ein solcher Satz, es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, die Regierung stehe über dem Gesetz, kann aber nur für ein demokratisch organisiertes politisches System gelten, das sich den Normen der Menschenrechte grundsätzlich - verpflichtet weiß, denn in Diktaturen erlässt die jeweilige Regierung die ihr gerade ins Konzept passenden Gesetze. Die bewusst vorgenommene Einschränkung „grundsätzlich“ bezieht sich darauf, dass die USA mit der bei ihnen in immer noch 38 Staaten mit Inbrunst zelebrierten Todesstrafe permanent gegen Artikel 3 der Konvention der Menschenrechte verstoßen: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“

165

2.1 »Gesetz« und »Recht« in Art. 20 III GG „Gesetz« und »Recht« in Art. 20 III GG

Doch wieder zurück zu unserem Eingangsproblem, das wir bisher in seiner Problematik zu erahnen, abzugrenzen und immer weiter einzukreisen versuchten: Was ist unter „Recht«, was unter »Gesetz« zu verstehen? Wir haben die einzige Verfassung der Welt, in der die Begriffe »Gesetz« und »Recht« als zwei verschiedene Fixpunkte verwendet werden. Es handelt sich bei der Begriffsbildung "Gesetz und Recht" nicht um eine sinnlos verdoppelnde Redeweise (Tautologie oder Pleonasmus) wie z.B. bei »alter Greis«. Die vier Mütter und einundsechzig Väter des Grundgesetzes wollten nach den in der Zeit des NS-Terrors gesammelten Erfahrungen mit dem von den Nazi-Richtern ausgeübten Justizterror durch die Formulierung „Gesetz und Recht“ z.B. den Richtern ermöglichen, notfalls gegen ein verfassungswidriges Gesetz »das Recht« zur Geltung zu bringen. Die Verfassung selbst macht es den Richtern zur Pflicht, notfalls ein Gesetz zu Gunsten dessen, was sie als »Recht« ansehen oder diffus fühlen - und das kann sehr subjektiv(!) sein -, beiseite zu schieben. In solchen Situationen gilt in dem Verhältnis von Gesetz und Recht das Wort von Hannah Arendt: „Keiner hat das Recht zu gehorchen.“ In die Alltagssprache übersetzt, kann diese Grundidee des Spannungsverhältnisses zwischen Recht und Gesetz zunächst an einem Beispiel außerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit deutlich gemacht werden: In jedem Wettkampfsport gelten Regeln, um größtmögliche Fairness und Chancengleichheit zu gewährleisten: Der zum Zeitpunkt des Wettstreits objektiv Bessere oder Glücklichere möge gewinnen und nicht die helfende Spritze oder Medizin eines Arztes oder ein objektiver Platzvorteil für eine Seite, wie nur den Gegner oder die gegnerische Mannschaft blendende Sonne oder eine widrige Windrichtung, und was es an sonstigen Widrigkeiten gibt. Darum ist z.B. bei auf einem Spielfeld im Freien ausgetragenen Ballwettkämpfen nach einem bestimmten Zeitablauf die jeweilige Spielfeldseite zu wechseln. Verstöße gegen die vorher feststehenden Regeln werden geahndet. Anders ist Wettkampf nicht möglich. Über die Einhaltung der Regeln, auf deren jederzeitige Geltung sich jeder Wettkampfteilnehmer verlassen können muss, wacht ein Schieds-Richter, notfalls mit sofort zu ergreifenden Sanktionen. Er darf keine Binde vor den Augen tragen, wie Justitia! Es ist noch niemand auf die Idee gekommen, das Symbol eines Schiedsrichters mit Augenbinde darzustellen. Es gilt das Gegenteil! Darum gibt es ja Witze wie den: Nach einem verpfiffenen Spiel, nach dessen Ende der Schiri von Ordnern der gastgebenden Mannschaft zum Schutz gegen »Fan«-Ausschreitungen vom Platz in seine Kabine geleitet werden muss, versucht ein enttäuschter Fan, dem Schiedsrichter wenn nicht tätlich, so doch verbal einen beizupulen: „Wie heißt denn ihr Hund?“, schreit er dem an ihm vorbeigeführten Schiedsrichter zu. Der antwortet perplex: „Ich besitze gar keinen Hund.“ Woraufhin der Fan ätzt: „Ach Gott, wie traurig: So blind, und dann keinen Blindenhund!“ Zur Vermeidung von verleumderischen Nachreden von Prozessverlierern mit zynischen Einsprengseln wie mir sei es hervorgehoben: Aus dem gleichen Grund gelten auch im Bereich der Justiz streng zu beachtende Regeln. Justitia trägt ihre Augenbinde auch nur in Bezug auf die vor ihr stehenden Personen. Sie hat – allein „dem Recht“ und dem Gesetz verpflichtet - ohne Ansehen einer Person zu urteilen. Sie soll aber sehr wohl in genauester Ansehung des Sachverhaltes urteilen, das bedeutet: ohne Augenbinde. Denn es ist ja ihre Aufgabe, nach akkurater bis akribischer Sachaufklärung im Rahmen ihrer (sehr oft eingeschränkten) Erkenntnismöglichkeiten Rechtsfrieden durch Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Dazu bedient sie sich der Hilfe von (durchaus fehlbaren!) Richtern; so kommen Fehlurteile zustande. In diesem Ziel der Herstellung von Rechtsfrieden durch Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit ähneln sich alle Richterämter. Ein Richter hat Streitfälle zu schlichten und nicht nur im Strafrecht, aber insbesondere dort den Rechtsfrieden in einer Gesellschaft wiederherzustellen. Immer dann, wenn sich ein Mensch in Deutschland durch die Staatsgewalt oder durch einen Mitmenschen in seinen Rechten verletzt glaubt, muss der Richter den Sachverhalt unvoreingenommen klären, eine drohende Rechtsverletzung abwehren oder eine bereits eingetretene Verletzung durch Ausgleichsmaßnahmen kompensieren. Als Strafrichter hat er über die Einhaltung der Mindestnormen für ein gedeihliches Zusammenleben zu wachen. Richter gibt es nicht nur im staatlichen Bereich, sondern auch im privaten. Am bekanntesten ist da insbesondere die von den Sportverbänden in Eigenregie wahrgenommene Sportgerichtsbarkeit: Nach Abschluss eines Spiels kann eventuell ein nachträglich einzuberufendes Gremium über die Rechtmäßigkeit eines Schiedsrichter-Urteils befinden: ein von den ordentlichen Gerichten unabhängiges Verbandssportgericht, das nach einem formell eingelegten Protest des sich benachteiligt Wähnenden eine Schiedsrichterentscheidung überprüft. So hatten z.B. zwei der renommiertesten deutschen Fußball-Bundesligatrainer im Eifer eines laufenden Gefechtes mehr als die pro Spiel erlaubten drei eu-ausländischen Fußballer in ihrer Mannschaft eingesetzt. Sie sahen nur ihre Spieler

166

mit deren Möglichkeiten, das Spiel ihrer Mannschaft durch u.a. öffnende Pässe druckvoller zu gestalten, vergaßen aber leider deren staatliche Pässe. Obwohl sie nicht unfair gewesen waren und ihre Mannschaft nicht zeitweise mit zwölf Spielern gespielt hatte – was auch schon vorgekommen ist -, wurde beide mir bekannte Male das siegreiche Spiel wegen des Verstoßes gegen die Regel bezüglich der Zulässigkeit des Höchsteinsatzes von eu-ausländischen Spielern nachträglich als verloren gewertet. So stringent werden die »Fußballgesetze« gehandhabt. Nun passierte es in einem Spiel der obersten italienischen Fußballliga, dass der zwar haar-, aber nicht hirn- und schon gar nicht augenlose italienische Star-Schiedsrichter Pierluigi Collina, der als weltbester Fußballschiedsrichter gilt, nach der Pause des Spiels Foggia gegen Bari Ungleichheit anordnete, nicht die Seiten wechseln ließ und damit gegen die auf Herstellung der Gleichheit der Wettkampfbedingungen und damit auf Gerechtigkeit abzielende an sich eherne Grundregel des Seitentausches bewusst verstieß: Er wollte so verhindern, dass der Torwart von Bari in das Tor musste, hinter dem Hooligans ihn mit Wurfgeschossen attackieren wollten. Die Fifa akzeptierte die ungewöhnliche Maßnahme, obwohl sie eindeutig gegen die Statuten verstößt, die in dieser Hinsicht keinen Ermessensspielraum eröffnen! Der die an sich zwingenden Fußballregeln in dieser Ausnahmesituation mit viel Zivilcourage übergehende Schiedsrichter und anschließend die Berufungsrichter des Sportgerichts sahen in diesem Ausnahmefall das Gesetz nicht als „eiserne Jungfrau“ an, die es der Idee nach grundsätzlich zu sein hat - und wie es leider im Tatsächlichen manchmal auch zum Nachteil des Rechts so angewandt wird. »Das Gesetz« sollte keine »das Recht« folternde eiserne Jungfrau sein, »das Recht« jedoch sollte immer Ungerechtigkeit »foltern«! Der Intention des Art. 20 III GG nach sollten dem Recht entgegenstehende rechtswidrige oder im Einzelfall das Recht konterkarierende Gesetze notfalls außer Acht gelassen werden können; »das Recht« jedoch sollte nie zu Unrecht umgeschmiedet werden. Die Verfassung selbst macht es den Richtern zur Pflicht, notfalls ein Gesetz zu Gunsten dessen, was sie als »Recht« ansehen oder diffus fühlen - und das kann sehr subjektiv(!) sein -, beiseite zu schieben. Das im Einzelfall richtig zu entscheiden, bedarf eines sicheren Instinkts, manchmal eines nicht unerheblichen Maßes an Zivilcourage, auf jeden Fall eines großen Fingerspitzengefühls! „Keine Haftstrafe für gestohlene Milchschnitte Köln – Der Diebstahl einer Milchschnitte darf keine Freiheitsstrafe nach sich ziehen. Ein solches Urteil ist nicht verhältnismäßig und damit rechtswidrig. Mit dieser Begründung hob das Oberlandesgericht Stuttgart eine Entscheidung des Landgerichts Ravensburg auf, das einen vorbestraften Dieb zu einem Monat Gefängnis verurteilte, weil er eine im Laden verzehrte 26-Cent Milchschnitte nicht bezahlt hatte. Die Stuttgarter Richter: ’Weder der Gedanke, weiteren Straftaten vorzubeugen noch die Verteidigung des Rechtsstaates rechtfertigen eine so harte Strafe (Az.: Ss 138/02). (ddp)“ (HH A 09.11.02) Die Richter des Landgerichts hatten nach den Buchstaben des Gesetzes entschieden und diese Entscheidung auf ihr Gewissen genommen, die Revisionsrichter des OLG sahen „das Recht“, wie sie es subjektiv empfanden, als verletzt an. Um auf die Subjektivität des Rechtsempfindens eindrücklich hinzuweisen, sei daran erinnert, dass in einigen Staaten der USA die gesetzliche Regelung besteht, dass jemand bei einer seiner zweiten Verurteilung in gleicher Sache die doppelte Strafe zudiktiert erhält, bei einer dritten Verurteilung lebenslang eingekerkert wird, gleichgültig, wie relativ unbedeutend der dritte Regelverstoß auch ist und ob er mit den vorher begangenen Straftaten in einer inneren Beziehung steht: Wer sich Vorverurteilungen nicht zur Warnung dienen lasse, habe in letzter Konsequenz die volle Härte des Gesetzes zu tragen: „Three strikes, and you’re out!“ Das lebenslange Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft wird in alttestamentarischer Strenge von Richtern als das auch von ihnen so empfundene »Recht« verkündet! Hinter einer solchen Sicht der Beziehung zwischen Recht und Gesetz, wie sie in Art. 20 III GG formuliert ist und vom Oberlandesgericht Stuttgart vorbildlich entschieden wurde, leuchtet ein bisschen die (auch germanische) Auffassung vom Recht als einer übernatürlichen Wertordnung durch, die der Verfügungsgewalt der momentan gerade herrschenden irdischen Machthaber entzogen ist, da sie in Gott oder den Göttern gründet. So wird sie auch in Schillers „Wilhelm Tell“ den nächtens auf dem Rütli versammelten Eidgenossen in den Mund gelegt, wenn es dort heißt, dass sie gegen den Statthalter des Tyrannen das „ewige Recht von den Sternen holen“ wollen. So verstanden sind Gesetz und Recht durchaus nicht deckungsgleich. Sie stehen aber in einer Beziehung »sui generis« (»eigener Art«), in der das als unverrückbar angesehene, letztlich nicht manipulierbar geglaubte »Recht« mehr an gute alte Vätersitte, an (oftmals auf religiösen Überzeugungen fußende) Moral, als an das von Menschen möglicherweise zu Missbrauchszwecken degenerierbare »Gesetz« grenzt.

167

Damit aber nicht einer Richterwillkür Tür und Tor geöffnet werde, ist in unserem Verfassungsstaat für den Normalfall eines von einem Richter so gewerteten Auseinanderklaffens von Recht und Gesetz ein besonderes Überprüfungsverfahren vorgesehen. Wie an einem Fall des Ehenamensrechts schon deutlich geworden war, können Richter in einem sogenannten "konkreten Normenkontrollverfahren" gemäß Art. 100 I GG ein von ihnen beanstandetes Gesetz durch die Richter des BVerfGs als die dazu bestellten "obersten Hüter der Verfassung" überprüfen und eventuell aufheben lassen.

2.2 »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« „Gesetz«, »Recht« und "Gerechtig keit"

Doch was ist nun - zunächst einmal ganz unjuristisch - „Gesetz«, was »Recht« und, als weitere Frage ergibt sich dann daraus, was »Gerechtigkeit«? Als 1992 wieder, wie 1963 und 1968, amerikanische Städte brannten, weil in einem Akt von Rassenjustiz eine im angelsächsischen Recht zur Urteilsfindung vorgesehene zwölfköpfige Jury in - bis auf eine Latino-Frau ausschließlich weißer Besetzung in Los Angeles vier weiße Polizisten vom Vorwurf der "Polizeibrutalität" wegen eines Angriffs mit einer gefährlichen Waffe sowie unverhältnismäßiger Anwendung körperlicher Gewalt (entspricht unserer gefährlichen Körperverletzung im Amt) freisprach, die nach vorliegenden, unbestreitbar beweiskräftigen Filmaufnahmen gemeinsam einen einzelnen schwarzhäutigen, nach einer Verfolgungsjagd überwältigten und nun am Boden liegenden US-Amerikaner zusammengeschlagen hatten (der sich, so behaupteten die vier Polizisten, - aus welchen Gründen auch immer - seiner Festnahme widersetzt haben soll), zogen demonstrierende Farbige mit u.a. der auf Pappen gemalten Losung durch die Straßen: "No justice - no peace!" Solche Skandalurteile haben in den USA Tradition, und man wagt in Ansehung solcher Urteile nicht von einem Rechtsstaat zu sprechen: „US-JUSTIZ Lynchmord kommt nach 50 Jahren vor Gericht Von Roman Heflik Der Junge hatte etwas getan, was man nicht tun durfte. Zumindest nicht als Schwarzer: Er hatte einer weißen Frau hinterhergepfiffen. Der Junge wurde gelyncht. Seine Mörder wurden freigesprochen. Doch jetzt rollen FBI und Staatsanwälte das Verbrechen an Emmett Till wieder auf. Die Männer kamen in der Nacht. Sie kamen, um sich zu rächen. Um diesem Schwarzen eine Lektion zu erteilen. Um ihn zu töten. Es war der August des Jahres 1955. Ihr Opfer hieß Emmett Till, ein 14-jähriger Junge. Till war aus dem fernen Chicago nach Money, Mississippi, angereist, um seinen Onkel und dessen Familie zu besuchen. Dass hier im tiefen Süden der USA noch andere Gesetze herrschten, dass hier Schwarze vielerorts noch als vogelfreie SklavenNachfahren betrachtet wurden, wusste der Besucher nicht. Was für Konsequenzen es in dieser Gegend haben konnte, aus der Rolle des demütigen Schwarzen zu fallen, davon hatte der Junge keine Vorstellung. Und so hatte sich Emmett Till an diesem Tag wie immer verhalten, so, wie es viele Halbwüchsige seiner Heimatstadt und seines Alters eben taten: fröhlich und ein bisschen respektlos. Als er zum Einkaufen den Laden der Bryants betrat, stieß er beim Anblick der attraktiven weißen Ladeninhaberin, Mistress Bryant, einen bewundernden Pfiff aus. Bryants Ehemann Roy schäumte vor Wut. Till hatte einen jahrhundertealten Verhaltenskodex gebrochen. Vermutlich in der darauf folgenden Nacht drang Roy Bryant zusammen mit seinem Halbbruder J.W. Millam in das Haus der Familie Till ein und schleppten Emmett aus seinem Bett. Draußen schlugen die Männer solange auf den Jungen ein, bis sein Gesicht nur noch ein blutiger Klumpen war. Als die Leiche drei Tage später gefunden wurde, glaubten viele, der Junge habe einen Schuss mit einer Schrotflinte ins Gesicht bekommen. Später berichtete Millam, er habe dem Jungen mit einer Pistole in den Kopf geschossen. In ihrem Blutrausch wickelten die Männer dem sterbenden Kind Stacheldraht um den Hals, befestigten ein Metallgewicht daran und warfen das blutende Bündel in den Tallahatchie River. Drei Tage später fanden Fischer den verstümmelten Körper. Die beiden Täter wurden zwar von der Polizei verhaftet; ihnen wurde der Prozess gemacht. Doch bereits während der Verhandlung wurde deutlich, dass der Fall die weißen Zuschauer und den

168

weißen Richter eher amüsierte: Im Zuschauerraum wurde geplaudert und gelacht, auf den für die Weißen bestimmten Plätzen wurden wahre Picknicks veranstaltet. Nach fünf Verhandlungstagen und einstündiger Urteilsberatung kam die rein weiße, männliche Jury zu einem Urteil: unschuldig in beiden Fällen. Dabei hatten die Verteidiger der beiden Mörder die Tat gar nicht abgestritten. Sie hatten erklärt, der Schwarze sei noch nicht tot gewesen, als die Angeklagten ihn in den Fluss geworfen hätten. Grinsend verließen Bryant und Millam das Justizgebäude als freie Männer. Das offensichtliche Versagen der Justiz, selbst grausamste Verbrechen an Schwarzen zu ahnden, löste massive Proteste im Süden der USA aus. So wird der Prozess um Emmett Till oft als die eigentliche Geburtsstunde der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bezeichnet, die sich für die Gleichberechtigung der afroamerikanischen Bevölkerung einsetzte. Drei Monate nach dem Mord machte die Schwarze Rosa Parks Schlagzeilen, als sie sich weigerte, von ihrem für Weiße reservierten Bus-Sitz aufzustehen. Trotz mehrerer Anträge von Tills Mutter sah das US-Justizministerium jahrelang keinen Grund, den Fall oder das Verfahren zu überprüfen. Nach dem Urteilsspruch galten die beiden Halbbrüder als unschuldig und konnten nach dem Gesetz von Mississippi nicht mehr belangt werden - selbst, als Millam sich nach der Verhandlung vor einem Reporter mit seiner Tat brüstete. "Chicago-Boy", habe er dem Kind gesagt, "ich werde an dir ein Exempel statuieren, damit jeder weiß, wo ich und meine Leute stehen." Nun wird die Akte Emmett Till wieder geöffnet - nach fast fünfzig Jahren. Anlass waren Aussagen des Dokumentarfilmers Keith Beauchamp, er habe Hinweise auf weitere Tatbeteiligte. Bei der Recherche für seinen Film "Die nicht erzählte Geschichte von Emmett Louis Till" habe er zahlreiche Augenzeugen befragt. Von ihnen habe er erfahren, dass sich in jener Augustnacht noch sieben andere Männer an der Tat beteiligt hätten. Einige von ihnen sind immer noch am Leben. Daher müsse das Verfahren neu eröffnet werden. Unterstützt wurde Beauchamp bei dieser Forderung von dem Senator Charles Schumer und dem Kongressabgeordneten Charles Rangel aus New York - mit Erfolg. Am Montag gab das Justizministerium bekannt, FBI-Agenten und Bundesanwälte würden in Zusammenarbeit mit den örtlichen Ermittlungsbehörden den Fall neu untersuchen. "Wir schulden es Emmett Till und uns selbst, zu sehen, ob nach all den Jahren zusätzliche Justizmaßnahmen möglich sind", verkündete Alexander Costa, Staatsanwalt der Bürgerrechtsabteilung des Justizministeriums. Die Behörden von Mississippi sind darum bemüht, die Scharte von damals wieder auszuwetzen: "Wir freuen uns, dass dieser ewige Alptraum dank der Zusammenarbeit von Bundes- und Landesbehörden untersucht werden kann", antworte Joyce Chiles, zuständiger Staatsanwalt des Bezirks Mississippi, auf die Anfrage aus Washington. Diese Kooperation war es, die die Strafverfolgung überhaupt erst möglich gemacht hat: Denn nach US-Bundesrecht sind die Taten längst verjährt - nicht jedoch nach den Gesetzen des Staates Mississippi. Anders als ihre mutmaßlichen Kumpane müssen die beiden Haupttäter indessen keine Strafe mehr fürchten: Millam starb 1980, sein Halbbruder Roy zehn Jahre später.“ (SPIEGEL online 2004)

Die rund 12 % Afro-Amerikaner fühlen sich auf ihrem mühsam-langen Weg von der Sklaverei zur Gleichberechtigung in ihrem Verlangen nach gerichtlicher und sozialer Gerechtigkeit nicht nur überwiegend als Bürger zweiter Klasse, sie waren es auch - und sind es immer noch. Für die farbigen Amerikaner war die Lehre aus dem Skandalurteil, dem eine lange Reihe ähnlicher Unrechtsurteile vorausgegangen (und leider auch nachgefolgt) ist: Polizeibrutalität ist rechtlich nicht verfolgbar, ist nach Meinung der Jury "angemessene Härte", wenn sie gegen Farbige gerichtet ist. Dieses über Jahrhunderte entstandene Unrechts-Erfahrungswissen der farbigen US-Amerikaner brachte den satirischen Spötter Oscar Wilde in Anlehnung an die klassische Demokratie-Definition seines großen Präsidenten Lincoln in dessen berühmter Gettysburger Rede („Gettysburger Address“), Demokratie sei die „Regierung über das Volk durch das Volk für das Volk“ („Government of the people by the people for the people“), zu der bitterbösen Abwandlung: „Demokratie ist nichts anderes als das Niederknüppeln des Volkes durch das Volk für das Volk.“ Wenn es stimmt, dass Demokratie idealtypisch als „politische Form der Menschlichkeit“ (Tomas G. Masaryk) definiert werden kann, dann sind die USA wahrlich nicht das, worauf die US-Amerikaner (dann zu Unrecht) so stolz sind: eine Demokratie. Die farbigen US-Amerikaner fordern zu Recht »Gerechtigkeit«, sowohl vor den Schranken der Gerichte, und das bedeutet die Gleichheit aller vor dem Gesetz ohne Unterschied der Hautfarbe, wie auch - zur Lösung des dem

169

allen zugrunde liegenden wirtschaftlich-sozialen Konflikts - bei der Ausgestaltung der sie bisher grob benachteiligenden Lebensverhältnisse: Schwarze haben in den USA die vergleichsweise schlechtesten Schulabschlüsse. Sie erhalten auch eine schlechtere Berufsausbildung und verdienen weniger - wenn sie überhaupt einen Arbeitsplatz finden; von einem angemessenen ganz zu schweigen. Die meisten Schwarzen erreichen noch nicht einmal das unterste Lohnniveau der Weißen, und jeder zweite unter 30 ist noch nicht einmal »auf dem Arbeitsmarkt«. Die Zahl der Schwarzen, die unter der Armutsgrenze leben, ist prozentual dreimal so hoch wie die der Weißen. Sie haben die kürzeste Lebenserwartung. Für einen Schwarzen im New Yorker Stadtteil Harlem liegt sie bei 46 Jahren. "Keine andere Gruppe", sagte der Historiker Roger Wilkins, "hat unter dem Habgier-Boom der 80er Jahre so gelitten, und die Zukunft sieht noch wesentlich düsterer aus." Die US-Amerikaner haben die Lehre ihres großen Präsidenten Abraham Lincoln vergessen oder verdrängt, der erkannt hatte, dass Ungerechtigkeit der eigentliche Sprengstoff einer Gesellschaft ist und darum formuliert hatte: "Nichts ist dauerhaft geregelt, was nicht gerecht geregelt ist." Danach ist »Gerechtigkeit« das Recht der Schwächeren auf nicht nur lebenserhaltende, sondern auch gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen Möglichkeiten. „Ein Mensch fühlt oft sich wie verwandelt, sobald man menschlich ihn behandelt“ (Eugen Roth). Man kann mit seinen Begründern, ja man sollte die Idee des Kommunismus als Versuch einer Antwort auf die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert sehen – und den Untergang der kommunistischen Systeme im 20. Jahrhundert als Folge der durch den historischen Materialismus als Staatsdoktrin neu geschaffenen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten: „Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes“ hieß es denn auch auf Spruchbändern in Leipzig, als die Ostdeutschen ihr kommunistisches System in den Orkus der Geschichte verbannten. Diese Sicht von »Gerechtigkeit« deckt sich mit der des griechischen Philosophen Heraklit (ca. 540 - 480 v.Chr.), der glaubte und lehrte, dass (nur) eine “kosmische Gerechtigkeit“ in der Welt ein Gleichgewicht aufrecht erhalte. Für Platon (427 - 347 v.Chr.) war »Gerechtigkeit« die Kardinaltugend, die alle anderen Tugenden verband; der (Sklaven-)Staat (der attischen »Demokratie« seiner Zeit) wurde von ihm als Verkörperung der Idee der Gerechtigkeit angesehen. Für seinen Schüler Aristoteles (384 - 322 v.Chr.) war die »Gerechtigkeit« keine subjektive Tugend, sondern das objektiv zu sehende Leitprinzip des Rechts. Er formulierte die Erkenntnis, dass das für eine politische Gemeinschaft geltende »Recht« aus einerseits dem natürlichen und andererseits aus dem „gesetzlichen Recht“ bestehe, und letzteres nach aller Erfahrung auch ungerechte Gesetze beinhalte. Kant sah »Gerechtigkeit« als so zentral an, dass er (ungefähr) formulierte: „Ohne Gerechtigkeit lohnte es nicht, dass Menschen auf Erden leben.“

2.3 Gesellschaftliche Befriedungsfunktion des Rechts Gesellsch aftliche Befriedun gsfunktio n des Rechts

Ohne gerichtliche und gesellschaftliche »Gerechtigkeit« kann das verletzte »Recht« – was auch immer sich hinter diesem Begriff, wenn man ihn näher untersucht, im Einzelnen verbergen mag - nicht der ihm zuvorderst obliegenden gesellschaftlichen Befriedungsfunktion gerecht werden! Das gilt für alle Staaten und darum auch für die Bundesrepublik: "Gerechtigkeit verlangt dpa Bautzen - Die DDR-Justiz hat nach Angaben des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesjustizministerium, Reinhard Döhner (CDU), insgesamt etwa 150.000 politisch motivierte Strafurteile gefällt. 60.000 hätten Anträge auf Rehabilitation oder Kassation der Urteile gestellt. Er räumte eine noch zu schleppende Bearbeitung der Anträge ein. Die Opfer verlangten schnellste materielle und moralische Entschädigung. Die Zeit dränge, weil zwei Drittel der Betroffenen bereits über 65 Jahre alt seien."38 (HH A 27.04.91) 38

Avenarius, H.: Kleines Rechtswörterbuch, Freiburg 1991, Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung (Bonn) des Herder-Tachenbuches Bd. 1733, Stichwort "Rehabilitierung": "In Art. 17 des Einigungsvertrages haben die Vertragsparteien ihre Absicht bekräftigt, daß unverzüglich eine gesetzliche

170

In diesem Zusammenhang stellten sich einige Fragen, z.B.: Warum soll die Bundesrepublik die Entschädigungsleistungen aufbringen, und nicht die SED-Nachfolgerin PDS mit allem übernommenen und dem zum Teil rausgeschmuggelten oder an frühere Parteimitglieder verschobenen milliardenschweren Parteivermögen der früheren Staatspartei an Immobilien, Firmenbesitz, anderen Geldanlagen und Bargeld - so man die verschobenen Vermögenswerte finden konnte. Und wenn die Bundesrepublik, der dieses staatliche Fehlverhalten der SED-geführten DDR wirklich nicht angelastet werden kann, großzügigerweise eine Entschädigung für das von ihr nicht zu verantwortende Unrecht – die BRD ist nicht die Rechtsnachfolgerin der DDR, wie sie sich als Nachfolgerin des mit den Nazis untergegangenen Deutschen Reiches verstand und darum Entschädigungsleistungen an verschiedene Staaten, insbesondere an Israel zahlte, die ostdeutschen Länder sind der BRD »nur« beigetreten - zu zahlen bereit ist: Wie viel an Ausgleichszahlung wäre angemessen und gerecht? Wie viel davon ist bei der angespannten Haushaltslage – nur(?) - bezahlbar? Kant sah es als Aufgabe der durch »das Recht« gebildeten Rechtsordnung in einer bürgerlichen Gesellschaft an, dass sie dem einzelnen Staatsbürger ein Höchstmaß an - nur durch die Rechte der Anderen begrenzter - Freiheit bescheren solle. Die Garantie dieser Freiheit und ihr Schutz vor Missbrauch sei der Sinn der Rechtsordnung. »Das Recht« habe im gesellschaftlichen Zusammenleben die Funktion der öffentlichen Moral zu übernehmen. Die gesellschaftliche Befriedungsfunktion durch »das Recht«, die auf seiner Allgemeinverbindlichkeit gegenüber jedermann und seiner - ausschließlich durch das Gewaltmonopol des Staates gewährleisteten - Erzwingbarkeit fußt, tritt nur ein, wenn das Recht sowohl den in seinen gesellschaftlichen Möglichkeiten Schwächeren schützt als auch die Staatsmacht begrenzt. Die Geltung des Rechts verhindert einen durch den gerade gesellschaftlich (eventuell auch nur partiell) Stärkeren im Eigeninteresse vorgenommenen Rechtsraub! Ein Rechtsstaat bändigt die natürliche Macht des Stärkeren durch Gesetze: sei es die eines Einzelnen oder die des Staates. In einem Rechtsstaat gibt es keine legitime außergesetzliche Gewalt: kein Faustrecht für Einzelne, wie z.B. durch Warlords in Afghanistan, Somalia, Uganda und vielen anderen Bürgerkriegsstaaten Afrikas, oder nichtstaatliche miteinander verfeindete Stammesgruppen, wie in vielen Staaten Afrikas, und keine Machtusurpation durch staatliche Stellen. Die Überwindung des Faustrechts und die Einführung des durch Gesetze gebändigten Gewaltmonopols des Staates, mit dem durch staatliche Stellen – siehe NS-Staat! - kein Schindluder getrieben werden darf, sind mit die wichtigsten Errungenschaften des modernen liberalen Verfassungsstaates, der Grundlage unserer heutigen Zivilisation. Eigene Maßstäbe mit noch so moralischer Begründung dürfen sich nicht über den Rechtsstaat erheben, so lange er einer ist. Entartet er zu einer Diktatur, stellt sich das Problem des Tyrannenmordes, das der einzelgängerische Kunsttischler Johann Georg Elser ohne Hilfe anderer am 08. November 1939 mit dem ersten aus Gewissensnot auf Hitler verübten Attentatsversuch im Münchner Bürgerbräukeller für sich bejaht hatte. Damit wollte er den von Hitler gerade verbrecherisch vom Zaune gebrochenen Zweiten Weltkrieg beenden. Dafür wurde der Sondergefangene Hitlers am 09.04.1945, einen Monat vor der bedingungslosen Kapitulation Großdeutschlands, im KZ Dachau hingerichtet. Ihm folgten weitere Widerstandskämpfer, von denen z.B. der Leipziger Oberbürgermeister Gördeler durch den geplanten Tyrannenmord ausdrücklich „der Majestät des Rechts zum Durchbruch verhelfen wollte“. Was hier zunächst für die einzelnen Staaten ausgeführt wurde, gilt auch für die Staatengemeinschaft: Die Staatengemeinschaft hat sich in Kapitel VII der UN-Charta darauf geeinigt, dass die vorstehend erläuterten Prinzipien auch für das Verhältnis der Staaten untereinander gelten sollen und ausschließlich die UNO und in ihr Grundlage dafür geschaffen wird, daß alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind; die R. dieser Opfer des SED-Unrechts-Regimes soll mit einer angemessenen Entschädigungsregelung verbunden werden. ... Nach dem ... Gesetz werden Personen, die wegen einer Handlung strafrechtlich verfolgt wurden, mit der sie verfassungsmäßige politische Grundrechte wahrgenommen haben, rehabilitiert. Die R. bezweckt eine politisch-moralische Genugtuung für den Betroffenen. Sie setzt einen Antrag des Betroffenen oder - nach seinem Tode - der nahen Angehörigen voraus, der bei einem Gericht im Beitrittsgebiet zu stellen ist. ... Das Strafurteil ist aufzuheben, soweit die Voraussetzungen der R. erfüllt sind. Die Rückerstattung oder Rückgabe von Vermögenswerten, die im Zusammenhang mit rechtsstaatswidrigen Strafverfolgungsmaßnahmen dem Betroffenen oder Dritten entzogen worden sind, richtet sich nach dem Vermögensgesetz. Die R. begründet einen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen; für Art u. Umfang dieser Leistungen gelten sinngemäß die Bestimmungen des Häftlingshilfegesetzes (für die ersten beiden Jahre ungerechtfertigter Strafhaft 80 DM monatlich, danach 270 DM monatlich). Wer durch ein Strafgericht der DDR wegen einer nicht politisch motivierten Straftat rechtsstaatswidrig verurteilt wurde, kann die Aufhebung der Entscheidung im Wege der Kassation beantragen. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn die Entscheidung auf einer schwerwiegenden Verletzung des Gesetzes beruht oder im Strafausspruch gröblich unrichtig ist. ... Vermögensrückerstattung und soziale Ausgleichsleistungen sind für den Fall der Kassation nicht vorgesehen."

171

der Weltsicherheitsrat über das Gewaltmonopol verfügen solle, über die Berechtigung eines Krieges zu entscheiden. Ein Krieg ohne offensichtliche Selbstverteidigungshandlung ist nach dem Völkerrecht ein durch internationale Abkommen geächteter Angriffskrieg, auch wenn er als Präventivkrieg zur Verteidigung gegen eine – angeblich – bestehende Bedrohung des den Krieg führenden Staates ausgegeben wird: Als die USA gegen den Irak ohne ein diesbezügliches Votum des UNO-Sicherheitsrates losschlugen, brachen sie die von ihnen mitgeschaffene internationale Rechtskultur und kehrten zum internationalen Faust»recht« zurück; in diesem Zusammenhang von Recht zu sprechen, ist nur eine euphemistische Bemäntelung des Zwanges durch den Stärkeren – der im Falle der Ermordung tausender muslimischer Albaner durch die katholischen Kroaten und insbesondere durch die orthodoxen Serben vielen Albanern das Leben gerettet hatte, als europäische Mächte unter der Führung der USA ohne UN-Mandat im zerfallenden Jugoslawien einmarschierten, um das Abschlachten der muslimischen Bevölkerung ohne UN-Mandat zu beenden.

2.4 Das »Brett des Karneades« und die Frage nach »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« Doch zurück zu dem Ausgangsproblem: Was ist »Gesetz«, was »Recht«, und wie stehen diese beiden zentralen Begriffe zu der - woran zu messenden(?) - »Gerechtigkeit«? „Summa ius, summa iniuria!“ („Höchstes Recht bedeutet höchste Ungerechtigkeit“; Cicero), wie die Römer meinten? Dieses Problem wurde von Heinrich von Kleist in seiner bekanntesten Novelle „Michael Kohlhaas“ ausgearbeitet: „Die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in seiner Tugend nicht ausgeschweift wäre. Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ Und wie kommt es zu der negativen Ausprägung von »Gerechtigkeit«, von der Camus schrieb: „Gerechtigkeit ohne Gnade ist nicht viel mehr als Unmenschlichkeit“, so dass von Fridel Marie Kuhlmann die berechtigte Forderung erhoben wurde: „Es darf der Geist der Menschlichkeit im Paragraphen nicht ersticken.“

Das „Brett des Karneades " und die Frage nach »Gesetz«, »Recht« und Gerechtig keit"

Das Problembewusstsein zur Beantwortung der Fragen nach »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« soll zunächst an einer literarischen Vorlage erarbeitet werden, die ein strafjuristisches Problem aufgreift, das seit 2200 Jahren als das „Brett des Karneades" (214 - 129 v.Chr.) durch die Juristenausbildung geistert: Ein Schiffbrüchiger hat sich auf ein Wrackteil gerettet, das - im Gegensatz zu der Planke, auf die Ben Hur den Quintus Arius und sich während der Seeschlacht hochdramatisch rettet - nur einen(!) Menschen zu tragen in der Lage ist. Ein anderer Schiffbrüchiger schwimmt hinzu, stößt, um sich mittels des schwimmenden Holzes selbst retten zu können, den ersteren von dort herunter - wohlwissend, dass er durch diese Handlung den anderen dem sicheren Tod preisgeben werde. (Die Juristen - besonders die Strafjuristen - argumentieren gerne an Extrembeispielen, weil dort die Überlegungen und Abwägungen wie in einem Brennpunkt fokussiert werden.) Die literarische Vorlage, auf deren Grundlage wir das Problem erörtern wollen, stammt von der Dame auf dem letzten deutschen 20-Mark-Schein.

Die Vergeltung (Annette von Droste-Hülshoff) Der Kapitän steht an der Spiere, Das Fernrohr in gebräunter Hand, Dem schwarzgelockten Passagiere Hat er den Rücken zugewandt. Nach einem Wolkenstreif in Sinnen Die beiden wie zwei Pfeiler sehn, Der Fremde spricht: "Was braut da drinnen?" "Der Teufel", brummt der Kapitän. Da hebt von morschen Balkens Trümmer Ein Kranker seine feuchte Stirn,

Des Äthers Blau, der See Geflimmer, Ach, alles quält sein fiebernd Hirn! Er läßt die Blicke, schwer und düster, Entlängs dem harten Pfühle gehn, Die eingegrabenen Worte liest er: "Batavia. Fünfhundertzehn." Die Wolke steigt, zur Mittagsstunde Das Schiff ächzt auf der Wellen Höhn, Gezisch, Geheul aus wüstem Grunde Die Bohlen weichen mit Gestöhn.

172

"Jesus, Marie! wir sind verloren!" Vom Mast geschleudert der Matros', Ein dumpfer Krach in aller Ohren, Und langsam löst der Bau sich los. Noch liegt der Kranke am Verdecke, Um seinen Balken festgeklemmt, Da kommt die Flut, und eine Strecke Wird er ins wüste Meer geschwemmt. Was nicht geläng der Kräfte Sporne, Das leistet ihm der starre Krampf, Und wie ein Narwal mit dem Horne, Schießt fort er durch der Wellen Dampf.

Und immer näher schwankt's heran, Und immer näher treibt die Trümmer, Wie ein verwehtes Möwennest; "Courage!" ruft der kranke Schwimmer, "Mich dünkt, ich sehe Land im West!" Nun rühren sich der Fähren Ende, Er sieht des fremden Auges Blitz, Da plötzlich fühlt er starke Hände, Fühlt wütend sich gezerrt vom Sitz. "Barmherzigkeit! ich kann nicht kämpfen." Er klammert dort, er klemmt sich hier; Ein heisrer Schrei, den Wellen dämpfen, Am Balken schwimmt der Passagier.

Wie lange so? - er weiß es nimmer, Dann trifft ein Strahl des Auges Ball, Und langsam schwimmt er mit der Trümmer Auf ödem glitzerndem Kristall. Das Schiff! - die Mannschaft! - sie versanken. Doch nein, dort auf der Wasserbahn, Dort sieht den Passagier er schwanken In einer Kiste morschem Kahn.

Dann hat er kräftig sich geschwungen Und schaukelt durch das öde Blau, Er sieht das Land wie Dämmerungen Enttauchen und zergehn in Grau. Noch lange ist er so geschwommen, Umflattert von der Möwe Schrei, Dann hat ein Schiff ihn aufgenommen, Viktoria! nun ist er frei!

Armsel'ge Lade! sie wird sinken, Er strengt die heisre Stimme an: "Nur grade! Freund, du drückst zur Linken!" 2. Drei kurze Monde sind verronnen, und die Fregatte liegt am Strand, Wo mittags sich die Robben sonnen, Und Burschen klettern übern Rand, Den Mädchen ist's ein Abenteuer, Es zu erschaun vom fernen Riff, Denn noch zerstört ist nicht geheuer Das gräuliche Korsarenschiff. Und vor der Stadt, da ist ein Waten, Ein Wühlen durch das Kiesgeschrill, Da die verrufenen Piraten Ein jeder sterben sehen will. Aus Strandgebälken, morsch, zertrümmert, Hat man den Galgen, dicht am Meer, In wüster Eile aufgezimmert. Dort dräut er von der Düne her! Welch ein Getümmel an den Schranken! -

"Da kommt der Frei - der Hessel jetzt Da bringen sie den schwarzen Franken, Der hat geleugnet bis zuletzt." "Schiffbrüchig sei er hergeschwommen", Höhnt eine Alte, "ei, wie kühn! Doch keiner sprach zu seinem Frommen, Die ganze Bande gegen ihn." Der Passagier, am Galgen stehend, Hohläugig, mit zerbrochnem Mut, Zu jedem Räuber flüstert flehend: "Was tat dir mein unschuldig Blut? Barmherzigkeit! - so muss ich sterben Durch des Gesindels Lügenwort, O, mög die Seele euch verderben!" Da zieht ihn schon der Scherge fort.

Er sieht die Menge wogend spalten Er hört das Summen im Gewühl Nun weiß er, dass des Himmels Walten Nur seiner Pfaffen Gaukelspiel! Und als er in des Hohnes Stolze Will starren nach den Ätherhöhn, Da liest er an des Galgens Holze: "Batavia. Fünfhundertzehn." Geschah dem Täter »Gesetz« - wie könnte es lauten? - oder geschah ihm „Recht«; menschliches oder göttliches? Widerfuhr ihm "Gerechtigkeit"?

173

Zur Erörterung dieser Frage brauchen wir aber nicht erst auf das Gedicht "Die Vergeltung" zurückzugreifen. Da genügt auch eine fast alltägliche Zeitungsmeldung, die auch mit dieser Überschrift versehen sein könnte: "Vier Männer vergewaltigten eine Frau - sie hat Aids HA Frankfurt - Sie entführten und vergewaltigten eine 34jährige Frau. Jetzt müssen sie selbst um ihr Leben zittern: Vier bislang unbekannten Tätern droht nach ihrem Sex-Verbrechen ein qualvoller Tod. Grund: Ihr Opfer leidet an Aids in fortgeschrittenem Stadium. Die Männer hatten die junge Frau in Frankfurt in ein Auto gezerrt und in einen Wald im Hundsrück entführt. Dort vergewaltigten sie sie immer wieder. Die vier zwangen ihr Opfer zu Sexualpraktiken, die eine Infektion mit der tödlichen Immunschwäche so gut wie sicher machen - zumal die Frau bei der Vergewaltigung blutige Verletzungen erlitt." Wenn man bis dahin an das (sporadische) Walten einer göttlichen Gerechtigkeit zu glauben geneigt war, so vergeht einem dieser Gedanke an Gottes langsam aber sicher mahlende Mühlen oder eine in unserer Welt waltende göttliche Gerechtigkeit dann doch wieder, und man fällt vom (Irr-)Glauben ab, wenn man noch den letzten Satz der Meldung liest: "Die Polizei befürchtet jetzt, daß die ahnungslosen Sex-Täter auch noch ihre möglichen Partnerinnen oder Ehefrauen anstecken werden."

2.5 Strafrechtliche Prüfung des Falles „Brett des Karneades“ Strafrechtl iche Prüfung des Falles "Brett des Karneades " Unrechtst atbestand erfüllt

Vielleicht geschah dem »schwarzen Franken« aus der Ballade „Die Vergeltung“ göttliches Recht, was aber zu bezweifeln ist, wenn man von der Vorstellung eines liebenden (und nicht eines rächenden) Gottes ausgeht. Aber auf jeden Fall geschah ihm durch die falsche Aussage der mitangeklagten Seeräuber nicht menschliches Recht, wenn man für die Abwägung der Schuldfrage die Strafbestimmungen unseres StGB zugrunde legt. Danach hätte er, obwohl er den Tatbestand des § 212 StGB voll erfüllt hat, der lautet: "§ 212 StGB Totschlag Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft." trotz der von ihm an dem kranken Schiffbrüchigen unstreitig begangenen Tötungshandlung straffrei bleiben müssen. Die Strafrechtsprechung kann zwar nicht durchgängig unter dem Motto betrieben werden: "Wer verurteilt, kann irren - wer verzeiht, irrt nie!" Es muss entschieden und wohl auch gestraft werden. Aber der Gesetzgeber trägt dem psychischen Zwang in extremen Notlagen Rechnung. Die Handlung des »schwarzen Franken« wäre zwar nicht gemäß "§ 32 StGB Notwehr (1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig. (2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden." gerechtfertigt gewesen. »Gerechtfertigt« bedeutet, dass mit einer Tathandlung kein strafjuristisch definiertes Unrecht begangen worden ist, obwohl der objektive Tatbestand eines Strafgesetzes (z.B. in § 212 StGB: "Wer einen Menschen tötet ...") zunächst einmal erfüllt, das in diesem Straftatbestand geschützte Rechtsgut (z.B. "Leben" in § 212 StGB) verletzt worden ist. Trotzdem kann die geschehene Verletzung eines in einer strafrechtlichen Bestimmung geschützten Rechtsgutes rechtmäßigerweise vorgenommen worden sein, nämlich dann, wenn sie durch einen der möglichen Rechtfertigungsgründe, z.B. durch Notwehr, nicht unbedingt rechtlich geboten - ein Opfer muss sich nicht wehren -, aber erlaubt und damit eben »gerechtfertigt« ist. Für einen Rechtsstaat gilt: "Das Recht muss nicht dem Unrecht weichen!" - kann es aber tun. „Schlägt dir jemand auf die linke Wange, so halte auch die Rechte hin“, lautet dagegen Jesu moralischer Appell. Aber auf dieser extrem erduldenden Basis lässt sich das Zusammenleben in einer staatlichen Gemeinschaft nicht organisieren.

174

Kein Eingreifen von "Rechtfert igungsgründen", insbesond ere kein Unrechtsausschluß durch Notwehr oder rechtfertig enden Notstand

Die Notwehrüberlegungen auf die Ballade angewandt ergeben, dass der Kranke den »schwarzen Franken« nicht angegriffen hatte. Eine Notwehrlage, in der sich der schwarze Franke gegen den Kranken bis zu dessen Tötung berechtigt hätte wehren dürfen, war für den schwarzen Franken - anders als für den Kranken - somit nicht gegeben. Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr scheidet folglich aus. Aber es gibt ja noch weitere Rechtfertigungsgründe, die zu prüfen sind, ob sie möglicherweise eingreifen könnten, um das zunächst festgestellte Unrecht der Tat, hier der Tötung des Kranken, durch eine Kontrollüberlegung wieder auszuschließen. Die Tat des »schwarzen Franken« wäre auch nicht nach "§ 34 StGB rechtfertigender Notstand Wer in einer anders nicht abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden." gerechtfertigt gewesen, weil das geschützte Interesse seines Lebens in der vom Gesetzeswortlaut des § 34 StGB geforderten Rechtsgüterabwägung nicht das von ihm beeinträchtigte Interesse des Lebens des Kranken überwog. Unter der Geltung des Grundgesetzes darf grundsätzlich nicht Leben gegen Leben abgewogen werden. Man darf z.B. nicht gesundes gegen krankes Leben aufrechnen. (Das war unter den US-Amerikanern1 und den Nazis anders. Diesbezügliche kommerzielle Nützlichkeitserwägungen gegenüber sogenannten "Ballastexistenzen" wurden in der obersten Hierarchieebene erdacht und teilweise bis zu den Kindern im Rechenunterricht der Grundschule weitergegeben!2) Man darf nicht einmal erlaubterweise ein Leben opfern, um zwei oder mehrere 1

2

Edwin Blake beschreibt in seinem Buch “War against the Weak“, dass eine von US-Pferde- und Rinderzüchtern dominierte eugenische Bewegung um den Biologen Davenport aus Furcht vor Überfremdung der von Nordeuropäern aufgebauten USA durch „kleinwüchsige Schwarzhaarige jenseits der Alpen“, Afro-Amerikaner, Mexikaner und Juden ein Eugenik-Programm ersann, das von mehreren Eliteuniversitäten der USA getragen und verbreitet wurde. Mit diesem Programm sollte das randständige Zehntel der us-amerikanischen Bevölkerung u.a. durch letztlich Zwangssterilisation daran gehindert werden, sein als „minderwertig“ eingestuftes Erbgut an Nachkommen weiterzugeben. Der Chef des Statistikbüros des „Eugenics Record Office“ (ERO), Laughlin, ließ durch gezielte Fragen von »Befragern« und die Auswertung der Antworten feststellen, dass „70 bis 80 Prozent aller Schwarzen und Juden Trottel und Idioten“ seien. Der Kampfslogan der Eugeniker lautet: „Einige Amerikaner sind nur geboren, um dem Rest der Gesellschaft zur Last zu fallen.“ Die zu deren Unterhalt aufzubringenden Kosten in Höhe von damals jährlich 100 Mill. $ solle man durch eugenische Maßnahmen einsparen. Viele der von den Befragern als „geistig verwirrt“, „blind“, „schwachsinnig“, „epileptisch“, „verarmt“, unmoralisch“ oder „kriminell“ Katalogisierten, deren (angebliche) „Defekte“ von Ärzten als „erblich“ eingestuft worden waren, wurden in „Kolonien“ mit extrem hohen Todesraten interniert, in „Heilanstalten“ abgeschoben und Tausende wurden mit erschlichener oder ohne Zustimmung der Betroffenen auf der Grundlage von Einzelstaatsgesetzen in 33 Staaten der USA sterilisiert. Zu diesem Zweck hatte Laughlin als Vorlage für die Gesetzgebung ein »Modell«-Gesetz zur Zwangssterilisation von „Geisteskranken“ entwickelt. Hitlers Rassenhygieniker des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP übersetzten das »Modell«-Gesetz ins Deutsche und verwandten Teile daraus für die eigenen eugenischen Gesetze wie insbesondere das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ („Erbgesundheitsgesetz“) vom 14.07.1933, das “Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ („Blutschutzgesetz“) vom 15.09.1935 und das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ („Ehegesundheitsgesetz“) vom 18.10.1935, auf deren Grundlage dann ca. 350.000 Menschen »legal« zwangssterilisiert worden sind. Laughlin erhielt für seine diesbezüglichen »Verdienste« 1936, im Jahr der Olympiade in Berlin, in der die deutschen Sportler mit Abstand die meisten Medaillen holten und so die Überlegenheit der »nordischen Rasse« für die Weltöffentlichkeit sehr augenscheinlich nachgewiesen hatten, 1936 die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg. Einige der us-amerikanischen Eugenik-Gesetze blieben trotz des Wissens um deren Missbrauch bis etwa 1970 in Kraft. Auf ihrer Grundlage wurde bis zum Schluss u.a. vielen Indianerinnen zur Verhinderung »minderwertigen« Nachwuchses ganz »legal« auf der Grundlage dieser Schandgesetze ihre Gebärmutter herausoperiert – teilweise als Übungsprogramm für angehende (weiße) Gynäkologen. Hitlers Leibarzt Morell hatte im Juli 1939 nach Unterredungen mit Hitler in einer Denkschrift festgehalten: „Es spielt schließlich der Gedanke der Menschenrechte eine Rolle. (...) An dem Gedanken ist etwas Richtiges, als Prinzip ist er falsch. Ein subjektives Recht dieser Art mit uneingeschränktem Eigenbereich gibt es genauso wenig wie beim Eigentum. (...) Die dringenden Bedürfnisse der Gemeinschaft lassen sich aber nicht aus der augenblicklich günstigen Lage entwickeln, sondern sie müssen auf einen längeren Zeitraum abgestellt (werden) und insbesondere auch künftige Möglichkeiten berücksichtigen. 5000 Idioten mit Jahreskosten von je 2000 RM = 10 Millionen jährl. 5 Prozent Verzinsung entspricht das einem reservierten Kapital von 200 Millionen. ... Dabei müssen auch noch das Freiwerden von

175

andere Leben zu retten. Eine solche Handlung wäre gegenüber dem/den jeweiligen Opfer/n nicht gerechtfertigt!3 Weitere Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Damit ist die Tat mit der Rechtsordnung nicht vereinbar. Sie ist somit objektiv rechtswidrig. Schuldtatbe Der "schwarze Franke" war schuldfähig und handelte vorsätzlich. Damit ist nach dem Vorliegen des objektiven stand erfüllt Tatbestandes auch das Vorliegen des subjektiven Tatbestandes zu bejahen. Der Schuldtatbestand ist (wieder nur als Zwischenergebnis) als erfüllt festzustellen. Aber auf eine solche vorsätzlich begangene Handlung wie die des schiffbrüchigen »schwarzen Franken« wird unter bestimmten, extremsten Voraussetzungen trotzdem nicht mit einem Strafausspruch reagiert: Obwohl der »schwarze Franke« eine rechtswidrige Tötungshandlung begangen hat, würde er nicht verurteilt werden, weil sein Handeln in dieser Situation gemäß "§ 35 StGB entschuldigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. ..." zwar als rechtswidrig - denn man darf einen »Nicht-Angreifer« nicht gerechtfertigt umbringen - aber trotzdem als nicht vorwerfbar schuldhaft, als »entschuldigt« eingestuft würde. Niemandem wird zugemutet, tatenlos seinen Tod akzeptieren zu müssen, ohne wenigstens nach dem bewussten Strohhalm - oder eben einem Schiffsbalken - gegriffen zu haben.4 Ausschluss Welcher Paragraph von beiden, ob § 34 oder § 35 StGB, im konkret zu entscheidenden Fall einschlägig ist, ist der zwar für den Betroffenen bei der seinen Strafprozess abschließenden Frage: "Strafe ja oder nein?" gleichgültig, Rechtsschu aber trotzdem ein feiner Unterschied - nicht nur juristisch, sondern vielleicht auch für sein Gewissen! (Er ist in ld durch dem Buch "Rechtskunde - Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Eingreifen Tötungsdelikten" eingehender behandelt.) Der Vergleich des Wortlauts der §§ 34 und 35 StGB ergibt weitere eines Unterschiede bezüglich der geschützten Rechtsgüter und des bevorrechtigten Personenkreises! Das ist wegen der Entschuldi gungsgrund vielen fremden Vokabeln und der dahinter steckenden Bedeutungen für juristische Anfänger schon starker juristischer Toback. Aber allgemein gilt, wenn Gesetzeswortlaut erörtert werden muss, der Stoßseufzer des es vormaligen Bundesjustizministers Kinkel: "Ich kann doch die Gesetze nicht so machen, dass sie jeder versteht." Ein Beispiel einer Gesetzesüberschrift aus dem Beschlussprotokoll der Bremischen Bürgerschaft: "Gesetz zur Nahrungsmitteln eigener Erzeugung und das Sinken gewissen Einfuhrbedarfs bewertet werden.“ (Zitiert nach Aly, G.: „Endlösung“, S. 52 f). Aus dieser volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf oberster NS-Ebene wurde dann in Rechenbüchern die Rechenaufgaben: "Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300.000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Was kosten diese jährlich bei einem Satz von 4 RM? Wieviel Ehestandsdarlehen zu je 1000 RM könnten ... von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?" Oder: "Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6 Mill. RM. Wieviel Siedlungshäuser zu je 1500 RM hätte man dafür bauen können?" Später gab es bunt bebildertes Anschauungsmaterial „Ausgaben für Erbkranke – Soziale Auswirkung“ und unter entsprechenden Bildern stand: „Erziehungsheim in E. mit 130 Schwachsinnigen Ausgaben jährlich 104 000 RM – dafür könnte man - 17 Eigenheime für erbgesunde Arbeiterfamilien erstellen“ Und zum Einhämmern der Parole groß und rot hervorgehoben die von den Nazis gewollte Erkenntnis: „Erbkranke fallen dem Volk zur Last!“ Wir wissen aus unserer Ex-post-Betrachtung: Unworten folgen bald ganz schnell Untaten nach! 3 Ein Weichensteller bemerkt, dass zwei Züge mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander zu rasen. Es sind viele Tote zu erwarten. Das Unglück könnte nur verhindert werden, wenn der Weichensteller eine Weiche umstellt und einen der Züge über ein Ausweichgleis leitet - an dem eine Gruppe von Gleisbauarbeitern arbeitet, von denen einige voraussichtlich getötet werden. Der Weichensteller darf nicht nach einer kurzen Überschlagsrechnung den Hebel umlegen, um die Zahl der Opfer zu minimieren. Das ist der Unterschied zwischen Unglück und Unrecht. 4 Noch einmal zurück zu dem Weichensteller-Fall: Wenn der Weichensteller weiß, dass in einem der Züge ein Angehöriger von ihm oder "eine andere ihm nahestehende Person" wie z.B. seine Geliebte mitfährt, der Gefahr für ihren von ihm heiß begehrten Leib oder ihr Leben droht, dann kann er die Weiche umstellen, ohne für den von ihm vorausgesehenen und dann auch eingetretenen Tod einiger Gleisbauarbeiter bestraft werden zu können. Strafjuristen, spitzfindig wie sie als Freunde des gespaltenen Haares nun einmal sind, konstruierten folgenden Fall, um zu zeigen, dass es bei einer solchen Handlung nicht auf die Lauterkeit des Handelns ankomme, damit die Handlung als "entschuldigt" eingestuft werde, sondern nur auf die seelisch erlebte Nähe zwischen dem Täter und der von ihm zu retten beabsichtigten Person: Lebemann L nimmt auf eine Kreuzfahrt seine Ehefrau E und - ohne deren Wissen - seine der E unbekannte langjährige Geliebte G mit. Bei einem Schiffsunglück, als alle in die Boote müssen, stößt der schon im letzten Rettungsboot kauernde L die früher beste Ehefrau von allen, E, zurück und reißt G zu sich ins Boot, um sie zu retten, da für ihn seine jüngere Bekanntschaft anregender ist als seine ihm schon zu viele Jahre vertraute Ehefrau. Es tritt der von ihm bei dieser Handlung vorausgesehene, aber ihm nicht unangenehme Doppeleffekt ein: G wird mit ihm gerettet, E findet kein Boot mehr und kommt um. L spart so die Scheidungs- und die viel höheren Scheidungsfolgekosten.

176

Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) und des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG)". Alles klar? Wohl eher nicht! Die grundsätzliche Gegenposition zu dem Stoßseufzer des ehemaligen Bundesjustizministers Kinkel wurde von unserem Bundespräsidenten Herzog formuliert und ist deshalb so bedenkenswert, weil er vor seiner Ernennung zu unserem Staatsoberhaupt als Präsident des BVerfGs der oberste Richter Deutschlands war: „Jedenfalls gilt bei Gesetzen wie überall im Leben: Was nicht zu verstehen ist, kann weder auf Verständnis hoffen noch auf Befolgung. Wie soll der Bürger Spielregeln beachten, die zu verstehen selbst der Experte Mühe hat?“ Aus dieser Einsicht heraus hatte der italienische Staatspräsident Cossiga anlässlich eines Staatsbesuches in der CSFR den Politikern des Gastlandes mit Blick auf deren Staatspräsidenten und Dichter Václav Havel geraten: "Lasst die Verfassung nicht von Juristen schreiben, sonst versteht sie niemand, und es gibt nur Probleme. Ich bin ja auch Jurist, doch ich empfehle einen Künstler, einen Dichter wie Sie ... ." „Die Zehn Gebote sind deshalb so einfach, weil keine Expertenausschüsse daran mitgearbeitet haben“ (Charles de Gaulle). Man hat aber nicht immer gleich einen Goethe, Schiller, Arndt, Claudius, Eichendorff, Heine, E. T. A. Hoffmann, Rückert, Storm, Uhland oder andere „Juristen-Poeten“ zur Hand, die - u.a. wenigstens auch - Juristen und noch erfolgreichere Dichter waren.)

2.6 Annäherung an die »Idee des Rechts« Was ist nun »Recht«? Darauf hat es im Laufe der Jahrtausende von Juristen, Theologen und Philosophen die unterschiedlichsten Antworten gegeben; ein von z.B. Jean Giraudoux lautet: „Das Recht ist die stärkste Schule der Einbildungskraft: Kein Dichter interpretiert die Natur so frei wie der Jurist die Wirklichkeit.“ Da ist etwas Wahres dran, denn Juristen setzen sich, wenn sie ein bestimmtes juristisches Ergebnis erzielen wollen, durch eine „Fiktion“ genannte gedankliche Konstruktion über jede naturwissenschaftlich bekannte oder überprüfbare Naturgesetzlichkeit hinweg! So ordnete das BGB früher z.B. an, dass ein nichteheliches Kind mit seinem Vater als nicht verwandt gelten solle: weil man nicht wollte, dass ein nichteheliches Kind in die Reihe der Erben aufrücke. Nur Ehegatten und Kinder sollten erbberechtigt sein, nicht aber Kegel! Die vorstehende Definition sagt etwas darüber, wie Juristen das Recht mit virtuos gehandhabter Rabulisitik instrumentalisieren können, erklärt aber nicht das Wesen »des Rechts«. Eine andere Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Rechts stammt von Hegel (1770 - 1831), der damit eine Synthese aus früheren Anschauungen der Stoiker und von Rousseau versuchte: Die »Idee des Rechts« muss von der Gesellschaft als ganzer getragen werden. Sie sei nicht abstrakt (wie viele Vorgänger Hegels meinten), weil jeder mit ihr übereinstimmt. Sie sei nicht individuell, weil sie für jeden verbindlich ist. Sie sei „der allgemeine Wille in seiner höchsten Äußerung: dem preußischen Staat“. Das ist natürlich eine ziemliche Fan-Äußerung. Da hat sich Hegel wieder einmal ein bisschen sehr als Hermelinfloh im Pelz des Krönungsmantels der preußischen Könige betätigt – wie die Fans des FC St. Pauli ihren Verein ja auch für den besten aller möglichen halten. Aber die Fans anderer Klubs stehen ihnen da nicht nach. (Das ist schließlich das Vorrecht eines Fans.) Mit einer solchen Definition des »Rechts« als „Wille in seiner höchsten Ausprägung – dem preußischen Staat“ können wir natürlich auch nichts mehr anfangen, denn wenn sie stimmte, dann wäre ja nach dem Untergang des preußischen Staates – was Hegel sich wohl nicht vorstellen konnte – auch die nach dieser Definition an ihn gebundene »Idee des Rechts« mit untergegangen!

Annäheru ng an die »Idee des Rechts«

Was sich heutzutage für einen juristischen Laien hinter der »Idee des Rechts« verbirgt, kann nicht das Zivilrecht plus das Recht des Kaufmanns sein, plus Strafrecht, plus Baurecht, plus Polizeirecht, plus Gewerberecht, plus Zivil- und Strafprozessrecht, plus Umweltschutzrecht, plus Beamtenrecht, plus Verfassungsrecht, plus ... . Die Aufzählung könnte noch sehr lange fortgesetzt werden, es könnten noch viele weitere Rechtsgebiete genannt werden, die sicher notwendig, aber teilweise so trocken sind, wie z.B. das Zwangsvollstreckungsrecht, dass man aus dem Munde staubt, wenn man davon spricht. Und das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile! Deshalb wollen wir unsere Nase nicht vorwitzig in einzelne Rechtsgebiete stecken, zu deren Verständnis man dann doch wieder umfangreiche Rechtskenntnisse benötigt - beispielhaft sei auf das in einer noch folgenden Zeitungsmeldung angesprochene 250-Seiten-Buch allein über das Problem der Neuregelung der Sonntagsarbeit verwiesen -, sondern wir wollen uns ausschließlich der »Idee des Rechts« als der „Kunst des Guten und Gleichen“ asymptotisch anzunähern versuchen; mehr geht nicht. Wenn dabei Beispiele für notwendig gehalten

177

werden, wird nicht so sehr auf traditionelle Rechtsgebiete zurückgegriffen, sondern vorwiegend auf aktuellere Beispiele aus der rechtspolitischen Tagesdiskussion, wie sie letztlich oder zurzeit gerade in der Tagespresse diskutiert wurden oder werden und wie ein interessierter Laie sie darum zur Zeit des Erscheinens dort mitverfolgen konnte oder noch verfolgen kann. So kann jeder juristische Laie an einigen nicht ganz willkürlich herausgepickten Beispielen miterleben, wie in der Öffentlichkeit der Tagespresse dringlich vermisste gesetzliche Regelungen auf gesellschaftlichen Problemfeldern in den Tageszeitungen angemahnt, diskutiert, kommentiert und vielleicht auch Lösungen zugeführt werden, wie es z.B. inzwischen auf dem Gebiet des Ehenamensrechts geschehen ist. Der Leser der Tagespresse konnte oder kann verfolgen, wie ein neues Recht durch u.a. auch eine kontroverse Diskussion in der Öffentlichkeit heranwächst, bis es durch eine gesetzliche Neuregelung geboren ist - oder, weil es sich im Laufe seines Entstehungsprozesses als mit einem gesellschaftlich so gesehenen und bewerteten Geburtsfehler behaftet herausstellt, abgetrieben wird. Dabei muss eine gefundene und durchgesetzte Lösung noch nicht das Ende der öffentlichen Diskussion darstellen; verwiesen sei diesbezüglich auf den rechtspolitischen Streit um die Neuregelung des § 218 StGB, der auch nach der letzten ablehnenden Entscheidung des BVerfGs weiterging, bis eine Neuregelung gefunden worden war, die von einer Parlamentsmehrheit getragen wurde und dabei die Vorgaben des BVerfGs in seiner vorerst letzten Entscheidung einhält.

2.6.1. Widerstreit zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz und Recht Die Idee des Rechts und seine praktische Ausgestaltung hat natürlich auch schon vergangene Kulturen bewegt. Jede Kultur hat zur Regelung der Beziehungen der ihr Angehörenden Vorstellungen über rechtliche Grunderfordernisse dieser Beziehungen untereinander entwickelt - die sehr »ungerecht« gewesen sein können. Zu Absicherung der in ihrer Gesellschaft geltenden Regelungen in der allgemeinen Akzeptanz wurden meist die Götter bemüht, weil es für die im Großen und Ganzen Begünstigten viel zweckdienlicher war, auf den göttlichen Ursprung des in der jeweiligen Gemeinschaft zur Geltung gekommenen Rechts verweisen zu können, als die nackten Interessen der jeweiligen Machtelite durchscheinen zu lassen. Aber den Menschen scheint ein – allerdings recht manipulierbares – Gerechtigkeitsgefühl innezuwohnen, und sie entdeckten irgendwann eine »Gerechtigkeitslücke« zwischen dem sie benachteiligenden behaupteten göttlichen Recht und ihrem durch einen Missstand als offensichtlich ungerecht empfundenen Gerechtigkeitsgefühl. Dann begann der Kampf um die Neukonzeption des in der jeweiligen Gemeinschaft in (der nächsten) Zukunft geltenden Rechts. Prägend für das Abendland war in vielen Bereichen die Kultur der Griechen. Darum sei zunächst an sie erinnert.

2.6.2 »Gesetz« und »Recht« in griechischen Tragödien „Gesetz« und »Recht« in griechischen Tragödien

Die Griechen sahen es als »tragisch« an und stellten es in auf ihren Sagen fußenden »Tragödien« dar, wenn ein Mensch auf der Suche nach »dem Recht« in die Zwangslage geriet, sich zwischen der Befolgung sich gegenseitig ausschließender göttlicher oder menschlicher Gesetze entscheiden zu müssen und er so unausweichlich nach einer der beiden sich gegenüberstehenden und Gehorsam heischenden Normen schuldig werden musste. Welchem Gesetz war dann Folge zu leisten? Was war dann »Recht«? Aber wir halten zunächst noch schnell als eben kaum bemerktes Zwischenergebnis ganz kurz fest, dass in der so angesprochenen Fallgestaltung die Griechen »das Recht« über »dem Gesetz« stehend ansahen. Und damit die Erörterung um den Konflikt zwischen »Gesetz« und »Recht« bei den Griechen (wie er in vielen anderen Kulturen auch besteht, wenn die Gesetze nicht als von Gott oder den jeweiligen Göttern gegeben angesehen werden) hier nicht als zu blutleer erscheint, zunächst ein Anschauungsbeispiel. Den in diesem klassischen Fall deutlich werdenden Konflikt zwischen »Gesetz« und »Recht« kann man auch als Konflikt zwischen Gesetz und Gewissen ansprechen. Wegen dieser zeitlosen Grundproblematik werden die Tragödien der großen griechischen Dichter heute immer noch aufgeführt. Und dieser grundlegende Konflikt wird immer wieder aufbrechen, auch Jahrtausende nach dem Erlöschen der griechischen Kultur als der Wiege des Abendlandes: Zum Beispiel zur Nazi-Zeit zwischen der Befolgung der Menschenleben vernichtenden Rassegesetze und dem u.a. durch die Zehn Gebote christlich geprägten Gewissen, ein Konflikt, den die Widerständler für das Gewissen entschieden und teilweise mit ihrem Leben bezahlen mussten: "Sie waren bereit, für Menschenwürde und Freiheit, für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit ihr Leben aufzuopfern. Sie wollten die

178

`Majestät des Rechts' wiederherstellen. ... Es waren nicht viele, aber es waren die Besten!" (Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Gedenkrede zum 50. Jahrestag des Attentatsversuches auf Hitler am 20. Juli 1944.) Und wer Grundlegendes und Packendes zu diesem durch die beginnende Nazi-Herrschaft damals zunächst nur drohenden Konflikt von einem deutschen Dichter hellsichtig vorausahnend literarisch verarbeitet lesen möchte, greife zu der von Stefan Zweig schon 1936 geschriebenen Novelle: "Ein Gewissen gegen die Gewalt. Castellio gegen Calvin", in der zur historischen Verbrämung der auf das NS-Regime zielende Konflikt in den Anfang des 16. Jahrhunderts verlegt wurde. Ein Konflikt in unserer Zeit zwischen Gesetz und Gewissen konnte in den letzten Jahren u.a. in der Auseinandersetzung um das »Kirchenasyl« verfolgt werden, das von manchen Kirchengemeinden abschiebebedrohten Asylanten aus Gewissensgründen unter Berufung auf das Bibelwort: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!", gewährt worden war. Für die Mitglieder der Kirchengemeinden stand ihr an göttlichen Geboten (wie sie sie verstanden) ausgerichtetes Gerechtigkeitsgefühl nicht im Einklang mit den staatlichen Gesetzen. In diesem durchlittenen Konflikt zwischen Gesetz und Gewissen entschieden sie sich dem zu folgen, was ihnen ihr Gewissen gebot. Viele in der Verantwortung für unsere staatliche Gemeinschaft stehende Politiker, wie z.B. der Bremer Innensenator Borttscheller 1998, können das nicht akzeptieren und meinen dagegen lapidar, Kirchenasyl zu gewähren sei „keine Heldentat, sondern Rechtsbruch“. 2001 wurde vom AG Papenburg ein katholischer Pfarrer „zu einer Verwarnung mit 4.000 Mark Strafvorbehalt verurteilt, weil er einer neunköpfigen kurdischen Familie Kirchenasyl gewährt hatte“ (HH A 18.05.01). Und im April 2003 ist – als bisher einmaliger Vorgang - im brandenburgischen Tröpitz eine kurdische Familie von der Polizei aus dem bisher immer geduldeten Kirchenasyl herausgeholt und in die Türkei abgeschoben worden. Aber dort ist ja auch der dafür verantwortliche Innenminister ein Ex-General gewesen. „Kirchenasyl – Zwei Pastoren vor Gericht PROZESS Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft, weil sie Flüchtlingen helfen Ludger Fertmann Hildesheim Pastor Gerjet Harms (62) hat so gar nichts Lutherisch-Streitbares, aber was er freundlich lächelnd sagt, ist eine Kampfansage an die Justiz: ’Die Verteidigung der Menschenwürde kann nicht strafbar sein.’ Weil das die Staatsanwaltschaft Hildesheim anders sieht, steht Harms von heute an gemeinsam mit Philipp Meyer, dem anderen Pastor der Hildesheimer Matthäus-Gemeinde, vor Gericht. Beide sind wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz angeklagt. Dass gleich zwei Pastoren der Prozess gemacht wird, weil sie Flüchtlingen Kirchenasyl gewähren, hat aus Sicht des Niedersächsischen Flüchtlingsrats eine neue Qualität. Offenbar solle ein Präzedenzfall mit abschreckender Wirkung geschaffen werden, heißt es dort. Bislang seien ähnliche Fälle zumeist eingestellt worden. ... Ämter und Gerichte lehnten ihre Asylanträge ab. Der Niedersächsische Flüchtlingsrat aber ist sicher, dass bei einer Abschiebung [der Kurden; der Autor] dem Vater Folter droht und der Familie politische Verfolgung. Der Hildesheimer Oberstaatsanwalt Berns Seemann betont, dass der Prozess nicht Ausdruck einer neuen harten Haltung zum Kirchenasyl sei. Das Legalitätsprinzip lasse keinen Spielraum, zudem sei Pastor Harms ein Wiederholungstäter. ... Harms’ Argumentation ist nicht zimperlich: Kirchenasyl sei eine Frage der Menschenwürde, die Unterschiede nicht zulasse, sagt er. ’Maria und Josef hat damals auch niemand aufnehmen wollen.’ Zudem falle die Familie dem Staat nicht zur Last. Alle Ausgaben würden aus Spenden bestritten. Weil beide Seiten so grundsätzlich argumentieren, wird das Verfahren wohl einen langen Instanzenweg nehmen, Bis der zu Ende beschritten ist, können noch Jahre vergehen.“ (HH A 31.07.02) Formaljuristisch ist die Gewissensauflehnung gegen (gerade geltendes) »Gesetz« und »Recht« sicher immer ein Rechtsbruch. Gerade deswegen kann sie ja eine Heldentat sein! Doch zurück zu den alten Griechen.

179

Tragödie als Widerstreit zwischen menschlich em und göttlichem Gesetz und Recht

Fall ("Ödipus" und "Antigone" von Sophokles): Der Königssohn Ödipus wurde auf Geheiß seines Vaters Laios kurz nach der Geburt nach Durchbohren der Füße5 (daher später „Ödipus“ = "Schwellfuß" genannt) ausgesetzt, weil ein befragtes Orakel dem König Laios von Theben geweissagt hatte, dass sein Sohn ihn später einmal erschlagen werde. Der König hatte daraufhin diese - damals nicht ungewöhnliche - Art der (nur nach menschlichem Ermessen) wahrscheinlichen Tötung seines Sohnes durch Aussetzung gewählt, weil er - nach seinem Verständnis - an dem absehbaren Tod des völlig hilflosen, unschuldigen Kindes nicht (allzu?) schuldig werden, aber andererseits verständlicherweise sein eigenes Leben schützen und nicht fatalistisch auf den Eintritt des Seherspruchs und damit sein gewaltsames Ableben warten wollte. Vielleicht hatte der Seher die Botschaft der Götter ja auch missdeutet? Einen Rest Hoffnung ließ er sich nicht nehmen. Mochten die Götter den Säugling beschützen, wenn sie ihm durch ihn den Tod zugedacht hatten (Zunächst §§ 223 a, 223 b, ev. auch 224; 52 = in Tateinheit begangene gefährliche Körperverletzung mittels eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs und Misshandlung von Schutzbefohlenen, eventuell auch schwere Körperverletzung, denn eine solche Handlung ist nicht mehr durch den Erziehungsauftrag gedeckt; dann tatmehrheitlich gemäß § 53 StGB zu den vorgenannten Delikten tateinheitlich begangene Aussetzung gemäß § 221 StGB mit der Strafschärfung des Absatzes II i.V.m. §§ 212, 13, 22, 23; 52 StGB versuchte Tötung als Garantenunterlassen des Vaters. Um das aber inhaltlich zu verstehen und nicht nur auf mein Sachwissen vertrauend hinzunehmen, müssten Sie sich nach der Lektüre dieses Buches auch noch das nicht nur mit meinem Herzblut, sondern dem der Opfer geschriebene Buch „Rechtskunde – Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten“ zu Gemüte führen, in dem fast ausschließlich an Hand von Tötungsdelikten das Strafrecht erklärt wird. Die Beschränkung auf Tötungsdelikte als Grundlage für eine Einführung in das Strafrecht ist spannend, manchmal etwas „unappetitlich“, wenn man sich den Zustand des Opfers beim Auffinden der Leiche mit etwas Phantasie vorstellt, aber hoffentlich nicht zu schlimm, denn ich versuchte das Buch zu schreiben, das ich als Student gerne zur Einführung in das Strafrecht gelesen hätte. Weil ich es nicht fand, musste ich es selber schreiben.) Ein Hirte fand Ödipus und zog den Findling in seiner Familie groß. Der herangewachsene Ödipus tötete später in Vorwegnahme der Zustände auf bundesdeutschen Straßen ("Wie im Dschungel", STERN 12.09.91) irgendwo unterwegs in einem Streit um eine Vorfahrt einen ihm fremden Mann, nicht wissend, dass es sich bei dem Gegner um seinen leiblichen Vater handelte, denn er hielt fälschlicherweise – wie heutzutage rund 10 % der ehelich geborenen Kinder in der Bundesrepublik - seinen sozialen Vater für seinen leiblichen. (Die rechtliche Beurteilung der Tötung des Laios ist unklar, weil nicht überliefert ist, wer bei der ausufernden Vorfahrtrangelei der Angreifer gewesen war. Zu untersuchende Straftaten des Ödipus: § 213 StGB minder schwerer Fall des Totschlags oder § 226 StGB Körperverletzung mit Todesfolge; eventuell gerechtfertigt durch Notwehr gemäß § 32 StGB, wenn z.B. der König für sich eine ihm nicht zustehende Vorfahrt mit Waffengewalt zu erzwingen versucht und - ohne Blick auf die Füße seines Gegners - den Kampf begonnen hatte. Dann ist Notwehr möglich, denn: "Das Recht muss nicht dem Unrecht weichen". Deshalb muss bezüglich der Beurteilung der Frage, ob sich Ödipus des Totschlags an seinem Vater schuldig gemacht habe, zu seinen Gunsten der Grundsatz: "Im Zweifel für den Angeklagten!", durchgreifen.) Nach Befreiung der Stadt Theben von der menschenfressenden Sphinx mit ihrem bis dahin ungelösten Rätsel erhielt er zum Lohn den Thron und die (durch seine Gewalttat) verwitwete Königin Jokaste als Frau, seine leibliche Mutter, mit der er die Kinder Eteokles, Polyneikes, Antigone und Ismene zeugte. „Und während ihn die Rache sucht, genießt er seines Frevels Frucht.“6 (Zunächst bezüglich Thron und Frau als Belohnung ein Fall des § 657 BGB Auslobung. Danach wieder ein Schwenk zu dem von den Griechen in ihren Tragödien bevorzugten Rechtsgebiet, dem Strafrecht: Obwohl der objektive Tatbestand des § 173 StGB Beischlaf zwischen Verwandten erfüllt ist, entfällt eine Straftat gemäß § 16 StGB Irrtum über Tatumstände oder § 17 StGB Verbotsirrtum, weil weder Ödipus noch seiner Mutter - trotz der Narben an den ehemals durchbohrten Füßen ihres um eine Generation jüngeren zweiten Gatten - die strafbegründende Verwandteneigenschaft bewusst gewesen sein soll. Wenn das zutrifft, haben sie nicht vorsätzlich gegen die Strafnorm des § 173 StGB verstoßen. Als in Schweden ein Geschwisterpaar unter widrigen Umständen als Kleinkinder getrennt worden war, sich später rein zufällig als völlig Fremde (wieder)gesehen, sich, was sehr häufig sein soll, wenn sich zwei getrennt aufgewachsene Geschwister im richtigen Alter begegnen7, verliebt – im Gegensatz zu Wachteln, die auch bei getrennter

5

Dieser grausam quälende Umgang mit eigenen Kindern ist kein Privileg alter Mythen. Die Tagespresse liefert - leider reichlich Anschauungsmaterial. Näheres dazu auch in: Scharnweber, H.-U.: Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten 6 Schiller, F. v.: Die Kraniche des Ibykus 7 Vgl. Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998, S. 390

180 Aufzucht ihre Brüder und Schwestern erkennen8, sind Menschen hierzu nicht in der Lage -, geheiratet, auch Kinder gezeugt hatte und dabei war, sie großzuziehen, waren vom sehr menschlich denkenden und auch so handelnden schwedischen Parlament, als die Verwandteneigenschaft durch irgend einen Zufall oder eine medizinische Untersuchung herausgekommen war, Gesetze so geändert worden, dass die Geschwister als Eheleute weiter straflos zusammenleben konnten - was unter den Pharaonen aus biologisch-religiösen Gründen sogar erforderlich gewesen war, um das der Familie des Pharao von den Göttern - so behauptet und geglaubt verliehene Heil durch die Frauen als Mittlerinnen dieses Heils von Generation zu Generation weiterzugeben. Zum Beispiel war die letzte Pharaonin, die angeblich relativ unschöne aber sehr charmante, geistreiche und darum vielgeliebte Kleopatra, u.a. mit zwei Brüdern verheiratet gewesen, bevor ihr zwei herausragende Römer mehr zusagten.) Als Königs später von ihren unwissentlich begangenen, im griechischen Kulturkreis und darum von Sophokles wohl so bewerteten "Freveltaten" erfuhren, erhängte sich Jokaste. Ödipus konnte nicht in unser erst 1871 n.Chr. als Gesetz beschlossenes, seitdem aber schon mehrfach geändertes StGB und dort in die §§ 15, 16 und 17 blicken, sondern zerstörte sich zur Sühne für seinen unwissentlich begangenen Sittenverstoß das Augenlicht und verzichtete auf den Thron, den sein Schwager Kreon übernahm. Ein Sohn des Ödipus, Polyneikes, fühlte sich in seiner Thronanwartschaft übergangen, putschte gegen seinen Onkel (§ 81 StGB Hochverrat oder § 106 StGB Nötigung des Bundespräsidenten analog) und wurde erschlagen. Der Onkel erließ das Gebot, dass sein Neffe als Staatsfeind unbegraben und damit seine Seele ruhelos bleiben, sein Körper Vögeln und Hunden zum Fraße dienen solle. (Eventuell § 168 I 2. Fall StGB Störung der Totenruhe in der Form des Verübens beschimpfenden Unfugs an Leichen durch König Kreon.) Das war gegen die Götterordnung! Und außerdem nicht verhältnismäßig (verfassungswidriger Verstoß der staatlichen Gewalt gegen das aus Art. 3 GG interpretierte Verhältnismäßigkeitsgebot für jedes staatliche Handeln). Aber Gewaltenteilung mit der Möglichkeit, auch das oberste Machtorgan des Staates zur Rechenschaft ziehen zu können, wurde erst im 18. Jahrhundert "erfunden", und ein Bundesverfassungsgericht gab es in Theben auch nicht. Des Königs Wille war Gesetz! Aber „Wehe dem armen Opfer, wenn derselbe Mund, der das Gesetz gab, auch das Urteil spricht.“ (Schiller) Die Schwester des Erschlagenen, Antigone, musste sich entscheiden, ob sie der Staatsräson in Form des (un-)menschlichen Gesetzes ihres Onkels oder in humanistischer Individualität dem göttlichen Gesetz gehorchen solle. Was war „Recht«? Der immer aktuelle Konflikt. Beide Normen beanspruchten Geltung, schlossen sich aber gegenseitig aus. Antigone entschied sich für die Befolgung der göttlichen Norm, begrub den Bruder (ev. § 168 I 1. Fall StGB Störung der Totenruhe durch Entwendung einer Leiche aus dem Gewahrsam des Berechtigten) und wurde dafür auf Geheiß des Königs, ihres Onkels, lebendig begraben. Ihr geschah nach "Menschen-Gesetz". Aber war ihr auch »Recht« geschehen? In den zeitlosen, fast 2.500 Jahre alten Worten des Dichters Sophokles wird der Konflikt um Macht, Gesetz und Recht so dargestellt: "Kreon: Und wagtest, mein Gesetz zu übertreten? Antigone: Der das verkündete, war ja nicht Zeus, Auch Dike in der Totengötter Rat Gab solch Gesetz den Menschen nie. So groß schien dein Befehl mir nicht, der sterbliche,

Dass er die ungeschriebenen Gottgebote, Die wandellosen, konnte übertreffen. Sie stammen nicht von heute oder gestern, Sie leben immer, keiner weiß, seit wann. An ihnen wollt' ich nicht, weil Menschenstolz Mich schreckte, schuldig werden vor den Göttern. Und sterben muss ich doch, das weiß ich, Auch ohne deinen Machtspruch."

Schon die Griechen wussten, dass Gesetze durch den jeweiligen Gesetzgeber erlassenes (= legalisiertes; von lat. lex = Gesetz) Unrecht sein können, und von Bismarck stammt das Wort: "Wer weiß, wie Gesetze und Würste gemacht werden, der kann nicht mehr ruhig schlafen."

Festzuhalten bleibt noch, dass nach der bei Sophokles durchklingenden Vorstellung der Griechen die als über den menschlichen Gesetzen stehend und als göttlich gesetztes Recht empfundenen Gottgebote - im Gegensatz zu den Zehn Geboten der Juden - ungeschrieben waren, aber doch als wandellos begriffen wurden; eine Vorstellung von Recht, die wir Heutigen (mit Ausnahme der islamischen Fundamentalisten) so wohl nicht mehr teilen können.

8

Vgl. Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998, S. 389

181 Was ist nun aber, etwas genauer untersucht, „Gesetz«, was »Recht« und was "Gerechtigkeit"? Und dazu gehört im Strafrecht die Kontrollfrage: Was ist "Schuld"? Und wie soll darauf reagiert werden?

2.7 »Gesetz« »Gesetz«

„Gesetze sind abgekürzte Vorgänge des Lebens“ (Hans Lohberger). Das ist der allgemeinste Definitionsversuch von »Gesetz«, den ich gefunden habe. Und damit der unbrauchbarste. Gesetze sind das traditionell wichtigste Instrument politischer Gestaltung. Sie sollen die Wertordnung des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen schützen. Was »Gesetz« ist, ließe sich unter Verzicht auf alle erhellenden differenzierenden Einzelheiten auch in Anlehnung an Clausewitz‘ berühmte Formel über den Krieg nach meinem Dafürhalten relativ einfach und wertneutral bestimmen: „Gesetz ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Eine solche Definition von »Gesetz« wäre fast genau so unbrauchbar wie die zuvor zitierte. Solche zu allgemein gehaltenen Formulierungen sind zwar zutreffend, denn sie schließen nicht aus, dass es auch ungerechte Gesetze gibt: Das Leben ist ja auch nicht fair und »gerecht«. Das kann man nun wirklich nicht sagen! Doch wem wäre mit so allgemein gehaltenen Formulierungen geholfen, wie z.B. der des Demosthenes, der befand: „Gesetze sind die Sehnen der Demokratie“? Plato und Demosthenes definierten: „Gesetze sich die Seele der Polis“, womit die staatliche Stadtstaatengemeinschaft gemeint war. Mit so allgemein gehaltenen Formulierungen lässt sich der Begriff des Gesetzes nicht einsichtig fassen und für eine praktische Anwendung nutzbar machen. Er sagt z.B. nichts aus über den zwingenden Charakter der Gesetze, die Interessegeleitetheit mancher Gesetze, über das Gemeinschaftsfrieden anstrebende, bestenfalls sogar Gemeinschaftsfrieden stiftende oder Entwicklungen steuernde Ziel ihres Erlasses, über gerechte, aber auch ungerechte Gesetze, die NS- oder SED-Terror mit dem Rechtsschein der Legitimität auszustatten suchten. Eine solche Definition sagt nichts aus über den Anspruch, der hinter jedem Gesetz stehen müsste: „Etwas ist nicht recht, weil es Gesetz ist, sondern es muss Gesetz sein, weil es recht ist“ (Charles-Louis de Montesquieu). Platon fasste die Notwendigkeit von Gesetzen in den Ausspruch: „Es soll dabei ganz ähnlich hergehen wie beim Elementarlehrer, der mit dem Griffel den noch nicht schreibfähigen Kindern Linien zieht und sie zwingt, sich mit ihren Schreibversuchen nach diesen Linien zu richten: So hat auch der Staat als Richtschnur die Gesetze aufgestellt.“ Sehr blauäugig blendete er damit aber die Wirklichkeit seiner Sklavenhaltergesellschaft mit ihrem klassengeleiteten Recht der besitzenden Oberschicht und ihren daraus abgeleiteten Gesetzen aus, als er näher umschrieb, was er in diesem Zusammenhang unter dem Staat als Gesetzgebungskörperschaft verstand und als Funktion der Gesetze ansah: „Die Gesetze, glaube ich, sind von den schwachen Menschen und von der großen Masse gemacht. Zu ihren Gunsten und zu ihrem eigenen Nutzen stellen diese die Gesetze auf, sprechen sie Lob und Tadel aus! Die Stärkeren unter den Menschen und diejenigen, die imstande sind, ein Übergewicht zu erlangen, wollen sie einschüchtern.“ Gesetze als im Staat von den Schwachen vorgegebene, von jedermann jederzeit einsehbare Richtschnur zur Einschüchterung und Disziplinierung der Mächtigen? Das kann nach allem, was wir über die damalige Gesellschaftsstruktur wissen, nicht die Wirklichkeit widergespiegelt haben. Aber es ist ein schönes Ziel! Mir als Historiker drängen sich arge Zweifel bezüglich des Ursprungs der Gesetze als (schon) zu der damaligen Zeit „von den Schwachen zur Zähmung der Starken erlassen“ auf! Philosophen nach ihm sahen das ganz anders. Als Beleg dafür brauchen wir nicht auf die Utopien und Ansichten eines Karl Marx zurückzugreifen. Da genügt schon ein Rückgriff auf den bürgerlichen Philosophen Rousseau. Auf Grund der in der Menschheitsgeschichte überwiegend gemachten historischen Erfahrungen – „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ - sah Rousseau (1712-1778) als einer der Vordenker der dann in der Französischen Revolution ausgerufenen bürgerlichen Freiheitsrechte in dem bis dahin von Menschen geschaffenen Gesetz – im Gegensatz zum »natürlichen Gesetz« und dem Naturrecht - eine zweifelhafte Waffe, mit der sich die Starken in ihrem erbarmungslosen Bedürfnis nach Absicherung ihrer Herrschaft und ihres Besitzes gegen die Schwachen bewaffnet hätten. Die Reichen tränken in Frieden das Blut und die Tränen der Armen. Durch den Trick des Abschlusses eines Gesellschaftsvertrages hätten einige wenige Reiche ihren Besitz auf Kosten der großen Mehrheit der Menschen, der Armen, abgesichert. Die Armen mussten auf ihren Anteil an dem gesellschaftlichen Reichtum verzichten, so dass sie dann im Austausch für Frieden und Schutz „auf ihre Ketten zuliefen, im

182 Glauben, ihre Freiheit zu sichern“. Nur durch die kollektive Herrschaft der Bürger über sich selbst, so nahm der Bürger der Stadtrepublik Genf an, sei dieser ungerechte gesellschaftliche Zustand zu überwinden, so dass die Menschheit sich in einem Zustand unbehinderter Freiheit selbst verwirklichen könne. Rousseau legte so die konstitutionellen Grundlagen legitimer politischer Autorität und Herrschaft. Legitime Herrschaft beruhe auf Zustimmung der Beherrschten. Aber Platons Sichtweise der Gesetze als „von den Schwachen zur Zähmung der Starken erlassen“ sollte als Richtschnurfunktion für unsere heutige Gesetzgebung gelten! Aber ein paar tausend Jahre später ist eine moderne Gesellschaft wesentlich ausdifferenzierter, so dass eine so simplifizierende Umschreibung von Gesetzen nicht mehr unsere Wirklichkeit widerspiegelt. Wir müssen uns heutzutage um eine angemessene Definition von »Gesetz« mehr mühen als damals. Mit der vielschichtiger und damit unübersichtlicher gewordenen Lebenswirklichkeit wird auch eine heutige Definition von »Gesetz« unübersichtlicher. Trotzdem muss es versucht werden: »Gesetz« in einer modernen Gesellschaft ist grundsätzlich eine mit Anspruch auf Gehorsam vom hierfür (ernannt oder angemaßt) zuständigen Gesetzgeber im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten verkündete vorläufige Regelung eines zivil-, straf-, verwaltungsrechtlichen oder gesellschaftlichen Interessenkonfliktes, die abstrakt gefasst eine unbestimmte Vielzahl von Fällen regeln und für alle in dem Geltungsbereich des jeweiligen Gesetzes lebenden Personen - eventuell erst beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen - gleichermaßen gelten soll. Diese Regelung muss dann auf alle einschlägigen Fälle gleichermaßen angewandt werden. Manchmal sind Gesetze aber auch nur »abstrakt« mit Geltung für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen formuliert, obwohl mehr oder weniger klar ist, dass die besondere Situation, die zum Erlass des speziellen Gesetzes geführt hatte, kaum oder wohl gar nicht mehr auftreten wird. Im Verwaltungsbereich ist ein solches Gesetz aber trotzdem erforderlich, um u.a. der staatlichen Verwaltung die Grundlage für ein gesetzmäßiges Handeln zu eröffnen. Man spricht in solchen Fällen von »Einzelfallgesetzen«. Damit ist aber nur der Anlass ihres Zustandekommens gemeint, nicht jedoch der Rahmen ihrer Gültigkeit. Gesetze sollten einen fairen Interessenausgleich zwischen den jeweils betroffenen gesellschaftlichen Gruppierungen und ihren unterschiedlichen Interessen anstreben und keine Gruppierung auf Kosten einer anderen bevorzugen. Wenn der Gesetzgeber nicht mit dieser Intention handelt, können Gesetze sehr ungerecht sein. Neben der im besten Falle Gemeinschaftsfrieden anstrebenden und Gemeinschaftsfrieden möglichst auch stiftenden Funktion der Gesetze werden mit ihrer Hilfe auch gesellschaftliche Entwicklungen gesteuert. Da Politik ganz allgemein als »das Noch-nicht-Entschiedene« verstanden werden kann, ist »Gesetz« dann das zur Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen »vorläufig verbindlich Entschiedene«.

2.7.1 Die Notwendigkeit exakter Abfassung von Gesetzen Die Notwendig keit exakter Gesetze können aber auch unsinnige Auswirkungen haben und somit unsinnig (abgefasst) sein: Abfassung von "Adoptiert - aber sie gelten als `blutsverwandt' Gesetzen

Zwei Waisenkinder brauchen für Heirat eigenes Gesetz! Und das ganze Parlament wird zur Hochzeit eingeladen dh Ottawa - Super-Aufwand um ein Liebespaar: Damit zwei Verliebte heiraten können, muß ein eigenes Gesetz geschaffen werden - und selbst die Queen muß dem Ja-Wort noch zustimmen. Dabei ist das Liebespaar weder prominent noch adlig. Das Pech von Scott und Kim Broddy ist ganz einfach: Die beiden waren als Waisenkinder von ein und derselben Familie adoptiert worden und gelten seither als blutsverwandt - für Parlamentarier eine `gesetzliche Form höheren Blödsinns'. Schicksal gespielt hatten Vater und Sohn Broddy: Vater Broddys Familie adoptierte Scott vor 25 Jahren, sechs Jahre später kümmerte sich die kinderlose Familie des älteren `Bruders' von Scott um die kleine Kim. Beide wuchsen im gleichen Haus wie Geschwister auf. In den letzten Jahren aber wurde mehr aus der `Geschwisterliebe'. Um nichts `Verbotenes' zu tun, mieden `Onkel' und `Nichte' jeden engeren Kontakt. Bis Scott seiner Familie erklärte: `Ich kann das nicht mehr länger ertragen. Ich wandre aus.' Da eröffneten die `Eltern' Kim und Scott die Wahrheit. Doch jetzt legte sich der Standesbeamte der neuen Liebe quer: Adoptivkinder haben den gleichen Status wie natürliche Kinder - Heirat ausgeschlossen. Jetzt berät das kanadische Parlament eigens für dieses Paar eine `Lex Broddy'. Im Mai soll dieses Gesetz mit der Unterschrift der Queen als Landesherrin in Kraft treten. ..." (Morgenpost 24.02.82)

183

Im deutschen Recht ist die Rechtsfolge des Heiratsverbotes bei durch Adoption begründeter Verwandtschaft bei der Schaffung des (inzwischen ins BGB eingearbeiteten) Ehegesetzes gleich gesehen und nicht ganz so zwingend ablehnend geregelt worden, wie es in Kanada der Fall ehemals zu sein schien. Die Kanadier hätten sich an den nachfolgend wiedergegebenen damals geltenden Bestimmungen des deutschen Ehegesetzes orientieren oder entsprechende eigenständige Regelungen finden können: "§ 7 EheG Annahme als Kind / jetzt [fast wortgleich u.a. ohne Schwägerschaftsheiratsverbot] § 1308 BGB Adoption (1) Eine Ehe soll nicht geschlossen werden zwischen Personen, deren Verwandtschaft [oder Schwägerschaft] im Sinne von § 4 Abs. 1 durch Annahme als Kind begründet worden ist. Das gilt nicht, wenn das Annahmeverhältnis aufgelöst worden ist. (2) Das Vormundschaftsgericht kann von dem Eheverbot wegen Verwandtschaft in der Seitenlinie und wegen Schwägerschaft Befreiung erteilen. ... " Danach ist eine Befreiung nur für Adoptionsverwandte der geraden Linie ausgeschlossen; ein Elternteil soll sein Kind und ein Großelternteil sein Enkelkind nicht heiraten können. Das Vormundschaftsgericht kann aber die Ehe zwischen Geschwistern zulassen, deren Verwandtschaftsverhältnis auf der Annahme als Kind beruht. Die in Kanada 1982 geplante "Lex Broddy" wird zwar so formuliert werden, dass sie für eine (künftige) unbestimmte Vielzahl von Fällen Geltung haben kann, wird aber trotzdem ein »Einzelfallgesetz« sein und vermutlich auch bleiben. Aber man weiß ja nie, wie verrückt das Leben spielt. Bei der von dem kanadischen Parlament 1982 geplanten gesetzlichen Neufassung müssen aber auch gesetzliche Hemmnisse bedacht werden, um Missbrauch von vornherein ausschließen zu können. Wie sollte ein neues Gesetz lauten, damit es z.B. nicht durch einen Vater/Bruder im Zusammenwirken mit der Tochter/Schwester unterlaufen werden kann, wenn die beiden heiraten wollten? Das ginge ja ganz einfach: Die Tochter ließe sich durch einen Freund des ehewilligen Verwandten adoptieren und würde dann nach bürgerlichem Recht nicht mehr als verwandt mit dem Vater oder Bruder gelten. Soll das zulässig sein? Wie kann man das Bad ohne das Kind ausschütten? Im deutschen Recht war dieser Fall durch § 4 Ehegesetz, jetzt durch § 1307 BGB, bedacht und geregelt: "§ 4 Verwandtschaft und Schwägerschaft / jetzt ohne Schwägerschaftsheiratsverbot § 1307 BGB Verwandtschaft Eine Ehe darf nicht geschlossen werden zwischen Verwandten in gerader Linie, zwischen vollbürtigen und halbbürtigen Geschwistern [sowie zwischen Verschwägerten in gerader Linie]. Das gilt auch, wenn das Verwandtschaftsverhältnis durch Annahme als Kind erloschen ist." Der kanadische Gesetzgeber brauchte bei der Abfassung der "Lex Broddy" also nur die einschlägigen Paragraphen aus dem deutschen Ehegesetz abzuschreiben. So etwas wird auch gemacht: Bei einer anstehenden gesetzlichen Neuregelung kuckt man schon über den Zaun, wie ein juristisches Problem vielleicht in einem anderen Land sinnvoll geregelt worden ist, und welche Erfahrungen mit dieser ins Auge gefassten Regelung dort gesammelt worden sind. Das ist die Aufgabe der rechtsvergleichenden Jurisprudenz. Man kann bei der Erarbeitung eines Gesetzes oft nicht gleich alle Eventualitäten von vornherein mitbedenken, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht. Das geht meistens schief. Die mangelnde Voraussicht wird in den wenigsten Fällen vorwerfbar sein. Immer sind die sich entwickelnden Lebensverhältnisse, ist das pralle Leben einfallsreicher als der um Voraussicht und Nachvollziehbarkeit sich mühende Mensch! „Fast ganz normal Was Brittany denkt, weiß Abigail nicht so genau, und Abbys Gefühle sind anders als Brittys. Trotzdem verstehen sich die achtjährigen Schwestern, die in einem Körper leben, blendend – meistens. Manchmal gibt es Streit. Dann haut eine Hand die andere. ... Abby und Britty sind zwei Menschen und teilen sich einen Körper. Sie haben einen gemeinsamen Rumpf, auf dem ihre beiden Köpfe sitzen – eine aberwitzige Laune der Natur. Die medizinische

184

Literatur kennt weltweit ganze vier Fälle dieser Art von siamesischen Zwillingen. ... Die Zwillinge haben zwei Herzen in ihrem gemeinsamen Körper. Außerdem drei Lungenflügel, drei Nieren und zwei Mägen. Aber nur eine Leber und dann von den Hüften abwärts alle Organe bloß noch in einfacher Ausfertigung. ... Dem rechten Bein gibt Abbys Gehirn, dem linken aber das von Britty die Befehle. Wenn beide [in ihrem Wollen] nicht übereinstimmen, kommt es zur Totalblockade. ... Manchmal streiten sie sich. Dann haut eine Hand die andere. ... Sie fühlen sich verschieden: Abby ist energischer, Britty musischer. ... Britty will Künstlerin werden, ihre Schwester Kindergärtnerin. ... Überleben aber werden sie nur als Einheit. Zwar fühlen sie Durst und Hunger getrennt, zwar spürt die eine nicht, wenn jemand die andere auf deren Körperseite kitzelt, doch über den Blutkreislauf sind sie untrennbar verbunden. ... Doch mit der Pubertät kommt bald die Zeit, in der die Kinder sich abgrenzen, sich zurückziehen wollen. ... Britty und Abby haben gesunde Fortpflanzungsorgane in ihrem gemeinsamen Unterleib. Abby sagt, sie will Kinder haben. Ihre Eltern meinen, daß ihre Zwillinge heiraten sollten. Die Mutter wünscht sich zwei Ehemänner, der Vater einen für beide. ...“ (STERN 42/98) Man kann durch ein Studium ja richtiggehend »verbildet« werden: Als ich den vorstehenden Artikel las, erwischte ich mich dabei, wie der Jurist in mir während des Lesens sofort die sich mit einem solchen Schicksal auftürmenden juristischen Probleme rauszupulen und anzudenken begann: Wenn ein Mann die Zwillinge heiratet: ist das dann Bigamie? Wenn er mit dem einen Unterleib »schläft«: ist das dann bezüglich der mit ihm nicht verheirateten Frau, seiner Schwägerin, nur außerehelicher Geschlechtsverkehr, der in der Hälfte der us-amerikanischen Staaten strafbar ist (zum Glück für Bill Clinton aber nicht in Washington.), oder gar eine Vergewaltigung? Wenn Kinder kommen: wer ist die Mutter? Wenn zwei Ehemänner da sind und mit dem einen gemeinsamen Unterleib ihrer Frauen »wohllüstig« zusammen sind – an den Gedanken müssten sich alle vier vermutlich erst einmal gewöhnen, denn wie ist man da diskret, und bekommt auch immer die jeweilige Frau die ihr von ihrem Mann zugedachten Gefühle, werden auch immer in dem Gehirn der zugehörigen Ehefrau die Endorphine ausgeschüttet? –: von wem sind dann die Kinder, von welchem Vater und welcher Mutter? Aber im Zeitalter der Genanalyse ist dieses das wohl inzwischen medizinisch und dadurch dann auch juristisch am leichtesten zu lösende Problem. Ohne Genanalyse wäre es wohl kaum zu lösen. Von solchen Besonderheiten der Natur einmal abgesehen und zu unseren alltäglichen Normalfällen zurückkehrend gilt die Beobachtung, dass man bei der Konzipierung eines Gesetzes oft nicht gleich alle Eventualitäten von vornherein mitbedenken kann, auch wenn sich der Gesetzgeber und die ihm zuarbeitende Ministerialbürokratie noch so sehr darum bemühen. „Tausend Fälle können eintreten, die der Gesetzgeber nicht vorausgesehen hat. Das Gefühl dafür, dass man nicht alles voraussehen kann, ist eine sehr notwendige Voraussicht“ (Rousseau). Darum muss „... der Gesetzgeber ... über seiner Zeit stehen. Er arbeitet für die Zukunft mehr als für die Gegenwart, mehr für die heranwachsende als für die alternde Generation“, forderte sein Landsmann Balzac. Das gilt deswegen verstärkt, weil die Halbwertzeiten von Gesetzen sich beschleunigt haben, da sie zunehmend mit heißer Nadel genäht werden. (Das konnte man u.a. in Deutschland nach dem Regierungswechsel 1998 sehr anschaulich beobachten. Man konnte gar nicht so schnell Zeitung lesen, um sich auf dem Laufenden zu halten, wie die Gesetze geändert wurden!) Irgendein Problem rutscht den »Gesetzesmachern« dabei oft doch durch die Finger. Da muss dann später nachgebessert werden, damit ein Gesetz von den Betroffenen angenommen wird und im Extremfall nicht als ungerecht oder gar unmenschlich empfunden wird. Darauf hatte schon Jesus hingewiesen, indem er zur Belehrung der selbstgerechten jüdisch-orthodoxen priesterlichen Gesetzesfanatiker und zu deren Ärger demonstrativ gegen das strikte Feiertagsruhe-Gebot verstieß und am Sabbat Kranke heilte, denn für Jesus stand der Mensch im Mittelpunkt des weltlichen Lebens, nicht das von den Priestern verwaltete und interpretierte Gesetz. Leider vermochten seine irdischen Statthalter das nicht so zu sehen: Für die Päpste standen nicht die Menschen mit ihren Bedürfnissen und Nöten im Mittelpunkt, so dass notfalls auch einmal ein Gesetz ohne Prinzipienreiterei zur Seite geschoben worden wäre, um einer menschlichen Notlage auf mitmenschliche Art und Weise gerecht zu werden. Für eine Kirche, die einen jahrzehntelangen Prinzipstreit aus Fragen wie der machen konnte, wie viele Engel auf einer Nadel- oder Kirchturmsspitze Platz hätten, hatten die von ihr erlassenen Gesetze zu gelten; gleichgültig, wie viel Leid und welche Gewissens- und damit Seelenqualen sie über Jahrtausende dadurch hervorrief! Und dieses starre Festhalten an auf falschem biologischen und religiösen Fundament gegründeten und schon längst überholten Kirchenrechtsnormen im Sexualbereich dauert bis in

185

unsere Zeit an. Das weist die Professorin für katholische Theologie Ranke-Heinemann in ihrem verdienstvollen Buch für den Bereich katholische Kirche und Sexualität an vielen Beispielen nach. Ein von der Tochter unseres früheren Bundespräsidenten Heinemann in ihrem Buch gegebenes Beispiel mit Geltung für unsere heutige Zeit gefällig? Bitte sehr: „Dieses von Thomas [von Aquin, Ehrentitel: lumen ecclesiae, das Kirchenlicht, 1274 gestorbener Hochscholastiker, dessen auf antiken Autoren wie frühen Kirchenvätern und -lehrern, z.B. Augustinus, und den biologisch teilweise falschen Ansichten des Aristoteles fußende Sexualethik bis in unsere Zeit maßgeblich geworden und geblieben ist; der Autor] mit Berufung auf Gott und die Natur vorgeschriebene zielgerechte und zielgerichtete Ausscheiden des Samens findet heute eine Auswirkung bei der sog. homologen Insemination. Letztere wurde 1987 von der Vatikanischen Kongregation für Glaubenslehre verboten: »Die homologe künstliche Besamung innerhalb der Ehe kann nicht zugelassen werden.« Es gibt jedoch eine Ausnahme: Bei einer Gewinnung des männlichen Spermas durch den ehelichen Akt mittels Kondom muß dieses Kondom durchlöchert sein, damit die Form eines natürlichen Zeugungsaktes aufrechterhalten bleibt und nicht eine unerlaubte Verhütungsmethode stattfindet. Der Eheverkehr muß also so ablaufen, als ob er zur Zeugung führte. Das Kondom muß so durchlöchert sein, als ob Zeugung auf diese Art möglich wäre (vgl. PublikForum, 29.5.1987, S. 8). Und nur auf diesem Umweg über den wie ein fruchtbarer Akt ablaufenden unfruchtbaren ehelichen Akt darf man dann zur Fruchtbarkeit Nachhilfe leisten. Die angeblich natürliche Form des ehelichen Aktes ist das erste Gebot geworden und auch dann geblieben, wenn sein ursprüngliches von der Kirche vorgeschriebenes Ziel, nämlich die Zeugung, gar nicht erreicht werden kann und Gewinnung des Samens durch Masturbation genausogut oder unkomplizierter wäre. Aber Masturbation fällt immer noch und auch dann noch unter die widernatürlichen, weil zeugungsverhindernden schwersten Sünden, wenn sie eine Zeugung gerade ermöglichen soll. Der genormte Ablauf ist wichtiger geworden als das Ziel, nämlich die Zeugung. Was »natürlich« ist, wird in der Moraltheologie von alten Traditionen bestimmt und diese Tradition von alten ehefernen Männern sorgfältig gehütet.“1 Nun könnte man sich als Nicht-Katholik über ein Kondom, das zum Auffangen des Samens des Ehemannes vor Gebrauch extra durchlöchert wird, schlapp lachen – oder über den katholischen Klerus nur noch resigniert mit den Schultern zucken. Aber dann hätte sich die Wiedergabe des im katholischen Kirchenrecht gründenden Standpunktes des Vatikans bezüglich der homologen künstlichen Besamung innerhalb der Ehe kaum gelohnt. Dieses in die Problematik „des Rechts“ einführende Buch soll ja nicht zu einem Witzbuch ausarten – auch wenn es manchmal bewusst Gelegenheit zum befreienden Lachen bietet, weil man sonst nicht alles ertragen könnte, was einem im Bereich des Rechts manchmal so geboten wird. Und außerdem: „Über jedem guten Buch muss das Gesicht des Lesers von Zeit zu Zeit hell werden“ (Christian Morgenstern). Weil es das Anliegen dieses Buches ist, Sie beim Verstehen dessen zu unterstützen, was »Recht« für eine staatlich oder religiös definierte - Gemeinschaft bedeutet, und Ihnen u.a. die Einsicht vermittelt werden soll, dass das Recht letztlich oft religiös auf dem hinter der jeweiligen Religion stehenden Menschenbild gegründet ist oder – wie bei der rechtlichen Benachteiligung der griechischen Frauen in der Antike dargestellt – mit dem hinter der jeweiligen Religion stehenden Menschenbild auch nur hergesucht begründet wurde und wird, soll nicht schulterzuckend über die Stellungnahme des Vatikans zur homologen künstlichen Besamung innerhalb der Ehe hinweg gegangen werden. Das Interessante ist ja die Frage, wie es zu so einer abstrusen, gleichwohl mit völligem Ernst vertretenen kirchenrechtlichen Regelung kommen kann, ein Präservativ zu durchlöchern, um dann mit dem bewusst zerstörten Verhüterli den Samen des Ehemannes aufzufangen: Wie sieht das der eigenartig anmutenden rechtlichen Regelung zu Grunde liegende religiös begründete geistige Konstrukt aus? Seit Jahrtausenden galt nach der Überzeugung von Kirchenlehrern, dass selbst nicht verhütender Geschlechtsverkehr – von verhütendem ganz zu schweigen! - sogar unter Ehepartnern, weil mit fleischlicher Lust verbunden und darum (oft/meistens?) mit Genuss vollzogen, eine Sünde sei.2 Insbesondere aber sei Geschlechtsverkehr dann äußerst sündhaft, wenn er „widernatürlich“ ausgeübt werde. Das sei nicht nur bei „Sodomie“ (eigentlich: Unzucht mit Tieren; in der katholischen Kirche aber jahrhundertelang verwendete Bezeichnung für Analverkehr und Homosexualität) – die bis 1975 auch durch §§ 175 ff StGB mit 1 2

Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 206 f Papst Gregor I., der Große († 604): „Die Lust kann nie ohne Sünde sein.“ In „Responsum Gregorii“ / Antwortschreiben an den Bischof Augustinus von England. Dieses Zitat habe in der katholischen Kirch eine sehr große Wirkung gehabt, da es „bis in unser Jahrhundert als vom großen Papst Gregor I. stammend unentwegt zitiert“ wurde. Vgl. Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 147

186

Gefängnisstrafe und zeitweiliger Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte unter Strafdrohung stand - der Fall, sondern auch dann, wenn zwar Mann und Frau den Geschlechtsakt ausführten, dabei aber keine Zeugung beabsichtigt sei – was staatlicherseits nicht bis ins 20. Jahrhundert strafbewehrt war -, weil dann ja (ebenfalls!) männlicher Samen vergeudet werde. In dem männlichen Samen wurde – in Anlehnung an die biologischen Vorstellungen des Aristoteles – eine „potentieller Mensch“ und damit etwas Göttliches und darum besonders Schützenswertes gesehen, weil nach dieser Vorstellung der Mann der allein Zeugende und die Frau nur das empfangende Gefäß sei – wie der Ackersmann den Samen in die Ackerfurche streut und daraus neues Leben wächst; eine Anschauung, die sich 1677 nach der Entdeckung der beweglichen Samenfäden im männlichen Ejakulat noch einmal besonders festigte. Auch nach der Entdeckung des weiblichen Eies 1827 wurde die Jahrtausende Geltung besessen habende theologische Sichtweise auf die unterschiedlichen Anteile von Mann und Frau an der Entstehung neuen Lebens nicht den neueren Erkenntnissen der Biologie angepasst. Bis zur Einführung des Kirchlichen Gesetzbuches der katholischen Kirche CIC 1917 galt als grundlegendes Werk des katholischen Kirchenrechts die 1142 entstandene, u.a. auf den Lehren des Augustinus fußende Gesetzessammlung des Mönches Gratian. In dieser Gesetzessammlung wird eine Stufenleiter der Unzucht aufgestellt, an deren Spitze der Coitus interruptus stehe. Er sei nach christlichem Kirchenrecht die Spitze der Unzucht, verwerflicher als Hurerei oder der als schlimmer angesehene Ehebruch, ja sogar schlimmer noch als Geschlechtsverkehr mit der eigenen Mutter, wenn der Verkehr mit der eigenen Mutter „natürlich“, d.h., auf Zeugung hin offen ist.3 Der Geschlechtsakt sei hingegen höchstens dann sittlich, wenn er der von der Kirche vorgegebenen Ordnung in Zweck – ausschließlich Zeugung - und Körperhaltung(!) – z.B. dürfe die Frau nicht auf dem Mann sitzen, sondern habe in bestmöglicher Empfängnisposition mit gespreizten Beinen unter ihm auf dem Rücken zu liegen, damit der Samen des Mannes nicht aus ihrer beim Sitzen „umgedrehten“ Gebärmutter herausfließen könne, um so die beste Empfängnismöglichkeit zu gewährleisten - entspreche. Diese etwas längeren Ausführungen waren notwendig, um zu verdeutlichen, warum nach katholischem Kirchenrecht u.a. Verhütung als eine Todsünde angesehen wird und wie sich diese Ansicht dann auf den Bereich der sogenannten homologen Insemination bis heute auswirkt. Sklavischer Gesetzesgehorsam kann - im günstigsten Fall - eine menschliche Gesetzesanwendung verhindern. „Nur mit allen Fingern SAD New York – Seit drei Jahren versucht der 78 Jahre alte Exilkubaner Armando Valencia, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Siebenmal hat der alte Mann, der seit 27 Jahren in Miami lebt, schon ein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt, achtmal musste er seine Fingerabdrücke abliefern. Zweimal wurde er sogar schon eingeladen, den Eid als amerikanischer Staatsbürger abzulegen, doch beide Male wurde er wieder zurückgeschickt. Valencias Problem ist, dass er keinen kompletten Satz von Fingerabdrücken vorlegen kann – er verlor vor 20 Jahren bei einem Arbeitsunfall zwei Finger.“ (HH A 05.12.98) Im Extremfall kann sklavischer Gesetzesgehorsam zu abgrundtiefer Inhumanität führen, wie wir Deutschen es an den Rassegesetzen der Nazis erlebt haben.

2.7.2 Kampf um gesetzliche Neuregelungen auf Grund geänderter gesellschaftlicher Verhältnisse am Beispiel der Feiertagsruhe Auch in der Bundesrepublik besteht ein grundsätzliches, in verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen angeordnetes, letztlich auf die in Art. 4 II GG geregelte ungestörte Religionsausübung zurückführbares Feiertagsgebot. Darum ist vor Jahrzehnten ein Gartenbesitzer sogar zu einem Bußgeld verurteilt worden, weil ihn ein missgünstiger Nachbar angezeigt hatte, als der Gartenbesitzer an einem Sonntag frisch angelieferte Bäume eingepflanzt hatte, um sie nicht vertrocknen zu lassen. Dieser Hinweis half dem Angezeigten vor Gericht aber nicht, obwohl das Verbot der Feiertagsarbeit u.a. nicht bei unaufschiebbaren Arbeiten in der Landwirtschaft gilt! Die Richter hätten so sehr leicht von dieser gesetzlich vorgesehenen Ausnahme vom Verbot der Feiertagsarbeit ausgehend eine Analogie4 zu Gunsten des Angezeigten bilden können! (Solche Analogien sind 3

4

Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 211 f Eine in einem anderen Zusammenhang geschaffene Rechtsnorm mit rechtsähnlichem Tatbestand wie in dem zu regelnden Fall wird wegen der so beurteilten gleichen oder ähnlichen Interessenslage auf einen nicht geregelten Bereich übertragen, um durch die in dieser Rechtsnorm angeordnete Rechtsfolge auch in dem bisher gesetzlich nicht geregelten Fall zu einem

187

grundsätzlich erlaubt; im Bereich des Strafrechts in einem Rechtsstaat aber nur zu Gunsten eines Angeklagten, nie zu seinen Ungunsten!) Werden die gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen zur strikten Wahrung der Feiertagsruhe in unserer säkularisierten Welt von der Mehrheit der Bevölkerung noch angenommen? Werden sie den Anforderungen an eine moderne Industriegesellschaft noch gerecht? Wohl eher nicht. Werden diese Bestimmungen von den Verwaltungsjuristen und denen der Verwaltungsgerichtsbarkeit noch ernstgenommen oder - wie der § 218 StGB vor seiner Neuregelung 1975 - von den Gerichten mehr oder minder übergangen? Bisher: Ja, sie werden noch ernstgenommen. Gelten sie auch für Maschinen? Dazu einige Zeitungsmeldungen: "Sonntags nie in den Waschsalon ddp Kassel - Auch wenn keine Menschen, sondern Maschinen in Münzwaschsalons arbeiten, müssen sie die Sonn- und Feiertagsruhe einhalten - zumindest in Hessen. Der Verwaltungsgerichtshof in Kassel untersagte einem Unternehmer, sein Geschäft außer an Werktagen zu öffnen. Mit dem Urteil bestätigte das Gericht ein von der Stadt Wiesbaden verhängtes Öffnungsverbot. Der Waschsalon sei auf Gewinnerzielung gerichtet, der Betrieb damit Arbeit. Die Feiertagsgesetze der meisten anderen Bundesländer seien zwar ähnlich, die Eilentscheidung aber nicht unbedingt übertragbar (Az.: 8 TH 17/92)." (HH A 15.05.92) Ähnlich war die Rechtslage vom Hamburgischen OVG 1991 beurteilt worden, ohne dass die Politiker sich damit zufrieden gaben: Kampf um gesetzlic he Neuregel ungen auf Grund geändert er gesellsch aftlicher Verhältni sse am Beispiel der Feiertags ruhe

"Bezirk Wandsbek fordert Betriebserlaubnis für Autowaschanlagen Streit um sauberen Sonntag Die Bezirksversammlung Wandsbek legt sich mit der Hamburger Justiz an. Mit großer Mehrheit sprach sich das Kommunalparlament jetzt für den Betrieb von Autowaschanlagen an Sonntagen aus. Genau das aber hatte das Hamburgische Oberverwaltungsgericht im vorigen Jahr verboten. Trotzdem forderte die Bezirksversammlung Wandsbek `Bürgermeisterin' Ingrid Soehring (CDU) auf, sich beim Senat für die Öffnung der Autowaschanlagen einzusetzen. `Es ist die einhellige Auffassung aller Fraktionen, daß das hamburgische Feiertagsrecht liberalisiert werden muß, um den Anforderungen der Bürger in einer immer stärker auf Freizeit orientierten Gesellschaft gerecht zu werden', sagte der CDU-Abgeordnete Detlef Gottschalck. Die noch weitergehende Forderung der Christdemokraten, den Betrieb von Fitneßstudios, Mitfahrzentralen und privaten Flohmärkten am Sonntag zuzulassen, wurde jedoch von der SPD/FDP-Mehrheit abgelehnt. Dem Pro-Waschanlagen-Beschluß von Wandsbek lag ein Antrag der FDP zugrunde. Darin wurde auf die Umweltbelastung hingewiesen, die entsteht, wenn Autofahrer ihre Wagen wochenends am Straßenrand oder auf dem Grundstück waschen. Der liberale Fraktionsvorsitzende Dr. Dr. Hans Joachim Widmann meint: `Die Sonn- und Feiertagsruheverordnung und das aus ihr abgeleitete Waschverbot stammen aus einer Zeit, in der die Vorstellung herrschte, daß der Bürger sonntags in der Kirche und zu Hause sein sollte. Diese Vorstellung widerspricht unserer heutigen flexiblen Freizeitgesellschaft.' Dagegen stellte das Oberverwaltungsgericht in einer 1991 rechtskräftig gewordenen Entscheidung (Aktenzeichen OVG Bf VI 54/89) fest: `Der Betrieb einer automatischen Autowaschanlage sowie der Einsatz von Münzstaubsaugern an Sonn- und Feiertagen stehen im Widerspruch zu der besonderen Natur dieser Tage und sind geeignet, die äußere Ruhe dieser Tage zu stören.' Die Autopflege dient nach Ansicht der Richter `vornehmlich ästhetischen Zwecken'. ... Die Hamburger Feiertagsschutzverordnung untersagt an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen `alle öffentlich bemerkbaren Arbeiten'. ... `Der Sonntag darf nicht zum Arbeitstag werden', sagt Dr. Mattner. Der Spezialist hat ein schon in als angemessen erachteten Ergebnis zu gelangen. Über die Berechtigung für die rechtsanaloge Anwendung lässt sich dann trefflich streiten. Aber so gibt es neue Doktoren der Rechte. Im Strafrecht ist eine Analogiebildung zu Ungunsten eines Täters strikt verboten. Das gilt für einen Rechtsstaat, der NaziDeutschland nicht war und wo zur Vermeidung sonst fälliger Freisprüche oder um zur für das abzuurteilende Delikt vom Gesetz nicht vorgesehenen Todesstrafe gelangen zu können, Analogien zu Ungunsten der in die Rechtsmaschinerie Geratenen gebildet worden waren.

188

zweiter Auflage erschienenes 250-Seiten-Werk über das `Sonn- und Feiertagsrecht' geschrieben." (HH A 11.05.92) "Zwei Vorstöße aus der Koalition Sonntags arbeiten ap/rtr München - Die Deutschen sollen nach Ansicht von Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) auch sonntags arbeiten. `Wir können es uns in der hoch automatisierten deutschen Wirtschaft nicht länger leisten, daß teure Maschinen nur fünf Tage in der Woche laufen', sagte Möllemann der `Bunten'. ..." "Sonntags bräunen? dpa Berlin - Bräunungsstudios dürfen an Sonn- und Feiertagen geöffnet haben. Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts. Die Stadt Karlsruhe unterlag Baden-Württemberg (Az 1 C 38.90)." "Feiertagsrecht soll renoviert werden Suche nach dem neuen Sonntag Wie heilig ist der Sonntag? Die Hamburger Feiertagsverordnung verbietet an Sonn- und Feiertagen grundsätzlich `öffentlich bemerkbare Arbeiten'. Welche Tätigkeiten sind darunter zu verstehen? ... `Wir brauchen ein Gesetz, das der Verfassung ebenso Rechnung trägt wie den Bedürfnissen einer modernen Freizeitgesellschaft', ... Das Grundgesetz gebietet - ebenso wie früher schon die Weimarer Reichsverfassung: ‘Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.' Andererseits haben sich die Freizeitgewohnheiten in den vergangenen Jahrzehnten stark geändert. ... Etwa 90 Prozent der Fitneßstudios sind auch am Sonntag in Betrieb, sie sind dann sogar am stärksten ausgelastet. Bei den Sonnenstudios hat nur gut die Hälfte auch am Sonntag geöffnet. Autowaschbetriebe bleiben an diesem Tag geschlossen. Tankstellen dürfen ihre nebenbei betriebenen Autowaschanlagen nicht mehr sonntags in Gang setzen. Das Oberverwaltungsgericht hat dies im vorigen Jahr verboten. Die Studie stellte auch fest, daß ein Teil der mit Sonntagsarbeit Beschäftigten gern einen festen freien Tag in der Woche hätte. ..." (HH A 16.11.92) "Sonntagsarbeit ap Bonn - Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) lehnt es ab, künftig am Sonntag mehr Arbeit zuzulassen. `Die Verbesserung des Wirtschaftsstandortes Deutschland erfordert es nicht, daß der Sonntag zum Arbeitstag gemacht wird', meinte der neue CDA-Vorsitzende Werner Schreiber." (HH A 12.06.93) "Bald auch sonntags arbeiten rtr Bonn - Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) will das Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen lockern und das Nachtarbeitsverbot für Frauen aufheben. Es müsse möglich sein, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, wenn dies zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen notwendig sei, sagte Rexrodt." (HH A 15.06.93) "Sorge um freien Sonntag dpa Baden-Baden - Die katholische Kirche lehnt eine Ausweitung der Sonntagsarbeit weiterhin ab. Zwar sage die Kirche nicht generell nein zur Sonntagsarbeit, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann. Allerdings dürfe die gegenwärtige Wirtschaftskrise nicht dazu benutzt werden, jetzt etwas zu erreichen, was man schon immer habe durchsetzen wollen. Sollten ausschließlich wirtschaftliche Gründe den Ausschlag geben, dann sei ein `Dammbruch' gegen einen arbeitsfreien Sonntag zu befürchten. Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums arbeiten rund drei Millionen Menschen regelmäßig an Sonn- und Feiertagen. Das sind knapp neun Prozent aller Beschäftigten. Der Mitte Juli vom Kabinett verabschiedete Gesetzentwurf für ein neues Arbeitszeitgesetz sieht vor, daß Unternehmen aus Konkurrenzgründen Sonn- und Feiertagsarbeit anordnen können." (HH A 10.08.93) Als das Buch konzipiert wurde, war die Problematik schon zeitweilig aktuell. Das erste Ladenschlussgesetz war in der Bundesrepublik 1956 auf der Grundlage der kaiserlichen Gewerbeordnung von 1891 eingeführt worden.

189 1989 wurde der donnerstägliche „Dienstleistungsabend“ zugelassen. 1996 gab es eine weitere Novellierung des Ladenschlussgesetzes, der zufolge die Öffnungszeiten von Montag bis Freitag auf 20 Uhr verlängert wurden. Im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung kochte die Diskussion um eine Freigabe der Ladenöffnungszeiten 1999 wieder hoch. Im Jahre 2000 wurde von den Ländern über den Bundesrat eine weiter liberalisierte »Neunovellierung« des Ladenschlussgesetzes angestrebt.5 Die Befürworter längerer, bis zumindest in Feriengebieten - möglicherweise auch in den Sonntag ausgedehnter Wochenöffnungszeiten und Gegner der »Service-Wüste Deutschland« verweisen auf die Beispiele in anderen, teilweise kirchlich sehr geprägten katholischen Ländern wie z.B. Mexiko, in denen man in großen Städten in vielen Supermärkten jeden Tag 24 Stunden lang an allen sieben Tagen in der Woche einkaufen kann. Sie sehen ein „erhebliches öffentliches Interesse“ an längeren Öffnungszeiten, die den Sonntag mit umfassen sollten. Grundsätzliche sonn- und feiertägliche Öffnungszeiten kannten im Europa des Jahres 2004 Großbritannien und das noch sehr katholische Irland ganztägig von 00-24 Uhr, Schweden von 05-24 Uhr, Portugal von 06-24 Uhr und Finnland von 09-20 Uhr; in Belgien und Frankreich gab es ein Beschäftigungsverbot für Angestellte, in allen anderen Ländern der EU galt hinsichtlich der Ladenöffnungszeiten ein Sonn- und Feiertagsverbot. Die Gegner einer Sonntagsöffnung - und die Mehrzahl der Gerichte – setzten sprachlich einen drauf und erkannten ein „überragendes öffentliches Interesse“ daran, die im dritten der Zehn Gebote angeordnete Feiertagsruhe weiterhin zu heiligen. Sie diffamierten das von den Befürwortern behauptete „erhebliche öffentliche Interesse“ als Tanz ums Goldene Kalb. Aber worin besteht ihr „überragendes öffentliches Interesse“? Solche juristischen Formeln sind beliebig ausfüllbare Leerformeln: Keiner kann eindeutig zwingend nachweisen, was ein „überragendes/erhebliches“ öffentliches Interesse im jeweils konkreten Einzelfall genau bedeutet und worin sich beide graduell unterscheiden. Da kommen dann die oft nicht mitgeteilten, sondern nur unterstellten oder pauschal behaupteten Wertungen des Argumentierenden zum Tragen. Rund um die Uhr shoppen in 10 Ländern Werktags soll der gesetzliche Ladenschluss von Rügen bis Passau gestrichen werden HAMBURG dpa Die gesetzlichen Ladenschlusszeiten sollen nach dem Willen von zehn Bundesländern bald Geschichte sein. Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wollen die Ladenöffnungszeiten an allen Werktagen freigeben, berichtet die Bild am Sonntag. Die Bundesländer hatten sich im Bundesrat auf einen Gesetzentwurf der baden-württembergischen Landesregierung geeinigt, wonach künftig die Länder für den Ladenschluss zuständig sein sollen und nicht mehr der Bund. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wollen noch weitergehen und Geschäften in Urlaubsorten auch den Sonntagsverkauf erlauben. Dagegen will das Saarland die Ladenschlusszeiten nicht verändern. Noch nicht festgelegt hätten sich Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz und Schleswig-Holstein. (taz 20.09.04) Die Gewerkschaft Ver.di lehnte die Pläne für das Einkaufen rund um die Uhr an allen Werktagen selbstverständlich und reflexartig strikt und kategorisch ab, weil eine Freigabe der Ladenöffnungszeiten zu Lasten der Beschäftigten im Einzelhandel gehe. Auch die kleineren und mittleren Betriebe würden darunter leiden. Ein Aus für die bisherigen gesetzlichen Ladenschlusszeiten wäre "ökonomischer Schwachsinn". Die absehbare Folge wäre eine weitere Konzentration im Handel. Das Ladenschlussgesetz sei ein "Arbeitnehmerschutzgesetz". Die Auswirkungen einer Freigabe der Öffnungszeiten für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten kümmerten Politiker, die ein Einkaufen rund um die Uhr forderten, offensichtlich einen "feuchten Kehricht". Befürworter der Freigabe der Ladenöffnungszeiten argumentieren hingegen, eine hohe Flexibilität bei den Öffnungszeiten von Montag bis Samstag sei sinnvoll, weil dadurch in Handel und Dienstleistungsgewerbe neue, dauerhafte Arbeitsplätze entstehen könnten – obwohl das Kaufvolumen bei der angespannten wirtschaftlichen

5

Nach einer im Juni 2004 ergangenen Entscheidung des BVerfGs, die den Ländern die grundsätzliche Kompetenz zur Regelung der Ladenöffnungszeiten zuwies, einigten sich im September 2004 die Länder auf eine Bundesratsinitiative Baden-Württembergs hin auf ein flexibles Ladenöffnungsrecht. Angestrebt wurde im Zeitalter der Rund-um-die-UhrEinkaufsmöglichkeit im Internet, dass grundsätzlich für alle Geschäfte die Öffnungszeiten montags bis freitags von 06-22 Uhr und samstags von 06-20 Uhr möglich sein sollen. Zusätzlich solle es Verkaufsmöglichkeiten an grundsätzlich vier Sonntagen außerhalb des Weihnachtsgeschäftes geben. Sonntagssonderregelungen für Orte mit touristischem Schwerpunkt sind möglich.

190

Gesamtsituation vermutlich nicht steigen wird, wohl aber die Personalkosten, die der Einzelhandel bei der immer wieder publizierten geringen Rendite gar nicht wird aufbringen können. Von der Hoffnung auf weitere Arbeitsplätze hat sich auch der Gesetzgeber leiten lassen; ob sich die Hoffnungen bewahrheiten, bleibt abzuwarten. Gesetzgebung ist halt ab und zu ein Schuss ins Blaue.

Im Fall sonntäglicher Geschäftsöffnung sehen bei uns kirchlich sich gebunden Fühlende den Untergang des christlichen Abendlandes heraufdämmern - obwohl in dem wohl katholischsten Land Europas, in Polen, die Geschäfte sonntags geöffnet haben, ohne dass dieses den äußerst katholischen Grundcharakter des Landes verändert hätte. Diese sich kirchlich gebunden Fühlenden gehören mit zur politischen Meinungsträgerschaft unseres Landes; im Gegensatz zu denjenigen, die den leeren Kirchen fernbleiben. Doch, um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Der noch sehr kirchlich geprägte katholische Charakter z.B. Mexikos wird von der katholischen Kirche des Landes durch die dort generell erlaubten fakultativen sonntäglichen Geschäftsöffnungen nicht als gefährdet angesehen. Viele großstädtische Mexikaner benutzen ihren Kühlschrank - so sie zu der Schicht derer gehören, die sich ein solches Haushaltsgerät kaufen kann - nach eigener, aber zugegeben nicht unbedingt repräsentativer Beobachtung, verstärkt zum Kühlen von Getränken, aber nicht zu einer so ausgeprägten Vorratshaltung wie sie in Deutschland gebräuchlicher ist. Wozu auch, wenn man bei Bedarf um die Ecke in den sieben Tage die Woche Tag und Nacht geöffneten Supermarkt gehen kann! Das ist wohl auch auf den den Lebensstil der Mexikaner mitprägenden Einfluss des übergroßen Nachbarn im Norden zurückzuführen, der einen mexikanischen Staatspräsidenten in den Stoßseufzer ausbrechen ließ: „Armes Mexiko: so nah an den Vereinigten Staaten von Amerika und so fern von Gott!“ Beim Namen genannt stehen in dem Streit um eine sonntägliche Geschäftsöffnung das allgemeine Feiertagsinteresse der Arbeitnehmer und das christliche Feiertagsinteresse gegen das Einkaufsverlangen derjenigen, die in der Woche kaum zum Einkaufen kommen oder nicht kommen wollen und das diesen Umstand kalkulierende Profitinteresse der Ladeninhaber, sowie das geänderte Freizeitverhalten. Eine weitere Liberalisierung erfolgte 2003, als den Geschäften erlaubt wurde, auch sonnabends bis 20 Uhr zu öffnen. Damit ist fast der Stand des Jahres 1900 erreicht: Damals wurden für Werktage Öffnungszeiten zwischen 5 und 21 Uhr festgelegt. Dann preschte Berlin vor, wo man seit einiger Zeit sein Auto sonntags in Waschanlagen reinigen lassen darf. 2003 erklärte die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein, sie wolle den Schutz von Sonn- und Feiertagen in ihrem Land deutlich lockern. Videotheken sollen sonntags schon vor 13.00 Uhr, Waschsalons und Auto-Waschanlagen erstmals überhaupt öffnen dürfen. „Auto waschen bald auch am Sonntag Kiel - Autowaschanlagen können in Schleswig-Holstein künftig sonntags öffnen, und private Flohmärkte dürfen auch am Totensonntag stattfinden. Der Landtag will das neue Gesetz noch in dieser Woche beschließen. Einig sind sich alle Fraktionen, dass Autowaschanlagen, Waschsalons und Videotheken künftig ganztägig öffnen dürfen. Auch Saunen sowie Fitness- und Bräunungsstudios, die bisher eine Einzelverordnung benötigten, dürfen jetzt ganztägig öffnen. Die "stillen" Feiertage sind aber auch künftig besonders geschützt: Am Karfreitag, Volkstrauertag und Totensonntag sind Tanzveranstaltungen und ausgelassene Sportfeste tabu. Kritik kommt von der CDU-Opposition. Ihr Fraktionsvize Jost de Jager befürchtet eine "Umkehr der Beweislast". So müsse künftig die Kirchengemeinde den Beweis führen, dass etwa ein Biker-Treff oder ein Straßenfest in der Nachbarschaft den Gottesdienst stört. Die SPD will dieser Argumentation nicht folgen. Eine Durchführungsbestimmung werde dafür sorgen, so ihr Rechtsexperte Peter Eichstädt, dass die Ordnungsämter auch von sich aus prüfen müssen. Klare Unterschiede gibt es in der Frage der Zuständigkeiten. Die SPD will die Ordnungsämter entscheiden lassen. Sie könnten die Situation vor Ort besser einschätzen, so Eichstädt. Die CDU setzt auf landesweite Regelungen. Uneinheitliche Entscheidungen, so befürchtet de Jager, höhlten auf Dauer den Sonntagsschutz aus. Er steht damit weitgehend allein da. Grüne, FDP und SSW wollen den SPD-Vorschlag unterstützen. Epd“ (HH A 16. 06.04)

191

Selbstverständlich kritisierte die Kirche in Schleswig-Holstein den Gesetzentwurf zur Änderung des Sonn- und Feiertagsrechts von 1953 prompt: Der Schutz der Sonn- und Feiertage, insbesondere der drei stillen Feiertage Karfreitag, Volkstrauertag und Totensonntag, sei nicht ausreichend, Sportveranstaltungen an diesen stillen Feiertagen undenkbar. Eine Liberalisierung der Öffnungszeiten analog der in Schleswig-Holstein auf den Weg gebrachten Änderungen wird seit 2003 immer wieder einmal auch in Hamburg angestrebt, wo eine bürgerliche Koalition die FeiertagsSchutzverordnung wenigstens für Münz-Autowaschanlagen kippen will. 2004 wollte die CDU-Bürgerschaftsfraktion das „Sonntagswaschverbot“ (allerdings nur) für automatische Waschanlagen oder Wasch-Stationen, die kein Personal benötigen und nicht in Wohngebieten liegen, vom von ihr dominierten Landesparlament aufheben lassen. Um den absehbaren Konflikt mit den Kirchen von vornherein zu entschärfen, soll die Wascherlaubnis für die Automaten aber erst ab 13.00 Uhr gelten: Früher zogen Damen wie meine Mutter einen frischen Schlüpfer an, wenn sie zum Sonntagsgottesdienst gehen wollten; nach der von der Landes-CDU intendierten gesetzlichen Neuregelung müssen die Kirchgänger aber in einem dreckigen Auto vor der Kirche vorfahren und dürfen es erst hinterher waschen! Und das auch nicht in jeder automatischen Autowaschanlage: Autowaschen am Sonntag? Im Prinzip ja, aber ... Öffnen dürfen nur automatische Autowaschanlagen. Personaleinsatz ist verboten, sogar zum Kassieren. Sl – HARBURG. Erst im Februar hatte der Hamburger Senat das Kippen des Autowaschverbots an Sonn- und Feiertagen verkündet. Allerdings mit Einschränkung. So dürfen nur automatische Waschanlagen in Industriegebieten diese Dienstleistung anbieten, um Anwohner nicht zu stören. Freudestrahlend ließen die Waschanlagenbetreiber Plakate mit neuen Öffnungszeiten drucken, stellten neue Mitarbeiter ein und freuten sich auf zusätzliche Geschäfte. Um so mehr staunten American Carwash-Chefin Karin Veyhl und ihre Kollegen von anderen Waschanlagen in Harburg, als in den letzten Wochen ein Schreiben des Bezirksamtes kam. Darin heißt es: „Sie betreiben die Autowaschanlage auch an Sonntagen und setzen dafür Personal ein. Dies ist nicht zulässig. An Sonn- und Feiertagen dürfen Autowaschanlagen nach der geltenden Feiertagsschutzverordnung nur automatisch, d.h. ohne Personaleinsatz betrieben werden.“ Unter Androhung von Bußgeld wurden Veyhls aufgefordert, in Zukunft die Waschstraße an Sonn- und Feiertagen geschlossen zu halten. Zwei Tage später erschienen zwei Mitarbeiter des Verbraucherschutzamtes und überbrachten die Botschaft noch mal mündlich. „Aber wir betreiben doch eine automatische Waschanlage“, argumentierte Karin Veyhl. „Nein“, konterten die Herren, „Sie haben ja Personal zum Kasieren.“ „Natürlich“, staunte Karin Veyhl, „wir arbeiten doch nicht umsonst. Wie sollen wir denn an unser Geld kommen? Die Tankstellen haben doch auch Personal zum Kassieren.“ Das sei was völlig anderes, so die Bezirksamt-Mitarbeiter. Die Tankstellen hätten ohnehin Personal, und die würden für die Autowaschanlage quasi nur nebenbei kassieren. ... Karin Veyhl und ihre Kollegen erwägen jetzt eine Sammelklage gegen diese Verordnung.“ (Harburger Wochenblatt 11.05.05) Die Farce war damit noch nicht zu Ende, musste aber irgendwie ohne Gesichtsverlust zu Ende gebracht werden: „Streit um Autowaschanlagen Es lief so gut, dann kam das Aus: Vier automatische Autowaschanlagen in Hamburg mußten ihren Sonntagsbetrieb wieder einstellen. Der Grund: Sie haben für diesen Service zusätzliche Mitarbeiter eingestellt. Ein Verstoß gegen die Feiertagschutz-Verordnung, wie einem Lebensmittel- und Gewerbekontrolleur des Bezirks Wandsbek auffiel. Um es vorwegzunehmen: Das gute Ende ist in Sicht. "Wir werden sehen, daß dieser Fall arbeitnehmerfreundlich geregelt wird", heißt es aus der zuständigen Innenbehörde, nachdem der Fall einige Wellen geschlagen hatte. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit solle niemand wegen einer Verordnung seinen Job verlieren. Behördensprecher Marco Haase rechnet mit einer Änderung der Verordnung noch im Spätsommer. Für Bahn- und Busfahrer, Tankwarte, Ärzte, Mitarbeiter von Notdiensten und zahlreiche andere Berufe gilt sie schon längst nicht mehr. "Die Waschanlagenbetreiber können davon ausgehen, daß dieser Fall gerecht geregelt wird", versichert Haase. Alle sollen die gleiche Chance haben. Dennoch sind "automatisch" und "automatisch" nicht automatisch das Gleiche: Waschanlagen, für die der diensthabende Tankwart nebenan die Tickets verkauft, sowie Münzwaschanlagen gelten als absolut automatisch. Waschstraßen wie die von Mr. Wash oder Clean Car, bei denen Mitarbeiter auf der Anlage stehen,

192

sind nicht ganz so automatisch. Seit Februar können die Hamburger ihre Autos sonntags zwischen 13 und 18 Uhr waschen - in automatischen Anlagen, die in Gewerbegebieten stehen. "Von Mitarbeitern steht da gar nichts. Deshalb haben wir ja aufgemacht", erklärt ein Mitarbeiter von Mr. Wash. Und Mr.-Wash-Chef Richard Enning in Düsseldorf wundert sich. In Kiel und Berlin hat er keinerlei Probleme. Und die Anlagen dort laufen sonntags sogar ab 9 Uhr. Eli“ (HH A 26.05.05)

Insbesondere Händler in Tourismuszentren wollten das die Öffnungszeiten reglementierende, ihrer Meinung nach sogar strangulierende Ladenschlussgesetz und die Feiertagsverordnung nicht mehr so verbraucherfeindlich akzeptieren, und es wurde geklagt, letztlich bis rauf zum BVerfG: Der Kaufhof am Berliner Alexanderplatz hatte im Sommer 1999 das Verfahren gezielt in Gang gebracht, als er sein Kaufhaus sowohl am Samstag nach 16 Uhr als auch am Sonntag öffnete. Ein Einzelhändler klagte auf Unterlassung und hatte damit den erwarteten Erfolg. Denn das bundesdeutsche Ladenschlussgesetz lässt Sonntagsöffnungen nur in Ausnahmefällen zu. Als das Warenhaus rechtskräftig zur Unterlassung verurteilt worden war, hatte es das oberste deutsche Gericht »angerufen«; natürlich nicht per Telefon, sondern per Klagschrift, was die Juristen auch als ein Anrufen des Gerichts bezeichnen. Die Metro-Tochter Kaufhof AG wollte das Ladenschlussgesetz kippen, weil es, so wurde argumentiert, den Konzern in seiner Berufsausübungsfreiheit unzulässig beschränke. Außerdem sei der Anspruch auf Gleichbehandlung verletzt, weil Tankstellen und Bahnhofshändler rund um die Uhr ihre Waren anbieten können: Apotheken dürfen Arzneien, Kioske Zeitungen und Bäcker Brötchen verkaufen, und an Tankstellen, Bahnhöfen und Flughäfen kann sich der Kunde mit Artikeln des "Reisebedarfs" eindecken - wozu fast alles gehört, so dass mancher Bahnhof zum Shopping-Center und nicht wenige Tankstellen zu regelrechten Supermärkten geworden sind. Weitere Ausnahmen gelten für beliebte Tourismusziele, und Berlin-Mitte ist nun wirklich ein Tourismusziel ersten Ranges! Das Ladenschlussgesetz und das Verbot der Sonntagsöffnung seien "verhängnisvolle Symbole der Reformunfähigkeit" Deutschlands, so der Prozessvertreter der Kaufhof AG in der mündlichen Verhandlung. Bereits jetzt arbeiteten 12 Prozent aller Beschäftigten am Sonntag, und die Verbraucher wollten den "ErlebnisEinkauf". Das Ladenschlussgesetz sei eine nicht mehr zeitgemäße staatliche Gängelung. Der Schutz der 2,8 Millionen Beschäftigten im deutschen Einzelhandel sei im Arbeitszeitgesetz und in den Tarifverträgen ausreichend geregelt, so dass es des Ladenschlussgesetzes nicht bedürfe. Der Einzelhandel sei gegen über den durch Ausnahmeregelungen begünstigten Betrieben benachteiligt. Würde »Karlsruhe« das Ladenschlussgesetz für verfassungswidrig erklären? Der Sonntag steht als Tag der "Arbeitsruhe" zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz, aber er ist über Art. 140 GG, der einige die Kirchen betreffende Artikel der Weimarer Verfassung von 1919 für weiterhin gültig erklärt, »verdeckt« ins Grundgesetz hineingenommen worden, denn in dem u.a. übernommenen Art. 139 WV heißt es: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, das eine Verfassungsvorschrift umsetzt, wäre schon sehr überraschend. Die beiden großen Kirchen in Deutschland, die den arbeitsfreien Sonntag in der mündlichen Verhandlung engagiert verteidigten und die bestehenden Ausnahmeregelungen als viel zu weitgehend kritisierten, durften nicht nur auf göttlichen Beistand hoffen, sondern auch auf den des höchsten deutschen Gerichts. Einstimmig entschied das Gericht, dass das Verbot der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen verfassungsgemäß ist. Der Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe sei als Regel zu sichern. In der Frage der Beschränkung der Ladenöffnungszeiten auf 20.00 Uhr während der Werktage war das Richtergremium dagegen gespalten. Vier Richter des Ersten Senats, darunter Präsident Hans-Jürgen Papier, wollten den Ladenschluss zumindest an Werktagen freigeben. Das Gesetz sehe inzwischen so viele Ausnahmen vor, dass es nicht mehr konsequent sei. Darum sei diese Beschränkung nicht mehr gerechtfertigt. Da für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit aber eine Mehrheit der acht Richterstimmen notwendig ist, bei Stimmengleichheit eine Verfassungsklage also abgelehnt wird, blieb die Beschwerde von Kaufhof auch in dieser Hinsicht erfolglos: Der Eingriff in die Grundrechte der Ladeninhaber sei durch das Ziel gerechtfertigt, ungünstige Arbeitszeiten der Beschäftigten zu vermeiden. Der Schutz von Arbeitnehmerinteressen vor Nachtarbeit wurde als vorrangig gegenüber den Firmeninteressen gesehen und gewertet. Die Ausnahmen für Tankstellen, Bahnhöfe, Bäcker, Blumen- und andere Händler dürften nicht überschätzt werden, sie beträfen insgesamt weniger als fünf Prozent der 2,8 Mill. Beschäftigten im Einzelhandel. Die »Richterkönige« entschieden außerdem, dass der Bund auch weiterhin für den Ladenschluss zuständig ist. Seit 1994 gilt im Grundgesetz zwar eine länderfreundliche Kompetenzregelung, diese kam hier aber nicht zur

193

Anwendung, weil sie nur für neue Gesetze gilt. Allerdings könne der Bund seine diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz an die Länder abgeben, die dann andere Öffnungszeiten in Landesladenschlussgesetzen regeln könnten. Dabei habe allerdings ein „Kernbereich an Sonn- und Feiertagsruhe unantastbar“ zu bleiben, gaben die Bundesverfassungsrichter den Landesgesetzgebern mit auf den angedeuteten Weg.

2.7.3 Juristisches Konfliktfeld Organ»spende« Juristisches Konfliktfeld Ogan»spende«

Ein weiteres Beispiel für ein größere Bevölkerungsteile betreffendes juristisches Konfliktfeld neben der schon angesprochenen Neuregelung des § 218 StGB oder der Feiertagsruhe ist der Problemkreis der Organ»spende«. Er fällt, wie alle anderen Bereiche auch, unter der Fragestellung: "Muss eingeschritten werden? Was wollen wir? Was wollen wir äußerstenfalls zulassen?", als Problem zu treffender Wertentscheidungen in den Bereich »Recht« und nach dieser vorgelagerten Wertentscheidung für die nähere rechtliche Ausgestaltung in den Bereich »Gesetz«. Um zu wissen, was bei neueren Entwicklungen geregelt werden soll, muss der Gesetzgeber deshalb ein wachsames Auge auf juristische Grauzonen haben. Üblicherweise wird die Gesetzgebungsmaschinerie zur Regelung neu eröffneter technischer Möglichkeiten erst dann angeworfen, wenn bei an sich segensreichen Neuerungen Missbräuche oder eklatante Fehlentwicklungen überdeutlich geworden sind. Der Gesetzgeber hechelt der neuesten technischen Entwicklung zwangsläufig immer hinterher. So auch im Bereich der Organ»spende«. Gegen eine freiwillige lebensrettende Organspende kann niemand ernsthaft etwas Grundsätzliches vorbringen und tut es auch nicht. Organspenden werden – rein theoretisch – bejaht: man könnte ja selber auf ein Spenderorgan angewiesen sein. Die erforderliche Spendebereitschaft hingegen ist nicht in ausreichendem Umfang gegeben! Relativ unproblematisch sind freiwillige lebensrettende Organspenden dann, wenn sie gerade Gestorbenen entnommen werden. Nach sehr vielen Herz-, Nieren- und Lebertransplantationen stehen die Kirchen als überparteiliche moralische Instanzen dieser medizinischen Möglichkeit nicht (mehr) ablehnend gegenüber. Keine Probleme gibt es, wenn der Verstorbene durch einen Organspenderausweis deutlich gemacht hat, dass er im Falle seines (gesunden) Ablebens z.B. durch einen Verkehrsunfall seine intakten und benötigten Organe denjenigen zur Verfügung stellen möchte, die derer bedürfen und die gleiche Blutgruppe und die beste Organverträglichkeit aufweisen, um die trotz allem dann das weitere Leben erforderliche Immunsuppression so niedrig wie möglich zu halten: Trotz größtmöglicher Verträglichkeit wird das implantierte Organ von dem aufnehmenden Körper immer als fremd erkannt. Der aufnehmende Körper versucht, sich mit Immun- und Abstoßungsreaktionen gegen das fremde Gewebe zu wehren. Nun gibt es aber einen wesentlich größeren Bedarf an Organen, als durch solche wirklich freiwilligen Spenden zusammenkommen, denn in Deutschland ist die Spendebereitschaft deutlich geringer als in anderen europäischen Staaten. 2005 warteten in Deutschland 12.000 Menschen auf Organspenden: 9.200 Nieren, 1.500 Lebern, 600 Herzen und 450 Lungen wurden benötigt. Es wurden aber 2003 nur 13,6 Organe im Mittelwert pro eine Million Einwohner in Deutschland gespendet. (Es wurden 4.175 Organe übertragen, im Mittelwert drei pro Organspender.) In Spanien, dem Spitzenreiter in Europa, werden hingegen 31,5 Organe pro eine Million Einwohner gespendet. Deutsche Organempfänger leben – zum Ärger unserer Nachbarn - über Eurotransplant von der größeren Spendebereitschaft in den anderen europäischen Ländern, die sich ebenfalls Eurotransplant angeschlossen haben. Weil es zu wenige Spender gibt, standen 2005 rund 9.200 Deutsche mit fortgeschrittener Nierenerkrankung auf der Warteliste für eine Nierentransplantation in einem der 40 Zentren, in denen jährlich zwischen 2.000 und 2.400 Nieren verpflanzt werden; 2003 waren es 2081 Nieren von Toten, zu denen die Lebendspenden kamen. Bis zur Implantation eines geeigneten Organs sind sie auf eine Dialyse angewiesen. Neu auf die Warteliste kommen aber jedes Jahr 2.500 bis 3.000 Patienten. Die Schere zwischen dem Bedarf an Nieren und der Verfügbarkeit wird immer größer. Im Schnitt warten Patienten sechs Jahre auf eine Niere. Etwa 15 Prozent sterben, bevor sie ein Ersatzorgan erhalten können. Besonders bedroht sind Patienten mit fortgeschrittenen Leberfunktionsstörungen, meist auf Grund einer Zirrhose oder von Tumoren. Zwar sind davon weniger Menschen betroffen - etwa 1.500 Deutsche stehen auf der Warteliste für eine Lebertransplantation und rund 700 Organe werden jedes Jahr verpflanzt -, aber ihr Zustand verschlechtert sich oft rapide, und es gibt im Gegensatz zur Dialyse bei Nierenpatienten keine lebensrettende Maßnahme, um die Wartezeit zu überbrücken. Viele Patienten müssen zwei Jahre und länger auf eine

194

Lebertransplantation warten, bei der ihnen ein fremder Leberlappen eingesetzt wird. Bis zu einem Fünftel der Patienten, die auf der Warteliste stehen, sterben. 2003 wurden außerdem 194 Lungen(flügel) und 339 Spenderherzen übertragen, auf die aber schon rund 450 Patienten wegen einer Lungen- und 600 Patienten wegen einer Herztransplantation warteten. (Weltweit warten 70 000 Menschen auf ein Spenderherz, nur jeder Zehnte erhält es rechtzeitig. Die Mediziner hoffen, die Bedarfslücke in naher Zukunft mit Kunstherzen schließen zu können.) Wegen der Organarmut werden so für einen Teil der auf ein Spenderorgan wartenden rund 12.000 Menschen in Deutschland die Wartelisten zu Todeslisten. „Diese Menschen fühlen sich wie in einer Todeszelle“, berichten Ärzte. Wie soll der dringend benötigte Rest beschafft werden? Da treten Beschaffungsprobleme auf, die rechtlich irgendwie geregelt werden müssen: sowohl für Lebendspenden wie für die Organentnahme bei Verstorbenen. INTERNISTEN FORDERN Nur Spendewillige sollen selbst Organe bekommen Wer keine Organe spenden will, soll nach Meinung des Ärztefunktionärs Manfred Weber im Notfall auch selbst keine bekommen. Der Mangel an Spenderorganen kostet in Deutschland täglich zwei Menschenleben. Wiesbaden - Um den Mangel an Spendeorganen zu lindern, schlägt der Internist Manfred Weber radikale Lösungen vor: Die Haltung zur Organspende sollte regelmäßig verpflichtend bei der Verlängerung des Personalausweises abgefragt werden, forderte der Vorsitzende der Gesellschaft für Innere Medizin heute in Wiesbaden. "Wer dabei Nein sagt, bekommt auch nichts." In Nordrhein-Westfalen würden jährlich auf eine Million Einwohner nur von neun Menschen Organe gespendet. "Die Situation ist katastrophal", sagte Weber. Benötigt werden jedoch 60 Transplantationen je eine Million Einwohner pro Jahr. Menschen, die ihren Beitrag verweigerten, sollten auch Nachteile bei den Leistungen haben, erklärte der Internist. Organspenden sind ein wichtiges Thema beim 111. Deutschen Internistenkongress vom 2. bis zum 6. April in Wiesbaden. Derzeit stehen in Deutschland rund 12.000 Menschen auf der Warteliste für eine Transplantation, allein 9500 Patienten warten auf eine neue Niere. Im vergangenen Jahr wurden jedoch bundesweit nur 3500 Organe gespendet, darunter 2000 Nieren. Die Erfolgsaussichten des Eingriffs sind nach Angaben des Internistenverbandes gut: Nach einem Jahr funktionierten noch fast 90 Prozent der transplantierten Nieren. Innerhalb Deutschlands bestehen große Unterschiede in der Spendenbereitschaft. Spitzenreiter im Jahr 2004 war Mecklenburg-Vorpommern mit mehr als 36 Organenspenden je eine Million Einwohner, fast vier Mal so viel wie in Nordrhein-Westfalen. Über die Gründe des Organmangels wird immer wieder heftig gestritten. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) macht vor allem Krankenhäuser dafür verantwortlich, die eine Zusammenarbeit mit den Transplanteuren verweigerten. 40 Prozent der 1400 deutschen Klinken mit Intensivstationen, klagt DSO-Vorsitzender Günter Kirste, "machen bei der Rekrutierung von Organspendern nicht mit. Da wird teilweise richtig gemauert". Die Klinikärzte weisen den Vorwurf mangelnder Kooperation jedoch zurück. In ihren Augen sind die Transplanteure selbst nicht unschuldig an der Notlage. Eine lange "Liste von Ungereimtheiten" etwa legt Hans Fred Weiser, Präsident des Verbandes der Leitenden Krankenhausärzte (VLK), der DSO zur Last. Wenn die Stiftung ihre Politik nicht merklich ändere, rechne er sogar mit einem weiteren "Rückgang der realisierten Organspende um 20 bis 30 Prozent". So moniert Weiser, dass die DSO keine mobilen Teams mehr zur Verfügung stelle, die rund um die Uhr rufbereit sind, um bei einem Patienten den Hirntod zu diagnostizieren. Zudem kritisiert der VLK-Präsident, die DSO-Spitze setze sich nicht hinlänglich mit den ethischen Fragen auseinander, die mit der Transplantation einhergehen. SPIEGEL ONLINE 31.03.04 Die Probleme fangen an, wenn der Verstorbene keine vorsorgliche Entnahmeverfügung getroffen hat: Acht von zehn Angehörigen können nur vermuten, wie der Verstorbene zu einer Entnahme seiner Organe stehen würde, da das Thema des eigenen Todes mehrheitlich so angstbesetzt ist, dass viele es vermeiden, sich mit dieser Frage auseinander zu setzen. Das müssen dann die gramgebeugten Angehörigen in ihrem ersten Schmerz noch zusätzlich leisten. Sie müssen innerhalb kürzester Frist – praktisch wenn die Leiche noch warm ist und viele Angehörige darum den Tod noch nicht wahr haben wollen, sie noch die Hoffnung hegen, dass der entscheidende Schritt zum Exitus noch nicht irreversibel vollzogen wurde - entscheiden: Dürfen dem schmerzvoll Vermissten,

195

der sie nicht mehr benötigt, zur Deckung des gesellschaftlichen Bedarfs einige dringend benötigte Organe entnommen werden? Wenn die Ärzte sich nun irren und doch noch Hoffnung besteht? Schließlich sind ja schon zahlreiche Komapatienten ins Leben zurückgekehrt; einige sogar erst nach vielen Monaten, gar Jahren! „Nach 20 Jahren aus Koma erwacht New York - Eine Frau, die seit einem Unfall vor 20 Jahren im Koma lag, spricht wieder. "Hi, Mum!" sagte die heute 38jährige Sarah Scantlin plötzlich zu ihrer Mutter. Auch an ihr früheres Leben erinnert sie sich wieder. Die Ärzte sind ratlos. dpa“ (HH A 12.02.05) Könnte in der Zwischenzeit nicht vielleicht die medizinische Entdeckung gemacht werden, die den eigenen Verwandten aus dem »Zwischenreich« der »Ausleibigkeit« zurückholen könnte? Um diese Entscheidungsnotwendigkeit in dieser Extremsituation zu vermeiden, haben einige Länder per Gesetz jeden gerade Verstorbenen zu einem potentiellen Organspender erklärt, sodass ihm benötigte Organe entnommen werden dürfen. Und wenn man damit nicht einverstanden ist: Darf das mit jedem gerade Verstorbenen gemacht werden oder kann man sich gegen Organentnahme über seinen eigenen Tod hinaus schützen, so man es überhaupt will? Ist es unethisch, eine Organentnahme nach dem von zwei Ärzten festgestellten Hirntot zu verweigern, wo so viele Organe benötigt werden, dass die momentane Zahl der Organe Verstorbener bei weitem nicht ausreicht, um die andernfalls oft Sterbenskranken mit einem Ersatzorgan zu versorgen, so dass bei aller damit verbundenen Problematiken – auch für den Spender - auf „Lebendspenden“ zurückgegriffen werden muss? Jede fünfte verpflanzte Niere, jede zehnte Leber stammt von einem Lebendspender, der auch mit Komplikationen rechnen muss6 Wie sollten Lebendspenden geregelt werden, damit die Gefahr einer Kommerzialisierung möglichst verhindert wird? Lebendspenden nur innerhalb der Verwandtschaft? Nach anfänglichen Schwierigkeiten „Vater will Niere spenden: Ärzte sagen nein SAD Leicester – Ein ungewöhnliches Familiendrama erschüttert England. Cliff Pendregaust möchte seinem Sohn eine Niere spenden, findet seit vier Jahren jedoch keinen Arzt, der ihn operiert. Beide Kinder des 67jährigen sind mit einem Genfehler auf die Welt gekommen. Als Neil eines Tages ins Koma fiel, spendete der Vater eine Niere. Der 31jährige erholte sich, kann heute wieder normal leben. Doch jetzt muß der Ex-Major zusehen, wie es seinen zweiten Sohn Russell (35) immer schlechter geht. ‘Ich dachte mir, es liegt in meiner Hand, auch Russell seine Freiheit zu geben‘, sagt Pendregaust. ‘Er arbeitet als Manager für eine Hotelkette und muß jede Woche 15 Stunden an der künstlichen Niere hängen. Ich bin Rentner und hätte Zeit.‘ Mehrere Ärzte-Gremien befaßten sich mit seinem Fall, diskutierten auch die ethische Problematik. Ein Chirurg, der helfen will, fand sich nicht. Auch Appelle an den Ärzteverband British Medical Association blieben ohne Erfolg.“ (HH A 20.02.96) hat sich die Meinung der Ärzte wohl überall in die Richtung entwickelt, freiwillige(!) Lebendorganspenden auch unter Nichtverwandten zuzulassen und vorzunehmen: Weltweit sind z.B. Hunderttausende Nieren verpflanzt worden. Am unproblematischsten ist das dann, wenn der Lebendspender nicht im Verdacht steht, sich damit einen wirtschaftlichen Vorteil – und sei es »nur« aus Dankbarkeit heraus – zu »erspenden«. Potenzielle Spender müssen über alle Risiken informiert werden und die Freiwilligkeit der Spende wird durch eine psychologische Untersuchung wie auch durch eine Ethikkommission zu klären versucht. Aber da kann sich immer noch der reiche Erbonkel oder die reiche Erbtante durch eine testamentarische Verfügung ein Organ »erkaufen«, obwohl der Kommission ausschließlich altruistische Überlegungen erzählt werden. Lebendspenden nur innerhalb der Kleinfamilie und Verwandten ersten Grades? Doch da stehen nicht ausreichend Organe zur Verfügung. Sollen in dieser Zwangslage sogenannte „Überkreuzspenden“ zugelassen werden, dass ein Ehepartner ein Organ für einen fremden Ehepartner spendet, wenn dessen Partner im Austausch sein Organ für den eigenen Ehepartner spendet, dem man wegen zu großer Gewebeunverträglichkeit mit dem eigenen Organ nicht helfen kann? Leider muss inzwischen der letzte Wortteil des Begriffs Organ»spende« bei Lebend»spenden« nicht ohne Grund 6

Bei bis zu 20 Prozent der Spender von Leberlappen kommt es zu Komplikationen. Der Versicherungsschutz von Lebendspendern ist bisher aber nicht eindeutig geklärt.

196

in die Fragwürdigkeit des Ausdrucks verdeutlichende Zeichen gesetzt werden: In der Presse fanden sich in den frühen 90-er Jahren des letzen Jahrhunderts Meldungen, dass z.B. an der Grenze Griechenlands zu dem albanischen Armenhaus Europas Kinder aufgefunden worden waren, die mit einer frischen Narbe herumirrten und nicht wussten, dass sie eingefangen und nach Entnahme einer Niere wieder laufen gelassen worden waren. Bei dieser kriminellen Organbeschaffung lag eindeutig keine Spende vor. Ein weiteres Beispiel für deliktisch beschaffte Organe: „Chirurg als Organdieb? SAD London – Mitte Dezember meldeten die Weltmedien einen ‘medizinischen Durchbruch‘. Dem Inder Purna Saikia (31) sei neben seinem eigenen, von Geburt an kranken Herzen das Herz eines Schweines als Zusatzpumpe eingepflanzt worden. Die Operation fand in einer abgelegenen Bergklinik im Bundesstaat Assam statt. Sylvester war der Patient tot. Die Behörden ordneten eine Leichenöffnung an. Dabei wurde schnell klar: Der Chirurg hatte das Herz des Patienten nicht im Brustkorb gelassen. Und: Er hatte auch beide Lungenflügel, Leber, Galle und weitere Organe entfernt und teilweise durch Tierorgane ersetzt. Zwei Wochen ließ sich der Chirurg als Pionier der Medizin feiern. Jetzt sitzt Dr. Dr. Dhani Ram Baruah in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: ‘Schuldhafte Tötung‘. Den Pathologen standen die Haare zu Berge. Der Arzt hatte die Tierorgane wahllos miteinander verbunden. Sie waren so zurechtgestutzt, daß Fachleute bis heute nicht sicher sagen können, von welcher Tierart sie stammen. Der Verdacht: Saikia mußte sterben, weil Baruah und Kollegen seine Organe weiterverkaufen wollten. In der primitiven Klinik sind in den letzten zwei Jahren fünf Patienten gestorben. (HH A 14.01.97) Bei den in diesem Bereich gegebenen Missbrauchsmöglichkeiten stellt sich - und noch verstärkt in dem der sich im Zuge des rasanten Wissenszuwachses auf dem Gebiet der Gentechnologie entwickelnden Gentherapie7, die das Problem der Organspende bedeutungslos werden lassen könnte, wenn es gelingt, die zur Reparatur menschlicher Körper benötigten Organe in ausreichendem Umfang zu züchten - die Frage: "Soll der Medizin alles erlaubt sein zu tun, was sie schon kann und noch darüber hinaus hinzulernen wird?" Da bestand großer Regelungsbedarf, dem inzwischen durch einige Gesetze abzuhelfen versucht wurde. Sehen wir uns an, was den Gesetzgeber zum Handeln zwang: "In naher Zukunft wird es in der Medizin zu radikalen Verteilungskämpfen kommen, insbesondere in der Transplantationsmedizin. Denn kein Geld der Welt reicht für eine gleichmäßige Versorgung aller Menschen mit lebensverlängernden Ersatzteilen. Schon heute verkaufen Menschen in Brasilien oder Indien Nieren an reiche US-Amerikaner, Japaner, Araber und Europäer. In Brasilien werden immer häufiger Kinder ermordet aufgefunden, denen Organe fehlen. Auch bei uns wird es in Kürze zwei Klassen Menschen geben: arme Organspender und reiche Organempfänger." Leserbrief von Siegfried Pater, Autor des Buches "Organhandel - Ersatzteile aus der Dritten Welt" an den STERN, mit dem er gegen die Kannibalisierung von Armen aus der Dritten Welt durch Reiche aus den Industrieländern Stellung bezieht. "‘Reiche können Leben erkaufen' Edeltraud Swoboda, Leiterin der Evangelischen Familienbildungsstätte Harburg: ‘Ich habe die Befürchtung, daß Menschen, die viel Geld haben, sich ihr Leben erkaufen können. So ist es heute in Südamerika, wo Kinder aus armen Familien entführt, ihnen die Netzhaut entfernt wird, damit reiche, ältere Menschen ihr Augenlicht wiederbekommen. So wird das Leben der Reichen verlängert, das der Armen verkürzt. Organspende soll möglich sein, aber nur auf freiwilliger Basis. Wichtig ist, daß die Notwendigkeit in der Bevölkerung bewußter gemacht wird.'" (Harburger Anzeigen und Nachrichten 20.01.92)

Die für Operationen erforderlichen Organe sind nicht in ausreichender Anzahl vorhanden. „Spenderorgane: Das Versagen der Kliniken UKE-Professor: Viele Patienten könnten noch leben wenn Krankenhäuser potentielle Spender 7

Britischer Professor aus Bath: „In der Gentechnologie droht die Gefahr des Biofaschismus. Es ist angedacht, wie schon bei Fröschen erfolgreich erprobt, irgendwann Menschen ohne Köpfe als auszuweidende Ersatzteillager zu züchten.“

197

melden würden. Hanna Kastendieck / Miriam Opresnik Zwei von drei Menschenleben könnten jeden Tag gerettet werden, wenn die deutschen Krankenhäuser ihrer Pflicht nachkämen und potenzielle Organspender melden würden. ... Nach Schätzungen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) melden nur 50 Prozent der Krankenhäuser mit Intensivstation potenzielle Organspender – obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. Das sind 700 der 1400 entsprechenden Kliniken. ... Aus Mangel an Organen sterben nach Angaben der DSO in Deutschland rund 30 Prozent der rund 11.778 Menschen, die auf ein neues Organ warten. Die CDU-Bundestagsfraktion fordert daher Sanktionen für Krankenhäuser, die ihrer Meldepflicht nicht nachkommen. ... Nach Paragraph 11 Absatz 4 des Transplantationsgesetzes sind Krankenhäuser verpflichtet, potenzielle Organspender der DSO zu melden. Da das Transplantationsgesetz ... nur apellativen Charakter hat und Verstöße nicht geahndet werden, fordert die DSO, dass die Bundesländer auf Landesebene für die Einhaltung sorgen müssen. ... ’Der finanzielle, personelle und organisatorische Aufwand ist vielen Kliniken einfach zu groß’, vermutet UKE-Professor Reichenspurner. Zwar bekommen die Spender-Krankenhäuser für eine Organentnahme von der DSO eine Aufwandserstattung zwischen 2090 und 3370 Euro. Reichenspurner: ’Für die Krankenhäuser ist es aber dennoch einfacher, das Beatmungsgerät einfach abzuschalten.’“ (HH A 11.06.04) „Missstand Als Mutter eines Fünfjährigen, der auf eine neue Niere wartet und dem ich wahrscheinlich eine spenden muss, kommt mir die Galle hoch: Wie kann es in einem Land wie Deutschland angehen, dass so ein Missstand nicht viel früher entdeckt wurde? Dass dringend gebrauchte Organe einfach auf dem Friedhof ’vergammeln’, nur weil – leider viele – einfach zu faul sind, Spenderorgane zu melden? Ich möchte lieber nicht wissen, wie viele Lebendspenden hätten vermieden werden können, wenn alle potenziellen Spenderorgane gemeldet worden wären. Abgesehen von dem Leid der Angehörigen und denen, die auf ein Spenderorgan warten, bedeutet eine erfolgreiche Transplantation auch eine Kostenersparnis: Die Dialysebehandlung unseres Sohnes kostet etwa 36 000 Euro im Jahr. Leserbrief Susanne Adrian, per E-Mail” (HHA 15.06.04) „Zu bequem für Organspenden Miriam Opresnik Stellen Sie sich vor, Ihr Kind braucht ein neues Herz, weil es mit einem schweren Herzfehler geboren wurde. Oder stellen Sie sich vor, Ihr Partner braucht eine neue Leber, weil er an Hepatitis erkrankt ist. Und dann stellen Sie sich vor, diese Menschen müssen sterben. Weil sie nicht rechtzeitig ein neues Organ bekommen. Weil viele Krankenhäuser ihrer Meldepflicht nicht nachkommen. Unvorstellbar? Nein! Alltag in Deutschland. Nach Schätzungen verschweigt jedes zweite Krankenhaus mit Intensivstation den Hirntot eines Patienten. Eines Patienten, der als Organspender geeignet wäre. Warum? Weil die Kliniken scheinbar kein Interesse daran haben, ihre Betten mit wirtschaftlich nutzlosen Fällen zu belegen. Weil es bequemer ist, die Beatmungsgeräte einfach abzuschalten. Weil sie nicht bedenken, dass mit der Meldung eines Organspenders Menschenleben gerettet werden könnten. Wenn Krankenhäuser ihrer Pflicht nicht freiwillige nachkommen, muss nachgeholfen werden. Mit besseren Schulungen und Motivation zum einen. Mit schärferen Gesetzen zum anderen. Gesetzen, die nicht nur an den gute Willen der Ärzte appellieren, sondern bei Verstößen auch Konsequenzen haben. Wer das Problem verschweigt, macht sich mitschuldig. Gesetze müssen eingehalten werden. Sich dafür einzusetzen ist Sache der Länder. Hamburg als Medizinhochburg sollte hier Vorreiter sein.“ (HH A 11.06.04)

In der Bundesrepublik sterben mangels eines ausreichenden Organangebotes z.B. ein Drittel aller Menschen, die im Schnitt ca. sechs Jahre auf ein Spenderherz oder eine Leber warten müssen, vor der lebensrettenden Operation. (In den USA ist in einer solchen Notlage - wenigstens vorübergehend - einem Menschen ein Pavian-

198

Herz, einem anderen eine Schweineleber eingepflanzt worden. Da gibt es bislang keine rechtlichen Organspendeprobleme, auch nicht von Tierschutzverbänden.) In Deutschland werden inzwischen 4.000 Organtransplantationen pro Jahr vorgenommen. 2003 gab es 3.482 verstorbene Organspender. Dem standen 12.000 auf eine Spenderorgan Wartende auf einer immer länger werdenden Transplantationswarteliste gegenüber. Der Nachfrageüberhang könnte nur durch die erweiterte Zulassung von »Lebendspenden« - der Anteil liegt noch deutlich unter dem vieler anderer Länder: in Norwegen sind zum Beispiel 50 Prozent der Nierentransplantationen eine Lebendspende - oder durch eine Erhöhung der Verstorbenenspende mithilfe einer Widerspruchslösung wie in Spanien oder Österreich abgebaut werden. Danach ist jeder nach seinem Tod Organspender - es sei denn, er hat dagegen explizit zu Lebzeiten widersprochen. In der BRD stammen mehr als 20 % der »gespendeten«(?) Organe von Verwandten oder dem Empfänger Nahestehenden. Eine Kommission muss vor der Transplantation feststellen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, um Zwang oder Organhandel (möglichst) auszuschließen, denn den will keiner; es sollen nicht solche Zustände herrschen wie in den USA, wo per Internet Nieren für 80.000 $ pro Stück angeboten wurden. Organspende Ulrike Baureithel Der Körper als Warenlager Die schleichende Materialisierung des Menschen Ende vergangenen Jahres erlangte der Ingenieur Peter Randell aus der englischen Grafschaft Kent internationale Berühmtheit: Weil das staatliche Gesundheitssystem die teure Therapie seiner sechsjährigen Tochter Alice, die seit ihrer Geburt an zerebraler Kinderlähmung leidet, nicht übernehmen wollte, bot der verzweifelte Vater im Online-Aktionshaus Ebay eine seiner Nieren an. Mit dem erhofften Erlös von 150.000 Euro wollte er den dringend benötigten Therapieplatz für Alice finanzieren. Nachfrage gab es durchaus, doch bevor der Deal abgewickelt werden konnte, wurden Randalls illegale Organangebote sowohl in Großbritannien als auch in den USA entdeckt und strafrechtlich verfolgt. Daraufhin spendeten die Leser der britischen Zeitung "Sun", die den Fall bekannt machte, einen Teil des benötigten Geldes. Eine Geschichte nach dem Geschmack der Boulevardpresse: Schwerkrankes Kind, opferbereite Eltern, die vor der staatlichen Mittellosigkeit und Ignoranz kapitulieren, und eine solidarische Lesergemeinde. Die Protagonisten sind keine skrupellosen Organhändler, die, wie vergangenes Jahr in der Ukraine, neugeborene Babys ausschlachten oder verdächtigt werden, Organe von Waisenkindern zu verhökern, wie im Fall eines südafrikanischen Ehepaars. Hier handeln verzweifelte Eltern, die keinen Ausweg mehr wissen und auf menschliches Verständnis hoffen dürfen. Der sozialpolitische Aspekt der Story - die Tatsache, dass die europäischen Wohlfahrtsstaaten sich nicht mehr jede medizinische Leistung leisten können oder leisten wollen und dabei sind, implizit oder explizit eine Zweiklassenmedizin zu etablieren - ist dabei nur die eine Seite, die das Publikumsinteresse und die Spendenbereitschaft mobilisiert. Gravierender an der Geschichte ist die Frage, ob Peter Randell seinen Körper "besitzt" und über seine Teile verfügen kann, zumal, wenn er wie in diesem Fall ein ethisch einwandfreies Ziel verfolgt. Ist der Körper sein "Eigentum", ein Produkt, für das er - man denke nur an gesundheitspräventive Maßnahmen - einerseits "Haftung" übernimmt und dessen Teile andererseits auf dem Markt angeboten werden können? Oder ist der Körper ein unveräußerliches "Ding", das verwertbaren Maßstäben zu entziehen ist? Die gesetzlichen Grundlagen der europäischen Länder sind weitgehend eindeutig: Organhandel ist so auch im britischen Fall - verboten. Weder die eigenen Organe noch die eines Dritten sind eine "marktfähige" Ware und können also auch nicht gehandelt werden. In der Bundesrepublik regelt das Ende der 90er-Jahre kontrovers diskutierte Transplantationsgesetz (TPG) den Umgang mit Organspende und ihre Grenzen. Die postmortale Organspende ist zulässig, wenn das Einverständnis des Betroffenen vorliegt oder dessen Angehörige nach seinem vermuteten Willen entscheiden ("erweiterte Zustimmungslösung"), vorausgesetzt, zwei Ärzte haben den so genannten "Hirntod" festgestellt. Die Lebendspende (also beispielsweise die Spende einer Niere oder eines Teils der Leber) ist nur dann möglich, wenn ein enges Verwandtschafts- oder Beziehungsverhältnis vorliegt, das von einer Ethikkommission zu beurteilen ist. Es darf - von so genannten "Aufwandsentschädigungen" abgesehen - in keinem Fall ein auf das Organ bezogener finanzieller Ausgleich stattfinden. Soweit die Regelungen, die hinsichtlich der Lebendspende derzeit allerdings wieder zur Disposition stehen. Denn das mit dem unveräußerlichen Körper und seinen Teilen ist eine schwierige Angelegenheit.

199

Transparent ist die über Jahrzehnte hinweg bewährte Blutspendepraxis: Man erhält ein Taschengeld dafür, dass man Zeit investiert und gegebenenfalls auch die eine oder andere Unpässlichkeit in Kauf nimmt. Aber schon bei der Samenspende liegen die Dinge anders. Ein Samenspender wird vergleichsweise gar nicht schlecht - für seine Dienste und sein Produkt bezahlt. Weibliche Eier dagegen sind in Deutschland unverkäuflich. Eine geschlechtsspefische Diskriminierung? In diesem Fall wohl eher nicht, denn die Begehrlichkeiten der Wissenschaft, beispielsweise in der Stammzellforschung, sind so groß, daß hier die Gefahr bestünde, dass sich gerade Frauen aus schwächeren Schichten zur "Eierernte" melden würden. Doch wie steht es mit den vielen menschlichen Präparaten, die überall im medizinischen Alltag gesammelt und in sogenannten Biobanken aufbewahrt und der Forschung und Industrie zur Verfügung gestellt werden? Mit welchem Recht werden sie privatisiert und beispielsweise von der Pharmaindustrie verwertet, ohne dass die einstigen Lieferanten je einen schlappen Euro von der Rendite sehen? Die derzeit auszuhandelnde Biopatent-Richtlinie ist ein heißes Eisen der Politik; Patente "auf Leben" sind höchst umstritten. Das Argument, dass sich gerade einkommensschwache, finanziell bedrängte Menschen zum Verkauf ihres Körpers gezwungen sehen könnten, wird auch gegen die Kommerzialisierung der Organspende in Anschlag gebracht. Wer sozial abgesichert lebt, wird sich unter normalen Umständen kaum veranlasst sehen, eine Niere zu verkaufen. Doch wie sieht das für arme Menschen aus unterentwickelten Ländern aus? Auf einer Anhörung der Enquete-Kommission "Recht und Ethik in der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages kolportierte kürzlich ein Sachverständiger die Meinung eines indischen Kollegen, der Verständnis für die bezahlten Lebendspenden aufbrachte, weil "dies in Indien die Ausbildung von Töchtern" sicherstelle. Aber rechtfertigt der - im Übrigen nur vermutete - Nutzen für benachteiligte Mädchen den Handel mit Körperteilen? Zumal in diesem Fall, wo die Industrienationen eindeutig Vorteilnehmer sind, während die übrigen Teile der Welt einmal mehr in die Rolle billiger Lieferanten für unsere "Ersatzteillager" gedrängt werden? Repräsentative Untersuchungen gerade aus Indien zeigen außerdem, dass die "Spender" durch den Verkauf ihrer Nieren keineswegs der Schuldenfalle entkommen. Im Gegenteil führen die gesundheitlichen Auswirkungen einer Organentnahme häufig zu zusätzlicher Verschuldung. Den Profit schöpfen ohnehin die Vermittler ab: In Südafrika wurde kürzlich ein Israeli zu 660 Euro Strafe verurteilt, der aufgrund falscher Annahmen eine Niere für 45.000 Dollar "bestellt" hatte; für den brasilianischen Spender fielen gerade einmal 6.000 Dollar ab. In den Industrienationen ist der Bedarf an Organen offenbar, trotz aller Aufrufe an die Spendenbereitschaft der Bevölkerungen, nicht zu decken. Wenn die Deutsche Stiftung Organtransplantation alljährlich ihre Zahlen bekannt gibt, dann immer mit dem mehr oder minder dezenten Hinweis auf den vom Egoismus der Allgemeinheit zu verantwortenden "Tod auf der Warteliste", dem viele Patienten entgegensehen. Die Hightech-Medizin macht Angebote, die wahrgenommen werden wollen und sollen. Den betroffenen sterbenskranken Patienten ist daraus kein Vorwurf zu machen, auch wenn gelegentlich und nicht immer zu Unrecht über hybride Ansprüche und mangelnde "Compliance", also die Bereitschaft transplantierter Patienten, sorgsam mit dem Mangelgut umzugehen, lamentiert wird. Aber auch diejenigen, die sich gegen eine Organspende entscheiden, sind keiner Unterlassungssünde zu zeihen: Der Alltag der Organspendepraxis, seine Voraussetzungen ("Hirntod") und psychologischen Folgen sind so problematisch und unabsehbar, dass keine "Bringschuld" eingeklagt werden kann. Dies gilt mehr noch für die Lebendspende. Wo endet die Freiwilligkeit und wann der (versteckte) Zwang? Die Gutachter von Ethik-Kommissionen sollen nicht nur beurteilen, wie eng die Beziehung zwischen Spender und Empfänger tatsächlich ist und ob sie die Bedingungen des TPG erfüllt, sondern auch, ob Druck ausgeübt, Geld fließen oder lebenslange Dankesschuld produziert wird. Die Tatsache, dass die Lebendspende in den letzten Jahren in Deutschland stark zunimmt, könnte auch daran liegen, so die vorsichtige Vermutung von Hans-Ludwig Schreiber von der Bundesärztekammer, dass dies "ein Weg für bestimmte Begünstigte" ist, die Warteschlange zu umgehen. Im Falle der Familie Randell wäre die Selbstinstrumentalisierung des Körpers durch Peter tolerierbar gewesen, litte Alice unter Niereninsuffizienz und hätte der Vater mit seiner Niere das Leben der Tochter gerettet. Dass die Lebensqualität von Alice durch die beabsichtigte Therapie möglicherweise ganz ähnlich gesteigert würde, rechtfertigt jedoch nicht, dass der Vater seine Niere verkauft - selbst wenn er damit "nebenbei" auch noch das Leben eines weiteren Patienten rettet; allerdings eines Patienten, der diese "Ware" auch bezahlen kann. Wir leisten uns heutzutage eine überaus teure Hightech-Medizin, die zwar in nicht geringem Umfang

200

aus direkten Steuermitteln oder indirekten Transferleistungen (zum Beispiel überteuerten Medikamenten) finanziert und abgesichert wird, die aber, das ist bereits absehbar, bald nicht mehr für jedermann verfügbar sein wird. Wir leisten uns gesundheitliche Ansprüche, die wir selbst nicht bedienen können und für deren Befriedigung, das steht zu befürchten, die Ressourcen der ärmeren Ländern herangezogen werden. Wenn heutzutage kostengebeutelte deutsche Kliniken ihre Tore für Ölmilliardäre öffnen, die sich dort für ihre Petrodollars gesundflicken lassen, dann ist dies sozusagen nur die umgekehrte Richtung desselben Prozesses. Aber mehr noch leisten wir uns den Abschied von einem Körper- und Menschenbild, das ganzheitlich geprägt und unteilbar ist. Es beruht auf der Vorstellung eines unverwechselbaren, unveräußerlichen Individuums, das mehr ist als seine (verwertbaren) Teile. Diese schleichende Materialisierung des Körpers, seine Umwertung in ein handelbares Warenlager, verantwortet gewiss nicht nur die medizinische Zunft; aber als Produzentin von Menschenbildern hat sie daran ihren Anteil, und es ist noch nicht abzusehen, was sie Tröstliches an diese Stelle setzen wird. Ulrike Baureithel ist Redakteurin beim "Freitag". Das Parlament 14.06.04 Das bange Hoffen auf Organspende Tausende Kranke aus Deutschland stehen auf der Warteliste Gesundheit und Soziale Sicherung. Tausende schwer erkrankte Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein lebensrettendes Organ. Dieses Thema hat die CDU/CSU-Fraktion zum Anlaß für eine Große Anfrage genommen (15/2707). Nun liegt die Anwort der Bundesregierung (15/4542) vor. Darin sieht sie keine Notwendigkeit, die Betreuung und Koordinierung der Lebendorganspende in Deutschland zu verbessern und zieht auch eine positive Bilanz des Ende 1997 in Kraft getretenen Transplantationsgesetzes. Die gesetzliche Regelung der Organtransplantation habe die notwendige rechtliche Sicherheit und die organisatorischen Rahmenbedingungen für die Organspende und Transplantation in Deutschland geschaffen. Die über Jahre hinweg zentralen Streitfragen, nämlich der Hirntod als sicheres Todeskriterium und die Befugnis zur Einwilligung durch die nächsten Angehörigen mit der erweiterten Zustimmungslösung, wurden dadurch aus der Sicht der Exekutive zufriedenstellend gelöst. Trotz der Erfolge der Medizin in den Anwendungsmöglichkeiten, Überlebensquoten und Lebensqualität der Betroffenen bestehe aber dennoch weiterhin das Problem der sehr begrenzten Verfügbarkeit von Organen für die Transplantation, so die Antwort weiter. Nach Angaben der Regierung standen am 1. November 2004 insgesamt 11.933 Patientinnen und Patienten aus Deutschland auf den Wartelisten. Darunter befanden sich 9.235 Personen, die auf eine Niere, 1.483 Personen, die auf eine Leber, 586 Personen, die auf ein Herz, und 453 Personen, die auf eine Lunge zur Transplantation warteten. Den gleichen Angaben zufolge wurden 2003 in Deutschland 2.516 Nieren, 855 Leber, 393 Herzen und 212 Lungen transplantiert. Die Zahl der postmortal gespendeten Organe habe 2003 mit 3.496 den bislang höchsten Stand erreicht, der für das vergangene Jahr nach bisherigen Erkenntnissen nicht erreicht werden konnte. Gleiches gilt für die Zahl der transplantierten - postmortal und lebend gespendeten - Organe: Sie habe 2003 mit 4.175 den höchsten Stand erreicht. Im europäischen Vergleich lag Deutschland 2003 mit 13,8 postmortalen Organspenden je Million Einwohner im Mittelfeld, heißt es. Die Bundesregierung geht in ihrer Antwort davon aus, dass die Spendenbereitschaft entscheidend von der Wahrnehmung der gegebenen Möglichkeiten einer Organspende abhängt. Durch kontinuierliche, umfassende und sachliche Aufklärung der Bevölkerung sowie durch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Transplantationszentren und den anderen Krankenhäusern könnten die Möglichkeiten zur postmortalen Organspende besser wahrgenommen werden. Auch die ideelle Anerkennung einer Organspende könne dazu beitragen, die Organspendenbereitschaft zu erhöhen. Als Beispiel führt die Regierung eine Initiative des bayerischen Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen an, das jährlich gemeinsam mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation- Regionalorganisation Bayern den bayerischen Organspendenpreis an besonders verdiente Krankenhäuser verleiht. Nach dieser Veranstaltung sei jedes Jahr ein deutlicher Anstieg der Beteiligung der Krankenhäuser an der Organspende zu verzeichnen. Eine ähnliche Initiative sei auch in Thüringen geplant. Das Parlament 17.01.05 Niere um Niere, Herz um Herz WIESBADEN dpa Wer keine Organe spendet, soll auch keine bekommen: Der Vorsitzende der

201

Gesellschaft für Innere Medizin, Manfred Weber, schlägt vor, die Haltung zur Organspende verpflichtend bei der Verlängerung des Personalausweises abzufragen. "Wer dabei Nein sagt, bekommt auch nichts." In NRW kämen nur 9 Organspender auf 1 Million Einwohner. "Die Situation ist katastrophal." Menschen, die ihren Beitrag verweigerten, sollten auch Nachteile bei den Leistungen haben, so Weber. Organspende ist ein Thema beim 111. Internistenkongress vom 2. bis 6. April. Derzeit stehen in Deutschland rund 12.000 Menschen auf der Warteliste für eine Transplantation. 2004 wurden in Deutschland etwa 2.000 Nieren verpflanzt. Die Erfolgsaussichten seien gut: Nach einem Jahr funktionierten noch fast 90 Prozent der Transplantate. taz 31.03.05 Organe nur noch für Spender? Transplantation: Mediziner fordert, Organe nur noch an spendebereite Patienten zu vergeben - und löst heftige Reaktionen aus. Von Cornelia Werner Mit drastischen Maßnahmen wollen Internisten die Organspendebereitschaft in Deutschland erhöhen. "Wer sich nicht für eine Spende entscheidet, sollte einen Nachteil als Empfänger haben", sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Prof. Manfred Weber. Er forderte, die Bürger alle fünf Jahre mit der Frage zu konfrontieren, ob sie für eine Organspende bereitstünden. Ein Vermerk könne bei der Verlängerung des Personalausweises aufgenommen werden. Wer Nein sagt, scheide als Organempfänger aus. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) warten bundesweit 12 000 Menschen auf ein Spenderorgan. Im Jahr 2004 gab es nur 1081 Organspender. Nach einer Umfrage der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung haben nur zwölf Prozent der Deutschen einen Organspendeausweis, aber 68 Prozent sind bereit, nach ihrem Tod Organe zu spenden. Zum Vorschlag von Prof. Weber sagte Heiner Smit, Bevollmächtigter des Vorstands der DSO: "Bei allem Verständnis für die Sorge von Prof. Weber um seine Patienten ist er mit seiner Forderung über das Ziel hinausgeschossen. Einen Zwang zur Organspende sieht das Transplantationsgesetz nicht vor und motiviert die Menschen nicht zur Spende." Andererseits würden jeden Tag drei Patienten sterben, die auf ein Organ warten. "Wir könnten mehr Patienten retten, wenn sich mehr Menschen für eine Organspende entscheiden würden", sagte Smit. Prof. Xavier Rogiers, ärztlicher Leiter des Transplantationszentrums am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), meinte, man sollte über den Vorschlag von Prof. Weber ernsthaft nachdenken und damit eine gesellschaftliche Diskussion anregen. Zudem müßte man auch die Frage stellen: "Ist es akzeptabel, in gesunden Zeiten eine Organspende zu verweigern und dann, wenn man krank ist, eine Transplantation in Anspruch zu nehmen?" Dr. Michael Reusch, Präsident der Hamburger Ärztekammer, lehnt den Vorschlag ab: "Das wäre nur eine andere Form des Tauschhandels und ethisch nicht vertretbar. Eine solche Regelung ist auch praktisch nicht durchsetzbar: man denke an Kinder, die Organe empfangen, und deren Eltern, die sich auf die spätere Verfügbarkeit der Organe des Kindes verpflichten müßten. Ich werte diesen Vorstoß als nicht ernst gemeinten, bewußt provokativen und verzweifelten Versuch, die Spendebereitschaft zu erhöhen. Mein Appell an die Hamburger: Entscheiden Sie sich freiwillig für die Spende und füllen einen Organspendeausweis aus!" Dr. Fabian Peterson, Pressesprecher der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft, sagte: "Ich begrüße, daß mit dem Vorschlag auf den dramatischen Mangel an Spendeorganen aufmerksam gemacht wird. Doch ein solches ,Klubmodell' schließt Menschen generell als Organempfänger aus und ist wohl verfassungswidrig. Allenfalls könnte über das sogenannte ,Solidarmodell' in Form einer Besserstellung von erwachsenen Patienten auf der Warteliste nachgedacht werden, wenn sie bereits einen Spendeausweis besaßen, bevor sie auf ein Organ angewiesen waren. Die beste Lösung bleibt aber, wenn die in Umfragen ermittelten vielen Befürworter der Organspende alle auch einen Spendeausweis ausfüllen." Auf mehr Aufklärung setzt auch Prof. Hermann Reichenspurner, ärztlicher Leiter des Herzzentrums am UKE. Er findet den Vorschlag fragwürdig, "weil er einer Bestrafung gleichkommen würde". Denkbar wäre seiner Meinung nach auch die Widerspruchslösung, wie sie in Belgien und Österreich praktiziert wird. Das heißt, daß grundsätzlich eine Organspende bei Verstorbenen in Frage kommt, es sei denn, die Person hat zu Lebzeiten widersprochen oder die Angehörigen widersprechen. Sicherlich seien die Zahlen katastrophal. Es gebe Länder, in denen die Zahl der Organspenden mehr als dreimal so hoch sei wie in Deutschland - etwa Spanien. Dort werde eine gezielte Aufklärungsarbeit geleistet.

202

Eine Mitverantwortung der Kliniken für den Mangel an Spenderorganen sieht auch die DGIM. Nur wenn sich Mediziner in den Krankenhäusern um potentielle Organspender kümmerten, sei Deutschland in der Lage, genügend Spenderorgane bereitzustellen, sagte Prof. Hans-Peter Schuster, Generalsekretär der DGIM. Wenn jedes Krankenhaus pro Jahr nur zwei Organe zur Verfügung stelle, "wäre die Warteliste sofort weg". erschienen (HH A 01.04.05) Transplantate nur für Organspender? Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin stößt auf großen Widerstand von Ranty Islam Berlin - Kein Bürger sollte zu einer Entscheidung über seine Bereitschaft für eine Organspende gezwungen werden. Dies sagt Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Sie reagiert damit auf einen entsprechenden Vorschlag des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Manfred Weber. Dieser hatte sich am Mittwoch dafür ausgesprochen, die Bürger alle fünf Jahre mit der Frage zu konfrontieren, ob sie für eine Organspende bereitstünden oder nicht. Ein entsprechender Vermerk könne im Personalausweis aufgenommen werden. "Wer sich nicht für eine Spende entscheidet, sollte einen Nachteil als Empfänger haben", so Weber. Auch die Ministerin ist der Ansicht, daß Menschen für die Chance, ein Spenderorgan zu erhalten, bereit sein sollten, sich registrieren zu lassen. "Aber jeder sollte für sich selber entscheiden, ob dies für ihn ein gangbarer Weg ist", sagte Schmidt. Rund 12 000 Menschen warten derzeit bundesweit auf ein Spenderorgan. Im vergangenen Jahr konnten jedoch nur 3508 Organe für eine Spende entnommen werden. Die Situation hat sich seit Verabschiedung des Transplantationsgesetzes vor acht Jahren nur unwesentlich verbessert. Die erhoffte massive Steigerung der Zahl von Spenderorganen ist ausgeblieben. Ein Grund sei der "katastrophale" Trend bei der Bereitschaft zur Organspende, so Weber. Mit seinem Vorschlag könnten potentielle Organspender auf breiter Front direkt angesprochen werden. Außerdem sei jedoch die mangelnde Kooperation von Ärzten und Krankenhäusern ein großes Problem. Dafür macht Weber das Gesetz mitverantwortlich. Nach der Regelung wurden die Bereiche Organentnahme, -vermittlung und -transplantation organisatorisch getrennt. "Damit sind bestehende Kooperationen zwischen Transplantationszentren und umgebenden Krankenhäusern zerstört worden", so Weber. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist statt dessen seit 2000 die zentrale Koordinierungsstelle für Organspenden. Sie ist in Kontakt mit bundesweit 1400 Krankenhäusern und 50 Transplantationszentren. Viele Kliniken kooperieren jedoch nicht. Oft fehlten konkrete Richtlinien, wer und wie vor Ort Entscheidungen über eine Organentnahme trifft und wie diese dann umgesetzt würden, sagt Heiner Smit, Bevollmächtigter des DSO-Vorstandes. Grund sei auch, daß viele Bundesländer nur unzureichend konkrete Regelungen auf Basis des Transplantationsgesetzes des Bundes geschaffen hätten. Wo solche Regelungen bestünden, schlage sich dies in der Zahl der Spenderorgane nieder. Etwa in Mecklenburg-Vorpommern - dort ist die Zahl der Spenden pro Million Einwohner fast dreimal so hoch wie in Nordrhein-Westfalen. "Insgesamt ist das Gesetz jedoch bisher nicht im Sinne des Gesetzgebers umgesetzt worden", so Smit. DIE WELT 01.04.05 Die Bundesärztekammer (BÄK) fordert, anonyme Spenden zu ermöglichen, ebenso wie Überkreuz-Spenden, das heißt, der Partner eines Organkranken spendet für den erkrankten Partner eines anderen und umgekehrt. Eigentlich sind derartige Spenden hier zu Lande nicht erlaubt. Doch de facto werden sie gelegentlich praktiziert, eine Grauzone für die Ärzte. In den USA oder Schweden liegt der Anteil der Lebendspender bei bis zu 50 Prozent aller Organspenden. Missbrauch der gesetzlichen Beschränkungen ist möglich: EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Der Spenderskandal Von Ansbert Kneip Wie ein Amerikaner über das Internet eine neue Niere erhielt. Für eine neue Niere sind 295 Dollar kein zu hoher Preis, selbst dreimal 295 Dollar nicht. Bob Hickey brauchte eine, er hätte wohl auch mehr bezahlt. Hickey, 58 Jahre alt, Frührentner aus Edwards in Colorado, eine Niere vom Krebs zerfressen und entfernt, die zweite ebenfalls krank. Er spürt, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Dreimal die Woche geht Hickey zur Dialyse, seit 1999 wartet er auf ein Spenderorgan. Vielleicht

203

findet sich 2005 eine passende Niere, wer weiß. 60.000 Amerikaner stehen auf der Warteliste, jeden Tag sterben 16, die zu lange warten mussten. Es gibt zu wenig Organspender. Und dann, Anfang dieses Jahres, hört Hickey im Radio von diesem neuen Internet-Service, matchingdonors.com, zu Deutsch etwa: passende Spender. Er tippt die Adresse ein. Bei matchingdonors geht es darum, Menschen zu finden, die bereit sind, ein Organ herzugeben - und zwar jetzt, nicht erst, wenn sie tot sind. Sie dürfen dafür kein Geld verlangen, denn das wäre Organhandel, und der ist verboten. Lebendspender können zum Beispiel Knochenmark geben. Das ist vergleichsweise gefahrlos, es macht nur kaum jemand. Ein gesunder Mensch kann sogar auf eine seiner Nieren verzichten, ohne dass es ihn beeinträchtigt. 295 Dollar kostet die Mitgliedschaft pro Monat. Hickey bucht für drei Monate, dann darf er sich in eine Datenbank eintragen: Name, Alter, Krankheit. Dazu E-Mail-Adresse, Wohnanschrift, Telefonnummer, Lebenslauf, Beruf, medizinische Daten. Nichts bleibt privat, das ist das Prinzip von matchingdonors. Ein potenzieller Spender soll die Empfänger kennen lernen, er soll sich rühren lassen von ihrem Schicksal. Und er soll wählen dürfen, wer am Ende das Organ erhält. Bob Hickey lädt noch ein Foto von sich hoch. Es funktioniert besser als erwartet. Drei Monate später haben fast 500 Menschen Kontakt zu ihm aufgenommen, über die Hälfte davon Frauen. Manche wollen ihm nur Glück wünschen, manche verlangen Geld, obwohl das verboten ist. Hickey ist ein stattlicher Mann, sein Spender müsste deshalb mindestens 1,75 Meter groß sein damit fallen praktisch alle Frauen weg. Auf der Dialysestation hat Hickey jetzt eine Beschäftigung. Er telefoniert, fragt nach, gibt Auskunft, er arbeitet die Liste ab: noch hundert Kandidaten, noch zwei Dutzend, noch zehn. Endlich wieder hat er das Gefühl, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Am Ende bleibt genau ein Spender übrig: Robert Smitty, 32 Jahre alt, ein Lkw-Fahrer aus Chattanooga, Tennessee, 2000 Kilometer entfernt. Smitty ist groß genug, er hat die richtige Blutgruppe. Und er will, sagt er, einmal im Leben etwas richtig Großes tun. Etwas, worauf er stolz sein kann und seine zehnjährige Tochter auch. Die beiden Männer telefonieren jetzt fast täglich miteinander. Smitty erzählt, dass er zufällig auf matchingdonors gestoßen sei, eigentlich habe er sich nur über Organspenden nach dem Tod informieren wollen. Erst Hickeys Steckbrief habe ihn überzeugt, Lebendspender zu werden. Es wäre die erste per Internet vermittelte Nierenverpflanzung. Über Geld, so beteuern beide, reden sie nicht. Hickey wird seinem Spender Flug, Unterkunft und Verdienstausfall erstatten, alles in allem rund 5000 Dollar. Das ist erlaubt. Am Morgen des 18. Oktober liegen die Männer nebeneinander im Narkoseraum des St.-Luke'sHospitals in Denver. Die Infusionsnadeln stecken in den Armen, es ist halb sieben, in einer Stunde soll es losgehen, der Anästhesist wartet noch auf das Okay des Ärzteteams. Um Viertel nach acht geht er nachsehen, wo die Kollegen denn bleiben. Ein paar Minuten später tritt der Chefarzt in den Raum, er hat eine schlechte Nachricht: "Ich werde Sie nicht operieren", sagt er. Er habe gerade erst erfahren, auf welche Weise Spender und Empfänger zusammengefunden hätten. Dass jemand an der Warteliste vorbei einen fremden Spender finde, sei unfair, dass jemand übers Internet eine Niere spende, höchst verdächtig. Der Arzt glaubt nicht, dass Smitty seine Niere aus reiner Menschenliebe hergeben will, und er glaubt nicht, dass Hickey wirklich nur 5000 Dollar Spesen zahlt. Er vermutet, dass die beiden einen heimlichen Deal haben. Eine Schwester entfernt die Infusionsnadeln, die Patienten müssen sich wieder anziehen. In seinem Hotel hängt Hickey sich ans Telefon, er redet mit Anwälten, Journalisten und Ärzten, er gibt Radio-Interviews. Am nächsten Tag erscheinen die ersten Artikel, die Klinik gerät unter Druck. Schließlich gibt es keinen Beweis für einen heimlichen Organhandel, die ethischen Bedenken wirken auf einmal bürokratisch und kalt. Der Fall macht nationale Schlagzeilen, am Ende gibt die Klinik nach. Einen Tag später bekommt Hickey nun doch die Niere von Smitty eingepflanzt. Aus humanitären Gründen, sagt der Arzt. Alles geht glatt. Ob wirklich kein Geld geflossen ist, lässt sich nicht sagen. In der vergangenen Woche stellte sich heraus, dass Hickey, der Empfänger, im Sommer einen Oldtimer angeboten hat, für 40.000 Dollar. Wofür braucht er das Geld? Und Smitty, der Nierenspender, hat eine kriminelle Drogen-Vergangenheit, Schwierigkeiten im Job und Schulden bei seiner Frau. Ein Beweis ist das natürlich alles nicht. "Ihr werdet keinen Beweis finden", sagt Smitty. "Und niemand kann Bob meine Niere wieder wegnehmen." SPIEGEL ONLINE 02.11.04

204

In der Schweiz ist ein Gesetz in Arbeit, das alle Begrenzungen aufheben soll. 25.000 Bundesbürger sind auf Dialysemöglichkeiten angewiesen. Eine Nierentransplantation kostet in der Bundesrepublik ca. 50.000,- €, da keine Kosten für einen »Organkauf« anfallen, plus ca. 10.000 € pro Jahr an Nachsorgekosten. Die Krankenkassen sparen an einer solchen Operation trotz dieser Operationskostenhöhe viel Geld, weil ein einziges Jahr Dialyse Kosten in Höhe von mindestens 25.000,- € bis 45.000,- € verursacht; das sind bei der augenblicklichen Wartezeit für eine Ersatzniere von mindestens drei Jahren bis zu 135.000 €. Um auf diesen Misstand des herrschenden verheerenden Organmangels hinzuweisen und so ein Fanal zu setzen, hat der Transplantations-Chirurg und damalige Leiter des Transplantationszentrums Lübeck, Prof. Dr. Hoyer, 1996 einem ihm völlig unbekannten 29-jährigen Bayern eine seiner eigenen Nieren gespendet! „’Wenn ich, der ich genau weiß, wie so eine Transplantation abläuft, mich selbst dazu entschließe, dann muß es doch unbedenklich sein. ... Organspende ist die moralische Pflicht eines jeden, der die uneingeschränkten Möglichkeiten einer modernen Medizin auch für sich in Anspruch nehmen möchte,’ so Hoyer, für den Organspende ’Nächstenliebe’ bedeutet“ (Harburger Rundschau 01.07.97). Ein Kollege von Hoyer, der Chirurg Brölsch, machte den Vorschlag, da der Verkauf von Organen in Deutschland verboten ist, Nierenspendern einen Steuerfreibetrag von 10.000 € jährlich zuzuerkennen, weil sie mit ihrer Organspende sehr erheblich zur finanziellen Entlastung des Gesundheitssystems beitrügen. (Bei einem Steuersatz von 33,33 % wäre das ein Gegenwert von 3.333 €: ein relativ unerheblicher Betrag für jemanden mit diesem Steuersatz; wer aus Geldnot seine Niere verkaufen will, hat bei seinen Schulden meist einen Steuersatz von nur 0-10 %. Da lohnt sich eine solche steuerliche Anerkennungsprämie gar nicht.) Spenderausweise gibt es beim Roten Kreuz, beim ADAC, den Ortskrankenkassen, einer Gesundheitsbehörde oder dem Arbeitskreis Organspende.8 In Bayern versucht man seit 2004 durch die Schulung von Lehrern zu erreichen, dass sie bei ihren Schülern den Gedanken für die Notwendigkeit von Organspenden verstärkt wecken.

"Die Dritte Welt ist die Organbank der Reichen. Menschen verkaufen aus Armut ihren Körper Das Geschäft mit der Verzweiflung Kala und Shekar Kumar waren verzweifelt. Das Ehepaar hatte kein Geld und keine Arbeit. Eines Morgens reihten die beiden sich in die Schlange vor der Pendalia-Klinik in der südindischen Stadt Madras ein. Dort warten jeden Tag Menschen, die nichts mehr zu verkaufen haben außer einen Teil von sich selbst - eine Niere. Das Paar wurde angenommen und operiert. Kala Kumar: `Mit dem Geld will ich meinem Sohn eine Ausbildung ermöglichen. Die haben wir nie gehabt.' Die Kumars sind zwei von etwa 2000 Menschen, die in Indien jährlich eine Niere verkaufen. Der Marktpreis liegt bei 1500 US-Dollar (rund 2500 Mark); das entspricht dem sechsfachen durchschnittlichen Jahreseinkommen. Indien gilt als der größte Markt für menschliche Organe. Eine Hornhaut ist für 5000 Dollar zu haben, ein Stück Haut für 20 Dollar. Der Handel ist legal und nimmt wegen der extremen Armut im Land ständig zu. Die Käufer sind oft wohlhabende Araber oder Inder. In Indien gibt es pro Jahr 80 000 neue Fälle von Nierenversagen, aber nur 600 Dialysegeräte zur Blutwäsche, mit denen die Kranken am Leben erhalten werden. Da sind viele auf den Kauf des lebenswichtigen Organs angewiesen. Solche Organe werden mit verbesserten Konservierungslösungen immer länger haltbar gemacht. Auch in anderen Ländern blüht das Geschäft mit der Verzweiflung. Der größte südamerikanische `Lieferant' ist Brasilien. Der brasilianische Erzbischof Luis Bambaren: `Es gibt in Südamerika nachweislich Organisationen, die Kinder kaufen oder entführen, um sie zu ermorden und ihre Organe zu verkaufen.' Rosalie Bertell von der Internationalen Kommission für Mediziner in Genf zitierte Berichte aus Mexiko, nach denen dort in `Masthäusern' Straßenkinder wieder aufgepäppelt werden, bevor sie getötet und `ausgeschlachtet' werden. Auf den Philippinen wurde den zum Tode verurteilten Sträflingen für eine Nierenspende eine Strafmilderung gewährt. In Japan akzeptieren Kredit-Haie Nieren als Schuldentilgung. In Ägypten ist eine Niere für 10.000 bis 15.000 Dollar zu haben. Auch hier ist der Verkauf legal. Von chinesischen Ärzten wurde bestätigt, daß die Volksrepublik Nieren von hingerichteten 8

Arbeitskreis Organspende / Postfach 1562 / 63235 Neu-Isenburg / Tel.: 06102/3590

205

Sträflingen ohne deren Wissen gegen Devisen an Patienten aus Hongkong verkauft. Dort gibt es so wenig Spender, daß die Wartezeit für eine Operation statistisch 60 Jahre beträgt. Grund dafür ist der traditionelle chinesische Glaube, daß die Seele nach dem Tode keinen Frieden finden kann, wenn der Körper zerstückelt wird. Die Transplantationen kosten zwischen 17.000 und 33.000 Dollar. Nach offiziellen Angaben werden in China pro Jahr etwa 700 Menschen wegen Verbrechen wie Mord, Raub, Schmuggel oder Bestechung zum Tode verurteilt und mit einem Schuß in den Kopf getötet. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schätzt die Zahl jedoch wesentlich höher ein. Ärzte aus Hongkong vermuten, daß auch politische Häftlinge, darunter Verurteilte der gewaltsam niedergeschlagenen Demokratiebewegung von 1989, unter den Erschossenen waren, deren Nieren verkauft wurden. China bestreitet die Vorwürfe. Organhandel gibt es auch vor unserer Haustür. 1989 gab es in England einen Skandal, als Ahmet Koc (38), ein Landarbeiter aus der Osttürkei, nach einer vermeintlichen Gesundheitsüberprüfung aus der Narkose erwachte und eine Niere weniger hatte. Koc wurde zurück in die Türkei geschickt, für seine Niere bekam er 4000 Dollar. ... Sechs private Londoner Kliniken versorgten damals wohlhabende türkische, iranische oder indische Patienten mit von Türken gekauften Nieren. Inzwischen wurde Organhandel in England unter Strafe gestellt. In Deutschland machte 1988 Baron Rainer Rene Adelmann von Adelmannsfelden Schlagzeilen. Er schickte Briefe an bankrotte Unternehmer, in denen er etwa 75 000 Mark für eine Niere bot. In Deutschland gibt es bisher kein Gesetz, das Transplantationen und den Organhandel regelt. Schlimmer als westeuropäische Staaten trifft das Problem jedoch die Dritte Welt. Entwicklungsländer als Organreservoir für Reiche. Vertreter der Weltgesundheitsorganisation in Genf sagten, in der Dritten Welt nehme der Verkauf von Organen alarmierende Ausmaße an. Offizielle Zahlen gibt es nicht, weil die meisten Beteiligten schweigen. ... Vom internationalen Geschäft mit menschlichen `Ersatzteilen' profitieren auch skrupellose Händler, die für die Vermittlung von Organen saftige Provisionen kassieren. Körperteil-Makler George Abouna, Leiter der Transplantationsabteilung der Universität Kuweit, befürchtet, daß der in vielen Staaten illegale Organhandel vom organisierten Verbrechen übernommen wird. Denn das Geschäft lohnt sich. Die Nachfrage steigt ständig. Während viele den Verkauf von Organen als Ausbeutung der Ärmsten der Armen in den Entwicklungsländern verurteilen, debattiert man in den USA über das Recht für jeden, seine eigenen Organe zu verkaufen oder zumindest eine Entschädigung für entnommene Organe zu bekommen. Wie in den meisten Ländern gibt es dort nicht genug Organspender. In den Vereinigten Staaten sterben jährlich mehr als 2.000 Menschen, während sie auf eine Transplantation warten. Knapp 15.000 Operationen werden pro Jahr durchgeführt, 23.000 Patienten stehen auf der Warteliste. Um die Bereitschaft der Menschen zu steigern, im Falle ihres Todes Organe zu spenden und damit einen schwarzen Markt für lebenswichtige Körperteile zu verhindern, ist eine staatliche Entschädigung für die Hinterbliebenen im Gespräch, zum Beispiel zur Deckung der Beerdigungskosten. Der Handel mit Organen ist verboten. Dr. James Light vom Washington Hospital Center, einer der größten Transplantationseinrichtungen der USA, schätzt jedoch, daß 15 bis 20 Prozent der Menschen, die für Verwandte oder Freunde eine Niere gespendet haben, vom Empfänger Geld geboten bekommen haben. Nach Ansicht des indischen Arztes Dr. Reddy ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Amerikaner und Europäer sich mit dem Thema Organverkauf auseinandersetzen müssen. `Der Bedarf an Nieren steigt weiter', sagt er. `Immer mehr Menschen hängen an Dialysegeräten.' Eine Erhöhung der Spenderbereitschaft im Todesfall soll Erleichterung bringen. In Ländern wie Indien und Ägypten ist dies aus religiösen Gründen nicht möglich, so daß der Handel mit Nieren dort weiter boomen dürfte. `Es ist einfacher, Organe von lebenden Spendern zu entnehmen', sagt Dr. Malaka Fouad aus Kairo. `Denn die Toten respektieren wir seit der Zeit der Pharaonen - vielleicht mehr als die Lebenden.'" SAD (HH A 22.10.91) "`Kontrollierte Verzweiflung': Arbeitsloser will Organe verkaufen dpa New York. Ein verzweifelter Arbeitsloser in New York will für 25.000 Dollar (40.000 Mark) eine Niere oder einen Lungenflügel verkaufen, um seine drückenden Schulden loszuwerden, und hat nach eigenen Angaben bereits Kontakt mit einer kaufwilligen Deutschen.

206

Thomas Frey annoncierte in einem New Yorker Anzeigenblatt, nachdem andere Blätter die Anzeige abgelehnt hatten. `Ich werde obdachlos und könnte ein Verbrechen begehen, etwa Drogen verkaufen', sagt er. `Aber das will ich nicht. Ich will ein guter Bürger sein und meine Schulden bezahlen.' Seine Anzeige bezeichnete er als einen `Akt kontrollierter Verzweiflung', der ihm helfen könnte, 20.000 Dollar Schulden zurückzuzahlen. Dem 28jährigen, der vor einem Jahr seinen Job bei einem Kurierdienst verlor und keine Arbeitslosenunterstützung mehr erhält, schwant, daß er mit dem Gesetz in Konflikt geraten könnte. Die Anwältin Judy Doesschate von der New Yorker Gesundheitsbehörde bestätigte, daß es ein Vergehen sei, wissentlich ein Organ zu verkaufen, bedroht mit bis zu einem Jahr Haft. Frey meint, um das Gesetz zu umgehen, könnte er seine Niere spenden, und die Empfängerin könnte ihm im Gegenzug 25 000 Dollar schenken, oder er könnte seine Niere für vielleicht 99 Jahre verpachten. Die Kaufinteressentin habe ihm erklärt, sie brauche nach Auskunft der Ärzte binnen eines Jahres eine Nierentransplantation." (Harburger Anzeigen und Nachrichten 24.01.92) Das Ganze erinnert an das mittelalterliche deutsche Sprichwort: „Wer nichts im Beutel hat, muss mit der Haut zahlen.“ Nur dass es jetzt in durch die Fortschritte der Medizin verschärfter Form gilt, denn damals war »nur« damit gemeint, dass ein Schuldner, der nicht in der Lage war, seine Schulden zu bezahlen, diese durch Arbeit beim Gläubiger abtragen musste. Und ein jahrelanges Schuldsklavendasein war nicht lebenswert, weiß Gott nicht! Das ging dem Schuldner ganz unschön an die Nieren, aber eben »nur« im übertragenen Sinne; jetzt aber, in unserer modernen Zeit mit ihrer teilweise praktizierten „VampirMedizin“, wo einer glaubt, sich auf Grund seines Reichtums und der Armut des anderen diessem seine Lebenskraft teilweise abkaufen zu können, hat das Sprichwort für einige Unglückliche seine im realen Wortsinn einschneidende Aktualität wiedererlangt. "Reportage über die skandalösen Geschäfte mit Organen Ersatzteillager Mensch Ghowindbhai ist ein 26jähriger Inder, Analphabet aus einem Dorf, von einer chronischen Krankheit geplagt. In Bombay geriet er an Leute, die ihm zu helfen versprachen. Aber diese Leute zogen ihn buchstäblich über den Tisch - über den Operationstisch. Als der junge Mann aus der Narkose erwachte, fehlte ihm eine Niere. Er bekam eine Handvoll Geld, umgerechnet 2500 Mark, und wurde nach Hause geschickt. Seine Niere hat jetzt ein wohlhabender Araber. Ghowindbhai war nämlich an professionelle Organhändler geraten. ... Die Reporter haben herausgefunden, daß auch deutsche Patienten sich in Krankenhäusern der Dritten Welt Organe einpflanzen lassen. Die Spender werden dabei manchmal, wie der arme Ghowindbhai, auch übers Ohr gehauen. Organverpflanzungen sind aus der Sicht der Patienten zweifellos ein großer medizinischer Fortschritt. Aber seit einigen Jahren haben sich im In- und Ausland obskure Figuren des Geschäfts mit menschlichen Organen angenommen. In der Bundesrepublik bewegen sie sich damit in einem rechtsfreien Raum. Kein Gesetz regelt bisher diesen ethisch außerordentlich sensiblen Bereich. Nicht anders ist es mit abgetriebenen oder zu früh geborenen Embryos oder Föten, die als `Material' für Forschungszwecke, aber auch für Transplantationen sehr gesucht sind. Öffentlich wird immer wieder bestritten, daß man auch in Deutschland auf dem `freien Markt' jederzeit einen Fötus kaufen könne. Aber man kann. Das will Silvia Matthies in ihrer Reportage beweisen. ..." (HH A 19.04.89) "Fötus weinte SAD Rom - Schock in einer Klinik in Modena (Italien): Als einem angeblich totgeborenen Fötus die Hirnanhangdrüse entnommen werden sollte, fing die Frühgeburt (sechster Monat) an zu weinen. Der kleine Junge lebte noch 24 Stunden. Jetzt ermittelt das Gesundheitsamt gegen die behandelnden Ärzte wegen Fahrlässigkeit." (HH A 30.09.91) "Sohn verunglückt - Organe entnommen HA/ann Berlin - Lucie John (66) aus Berlin wußte, daß ihr Sohn Bernd Dieter (33) während seines Spanienurlaubs mit dem Auto verunglückt war und in Barcelona im Krankenhaus lag. Ein Arzt hatte es der Mutter am Telefon mitgeteilt. Was sie aber nicht ahnte: Ihr Sohn starb kurz nach dem Anruf an den Folgen des Unfalls. Herz, Nieren, Lungen, Leber und Augen wurden dem Toten ohne Rücksprache mit den Angehörigen entnommen. Erst fünf Tage nach dem Unglück, als Bernds Schwester nach Barcelona flog und vor dem leeren

207

Bett des Bruders stand, erfuhr sie: Bernd Dieter John ist tot, seine Organe wurden für Transplantationszwecke freigegeben. Die Urne wurde nach Berlin geschickt. In Spanien dürfen Ärzte ohne Einverständnis der Angehörigen Organe von Toten entnehmen. Dieses Gesetz gilt auch für Ausländer. Die sogenannte Widerspruchsregelung gibt es auch in Österreich, Italien, Frankreich, Griechenland, Portugal und der Schweiz. `Wer ins Ausland fährt und im Todesfall seine Organe nicht spenden möchte, sollte dies notieren und den Zettel stets bei sich tragen. Dann ist man vor unfreiwilliger Organentnahme sicher', sagt Gabriele Wollflast, Juristin an der Universität Göttingen." (HH A 19.09.91) "Mord-Uni: Chef gab den Auftrag Obdachlose in Kolumbien für Versuche getötet Eine grauenhafte Meldung überschattete den Karneval in der kolumbianischen Hafenstadt Barranquilla. Im Universitätsgebäude waren die Leichen von elf Obdachlosen gefunden worden. Gerüchte, wonach sie für die Medizin sterben mußten, wollten nicht verstummen. Jetzt kam die Wahrheit ans Licht. Sie ist schlimmer als befürchtet. Von Walter Unger SAD Bogotá - Als die Fahnder den 34jährigen Chef der Sicherungstruppe der Universität von Barranquilla festnehmen wollten, kamen sie fast zu spät. Bevor bei Petro Vilora die Handschellen klickten, schluckte er den Inhalt einer Flasche Insektengift. Dem Tode nahe kam er in die Intensivstation der Universitätsklinik. Die Ärzte konnten ihn retten. Nun hat er im Krankenbett gestanden. Was er der Polizei ins Protokoll diktierte, erschütterte selbst die an Greuel gewöhnten Beamten. Vilora: `Ich allein habe mehr als 50 Menschen totgeschlagen.' Wieviele Opfer auf das Konto seiner 14 Kollegen gehen, die ebenfalls festgenommen wurden, konnte er nicht beziffern. `Wir suchten uns nur Opfer aus, von denen wir annahmen, daß sie keine Angehörigen hatten und nicht vermißt würden.' Vilora weiter: `Weil Schußwunden aufgefallen wären, erschlugen wir alle.' Entschuldigend fügte er hinzu: `Ich wußte, daß alle Schuld auf mich fallen würde. Aber ich bin nicht allein verantwortlich - ich erhielt die Mordaufträge vom Direktor, von Professor Navarro.' Navarro blieb vorerst auf freiem Fuß, obwohl in der Leichenhalle seines Instituts noch zwölf weitere Leichen gefunden wurden, deren Herkunft unklar ist. Einige waren bereits zerlegt, in Sezierschüsseln fand die Polizei Gliedmaßen. Allen Leichen waren die Fingerkuppen, die eine Identifizierung möglich gemacht hätten, abgeschnitten worden. Navarro bestritt jedoch, mit den Morden irgend etwas zu tun zu haben: `Alle Leichen, die zum Sezieren gebraucht werden, wurden legal gekauft.' ..." (HH A 07.03.92) "Außer in den Niederlanden, Island, Malta, Liechtenstein und Irland gibt es überall im europäischen Ausland Transplantationsgesetze. Die regeln die Organ-Entnahme nach zwei Modellen: o Bei der Einwilligungslösung müssen die Angehörigen9 ihre Zustimmung ausdrücklich erteilt haben, bevor die Organe eines Hirntoten entnommen werden dürfen. Oder es liegt eine verbindliche Erklärung des Verstorbenen vor, etwa in Form eines Organspenderausweises. Obwohl es hierzu keine gesetzliche Grundlage gibt, praktizieren die deutschen Transplantationszentren diese Regelung seit über zwanzig Jahren. o Bei der Widerspruchsregelung muss der Verstorbene zu Lebzeiten erklärt haben, daß er einer Organentnahme nicht zustimmt. Oder die Angehörigen verweigern diese Operation. Liegt kein Einspruch vor, müssen die Ärzte nicht rückfragen, bevor sie verpflanzbare Organe entnehmen. Diese Regelung gilt zum Beispiel in Österreich und, zumindest formell, noch in den neuen Bundesländern. Eine entsprechende DDR-Verordnung aus dem Jahre 1975 hat der Einigungsvertrag nicht ausdrücklich annulliert. Dennoch halten sich auch die ostdeutschen Transplantationszentren an die Einwilligungslösung. ... Nicht einmal die Transplanteure sind sich über den richtigen Kurs bei einem Organspendegesetz einig. ... Als Kompromiß schlägt die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Transplantationszentren eine Informationslösung vor. Hier müssen die Angehörigen von der beabsichtigten Organentnahme 9

„Nächste Angehörige“ im Sinne von § 4 II TPG sind in der Rangfolge ihrer Aufzählung: 1. Ehegatte, 2. volljährige Kinder, 3. Eltern(teil), 4. volljährige Geschwister und 5. Großeltern. Diesen wird eine volljährige Person gleichgestellt, „die dem möglichen Organspender bis zu seinem Tode in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahegestanden hat; sie tritt neben den nächsten Angehörigen“, so dass ein Lebensabschnittspartner nicht ausgeschlossen ist.

208

unterrichtet werden. Eine förmliche Zustimmung der Verwandten ist dann nicht notwendig. Schweigen wird als Einwilligung interpretiert. Jeder Einspruch, sei es durch ein Dokument des Verstorbenen oder durch die Angehörigen, verbietet die Explantation. ... Die ethische Grundlage der Organspende ist in Deutschland kaum noch strittig. Die katholische Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche haben 1990 eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der es heißt: »Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod ein Zeichen von Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten.« ... Die beiden großen christlichen Kirchen haben keine Schwierigkeiten, den Hirntod als eine Form des »exitus letalis« anzusehen - jenes Moments, in dem die Seele den sterbenden Menschen verlassen hat (exitus), was für seinen Körper den Tod bringt (letalis). »Daß das irdische Leben des Menschen unumkehrbar zu Ende ist, wird mit der Feststellung des Hirntodes zweifelsfrei erwiesen«, heißt es in der gemeinsamen Kirchenerklärung von 1990. ... 1989 räumte die Bundesregierung ein, eine Firma »Asiatransplant« biete in der Bundesrepublik Nieren von lebenden Spendern für 100.000 Mark an; ein Experiment von »Stern TV« in den neuen Bundesländern zeigte vor wenigen Wochen, daß dort manche Bürger nicht zögerten, eine gesunde Niere für 7500 Mark zu verkaufen.“ (STERN 7/91) "Deutsche Hospizhilfe mit Sitz in Buchholz fordert: `Keine Organspende ohne Zustimmung' wer Harburg/Buchholz. Viele Schwerkranke warten jahrelang auf eine Organspende, für manche bedeutet diese Zeit sogar den sicheren Tod. Denn Organspenden sind in den alten Bundesländern Mangelware. Ein Gesetzentwurf zur Organspende soll Abhilfe schaffen. Er sieht die Organentnahme bei `hirntoten' Unfallopfern auch ohne Zustimmung der Betroffenen selbst oder deren nächsten Angehörigen vor. Wer das nicht will, kann Widerspruch einlegen (Widerspruchslösung) und muß dann aber stets für den Fall des Falles ein entsprechendes Formular bei sich tragen. Professor Johann-Christoph Student von der Deutschen Hospizhilfe mit Sitz in Buchholz ... ist entschiedener Kritiker des Entwurfes. Den Tod des Gehirns als Ende des Menschlichen zu betrachten, hält er für `ethisch problematisch'. Damit werde der Wert des Gehirns als Sitz typischer menschlicher Wesensart überbetont. Student stellt dem Hirntod den Tod des Gesamtorganismus gegenüber. Prinzipiell begrüßt Student Organspenden als `sinnvollen Akt der Unterstützung Schwerstkranker.' Er meint aber, daß Transplantationen kein Allheilmittel seien. Viele Kranke seien auch danach weiterhin chronisch krank. `In der geplanten Gesetzgebungs-Initiative spiegelt sich einmal mehr die Mißachtung des sterbenden Menschen in unserer Gesellschaft wider', sagte Student. Anstatt mehr für die Humanisierung des Sterbens zu tun, werde statt dessen das Recht auf ein riskantes Lebenserhaltungsmanöver betont." (Harburger Anzeigen und Nachrichten 20.01.92) "Toter steckte sechs Menschen mit Aids an az München - Sie hofften auf Leben, aber was ihre Rettung schien, brachte den Tod. In den USA wurden sechs Menschen mit Aids angesteckt, weil sie Organe und Gewebe eines HIVpositiven Mordopfers erhielten. Drei von ihnen sind bereits gestorben. Jetzt geht bei deutschen Patienten die Angst um: Kann das auch bei uns passieren? Claudio Denzlinger, Arzt im Münchner Klinikum Großhadern: `Blut- und Organspenden werden zwar auf Aids getestet. Doch ein Restrisiko bleibt. Unter unglücklichen Umständen ist eine HIVInfektion bei Organverpflanzungen auch bei uns möglich.' In den USA erregt der Fall seit Tagen die amerikanische Öffentlichkeit. Der 22jährige William Norwood aus Virginia war von Gangstern überfallen und grausam mißhandelt worden. 23 Stunden kämpften die Ärzte um sein Leben - vergebens. Der Mann starb, aber seine Organe sollten `weiterleben'. Insgesamt 56 Menschen erhielten Gewebe-Transplantate von Norwood. Drei US-Bürger, die sein Herz und seine Nieren bekamen, sind bereits tot. Bei drei weiteren Empfängern wurde der Virus nachgewiesen. Die anderen 50 Patienten zittern noch. Wie viele von ihnen angesteckt wurden, ist unklar. Sicher scheint nur: Mordopfer William Norwood, der keiner Risiko-Gruppe angehörte, wurde

209

vermutlich, kurz bevor er starb, im Krankenhaus durch eine verseuchte Blut-Transfusion infiziert. Martin Cader vom Gesundheitsministerium in Virginia: `Blutspenden werden auf Aids getestet, die Tests sind verläßlich.' Der Münchner Arzt Claudio Denzlinger sagt dagegen: `Es gibt eine diagnostische Lücke von drei bis zwölf Wochen, in der der Virus nicht erkennbar ist.'" (HH A 25.05.91) Manche potentiell vorhandenen Krankheiten kann man innerhalb des kleinen Zeitfensters, das für eine Transplantation überhaupt nur offen steht, nicht diagnostizieren, so dass immer ein Restrisiko bleibt: „Tollwut durch Organspende Medizin-Panne: Empfänger erhielten infizierte Transplantate - drei Patienten in Lebensgefahr. Neu-Isenburg - Erstmals haben sich in Deutschland bei Organtransplantationen drei Empfänger mit dem tödlichen Tollwut-Erreger angesteckt. Sie sind in einem "äußerst kritischen Zustand". Drei weiteren Empfängern geht es gut. Alle sechs hatten Ende 2004 Organe einer offensichtlich mit Tollwut infizierten Frau (26) erhalten, deren Erkrankung damals nicht bekannt war. Lebensbedrohlich erkrankt sind eine junge Frau in Hannover, die eine Lunge erhalten hatte, ein Patient in Hannoversch Münden, dem eine Niere verpflanzt worden war, sowie ein Mann in Marburg, der die zweite Niere der Spenderin sowie die Bauchspeicheldrüse erhalten hatte. Die Patientin in Hannover zeigte nach der Transplantation "Zeichen einer Entzündung des Gehirns", so der Transplantationsmediziner Axel Haverich. Der Marburger Patient hatte die Uniklinik bereits verlassen und kam am Montag mit schweren Krankheitssymptomen zurück. Ohne Tollwutsymptome sind ein Patient, der in Heidelberg die Leber und zwei Patienten, die in Mainz die Augenhornhäute bekommen hatten. Inzwischen wurden vorsorglich alle Personen geimpft, die mit der Spenderin und den Infizierten in Kontakt gekommen waren. Die Spenderin war erst im Oktober von einer Indien-Reise zurückgekehrt. Ob sie dort von einem Tier gebissen wurde, sei ungewiß. Die Frau habe keine Tollwutsymptome gehabt. Sie starb Ende des Jahres nach Drogenkonsum an Herzstillstand. Die Organe wurden ihr an der Uniklinik Mainz entnommen. Dabei seien alle vorgeschriebenen Untersuchungen durchgeführt worden, versichert der Ärztliche Klinik-Chef Manfred Thelen: "Die Diagnostik auf eine Tollwuterkrankung vor einer Transplantation ist unmöglich." Dies sei "ein schreckliches Unglück". In Deutschland war bislang kein Fall bekannt, in dem Organempfänger mit Tollwut infiziert wurden. In den USA starben 2004 vier Patienten an der Krankheit, denen infizierte Organe vom selben Spender übertragen worden waren. Es war der erste bekannte Fall. Ein Restrisiko bestehe bei Transplantationen immer, sagt Prof. Xavier Rogiers (47), Chef des Transplantationszentrums im Hamburger UKE. In den vergangenen zehn Jahren gab es zwei Fälle von Tollwut in Deutschland. Die Patienten hatten sich in Indien und Sri Lanka angesteckt. Beide starben. ap/HA“ (HH A 17.02.05) "Drüsen verkauft? `Report': DDR exportierte Hirn-Teile dpa München - In der ehemaligen DDR ist nach Informationen des Bayerischen Fernsehens über Jahre hinweg ein schwunghafter Handel mit den Organen toter DDR-Bürger betrieben worden. `Report aus München' berichtete gestern abend, 30.000 Hirnanhangdrüsen (Hypophysen) seien pro Jahr nach Schweden, Dänemark und der Schweiz verkauft worden. Ohne Wissen der Angehörigen sollen von nahezu jedem Leichnam in der DDR die Hypophysen entnommen und auf ihre `Verwertbarkeit' überprüft worden sein. Dieser Organhandel soll der DDR-Außenhandelsbank jährlich Devisen in Höhe von 1,5 Millionen Mark eingebracht haben." "Organe vom Henker afp Washington - Die Volksrepublik China benutzt nach Angaben der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch/Asia hingerichtete Häftlinge als Organspender. Manchen Menschen würden bereits Organe entnommen, noch bevor sie tot seien. `Einige Erschießungen werden absichtlich verpfuscht, damit die Gefangenen noch leben, wenn ihnen die Organe entnommen werden.'" „Menschenrechte

210

Hingerichtet und ausgeschlachtet In China hat sich aus den Massenexekutionen ein lukrativer Handel mit Organen und eine regelrechte Transplantationsindustrie entwickelt. Getötet wird dabei genau nach Bedarf ... Noch auf dem Hinrichtungsplatz entnehmen die Ärzte die bestellten Organe. Meistens auf der Ladefläche eines LKW. ... An einem Tag im März 1986 wurde Dr. Miao Chen vom Parteisekretär seiner Klinik zu einer speziellen Mission befohlen. Mit einem Kollegen und zwei Studenten wurde er in ein entlegenes Gefängnis gefahren. Sie wurden in einen Nebenraum des Gefängnisses geführt. Dort lag ein Mann auf einer Pritsche. Er lebte noch, war aber bereits unter Vollnarkose. Dr. Chen wurde befohlen, dem Häftling den Leib zu öffnen und ihm beide Nieren zu entnehmen. Die Organe wurden sofort mit einem Militär-Hubschrauber in eine Transplantationsklinik geflogen. Der junge Arzt traute sich nicht, Fragen zu stellen, doch er hörte, wie sich zwei Offiziere über den Häftling unterhielten: »Morgen wird er sowieso erschossen.« ...“ (STERN 05.03.98) "Hinrichtung nach Maß - Todeszellen als Organbank SAD London - Chinas Todeszellen sind die schaurigste Organbank der Welt. Die meisten Hinrichtungen finden auf ärztliche Vorbestellung `nach Maß' statt, damit das Opfer hinterher ausgeschlachtet werden kann. Wenn es mit einem Transplantat besonders eilt, werden Todeskandidaten bei lebendigem Leibe seziert. Das deckte jetzt die BBC-Reporterin Sue Lloyd-Roberts auf. Sie hatte sich in China als `reiche Amerikanerin' ausgegeben, um für ihren `kranken Vater' eine Spenderniere zu finden. Sie bekam ein Angebot über 30.000 Dollar - in bar! Im Reich der Mitte, wo fast 70 Vergehen mit dem Tod bestraft werden, sterben pro Jahr schätzungsweise 10.000 Menschen von Henkershand. Ein Arzt braucht sich bloß den passenden Todeskandidaten auszusuchen, der dann maßgerecht exekutiert wird - das heißt: Benötigt der Doktor ein inneres Organ, wird das Opfer mit einem Kopfschuß umgelegt. Ist dagegen zum Beispiel eine Netzhaut gefragt, stirbt der Delinquent per aufgesetztem Herzschuß. In eiligen Fällen wie für einen hohen Parteifunktionär oder einen reichen Ausländer entnimmt der Chirurg das Organ auch dem noch lebenden Häftling. Die Reporterin zitiert einen Arzt mit den Worten: `Im Gefängnis bekomme ich die frischesten Organe.'" „China: Organe von Hingerichteten rtr Washington – Ein chinesischer Arzt hat dem US-Kongress bestätigt, dass in China hingerichteten Häftlingen Organe für Transplantationen entnommen werden – auch dann schon, wenn sie noch nicht klinisch tot gewesen seien. Die chinesische Regierung sprach von Verleumdung.“ (HH A 29.06.01) „Organhandel ap Hongkong – Ein Krankenhaus im Süden Chinas handelt nach einem Zeitungsbericht mit Organen hingerichteter Häftlinge. Eine auf diesem Wege ermöglichte Lebertransplantation werde mit umgerechnet 73 000 Mark berechnet. Bisher seien rund 40 Eingriffe durchgeführt worden, berichtete die Zeitung ‘South China Morning Post‘“. (HH A 10.01.00) 10 "Geschäft mit Transplantaten soll strafbar werden Organhandel ist Mord Straßburg - Das Europäische Parlament will in der EG ein Verbot des kommerziellen Handels mit menschlichen Organen durchsetzen. Ein grundsätzliches Verbot ist ferner für die Entnahme von Organen bei Minderjährigen oder entmündigten Personen, von wenigen streng geregelten Ausnahmen abgesehen, geplant. Organe, deren Ursprung nicht eindeutig bestimmt werden kann, dürfen danach weder eingeführt noch verwendet werden. ... In Form eines europäischen Verhaltenskodexes, so die Parlamentsentschließung, solle der Grundsatz sowohl der Unverkäuflichkeit menschlicher Organe als auch der Anonymität des Spenders gegenüber dem Empfänger geregelt werden. ... Hintergrund der Straßburger Initiative ist der wegen des chronischen Mangels an Transplantaten in In dem STERN-Artikel: „Pause in der Fabrik des Todes“ vom 15.06.00 findet sich der Satz: „Die USA aber, allen voran Texas, gehören zu den sechs Staaten, die diese ‘Barbarei‘[der Verhängung der Todesstrafe; d. Verf.] zulassen – neben dem Iran, Nigeria, Saudi-Arabien und dem Jemen. Selbst der Weltmeister im Hinrichten, China, hat sie vor kurzem abgeschafft.“ Im Deutschlandfunk wurde aber noch nach diesem Datum über Todesurteile aus China berichtet!

10

211

den letzten Jahren weltweit stark angestiegene gewerbliche Handel mit Organen. Wegen der damit verbundenen hohen Gewinnspannen ist es in mehreren Entwicklungsländern aber auch in Industriestaaten immer wieder zur Verstümmelung und Ermordung von Föten, Kindern und Erwachsenen gekommen, um menschliche Körperteile zu verkaufen, heißt es im Parlamentsbericht. Die vom sozialdemokratischen französischen Berichterstatter, dem bekannten Krebsforscher Leon Schwarzenberg genannten Beispiele muten wie schlimmste Visionen schlechter Horrorfilme an. Amerikaner adoptieren Kinder aus Peru, nur um sie im brutalsten Sinne des Wortes ausschlachten zu können. In Argentinien wurden Kranken in einer psychiatrischen Klinik Blut, Hornhaut und andere Organe entnommen und 1.395 Patienten verschwanden ganz. 3.000 in den letzten fünf Jahren von italienischen Familien adoptierte brasilianische Kinder sind verschwunden. In Einzelfällen konnten Gerichte ihre Spuren bis in Privatkliniken verfolgen, wo ihnen Organe entnommen wurden. Diesen Praktiken will das Europäische Parlament dadurch weitgehend den Boden entziehen, daß der Organhandel in Zukunft grundsätzlich wie Mord bewertet und bestraft werden soll. ..." (Das Parlament 17.10.93) "Organhandel Die Mafia tötet Kinder Italiens Sozialminister schlägt Alarm Der Verdacht besteht schon lange. Jetzt hat Italiens Sozialminister Antonio Guidi erstmals öffentlich bestätigt: Die Mafia adoptiert Kinder in der Dritten Welt, schmuggelt sie nach Europa. Hier werden sie getötet und in Geheimkliniken ihre Organe entnommen. Von ANDREAS ENGLISCH SAD Rom - Bisher galten die Gerüchte als reinstes Gruselszenario überdrehter Kinder in Brasilien. In einer sensationellen Erklärung vor der Sozialkommission des Abgeordnetenhauses sagte Italiens Minister für Soziales und Familie, Antonio Guidi: `Der Verdacht ist leider kein Lügenmärchen, sondern die Wahrheit.' ... Eine Zeugin sei die italienische Konsulin in Recife (Brasilien) ... . Sie habe ihm bestätigt, daß die Mafia einen Organhändlerring organisiert hat und systematisch Kinder tötet. Guidi wies außerdem darauf hin, daß Interpol nach 3.000 Kindern aus Brasilien fahndet, die zur Adoption freigegeben wurden und seitdem verschwunden sind. Laut Interpol `kostet' ein Kind in Südamerika nicht mehr als 4.000 US-Dollar auf dem Schwarzmarkt, wobei die Mütter knapp 100 Dollar erhielten. Interpol, so Guidi, habe ferner mehrere Fälle von Kindern nachgewiesen, die vermißt waren, nach einigen Tagen plötzlich wieder auftauchten mit noch frischen Operationswunden. Ihnen fehlte meistens eine Niere. ... Verdächtig erscheint den Vermittlern folgendes: In der Regel verlangen Eltern aus der ersten Welt Kleinkinder oder Neugeborene. Seit knapp sechs Monaten häufen sich aber die Anträge zur Adoption von Kindern, die stark bis sehr stark behindert und im Alter von 8 bis 12 Jahren sind. Minister Guidi: `Wir glauben, daß die Kinder von der Mafia nach Italien geschmuggelt werden, um von hier aus ihre eigentliche Bestimmung zu erreichen.' ... Nach Ansicht der Berater des Ministers sollen Gebote von bis zu 100.000 Mark für lebenswichtige Organe keine Seltenheit sein. Besonders grauenhaft an diesem Handel, so glauben die Experten im Guidi-Team, ist die Tatsache, dass die Kinder sozusagen bei lebendigem Leib ausgeschlachtet werden. Da nahezu alle menschlichen Organe nur mit erheblichen Schwierigkeiten auch nur für kurze Zeit konserviert werden können, wäre eine Transplantation aus einem noch lebenden Menschen nahezu ideal. Der Patient, der die Organe empfängt, könnte im gleichen Saal behandelt werden, in dem das Kind stirbt. ..." (HH A 23.09.94) „Handel mit Organen dpa/ap München – Organisierte Verbrecherbanden in Russland töten obdachlose Kinder, um ihre Organe an zahlungskräftige Kunden im In- und Ausland zu verkaufen. Das gehe aus einem Geheimpapier des Bundesnachrichtendienstes (BND) an die Bundesregierung hervor, berichtete das Nachrichtenmagazin ‘Focus‘.“ (HH A 30.10.99) "Organhandel: Eltern verkaufen Augen ihrer Kinder an reiche Europäer SAD Paris - In Südamerika werden Kindern die Augen entnommen, um sie für teures Geld an Patienten aus reichen Ländern zu verkaufen. Das behauptet die Autorin Marie-Monique Robin. Ihre Reportage `Die gestohlenen Augen' wurde gestern im TV-Sender M 6 gezeigt. `Mütter aus Südamerika kassieren 30 Mark pro Auge', sagt die Journalistin. `Ihre Kinder sind dann zwar blind, aber sie können ihre Familie für einige Wochen ernähren.' Die Autorin hatte bei ihren Recherchen

212

vorgegeben, daß bei ihrer kleinen Tochter eine Augenoperation notwendig sei. Einschlägige Ärzte in Argentinien und Kolumbien erklärten sich sofort bereit zum Eingriff. Kostenpunkt: pro Auge 3000 Mark. Und: keine Wartezeiten. Patienten in Europa und den USA warten oft bis zu drei Jahre auf die kostbare Spender-Hornhaut. Der Organhandel blüht. Marie-Monique Robin fand heraus: `Immer mehr europäische Ärzte schicken ihre Patienten nach Südamerika.'" (HH A 09.01.95) "Niere Kasse zahlt nicht für indisches Spenderorgan dpa Lüneburg - 35.000 US-Dollar zahlte der Autohändler Siegfried G. (56) für die Transplantation einer Niere. Das Organ eines lebenden indischen Spenders (28) wurde ihm in einem Krankenhaus in Bombay eingepflanzt. Die Hoffnung des Kaufmanns, daß die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) die Kosten erstatten würde, erfüllte sich nicht. Ethisch-moralische Bedenken, mit denen die DAK die Zahlung ablehnte, bestünden zu Recht, meinte das Sozialgericht Lüneburg (Az.: S 9 Kr 19/93). Der Deutsche hatte seine medizinischen Daten an die Klinik geschickt und schon nach sechs Wochen einen Operationstermin erhalten. Vorher mußte er dreimal wöchentlich zur Dialyse. Der junge Organspender hat sich von dem Geld ein Taxi gekauft." (HH A 28.10.93) „Grundsatzurteil ap Kassel – Für einen schwer nierenkranken Lüneburger (60) war es der letzte Ausweg. Weil es in Deutschland für ihn kein Spenderorgan gab, fuhr er nach Bombay, kaufte sich von einem Inder (26) eine Spenderniere und ließ sie sich in einer Klinik einpflanzen. Kosten: 35 000 Dollar. Seine Krankenkasse (DAK) weigerte sich, ihm das Geld zu erstatten. Das Bundessozialgericht gab der Kasse recht. Begründung: Den Körper des Menschen zum Handelsobjekt zu machen, verstoße gegen das Grundgesetz (Az.: 1 RK 25/95)“ (HH A 16.04.97) „Organhandel ’Nieren, Herzklappen, praktisch alles’ Der illegale Handel mit Organen boomt. Die Türkei gilt als Hauptumschlagplatz - doch die Ermittler tappen weitgehend im Dunkeln Genf - Die Untersuchung beim Hausarzt endete mit einer bösen Überraschung. Der Mediziner eröffnete der Pförtnerin Laudiceia Cristina da Silva: ’Ich habe eine sehr schlechte Nachricht. Eine Niere ist aus Ihrem Körper verschwunden.’ Die junge Brasilianerin rang nach Luft. Der Verdacht der Frau aus São Paulo fiel auf das staatliche Krankenhaus: Dort hatten Chirurgen ihr eine Zyste im Bereich des Eierstocks herausgeschnitten. Auf die polizeiliche Untersuchung des möglichen Organdiebstahls reagierten die Ärzte des Spitals mit einer erstaunlichen Erklärung: Die Zyste habe die Niere umschlossen. Das Organ sei zusammen mit der Geschwulst wegoperiert worden - ein dummer Fehler eben. Seit sieben Jahren lebt Laudiceia nur noch mit einer Niere. Die andere wurde höchstwahrscheinlich auf dem Schwarzmarkt für Organe feilgeboten. ’Die Klientel weitet sich aus’, sagt Nikola Biller-Andorno von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Nach einem WHO-Bericht warten derzeit 40 000 Menschen allein in Europa auf eine neue Niere. Um nicht wertvolle Zeit zu verlieren, schauen sich viele der Todgeweihten auf dem Schwarzmarkt um. ’Dort gibt es nicht nur Nieren und Leber, Sie können die Netzhaut oder ganze Augen kaufen, Herzklappen, Hirnteile, praktisch alles’, erklärt Nancy Scheper-Hughes, Professorin mit Forschungsschwerpunkt Organhandel in Berkeley. Die Preise für gebrauchte Körperteile schwanken erheblich. Wer sich in den USA eine Niere implantieren läßt, muß bis zu 200 000 Dollar hinlegen. In ärmeren Ländern reichen schon einige tausend Dollar aus. ’Exakte Zahlen über den weltweiten Organhandel sind nicht vorhanden’, sagt Biller-Andorno. Fest steht aber: Eine Organmafia hält Teile der Szene fest im Griff. Zu den besonders umsatzstarken Regionen, die in der Branche ’Nierengürtel’ heißen, zählt auch Moldawien. In dem europäischen Armenhaus tragen inzwischen immer mehr Menschen ihre Körper zu Markte. Händler kaufen Nieren oft für weniger als 3000 Euro. In der Türkei läßt sich dann der zehnfache Preis für das Organ erzielen. Die Türkei ist mittlerweile zur ’Drehscheibe’ des Organhandels geworden. Die Fahnder tappen oft im Dunkeln. Illegale Aktivitäten würden ’observiert’, teilt ein Beamter von Interpol in Lyon mit. Organhandel sei aber ein ’sehr schwieriges Gebiet, weil die Gesetze in vielen Staaten verschieden sind’. Tatsächlich fehlt immer noch ein rechtlich verbindliches internationales Abkommen gegen den Organhandel. EPD“ (DIE WELT, 17.11.04)

213

"Organ-Handel wird unter Strafe gestellt HA Bonn - Jeder kommerzielle Handel mit Organen von lebenden Spendern soll bereits in Kürze in Deutschland unter Strafe gestellt werden. Ein von Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger (FDP) gestern in Bonn vorgestellter Gesetzentwurf sieht vor, `jeglichen gewinnorientierten Umgang mit menschlichen Körpersubstanzen, sofern sie einem Menschen entnommen und zum therapeutischen Einsatz bestimmt sind', zu verbieten. Im Vordergrund steht dabei der Handel mit nicht regenerierungsfähigen Organen, Organteilen und Geweben, bei deren Entnahme die gesundheitlichen Risiken besonders groß sind. Aber auch der Handel mit Haut, Knochenmark und Lebersegmenten, die von lebenden Spendern transplantiert werden, soll bestraft werden. Es müsse verhindert werden, daß Menschen vor allem in der Dritten Welt sowie in Osteuropa `von skrupellosen Geschäftemachern ausgebeutet und als lebende Ersatzteillager für Reiche in den westlichen Industrienationen mißbraucht werden', begründete die Ministerin ihren Gesetzentwurf. Deshalb werde die geplante Regelung auch für im Ausland begangene Taten gelten. Frau Leutheusser-Schnarrenberger verwies darauf, daß es bei der Transplantationsmedizin zumindest in Teilbereichen einen deutlichen Mangel an geeigneten Spenderorganen gebe. Angesichts dessen sei die Versuchung für Geschäftemacher groß, `existentielle Notlagen bei Empfängern wie Spendern in besonders verwerflicher Weise auszunutzen'. Deshalb wolle man vor allem zwei Dinge verhindern: Zum einen dürfe der menschliche Körper nicht kommerzialisiert werden. Zum anderen dürfe die Verfügung und Verteilung lebenswichtiger Organe nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit potentieller Empfänger abhängen. `Maßgeblich für eine verantwortbare Entscheidung kann nur die therapeutische Dringlichkeit im Einzelfall sein', betonte die Ministerin. ... Nicht erfaßt werden von dem überarbeiteten Entwurf der Handel mit Organen Verstorbener sowie die Fragen der Transplantationsmedizin. Für beide Bereiche seien die Länder zuständig." (HH A 18.06.94) Mangel an Spenderorganen Zweifel Von MAX CONRADT Noch nie ist es irgendwo einmal gelungen, einen Menschen, dessen Hirnaktivität erloschen war, wieder ins Leben zurückzuholen. Dennoch gibt es jetzt erneut, überwiegend emotional bestimmt, Zweifel an der Eindeutigkeit des Hirntodes. Und diese Zweifel an der Sicherheit der Todesbestimmung haben die Bereitschaft zur Organspende wieder zurückgehen lassen. Tatsächlich ist schwer verständlich zu machen, daß sich bei einem totgesagten Menschen, der da im Krankenzimmer liegt, dennoch der Brustkorb unter der mechanischen Atemhilfe hebt und senkt, daß der Körper noch warm, die Haut noch rosig ist - alles Zeichen von Leben. Schaltet der Arzt aber die Mechanik aus, erlöschen augenblicklich diese vermeintlichen Lebenszeichen. Man muß indessen Verständnis haben für Angehörige, die in einer solchen Situation am Bett eines Verstorbenen stehen. Indem sie jedoch eine Organentnahme verweigern, helfen sie ihrem Toten nicht mehr, verweigern aber einem anderen Todkranken, weiter leben zu können. In der Welt gibt es Tausende, die mit fremden Organen leben, die sich wieder gesund fühlen. Sie belegen, daß die Organtransplantation zu den segensreichsten Errungenschaften der modernen Medizin gehört." (HH A 18.06.94) "Bitte, spendet Organe! Seehofers Appell an die Deutschen: `Solidarität über den Tod hinaus' co/ap/dpa Bonn/Hamburg - Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) und Bundesärztekammer-Präsident Karsten Vilmar haben die Bundesbürger eindringlich dazu aufgerufen, Organe zu spenden. Seehofer sagte, dies sei `Solidarität über den Tod hinaus'. Der Bedarf an Nieren, Herzen und Lebern sei nahezu doppelt so hoch wie die Zahl der erfolgten Transplantationen. Nach den Diskussionen der vergangenen Wochen um ein Transplantationsgesetz sei die grundsätzliche Bereitschaft zur Organspende in der Bevölkerung von 90 auf 70 Prozent gesunken. Seehofer betonte, die Bundesregierung werde in einem Transplantationsgesetz nur eine Lösung mittragen, die das Selbstbestimmungsrecht der Bürger und ihr über den Tod hinaus fortwirkendes

214

Persönlichkeitsrecht achte. Ausschlaggebend sei der Wille des einzelnen oder, wenn keine Äußerung zu Lebzeiten vorliege, der seiner Angehörigen. Die von ihm angestrebte `Informationslösung' sehe vor, daß bei fehlender Willenserklärung des Verstorbenen den Angehörigen eine Frist von einigen Stunden eingeräumt werde, in denen sie ihre Zustimmung zur Organentnahme geben oder verweigern könnten. Bislang aber hat der Bund keine Gesetzgebungskompetenz für eine umfassende Regelung des Transplantationsrechts. Noch stehe die Zustimmung des Bundesrates zu einem Bündel von Grundgesetzänderungen aus, von denen eine auch die Regelung der Organentnahme möglich machen solle, sagte Seehofer. Bei Zustimmung des Bundesrates könne das Transplantationsgesetz als eines der ersten Gesetze in der neuen Legislaturperiode verabschiedet werden. ... Eingehend auf die Auseinandersetzung um die Frage, ob Organe auch wirklich nur bei Toten entnommen werden, sagte Vilmar, erst wenn der Tod unwiderruflich eingetreten sei, würden Organe entnommen. Das bedeute den unumkehrbaren Stillstand von Herz und Kreislauf (Herztod) oder den vollständigen und irreversiblen Ausfall des gesamten Gehirns trotz künstlich aufrechterhaltener Herz- und Kreislauffunktion (Hirntod). Dies müßten zwei Ärzte feststellen, die nichts mit der Transplantation zu tun hätten. Seehofer erklärte, die Bundesrepublik sei im Eurotransplant-Verbund mittlerweile das Land mit der niedrigsten Quote an Organspenden. Im ersten Halbjahr 1994 seien es 14,3 Organspender je eine Million Einwohner gewesen. In Luxemburg waren es im gleichen Zeitraum 30, in Österreich 29,3 und in Belgien 22,6. `Wir sind schon seit vielen Jahren Organ-Importland, insbesondere für Nieren, Herzen und Lebern', sagte der Minister. In Brasilien nimmt der Organhandel immer brutalere Züge an. Ausländer adoptieren zum Schein behinderte Kinder, um deren Augen, Lungen und Nieren meistbietend auf dem schwarzen MedizinMarkt zu verkaufen. Auf eine entsprechende Studie der Universität Brasilia machte gestern Radio Vatikan aufmerksam. Oft verliere sich die Spur der Kinder. Wie viele von ihnen ermordet wurden, ist nicht bekannt." (HH A 13.08.94) „Transplantationen Lange Warteliste dpa Köln – Etwa jeder vierte Patient, der in Deutschland auf ein lebensrettendes Herz oder eine Leber wartet, stirbt angesichts eines dramatischen Mangels an Organspenden innerhalb der Wartezeit. Die Zahl der Sterbefälle auf der Warteliste wachse seit Jahren ... . Das im Dezember 1997 in Kraft getretene Transplantationsgesetz habe bisher nicht zu der erwarteten Zunahme von Organspenden geführt. ...“ (HH A 17.03.99)

Nach bisher gültiger Rechtsauffassung verstieße es gegen die in Art. 1 GG als höchstem Verfassungswert angegebene Würde des Menschen, wenn menschliche Organe durch bezahlte Lebend»spenden« kommerzialisiert würden, der Mensch sich zur Ware machen, der Körper zu einer handelbaren Ressource eines Verarmten würde. Menschen würden aus verzweifelter Geldnot Organe »spenden«, Organe insbesondere aus der dritten Welt gekauft werden. Beides bedeutete Ausbeutung in extremster physischer Form. Der Zugang zu den weiterhin dringend benötigten Organen darf nicht zum Exklusivrecht Wohlhabender werden. In z.B. Belgien und Österreich gilt im Todesfall durch eine widerlegliche gesetzliche Vermutung jeder als Organspender, der sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich gegen die Organspende entschieden hat. Deutschland als bevölkerungsreichstes Land Europas lebt mit seiner nicht effektiven Einwilligungslösung von Organen aus Ländern mit Widerspruchslösung. Aus dem ZEIT-Dossier „Operation Niere“ (05.12.02) „... 160 000 Dollar hat er einem israelischen Geschäftsmann gezahlt, der das Organgeschäft arrangierte. Er hätte den Handel auch in Südafrika, den USA oder Deutschland abwickeln können, ... In den USA allerdings hätte er bis zu 250 000 Dollar für eine Niere zahlen müssen. Die Türkei ist billiger. ... Wohlhabende Dialysepatienten reisen um die Welt, um eine Niere zu kaufen, was ihnen zu Hause bei Strafe verwehrt ist. Engländer und Deutsche fliegen nach Indien, Japaner in die USA, Nordamerikaner nach Peru oder Brasilien. Der Handel ist professionell organisiert und wird häufig als medizinischer Tourismus deklariert. ... ‚Arabische Transplantationspatienten zahlen zwischen

215 100 000 und 500 000 Dollar für die Operation’ heißt es in einem im Internet veröffentlichten Werbebrief. Pro Niere ein Gewinn bis zu 70 000 Dollar In anderen Ländern werden die illegalen Geschäfte kaum verhüllt praktiziert, z.B. in Israel. Dort ist der Kauf einer Niere so normal, dass mancher Kranker erst gar nicht die eigene Familie mit der Bitte um eine Organspende belastet. ... Auch die israelischen Krankenkassen sponsern Auslandstransplantationen – mit Billigung des Gesundheitsministeriums. Auf Dauer ist die Dialyse teurer als eine Organverpflanzung mit ihren Folgekosten. So erstatten die Kassen den Patienten den in Israel üblichen Kostensatz einer Transplantation. ... die Krankenkassen betreiben keine Recherche, ob die Transplantation im Ausland womöglich illegal war. ... Dabei ist dieses Geschäft in Israel wie in allen Ländern der westlichen Welt verboten. ... Am Ende gab ihm [dem zur Organentnahme in die Türkei geflogenen Moldawier Nikolae; der Autor] Jakob das Geld, 2800 Dollar. Versprochen hatte man ihm 3000, aber 200 Dollar wurden davon für das Flugticket abgezogen. Zu Hause kaufte er sich ein Häuschen: drei kleine Zimmer plus Garten, ein Fahrrad für den sechsjährigen Sohn, ein bisschen Essen und Kleidung – dies alle für eine Niere. ... Gelegentlich hat Nikolae Schmerzen an der Operationsnarbe. Doch für einen Arztbesuch fehlt das Geld. ... Nach der Operation sieht ein moldawischer Nierenspender noch einmal einen Arzt, ... ‚Je ärmer ein potenzieller Verkäufer, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Verkauf seiner Niere jedes Risiko lohnt’, schrieb etwa die britische Philosophin Janet Radcliffe-Richards mit anderen Autoren im Fachblatt The Lancet.“ „Todesstrafe für Organhändler Kabul – Afghanistans Präsident Hamid Karsai will Handel mit Kinderorganen künftig mit der Todesstrafe ahnden. Damit reagiert Karsai auf die steigende Zahl von Entführungen von Kindern, denen dann Organe entnommen würden, um diese ins Ausland zu verkaufen. (rtr)“ (HH A 05.07.04) Manchmal fällt es richtig schwer, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus weiterhin gegen die Todesstrafe zu sein!

2.7.4 Das GG als lebender (Rechts-)Organismus Wenn sich der Magen nach der Lektüre des letzten Kapitels wieder etwas beruhigt hat, soll kurz auf die angesprochene Grundgesetzänderung zur Umverteilung der Gesetzgebungskompetenz von den Ländern auf den Bund eingegangen werden. Das GG als Grundgesetzänderungen sind nichts Ungewöhnliches. Im Rahmen von 42 Änderungen und Ergänzungen wurden seit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai ("Verfassungstag") 1949 über 185 Artikel aufgehoben, neu lebender eingefügt oder - teilweise mehrfach - geändert. Das Grundgesetz kann als ein lebender (Rechts-) Organismus (Rechts-) Organismu begriffen werden. Und wie in einem Körper die zu erledigenden Aufgaben an die einzelnen Organe verteilt sind, s so sind auch im Grundgesetz die Zuständigkeiten zur Regelung der einzelnen Aufgaben an bestimmte Staatsorgane verteilt.

2.7.5 Regelungen der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern im GG

216

Regelungen der Gesetzgebu ngskompete nz zwischen Bund und Ländern im GG

Technisc he Neuerung en bewirken oft einen juristischen Regelungsbed arf

Was nun den (Teil-)Bereich der Gesetzgebungskompetenz anbelangt, sind – als Antwort auf den zentralistischen Führerstaat der NS-Zeit - laut Artikel 70 I GG grundsätzlich zunächst einmal die Länder für die Gesetzgebung innerhalb der Bundesrepublik zuständig. Doch von diesem Grundsatz ist bei Lichte besehen - abgesehen von der Polizei-, Justiz- und Kulturverwaltungshoheit - nicht allzu viel übrig geblieben. Um u.a. gemäß Art. 72 II Nr. 3 GG die (grundsätzliche) Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik zu wahren, sind immer mehr Kompetenzen von den Ländern auf den Bund übergegangen. Schließlich hat der Bund ja auch das meiste Geld, und wer das Geld hat, der hat meist auch das Sagen. Das ist immer ein wichtiges Argument! So ist das Gesetzgebungsverhältnis zwischen Bund und Ländern zu Ungunsten der Länder in eine beträchtliche Schieflage geraten. Der eben angesprochene Grundsatz der Ländergesetzgebungskompetenz besteht aber nicht für den Bereich der in den Artikeln 71 und 73 GG geregelten ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes und nur eingeschränkt für den Bereich der in den Artikeln 72, 74 und 74 a geregelten konkurrierenden Gesetzgebung. Dort haben die Länder nur dann die Befugnis zur Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 72 I GG, "... solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht". Besteht in diesem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung, geht das Gesetzgebungsrecht auf den Bund über. Ähnlich verhält es sich mit der Rahmengesetzgebung des Bundes. Um Streit möglichst zu vermeiden auch eine ungemein wichtige Aufgabe des Rechts(!), das die Regelung von Fragen und Problemen mit rechtlichem Gehalt von vornherein berechenbar machen soll -, ist in Katalogen geregelt, welcher Bereich in welche Schublade fällt. Dabei hat sich die von der Idee her größte Schublade "Länderkompetenz" ständig weiter geleert. Aber neue Anforderungen, an die früher niemand gedacht hat, weil sie nach damaligem Wissensstand einfach nicht vorstellbar oder bis dato politisch nicht gewollt waren – nehmen wir als eines der letzten die Bevölkerung der Bundesrepublik bewegenden Beispiele die im Schnellverfahren erlassenen unterschiedlichen Kampfhundeverordnungen der Länder, nach denen ein und derselbe Hund, wenn er von der Familie in den Urlaub mitgenommen und im Auto vom Norden Deutschlands in den Süden transportiert wird in manchen Bundesländern sofort getötet werden müsste, in anderen weiterleben darf -, füllen die Länderschublade unversehens immer einmal wieder mit einigen Krumen auf. Nachdem Organtransplantationen zum dringlichen Alltagsgeschäft gehören und einige Länder mit eigenen Gesetzesvorlagen unterschiedlichen Inhalts tätig geworden waren, besteht das Bedürfnis nach einer bundeseinheitlichen Regelung dieses Bereiches. Aber dem Bund sind zunächst die Hände gebunden, denn dieser Bereich gehört, wie ein Blick in die grundgesetzlichen Gesetzgebungskompetenz-Kataloge zeigt, zunächst nicht zu dem Bereich des Bundes. Und schon nimmt der Bund diese Kompetenzkrume - mit erforderlicher Zustimmung der Länder - aus der Länderschublade bald wieder heraus.

2.7.6 Technische Neuerungen bewirken oft einen juristischen Regelungsbedarf Jeglicher technische Fortschritt bringt stets Gefahren mit sich, nicht nur im Bereich der Biomedizin. Das ist eine Binsenweisheit. In allen Lebensbereichen wurden immer wieder neue bedeutende Entdeckungen gemacht, die geregelt werden mussten. Daraus ergibt sich für die Gesellschaft: Je größer der Fortschritt in einem Wissensbereich, desto größer ist meistens auch der juristische Regelungsbedarf, um bei gefahrgeneigter Technik die Grenzen dessen abzustecken, was „die Moral“, die jeweilige gesellschaftliche Wertordnung der Wissenschaft an Freiraum gestatten will. Nicht ohne Grund wurde in Art. 5 III GG geregelt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“, womit deren Wertordnung gemeint ist; nur durch sie kann die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre eingeschränkt werden. Vor der Spaltung des Atoms bestand keine Notwendigkeit zur Schaffung eines Atomgesetzes. Seit der Nutzung der Kernenergie im großen Stil musste versucht werden, diese ungeheure Gefahrenquelle für eine unabsehbare Vielzahl von Menschen - erinnert sei an Tschernobyl und andere Kernkraftwerkshavarien wie in Harrisburg und anderswo sowie an den aufgekommenen Plutoniumschmuggel durch strengste Sicherheitsauflagen wenigstens juristisch ein wenig zu entschärfen. Das übernehmen dann die Juristen der Exekutive, indem sie Entwürfe erstellen, bei deren Erarbeitung sie sich von (meist interessegebundenen) Lobbyisten beraten lassen. Durch im Sinne seiner Arbeit- oder Auftraggeber günstige Einflussnahme auf den zu schaffenden Gesetzeswortlaut der Entwürfe (mittels z.B. der Festsetzung hoher Grenzwerte) kann sich ein Lobbyist, der nach der Maxime handelt: „Klage, ohne (vorher) zu leiden!“, sehr "verdient" machen!

217

Aktuellstes Beispiel für die Einschränkung der Forschung durch die Wertordnung der Verfassung war die Forschung an embryonalen Stammzellen. Sie war zwar in anderen Ländern erlaubt, in der Bundesrepublik bis Ende 2002 aber nicht, weil darin – unter dem Einfluss der Kirchen? - von der Mehrheit der deutschen Parlamentarier und vielleicht auch von dem BVerfG, das sich aber noch nicht zu diesem Problempunkt geäußert hat, ein Verstoß gegen die nicht in allen Einzelheiten genau festgelegte und daher interpretier- und wandelbare Wertordnung des Grundgesetzes gesehen worden war.

2.7.7 BVerfG als "juristische Notbremse" unterlegener Politiker Diese oftmals im Zusammenwirken zwischen Lobbyisten und Ministerialbürokratie erstellten Entwürfe gehen anschließend in den Rechtsausschuss, und zuletzt schlägt die Stunde der in der Legislative (gesetzgebenden Gewalt) versammelten Politiker - wenn nicht danach einige mit der neuen gesetzlichen Regelung unzufriedene, BVerfG als im parlamentarischen Ringen unterlegene Politiker die Judikative (rechtsprechende Gewalt) in Form des "juristische Bundesverfassungsgerichts anrufen, das dann (wenigstens für einige Zeit) verbindlich feststellt, was Sache sein Notbremse" soll. Diese Bestrebungen des Ziehens der juristischen Notbremse durch bei der Abstimmung nach der dritten unterlegene Lesung unterlegene Politiker und die daraufhin gefällten Entscheidungen können sich - wie z.B. im Falle der r Politiker vielen versuchten Neuregelungen des § 218 StGB - ohne weiteres gegen das Rechtsempfinden der Mehrheit des Volkes richten. Das demokratische Mehrheitsprinzip wird in einem solchen Falle durch das BVerfG institutionell konterkariert. Die hierauf vom BVerfG getroffenen Entscheidungen müssen aber auch nicht immer der Weisheit letzter Schluss sein! Sonst hätte nicht ein ehemaliger Präsident unseres obersten Gerichts, Prof. Zeidler, unumwunden zugegeben: "Auch das Verfassungsgericht irrt." Mancher unterlegene Politiker hat der parlamentarischen Mehrheit schon zugerufen: „In Karlsruhe sehen wir uns wieder!“ Und wenn die Ansicht der parlamentarischen Regierungsmehrheit dann in Karlsruhe unterlag, dann erfüllte das die Regierungspolitiker manchmal mit maßlosem Zorn, den einige nicht bändigen konnten, so dass z.B. der Bundesminister Wehner (SPD) 1973 kundtat: „Wir lassen uns die Ostpolitik nicht von den acht Arschlöchern in Karlsruhe kaputt machen!“ So sehr hatte ihn die von den Verfassungsrichtern erzwungene Gesetzesmakulaturproduktion in den Harnisch gebracht. Ähnlich abfällig hatte sich schon 1952 der Bundesjustizminister Dehler (FDP) geäußert, der dem BVerfG vorgeworfen hatte, es führe sich als „Vorgesetzter des Parlaments“ auf, und er war zu dem Schluss gelangt, dass man „wegen eines solchen Gremiums Deutschland nicht vor die Hunde gehen lassen“ könne. Die Anrüpeleien von Seiten der Exekutivorgane unterblieben erst (für einige Zeit: bis der Bayerische Ministerpräsident Stoiber mit Schaum vor dem Mund offen zum Widerstand gegen das „Kruzifix-Urteil“ aufrief), als der Präsident des BVerfGs sich entschieden zur Wehr setzte und auf die ihm zugetragene WehnerÄußerung hin den Politikern – ohne Nennung des Anlasses - ins Stammbuch schrieb: „Kein (anderes) Verfassungsorgan ist berechtigt und autorisiert, ein vom BVerfG ergangenes Urteil als nicht rechtens abzuqualifizieren!“

2.7.8 Beispiele für juristischen Regelungsbedarf aus dem Bereich der Biomedizin Doch noch einmal zurück zum Bereich der Medizin, wo sich für die Öffentlichkeit mit am offensichtlichsten regelungsbedürftige Neuerungen ergeben, insbesondere wenn Schlüsselfragen der Spezies Mensch juristisch geregelt werden müssen. Dann müssen viele Teilaspekte aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen zusammen gebracht werden, um eine gesellschaftlich akzeptierte Lösung zu erarbeiten. Wenn Biologen oder Mediziner durch ihre Forschungen eine Tür nach der anderen zu einer neuen Erkenntnis aufgestoßen haben und die Folgen ihres Tuns absehbar sind, dann muss gefragt werden, ob der sich andeutende Weg beschritten werden soll. Mit den Biologen und Medizinern arbeiten dann Theologen, Philosophen, Juristen und insbesondere die Ethiker zusammen, die sich auf die ethische Überprüfung medizinischer Sachverhalte spezialisiert haben, die Bioethiker. Bioethik beschäftigt sich mit den sittlichen Fragen von Geburt, Heilung, Leben und Tod im Lichte des biomedizinischen technologischen Fortschritts. Umstritten sind dabei insbesondere Themen wie künstliche Zeugung im Bereich der frühen Humanembryologie, die Diagnose von Erbkrankheiten noch vor Schwangerschaft durch Präimplantationsdiagnostik (PID) oder vor der Geburt, die diagnostische und therapeutische Verwertung der Erkenntnisse über das menschliche Genom für die Zeugung gesunder Kinder oder die Züchtung von Ersatzorganen, die Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs, im Sinne einer Ethik

218

des Helfens und Heilens die Entnahme von Organen Hirntoter oder, besonders sensibel, das Gebiet der aktiven Sterbehilfe. Tief greifende Konflikte zwischen eher pragmatisch denkenden und handelnden Ärzten und Biologen einerseits und teilweise fundamentalistisch denkenden und argumentierenden insbesondere Theologen und Ethikern sind dabei in der Sache angelegt. Aufgabe der Politik ist es, unter Assistenz der Juristen die in der Gesellschaft vertretenen unterschiedlichen Positionen in einer sozialverträglichen Weise auszugleichen, denn radikale weltanschauliche Entscheidungen würden einer offenen, moralisch pluralen, demokratischen Gesellschaft nicht gerecht. Dabei ist absehbar, dass eine gesellschaftliche Gruppe, die in diesen Entscheidungsprozessen unterliegt, sich zum BVerfG flüchten wird, um die von ihr als verhängnisvoll eingestufte Entwicklung trotz ihrer gesellschaftlichen Minderheitenposition doch noch stoppen zu können. Die Diskussion war bislang gekennzeichnet durch weltanschauliche Kontroversen zwischen einer mehr pragmatischen Richtung, die Chancen und Risiken der Biomedizin rational abzuwägen trachtet, im Gegensatz zu einer grundsätzlich argumentierenden Richtung, die ein Menschenbild – behauptet wird: des Grundgesetzes; das aber nicht so eindeutig festgelegt ist, so dass sich hinter dem Schutzwall Grundgesetz das eigene, meist religiös beeinflusste Menschenbild des mit dem Grundgesetz Winkenden verbirgt - gegen vermeintlich viel zu technikgläubigen und zudem kommerziell motivierten Fortschrittsoptimismus zu verteidigen trachtet.

Die Ausgangsfragestellung aller dieser Überlegungen lautet: Darf die Medizin alles das tun, was sie schon jetzt oder – noch gefährlicher – in baldiger Zukunft kann? Sicher darf die Medizin kinderlosen Ehepaaren grundsätzlich bei der Verwirklichung ihres Kinderwunsches helfen – inzwischen angesichts der ständig weiter sinkenden Fruchtbarkeit auf Grund der durch Umweltbelastungen beängstigend abgenommenen Spermiendichte und der zunehmenden Intersexualität11 eine pure Notwendigkeit: Allein in Deutschland versuchen 50.000-60.000 Frauen jährlich durch In-vitro-Fertilisation ihren Kinderwunsch erfüllt zu bekommen, teilweise in fünf, sechs, sieben und mehr Anläufen - die zur Sucht werden können -, weil im Mittelwert bisher nur jede dritte künstliche Befruchtung gelingt. Seit der 2004 in Kraft getretenen Gesundheitsreform müssen Frauen/Paare, die eine künstliche Befruchtung vornehmen lassen wollen, mindestens die Hälfte der Kosten eines solchen Eingriffs selber tragen. Die Kassen beteiligen sich nunmehr maximal an den Kosten dreier Versuche. Wurden bis 2004 meistens zwei Embryonen eingesetzt – der zweite ist oft der »Starter« für den gesamten Vorgang, denn wenn zwei Embryonen eingesetzt werden, verdoppelt sich die Erfolgsquote -, lassen sich viele Frauen jetzt gleich die in Deutschland gesetzlich maximal mögliche Anzahl von drei Embryonen einsetzen, um – wie sie hoffen – größere Erfolgsaussichten zu haben und so die Kosten einiger Fehlversuche zu sparen. Doch nur bei Frauen ab 35 wirkt sich der dritte Embryo erfolgssteigernd aus. Jede vierte Labor-Zeugung führt zu einer Mehrlingsschwangerschaft Und das, obwohl Mehrlingsschwangerschaften riskanter sind als eine übliche Ein-Kind-Schwangerschaft, denn die Gefahr, eines der Kinder vor der Geburt zu verlieren, liegt bei Zwillingen bei fast sechs Prozent und damit rund viermal höher als bei Ein-Kind-Schwangerschaften. Bei Drillingen gibt es sogar in beinahe jedem zehnten Fall eine Totgeburt, was bei den betroffenen Frauen eine erhöhte Gefahr der Erkrankung an Depressionen, Bluthochdruck oder Diabetes führt. Drillinge kommen darüber hinaus in 90 % der Fälle als Frühchen zur Welt. Durch die hohe Selbstbeteiligung halbierte sich die Anzahl der in Deutschland künstlich gezeugten Babys von 20.000 auf 10.000 pro Jahr. Um die mit den Mehrlingsschwangerschaften verbundenen Probleme besser handhaben zu können, fordern Fortpflanzungsmediziner eine Dringlichkeitsänderung des Embryonenschutzgesetzes dahingehend, dass eine größere Anzahl von Embryonen künstlich befruchtet werden dürfe: wie in Schweden und Österreich praktiziert, wählen die Reproduktionsmediziner aus einer Reihe von 11

Durch die Verwendung von billig(er)en Kunststoffweichmachern und deren Eintrag in Seen, Flüsse und Meere, durch vom Regen in die Felder gewaschene Pflanzenschutzmittel und durch die zunehmende Hormonbelastung des Grundwassers durch Urin aus der zu lange mit verbotenen Mitteln gearbeitet habenden oder noch damit arbeitenden Tiermast und der die Pille nehmenden Frauen verändert sich die Geschlechtsausbildung weltweit: Tiere wie z.B. Krokodile beginnen zu verweiblichen, es entstehen zur Fortpflanzung nicht mehr fähige Eisbär-Zwitterwesen, … Solch eine Entwicklung geht natürlich am Tier Mensch, das das alles verursacht hat, auch nicht spurlos vorbei. Bei jeder 2.000sten Geburt, ca. 400 im Jahr, können Ärzte nicht mehr entscheiden, ob es sich um ein männliches oder weibliches Kind handelt. Dieses intersexuelle „3. Geschlecht“ in den verschiedensten Formen des Hermaphroditismus hat z.B. einen männlichen Chromosomensatz plus(!) einer kleinen Gebärmutter. Wenn sogar die Geschlechtsausbildung durch die Umweltbelastung in so starkem Maße beeinflusst wird, dann ist klar, dass auch die männliche Fruchtbarkeit zunehmend durch eine Reduzierung der Spermienbildung in Mitleidenschaft gezogen wird. Als Samenspender kommen – im Gegensatz zu früheren Vorstellungen – nunmehr vermehrt ältere(!) Männer in Betracht, weil deren Spermienbildung noch nicht so stark durch Umweltbelastungen gestört ist: Frauen mit dem Wunsch nach gesunden Kindern müssten sich also vermehrt in Richtung älterer Männer orientieren! (Und so kommen Männer wie ich wieder »ins Gespräch«.)

219

künstlich gezeugten Embryonen nach rund fünf Tagen denjenigen Zellklumpen aus, der sich am besten entwickelt hat und dessen Einnistung daher am wahrscheinlichsten erscheint. Die Chance auf eine Schwangerschaft ist bei diesem Vorgehen in etwa so hoch, wie bei beim Transfer von zwei nicht selektierten Embryonen. Die Gefahren von Mehrlingsschwangerschaften werden so aber vermieden. Da einige Länder, wie u.a. das katholisch geprägte Spanien, sogar eine Untersuchung der Gene auf Erbkrankheiten erlauben, wird dadurch die Chance auf ein gesundes Kind wesentlich erhöht. In Deutschland aber, dem Land der ethischen Bedenkenträger, wird unter ethischen und religiösen Gesichtspunkten gewichtig diskutiert, nach welchen Kriterien eine Auswahl eines Embryos getroffen werden dürfte und was mit den anderen Zellklumpen geschehen soll, die in Schweden zur Forschung freigegeben werden und in anderen Ländern vermutlich in den Müll kommen. „Diese Techniken sind möglich . Insemination: Zum Zeitpunkt des Eisprungs wird aufbereitetes Sperma in die Gebärmutter gespritzt. . Künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF): Für eine künstliche Befruchtung (Reagenzglasbefruchtung) bekommt die Ehefrau Hormone, so daß mehrere Eibläschen in einem Zyklus heranreifen. Diese werden durch die Scheide (mit oder ohne Narkose) abpunktiert. Im Reagenzglas werden die Eizellen dann mit den Spermien des Ehemannes vermischt. Etwa drei Tage später werden bis zu drei Embryonen in die Gebärmutter eingesetzt. . ICSI-Therapie (Intracytoplasmatische Spermieninjektion): Die Vorbehandlung ist dieselbe wie bei IVF. Im Labor werden die Spermien aber gezielt in jede Eizelle eingebracht. . TESE-Therapie (testikuläre Sperma-Extraktion): Diese Behandlung wird eingesetzt, wenn keine Spermien im Ejakulat vorhanden sind. Die Spermien werden mit dieser Methode direkt aus dem Hodengewebe gewonnen und dann für ICSI genutzt. (ang)“ (HH A 24.11.04)

Beispiele für juristische n Regelungs bedarf aus dem Bereich der Medizin

„Fakten aus dem IVF-Register 2003 Wie viele künstliche Befruchtungen mit welchem Erfolg in Deutschland durchgeführt worden sind, wurde auf dem 18. Jahrestreffen der deutschen IVF-Zentren vergangene Woche in Hannover berichtet. Dort wurde der Jahresbericht 2003 des Deutschen IVF-Registers vorgestellt, der die Arbeit der insgesamt 116 Zentren in Deutschland erfaßt. Demnach wurden 2003 insgesamt 63 111 Frauen behandelt, das waren rund 10 000 Frauen mehr als im Jahr 2002. Insgesamt wurden im IVF-Register 107 675 Behandlungen erfaßt. 89 016 Behandlungen wurden auch eingeleitet, 81 042mal wurden Eizellen entnommen. Diese Zahl dokumentiert, daß einige Frauen mehrfach behandelt wurden. Mittels Reagenzglasbefruchtung wurden 9197 Kinder geboren, rund 1500 mehr als 2002. Insgesamt gab es mehr als 2200 Mehrlingsgeburten, darunter sechsmal Vierlinge. 3924 Schwangerschaften endeten mit einer Fehlgeburt. Außerdem waren noch 7170 Frauen schwanger, als das IVF-Register erstellt wurde. (ang)“ (HH A 24.11.04)

Nach der Gesundheitsreform 2004 werden von den gesetzlichen Krankenkassen nur noch drei Versuche gezahlt. Trotzdem wird bereits jedes 80. Kind in der Petrischale gezeugt. Und dabei können gravierende Fehler entstehen, die dann in schweren juristischen Entscheidungen aufgearbeitet werden müssen:

Wechselfälle des Schicksals Ärzte setzten einer Mutter falschen Embryo ein: Eine Million Dollar Schadenersatz von Ulli Kulke Berlin - Nur wenige Minuten nach ihrem Eingriff an Susan Buchweitz war den beiden Ärzten klar: Sie haben soeben einen folgenschweren Fehler begangen. Doch die zwei Doktoren in San Francisco hielten dicht. Und es ist nicht mal einfach, sie dafür moralisch zu verurteilen. Jetzt wurde ihre Klinik zu einer Million Dollar Schadenersatz verurteilt. Es war im Sommer 2000, als die Dekorateurin sich in einer gynäkologischen Klinik einen Embryo einsetzen lassen wollte. Der Vater: ein unbekannter Samenspender. Schon lange hatte die 47-Jährige sich vergeblich um eine Schwangerschaft bemüht, vielleicht sollte es ihr letzter Versuch sein. Gleichzeitig war noch ein Ehepaar anwesend, zwecks künstlicher Befruchtung mit fremder Eizelle. Neun Monate später bekam Buchweitz einen gesunden Sohn, die Ehefrau gebar glücklich eine Tochter. Doch als beide Kinder zehn Monate alt waren, kam der einschneidende Anruf: Eine

220

ehemalige Klinikangestellte hatte ausgepackt, verraten, dass die Embryonen vertauscht worden waren. Sofort gestanden die Ärzte, meinten aber, sie hätten bei aller Abwägung verhindern wollen, dass Buchweitz abtreibt, und geschwiegen - eine Haltung, die vor Gericht sogar akzeptiert wurde. Auch die allein stehende Mutter hätte sich in ihre - genetisch - falsche Mutterschaft gefügt. Doch das Ehepaar, nun ebenfalls erschüttert, klagte vor Gericht auf das Sorgerecht für seinen Sohn; Buchweitz' Anwaltsrechnungen türmten sich, sie musste die Klinik verklagen, bekam am Dienstag die Million zugesprochen. Und nun? Ähnliche Fehler wurden nur drei Mal bekannt. Zwei Mal in London, darunter eine weiße Frau mit zwei schwarzen Zwillingen sowie ein "Ringtausch" mit drei betroffenen Frauen, und ein Mal in New York, wo eine weiße Frau Zwillinge gebar: ein leibliches Baby und einen nicht verwandten schwarzen Sohn. Nicht verwandt? Das ist die Frage, und so gibt sich das Gericht in San Francisco in Sachen Sorgerecht erst mal ratlos, gestattete vorläufig einen Besuch alle zwei Wochen. "Eine merkwürdige Situation", findet die Gebär-Mutter, "es steht in keinem Psychologiebuch, wie man damit umgehen soll." Nach deutschem Recht ist die leibliche Mutter diejenige, die das Kind geboren hat. Weder Leihmütter noch Eizellenspenden sind bei uns erlaubt, so ist die Regelung unproblematisch - bis der Arzt danebengreift. (DIE Welt, 05. 08.04)

Darf zur Erfüllung des Kinderwunsches jedes Mittel angewandt werden? (Bisher) Sicher nicht, auch wenn das manche Evolutionsbiologen auf Grund der rasanten Fortschritte auf diesem Gebiet zukünftig möglicherweise anders sehen mögen. Der Evolutionsbiologe Robin Baker, der sich nach Aufgabe seines Lehrstuhls in Manchester ganz der Schriftstellerei über sein Fachgebiet gewidmet hat, schreibt in „Sex im 21. Jahrhundert / Der Urtrieb und die moderne Technik“ im Kapitel „Menschenwürde, der Wille der Götter und andere Belanglosigkeiten“ (S. 402 ff) mit Blick auf die Fortpflanzung im 21. Jahrhundert und die damit verbundenen rechtlichen Probleme: „Die Widersprüchlichkeit der Meinungen, die von der Öffentlichkeit, von Juristen und von Theologen in der Frage vertreten werden, was natürlich sei und was nicht, ist zum Schreien. Der Begriff des Natürlichen bietet keine Grundlage, um uns eine Meinung zur Zukunft zu bilden. Nur wer unbekleidet geht, sich nie rasiert, keine Deodorantien benutzt, nie Kontrazeptiva verwendet und als Frau alle Kinder stillt, bis sie sich von selbst entwöhnen, kann ohne Heuchelei die Fortpflanzungstechnik der Zukunft mit der Begründung ablehnen, sie sei unnatürlich. Der Kniefall vor der Natur ist eindeutig keine Position, von der aus man die Zukunft der Fortpflanzung ablehnen kann. ... Wenn ... mit Menschenwürde und dem Willen von Göttern argumentiert wird, sagt mir das nichts. Hinzu kommt noch, daß verschiedene Götter Verschiedenes wollen, verschiedene Propheten Verschiedenes lehren und verschiedene Theologen verschiedene Interpretationen haben. Und es weckt nicht gerade Vertrauen, daß die alten Propheten, deren Worte für uns interpretiert werden, nie von Spermien oder Genen gehört haben und daß die Interpreten oft Junggesellen sind. ... Ich will nur eine Einschätzung von dem kaum faßbaren Wortgeklingel vermitteln, das Philosophen und Theologen lediglich dazu dient, emotionale Vorurteile zu rechtfertigen. Im Streit um die Fortschritte der Fortpflanzungstechnik geht es vielfach um Rechte der Menschen. Die zentrale Frage ist, ob die Menschen ungeachtet ihrer Lebensumstände das Recht auf Fortpflanzung haben. Unsere ganze Evolutionsgeschichte war von der Natur diktiert, und folglich hatten die Menschen kein Recht auf Fortpflanzung. Die Situation war eindeutig, weil es keine Alternative gab. Wer konnte, pflanzte sich fort, wer nicht konnte, nicht. Von Rechten war keine Rede. Die moderne Technik hat jedoch eine Alternative geschaffen, und die Gesellschaft hat ein Recht in den Raum gestellt. Jetzt könnte sich jeder fortpflanzen, wenn er nur Zugang zur Technik erhielte – so wird sich die Situation jedenfalls im Jahr 2010 darstellen. Natürlich hat der Staat die Macht, den Menschen ein solches Recht streitig zu machen. Je nachdem, welche Technik unter das Verbot fällt, wird ein bestimmter Teil der unfruchtbaren Bevölkerungsgruppe von der Fortpflanzung ausgeschlossen. Wenn man zum Beispiel die Leihmutterschaft verbietet, sind Frauen, die kein Kind austragen können, für immer zur Kinderlosigkeit verdammt. Genauso ergeht es denen, die keine Gameten [weibliche oder männliche Sexualzellen (Eizellen oder Spermatozoiden); der Verf.] ausbilden können, wenn das Klonen und der Kerntransfer verboten werden. Aber hat die Gesellschaft als solche überhaupt das Recht, einem bestimmten Teil der unfruchtbaren Bevölkerungsgruppe die Freuden der Elternschaft zu versagen und sie einem anderen zu gewähren? Das kann man bezweifeln, besonders wenn nicht mehr dahinter steckt als diffuse Vorstellungen von Würde, von göttlicher Lenkung und von Natürlichkeit oder, was auch vorkommt, eine bloße Phobie gegen Individuen, die wegen der neuartigen Technik ihrer Zeugung nicht recht einzuordnen sind.“ Doch insbesondere das Klonen birgt – bis jetzt? - zu viele Gefahren! Da hat der Gesetzgeber nach meiner evolutionsbiologischen Laienmeinung Grenzen zu setzen, damit die Medizin nicht alles das tut, was sie heute

221 schon kann. Das sieht der Evolutionsbiologe Baker anders: „Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Klonen einmal zur menschlichen Fortpflanzung als eine der zahlreichen Optionen, die künftigen Generationen offen stehen werden, gehören wird. Vielleicht muß man ihm aber erst einmal einen Namen geben, der weniger Emotionen schürt. Wie wäre es zum Beispiel mit »künstlicher Zwillingszeugung«?“12 Baker sieht zwei herausragende Fallkonstellationen, die seiner Meinung nach dem Klonen letztlich zum Durchbruch verhelfen werden: Wenn Eltern ihr geliebtes Kind in jungen Jahren durch einen tragischen Unfall verlieren und herzbewegend darum bitten, „dem Körper ihres Kindes noch lebende Zellen zu entnehmen, damit sie geklont und als ihr nächstes Kind, als Zwilling des toten Kindes, weiterleben können, wird man sich dieser verständlichen Bitte kaum verschließen können. Es wird nicht viel anders sein, als wenn sie darum bäten, das Kind mit anderen Mitteln, die der Medizin zu Gebote stehen, am Leben zu erhalten.“ Wirklich nicht viel anders? Für einen Evolutionsbiologen wird es vielleicht nicht viel anders sein, aber für uns Laien wohl doch! Die zweite Konstellation seien „unfruchtbare Paare, für die das Klonen die einzige Aussicht auf Fortpflanzung bietet, zum Beispiel … Männer ohne Hoden und Frauen ohne Eierstöcke.“13 Darf die Medizin alles das tun, was sie in etwas fernerer aber schon absehbarer Zukunftt vermutlich technisch bewerkstelligen könnte? Das sicher auch nicht! Da müssen von den Parlamenten u.a. durch Klonverbote und Gendiagnostikgesetze rechtzeitig »sinnvolle« Grenzen gesetzt werden, wobei eine solche Grenzziehung in der Gesellschaft und zwischen den Fachleuten immer umstritten sein wird! Der Versuch einer solchen Grenzsetzung geschah u.a. mit einer – unverbindlichen - UN-Resolution: Unverbindliches UN-Klonverbot Forschung Nach jahrelangem Ringen hat die UN-Vollversammlung einen von den USA forcierten Aufruf zu einem totalen Klonverbot mehrheitlich angenommen. Mit einer entsprechenden Resolution, die nicht rechtlich bindend ist, scheiterten am Dienstag für lange Zeit alle Versuche Deutschlands, Frankreichs und anderer Staaten, das Klonen von Babys durch eine völkerrechtlich bindende Konvention zu verbieten. Für die Anti-Klon-Resolution stimmten 84 Staaten, während 34 mit Nein votierten und sich 37 enthielten. Mit der zwar mehrheitlich angenommenen, jedoch umstrittenen Resolution werden alle Regierungen aufgerufen, durch nationale Gesetzgebung sowohl das reproduktive als auch das therapeutische Klonen zu verbieten. Kritiker bemängeln, daß man so dem Menschenklonen keinen effektiven juristischen Riegel vorschiebt. dpa (DIE WELT 10.03.05)

Schon ins Makabre gehen die Vorstellungen der beiden Amerikaner der nachfolgenden Meldungen, wenn man sich überlegt, was medizinisch alles gemacht werden müsste, falls der Kläger der ersten Meldung nicht wie bisher von den Gerichten abgewiesen würde und seine Vorstellungen realisieren lassen dürfte: "Kopf darf nicht tiefgefroren werden Los Angeles - Ein US-Gericht hat einem 46jährigen verweigert, schon zu Lebzeiten seinen Kopf einfrieren zu lassen. Thomas Donaldson, der einen Gehirntumor hat, hofft, daß Ärzte die Krankheit später heilen können und seinen Kopf auf einen gesunden Körper verpflanzen. Donaldson will weiterkämpfen: `So kann mein Gehirn zerstört sein, bevor ich amtlich für tot erklärt werde.'" (Morgenpost 17.09.90) „Köpfen für ein neues Leben Mit einer spektakulären Operation will der amerikanische Arzt ROBERT WHITE Kranken mit zerstörten Körpern den Kopf retten. Ihre Schädel sollen auf die Leiber von Hirntoten gepfropft werden. ... Professor White ist kein Spinner, der abstruse Visionen propagiert, ihn treibt auch kein Dämon. Er war der jüngste Professor für Neurochirurgie in den USA. ... Und er gehört dem exklusivsten Forscherzirkel der Welt an – der vatikanischen Pontifikalakademie der Wissenschaften ... . Von den 80 Akademiemitgliedern sind die Hälfte Nobelpreisträger. ... Schließlich nähte er zum ersten Mal den Kopf eines Rhesusaffen auf einen fremden Körper. Irgendwann während dieser Experimente hatte White eine Erleuchtung: »Eine solche Operation 12 13

Baker, Robin: Sex im 21. Jahrhundert / Der Urtrieb und die moderne Technik, 2000, S. 212 Baker, Robin: Sex im 21. Jahrhundert / Der Urtrieb und die moderne Technik, 2000, S. 213

222 könnte ja das Leben von Querschnittsgelähmten verlängern.« ...“ (STERN 41/97) Professor White hat sich schon darum bemüht, diese Operation an einem Menschen ausprobieren zu können, aber bisher fehlt ihm ein Sponsor für die Kosten von von ihm geschätzten 1 Mio. US-Dollar. Und er denkt nicht nur an das Leben von Querschnittsgelähmten ganz allgemein, das wäre - wenn es sich denn überhaupt als „Standardmaßnahme“ bewerkstelligen ließe - ja viel zu aufwendig, sondern es schwebt ihm vor, dass man mit einer solchen Methode herausragenden Wissenschaftlern wie dem querschnittsgelähmten britischen Astrophysiker Stephen Hawking („Eine kurze Geschichte der Zeit“ und die Theorie der Schwarzen Löcher) aus Cambridge helfen könnte, seine bahnbrechenden Ideen über das Universum besser zu entwickeln und zu verbreiten, wenn sein Geist aus den Fesseln seines schwerst gestörten Körpers befreit wäre. „Mens sana in corpore sano“ in der Form, wie der lateinische Dichter diesen Satz als Forderung aufgestellt hat: „Ein gesunder Geist möge in einem gesunden Körper sein!“

Und damit nicht der Eindruck entsteht, dass nur durch wohl noch sehr ferne medizintechnische Möglichkeiten ein großer rechtlicher Regelungsbedarf entstehen könnte, ein anderer Problemkreis aus dem Bereich der Medizin, der viele Eltern und auch Bevölkerungspolitiker drückt, da sich die Fruchtbarkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung - eventuell wegen der ständig zunehmenden Umweltbelastungen kontinuierlich verschlechtert hat: "Kinderwunsch wird zum Problem Münster - Der unerfüllte Kinderwunsch wird für die Ärzte ein immer größeres Problem. Etwa 15 Prozent aller Paare, die ein Baby wollen, benötigen inzwischen medizinische Hilfe." (Morgenpost 19.01.93) "Reger Baby-Handel in Rumänien In Rumänien blüht seit einiger Zeit ein einträgliches Geschäft: der Handel mit Babys und Kleinkindern. Die Kinder werden für zirka 5.000 bis 10.000 Mark an westeuropäische und amerikanische kinderlose Familien regelrecht verkauft. Jetzt hat die rumänische Regierung ein Gesetz erlassen, das bis zu fünf Jahren Haftstrafe für den Baby-Deal vorsieht. Die Folge: Hunderte kaufwillige Paare aus aller Welt demonstrierten am Bukarester Flughafen. ..." (HH A) "`Babyfarmen' in der Dritten Welt für den deutschen Kindermarkt? Behörden gegen professionelle Händler weitgehend machtlos / Ausländische Adoptionen steigen seit Jahren / Graf wurde verurteilt BONN, 16. August. Professionellen Babyhändlern sind illegale Methoden selten nachzuweisen. Die bundesdeutschen Behörden sind bei der Bekämpfung des internationalen Kinderhandels weitgehend machtlos, zudem erschweren fehlende Zugriffsmöglichkeiten eine Strafverfolgung. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen über kommerzielle Adoptionsvermittlung in der Bundesrepublik hervor. Bei einigen vorwiegend von Holland aus operierenden Agenturen, die für eine Adoption zwischen 15.000 und 40.000 Mark verlangen, waren kriminelle Methoden `festzustellen oder außerordentlich wahrscheinlich'. So soll eine auf Säuglinge und Kleinkinder spezialisierte Agentur Einwilligungserklärungen zur Adoption vorgelegt haben, die nicht von der leiblichen Mutter stammten, sondern von einer anderen Person unterzeichnet waren. Da die Mütter kaum wieder aufzufinden waren, bekamen die Adoptiveltern das Kind trotzdem zugesprochen, wenn sie als geeignet angesehen wurden und versicherten, von dem Betrug nichts gewußt zu haben. Teilweise unterstützen sogar hiesige Gerichte zweifelhafte Adoptionen. So verzichteten in einigen Fällen die zuständigen Vormundschaftsgerichte auf die Beschaffung der erforderlichen Einwilligungserklärungen bei Annahme brasilianischer Kinder, die unter Umgehung der Ämter zustandegekommen waren. ... Die örtlichen Jugendbehörden seien von den Eltern einfach `vor vollendete Tatsachen' gestellt worden. ... Zu vier Monaten und drei Wochen auf Bewährung wurde dagegen ein deutscher Graf rechtskräftig verurteilt, der gemeinsam mit einer Verwandten schwangeren Frauen auf den Philippinen ihre Kinder abkaufte und mit Hilfe fingierter Vaterschaftsanerkennungen an Adoptiveltern weitergab. Nicht nachweisbar, aber nicht auszuschließen seien Berichte, nach denen auf Kindesraub spezialisierte Schmuggler-Ringe etwa in Ecuador und Guatemala Säuglinge gewaltsam entführten

223

und ins Ausland verkauften. Kaum nachzuweisen sei auch, wie viele `gezielt für den Kindermarkt produzierte Babys' Aufnahme in der Bundesrepublik gefunden hätten. Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Colombo habe sich Ende 1986 einmal ein Bild von einer `Babyfarm' auf Sri Lanka machen können. ... Seit 1982 läuft in der Türkei ein Prozeß gegen einen Gynäkologen, der verdächtigt wird, für Neugeborene Totenscheine ausgestellt und die Kinder anschließend an Ausländer verkauft zu haben. Mindestens zwei der Neugeborenen sollen nach Deutschland verkauft worden sein. Zwei deutsche Frauen, die keine Kinder erwartet hätten, seien als schwanger in die Istanbuler Klinik des Arztes eingeliefert und mit `ihren' Kindern entlassen worden. Die tatsächlichen Mütter hätten Totenscheine erhalten. ..." (FR 17.08.90) "Kinderhandel in Berlin: 12.000 DM für einen Jungen Das Baby in einer Reisetasche entführt Berlin - Ein elf Monate alter Junge ist aus einem Asylbewerberheim in Berlin-Spandau entführt und dann für 12.000 Mark an ein Ehepaar aus Holland verkauft worden. Das haben gestern zwei Roma gestanden, die in Berlin vor Gericht stehen. In dem für die deutsche Justiz bisher einmaligen Verfahren um international organisierte Geschäfte mit gestohlenen Kindern geht es auch um Entführung und Verkauf eines dreijährigen Mädchens aus einem Heim in Braunschweig. ..." (Morgenpost 19.01.93) In diesem Zusammenhang noch die beiden nächsten Meldungen: "Kinderhändler verurteilt dpa Berlin - Im Prozeß um den Kinderhandel hat das Landgericht Berlin Freiheitsstrafen von vier und zweieinhalb Jahren verhängt. Ein Rumäne (28) und ein Serbe (24) hatten einen einjährigen Jungen aus einem Asylbewerberheim entführt und verkauft. Das Verfahren gegen die Käufer läuft noch." (HH A 29.01.93) Wenn man die vorstehende Meldung als Nichtjurist oder sogar als Jurist gelesen hat, ohne den Straftatbestand am Gesetzeswortlaut genau überprüft zu haben, kommt es einem als selbstverständlich vor, dass solche Leute bestraft werden. Warum aber den Richtern die Verurteilung viel Mühe bereitet hat, macht erst die nächste Zeitungsnotiz deutlich: "Mehr Schutz für Kinder Justizministerin will Lücken im Strafrecht schließen HA Bonn - Die Entführung von Säuglingen und Kindern soll künftig lückenlos unter Strafe gestellt werden. Wer bisher in Deutschland einen Säugling stiehlt, ohne dabei List oder Gewalt anzuwenden, kann nämlich nicht wegen Kindesentziehung bestraft werden. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) legte dazu gestern einen Gesetzentwurf gegen Kindesentziehung und kommerziellen Kinderhandel vor. Zugleich soll auch die Entführung eines Kindes durch einen Sorgeberechtigten ins Ausland strafbar werden. Im entsprechenden Paragraphen 235 des Strafgesetzbuches heißt es bisher: `Wer eine Person unter 18 Jahren durch List, Drohung oder Gewalt ihren Eltern entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.' Wendet jemand weder `List, Drohung oder Gewalt' an, geht er somit straffrei aus. So würde jemand, der ein Kind aus einem vor einem Geschäft abgestellten Kinderwagen nimmt, unbestraft bleiben. Strafbar wäre lediglich der Diebstahl des Kinderwagens, würde der Entführer ihn mitnehmen. In diesem Fall greift auch kein anderer Paragraph. Auch Menschenraub setzt List, Drohung und Gewalt voraus. Von Freiheitsberaubung wollen die Juristen nicht reden, solange das Kind noch so klein ist, daß es keinen eigenen erkennbaren Willen hat. Die Justizministerin wies darauf hin, daß diese Gesetzeslücke bisher von den Gerichten nur durch `Überdehnung' der gesetzlichen Begriffe geschlossen werden konnte. So war es in dem Fall, durch den das Ministerium in einer eingereichten Petition auf die Gesetzeslücke überhaupt erst aufmerksam wurde: Zwei Männer in Berlin entführten ein Kleinkind in einer Sporttasche aus einem Wohnheim. Das Gericht konnte sie nur wegen Kindesentzug verurteilen, weil sie die Sporttasche am Pförtner vorbeitrugen. Das werteten die Richter als `List'. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger will aus dem Paragraphen 235 die tatbestandseingrenzenden Merkmale `List, Drohung oder Gewalt' streichen. Auch der Versuch von Kindesentziehung soll unter

224

Strafe gestellt werden. Bestraft werden soll dem Entwurf zufolge künftig auch ein Täter, der mit Einwilligung des anderen sorgeberechtigten Elternteils mit einem gemeinsamen Kind ins Ausland reist und dort den Entschluß faßt, das Kind nicht mehr nach Deutschland zurückzubringen. Diese Fälle, die sich zumeist in binationalen Ehen und mit Bezug zu islamischen Staaten abspielen, seien bislang noch nicht erfaßt, sagte die Justizministerin: Der Täter könne ohne das Kind in die Bundesrepublik zurückkehren, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen. Diese setzt nach bisheriger Gesetzeslage nur ein, wenn der Täter von vornherein beabsichtigt hat, das Kind nicht mehr zurückzubringen. Diese Gesetzeslücke müsse auch deshalb geschlossen werden, so die Ministerin, weil kein islamischer Staat bislang dem Haagener Abkommen von 1980 beigetreten sei, das die Rückführung entführter Kinder regelt." (HH A 22.12.94)

Durch eine Änderung des Adoptionsvermittlungsgesetzes wurde bei uns inzwischen jegliche Vermittlung von sogenannten "Leih-" oder "Ersatzmutterschaften" sowie der Kinderhandel unter Strafe gestellt. Aber den zur Adoptionsvermittlung allein berechtigten Behörden wird von adoptionswilligen Eltern oft bürokratische Schwerfälligkeit vorgeworfen. Und Vorwürfe an den Gesetzgeber wegen mangelhafter Unterstützung gibt es von Kindesmüttern, die sich aus Not – die WHO schätzt, dass weltweit 50 % der Kinder unbeabsichtigt, 25 % sogar ungewollt zur Welt kommen - zur Freigabe ihres Kindes zur Adoption gezwungen sehen. "Zu arm - Mutter will ihr Baby verschenken HA Berlin - Wie groß muß die Not, die Verzweiflung dieser Mutter sein? Susanne K. (26) aus Berlin will ihr Baby verschenken, weil sie zu arm ist. Ihre kleine Valéry, blond, 16 Monate, soll bei reichen Eltern aufwachsen, die ihr ein schöneres Leben bieten können. Die gelernte Arzthelferin: `Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll, wenn die Sozialhilfe ab Januar eingefroren wird.' Derzeit bekommt sie noch 992 Mark monatlich, wohnt mit ihrem Töchterchen in einer 40-Quadratmeter-Wohnung in Rudow. `Wenn ich Strom und Versicherung bezahlt habe, bleiben uns noch 400 Mark zum Leben. Davon muß ich schon allein 80 Mark für Windeln ausgeben. Frisches Obst ist Luxus.’ ...“ (HH A 03.11.92) Dann doch lieber die Hilfe der Mediziner, damit diejenigen ohne kriminelle Machenschaften Kinder erhalten können, die sich sehnlichst welche wünschen. Und diejenigen durch Anwendung von Verhütungsmitteln gar nicht erst welche bekommen, die sie gar nicht aufziehen können und sie darum schweren Herzens offiziell an das Jugendamt oder inoffiziell durch „Einwurf“ in eine Babyklappe weggeben müssen, was aber bislang die Geburtsgefährdungen der Mutter auflastet, da es noch nicht nach französischem Vorbild die Möglichkeiten anonymer Geburten gibt. Und in welch subjektiv verzweifelter Lage muss sich eine Mutter befinden, die ihr ungewolltes Kind eher tötet, als es zur Adoption frei- und über das Jugendamt an eines der zwei Millionen ungewollt kinderlosen Paare weiterzugeben, die sehnsüchtig auf eine Adoptionsmöglichkeit warten, weil ihnen die Möglichkeiten „assistierter Reproduktion“ auch nicht zu helfen vermochten; oder das Neugeboren wenigstens über eine Babyklappe in liebevolle Hände gelangen zu lassen! Bayern-Modell für anonyme Geburten Angaben zur Mutter werden hinterlegt - Vetorecht gegen nachforschende Kinder von Peter Issig München - In jedem Jahr werden in Deutschland etwa 50 Babys nach ihrer Geburt ausgesetzt. Mehr als die Hälfte dieser Kinder stirbt. Nach Schätzung der Kinderhilfsorganisation Terre des Hommes wurden im vergangenen Jahr 30 neugeborene Kinder tot gefunden, zehn mehr als im Vorjahr. Es sind Frauen in einer psychischen Ausnahmesituation, die ihre Kinder im Stich lassen. Ein Gesetzentwurf der Länder Bayern und Baden-Württemberg soll jetzt die anonyme Geburt rechtlich klar regeln. "Wir wollen diesen Kindern die Möglichkeit geben, zu überleben. Und wir wollen vor allem den Müttern in ihrer extremen seelischen Notsituation Hilfe anbieten", sagt Bayerns Justizministerin Beate Merk. Sie wird am kommenden Freitag die Gesetzesnovelle im Bundesrat vorstellen. Einer Schwangeren, die ihr Kind nicht behalten möchte, wird angeboten, das Kind unerkannt im Krankenhaus auf die Welt zu bringen. Voraussetzung ist, dass sie vorher eine Beratung in Anspruch nimmt. "Mit der qualifizierten Beratung wollen wir natürlich auch erreichen, dass sich die Frauen doch noch für ihr Kind entscheiden", sagt die Ministerin. Bleibt die Mutter aber bei ihrem

225

Entschluss, werden ihre Personalien aufgenommen und in einem versiegelten Umschlag dem Standesamt übergeben. Dort bleiben die Daten geheim. Wenn das Kind 16 Jahre ist, erhält es das Recht, die Angaben über die Mutter einzusehen. Allerdings bleibt der Mutter ein Vetorecht. "Es ist vorstellbar, dass in extremen Fälle, etwa nach einer Vergewaltigung, die Mutter auch nach dieser Zeit ihre Identität nicht preisgeben möchte", erläutert Merk. Bayern greift damit eine Frage auf, die mehrfach die Parlamente beschäftigte, aber nie geklärt wurde. In rund 40 Städten gibt es so genannte Babyklappen, wo Mütter ihre Neugeborenen unerkannt abgeben können. Auch anonyme Geburten in Krankenhäusern sind zwar möglich, rechtlich aber umstritten. Familienorganisationen wie Pro Familia oder Terre des Hommes kritisieren die Möglichkeit anonymer Geburten und warnen vor einer Legalisierung. Kritiker räumen den Rechten der Kinder einen hohen Stellenwert ein. Es sei ihr Grundrecht, die Identität der Eltern zu kennen. Vor zwei Jahren machte der Fall der Französin Pascal Odièvre Schlagzeilen, die bei ihrer Geburt von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben worden war. Sie klagte erfolgreich beim Europäischern Gerichtshof für Menschenrechte auf Offenlegung der Personalien ihrer Mutter. Der Vorstoß Bayerns und Baden-Württembergs soll nun einen Kompromiss ermöglichen. DIE WELT 04.07.04

Aber sofort ergibt sich durch jeden Fortschritt auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin wieder ein regelungsbedürftiges Arbeitsfeld für Juristen: "Drilling aus dem Kühlfach Warum Guy erst drei Jahre nach seinen beiden Schwestern geboren wurde SAD London - Seit dreieinhalb Jahren sind Imogen und Robin Hudson Zwillinge - seit kurzem aber auch Drillinge. Ihr Brüderchen Guy, der zur gleichen Zeit entstand wie sie, erblickte auf dem Umweg über das Kühlfach erst jetzt das Licht der Welt. Die Mutter der Drillinge, die Engländerin Deirdre Hudson (30), konnte ihre beiden Mädchen nur durch eine künstliche Befruchtung bekommen. Bei dem Eingriff wurden damals insgesamt 15 Eier befruchtet. Die Frau ließ sich zwei einpflanzen und die anderen für einen späteren Zeitpunkt einfrieren. Familienplanung der Moderne: Als Mrs. Hudson und ihr Mann Peter (46), ein Bauunternehmer aus Deal in der Grafschaft Kent, sich schließlich einen weiteren Nachkömmling leisten konnten, wurde Guy im Reagenzglas aufgetaut und eingepflanzt, um neun Monate später als einzelner Drilling geboren zu werden. `Drillinge, die im Abstand von mehreren Jahren geboren werden, sind noch sehr ungewöhnlich', sagt Chefarzt Dr. Peter Brinsden. ..." "Oma trägt Enkel aus ap/afp New York - Arlett Schweitzer (42) in Aberdeen (Süd-Dakota) wird im November Zwillinge zur Welt bringen. Es sind ihre eigenen Enkel. Der Amerikanerin wurden Eizellen ihrer eigenen Tochter eingepflanzt, die mit dem Sperma des Schwiegersohnes befruchtet waren. Tochter Christa Uchytil (22) wurde ohne Gebärmutter geboren." (HH A 07.08.91) Bisher haben weltweit nur 15 Frauen Kinder zur Welt gebracht, ohne dass die Schwangerschaft in einer Gebärmutter ausgetragen worden wäre. Im letzten bekannt gewordenen Fall hatte eine südafrikanische Frau ein gesundes Baby zur Welt gebracht, das sich an der Leber statt in der Gebärmutter entwickelt hatte (HH A 24.05.03). Die Hoffnung auf eine solche ungewöhnliche Konstellation ist also für eine Frau mit Kinderwunsch aber ohne Gebärmutter keine realistische Option. "62jährige wird Mutter SAD Rom - Kirche und Ethik-Experten sind entrüstet: Eine 62 Jahre alte Italienerin ist im vierten Monat schwanger, befruchtet durch den Samen ihres vor zehn Jahren gestorbenen Mannes. Das Sperma wurde bei minus 196 Grad Celsius in Mailand seit 1981 gelagert. Die Frau aus Sizilien wird bereits das 63. Lebensjahr erreicht haben, wenn sie das Baby zur Welt bringt. ... Monsignore Ersilio Tornini, Sprecher der Ethik-Kommission der italienischen Bischofskonferenz: ‘Solchen Ärzten, die Frauen zu Kindern verhelfen, die Großmütter sein müßten, muß das Handwerk gelegt werden. Da werden wie an einem Fließband Kinder hergestellt, die schon bald nach der Geburt Waisen werden.‘ ..." (HH A 30.11.91) Gutgläubig übernehme ich solche Meldungen. Später stellen sich manchmal Zweifel an den

226

mitgeteilten Umständen eines Einzelfalles ein, wenn sie mit in anderen Berichten mitgeteilten Fakten verglichen werden können: Es wird bis dahin nur einmal die mit 62 Jahren „älteste Mutter der Welt“ aus Italien gegeben haben. [Sie ist aber später laut HH A vom 24.02.04 zunächst von einer 64jährigen Inderin »entthront« worden, die nach 47 Jahren kinderloser Ehe im Rahmen eines EizellenSpender-Programms mit ihrem 74-jährigen Mann ein Retortenbaby hat zeugen lassen. Am 17.01.05 wurde von einer 67-jährigen rumänischen emeritierten Professorin berichtet, der drei befruchtete Eizellen anderer Frauen durch In-Vitro-Fertilisation implantiert worden waren, von denen eine zur Geburt einer Tochter geführt hatte. 2003 hatte sich im Internet mit Namensangabe und Interview der behandelnden Gynäkologin eine Meldung gefunden, dass eine über 80-jährige Asiatin auf natürlichem Weg schwanger geworden sei, obwohl ihre Regel schon mehr als 30 Jahre ausgesetzt hatte. (Nun schäme sie sich ein wenig vor ihren Enkeln.) Das wäre dann die älteste Muter der Welt, wenn das Kind lebend geboren worden sein sollte. Das aber ist nicht mehr berichtet worden – und hoffentlich auch nicht geschehen.] Oktober 2000 berichtete der STERN in einer Reportage über die neuesten Möglichkeiten in der Reproduktionsmedizin die Frage dieses Jungen an seine bei seiner Geburt mit 62 Jahren damals „älteste Mutter der Welt“ aus Canino, einem Dorf zwischen Latium und der Toscana (und nicht Sizilien, wie in der vorstehenden Meldung): „Mama, warum haben ... die anderen so junge Mamas, und du bist so alt?“ Rosanna Della Cortes erster Sohn war 17-jährig bei einem Motorradunfall tödlich verunglückt. Sie, die in dieser Reportage auch noch einen Ehemann hat, aß und schlief kaum noch, lebte fast auf dem Friedhof. Vier Jahre nach dem Tod ihres ersten Kindes klapperte sie mit dem Pater des Dorfes Waisenhäuser ab, um durch eine Adoption den Verlust ihres Kindes zu überwinden. Aber Vormundschaftsrichter und Jugendämter wiesen sie auf Grund ihres hohen Alters ab. Da entschloss sie sich, eine von einer jungen Frau gespendete, mit dem Samen ihres Mannes befruchtete Eizelle auszutragen. (Im Jahre 2001 wird im STERN 27.12.01 mitgeteilt, dass die inzwischen 69jährige Mutter nicht verstehen könne, dass ihr nunmehr 7-jähriges Kind nicht mehr zweimal täglich mit ihr auf den Friedhof zu dem Grab ihres ersten Kindes gehen will.) Eine Geschichte mit großen Abweichungen von der ersten Meldung. Aber die Abweichungen sind in diesem Fall nicht so entscheidend wie die Frage: Sollte einer psychisch auffälligen Frau noch in dem Alter unter Ausnutzung der neuesten Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin zu einer Schwangerschaft verholfen werden? Marc Aurel, der Philosoph auf dem (römischen) Kaiserthron, sagte vor fast 2.000 Jahren: „Nur ein Wahnsinniger sucht zur Winterszeit Feigen; nur ein Wahnsinniger sehnt sich noch nach einem Kind, wenn es ihm nicht mehr vergönnt wird.“14 Die Wechseljahre können bald relativ problemlos überspielt werden, wenn Frauen sich Eierstockgewebe entnehmen und aufbewahren lassen – gedacht war zunächst an Krebspatientinnen, deren Eierstockgewebe durch Bestrahlung und Chemotherapie zerstört wird – und ihnen dieses Gewebe später irgendwann wieder eingesetzt wird. Dann scheint ihre Fruchtbarkeit wieder einzusetzen. Wenn für die italienische Mutter vielleicht noch ein gewisses Verständnis aufgebracht werden kann, dann setzt es aber wohl doch in dem 10 Jahre später passierten Fall einer Gleichaltrigen aus: „62-Jährige trug Kind ihres Bruders aus ap Paris – Vor einem Monat brachte eine 62 Jahre alte Französin ihr erstes Kind zur Welt. Jetzt kam heraus: Biologischer Vater des Jungen ist ihr Bruder (52). Die Geschwister hatten sich in einer Klinik in Los Angeles als Ehepaar ausgegeben, sagte die pensionierte Grundschullehrerin. dort ließ sie sich das Ei einer anderen Frau einsetzen. Die französische Ethik-Kommission ist empört: Dies zeige die Abwege kommerzieller Medizin. Auf das Kind kämen große Probleme zu, da die Beziehungen gestört seien: ‚Der Onkel ist der Vater, die Mutter hat das Baby nur ausgetragen, und die biologische Mutter kennt es gar nicht.‘ ...“ (HH A 21.06.01) Im Jahresrückblick STERN 27.12.01 wurden Hintergründe aufgezeigt, die ein Reproduktionsmediziner als „Katastrophenszenario der Reproduktionsmedizin“ und ein ermittelnder Staatsanwalt als „einen Fall von sozialem Inzest“ bezeichneten: Weil die in der vorstehenden Meldung angesprochene bizarre Familie aus Mutter (80), Sohn (52 und nach einem missglückten Selbsttötungsversuch fast blind) und Tochter (62) keine Erben hatte, die Tochter einerseits Adoptionen grundsätzlich ablehnte, lieber das Geschlecht in seinen Genen 14

Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, Elftes Buch Nr. 33

227

fortbestehen lassen wollte, und andererseits eine an das Vorhandensein eines Erben geknüpfte Erbschaft über 8 Mill. € retten wollte, kam die Familie auf die Idee, damit später nicht der Staat erbe, müsse ein Erbe mit den Genen der Familie her. In Frankreich ist das nicht möglich, weil das Bioethik-Gesetz von 1994 ausschließlich heterosexuellen Paaren im fortpflanzungsfähigen Alter eine künstliche Befruchtung durch mittels einer In-vitroFertilisation vorgenommene Samenspende erlaubt. Dort hatte ein Gericht in Toulouse schon 1991 entschieden: „Der legitime Wunsch, ein Kind zur Welt zu bringen, ist kein Grundrecht des Menschen, das Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind rechtfertigt, das zur Welt kommen soll.“ Der ob seiner hemmungslosen Praktiken berüchtigte italienische Reproduktionsmediziner Antinori lehnte, um seine (gut zu bezahlende) Hilfe angegangen, aber das Ansinnen der Geschwister, die Eizelle einer Frau mit dem Samen des Bruders in vitro zu befruchten und dann der Schwester einzusetzen, ab, obwohl er schon einer 62-jährigen Frau zu einer Schwangerschaft verholfen hatte, weil er die bei ihm gelagerten Eizellen für jüngere Frauen verwenden wolle. Als die Geschwister vom „Frankenstein der Frauenmedizin“ erfahren, reisen sie in den „wilden Westen der Reproduktionsmedizin“ zu dem kalifornischen Arzt Sahakian („Ich mache möglich, was anderswo verboten ist.“), der mit Eizellen, Sperma und Leihmüttern dealt. Durch seine Vermittlung erhielten die Geschwister von einer Frau eine Eizelle, die von ihm für 86.000 € mit dem Samen des Bruders befruchtet wurde, aber nur zu einer Bauchhöhlenschwangerschaft führte. Bei einem zweiten Versuch für den gleichen Betrag für die ärztliche Hilfeleistung und weiterem Geld für den Ankauf zweier Eizellen, wurden diese Eizellen mit dem Samen des Bruders befruchtet und, wohl um sicher zu gehen, jeweils eine der Schwester und eine gegen Aufpreis der Eizellenspenderin als Leihmutter eingesetzt. Beide Frauen trugen die Kinder aus: Die Schwester brachte den Jungen Benoít-David zur Welt, die Leihmutter die Tochter Maríe-Cécile. Nun sind Benoít-David und MaríeCécile - bis zu einer Adoption - vor dem Gesetz keine Geschwister, obwohl sie dieselbe biologische Mutter und denselben biologischen Vater haben. Die Reagenzglas-Geschwister, nach einer kommentierenden Bemerkung des französischen Gesundheitsministers Kouchner „als Kinder des Wahns geboren an der Grenze zwischen Psychopathologie und Science Fiction“, sind nach dem Gesetz – zunächst - Cousin und Cousine. Die soziale Mutter beider Kinder ist ihre biologische Tante, der biologische Vater der Kinder nach einer Adoption ihr Onkel. Das ganze Unterfangen hat die Geschwister 305.000 € gekostet, bezahlt von dem Geld, dass sie sich nach ihren Aussagen „vom Munde abgespart haben, um es unseren Kindern zu vermachen. ... Ich wollte ein Kind um jeden Preis. Und wenn ich etwas will, dann bekomme ich es auch.“ Arme Kinder, die einer solchen pathologischen Mutter ausgeliefert sind! Bald bedürfen bizarre Schwestern aber vielleicht nicht mehr der Hilfe ihrer ebenso bizarren Brüder oder anderer Männer, damit sie Mütter werden, denn jetzt sollen Männer überflüssig werden: „Zeugung ohne Vater rtr Adelaide – Australische Forscher haben offenbar einen Weg gefunden, Eizellen ohne Sperma zu befruchten. Orly Lacham-Kaplan von der Monash-Universität sagte, ihre Gruppe habe Eizellen von Müttern künstlich mit Körperzellen befruchtet – der Vater wird überflüssig. (HH A 11.07.01) Sinnvoll erscheint jedem Einsichtigen – als den ich mich ansehe und als den auszugeben ich keine Scheu habe – die Nutzung der neuesten Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin u.a. in ähnlich gelagerten Fällen wie dem folgenden: "Hochkonjunktur für Samenbanken US-Soldaten fürchten Unfruchtbarkeit durch C-Waffen-Angriff Seattle (AP) - Hochkonjunktur haben seit dem Ausbruch der Krise am Golf die Krankenhäuser in den USA, die Samenbanken angelegt haben: Immer mehr US-Soldaten, die in das Kriegsgebiet entsendet werden, deponieren hier aus Angst vor Tod oder Verwundung ihr Sperma. ... Ein anderes Paar hat sich nach allen Seiten hin abgesichert: Es hat nicht nur das Sperma des Mannes einfrieren, sondern auch mehrere Eizellen der Frau im Labor künstlich befruchten lassen und im Krankenhaus deponiert. So könnte der Mann, falls seiner Frau in seiner Abwesenheit etwas passieren sollte, mit Hilfe einer Ersatzmutter noch Vater eines gemeinsamen Kindes werden. ..." (SZ 05.02.91)

Aus dieser neuen Art der Fortpflanzungsmöglichkeit können sich weitere juristische Schwierigkeiten ergeben:

228

„Geteilte Zwillinge SAD London – Panne in einer New Yorker Klinik: Ärzte setzten einer Patientin zwei Eizellen ein – eine eigene, von ihrem Mann befruchtete, die andere stammte von einem farbigen Paar. Im Dezember brachte die Frau Zwillinge verschiedener Hautfarbe zur Welt. Jetzt haben die Eheleute beschlossen, nur das weiße Kind zu behalten, das schwarze ‘schenken‘ sie seinen Eltern.“ (HH A) Und wenn die das Kind gar nicht haben wollen? Rechtlich geregelt werden müsste von vornherein auch, was schon in Amerika passiert ist und entschieden wurde: „Lesbische Mütter rtr Boston – Eine US-Richterin in Boston hat entschieden, dass die Namen zweier lesbischer Frauen auf der Geburtsurkunde eines künstlich gezeugten Jungen stehen dürfen. Die eine spendete die Eizelle, die andere trug sie nach der Befruchtung aus. Die Rubrik ‘Vater‘ wurde gestrichen.“ (HH A 12.08.00) „Künstliche Befruchtung Waisenrente verweigert dpa Washington - Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Judith Hart wurde künstlich gezeugt - mit dem Sperma, das Edward Hart vor seinem Tod in einer Samenbank deponierte. Im Mai sprach das Verwaltungsgericht in New Orleans (Louisiana/USA) der Vierjährigen eine Waisenrente zu. Diese Entscheidung hat die Sozialbehörde erfolgreich angefochten. Das Gesetz sehe nur Renten für Kinder vor, die Lohnzahlungen an erkrankte oder verstorbene Eltern ersetzen sollen. Judith und ihre Mutter wollen vor ein Bundesgericht gehen. Ihre Anwältin Diane Curtis: `Es geht hier um die Interpretation eines Verfassungsgrundsatzes.´“ (HH A 04.12.95) Die Steigerung: Die Amerikanerin Gaby Vernoff ließ der Leiche ihres Mannes Sperma entnehmen, das zunächst eingefroren wurde. Zwei Jahre später hatte sie dann eine Tochter von diesem Sperma. Da tat sich erst recht die juristische Frage auf: Steht Kindern, die vom Dahingeschiedenen nicht einmal als Möglichkeit gedacht waren, eine Halbwaisenrente zu? Und was sollen Juristen mit dem nachfolgenden Fall anfangen? "Zwitter gebar Baby dpa Tel Aviv - Eine als Zwitter geborene Frau aus dem Norden Israels hat einen gesunden Sohn zur Welt gebracht. Es ist der zweite Fall weltweit, bei dem eine mit männlichen Geschlechtsorganen geborene Frau ein implantiertes Ei austrägt." (HH A 23.04 93)

Und auch für die Strafjuristen bleibt ein wenig Gesetze überprüfende Denkarbeit zu leisten; neue Techniken, neue oder neuartige Delikte: „Haft für Frauenarzt SAD Alexandria – Dr. Cecil B. Jacobson (55) muß für fünf Jahre hinter Gitter. Er soll 75 Kinder mit seinem Sperma gezeugt haben. ...“ (HH A 09.05.92) Leider wird nicht mitgeteilt, wegen welchen Delikts der Arzt zu langjähriger Haft verurteilt wurde. Ich gehe davon aus, dass kein Fall einer ungewollten Insemination vorlag, sondern die Patientinnen durch die Hilfe des Arztes ihren Kinderwunsch erfüllt haben wollten. Das hat er vertragsgemäß gemacht - mit den Genen eines Mannes, von denen er überzeugt war, dass es gute Gene seien, denn sie hatten ihn nachgewiesenermaßen zu einem erfolgreich abgeschlossenen Studium und einem nicht nur angesehenen, sondern auch lukrativen Beruf befähigt. Es gibt ja auch Nobelpreisträger, die ihren Samen zur Verfügung stellen, damit’s ein Prachtkerl wird. Selbst wenn vertraglich der Samen eines aus einem Katalog ausgewählten Modellathleten als vertragliche Leistung geschuldet gewesen sein sollte, würde das nach meinem völlig unmaßgeblichen Rechtsempfinden in diesem Fall keine 5-jährige Haftstrafe rechtfertigen. Die wäre wohl eher in den Fällen angebracht, in denen in mindestens zwei mir bekannt gewordenen Fällen Ärzte aus Rache verheirateten weißen Frauen bewusst den

229

Samen schwarzer Samenspender eingepflanzt hatten, um den Frauen ein Leid anzutun und ihre Ehe zu zerstören. Im Ausgangsfall unserer Überlegungen liegt der einzige mir bekannt gewordene Verstoß ausschließlich darin, dass ein Samenspender nicht so viele Kinder zeugen dürfen soll, wie es der Arzt getan hat, um zu verhindern, dass Inzest-Kinder entstehen könnten, wenn so Gezeugte sich als Erwachsene kennen lernen und ohne ihr Wissen um ihre Halbgeschwistereigenschaft dann ihrerseits Kinder zeugen. Was einige Ärzte aus Rache schon vorsätzlich gemacht haben, weißen Frauen negroide Kinder anzuhexen, ist auch schon wiederholt fahrlässig geschehen: In Großbritannien hat eine weiße Frau nach der Behandlung in einer Fortpflanzungsklinik möglicherweise auf Grund einer „normalen“ Verwechslung von Spendersamen oder auf Grund einer Schlamperei, weil die zum Einsetzen benutzte Pipette vor ihrer erneuten Benutzung nicht gereinigt worden war und von einer vorhergehenden Insemination noch die Spermien eines schwarzen Spenders enthielt, unerwartet schwarze Zwillinge geboren. (Nur so ist jedenfalls der Fall zu erklären, dass eine in den Niederlanden mit Spendersamen behandelte weiße Frau ein weißes und ein schwarzes Kind als zweieiige Zwillinge zur Welt gebracht hat.) In dem Fall der britischen schwarzen Zwillinge ist es jetzt eine juristisch spannende Frage, ob die weißen Eltern ihre schwarzen Kinder abgeben dürfen – oder abgeben müssen, wenn festgestellt wurde, zu wem die Kinder genetisch gehören, die die weiße Gebärende bei Verwendung einer eigenen Eizelle als eigene Kinder mit Hilfe einer anderen als der gewollten männlichen Samenspende oder möglicherweise als juristisch so zu wertende ungewollte Eispenderin und dann in unfreiwilliger Leihmutterschaft als fremde Kinder ausgetragen hat und die genetischen Eltern »ihre« Kinder heraus verlangen sollten! Auf jeden Fall liegt nach deutschem Recht eine zum Schadensersatz verpflichtende Schlechtleistung seitens des Arztes und seines Hilfspersonals vor, denn es war vertraglich nicht eine beliebige Schwangerschaft gewollt, sondern eine modifizierte: die weiße Frau hatte ausweislich ihrer Einlassung auf jeden Fall nicht schwarze Kinder gewollt! Aber wohin sollen die Kinder nun? Wem sollen sie (an-)gehören? Wer soll sie groß ziehen? Ein Heim für »ärztliche Fehlleistungskinder« gibt es ja noch nicht. Wer sollen die juristischen Eltern sein? Handelt es sich um den Samen eines Samenspenders, der nur ein wenig dazu verdienen wollte und deswegen seinen Samen an eine Samenbank verkaufte, oder um jemanden, der seinen Samen abgab, um bewusst selber Vater zu werden, weil das Ehepaar sich ohne ärtzliche Hilfe nicht seinen Kinderwunsch erfüllen konnte? Was soll höher bewertet werden: die soziale oder die genetische Mutterund eventuell auch Vaterschaft? Vom Deliktscharakter her einsehbar ist hingegen nachfolgender Fall: „Eizellen-Raub SAD Los Angeles – Ungewöhnlicher Diebstahl in einer Fruchtbarkeitsklinik in Santa Ana (Kalifornien). Ärzte entnahmen neun Frauen unter Narkose Eizellen und pflanzten sie anderen Frauen ein. In drei Fällen führten die gestohlenen Eizellen zu einer Schwangerschaft. Die Klinik wurde geschlossen.“ (HH A 14.11.95) Das strafjuristische Problem scheint mir (wenigstens nach deutschem Recht) relativ leicht lösbar. Aber dann müssten wir zu unserer Frage zurückkehren: Wer ist die Mutter? Einmal deutsches Recht unterstellt, ist gemäß § 935 BGB selbst ein gutgläubiger Erwerb bei gestohlenen Sachen nicht möglich: Eine gestohlene Sache steht zwar während der Zeit ihrer Besitzentziehung nicht im Besitz, bleibt aber immer im Eigentum ihres letzten rechtmäßigen Eigentümers. Die Eizelle gehörte somit weiterhin der Eigentümerin, die mit ihr geboren wurde. Daran konnte die mit ihr ahnungslos in gutgläubigem Erwerb befruchtete Frau zehn Jahre lang gar kein Eigentum erwerben. Dann wurde aus der gestohlenen „Sache“ in einem dialektischen Sprung auch noch eine Person. Und nachdem die Leibeigenschaft (in Deutschland – von bizarren Formen mancher Ehe einmal abgesehen - zuletzt praktiziert in der Form der Erbuntertänigkeit) durch die Stein-Hardenbergschen-Reformen im größten Teil Deutschlands1807 abgeschafft ist, kann man an einer Person erst recht kein Eigentum erwerben! Fragen über Fragen!!! Deutsche Richter können froh sein, solche und ähnliche Prozesse - bisher - nicht entscheiden zu müssen, ihre US-amerikanischen Kollegen müssen es: „Nach Scheidung Das erste Retortenbaby ohne Eltern SAD Santa Ana – Armes Kind! Jaycee Louise Buzzanca (2) ist das erste Retortenbaby ohne Eltern. Das von einer Leihmutter ausgetragene Mädchen war im Reagenzglas aus einer gespendeten Samenzelle und einem ebenfalls gespendeten Ei gezeugt worden. Das Ehepaar, das die künstliche Befruchtung in die Wege geleitet hatte, ließ sich noch vor der Geburt scheiden. Es kam zu einem Rechtsstreit um das Baby – wer sollte es bekommen? Ein Richter in Santa Ana (Kalifornien)

230

entschied jetzt überraschend, daß Jaycee weder Vater noch Mutter hat. ... Wer das per Gesetz zum elternlosen Baby bestimmte Kind jetzt behalten darf, ist unklar. ...“ (HH A 11.09.97) Drei Jahre später wurde der Fortgang des Rechtsstreits mitgeteilt: Vater Buzzanca hatte die Unterhaltszahlung mit dem Argument verweigert, dass er mit dem Kind gar nicht verwandt sei. Aber die Juristen eines Appellationsgerichts entschieden nach langjährigem Rechtsstreit: Da Jaycee ohne den diesbezüglichen Willen Johns und seiner Exfrau niemals gezeugt worden wäre, seien diese beiden die rechtlichen Eltern und er folglich unterhaltspflichtig. Als ich schon seit den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts an diesem Buch zu schreiben begann, wusste ich nicht, wie aktuell ich mit den damaligen, inzwischen nach jeder wesentlichen medizintechnischen Neuerung aktualisierten juristischen Ausführungen einmal sein könnte. Ich hielt sie mehr für ein für eine Einführung in unser Recht lehrreiches juristisches Glasperlenspiel. Die Phantasie war teilweise weiter als die technischen Möglichkeiten. Ende Mai 2000 wurden dann öffentlich Überlegungen diskutiert, noch in der Legislaturperiode bis 2002 ein neues Gesetz zur Fortpflanzung zu verabschieden, das das zum 01.01.91 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz (ESchG) ablösen sollte, da insbesondere die ICSI-Methode15 zur „intrazytoplastischen Spermieninjektion bei schwerer männlicher Subfertilität“ (extrem herabgesetzter Zeugungsfähigkeit; als Beispiele werden an anderer Stelle Oligoasthenoteratozoospermie, Globozoospermie oder immunologische Infertilität angeführt16) einen neuen rechtlichen Rahmen erforderlich machte. Und damit Sie sehen, was von der Ärzteschaft (vermutlich außerhalb der Ministerialbürokratie) beauftrage Juristen an gesetzesähnlicher Arbeit so leisten, sei zitiert, was unter „eingeschränkte Kontraindikation“ bei Anwendung dieser Methode und unter „elterliche Voraussetzungen“ in der Richtlinie bestimmt wird: „Durch Anwendung der Methode entstehende, im Einzelfall besonders hohe medizinische Risiken für die Gesundheit der Frau oder die Entwicklung des Kindes. Psychogene Unfruchtbarkeit. ... Grundsätzlich darf nur Samen des Ehepartners Verwendung finden (homologes System). Die Anwendung dieser Methode bei nicht verheirateten Paaren in stabiler Partnerschaft darf nur nach vorheriger Beratung durch die bei der Ärztekammer eingerichtete Kommission durchgeführt werden. Die Anwendung der Methoden bei alleinstehenden Frauen und in gleichgeschlechtlichen Beziehungen ist nicht zulässig. Sollen bei der Anwendung dieser Methoden fremde Samenzellen verwendet werden, bedarf dies eines zustimmenden Votums der bei der Ärztekammer eingerichteten Kommission. Die Anwendung der Methoden ist unzulässig, wenn erkennbar ist, dass die Frau, bei der die Schwangerschaft herbeigeführt werden soll, ihr Kind nach der Geburt auf Dauer Dritten überlassen will (Ersatzmutterschaft). ... Vor Durchführung einer assistierten Reproduktion sollte die Aufklärung des Ehepaares die relevanten medizinischen, juristischen und sozialen Gesichtspunkte berücksichtigen.“ Was die juristischen Gesichtspunkte betreffend geschehen ist, wenn man dieses Kapitel gelesen hat. Weiter heißt es: „Gelangt der Arzt aufgrund seiner Gespräche mit den Ehepartnern und konsiliarischer Beratung mit psychotherapeutisch tätigen Fachkollegen oder Psychologen – insbesondere in Fällen, in denen ein Kinderwunsch geäußert wird, um bestehende Probleme in der Partnerschaft zu überwinden – zu der Überzeugung, dass sich durch die Geburt des Kindes diese Probleme der Partnerschaft nicht bewältigen lassen, so soll er keine der aufgeführten Behandlungsmethoden der Fortpflanzungsmedizin anwenden.“ Sie sehen, nicht alles, was bei assistierender Reproduktion, die bei mehr als 5 % der Geburten in Deutschland durchgeführt wird, an rechtlichen Regelungen zu beachten ist, kann von interessierten „Noch-nicht-Eltern“ dem Gesetz entnommen werden! (Diese Erkenntnis gilt für den gesamten Bereich der Juristerei, denn: „Ein Blick ins Gesetz behebt - nur - manchen Zweifel.“) Das deutsche ESchG 1990 war eines der strengsten Europas. Vieles, was in ihm verboten und für die Befruchtungsmediziner (nicht aber immer für die daran beteiligten Frauen) bei der „assistierten Reproduktion“17 15

Wenn einfache Verfahren wie Hormontherapie oder Samenübertragungen in die Gebärmutter erfolglos geblieben sind, wird eine In-vitro-Fertilisation (IVF) versucht. Dabei werden die Eizellen in einer Nährlösung mit den Spermien des Mannes zusammengebracht, wo sie sich an sich selbst miteinander verbinden sollen. Wenn aber auf Grund der schlechten Spermienqualität die Chance einer Verschmelzung sehr gering ist, wird auf die Methode der intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) zurückgegriffen, bei der jeweils ein Spermium in eine vorbereitete Eizelle injiziert wird. 16 „Ceterum censeo“, dass mein Buch lesbarer ist als medizinische Richtlinien! 17 „Zu dieser assistierten Reproduktion gehören der intratubare Gametentransfer (GIFT), der intratubare Zygotentransfer (ZIFT) und intratubare Embryotransfer (EIFT), die Invitro-Fertilisation mit Embryotransfer (IVF und ET) und die intrazytoplasmatische Spermatozoeninjektion (ICSI) sowie verwandte Methoden. Diese Richtlinien schließen die Anwendung der assistierten Reproduktion zum Zwecke der Präimplantationsdiagnostik (...) nicht ein, ebenso befassen sich die Richtlinien nicht mit der intrauterinen Insemination und der hormonellen Stimulationsbehandlung als alleinige Maßnahmen.

231 zur „Erfüllung des Kinderwunsches eines Paares, wenn nicht zu erwarten ist, dass dieser Wunsch auf natürlichem Weg erfüllt werden kann“ (Richtlinie) mit bis zu drei oder teilweise sogar bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht wurde, ist in anderen europäischen Ländern erlaubt. Das deutsche Embryonenschutzgesetz von 1990 hatte eine eindeutige Wertebestimmung vorgenommen: Jede Herstellung und jede Verwendung eines menschlichen Embryos wurde als unzulässig verboten, es sei denn, sie diene der Herbeiführung einer gewollten Schwangerschaft der betroffenen Frau. In dem Embryonenschutzgesetz wurde bisher u.a. geregelt, dass ein Arzt eine Eizelle nur dann „in-vitro“ künstlich befruchten durfte - was bei rund 3 % aller Geburten in Deutschland Jahr für Jahr geschieht -, wenn der Mann, mit dessen Samen eine Eizelle befruchtet werden sollte, noch lebte, und wenn ausschließlich eine Schwangerschaft bei der Frau herbeigeführt werden sollte, von der die Eizelle stammt. Die Herstellung überzähliger Embryonen durch die Befruchtung im Reagenzglas, deren Einfrieren oder das Weiterkultivieren von bereits geteilten Embryonen ist darin verboten worden. Bei jeder Befruchtung dürfen laut ESchG höchstens drei, nach der Bundesärztekammerrichtlinie - die gesetzliche Vorgabe aus Gründen der Vermeidung der Risiken einer Drillingsschwangerschaft einschränkend - nach vom Arzt zu dokumentierender Aufklärung über diese Risiken höchstens zwei Eizellen befruchtet werden, die grundsätzlich zurückzugeben, d.h., der Frau einzupflanzen sind. Reproduktionsmediziner halten die Zahl von drei zur Befruchtung freigegebenen Embryonen pro Zyklus für zu niedrig, weil bei 40-jährigen Frauen zwischen 60-80 % der Eizellen einen Defekt aufweisen, die Schwangerschaftsrate zwischen nur 20-30 % und die Geburtsrate zwischen nur noch 10-15 % liegt. Leihmutterschaft durch künstliche Befruchtung der Ersatzmutter zur späteren Überlassung des Babys oder Übertragung eines fremden Embryos (befruchtete Eizelle) in ihren Körper – nicht nur in den USA erlaubt sowie die Übertragung eines menschlichen Embryos auf ein Tier zur Herstellung einer „tierischen Leihmutterschaft“ sind genau so generell verboten wie das Klonen eines Embryos, eines Fötus, eines Menschen oder eines Verstorbenen, wie des Weiteren Eingriffe in die Keimbahn zur Veränderung von Erbinformationen, die Erzeugung von Chimären (durch das Verschmelzen menschlicher Zellen unterschiedlicher Herkunft, wie es bei „Dolly“ vorexerziert worden ist) oder von Hybridwesen (unter Überwindung des auch als „yuck factor“ bezeichneten Ekelfaktors die Gattungsgrenzen überschreitende Kreuzung von Erbinformationen zwischen Mensch und Tier durch entweder eine Befruchtung einer menschlichen Eizelle mit dem Samen eines Tieres oder durch die Befruchtung einer tierischen Eizelle mit dem Samen eines Mannes18), sowie die Forschung an, der Verkauf von und der Handel mit in Deutschland hergestellten Embryonen. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur genetischen Untersuchung von Embryonen auf Genschäden oder Geschlecht vor Rückgabe war in dieser Fassung des ESchG ebenfalls grundsätzlich untersagt gewesen. Eine Ausnahme wurde in § 3 ESchG für die Untersuchung auf Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder eine ähnlich schwerwiegende geschlechtsgebundene Erbkrankheit gewährt. (2004 wurden in der BRD die beiden ersten im Wege der PID im Reagenzglasstadium zuvor auf Genschäden der Eizelle hin untersuchten Babys geboren.) Als eine gesetzliche Überregulierung kann die angeordnete Strafbarkeit desjenigen angesehen werden, der gegen den Arztvorbehalt verstößt und eine künstliche Befruchtung vornimmt, ohne Arzt zu sein, da sowohl die Frau, die eine künstliche Befruchtung bei sich vornimmt, wie auch der Mann, dessen Samen zu einer künstlichen Insemination verwendet wird, straffrei gestellt werden. Und was ist mit der helfenden Freundin in einer lesbischen Beziehung, die gerne an der Entstehung eines „Lesben-“ oder „Internet-Babys“ beteiligt sein möchte,

18

Unter GIFT (...) versteht man den Transfer der männlichen und weiblichen Gameten in den Eileiter. Mit EIFT (...) wird die Einführung des Embryos in den Eileiter bezeichnet. Unter In-vitro-Fertilisation (IVF), auch als ‚extrakorporale Befruchtung’ bezeichnet, versteht man die Vereinigung einer Eizelle mit einer Samenzelle außerhalb des Körpers. Die Einführung des Embryos in die Gebärmutter wird als Embryotransfer (ET) bezeichnet. Mit ZIFT (...) bezeichnet man die Einführung der Zygote in den Eileiter. Unter der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) versteht man ein Verfahren, bei dem eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle injiziert wird mit dem Ziel, eine Schwangerschaft bei der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Die dazu verwandten männlichen Keimzellen können aus dem Ejakulat, aus den Nebenhoden (MESA) oder aus den Hoden (TESE) gewonnen werden.“ (Bundesärztekammerrichtlinie 1998) Die ersten Schritte in diese Richtung sind aber schon dadurch getan, dass menschliche Stammzellen aus u.a. dem Nabelschnurblut „… in die Leber einer neugeborenen Maus [transplantiert wurden]. Die Wissenschaftler hoffen, damit künftig die Reaktionen des menschlichen Immunsystems auf Viruserkrankungen wie Aids und Hepatitis C besser erforschen zu können. ’In der antiken Mythologie wurden Fantasiefiguren häufig als Kreuzungen zwischen Mensch und Tier beschrieben’, sagt IRB-Direktor Antonio Lanzavecchia. ’Mit dieser Entdeckung ging ein antiker Traum in Erfüllung.’“ (HH A 02.04.04)

232

wie es aus den USA schon mehrfach berichtet wurde: Wo ist deren so großer Unrechtsgehalt, dass sie bestraft werden müsste? Aber üblicherweise wird ein solches einverständliches Zusammenwirken von Lebenspartnerinnen den Strafermittlungsbehörden ja nicht bekannt, so dass Verurteilungen solcherart kaum ausgesprochen werden. Man hat mit dieser so gefassten Strafbestimmung jedoch die Möglichkeit zu einer Rachehandlung geschaffen, wenn die inseminierte Frau von der ihr helfenden Lebenspartnerin verlassen wird, weil die sich in sie verzehrender Leidenschaft einer anderen Frau zuwenden will und dann die Verlassene aus Rache für den Liebesentzug die „Ungetreue“ irgendwie bestraft wissen möchte. (Eine ähnliche Rachemöglichkeit gab es früher schon einmal, als der Ehebruch durch Seitensprung bis 1969 noch mit Strafe bedroht gewesen war und dem sich verletzt fühlenden Partner durch die Einschaltung der Strafjustiz eine „Rachebestrafung“ gegenüber dem „gesprungenen“ ermöglicht worden war - deren Androhung bei sich aus dem Ehebruch ergebenden Scheidungen zu wohlfeilen Erpressungen bezüglich des auszuhandelnden Unterhaltes oder anderer Zahlungen genutzt werden konnte; und auch so genutzt wurde. Diese Rachemöglichkeit gibt es jetzt nur noch als von Truppendienstgerichten nach dem Soldatengesetz geahndetes „Eindringen in eine Kameradenehe“; auch bei abstrusen Konstellationen: 2002 in einer familiären Dreiecksgeschichte, die nichts mit dem Militärdienst zu tun hatte, bei der aber die beiden Cousins mehr oder minder zufällig in 500 km entfernten Standorten in Nordrhein-Westfalen und Bayern bei der Bundeswehr Dienst taten und einer die sich in Thüringen vernachlässigt fühlende Frau des anderen heiraten wollte. Das erinnert an das alte Beamtenrecht nach alter Auslegung, dem zufolge ein Beamter z.B. auch bei einem privat verschuldeten Verkehrsunfall noch zusätzlich disziplinarisch bestraft werden konnte. Wie man im Beamtenrecht davon abkam, kleinere „Allerwelts-Vergehen“ des Beamten in seiner privaten Lebensführung oft zusätzlich als Dienstvergehen zu bestrafen, so sollten auch im Soldatenrecht nur anlässlich des Dienstes begangene Vergehen von Truppendienstgerichten abgeurteilt werden dürfen!) Nicht im ESchG gefordert war, dass das Paar mit Kinderwunsch durch Reagenzglasbefruchtung verheiratet sein musste. Aber die auf der Grundlage des ESchG geschaffenen standesrechtlichen Richtlinien der Bundesärztekammer zur künstlichen Befruchtung, an die sich jeder Arzt halten muss, der in diesem Bereich tätig werden will, forderten es. Nicht eindeutig geregelt waren Experimente mit embryonalen Stammzellen, die im Ausland Embryonen im 32bis 64-Zellstadium entnommen wurden, wodurch die Embryos zerstört wurden, weil man aus dem Inneren der Blastozysten, der Keimblasen in der Form eines hohlen Zellenballs, sämtliche Stammzellen entnommen hatte. (Zur Klarstellung: Wird einer Blastozyste zur PID-Untersuchung nur eine Stammzelle zum Zwecke der Untersuchung der Gene auf erkennbare Genschäden entnommen, lebt die Blastozyste weiter und es entwickelt sich der Embryo ohne jeden Schaden durch das Fehlen der einen Stammzelle - aber möglicherweise geschädigt durch den Entnahmevorgang!) Es gab zum 09.08.2001 - dem Tag der Entscheidung des US-Präsidenten über die Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen nur der bis dahin bekannten Stammzelllinien mit staatlichen Mitteln - weltweit 72 Stammzelllinien, die aus Züchtungen für Befruchtungen durch „In-VitroVertilisationen“ hervorgegangen sind und aus denen kein Mensch mehr hervorgehen kann: 27 aus den USA, 25 aus Schweden, 10 aus Indien, 6 aus Australien und 4 aus Israel. Für die ethische Abwägung blieb festzuhalten: Alle bisherigen Stammzelllinien sind aus „überzähligen“ Embryonen gewonnen worden, die nicht mehr für eine Befruchtung gebraucht wurden und deswegen künstlich vereist gelagert wurden. Nur wenige der vereist gelagerten Embryonen sind dafür aufgetaut worden. Alle anderen werden zwar weiterhin vereist gelagert, sind aber insoweit nutzlos, weil sie nie mehr zu dem hergestellten Zweck der Erzeugung einer Schwangerschaft bei einer bestimmten Frau eingesetzt werden, da diese ursprünglichen Pläne - aus welchen Gründen auch immer nicht mehr weiter verfolgt werden. Diese Embryonen müssten über kurz oder lang weggeworfen werden, um sie so zu entsorgen. Die Embryonen aufzutauen und dann wegzuwerfen soll ethischer sein, als aus ihnen Stammzelllinien zu gewinnen und die möglicherweise zur Heilung bisher unheilbarer Krankheiten wie z.B. Parkinson zu verwenden? Der Papst würde sicher gern weniger zittern, und alle anderen an Parkinson erkrankten Menschen ebenfalls. Keine Stammzelllinie ist bis 2003 zu Zwecken der Forschung extra hergestellt worden! Es war, wenn man es in der gebotenen Klarheit ausdrückt, bisher nur eine sinnvolle „Resteverwertung“ zu Forschungszwecken vorgenommen worden, um die bei der Entstehung menschlichen Lebens ablaufenden Mechanismen verstehen zu lernen. Naturwissenschaftlich betrachtet stellte sich die ethisch-moralisch zu bewertende und dann in eine juristische Form zu gießende Frage: Sollten diese schon vorhandenen, sonst sämtlich irgendwann zu entsorgenden Embryonen nicht besser dazu verwandt werden, um im Sinne einer Ethik des Helfens und Heilens durch Züchtung aus ihnen zu gewinnender embryonaler Stammzellen nach Mitteln suchen zu können, um bei schwer- und schwerstkranken Menschen, denen nicht anders als durch eine Gentherapie geholfen werden kann, die Hoffnung auf Besserung oder Heilung aufrecht zu erhalten?

233

“Die lebenden Statuen Nur wenige Ärzte kennen die extrem seltene Krankheit FOP: Wie in einem Alptraum verwandeln sich Muskeln in Knochen - und die darunter Leidenden versteinern. Mediziner sind dem Rätsel auf der Spur, was die Kranken zu Knochenmenschen werden lässt. Dass Harry Eastlack aus Philadelphia einmal versteinern würde, war besiegelt von dem Moment an, als ein Spermium im Bauch seiner Mutter mit einer Eizelle verschmolz. Denn auf einem von beiden, Spermium oder Eizelle, lastete eine bösartige Botschaft - ein Fluch, dem er nicht entrinnen konnte. Als der Junge zur Welt kam, ahnten weder Eltern noch Ärzte etwas. Nur ein unscheinbarer Schönheitsfehler fiel ihnen auf: Die beiden großen Zehen waren kürzer als normal. Und sie waren seltsam nach innen verdreht. Aber keiner maß dem damals - es war im Jahr 1933 - große Bedeutung bei. Genauso trug es sich zu bei Jeannie Peeper, geboren in Michigan 1958. Kein Arzt wurde stutzig angesichts der verbogenen Zehen von Roger zum Felde, geboren 1965 bei Hamburg. Niemand schrie Alarm im bayerischen Kempten, als 1989 Matthias Sommer das Licht der Welt erblickte. Mit schiefen Zehen wurde am 11. September 1996 in New York Sophia Forshtay aus dem Mutterleib gezogen, ein munteres Baby von über 3500 Gramm Gewicht. Das mit den Zehen, sagten die Doktoren, das würde sich schon richten lassen. Sie irrten. Sie wussten nicht, was Fred Kaplan weiß. Kaplan, ein Mediziner am Uni-Krankenhaus in Philadelphia, hat seine Karriere und sein Leben dem Studium der bösen Botschaft gewidmet, die aus den verformten Gliedmaßen spricht. Kaplan, 51, hat in über zwölf Jahren mehr als 390 dieser Gezeichneten kennen gelernt, Kinder und Erwachsene, aus allen Erdteilen. Er hat ihnen oder ihren Eltern die Wahrheit gesagt: Die krummen Zehen sind die Ankündigung einer Katastrophe im Körper, das sichere Merkmal einer Horror-Krankheit, die so selten ist, dass kaum ein Arzt je von ihr gehört hat. An die Wände seines kleinen Büros hat Kaplan Fotos von Kindern geklebt. Es sind Dutzende, und Kaplan, selbst kinderlos, erinnert sich an alle mit ihren Namen und Geschichten: ’Das ist David, das ist Tiffany, das ist Daniel.’ Manche der Kinder halten Teddybären im Arm, eines spielt mit Hunden, ein anderes mit Luftballons. Sie lachen, und sie sehen aus, als verlebten sie trotz allem eine glückliche Kindheit. ’Wir müssen etwas tun für diese Kinder’, sagt Kaplan, der Ex-Jockey, ein drahtiger, entschlossener Mann. ’Es reicht nicht, dass wir ihnen in Zukunft bessere Rollstühle bauen.’ Er behandelt seine Patienten kostenlos - aber es gibt nicht viel, was er tun kann. Sichtlich leidet er darunter. Ein Heilmittel, das ist es, wonach Kaplan sucht; er und sein Team, und außer ihnen kaum eine Hand voll von Kollegen weltweit. Kaplan, die Molekularbiologin Eileen Shore sowie der Mediziner David Glaser, 34, haben sich am Uni-Krankenhaus der University of Pennsylvania in Philadelphia auf eine Odyssee begeben. Unterstützt von einem Dutzend Mitarbeitern im Labor arbeiten sie wie Detektive daran, ein ebenso gespenstisches wie faszinierendes Rätsel der Medizin zu lösen. Noch haben sie den Durchbruch nicht geschafft, aber die Konturen des Übeltäters zeichnen sich deutlich ab. 'Zu meinen Lebzeiten’, verspricht Kaplan, ’wird dieses Problem verschwinden.’ Was diese Krankheit mit den Körpern der Kinder anstellt, das ist so alptraumhaft, als hätte Franz Kafka es sich ausgedacht. Ihr Schicksal steht dem kaum nach, was der Schriftsteller in seiner Erzählung ’Die Verwandlung’ dem Handelsvertreter Gregor Samsa antut. Samsa wacht auf und entdeckt, dass sich sein Körper in der Nacht auf unbegreifliche Weise verändert hat: Samsa ist ein Rieseninsekt geworden. Ein Käfer. Sophia, das Mädchen aus New York, bekam eines Nachts einen steifen Hals, nur Wochen später steife Schultergelenke, dann steife Ellenbogen. Für immer sind ihre Arme in einer Position eingefroren, als würde sie die Hände zum Gebet falten. Und dies ist erst der Anfang. Stück für Stück, unter den entsetzten Augen ihrer Mutter, verwandeln sich Teile ihres Kinderkörpers in Knochen. Sophia, 6, versteinert zu einer lebenden Statue. Jeannie Peeper, heute 44, wachte als Kind eines Morgens auf und konnte den linken Arm, vor der Brust verschränkt, nicht mehr bewegen. Und nie mehr danach. Später erstarrte auch der andere Arm, die Knie, die Hüften. Kaum mehr als die Finger und das rechte Handgelenk sind ihr geblieben. Zerbrechlich wirkt ihr schmaler Körper, dabei ist er beinhart. Mit 13 Jahren hat sie zuletzt gekaut. Dann gefror ihr über Nacht das Kiefergelenk; sie kann sprechen, mühelos und klar, aber Mahlzeiten muss sie in flüssiger Form zu sich nehmen.“

234

(www.medicineworldwide.de / Erbkrankheiten) „Michael und Annette Schöler mussten im Sommer 2001 tagelang auf die Ergebnisse der medizinischen Tests an ihrem jüngsten Sohn Nico warten. Erst kurz zuvor hatten Ärzte die seltsamen Symptome ihres heute 15 Jahre alten Sohns Kai erstmals eindeutig diagnostiziert: Er leidet an metachromatischer Leukodystrophie (MLD), einer äußerst seltenen Stoffwechselkrankheit, bei der wegen eines Enzymdefekts nach und nach das Gehirn zerstört wird. Das Leiden ist vererbbar, führt zu körperlicher und geistiger Rückentwicklung, lähmt Arme und Beine, macht blind und taub. Ein medizinischer Albtraum, der als unheilbar gilt und schleichend tötet. Vier Kinder haben die Schölers. Der älteste Sohn Tim aus erster Ehe erlitt schon mit vier Jahren einen Schlaganfall und ist schwerbehindert. Und jetzt noch diese Gewissheit: Nicht nur Kai, sondern auch der dreijährige Nico trägt die tickende Zeitbombe MLD in sich.“ (Stern 06.02.03) Wenn man auf diesen Seiten von Medicine-worldwide liest, was alles an schrecklichen Erbkrankheiten möglich ist, dann vergeht einem die Lust zum Kinderzeugen! Wenigstens für eine Nacht! Wer möchte seinem Kind ein solches Schicksal zumuten und es selber mit ansehen? Wer hätte es selber durchleiden mögen? Ich hätte auf mein Leben unter diesen niederschmetternden Umständen sehr gut verzichten können! Wie kann man da noch mit dem Argument: „Keine Schwangerschaft auf Probe!“, gegen die PID sein? Und gegen einen selbstbestimmten Tod, wenn man die Gewissheit hat, dass man in einem schleichenden Prozess von innen heraus langsam versteinert oder Arme und Beine gelähmt werden, man langsam blind und taub wird und zum sich unsäglich lange hinziehenden Schluss sich das Gehirn auflöst. Doch dieser juristische Problemkreis der Euthanasie am Beispiel der für die Niederlande und inzwischen auch für Belgien geltenden Regelung wird hier unter 2.8.19.1 (und darüber hinaus in meinem Strafrechtslehrbuch „Einführung ins Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten“) näher abgehandelt. Uns Deutschen bleibt in einem solchen Fall nur, sich um Sterbehilfe nachsuchend an die Schweizer Organisation „Exit“ zu wenden.

Stammzellen galten als Wunderwaffe der Medizin und Heilmittel der Zukunft, weil sie sich durch Zellteilung vermehren und zugleich in Zellen unterschiedlicher Gewebetypen verwandeln können, so dass ein Mensch entsteht und sein Körper im Idealfall ein Leben lang von den eigenen Zellen repariert wird. Treten in dem Reparaturmechanismus Störungen auf, entstehen Krankheiten, die nicht mehr von dem körpereigenen ReparaturSet behoben werden. Dann sollen zu diesem Zweck in den erkrankten Körper einzuschleusende gesunde Stammzellen den ins Stocken geratenen Reparaturmechanismus des erkrankten Körpers wieder in Gang setzen. Gewebebanken könnten – so die Vorstellung – im Krankheitsfall (trotz der damit verbundenen Abwehrreaktionen des körpereigenen Immunsystems des Empfängers!) Ersatz für jeden Zelltyp bereithalten. Wenn sich diese Hoffnungen realisieren lassen, könnte dann z.B. mit Nervenzellen bei Alzheimer, Multipler Sklerose und Morbus Parkinson, mit Leberzellen bei Hepatitis und Zirrhose, mit Knochenzellen bei Osteoporose und Knochenkrebs, mit Herzmuskelzellen bei Herzinfarkt und anderen Herzerkrankungen, mit Hautzellen bei Hautkrankheiten oder Hautverletzungen und bei großflächigen Verbrennungen, mit Inselzellen beim Diabetestyp I und mit Blutzellen bei Bluterkrankungen geholfen werden. Teilweise sind diese Versuche schon erfolgreich: Von dieser optimistischen Sicht der Behandlungsmöglichkeiten mittels der Gentherapie musste man aber nach Komplikationen bei der Behandlung der seltenen Immunschwächekrankheit X1-SCID (zunächst?) wieder abrücken. Bei an dieser Krankheit Erkrankten fehlt ein Protein, das für die Bildung körpereigener Abwehrzellen notwendig ist, so dass jeder an sich harmlose Keim im Körper der von dieser Krankheit Betroffenen eine lebensbedrohliche Infektion auslöst. Die Kinder müssen von der Geburt an unter einem sterilen Plastikzelt leben. Zur Bekämpfung dieser Krankheit waren bei Gentherapien heilende Gene mittels so genannter Retroviren in die noch unreifen Knochenmark-Blutstammzellen der Kinder eingeschleust worden. Die Kinder konnten das erste Mal in ihrem Leben normal leben – bis mehrfach eine durch die Behandlung hervorgerufene Leukämie festgestellt wurde. Nun muss erst einmal versucht werden zu klären, wie groß die Krebsgefahr durch Gentherapie bei verschiedenen Gentherapieansätzen ist, zumal die beobachtete Form der Leukämie nur bei der Behandlung von Kindern auftrat.

235

Als Stammzellen stehen theoretisch als toti- oder auch als pluripotent bezeichnete embryonale oder multipotente adulte Zellen zur Verfügung. Die pluripotenten embryonalen Stammzellen können sich noch in alle rund 270 Gewebetypen des menschlichen Körpers verwandeln, die adulten »nur« noch in diejenigen, auf die sich die Zellen im Laufe ihrer Entwicklung schon spezialisiert haben. Bei der Verwendung zwangsläufig körperfremder embryonaler Stammzellen besteht das Problem der Abstoßung der vom Patientenkörper als körperfremd erkannten injizierten Stammzellen oder des transplantierten Ersatzgewebes und ein Krebsrisiko (wie schon bei der künstlichen Befruchtung ein zur Ablösung der Netzhaut führendes erhöhtes Netzhaut-Tumorrisiko festgestellt wurde). Die »nur« noch multipotenten adulten Stammzellen hingegen sollen aus dem Körper des zu behandelnden Patienten, z.B. als mesenchymale Stammzellen aus seinem Knochenmark, gewonnen werden. Damit entfiele die gefürchtete Abstoßungsreaktion, weil es sich ja um körpereigene Zellen handelt. Obwohl auch Zellen aus dem Knochenmark bereits ihre Wandlungsfähigkeit zu Leber-, Muskel- oder Gefäßwandzellen mehrfach bewiesen haben, bleiben Zweifel an deren Funktionstüchtigkeit. Das Problem bei der Verwendung adulter Stammzellen ist, dass sie unerkannt bereits defekte Gene enthalten können, die sich im Laufe des Lebens des Patienten bei den vielen Zellteilungen irgendwann möglicherweise schon entwickelt haben. Außerdem ist ihre Vermehrung nicht unbegrenzt möglich. Nach mehreren Wochen in der Kultur werden sie genetisch instabil und unbrauchbar für mögliche Therapien. Zudem sind sie rar im menschlichen Körper. Bei diesen grundsätzlichen Schwierigkeiten muss also geforscht werden, um die für einen Einsatz von Stammzellen erforderlichen Erkenntnisse überhaupt erst noch zu erarbeiten und genaueren Einblick in die Wirkmechanismen embryonaler und adulter Stammzellen zu erlangen. Der Vergleich der adulten mit embryonalen Stammzellen sei dabei unverzichtbar. Ohne Forschung an embryonalen Stammzellen könne man nicht die Arbeitsweise und Wirkung nur noch auf die Bildung bestimmter Körperzellen spezialisierter und ausdifferenzierter adulter Stammzellen verstehen lernen: Was veranlasst eine pluripotente Stammzelle, sich in einen bestimmtes Körperteil zu entwickeln? Wie können nur noch einfach potente adulte Stammzellen zur Produktion eines bestimmten Gewebes angeregt werden? Wenn man die Wirkmechanismen hinlänglich verstanden habe, wäre erneut zu entscheiden, ob und wie fortgefahren werden solle. Man könnte dann zielgerichteter mit adulten Stammzellen arbeiten, die den ganz großen Vorteil haben, dass sie für jeden Erkrankten körpereigen gewonnen werden können und darum die aus ihnen hergestellten Ersatzgewebe von dem Körper des Erkrankten nicht mehr abgestoßen würden. Der Traum wäre dabei, als Ergebnis einer "biochemischen Verjüngung" schon spezialisierte adulte Stammzellen dazu zu bringen, sich zu pluripotenten embryonalen körpereigenen Stammzellen zurückzuentwickeln, die dann jede Art der gerade benötigten Körperzellen herstellen könnten. Adulte Stammzellen werden schon zur Therapie bei Krebserkrankungen, z.B. bei an Leukämie erkrankten Kindern, genutzt. „Designer-Babys in Australien Eltern wollen kranke Kinder durch Stammzellen-Spende retten Sydney – Neue Hoffnung für drei todkranke Kinder in Australien. Die Behörden haben den drei Elternpaaren die Erzeugung von Designer-Babys erlaubt. Sie dürfen jetzt Embryos durch künstliche Befruchtung erzeugen, von denen jeweils der Fötus mit dem am besten geeigneten Genmaterial ausgesucht werden soll. Das Kind werde dann ausgetragen, um der Plazenta Stammzellen entnehmen zu können. Diese werden für die Behandlung der Geschwister verwendet. Die drei Geschwister haben schwere Blutkrankheiten, die normalerweise tödlich enden. ... Alle drei Kinder sind nur durch Knochenmarktransplantationen zu retten. Nach Angaben der Ärzte steht die Chance, auf natürlichem Weg einen Spender mit geeignetem Erbgut zu finden, bei eins zu mehreren Milliarden. Durch die In-vitro-Befruchtung erhöhe sie sich auf eins zu vier. Erst Ende Februar hatten auch britische Behörden einem Elternpaar ein ’Designer-Baby’ erlaubt.“ (HH A 17.04.02) „London erlaubt ‚Designer’-Babys London – Ein britisches Berufungsgericht hat den Weg zur Herstellung eines ‚Designer’-Babys frei gemacht. Eltern eines schwer kranken Jungen (3) wollen per künstlicher Befruchtung ein Baby zeugen, um mit dessen Zellen den Sohn zu retten. (KNA)“ (HH A 09.04.03) "’DESIGNER-BABYS’ Großbritannien ermöglicht Embryonen-Auswahl Großbritannien hat die Bestimmungen für die Auswahl von menschlichen Embryos nach

236 "wünschenswerten Merkmalen" gelockert. Die so genannten ’Designer-Babys’ sind künftig dann erlaubt, wenn damit Geschwisterkinder gerettet werden können. Damit ist eine solche Vorauswahl rechtlich zulässig. Die Behörde für Befruchtung und Embryologie teilte ihre Entscheidung am Mittwoch in London mit. Nun kann die Methode der Vorauswahl von den Eltern eines zwei Jahre alten Jungen in Anspruch genommen werden, der an einer seltenen Blutkrankheit leidet. Der Junge soll mit Stammzellen behandelt werden, so dass sein Körper wieder genug rote Blutkörperchen produziert. Doch weder seine Eltern noch sein drei Jahre älterer Bruder sind ihm genetisch ähnlich genug, um als Spender in Frage zu kommen. Deshalb sollen Ärzte durch künstliche Befruchtung bis zu zwölf Embryos schaffen und dann prüfen, welcher die genetische Zusammenstellung hat, die dem Jungen helfen könnte. Dieser Embryo soll dann der Mutter eingepflanzt werden. Die Reaktionen auf die Zulassung der Methode fielen unterschiedlich aus. Der Fruchtbarkeitsexperte Simon Fischel sagte, es wäre unethisch, davon keinen Gebrauch zu machen, da so Leben gerettet werden könnten. Jack Scarisbrick von der Anti-Abtreibungsorganisation Life dagegen meinte, es könne ’niemals richtig sein, Menschen herzustellen, um andere Menschen zu reparieren.’" (Spiegel Online 21.07.04) Weg frei für "Designer-Babys" London - Die künstliche Zeugung von "Designer-Babys" zur Stammzellenbehandlung von schwerkranken Geschwistern ist in Großbritannien jetzt offiziell erlaubt. Das entschied das höchste britische Gericht. afp HH A 29.04.05 Wenn Embryonen nach ihrer Eigenschaft als potentieller Organspender für ein schon lebendes sehr krankes »Geschwisterkind« ausgesucht werden dürfen, dann ist es folgerichtig, so weit es nach dem Stand der Wissenschaft schon möglich ist durch eine Vorauswahl und Voruntersuchung (PID) sicher zu stellen, dass gar nicht erst ein krankheitsbelasteter Embryo zur Entwicklung gebracht wird: GROSSBRITANNIEN Embryos mit Krebsrisiko dürfen aussortiert werden Fortschritt oder Horrorvorstellung? Eine britische Behörde hat einen weiteren Schritt zur Aufzucht von "Designer-Babys" ermöglicht. Embryos, die ein Gen für ein erhöhtes Darmkrebs-Risiko besitzen, dürfen jetzt vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter ausrangiert werden. London - Für die einen ist es ein beachtlicher medizinischer Fortschritt, für die anderen der erste Schritt in eine Welt voller Design-Menschen: In Großbritannien dürfen Embryos, die genetisch ein erhöhtes Darmkrebs-Risiko tragen, vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter aussortiert und durch gesunde Embryos ersetzt werden. Die britische Behörde für menschliche Befruchtung und Embryologie (Human Fertilisation and Embryology Authority) bestätigte jetzt die Genehmigung eines entsprechenden Verfahrens. Bei der Prozedur werden Embryos auf einen genetischen Fehler untersucht, der die so genannte Familiäre Adenomatöse Polyposis (FAP) auslösen kann. Betroffene entwickeln in der frühen Jugend zahlreiche Polypen im Dickdarm, die bösartig entarten können. Allerdings ist die FAP äußerst selten: Nur ein Prozent aller Rektumkarzinome gehen auf sie zurück. Statistisch gesehen tritt das Leiden bei einem von 10.000 Neugeborenen auf. "Hiermit wird es uns gelingen, ein fehlerhaftes Gen völlig auszuradieren", sagte Paul Serhal vom University College London, der die Embryonen überprüfen wird. Eine der Patientinnen, eine 35jährige Frau aus Bristol, sei "überglücklich", dass sie das erhöhte Krebsrisiko nun nicht mehr auf ihr Kind übertragen könne, berichtete die Londoner "Times". Kritiker des Londoner Verfahrens wenden ein, dass vorselektierte "Designer-Babys" geschaffen würden. Es sei keineswegs sicher, dass die Träger des Gens auch wirklich Darmkrebs bekämen. Außerdem könne man durch frühzeitige chirurgische Eingriffe verhindern, dass die Krankheit ein gefährliches Stadium erreiche. Am Ende dieser Entwicklung würden vielleicht nur noch Embryos mit einem perfekten Erbgut am Leben gelassen. Die britische Behörde hatte in diesem Jahr bereits die Vorauswahl von Embryos nach bestimmten "wünschenswerten Merkmalen" erlaubt, wenn damit Geschwisterkinder gerettet werden können. Hintergrund war der Fall eines zweijährigen Jungen, der an einer seltenen Blutkrankheit leidet. Eine Stammzellspende soll bewirken, dass sein Körper wieder genug rote Blutkörperchen produziert. Stammzellen mit passendem Erbgut sollen dazu einem gezielt per künstlicher Befruchtung

237

geschaffenen Geschwisterkind entnommen werden. In Deutschland ist jede genetische Voruntersuchung von Embryos vor dem Einsetzen in die Gebärmutter - die Präimplantationsdiagnostik (PID) - verboten. (SPIEGEL ONLINE 02.11.04) Zur Vielschichtigkeit des von den Parlamentariern zu entscheidenden Problems kommt – wie schon vorstehend angesprochen - hinzu: Zur Krankheitsbekämpfung später einmal eingesetzte (körperfremde) embryonale Stammzellen haben gegenüber adulten Stammzellen auch gravierende Nachteile, denn Gewebe, das aus ihnen gewonnen wird, wird – wie bei Organtransplantationen auch - vom Körper des Empfängers als fremd erkannt und abgestoßen. Um diese Abstoßungsreaktion zu unterbinden, muss ein Empfänger sein Leben lang Medikamente einnehmen. Die bis dato gesehene Alternative wäre, aus geklonten Embryonen embryonale Stammzellen zu gewinnen und daraus Ersatzgewebe zu züchten. Dafür müssten aber auf dem Wege des sogenannten „therapeutischen Klonens“ Embryonen gezielt als „Ersatzteillager Mensch“ hergestellt werden. Allerdings haben Klontiere mit zahlreichen Schädigungen gezeigt, dass es bisher nicht gelingt, das gesamte Erbgut umzuprogrammieren. Anfang 2003 elektrisierte die Beobachtung einer in den USA lebenden, in Unna geborenen Wissenschaftlerin, die bei ihren Forschungen festgestellt hat, dass im menschlichen Körper (zwangsläufig körpereigene) Stammzellen aus dem Knochenmark ins Gehirn wandern! Wenn diese Beobachtung sich nutzen lässt, indem man lernt, körpereigene embryonale Stammzellen zum Wachstum anzuregen und defekte Zellen zu ersetzen, könnte bei der Behandlung von z.B. Parkinson auf den Einsatz körperfremder embryonaler Stammzellen verzichtet werden. Dann gäbe es bei einer solchen Therapie nicht nur die eine Behandlung so sehr erschwerende Immunsperre nicht mehr, man wäre auf sehr elegante Art auch ein moralisches Dilemma los. Diese Forscherin erklärte in dem am 24.01.03 im DLF übertragenen Interview, dass bis zum Verstehen der Wirkmechanismen und der sich daraus möglicherweise ergebenden Nutzung bei der Behandlung bisher nicht heilbarer Krankheiten unbedingt die Forschung an embryonalen Stammzellen fortgesetzt werden müsse, um verstehen zu lernen, was embryonale Knochenmarkstammzellen veranlasse, im Gehirn Nervenzellen zu bilden. Und vielleicht wäre das in anderen Körperteilen auch möglich. Für eine verbrauchende Embryonenforschung kämpfen die knapp 0,1 % Querschnittsgelähmten, die es in jeder Gesellschaft gibt, in Deutschland ca. 66.000, zu denen jedes Jahr rund 1.500 neue hinzukommen. Weltweit prominentester Streiter für dieses Vorhaben ist der Filmheld „Superman“, der seit seinem Reitunfall 1995 C-2querschnittsgelähmte19 US-Schauspieler Christopher Reeve. Für den Fall, dass es nicht gelingt, im »verlängerten Gehirn«, dem Rückenmark, die meist durch einen Unfall durchtrennten Nervenzellen zu neuem Wachstum anzuregen, könnten vielleicht von außen eingeschleuste Nervenzellen leisten, was die alten (bisher) nicht mehr schaffen: Aus embryonalen Stammzellen gewonnene Neuronen könnten eventuell die durch den Abriss entstandene Nervenlücke schließen. Das Argument der Querschnittsgelähmten lautet: Selbst im Wissen darum, dass für genetisch zu einem Patienten passende Zellen ein künstlich gezeugter Embryo heranwachsen und nach gut einer Woche abgetötet werden muss, sollten wenigstens die Forschungsvorhaben der verbrauchenden Embryonenforschung fortgeführt werden dürfen, weil das Recht eines Hundertzellers ohne Sinn und Verstand nicht über das Recht lebender und leidender Menschen gestellt werden dürfe und nicht klar sei, ob ethisch unbedenklich gewonnene adulte Stammzellen die gleichen Heilungschancen böten. Mit Hilfe der Möglichkeiten von Stammzelltherapien sollen Gelähmte wieder gehen und Blinde wieder sehen können: „Transplantation von Stammzellen: Blinder lernt langsam wieder sehen Etwa vierzig Jahre lang konnte ein Mann aufgrund eines Unfalles nichts sehen. Bereits vor knapp 24 Monaten wurden seine erblindeten Augen mittels einer Stammzellen-Transplantation erfolgreich behandelt. Experten der Universität von Kalifornien zeigen nun im Magazin 'Nature Neuroscience' auf, dass der 'MM' genannte Patient unter großen Schwierigkeiten langsam lernt, seine wiedererlangte Fähigkeit wieder anzuwenden. Einfache Strukturen erkennt er.“ (Sternshortnews 24.08.03) In anderen Versuchen wurden 2004 sieben Patienten Retina-Zellen eines Fötus in ein Auge verpflanzt. Die übertragenen Zellen von Föten regenerierten die zerstörte Netzhaut der Patienten. Es scheint so möglich, die für 19

Lähmung vom zweiten Halswirbel an abwärts: Der Kopf wird nur noch durch die Halsmuskulatur am Körper gehalten. Signale aus dem Gehirn können die Bruchstelle C-2 nicht mehr passieren. Die Patienten müssen u.a. künstlich beatmet und ernährt werden.

238

unheilbar gehaltenen Krankheiten Retinopathia pigmentosa, und Makula-Degeneration, die bedeutendsten Leiden in Industrieländern, die zu Erblindung führen, tatsächlich rückgängig zu machen. Doch von anderer Ärzteseite schlägt den Forschern harsche Kritik entgegen, denn die Netzhautzellen stammen von abgetriebenen Föten. Sollte sich die Therapie erfolgreich etablieren, gibt es nicht genügend Gewebe. Und dann könnte es, so die Befürchtung, zu extra herbeigeführten Schwangerschaften und nachfolgenden Abtreibungen kommen, um fötale Netzhautzellen für die Transplantation zu gewinnen.

Bei der Zulassung einer unbeschränkten verbrauchenden Embryonenforschung mit letztlich der Möglichkeit des Klonens von Menschen würde sich für manche Frau – wie bei der u.a. in den USA möglichen und durchaus lukrativen Eizellen»spende«20 – ein großer Markt auftun. Dabei wären jedoch die Gefahren des Klonens mit, wie sich in Tierversuchen gezeigt hat, der Möglichkeit schwerer und schwerster Missbildungen zu berücksichtigen, so dass der Versuch des Klonens von Menschen von fast allen Wissenschaftlern abgelehnt wird; nicht aber bisher von den »Doktores Frankenstein«. (Doch diese Position kann durch die neueste Entwicklung 2004 in Korea, durch die aus einem genetisch kopierten menschlichen Embryo Stammzellen gewonnen wurden, überholt sein, die aber aus didaktischen Gründen erst später unter 2.8.19.1 dargestellt wird, weil zunächst der Wissensstand ausgebreitet und Ihnen zur eigenen Entscheidungsfindung vorgelegt werden soll, über den die Bundestagsabgeordneten verfügten, als sie ihre Entscheidung hinsichtlich einer möglichen Freigabe der Stammzellforschung in Deutschland treffen mussten. So können Sie besser überlegen, wie Sie sich damals hätten entscheiden wollen, wenn Sie sich zuvor jahrelang in freizeit- und kräftezehrenden nächtelangen Parteisitzungen zu einem MdB-Bewerber Ihrer Partei hochgedient hätten und Ihre Partei bei der Wahl dann so erfolgreich abgeschnitten hätte, dass bei der Unterverteilung der Bundestagsmandate nach Haare/Niemeyer auf die einzelnen Landeslisten gerade auch noch Sie berücksichtigt worden wären und in den Deutschen Bundestag hätten einziehen können. Willkommen dort – und werden Sie nun Ihrer Aufgabe gerecht, als um die Entscheidung gerungen wurde, ob und gegebenenfalls wie eine Stammzellforschung in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht werden sollte.) Über diese umfassende Problematik hatte der Deutsche Bundestag am 30.01.02 zu entscheiden. Zur Abstimmung standen drei überfraktionell gestellte und unterstützte Anträge, für die nur unstrittig war, dass a) die zu entscheidende Frage im Embryonen-Schutzgesetz nicht geregelt ist, weil man zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Gesetzes noch keine Ahnung von diesen neuen biomedizinischen Möglichkeiten hatte, die Rechtslücke also erst nachträglich entstanden ist, b) keine Embryonen zur Herstellung von Stammzelllinien extra erzeugt werden sollen, und c) es trotz der vorliegenden drei Anträge letztlich nur um eine Grundentscheidung gehe: Verwendung embryonaler Stammzellen für die Forschung: ja oder nein. Dahinter steht die Frage: Was oder wer ist ab welchem Zeitpunkt »Mensch« und nimmt ab dann über seine ihm damit zuerkannte »Menschenwürde« teil an dem sich daraus ableitenden Grundrechtsschutz? Um Ihnen eine Entscheidungsgrundlage für Ihr eigenes Wertempfinden an die Hand zu geben, damit Sie überlegen können, wie Sie als MdB und damit oberster Gesetzgeber gestimmt hätten, werden die Argumente aus der Debatte nachgezeichnet21 und mit weiteren angereichert: Der die embryonale Stammzellenforschung gänzlich untersagende Antrag lehnte einen Import im Ausland erzeugter embryonaler Stammzellen und Forschung an und mit ihnen aus folgenden Gründen ab:  Menschliches Leben beginne (nach dem meist christlichem Verständnis der jeweiligen Abgeordneten) mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Darum habe auch von diesem Zeitpunkt an für den Staat, die Gesellschaft und die Mitmenschen ein uneingeschränkter unverfügbarer Lebensschutz zu gelten. Von da an gelte die als oberstes Grundrecht normierte und geschützte Würde des Menschen, Und sie gilt sogar bis über seinen Tod hinaus.  Wenn man den Beginn des Lebens an andere Kriterien als diesen (sehr frühen) Zeitpunkt binde, dann komme man fast zwangsläufig zu der Frage: Ist die Würde des Menschen nur dann unantastbar, wenn ein Mensch zur Selbstachtung fähig ist? Alle anderen zeitlichen Grenzen als der Zeitpunkt der Kernverschmelzung seien willkürlich. Besonders begehrt sind bei Eizellen“spenden“ Eizellen begabter Studentinnen der Elite-Universitäten. Für eine ihrer Eizellen sind einer gut aussehenden und hochintelligenten Absolventin der Elite-Universität Princeton 35.000 US-Dollar geboten worden. Die Untergrenze für Eizellen hat sich bei 5.000 US-$ eingependelt. 21 Das Parlament 8./15.02.02 S. 13-21 20

239  

 







    22

Der uneingeschränkte Lebensschutz selbst eines Embryos verbiete es, einen etwa eine Woche alten Embryo für die Gewinnung von Stammzellen zu töten.22 Die Tötung von Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen könne durchaus als früheste Form der Tötung eines Menschen zur Gewinnung von Organen empfunden werden. „Wenn wir erst einmal einen Katalog definiert haben, welche Bedingungen an die Gewinnung von embryonalen Stammzellen zu stellen sind, welches Argument hätten wir dann noch gegen die Embryonenvernichtung im eigenen Lande?“ Diese Position hatten im Vorfeld der Debatte auch die Leitungen der Großkirchen unisono bezogen. Der Mensch könne Gott nicht ins Handwerk pfuschen. Keine verbrauchende Embryonenforschung. Wenn man den ersten Schritt mache, dann werde bald der nächste folgen. Die einmal geöffnete Tür werde man nie mehr schließen können. Man sollte aber keine Nachfolgezwänge schaffen. Wenn die importierten Stammzellen und die ihnen zu Grunde liegenden Stammzelllinien sich als nicht ausreichend erweisen sollten, werde man – wenn man die Embryonen verbrauchende Stammzellforschung erlaubt habe – mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit weiterer Stammzelllinien auch in Deutschland eine verbrauchende Embryonenforschung mit deutschen Embryonen als Forschungsmaterial zulassen. Darum müsse man den Anfängen wehren. Wenn man eine verbrauchende Embryonenforschung in Deutschland ablehnt, dann müsse man auch den Import von Stammzellen verhindern. Mit einer Importerlaubnis würde man nach Ansicht ihrer Gegner die Tötung der für die Züchtung der Stammzellen erforderlich gewesenen Embryos nachträglich legitimieren. Rechtfertigt die Hoffnung auf mögliche Heilung die Tötung eines im Keim angelegten menschlichen Lebens im Frühstadium? (Im Vorfeld der entbrannten Diskussion war das gleichgesetzt worden mit der sorgfältig platzierten Erschießung von Todeskandidaten in China zur Devisenbeschaffung, wobei der Schuss so sorgfältig angesetzt werde, dass das bestellte Organ des zu Tötenden nicht beschädigt werde.) Könne man abwägen zwischen dem Lebensrecht des Embryos und einer Hoffnung auf Heilung, von der wir nicht wissen, ob sie je zu realisieren ist und ob sie nur auf diesem Wege zu realisieren ist? Ist es vertretbar zu sagen: je intensiver die Heilungshoffnung ist, desto stärker dürfen wir die Unantastbarkeit der Würde des Menschen in einem frühen Stadium in Frage stellen? „Eine angestrebte Therapie oder Heilung für bisher noch unheilbare schwere Erkrankungen – so wünschenswert sie wäre – ist nicht losgelöst zu sehen von den Methoden, mit denen sie erreicht werden soll, und von den Folgen, die sich aus der Befürwortung dieser Methoden ergeben. Wo diese Methoden eine Vernichtung embryonaler Menschen vorsehen, erweisen sie sich als inakzeptabel“, schrieben der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, und der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands, Präses Manfred Kock, den Abgeordneten in einem gemeinsamen Brief. Aber ist der menschliche Keim ab der Befruchtung, dessen Weiterentwicklung zu einem Menschen danach noch an einer Reihe von Imponderabilien hängt und nicht zwangsläufig zu einer Nidation, einer Schwangerschaft und einer Geburt führt, schon ein »embryonaler Mensch«? „Embryonen sind zukünftige Kinder zukünftiger Eltern“, ist ein mild formuliertes Argument. (Die „Frosties“ werden bei dieser Argumentation aber völlig ignoriert.) Ein mit der Axt zugehauenes Argument eines anderen Kardinals lautete, dass der Bundeskanzler mit seiner vermittelnden Position „kleine Menschen morden“ würde. Bei so viel naturwissenschaftlicher Ignoranz braucht man nicht die Ergebnisse der Pisa-Studie, um aufzuzeigen, welche Defizite im deutschen Schulsystem offensichtlich seit langen Jahrzehnten vorhanden sind. Es genügt, Kardinal Meisner zu hören! Wie weit wird menschliches Leben verfügbar, wenn Embryonen unter dem Vorwand der Bekämpfung von Krankheiten getötet werden dürfen? »Der Mensch« habe für den Menschen unverfügbar zu bleiben. Man dürfe niemandem das Recht einräumen zu definieren, in welcher Phase seiner Existenz oder auf Grund welcher Kriterien ein »Mensch« als »Mensch« gelten dürfe. Bei der Übertragung von embryonalen Stammzellen gehe man ein echtes Tumorrisiko ein. Die embryonale Stammzellenforschung lasse sich als Grundlagenforschung genau so gut mit embryonalen Stammzellen von Primaten wie Weißbüscheläffchen betreiben. Der Mensch sei kein Experimentierfeld und kein Ersatzteillager. Folgt aus embryonaler Stammzellforschung irgendwann das Klonen von Menschen? Soll Ersatzgewebe

Der Kölner Neurophysiologe Hescheler gibt an, an einer Methode zu arbeiten, mit der man Stammzellen aus Embryonen ohne deren Tötung werde gewinnen können. Für den kam die im Bundestag mehrheitlich beschlossene gesetzliche Neuregelung zu früh, weil sie den Ansatz seiner wissenschaftlichen Forschung, die nicht embryonenvernichtende Gewinnung embryonaler Stammzellen gleich mit unterbindet.

240

 



für einen bestimmten Patienten im Wege der Stammzellvermehrung gezüchtet und von vornherein eine Abstoßungsreaktion der körpereigenen Immunabwehr ausgeschlossen werden, dann muss das einzusetzende Gewebe mit dem Erbgut des Patienten identisch sein. Das gilt erst recht für die Züchtung ganzer Organe. Genetisch identisches Material kann aber nur durch therapeutisches Klonen hergestellt werden. Dabei wird das Erbgut eines Patienten aus einer seiner normalen Körperzellen isoliert und in eine zuvor entkernte Eizelle injiziert. Es entsteht schon durch das therapeutische Klonen ein künstlicher Embryo, der im Labor zum Wachsen angeregt wird. Genau dieser Weg müsste aber auch beim reproduktiven Klonen eines Menschen beschritten werden. Sich aus Stammzellforschung ergebende Erkenntnisse kämen so zwangsläufig auch dem unter allen Umständen zu vermeidenden Klonen von Menschen zugute. Wenn die embryonale Stammzellforschung bei uns verboten werde, entstehe durch Deutschland kein Nachfragedruck im Ausland, weitere Stammzelllinien zu entwickeln. Amerikanischen Wissenschaftlern sei es gelungen, aus Knochenmark adulte Stammzellen herzustellen, die - angeblich - mit embryonalen gleichwertig seien. Es erübrige sich daher weitere embryonale Stammzellforschung. Man solle sich darum in der Forschung auf die ethisch unbedenklichen adulten Stammzellen beschränken. Ein anderes amerikanisches Forscherteam habe Affen-Eizellen im Wege der „Parthenogenese“ („jungfräuliche Zeugung“) ohne Befruchtung durch männliche Samenzellen zum Wachstum anregen und daraus Stammzellen gewinnen können.

Die Gegenposition – kontrollierter Import von Stammzellen und entweder Option auf eine Gewinnung eigener Stammzelllinien auf der Basis der hier eingefrorenen Embryonen, falls Importe den wissenschaftlichen Anforderungen nicht genügen werden oder gleich die Freigabe der Gewinnung von Stammzelllinien in Deutschland und damit verbunden die Lockerung des Embryonenschutzgesetztes – führte als Argumente ins Feld:  Die grundrechtlich garantierte Forschungsfreiheit gebiete eine Freigabe der Embryonenforschung. Ihr Verbot sei verfassungsrechtlich zumindest problematisch.  Deshalb arbeiteten deutsche Spitzenwissenschaftler auf diesem Gebiet schon seit einiger Zeit einen Teil des Jahres an ausländischen Universitäten oder unterhalten Labors jenseits des Geltungsbereiches der deutschen Gesetze, um nicht in ihrer Forschungsfreiheit so eingeschränkt zu werden, wie in Deutschland bisher.  Selbst der »mittlere« Stichtagsvorschlag verbiete unter massiver Strafandrohung bestimmte Kooperationen mit ausländischen Kollegen von Deutschland aus. Die deutschen Forscher könnten nicht mit Kollegen aus Schweden, den USA, Israel und anderen Ländern kooperieren, weil die an jüngeren Stammzelllinien forschen werden. So könne kein im deutschen Interesse liegender Wissenschaftsaustausch gefördert werden.  Die besten Wissenschaftler ihres Fachgebietes werden abwandern – und im Ausland die Nobelpreise erringen.  Embryonale Stammzellen können leichter gewonnen und besser entwickelt werden als adulte. Man wisse bisher nichts über Tumorrisiken der künstlich gewonnenen Zellen und brauche daher den Vergleich zwischen embryonalen und adulten Stammzellen.  Ohne embryonale Stammzellforschung – möglichst nicht beschränkt auf die durch die Kultivierung mit Mauszellen gewonnenen und daher möglicherweise mit Mausviren verseuchten »Stichtags-Stammzelllinien« - würde sich die biomedizinische Forschung in Deutschland kastrieren. Ohne diese Forschung können keine Zell- und Gewebetransplantate und keine neuen hochwirksamen Medikamente hergestellt werden.  Wegen der möglichen Verseuchung mit Mausviren seien selbst durch die »mittlere« Version für die Stammzellforschung zugelassene Stammzelllinien nicht für eine spätere Therapie geeignet, um irgendwann Parkinson- oder Diabetes-Patienten mit Stammzelltransplantaten zu kurieren.  Biotechunternehmen dürfen an der Forschung mit menschlichen Stammzellen nicht unmittelbar verdienen und deswegen keine die Entwicklung von Medikamenten vorantreibende Auftragsforschung für Pharmaunternehmen betreiben.  Der Mensch ist mehr als sein Genom. Der Mensch ist mehr als seine biologische Wurzel. Darum müsse es einen abgestuften Lebensschutz geben. Da Stammzelllinien keine Embryonen sind, sei auch kein Rechtsgut von Verfassungsrang betroffen. Die Blastozyste, der aus der Morula hervorgegangene hohlkugelartige Frühzellverband der Keimblase, ist noch kein würdefähiger Mensch. Was müssten Leute im Ausland denken, deren Angehörige von korrupten Regimen qualvoll getötet werden, wenn sie miterleben würden, wie im Deutschen Bundestag einige eingefrostete Embryonen der

241





 







 

 



Reproduktionsmedizin mit zu Tode gequälten Menschen gleichgesetzt werden! Darum müsste zumindest die Forschung an im Ausland gewonnenen embryonalen Stammzellen auch in Deutschland erlaubt werden. Es sei - wie es der um Vermittlung bemühte »mittlere« Antrag vorschlägt - keine in sich schlüssige Position, die Einfuhr im Ausland gewonnener embryonaler Stammzellen zu erlauben und gleichzeitig die Verwendung gleichaltriger deutscher „Frosties“ zu verbieten, die nun ohne Perspektive auf Individualität und Menschenwürde in „ewigem Eis“ gelagert oder weggeworfen werden müssen, da sie nicht mehr für eine Befruchtung vorgesehen sind. Die rund 70 in Deutschland gewonnenen Embryos waren nicht als Forschungsobjekte hergestellt worden. Sie sind Überschüsse aus geplant gewesener, aber nicht mehr durchgeführter künstlicher Befruchtung. Das Ausland habe kein Verständnis für die von manchen Deutschen eingenommene Position, dass man sich zu Hause die Hände nicht schmutzig machen, aber von den Ergebnissen der embryonalen Stammzellforschung im Ausland profitieren wolle. Das sei eine Doppelmoral nach dem Motto: „Wasch’ mir den Pelz, aber mach’ ihn mir nicht nass!“ Um verstehen zu lernen, auf Grund welcher Mechanismen sich eine embryonale Stammzelle zu allen benötigten Körperteilen ausdifferenziert, genüge es nicht, mit adulten Stammzellen zu arbeiten, die sich nicht mehr so differenzieren können. Wenn man lernen will, diese Prozesse zur Heilung Schwerstkranker mit hochwirksamen Medikamenten zu steuern, müsse man durch Grundlagenforschung die Wirkmechanismen klären. Auf diese Erkenntnisse ist die Transplantationsmedizin angewiesen, wenn sie zur Umgehung von Abstoßungsreaktionen körpereigene Gewebe oder gar Organe züchten wolle. Für diese Forschung reichen die vorhandenen Stammzelllinien irgendwann qualitativ nicht mehr aus, da sie zu ihrer Ernährung mit Mäuseviren verseucht seien. Adulte Stammzellen sind weniger wandlungsfähig, da sie bereits stark ausdifferenziert sind. Und sie sind nur bedingt vermehrbar. Ihre Anzahl nimmt mit zunehmendem Alter eines Patienten ab. Sie altern mit dem Patienten und verlieren ihre Fähigkeiten. Damit nimmt die Chance ab, insbesondere bei altersbedingtem Bedarf körpereigenes Ersatzgewebe herzustellen. Es sei fraglich, ob sich bei älteren Patienten klinisch verwertbares Ersatzgewebe herstellen lasse. Um diese Kenntnisse zu erlangen, reiche die Forschung an adulten Stammzellen nicht aus. Zur Erlangung des Verständnisses der Zelldifferenzierung und -programmierung benötige man den Vergleich des sich entwickelnden Wachstums zwischen embryonaler und adulter Stammzelle. Man müsse die Programmierung einer Zelle kennen, um sie hinterher quasi wieder reprogrammieren zu können. Es handelt sich bei den für die Forschung vorgesehenen Stammzellen um solche, die durch die Hormonbehandlung als Vorbereitung auf eine künstliche Befruchtung überzählig entstanden sind und dann später bei der künstlichen Befruchtung nicht genutzt wurden. Sie sind, wenn sie nicht wenigstens für die Forschung genutzt werden, zu einem Dasein im „ewigen Eis“ verdammt. Eine Stammzelllinie ist nicht nur kein Embryo, sie ist auch kein embryonales Gewebe. Man könne die Urzelle, aus der sie stammt, ohne weiteres dem Embryo zurückgeben. Aus embryonalen Stammzellen kann sich kein Mensch mehr entwickeln, wie aus Embryonen. Darum besteht für sie kein unmittelbarer Grundrechtsschutz über das Vehikel eines überdehnten Würdebegriffes. Wer den Import ablehnt, verzichtet bewusst auf durchaus vorhandene Chancen zur Heilung Schwerstkranker. Wer den Import ablehnt, müsste konsequenterweise auch dann im Sinne eines „RechtswidrigkeitsImportverbotes“ die irgendwann aus der Stammzellforschung gewonnenen Medikamente den Patienten in Deutschland vorenthalten, denn es wäre eine heuchlerische Doppelmoral, die Stammzellforschung abzulehnen, und hinterher die im Ausland auf Grund dieser Forschung gewonnenen Erkenntnisse auch hier zu nutzen. Doch Mitleid, Barmherzigkeit und Hilfe für Kranke sind Grundwerte unserer Gesellschaft. Wer nicht selber forscht, erringt international kein Mitspracherecht. Gegen die vermittelnde Position, die zwar Stammzellen importieren, aber keine Entwicklung eigener Stammzelllinien zulassen will, wurde vorgebracht: Entweder ist die Forschung an embryonalen Stammzellen moralisch nicht verantwortbar, dann dürfe sie weder im Ausland noch im Inland zugelassen werden und man müsste Sanktionen gegen die Staaten erwägen, die eine solche Forschung zulassen. Oder sie ist moralisch vertretbar, dann muss sie angesichts der auf Heilung wartenden Patienten schnellstmöglich zugelassen werden. Die jetzt schon existierenden embryonalen Stammzelllinien werden möglicherweise nicht ausreichen, denn es gebe schwerwiegende Zweifel an ihrer Qualität: Sie wurden bisher auf Mäusezellen

242



herangezüchtet und könnten daher unbrauchbar sein, weil die Mäusezellen menschliche Zellen mit Mäuseviren infiziert haben könnten. Es besteht der Verdacht, dass selbst eingefrorene embryonale Stammzellen im Laufe der Zeit ihre ursprüngliche Wandlungsfähigkeit verlieren und man daher auf Neugewinnung angewiesen sein könnte. Außerdem stellte sich ausweislich der beiden nachfolgend dazwischen geschobenen Meldungen nach drei Jahren heraus, dass die bestehenden Stammzelllinien inzwischen durch das zu Kultivierungszwecken aus Tierzellen gewonnene Serum verunreinigt sein, so dass sich für die Forschung die Notwendigkeit ergibt, neu gewonnene, reine Stammzellen verwenden zu können.

Embryonale Stammzellkulturen "möglicherweise unbrauchbar" New York - Fast alle embryonalen Stammzellkulturen sind nach Meinung eines US-Teams möglicherweise für medizinische Zwecke unbrauchbar, weil sie Substanzen von Tieren enthalten. "Wir haben ein ernstes Problem entdeckt." Das berichtete der Zellbiologe Ajit Varki von der Universität von Kalifornien in San Diego am Montag in einer Online-Vorabveröffentlichung des Fachjournals "Nature Medicine" (DOI: 10.1038/nm1181). Menschlichen embryonale Stammzellen wollen Forscher für Therapien gegen Leiden wie die Alzheimer Krankheit nutzen. Laut Varki sind die meisten Stammzellkulturen mit Molekülen aus dem von Tieren gewonnenen Serum verunreinigt, in dem die Stammzellen üblicherweise kultiviert werden. Diese fremden Moleküle werden der Studie zufolge von den menschlichen Stammzellen aufgenommen. Wenn diese Zellen oder das aus ihnen gezüchtete Gewebe später in einen Menschen verpflanzt werden, würden sie eine Abwehrreaktion von des Immunsystems hervorrufen, warnen Varki und Kollegen. Um das Problem zu umgehen, sind dem US-Team zufolge wohl frische Stammzelllinien nötig, die nie mit Tierserum in Berührung gekommen sind und mit menschlichem Serum kultiviert werden. Der Leiter der Stammzellenforschung am amerikanischen Gesundheitsforschungsinstitut (NIH) bei Washington, James Battey, stimmt zu, dass die gegenwärtig benutzten Kulturen wenig Wert für die klinische Anwendung beim Menschen haben. Zur Forschung und zur Entwicklung neuer Kultivierungsmethoden, die ohne tierisches Serum auskommen, seien sie jedoch nützlich. Schwedische Forscher hätten bereits Stammzellen gezüchtet, die nie mit tierischen Molekülen Kontakt hatten, hielten diese jedoch unter Verschluss, berichten Varki und Kollegen. (Morgenpost 25.01.05) Embryonale Stammzellen derzeit für Therapie unbrauchbar In der Zellkultur nehmen die menschlichen Zellen ein tierisches Protein auf. Die derzeit verfügbaren embryonalen Stammzellen sind aufgrund einer Verunreinigung für therapeutische Zwecke vermutlich unbrauchbar. Forscher wollen einen Neuanfang mit frischen Zellen. Die derzeit verfügbaren embryonalen Stammzelllinien sind mit einem tierischen Protein verunreinigt und deswegen für therapeutische Zwecke vermutlich unbrauchbar. Sie nehmen das Protein auf, während sie in der Kultur heranwachsen, berichten US-Forscher im Fachblatt «Nature Medicine». Würden diese verunreinigten Zellen in der Therapie eingesetzt, würde das Immunsystem die Zellen mit dem fremden Protein attackieren, schreiben die Forscher. «Fütterungszellen» verunreinigen die Stammzellen Embryonale Stammzellen können sich auf bestimmte Signale hin in alle verschiedenen Zelltypen des Körpers verwandeln, also in Haut-, Herz- oder Nervenzellen zum Beispiel. Wissenschaftler hoffen, die Stammzellen in der Therapie zahlreicher Krankheiten einsetzen zu können, indem sie abgestorbene oder kranke Zellen durch die Stammzellen ersetzen. Beim Heranzüchten werden die embryonalen Stammzellen in einer Nährlösung zusammen mit so genannten «Fütterungszellen» gehalten. Dies sind zumeist tierische Zellen, die auf ihrer Oberfläche ein bestimmtes Protein tragen: Neu5Gc. Auch in der Nährlösung kommt dieses Protein vor, im menschlichen Körper hingegen ist es nicht vorhanden. Allerdings besitzen Menschen Antikörper gegen dieses Protein. Gelangt es in den Körper, würde das Immunsystem die embryonalen Stammzellen also genauso attackieren wie zum Beispiel eingedrungene Krankheitserreger. Experten äußerten schon seit längerem Besorgnis aufgrund der tierischen Bestandteile in den Zellkulturmedien. «Jetzt haben wir einen tatsächlichen Grund für diese Besorgnis gefunden», sagte Fred Gage vom Salk Institute for Biological Studies, der an der Untersuchung beteiligt war. Deutschland: Produktion neuer Zelllinien verboten

243

Am sichersten sei es, neue menschliche Stammzelllinien zu produzieren, die noch nicht mit tierischem Material in Berührung gekommen sind. In den USA allerdings erhalten Forscher keine finanzielle Unterstützung des Staates für die Herstellung neuer Zelllinien. Auch in Deutschland dürfen keine Stammzellen produziert werden, sondern nur solche verwendet werden, die vor dem 1. Januar 2002 im Ausland erzeugt wurden. Die verunreinigten Zellen seien aber nicht gänzlich nutzlos, sie könnten zum Beispiel dazu eingesetzt werden, Zellkulturverfahren zu entwickeln, die ohne tierische Bestandteile auskommen. Bis es soweit ist, hält eine Forschergruppe in Schweden menschliche Stammzellen eingefroren, die noch nie mit tierischem Material in Berührung gekommen sind. (Netzeitung 25. Jan 05, 09:51 Uhr)



Wegen der Geltung der Stichtagsregelung mit dem Stichtag 01.01.02 kann in Deutschland nicht auf solche neu zu gewinnenden embryonalen Stammzelllinien ohne möglicherweise virenverseuchte tierische Bestandteile zurückgegriffen werden. Darum versuchen die Befürworter eines uneingeschränkten Stammzellenimportes und einer eigenen Stammzellliniengewinnung in Deutschland, nachdem sie mit ihrem Vorhaben gescheitert sind, die nachträgliche Einfuhr embryonaler Stammzellen aus später angelegten Stammzelllinien zeitlich unbefristet zu ermöglichen und sich die Stichtagsregelung durchgesetzt hat, durch einen trickreich erdachten „nacheilenden Stichtag“ auch an jüngere Stammzelllinien heranzukommen. Auf die juristische Lösung muss man erst einmal kommen: Die deutschen Forscher sollen auf alle Stammzelllinien zugreifen dürfen, die zu dem geplanten Beginn ihrer Forschungen älter als 3 oder 6 Monate sind; ein kontinuierlich sich verändernder, »laufender Stichtag« also. Ganz schön einfallsreich! Die EU will Stammzellforschung fördern, die sich auf den 27.06.02 bezieht. Ein solches EU-Recht würde in Europa mit deutschen Steuermitteln fördern, was in Deutschland strafbar ist. Dieser juristische Konflikt wird schwer auszuräumen sein. Forschung an tierischen embryonalen Stammzellen könne die Forschung an und Experimente mit menschlichen embryonalen Stammzellen nicht völlig ersetzen, da die bisherige Forschung schon u.a. das Ergebnis zeitigte, dass sich z.B. Mäusestammzellen anders entwickeln als menschliche.

Die mittlere, aber nicht vermittelnde Position wurde von den Abgeordneten bezogen, die zwar die Gewinnung embryonaler Stammzellen aus in Deutschland vorhandenen Embryonen ablehnen, gleichwohl aber einen kontrollierten begrenzten Import embryonaler Stammzellen ausschließlich aus an einem festzulegenden Stichtag (01.01.02) schon bestehenden Stammzelllinien befürworteten. „Der gerade Weg wird in einem Labyrinth gegen die Mauer führen. Manchmal ist es der gewundene Weg, der zum Ausgang führt.“  Durch diesen Vorschlag werde kein Embryo (neu) geschädigt. Die Stammzelllinien existieren schon in dieser Welt. Es werde nur das Vorhandene sinnvoll genutzt. Wer embryonale Stammzelllinien importiert, tötet keine Embryonen.  Der Vorschlag werde den Bedenken beider Grundpositionen weitestgehend und in wohl abgewogener Weise gerecht. Es werden einerseits keine Embryonen getötet und es wird andererseits kein neuer Markt geschaffen.  „Die Menschenwürde wird nicht nur durch aktives Tun verletzt, sie kann auch durch Unterlassen verletzt werden. Ich kann einen Menschen nicht nur durch eine Fehlhandlung, sondern auch dadurch verletzen, dass ich Leiden oder den abwendbaren Tod sehenden Auges hinnehme, obwohl ich die Mittel zu seiner Bewahrung davor habe“, hielt der Pfarrer Hintze (CDU) der Pfarrerin Vollmer (Grüne), die für ein striktes Einfuhr- und Forschungsverbot eintrat, entgegen. In diesem Sinne forderte der Präsident der deutschen Parkinson-Hilfe für die rund 400.000 deutschen Parkinson-Kranken: "Die Gesellschaft braucht eine Gesetzgebung wie in Großbritannien, Schweden, Japan und anderen Nationen, wo streng kontrolliert therapeutisches Klonen menschlicher Embryonen möglich ist." Alles andere sei für die Kranken unmenschlich und für die deutsche Volkswirtschaft unvernünftig.  Wir gehen mit der vermittelnden Position nicht über die Praxis in anderen Staaten hinaus, koppeln uns aber gleichzeitig auch nicht von der neuesten Entwicklung ab. So sichern wir uns international Mitspracherechte.  Der vermittelnd gemeinte Antrag unterstreiche die Rechtslage, nach der in Deutschland keine Embryonen zu Forschungszwecken getötet werden dürfen. Gleichzeitig sichere er die Teilhabe in dieser überaus wichtigen Forschung. Der »mittlere« Antrag, der zwar die Etablierung verbrauchender Embryonenforschung in Deutschland und den Import humaner embryonaler Stammzellen grundsätzlich verbieten, gleichwohl aber eine Stammzellenforschung

244

in Deutschland an importierten Stammzellen unter eng einschränkenden Auflagen zulassen wollte, erhielt letztlich eine Stimmenmehrheit von 340 zu 256 Stimmen gegenüber dem diese Forschung verweigernden Gesetzesvorschlag der „extremen Lebensschützer“ und bildet so die Grundlage des Stammzellengesetzes: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Förderung der Stammzellforschung mit klarem Vorrang für die Forschung an menschlichen adulten Stammzellen, solchen aus Nabelschnurblut sowie tierischer Herkunft zu verstärken. ... Der Import humaner embryonaler Stammzellen ist für öffentlich wie privat finanzierte Vorhaben grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise für Forschungsvorhaben unter folgenden Voraussetzungen zulässig: 1. Alternativen (Forschung am Tiermodell, Verwendung anderer Arten von menschlichen Stammzellen) sind nach dem anerkannten Stand von Wissenschaft und Forschung für die angestrebte Zielsetzung des geplanten Forschungsvorhabens nicht in vergleichbarer Weise Erfolg versprechend. 2. Der Import humaner embryonaler Stammzellen wird auf bestehende Stammzelllinien, die zu einem bestimmten Stichtag – spätestens zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über diesen Antrag – etabliert wurden, beschränkt. ... 3. Das Einverständnis der Eltern zur Gewinnung von Stammzellen aus einem Embryo muss vorliegen. ... Das Einverständnis der Eltern muss unter Ausschluss finanzieller Zuwendungen erklärt worden sein. 4. Die Hochrangigkeit des Forschungsvorhabens für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ... muss nachgewiesen werden. 5. Die ethische Vertretbarkeit wird durch eine hochrangige und interdisziplinär besetzte Zentrale Ethikkommission geprüft. 6. Die Erfüllung der genannten Voraussetzungen stellt eine transparent arbeitende, gesetzlich legitimierte Kontrollbehörde sicher, deren Genehmigung Bedingung für den Import humaner embryonaler Stammzellen ist.“ Ein für das Verwaltungsrecht typisches „Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“ also. Die vorgenannten damaligen Großkirchenoberen Präses Kock und Kardinal Lehmann erklärten nach der Abstimmungsniederlage für die von ihnen vertretene Position sauertöpfisch: „Damit ist der Lebensschutz in Deutschland nicht mehr gewährleistet!“ Die Verfechter einer weitergehenden Regelung sehen eine effektive Stammzellforschung mit so spektakulären Ergebnissen wie 2004 in Korea, wo aus einem genetisch kopierten menschlichen Embryo Stammzellen gewonnen wurden, in Deutschland von vornherein unmöglich gemacht. Nach dem Ergebnis des geschilderten, nicht dem Fraktionszwang unterworfenen ethischen Abwägungsprozesses im Deutschen Bundestag musste der zum Ausdruck gebrachte Mehrheitswille des Bundesgesetzgebers nun in eine juristische Form gegossen werden. So etwas kann durch entweder eine von den Juristen des Justizministeriums vorzunehmende Novellierung des Embryonen-Schutzgesetzes oder durch die Schaffung eines eigenen Stammzellengesetzes umgesetzt werden; letzterer Weg wurde in diesem Fall eingeschlagen. Der weitere gesetzestechnische Ablauf ist dann, dass diese nach den Vorgaben der Mehrheit der Abgeordneten von der Ministerialbürokratie zu erarbeitende Vorlage der Bundesregierung gemäß Art. 76 GG zunächst dem Bundesrat zur Stellungnahme zugeleitet und dann mit dessen schriftlicher Stellungnahme in den Bundestag eingebracht wird. Dort haben gemäß Art. 77 GG dann wieder die Abgeordneten in drei „Lesungen“ zu beschließen, ohne an ihr jeweils vorheriges Votum gebunden zu sein. Nach der dritten Lesung der Gesetzesvorlage wird das nunmehr beschlossene Gesetz dem Bundesrat zugeleitet, der ihm nur dann zustimmen muss, wenn es sich um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt, weil seine Belange, z.B. durch auf ihn durch dieses Gesetz zukommende Ausgaben, berührt sind. Etwa 53 % aller bislang verkündeten Gesetze waren zustimmungspflichtig. Verweigert der Bundesrat die Zustimmung bei einem zustimmungspflichtigen Gesetz, geht das Gesetz in den Vermittlungsausschuss. Letztlich kann der Bundestag das Votum des Bundesrates mit einem erneuten Beschluss überstimmen. Handelt es sich – wie bei dem Embryonenschutz- oder einem Embryonenimport-Gesetz - bei einem zu beschließenden Gesetz um eine Rechtsmaterie, die die Länderregierungen in ihren Befugnissen nicht einschränkt, nimmt der Bundesrat das ihm vorgelegte Gesetz nur zur Kenntnis. Danach wird es dem Bundespräsidenten zur Unterschrift vorgelegt. Unterzeichnet er es, wird das neu geschaffene Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet und erlangt damit Geltung. Auf dem ganzen beschriebenen Weg und auch noch nach Beschlussfassung, Unterzeichnung und Verkündigung kann von den antragberechtigten Gremien in der im GG geregelten Form das BVerfG angerufen und um Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Gesetzesinhaltes gebeten werden. Nachdem alle juristischen Hürden überwunden wurden, kann seit dem 01.01.2003 in der Bundesrepublik

245

Deutschland an aus Israel importierten embryonalen Stammzellen geforscht werden. Der ehemalige Präsident des BVerfGs Benda äußerte sich zu der getroffenen Regelung mit den Worten: „ Es ist notwendig, daß wir über das Menschenbild lebendig diskutieren. Die Einstellung des Bundeskanzlers, die ja hinausgeht über das Thema, wie Forschung gefördert werden kann, kann sinnvollerweise nur vor dem Hintergrund des Menschenbildes des Grundgesetzes bestehen. Eine forschungspolitische Entscheidung, die das Menschenbild ignorieren würde, würde nicht nur potentiell mit dem Bundesverfassungsgericht, sondern mit der Grundkonzeption des Grundgesetzes in Konflikt geraten. Der Bundestag hat sich in den letzten Jahren in einer bemerkenswerten Weise mit dem Menschenbild auseinandergesetzt. Und ich finde es großartig, daß man sich praktisch quer durch fast alle Fraktionen an dem Menschenbild des Grundgesetzes orientiert hat und den Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an betreibt“ (DIE WELT 22.06.05). Nach zwei Jahren musste die Regierung dem Parlament einen ersten Erfahrungsbericht zum Stammzellengesetz vorlegen, den die beim Robert-Koch-Institut in Berlin angesiedelte „Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellforschung“ zu erstellen hatte. Wohl deswegen unternahm schon eineinhalb Jahre später Ende 2003 die Justizministerin Zypries den Versuch, diese getroffene Regelung für weitergehende Versuche zu öffnen, indem sie in einem Vortrag zu bedenken gab, dass im Gegensatz zur damals geltenden, von den Biowissenschaftlern und ihr als zu eng empfundenen Gesetzeslage - laut deutschem Embryonenschutzgesetz war bereits die befruchtete, entwicklungsfähige Eizelle als ein menschlicher Embryo anzusehen und hätte Anspruch auf Zuerkennung der Menschenwürde -, die national verbot, was international zur Forschungspraxis geworden war, dass ihrer Meinung nach im Reagenzglas gezeugten Embryonen keine Menschenwürde und damit kein grundrechtlicher Schutz zukommen müsse, weil ein Embryo in einer Petri-Schale nicht von sich aus lebensfähig sei: „Kommen wir also zu der Frage, ob und inwieweit bereits der Embryo in vitro grundrechtlichen Schutz genießt. Kaum eine andere Frage ist sowohl in der Gesellschaft als auch in der Staatsrechtslehre so umstritten, und das nicht ohne Grund: Es geht nicht um einen Akt schlichter Rechtserkenntnis - vielmehr sind hier philosophische, religiöse oder weltanschauliche, naturwissenschaftliche und rechtliche Aspekte auf das Engste miteinander verwoben. Unsicher sind am Beginn und am Ende menschlichen Lebens nicht nur die Wertungen, sondern auch die Erkenntnisse. Lassen sich aus dem Grundgesetz unbedingte Antworten ableiten? Angesichts dieser in jeder Hinsicht schwierigen Ausgangslage werde ich skeptisch, wenn aus unserer Verfassung, bei deren Erarbeitung die heutigen Fragen der Biomedizin nicht absehbar waren, unbedingte Antworten abgeleitet werden sollen. Das Grundgesetz ist (...) keine rigide, sondern eine der Auslegung fähige und bedürftige Verfassung. Gerade die Interpretation der Grundrechte ist angesichts neuer Gefährdungs- und Konfliktlagen in hohem Maße entwicklungsfähig - auch ohne eine ausdrückliche Veränderung des Normtextes. Dies hat Folgen für die Auslegungsmethoden: Wenn Text und Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes die Antwort nicht eindeutig vorgeben, ist es nicht nur legitim, sondern auch geboten, die Folgen der unterschiedlichen Auslegungsalternativen mitzubedenken. Die Fragen der Biomedizin sind komplex und durch den wissenschaftlichen Fortschritt ständiger Wandlung unterworfen. (...) Dies alles spricht nach meiner Auffassung dafür, dass dem Gesetzgeber bei der Wahrnehmung seines Schutzauftrags für das menschliche Leben ein Spielraum verbleiben muss - ein Spielraum, bei dessen Ausfüllung er allerdings auch Vorsicht walten lassen muss. (...) Was sind nun die verfassungsrechtlichen Vorgaben, an die sich der Gesetzgeber bei seiner Aufgabe halten muss; bei seiner Aufgabe, die Grundrechtskonflikte in den Fragen der Bioethik zu entscheiden. Eine Vorgabe ergibt sich ganz sicher aus Artikel 2, Absatz 2 Grundgesetz, also aus dem Recht auf Leben, das auch die Pflicht des Staates beinhaltet, menschliches Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht erstreckt sich auch auf das ungeborene Leben. Das Verfassungsgericht hat dies in seinen Entscheidungen zum § 218 StGB festgestellt. Aber wann beginnt die Schutzpflicht? Wann beginnt menschliches Leben? Ist auch der Embryo in vitro geschützt? (...) Auch in vitro ist der Embryo kein beliebiger Zellhaufen, über den Eltern, Mediziner und Forscher nach Gutdünken verfügen könnten. Sie dürfen ihre grundrechtliche Freiheit nicht losgelöst von der Verantwortung für den Embryo ausüben. (...) Das Recht auf Leben wird durch das Grundgesetz jedoch nicht absolut geschützt - auch wenn es innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen ’Höchstwert’ darstellt, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat. Auf Grund eines Gesetzes darf in dieses Recht eingegriffen werden. Dieser Gesetzesvorbehalt ermöglicht es, den Schutz des Lebens abzustufen, ihn mit fortschreitender Verkörperung anwachsen zu lassen, wie es der Gesetzgeber in den §§ 218 ff. StGB

246

auch für das natürlich gezeugte Leben getan hat. Das Recht auf Leben lässt also einen Spielraum für Abwägungen mit den Grundrechten der Eltern und der Forscher. Die Menschenwürde ist demgegenüber absolut geschützt. Sie ist nach ganz herrschender Meinung einer Abwägung nicht zugänglich. Ich halte das für richtig. Das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde ist die Grundlage unserer Verfassung. Zu ihrer Unantastbarkeit gehört auch, dass sie nicht mit anderen Grundrechten abgewogen werden darf. Gerade wegen dieses absoluten Schutzes müssen wir die Frage, ob bereits dem Embryo in vitro Menschenwürde zukommt, besonders sorgfältig prüfen. Einige Autoren in der juristischen Literatur wollen dem Embryo zwar Menschenwürde zusprechen, diesen Schutz aber für Relativierungen öffnen. Meines Erachtens ist das der falsche Weg. (...) Was die Menschenwürde ausmacht, ist umstritten, seit es dieses Grundrecht gibt. Ganz gewiss gehört dazu der Respekt vor dem Eigenwert jeder Person und jeder individuellen Existenz. Genauso wie die Möglichkeit der Eigenverantwortung und der selbstbestimmten Lebensgestaltung. Jeder Mensch hat seine Würde und den Anspruch darauf, dass diese respektiert wird; und zwar unabhängig von seiner geistigen und körperlichen Entwicklung, von persönlicher Lebensleistung oder einer erfolgreichen Identitätsbildung. Die befruchtete Eizelle, der Embryo in der Petrischale, hat lediglich die Perspektive, das auszubilden, was ich eben als die wesentlichen Bestandteile der Menschenwürde beschrieben habe. Die Frage ist nun: Genügt dieses Potenzial für die Zuerkennung von Menschenwürde im Sinne des Artikels 1 Grundgesetz? Lassen Sie mich die wesentlichen Gesichtspunkte nennen, die uns zur Antwort führen: Erstens ist es die Funktion der Grundrechte. Sie sind Abwehrrechte gegenüber staatlichem Handeln, sie sind Ausdruck unserer Wertordnung, sie begründen aber auch Schutzpflichten des Staates. Gerade auf diese Schutzpflicht wäre der in vitro erzeugte Embryo angewiesen, um seine Menschenwürde zu verwirklichen. Er wäre nicht nur auf den Staat angewiesen, sondern vor allem auf eine austragungsbereite Frau. Hierzu kann der Staat niemanden verpflichten. Deutlich wird dies, wenn wir uns zweitens klar machen, dass diese Konstellation nicht nur beim in vitro erzeugten Embryo besteht, sondern zum Beispiel auch bei der Anwendung der Spirale zur Verhütung. Auch hier wird die befruchtete Eizelle daran gehindert, sich einzunisten und sich zu entwickeln. Wir müssen also aufpassen, dass wir den Grundrechtsschutz nicht auf etwas richten, was wir realistischerweise nicht erfüllen können. Solange sich der Embryo in vitro befindet, fehlt ihm eine wesentliche Voraussetzung dafür, sich aus sich heraus zum Menschen (...) oder ’als Mensch zu entwickeln’. Die lediglich abstrakte Möglichkeit, sich in diesem Sinne weiterzuentwickeln, reicht meines Erachtens für die Zuerkennung von Menschenwürde nicht aus. (...) Wir können die ’richtigen’ Antworten auf die Fragen der Biomedizin nicht einfach im Grundgesetz nachschlagen, sondern müssen uns schon die Mühe machen, für jedes Themenfeld gesondert die Chancen und Risiken der Biomedizin sorgsam zu analysieren und abzuwägen. Alles andere würde weder dem Thema noch der Verfassung gerecht. (...)“ (Aus dem Vortrag der Justizministerin Zypries nach seiner auszugsweisen Wiedergabe in FR 30.10.03) „Zellhaufen ist Würde los“ titelte die „taz“. Mit ihrer nicht ganz bruchlosen, von anderen Verfassungsrechtlern als Minderheiten-Meinung gewerteten Auffassung, dass ein Embryo zwar von Anfang an ein Recht auf Leben, nicht aber auf Menschenwürde habe, weil er sich ohne eine austragungsbereite Frau nicht aus sich selbst heraus zu einem Menschen entwickeln könne, stellte die Justizministerin den seit der Verabschiedung des Stammzellengesetzes geltenden Grundsatz in Frage, dass der Schutz der Menschenwürde bereits mit dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu beginnen habe, und rief damit natürlich die Kirchen – die Deutsche Bischofskonferenz äußerte „größte Besorgnis“, der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands zeigte sich „schwer enttäuscht“ - und andere »extreme Lebensschützer« auf den Plan. Die verliehen der Befürchtung Ausdruck, dass durch eine solche Position eine „Absenkung der Schutzstandards auch in anderen Bereichen der Bio- und Gentechnik“ zu befürchten sei, ja sogar „die Menschenwürde an sich zur Disposition“ gestellt würde, „Menschen zu Material“ degradiert würden! Ein unberechtigter Vorwurf, da von der Justizministerin das Recht auf Schutz des Lebens von Anfang an nicht in Frage gestellt wurde, »nur« dessen Menschenwürde; wie gesagt: eine nicht ganz bruchlose Argumentation. Aber vielleicht ist das ein zu fein ziselierter Unterschied, der der Problemlage nicht gerecht wird, und man sollte

247

das Recht auf Leben ebenfalls erst später einsetzen lassen und noch nicht einem amorphen Zellhaufen zuerkennen, der noch gar nicht zwangsläufig zu einer Schwangerschaft führen muss: Nur etwa ein Drittel aller Embryonen führen bei natürlichem Verlauf der Dinge überhaupt zu einer Schwangerschaft – und das oft bei den falschen Frauen, für die sich eine Schwangerschaft als eine persönliche Katastrophe darstellt! Um den Widerstand der Rechtsethiker semantisch zu unterlaufen, empfiehlt der Molekularbiologe Reich, künftig nicht mehr von geklonten Embryos, sondern nur noch von "künstlich hergestellten Zellverbänden" zu sprechen. In einem Entwurf der Stellungnahme des Ethikrates zum therapeutischen Klonen, die Mitte September 04 vorgelegt wurde, hieß es nun, nicht Embryonen, sondern "menschliche Blastocysten" sollten geklont werden. Ein Blastozyst (Zellhaufen) sei nicht nur kein Embryo, sondern auch keine Person und deshalb kein Träger von Menschenwürde. Zugleich aber, so das Papier, müsse man die durch das Klonen ermöglichte "Verminderung oder Vermeidung von Leiden und Schmerzen" als moralisches Gebot betrachten. Es wurde vom Ethikrat aber keine einheitliche Empfehlung zum therapeutischen Klonen abgegeben. Der Ethikrat war gespalten. „Eine ’Forschung ohne Fesseln’ kann und darf es niemals geben. Forschung muß durch ethische, moralische und rechtliche Grenzen eingebettet bleiben. Die Frage ist allein, inwieweit man Grenzen vorsichtig verschiebt, um die verfassungsrechtlich verbriefte Forschungsfreihit zu gewährleisten. Und: Das Nachdenken darf ebensowenig verboten werden“, erklärte die neue Vorsitzende des Ethikrates, Weber-Hassemer (DIE WELT 28.06.05). Die kontroverse Debatte über die ethische Zulässigkeit des Klonens spiegelte sich in den drei unterschiedlichen Positionen des Ethikrats wieder, die in der Stellungnahme formuliert wurden: Fünf Mitglieder, darunter der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, plädierten für die konsequente Beibehaltung des Verbots, Embryonen zu Forschungszwecken zu klonen. Es widerspreche dem Schutzanspruch eines Embryos, erzeugt zu werden, um dann für die Gewinnung von Stammzellen vernichtet zu werden. Weitere fünf Ratsmitglieder traten für ein Verbot des Forschungsklonens zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein. Sie wollten mit ihrem Votum "nicht auf alle Zeiten ausschließen, dass therapeutische Perspektiven auftreten und genutzt werden könnten", wie die Hamburger Biologin Regine Kollek erklärte. Die größte Gruppe innerhalb des Gremiums aber bildeten zwölf Mitglieder, die für eine begrenzte Zulassung des Forschungsklonens eintraten, weil sich mit dem Forschungsklonen die Hoffnung verbindet, eines Tages schwere Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer oder Diabetes behandeln zu können. Das therapeutische Klonen sei daher ethisch und verfassungsrechtlich vertretbar, erklärte der Berliner Soziologe Wolfgang van den Daele als Vertreter dieser Gruppe. Denkt man die Ausführungen der Justizministerin, einem Embryo, insbesondere einem in einem Reagenzglas gezeugten Embryo, noch keinen Grundrechtsschutz zuzusprechen, weiter, könnte der Schutz der Menschenwürde sinnvollerweise frühestens ab Einnistung des Eies in die Gebärmutter beginnen: Ein sinnvoller Vorschlag deshalb, weil erstens sonst bei allen Frauen ständig kontrolliert werden müsste, ob sie nicht doch eine Embryonen abtötende Spirale tragen – die Konsequenz aus dieser ethische Position ist in unserer Lebenswirklichkeit nicht durchzuhalten -, und überführte Spiralenträgerinnen dann konsequenterweise wegen des Verstoßes gegen das (angenommene) Recht des Embryos auf Leben von Anfang an stattlichen Sanktionen ausgesetzt werden müssten, da andernfalls ein Reagenzglas-Embryo einen größeren verfassungsrechtlichen Schutz aufwiese als ein sich im Eileiter einer Frau hoffnungsvoll auf den Weg zur Gebärmutter machender, der dann aber durch die Kupferspirale abgetötet werde! Auch die „Pille danach“ müsste aus dem gleichen Grund verboten werden. Zweitens kann unser Staat keine Frau zwingen, Mutter zu werden oder andernfalls ihren Geschlechtsverkehr einzustellen! Wir leben auch im 21. Jahrhundert nicht in einem Orwell’schen Überwachungsstaat von „1984“, wo dieses Schreckgespenst als Warnung beschrieben wurde. Gegner dieser konsequenten Sichtweise führen ins Feld ihrer juristischen Argumentation, dass bei der Empfängnisverhütung durch das Einsetzen einer Spirale nicht gezielt ein bestimmter, existierender Embryo daran gehindert werde, sich einzunisten, sondern die Frau sich grundsätzlich dagegen entscheide, ein Kind zu bekommen. Das sei (nach Meinung dieser Gegner) ein Unterschied(?) zur Aberkennung der Menschenwürde eines konkreten, künstlich erzeugten Embryos. Jeder muss für sich entscheiden, welchen Argumenten in der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung er selber folgen will. Da humane embryonale Stammzellen sich zwar durch ihre pluripotenten Fähigkeiten zu jeder Art menschlichen Gewebes, nicht aber mehr zu einem Individuum weiterentwickeln können, gelten sie nicht mehr als Embryonen – und unterfallen daher nicht mehr dem grundgesetzlich so interpretierten Lebensschutz. Um diese Regelungslücke tobte ebenfalls ein juristischer Streit: Handelt es sich bei dieser Nichtregelung um ein „beredtes Schweigen“ des Gesetzgebers, der das Problem zwar gesehen, aber bewusst nicht geregelt hat, was zur Folge hätte, dass diese Experimente erlaubt wären, oder handelt es sich um ein „redaktionelles Versehen“, so

248

dass übersehen wurde, das (gemutmaßte) Verbot solcher Experimente in das Gesetz reinzuschreiben, was zur Folge hätte, dass auf jeden Fall der Geist des Gesetzes solche Experimente verbieten würde? In die Diskussion um eine Neufassung des Embryonenschutzgesetzes - oder weitergehend: eines Fortpflanzungsmedizingesetztes - eingebundene ärztliche Fachleute plädieren nun u.a. dafür, a) Embryonen vor der Verpflanzung in die Gebärmutter, noch im Reagenzglas, mit den Methoden der Präimplantationsdiagnostik (PID) auf Gendefekte hin untersuchen zu dürfen, um einer nach der Einpflanzung mit einem Embryo mit Gendefekten Schwangeren eine spätere Abtreibung zu ersparen, b) das Verbot der Stammzellenzüchtung aufzuheben oder zumindest so zu lockern, dass neue Therapien für Schwerkranke mit z.B. Parkinson, Multipler Sklerose, einer der ca. 5.500 Erbkrankheiten, Krebs oder Aids entwickelt werden können, c) analog der männlichen Samenspende die Spende weiblicher Eizellen zu erlauben und d) die Leihmutterschaft zu gestatten. Eine noch weitergehende Entwicklung sieht der vorstehend schon zitierte Evolutionsbiologe R. Baker23 voraus: Künstliche Befruchtung, Klonen, Leihmütter, Leihhoden, Kerntransfer, Gametenbanken und tiefgefrorene Embryonen würden bald unser Fortpflanzungsverhalten bestimmen. „Die wissenschaftlichen Fortschritte überstürzen sich in einem solchen Tempo, daß der Staat, das Rechtswesen, die Theologen, die Ethiker und das Verständnis der Öffentlichkeit ihnen atemlos hinterherhecheln. … Daraus erwachsen eine größere sexuelle Freiheit und sich ständig erweiternde Wahlmöglichkeiten bei der Fortpflanzung. Sie werden so vielfältig sein wie das Speisenangebot eines guten Restaurants – eines Fortpflanzungsrestaurants. Zunächst werden nur die Unfruchtbaren das Angebot ganz in Anspruch nehmen können, doch die Gleichheitsforderung der Fruchtbaren wird man nicht abweisen können, und sie werden gleiche Rechte verlangen. Für die Fruchtbaren ist natürlich die Empfängnis per Geschlechtsverkehr vorgesehen, aber das wird nur eines der billigeren Angebote sein. Für betuchte Gourmets, seinen sie nun fruchtbar oder unfruchtbar, wird es eine Fülle weiterer Möglichkeiten geben, und die Wahl wird man sich gründlich überlegen müssen. Soll ein Paar Spermien und Eier zur Fortpflanzung benutzen? Und wenn ja, sollen sie frisch gewonnen oder aus einer Bank entnommen werden? Oder sollen die beiden künstlich hergestellte Gameten verwenden, abgeleitet von Zellinien, die in der Pubertät in einer Bank gespeichert wurden? Sollen sie sich mit jemandem fortpflanzen mit jemandem, den sie kennen, eine Art Jointventure? Oder sollen sie es allein machen und die Gameten von einer Berühmtheit kaufen, vielleicht sogar von einer, die schon lange tot ist? Und falls sie sich entscheiden, es allein zu machen, sollen sie dann eine eigene diploide Zelle benutzen und auf diese Weise einen Klon erzeugen? Sollen sie sich mit jemandem vom gleichen oder mit jemandem vom anderen Geschlecht fortpflanzen? Sollen sie, falls weiblich, das Kind selbst austragen, oder sollen sie eine Leihmutter beauftragen? … Künftig wird sich eine solche Gametenauswahl zum größten Teil im Internet abspielen. Im zwanzigsten Jahrhundert sind überall Internetcafés entstanden; im einundzwanzigsten könnten regelrechte Fortpflanzungsrestaurants entstehen, die man aufsucht, um zu essen und zu trinken und nach Fortpflanzungsmöglichkeiten zu stöbern und bei einer Feinschmeckermahlzeit und einer guten Flasche Wein möglicherweise ein Kind zu bestellen.“ DNA-Analysen der Neugeborenen und Vaterschaftstests, beides gleich nach der Geburt eines Kindes, werden selbstverständlich und neue Unterhaltsregelungen werden geschaffen werden. 24 Wie Sie ahnen, wird das alles einen ziemlichen juristischen Regelungsaufwand bedingen! „Ministerin Fischer befürchtet, die gespaltene Mutterschaft werde Fragen aufwerfen und berühre auch das Thema der Leihmutterschaft.“ Deswegen die zahlreichen Ausführungen zu diesem Problemkreis in diesem Kapitel! Es ist davon auszugehen, dass die (meisten?) angesprochenen Zweifelsfragen und Regelungslücken durch eine Novellierung des Embryonenschutzgesetzes geklärt werden. Wer von den Antragsberechtigten mit der letztlich getroffenen parlamentarischen Regelung nicht einverstanden sein wird, kann dann vor dem BVerfG Klage auf Überprüfung des Gesetzes auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz erheben. Weitere juristisch spannende Fragen, die sich durch den Fortschritt der Reproduktionsmedizin auftun und ebenfalls in dem schon angedachten Fortpflanzungsmedizingesetz geregelt werden müssten, so dass eine juristische Lösung für solche Fälle wie die nachfolgenden erarbeitet wird: Wer sind als die Eltern der gewünschten Zwillinge eines (britischen) Schwulenpaares anzusehen, das einer (kalifornischen) Frau - zum Preis von inzwischen 5.000-35.000 Dollar zu beziehende - Eizellen abkaufte, sie mit 23 24

Baker, R.: Sex im 21. Jahrhundert – Der Urtrieb und die moderne Technik, München, 2000 Baker, R.: Sex im 21. Jahrhundert – Der Urtrieb und die moderne Technik, München, 2000, S. 14 ff.

249

eigenem Samen oder dem eines Samenspenders befruchten und dann einer (anderen) Leihmutter (als der Eizellenspenderin) als »Gebär-Mutter« einsetzen ließ?25 Das in diesem Fall der Schwulen-Elternschaft zuständige amerikanische Gericht führte keine Mutter, sondern ausschließlich die beiden britischen Männer Tony Barlow und Barrie Drewitt in der Geburtsurkunde als Eltern auf. Analog entschieden wurde im Fall eines Lesbenpaares, dessen Kind nur die zwei Frauen der lesbischen Lebensgemeinschaft von einem Gericht als rechtliche Eltern zuerkannt bekommen hat. Das wird bald öfters der Fall sein, wenn Frauen Frauen befruchten werden. Männer werden überflüssig: Ein Forscherteam an der Fortpflanzungsklinik „Reproductive Genetics Institute“ in Chicago arbeitet an einer Methode, nach der die Wissenschaftler einer Spenderin Eizellen entnahmen, die sie in „künstliche Samenzellen“ umwandelten, mit denen dann eine weitere weibliche Eizelle befruchtet wurde. Innerhalb der kommenden zwei Jahre soll diese Methode, die von ihrem wissenschaftlichen Ansatz her für Männer entwickelt wurde, die nach einer Krankheit wie z.B. Hodenkrebs mit anschließender Chemotherapie keine Samenzellen mehr produzieren können, nun jeder Frau zur Verfügung stehen. Inzwischen zeigen in den USA aber insbesondere lesbische Paare großes Interesse an dieser Forschung und den sich für sie dadurch auftuenden Möglichkeiten (HH A 23.01.02). Nicht nur Frauen ohne Eizellen können so genetischen Nachwuchs erhalten, sondern auch Schwulen- und Lesbenpaare können mit dieser Methode, die das Klonen überflüssig macht, ihre eigenen Kinder zeugen lassen: Bei der „Haploidisierung“26, an deren Vervollkommnung bei der Tierzucht in Laboren verschiedener Länder (Sao Paulo, New York, Australien) gearbeitet wird und die von den Forschern in Sao Paulo auch schon an menschlichen Zellen vorgenommen wurden, die dann aber nach den ersten Zellteilungen eingefroren wurden, wird – grob erklärt - eine eigene oder gespendete Eizelle entkernt, im nächsten Schritt mit der Erbinformation aus einer beliebigen Körperzelle bestückt und anschließend mit einem Spermium oder sogar nur einer anderen Körperzelle befruchtet. Diese Methode würde auf jeden Fall Männer beim Zeugungsakt überflüssig machen. Nutznießer dieses sich entwickelnden Verfahrens wären Paare, die derzeit nur mit einer Ei- oder Samenspende zu Nachwuchs kommen können – womit bisher unweigerlich verbunden ist, dass mindestens einer der Partner seine Erbinformationen nicht an die nächste Generation weitergeben kann, weil die andere Hälfte der Chromosomen ja von dem Spender/der Spenderin kommt: ein Verstoß gegen den im Menschen angelegten „Gen-Egoismus“, der auf Grund des eigenen Vollkommenheitswahns auf Reproduktion der eigenen Gene drängt. Sollte das neue Verfahren einsatzfähig entwickelt werden, könnten nach dem Entkernen der Eizelle bei de Partner ihre Gene weitergeben. Andere Nutznießer des Haploid-Verfahrens wären gleichgeschlechtliche Lebenspartner mit dem Wunsch nach einem Kind, das genetisch von beiden Partnern stammt, weil die Befruchtung nach dem Haploid-Verfahren vom Geschlecht unabhängig vorgenommen werden kann. Bei der Zeugung eines Kindes mit einer Körper- und einer Samenzelle zweier Männer – „Diandrie “ (abgeleitet vom griechischen andres = Männer) – könnten theoretisch sowohl Mädchen als auch Jungen entstehen, weil X- und Y-Chromosomen vorhanden sind. Die Männer wären allerdings auf eine Eispende angewiesen, deren DNS-Kern entfernt und durch die DNS aus einer Körperzelle eines der Partner ersetzt wird, zu der die Samenspende des anderen Partners hinzugefügt und das »umgebaute« Ei dann einer Leihmutter eingesetzt wird. Eine Hälfte der Körperzell-Chromosomen wird, wenn alles wie geplant realisierbar sein sollte, von der Eizelle ausgesondert, die andere Hälfte verschmilzt mit den Erbinformationen des Spermiums zu einem kompletten Chromosomensatz. Bei der Zeugung aus zwei weiblichen Zellen – „Digynie“ (abgeleitet vom griechischen gyne = Weib) – können ausschließlich weibliche Nachkommen entstehen, da nur Y-Chromosomen zur Verfügung stehen. Dabei wird eine Eizelle von einer der Frauen genommen, in der die darin enthaltene DNS belassen und die DNS aus einer Körperzelle der Partnerin hinzugefügt wird. Und wieder wird der halbe Chromosomensatz aus der Körperzelle von der Eizelle ausgestoßen. Die beiden hälftigen Chromosomensätze verschmelzen. Zweieinhalb Jahre später aber wurde das Verfahren auf einer wissenschaftlichen Tagung 2004 als „extreme wissenschaftliche Herausforderung“ bezeichnet; im Klartext: die Forscher konnten es nicht erfolgreich weiterentwickeln. Hauptsächlich teilten sich die Chromosomensätze nicht so, wie es erforderlich gewesen wäre. Weitere Fragen: Sind nach dem Tod eines Mannes mit seinem eingefroren aufbewahrten Samen gezeugte Kinder27 erbberechtigt und steht ihnen möglicherweise auch eine Halbwaisenrente zu? „Es gibt bereits Kinder, Der ganze Aufwand kostete 626.000 Mark (ca. 315.000 €). Leichter wird es erst, wenn ein Mann das von ihm gewollte Kind selbst bekommen wird. Ein Fortpflanzungsmediziner behauptet, schon einem männlichen Pavian zu einer Schwangerschaft verholfen zu haben. Und was bei einem Pavian gelingt, wird irgendwann auch bei dem genmäßig mit den Menschenaffen zu 98,6 % verwandten Primaten Mensch möglich sein. Doch so weit ist es noch nicht. 26 Vgl. zum Folgenden SPIEGEL 09.09.02 27 Eine der ersten Frauen, die sich so nach dem zu frühen Tod ihres Mannes ein (weiteres) Kind zeugen ließ, war Kim Grove, die Cartoon-Mutter von „Liebe ist, ...“ 25

250

die mit den Spermien ihres zuvor verstorbenen Vaters gezeugt wurden. Es wurde sogar schon ein erster Fall bekannt, in dem ein solches Kind vor Gericht auf Anerkennung als rechtmäßige Tochter und Erbin klagte.“28 Können die erwachsenen Kinder eines Mannes aus erster Ehe, der vor seiner geplanten und dann auch verwirklichten Selbsttötung seiner Lebensgefährtin 15 Gläser mit seinem Sperma mit der erklärten Absicht hinterließ, dass sie nach eigenem Gusto durch Insemination von ihm schwanger werden könne, diese Schwangerschaft mit dem Entstehen neuer Verwandtschaft verhindern? Deborah Hecht erhielt in der ersten Instanz kein Sperma zugesprochen. In den weiteren Instanzen erhielt sie zunächst entsprechend ihres 20prozentigen Erbanteils am Gesamterbe 20 % der Gläschen zugesprochen, nach weiteren sechs Jahren Rechtsstreit den Rest. Sind in Kryobanken aufbewahrte Samen- und Eizellen eines bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten Ehepaares auftau- und ist ein nach dem Tod beider Eltern mit ihren Samen- und Eizellen eventuell gezeugtes Kind erbberechtigt? Können außer dem hinterbliebenen Partner einer Beziehung in dem Falle, dass beide Partner ihren Anteil gespendet hatten und dann umgekommen sind, die Eltern eines der toten Partner verlangen, dass ihnen das eingefroren aufbewahrte Erbgut für eine eigene oder eine Leihmutterschwangerschaft zur Verfügung gestellt wird, um sich so ihren „Enkel-Wunsch“ erfüllen zu können? Und wie soll das Problem der folgenden Meldung wieder ins rechte juristische Lot gebracht werden? „Klinikskandal Eingefrorene Embryonen in England offenbar vertauscht SAD London – In zwei englischen Fruchtbarkeitskliniken zeichnet sich ein unglaublicher Verwechselungsskandal ab: Rund 80 Embryos wurden offenbar vertauscht. Auf den Knien einiger Mütter sitzen heute möglicherweise Kinder, die zwar von den Frauen ausgetragen wurden, aber eigentlich zu einem anderen Paar gehören! ‘Die Konsequenzen sind zu abscheulich, als dass man sie sich ausmalen könnte‘, sagte ein Mitarbeiter der Hampshire Clinic ... . (HH A 25.09.00) Zwei Jahre später die Meldung: „Schwarze Babys für weißes Paar London – Die von einer Britin geborenen schwarzen Zwillinge (Embryonen vertauscht) bleiben bei den weißen Eltern. Gleichwohl verlangen sie Schadensersatz von der Klinik, in der der Fehler passiert ist. (SAD)“ (HH A 06.11.02)

Jenseits von allen diesen spektakulären medizinrechtlichen Problemen, insbesondere bei der Stammzellforschung, um deren angemessene juristische Lösung sich unsere Volksvertreter kümmern müssen, vollzieht sich eine kleine Revolution, die uns alle jederzeit betreffen kann: Der Bereich der Patentierung von medizinbiologischem Wissen. Weil Patentämter zu Anfang dieser inzwischen als problematisch offenbar gewordenen Entwicklung ohne allzu viel nachzudenken beantragte Patente auf Entdeckungen gewährten, kann der gesamte medizinische Fortschritt von dem/der jeweiligen Patentinhaber/in blockiert werden! Der-/diejenige braucht nur ein „Grundpatent“ zu besitzen, dass dann geschickterweise noch mit einigen darum gelagerten Netzwerkpatenten absichert wird, und die wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet ist für die Geltungsdauer der Patente von 20 Jahren blockiert. Wenn eine Firma auf einer Gensequenz eine bestimmte Genanordnung vorfand, die Sequenz beschrieb und sie einem bestimmten Krankheitsbild zuordnen konnte, wurde für sie die gesamte Gensequenz patentrechtlich geschützt – ohne dass sie diese Gensequenz geschaffen hätte. Das hatte ja die Natur gemacht. Die Konsequenz: Konkurrierende Wettbewerber konnten daran gehindert werden, an dieser von der Natur geschaffenen Genstruktur weiterzuforschen. Es war zu Anfang der Entwicklung halt nicht sauber unterschieden worden, dass genetische Informationen nicht „erfunden“, sondern „vorgefunden“ werden! Ein kleines Beispiel dafür, wie der Sachlage angemessen sprachlich nuancenreich genau in der Juristerei gearbeitet werden muss; und das quer durch alle Sprachen, wenn eine EU-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden muss. Die EU hatte 1998 eine Biopatentrichtlinie verabschiedet. Die EU-Richtlinie "Über den Schutz biotechnologischer Erfindungen" sieht den vorstehend aufgezeigten sehr weitreichenden Patentschutz vor, der alle mit einer Gensequenz verbundenen Funktionen – nicht nur die bekannten, sondern auch die erst noch zu entdeckenden(!) - umfasst. Die nach EU-Recht in jedem Mitgliedsland zwingend erforderliche Umsetzung in nationales Recht war in der 28

Baker, Robin: Sex im 21. Jahrhundert / Der Urtrieb und die moderne Technik, 2000, S. 386 f

251

Bundesrepublik mehr als vier Jahre überfällig. Gegen Deutschland lief bereits ein Vertragsverletzungsverfahren. Erst nach langen Diskussionen hatte die Bundesregierung im Juni 2003 einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Bundesregierung hat die Regelung aus der EU-Richtlinie eins zu eins in ihren Gesetzentwurf übernommen. Vierzehn der 25 Mitglieder des anschließend mit dieser Problematik befassten Nationalen Ethikrats hatten dafür plädiert, den vorgelegten Entwurf der Bundesregierung in ein Gesetz umzusetzen und weitere inhaltliche Begrenzungen notfalls außerhalb des Patentrechts zu regeln. Grundsätzlich ausgeschlossen von der Patentierbarkeit sind danach also das Klonen von Menschen und gentechnische Verfahren mit menschlichen Embryonen. Gentechnisch veränderte Pflanzen und Tiere können dagegen grundsätzlich patentiert werden, ebenso einzelne Gene und Zellen des menschlichen Körpers. Voraussetzung für die Vergabe eines Patents sind Neuheit, erfinderische Tätigkeit und gewerbliche Anwendbarkeit. Vor allem die Hoffnungen der großen Pharmakonzerne auf einen weitreichenden Biopatentschutz sind damit in Erfüllung gegangen. Das Europäische Patentamt in München hat so allein 2003 mehr als 100 Patente auf menschliche Gene, 72 auf Pflanzen und 25 auf Tiere erteilt. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace warnte vergeblich, dass mit solcherart undifferenziert vergebenen Patenten auf Gensequenzen oder gar ganze Gene die jeweiligen Firmen zu Lasten der Allgemeinheit die weitergehende Forschung behindern und auf Kosten der Allgemeinheit erhebliche Profite machen würden. Die Kritik an dem Regierungsentwurf konzentriert sich vor allem auf die Reichweite des Patentschutzes für einzelne Gensequenzen. Das elfstimmige Minderheitenvotum des Nationalen Ethikrats lautete deshalb auch dahingehend, ein solcher umfassender Stoffschutz, der sich zu sehr am Chemikalienrecht der neunziger Jahre orientiere, sei nicht auf die Bedingungen der modernen Biotechnologie übertragbar. Weil einzelne Gene mehrere Funktionen haben können, sei es sinnvoller, den Patentschutz jeweils auf konkrete Anwendungen zu beschränken. Die Bundesärztekammer unterstützte diese Position und äußerte Befürchtungen, Patente auf Gene würden die Forschung behindern. Besonders kleine und mittelständische Biotech-Unternehmen, könnten dadurch benachteiligt sein. Nach der seit 2004 geltenden innerdeutschen Gesetzeslage werden nunmehr Gene patentiert, wenn sie die drei Kriterien Neuartigkeit, Nichtoffensichtlichkeit und gewerbliche Nutzbarkeit erfüllen. Damit ist aber die Diskussion über die mögliche Patentierung von Genen nicht abgerissen. Der weiteren Klärung bedarf einerseits der Aspekt der Nutzbarkeit und andererseits wird die wissenschaftliche Tradition des freien Daten- und Materialaustauschs („clone-by-phone“) im Zeitalter des „gene hunting“ als gefährdet angesehen, da strategische und kommerzielle Überlegungen den Datenfluss beschränken und den Zeitpunkt der Veröffentlichung von Sequenzdaten bestimmen.29 Inzwischen möchte man das Rad wieder zurückdrehen, und Greenpeace ist dankenswerterweise in dieser Hinsicht sehr aktiv. Die Gegner zu großzügiger Patentierungen weisen immer wieder darauf hin, dass zwischen bloßen „Entdeckungen“ des ohne das Zutun der Entdeckerfirmen Vorhandenen einerseits und „Erfindungen“ andererseits unterschieden werden müsste: Ein vorhandenes Gen, eine bestimmte Gensequenz, die darauf beruhende Funktion und die ohne Zutun des Menschen ablaufende Arbeitsweise des Gens dürften nicht patentiert werden, sondern nur auf Grund dieser Beobachtung entwickelte diagnostische Testverfahren und Medikamente. Die Bio-Patentrechtrichtlinie der EU von 1998 müsste insoweit genauer gefasst oder abgeändert werden. Es ist schon vorgekommen, dass ein bestimmtes Brustkrebsgen patentiert wurde und nun niemand mehr daran arbeiten darf. Die Patientinnen sind durch die Patentierung einer bloßen Entdeckung in die direkte Abhängigkeit einer Firma geraten. Andere, vielleicht bessere oder kostengünstigere Verfahren können nicht mehr entwickelt werden, und die forschenden Firmen stellen sofort ihre Arbeit ein, wenn sie feststellen, dass sie in den Bereich des patentierten Gens kommen. Andere biologische Zusammenhänge können nicht mehr untersucht werden, auch dann nicht, wenn die Patentinhaberin gar nicht daran denkt, in der sich für die andere Firma auftuenden Richtung weiterzuarbeiten. Jede weitere Forschung anderer Firmen als der Patentinhaberin auf das Gen ist für die Nicht-Inhaber des Patents wirtschaftlich sinnlos und mit so hohen Patentverletzungskosten bedroht, dass eine trotzdem forschende Firma von der Patentinhaberin in den Konkurs getrieben werden kann – nur weil die Entdeckerfirma das Gen oder die bestimmte Gensequenz zuerst beschrieben hatte. Teilweise wurden Gensequenzen und Gensequenzmutationen patentiert, die nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Pflanzen auftreten. Es wurde auf Grund der bloßen Beschreibung einer bestimmten Maiseigenschaft Mais patentiert, der schon über 1.000 Jahre in Mexiko angebaut wird. Jeder, der den Mais jetzt weiterhin anbaut, muss nun Gebühren an die Patentinhaberin zahlen! Außerdem wurde jede Arbeit an den zu weitgehend patentierten Genen von der Patentinhaberin abgewürgt.

29

Vgl. Brandt, P. (Hrsg.): Zukunft der Gentechnik, S. 44

252 Auch „der Mensch“ ist nicht mehr „frei“: Es gibt durch die zu großzügige Patentgewährung des Europäischen Patentamtes, dessen Wirkungsbereich sich weit über Europas Grenzen hinaus erstreckt, schon ca. 800-1.000 Patente auf menschliche Gene. Und diese Tendenz weitet sich durch einen Konstruktionsfehler des Europäischen Patentamtes weiter aus: Das Europäische Patentamt finanziert sich durch die Einnahmen aus der Erteilung von Patenten. Da besteht die Tendenz, möglichst viele, andere von der Nutzung dann ausschließende Patente zu erteilen, um möglichst hohe Einnahmen zu erzielen! Das Wohl der Kranken gerät unter die Räder! Die Patentierung biotechnologischer „Entdeckungen“ müsste umgehend gestoppt, schon erteilte Patente auf bloße Entdeckungen müssten widerrufen werden - wenn das noch möglich ist. Greenpeace versucht, die Vergabepraxis der Patente auf bereits Vorhandenes als unsinnig zu entlarven: Man beschrieb wissenschaftlich - als erster - die Currywurst, stellte ein paar Untersuchungen hinsichtlich der Auswirkungen des Verzehrs von Currywurst an und beantragte ein Patent auf die Currywurst. Nach der Vergabepraxis von Patenten für biologische Entdeckungen müsste Greenpeace das beantragte Patent auf die Jahrzehnte gegessene Currywurst erteilt werden, denn Greenpeace hat zuerst Zusammenhänge mit dem Wurstverzehr beschrieben; die anderen hatten bislang nur reingebissen: weiß oder rot. Und das zack, zack! Und wenn man glaubt, man habe alles umfassend und verständig in einem neuen Embryonenschutzgesetz geregelt, dann überholt den Gesetzgeber die Forschung immer wieder mit neu gefundenen Möglichkeiten: „Schwangerschaft Neue Eizellen nach Abtreibung London – Hoffnung für kinderlose Paare oder ethisch bedenkliche Forschung? Israelische Forscher haben ein Verfahren entwickelt, Babys aus den Eizellen abgetriebener Embryos zu züchten. Der Cardiffer Erzbischof Peter Smith übt scharfe Kritik daran: Es sei absurd, dass eine Gesellschaft einem Embryo das Leben abspreche und den abgetriebenen Fötus gleichzeitig zu einer ungeborenen Mutter mache. Die Forscher vom Meir-Krankenhaus in Kfar Saba hatten Eizellen von abgetriebenen Föten ausgesondert und reifen lassen. Dies könnte unfruchtbaren Paaren zu einem Kind verhelfen. Die biologische Mutter des so erzeugten Kindes wäre selbst aber nie geboren worden. (KNA)“ (HH A 02.07.03)

Nach der öffentlichen Diskussion verabschiedete der Deutsche Bundestag die Umsetzung der EU-RICHTLINIE Bundestag verbietet Patente auf menschliche Gene Der Bundestag hat die Umsetzung der europäischen Biopatentrichtlinie beschlossen. Das Gesetz verbietet das Klonen von Menschen, den Eingriff in das menschliche Erbgut und Stoffpatente auf menschliche Gene. Im Gegenzug können genetische Veränderungen bei Tieren und Pflanzen patentiert werden. Berlin - Die Biopatentrichtlinie der Europäischen Union wird auch in Deutschland umgesetzt. Der Bundestag stimmte am heutigen Freitag mit den Stimmen von SPD, Grünen und Union dem Gesetzentwurf der Regierung zu. Das Gesetz regelt, welche biotechnologischen Erfindungen patentiert werden dürfen und welche nicht. Dabei spielen sowohl ethische als auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle. Das Gesetz besagt im Einzelnen, dass ein Patent nur für Erfindungen, nicht aber für Entdeckungen möglich ist. Nur biologisches Material, das mit einem technischen Verfahren isoliert oder neu hergestellt wird, kann patentiert werden, nicht aber die bloße Entschlüsselung eines Gens oder seiner Teile. Das Klonen von Menschen ist verboten, ebenso wie Eingriffe in die Keimbahn bei Menschen und die Verwendung menschlicher Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken. Für menschliches Erbgut gibt es dem Gesetz zufolge keine Stoffpatente. Das heißt: Bei menschlichen Genen oder Teilen von Genen, so genannten Gensequenzen, werden Patente nur vergeben, falls damit eine konkrete Anwendung verbunden ist - ein so genanntes Verfahrenspatent. Damit geht die rot-grüne Bundesregierung über die Vorlage der EU hinaus, die Stoffpatente auf menschliche Gene erlaubt. Tierrassen und Pflanzensorten können nicht patentiert werden. Allerdings soll es Patente auf Erfindungen geben, deren technische Ausführung nicht auf eine bestimmte Sorte oder Rasse beschränkt ist - wie zum Beispiel ein Gen, das bei verschiedenen Pflanzensorten eine Resistenz

253

gegen Schädlinge erzeugt. Für Tier- und Pflanzengene sind Stoffpatente erlaubt. Lob von Regierung und Union, Protest von Greenpeace Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) nannte das neue Gesetz eine der wichtigsten Regelungen für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland. Auch der Gentechnikbeauftragte der CDU, Helmut Heiderich, lobte die Richtlinie: Erstmals würden konkrete ethische Vorgaben ins Patentgesetz aufgenommen. "Das ist ein Fortschritt", begründete Heiderich die Zustimmung der Union. Greenpeace geht das neue Gesetz dagegen nicht weit genug. Es schränke zwar in Deutschland Patente auf menschliche Gene ein, habe aber keinen Einfluss auf die weit reichenden Patentvergaben des Europäischen Patentamtes. Die Bundesregierung müsse sich deshalb in Brüssel für ein europäisches Verbot der Patentierung von Genen und Lebewesen einsetzen. Auch der Deutsche Bauernverband (DBV) kritisierte das Gesetz. Es bestehe die Gefahr, dass der bisher bei Pflanzen gültige Sortenschutz durch Patente verdrängt werde. Im Juli 1998 hatte das Europäische Parlament die Biopatentrichtlinie nach fast zehnjährigen Beratungen verabschiedet. Sie ist für alle EU-Staaten verbindlich und musste bis zum 30. Juli 2000 in nationales Recht umgesetzt werden. Weil Deutschland dem nicht nachkam, leitete die EUKommission ein Verfahren wegen Vertragsverletzung ein. Am 28. Oktober stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass die Bundesrepublik EU-Recht verletzt. Er kann nun in einem zweiten Urteil eine Geldstrafe von bis zu 800.000 Euro pro Tag verlangen. Das neue Gesetz soll das verhindern. Der Gesetzentwurf muss noch zur Beratung in den Bundesrat, der die Vorlage aber nicht mehr stoppen kann. (SPIEGEL ONLINE 06.12.04)

2.7.9 Notwendigkeit der ständigen Anpassung und Korrektur von Gesetzen am Beispiel möglicher Organentnahme bei anenzephalen Föten Als zunächst zwei ausländische Beispiele dafür, dass - wie wohl auch bei uns für diesen Fall - nicht alle Eventualitäten bei einer Gesetzesabfassung von den dabei eingeschalteten Experten hinreichend bedacht worden sind, sind die Meldungen: "Gericht: Mädchen ohne Gehirn ist nicht tot dpa/ap West Palm Beach - Ein neugeborenes Mädchen, das in Florida (USA) ohne Gehirn auf die Welt kam, darf nicht für tot erklärt werden. Seine Organe dürfen deshalb auch nicht an andere Babys gespendet werden. Das entschied das Berufungsgericht in West Palm Beach. Theresa Ann wurde am 21. März geboren - ohne Schädeldecke, mit nur einem Hirnstamm. Ihr Herzschlag und ihre Atmung funktionieren, doch die Ärzte teilten den Eltern mit: `Ihre Tochter muß sterben.' Da beschlossen Justin Pearson und Laura Campo: `Wir wollen diese Tragödie in etwas Gutes verwandeln. Theresa Anns Herz, Augen, Lungen, Leber und Nieren sind gesund. Sie sollen kranken Babys das Leben retten.' Die Organe sollten so schnell wie möglich entnommen werden - bevor sie Schaden erleiden. Der Anwalt der Eltern, Walter Campbell: `Wir sind überzeugt, daß das Kind vom medizinischen Standpunkt her tot ist.' Doch Richterin Estella Moriaty entschied: `Der Tod ist ein Faktum, keine Meinung. Ich kann das Baby nicht für tot erklären, weil es nicht tot ist. Es dürfen nur nicht lebenswichtige Organe entnommen werden.' Die Eltern wollen heute das oberste Gericht Floridas anrufen. Vater Justin: `Wir kämpfen nicht dafür, Leben zu nehmen, sondern dafür, Leben zu retten.' (HH A 30.03.92) "Gerät abgeschaltet: Kind ohne Gehirn gestorben afp Miami - Die kleine Theresa Pearson, die vor wenigen Tagen ohne Gehirn zur Welt kam, ist kurz nach dem Abschalten der künstlichen Beatmung im Broward-Krankenhaus in Fort Lauderdale (Florida) gestorben. Bis zuletzt hatten die Eltern vor Gericht versucht, ihr Baby für tot erklären zu lassen, um die Organe für andere Kinder zu spenden. Der Antrag wurde in allen Instanzen abgelehnt. Begründung: Es fehle die rechtliche Voraussetzung - der Hirntod des Mädchens. Eltern-Anwalt Scott Mager forderte ein neues Gesetz, weil der Hirntod nicht eintreten könne, `wenn es kein Gehirn gibt.' Abtreibungsgegner protestierten: `Gott schuf Theresa nicht, damit sie als

254 Ersatzteillager dient.' Ein Klinikarzt: ‘Jetzt ist es ohnehin zu spät. Ihre Organe eignen sich nicht mehr zur Verpflanzung.'" (HH A 01.04.92) Bei dem »Geborenen« handelt es sich vermutlich um einen anenzephalen Fötus. Bei solchen wirklichen Missgeburten können Groß- und Zwischenhirn, sowie Schädeldach und eventuell Teile des Stammhirns in unterschiedlicher Graduierung fehlen. Das Erscheinungsbild ist nicht immer gleich. Wenn solche Föten noch wenigstens bestimmte Teile des Stammhirns haben, können sie atmen. Sie müssen aber, wenn vielleicht nicht gleich, weil bei einigen die Atmung abläuft, so doch bald darauf sterben, weil sie verhungern und vertrocknen müssen, da sie nicht essen und trinken können. Leider laufen die beiden Meldungen im mitgeteilten medizinischen Sachverhalt auseinander und sind auch für Mediziner allein auf Grund der vorstehenden Zeitungsberichte nicht aufklärbar. Offen ist, ob »das Geborene« selbständig atmen konnte. Ein Halbsatz der ersten Meldung legt diese Ansicht nahe ("Ihr Herzschlag und ihre Atmung funktionieren ..."). Dagegen spricht, dass Herzschlag und Atmung wohl nur deshalb funktionierten, weil sie künstlich betrieben wurden, denn sonst wäre »das Geborene«, wie in der zweiten Meldung mitgeteilt, wohl nicht gleich nach Abschaltung der Geräte gestorben. Legt man diesen Sachverhalt zugrunde, dann ist das Ergebnis der zweiten Meldung zwar juristisch vertretbar, aber nicht unbedingt zwingend. Die Richter wollten aber dieses Ergebnis auf Grund ihrer persönlichen Wertung erreichen, denn sonst hätten sie z.B. auch das Gesetz zielgerichtet auf seinen gedachten Sinn hin ("teleologisch") einschränkend dahingehend auslegen können: Die Feststellung des Hirntodes gelte nur für die Überprüfung, ob ein Mensch unwiederbringlich klinisch tot sei. Voraussetzung dafür sei aber, dass es sich um einen Menschen im juristischen Sinne handle. Einem Wesen ohne Gehirn fehle jedoch die wichtigste Voraussetzung für die Eigenschaft als Wirbeltier, geschweige denn als Mensch. Darum könne ein Wesen ohne Gehirn kein Mensch im rechtlichen Sinne sein oder ein anenzephaler Fötus ohne Gehirn sei einem Hirntoten gleichzusetzen. Dass sich die Richterin der ersten Meldung (und wohl auch die Rechtsmittelinstanzen dieses US-Bundesstaates) zu ihrer eigenen Grundthese, es handle sich um ein noch nicht hirntotes Lebewesen mit »Mensch«-Qualität, in Widerspruch setzte, wird daran deutlich, dass sie die Entnahme nicht lebenswichtiger Organe erlaubte - was bei einem Menschen ohne eine medizinisch erforderliche Heilmaßnahme am Spender ohne dessen Einwilligung für Ärzte und Eltern nach deutschem Recht gemäß § 223 a StGB als eine gefährliche oder sogar gemäß § 224 StGB als eine schwere Körperverletzung mit Verbrechenscharakter gewertet werden müsste und sicher auch nach us-amerikanischem Recht strafbar wäre! Auch dort wird die Leibesintegrität von Menschen - nach der Abschaffung der Sklaverei – inzwischen vom Gesetz geschützt. Es kommt »nur« darauf an, was man unter einem »Menschen« zu verstehen bereit war: »Rothäute« und »Schwarze« zählten – trotz christlicher kultureller Prägung der in das Land der Indianer eingewanderten Europäer – für (zu)viele lange nicht dazu. Als Beleg dafür, dass auch bei uns das vorstehend abgehandelte Problem der anenzephalen Föten, obwohl in Fachkreisen hinlänglich bekannt, lange noch nicht geregelt ist und wir hier eine diesbezügliche gesellschaftliche Diskussion führen müssen, ein Auszug eines Interviews aus dem STERN, das uns für diese anstehende Diskussion medizinische Fakten vermitteln kann, damit wir wissen, worüber juristisch entschieden werden soll: "Medizin »Die haben ja noch nie gelebt« In Münster haben Ärzte drei Kindern, die ohne Schädeldecke geboren wurden, Nieren zur Organspende entnommen. Der STERN sprach mit dem verantwortlichen Frauenarzt Professor Fritz Beller Es war wohl der umstrittenste Vortrag vom ganzen Kongreß. Professor Fritz Beller, Chef der Universitätsfrauenklinik Münster, referierte vor 2000 Geburtsmedizinern und Hebammen vergangene Woche in Berlin über drei extreme Fälle aus seiner Klinik. Was manchen wie ein Werk Dr. Mabuses erschien, gilt anderen als Ausdruck medizinischen Fortschritts: Dreimal haben Beller und sein Kollege Wolfgang Holzgreve bisher Nieren aus sogenannten anenzephalen Föten Kindern und Erwachsenen übertragen. Als anenzephal gelten Föten, bei denen Zwischenhirn, Großhirn und Schädeldach ganz oder weitgehend fehlen. Die Kinder sehen nach der Geburt froschartig aus und haben keine Überlebenschance. 500 Anenzephale werden pro Jahr in der Bundesrepublik geboren oder abgetrieben. Wenn es nach dem Münsteraner Gynäkologen Beller ginge, ließen sie sich in Zukunft als Organspender nutzen. Die Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren in der Bundesrepublik ist allerdings dagegen. ...

255

BELLER: Niedergelassene Frauenärzte, die wußten, daß nach unserer Auffassung Anenzephale als hirntot gelten [haben den Frauen nahegelegt, ihre anenzephalen Föten für eine Transplantation von Nieren herzugeben]. STERN: Genau das aber ist umstritten. BELLER: Darum habe ich ja auch eine Anzeige von fanatischen Katholiken wegen Mordes am Hals. Im Augenblick tun wir deshalb nichts mehr. Wenn jetzt eine Frau zu mir käme, würde ich nicht zögern, sie dahin zu schicken, wo man nicht so bigott ist wie bei uns, also in die Vereinigten Staaten. In einigen Bundesstaaten dort ist der Anenzephalus nach dem Gesetz bereits tot. ... BELLER: In der Zeit, in der wir drei Anenzephale für Transplantationen verwendet haben, sind 40 bis 60 abgetrieben worden. In einem Fall war eine Frau erst für die Organspende, weil ihre Mutter wegen zerstörter Nieren an der Dialyse hing. Der Ehemann war dagegen. Also haben wir die Schwangerschaft unterbrochen. STERN: Mißbrauchen Sie Föten nicht wie ein kaputtes Auto zum Ausschlachten der Teile? BELLER: Das ist eine oberflächliche Auffassung. In der Bundesrepublik ist es vornehm geworden, über den Bedarf an Organen gar nicht mehr zu reden. Keiner erwähnt, daß bei Erwachsenen 3000 und bei Kindern 1000 Nieren fehlen. Fragen Sie doch mal jemanden, der eine Niere bekommen hat! STERN: Reduzieren Sie nicht ein Wesen, das nur so lange am Leben erhalten wird, bis die Voraussetzungen für die Transplantation geschaffen sind, zum bloßen Ersatzteillager? BELLER: Bei diesen Wesen handelt es sich um einen Sonderfall der Natur, bei dem sich Organteile gebildet haben, ohne daß es ein menschliches Leben geworden ist. ... Die haben ja nie gelebt. STERN: Werden auch in der Zukunft anenzephale Föten als Organspender benutzt werden? BELLER: Das hängt in der Bundesrepublik von den Juristen ab. Die müssen klären, ob ein solches Wesen hirntot ist. Denn dann ist die Entnahme von Organen erlaubt.“

Notwendi gkeit der ständigen Anpassun g und Korrektur von Gesetzen am Beispiel mögliche r Organent nahme bei anenzeph alen Föten

Soweit einige aktuelle, nicht nur mit dem Skalpell unter die Haut gehende Belege dafür, dass immer wieder (teilweise erst neu entstehende) Sachverhalte (noch) nicht adäquat juristisch geregelt worden sind, teilweise wegen neuer Erkenntnisse bisher auch gar nicht geregelt worden sein können oder dass bei der bisherigen juristischen Regelung regelungsbedürftige Teilbereiche übersehen wurden und darum einer – vielleicht nur erst einmal vorläufigen – Regelung harren. Letztlich geht es bei den biomedizinischen Problemen um die in juristische Form zu kleidende Beantwortung der ethischen Frage: Ab wann ist der „Mensch“ schon ein »Mensch« und bis wann ist der Mensch noch ein »Mensch«? Ab wann soll der Beginn »menschlichen« Lebens angenommen und dann auch geschützt werden, und ab wann soll das Ende »menschlichen« Lebens definiert werden? Darf noch an menschlichen embryonalen Stammzellen geforscht werden oder liegt schon »menschliches« Leben vor, das solche experimentierende Forschung verbietet? Muss vegetative und neuronale Qualität eines von einer Frau »Geborenen« gegeben sein, um von einem »Menschen« sprechen zu können? Genügt rein reflexartiges Verhalten z.B. auf Schmerz ohne die Chance der Erlangung von Bewusstsein, um »menschliches Leben« annehmen zu können? Und am anderen Ende der ein Menschenleben begrenzenden Zeitschiene möglicherweise die Frage: Wie lange müssen Komapatienten künstlich am Leben gehalten werden oder dürfen sie »abgeschaltet« werden; ab wann? Die Beantwortung dieser Fragen wird nicht einfacher dadurch, dass sich nicht nur die Juristen, Religionswissenschaftler, Ethiker und Philosophen, sondern auch die Ärzte über in diesem Zusammenhang stehende Fragen und Probleme und damit über die Grundlagen der späteren vorzunehmendem Wertung streiten: Soll die Lebensqualität eines gesunden Menschen die Messlatte für die medizinische und dann auch die juristische Beurteilung der Toleranzbreite dieser existenziellen Fragen sein? Wie aber will man sonst von einem mutmaßlichen Willen z.B. eines sterbenskranken Patienten ausgehen? Oder: Wie unterscheidet man WachkomaPatienten ohne Bewusstsein von den ähnlich gelagerten Fehldiagnosen Locked-in-Syndrom30 oder dem akinetischen Mutismus31? Für eine Minderheit der Mediziner ist eine bloße Hypothese, dass Wachkoma„Umkehrung des Wachkomas“: Die Patienten wirken wie im Koma, sind aber bei vollem Bewusstsein. Auf Grund einer begrenzten Schädigung des Hirnstammes ist der gesamte Körper wie bei einer maximalen Querschnittslähmung gelähmt. Die Patienten können sich weder bewegen noch auf ihre Umwelt reagieren; sie sind „eingeschlossen“. Nur noch senkrechte Augenbewegungen sind möglich, weil diese Bewegung weiter oben im Stammhirn geschaltet wird. 31 Solche Patienten können sich auf Grund des nicht abfließenden Hirnwassers (Liquor), das auf Nervenzellen des Zwischenhirns, das Thalamus oder auf die Stirmlappen drückt und so die Reizleitungen blockiert, nicht bewegen und nicht sprechen. Sie nehmen aber alles wahr. Bei rechtzeitigem Ableiten des Liquor können sie sich von ihrer Lähmung erholen. 30

256

Patienten kein Bewusstsein mehr hätten, aber stimmt diese Hypothese? Der us-amerikanische Gehirnforscher E. Schuman bezweifeln sie und hält es für denkbar, dass solche Patienten nicht nur wie »menschliches Gemüse« rumliegen, sondern möglicherweise noch registrieren, ob es jemand gut mit ihnen meint, dass sie gestreichelt werden, vielleicht können sie noch Musik hören, ohne aber darauf reagieren zu können. ...

2.7.10 Wertungswidersprüche durch verschiedene - eventuell ungenau formulierte Gesetze möglich Gesetze, für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen geschaffene "abstrakte" Regelungen, beanspruchen Geltung in allen gleichgelagerten Fällen und sind dort auch gleich anzuwenden. Das Pochen auf die Einhaltung eines seiner Idee nach für alle darunter fallenden Sachverhalte gleichermaßen gültigen Gesetzes kann aber auch zu einem "Rohrkrepierer" werden: "Finanzamt: Bordell muß ausbilden SAD Adelaide - Gesetze sind dazu da, eingehalten zu werden. Davon sind Australiens Finanzbeamte so überzeugt, daß sie einem Bordell in Adelaide jetzt einen Mahnbescheid schickten. Das Bordell wird aufgefordert, sich um die Lehrlingsausbildung zu kümmern. Wie in vielen Staaten der Welt, so wird auch von Australiens leichten Mädchen eine Einkommenssteuer verlangt. ... Als die Beamten merkten, daß die versteuerte Einkommenssumme des Bordells 214.000 australische Dollar überschritt, fiel ihnen ein, daß es zu diesem Thema noch eine weitere gesetzliche Vorschrift gibt: wenn bei einer Firma die Gehaltssumme 214.000 Dollar übersteigt, muß die Firma mindestens ein Prozent dieses Betrages für die Nachwuchsförderung (Lehrlingsausbildung) ausgeben. Das Bordell hat die Einkommenssteuerzahlungen seiner gewerbetreibenden Ladys über einen Steuerberater abgewickelt. Dieser Steuerberater ist nun nachdrücklich aufgefordert worden, bei seinen Mandanten für die Nachwuchsförderung zu sorgen." (HH A) Wertungswi dersprüche durch verschieden e Gesetze möglich

So unsinnig wie seine Finanzbeamten hatte der australische Gesetzgeber gar nicht zu denken vermocht, sonst hätte er wohl das Wörtchen "anerkannten" vor Lehrberuf gesetzt, und das juristische Problem wäre behoben gewesen. Um diese Anerkennung als Beruf oder wenigstens eine rechtliche Besserstellung kämpfen auch bei uns die rund 400.000 Damen, "denen im Namen der Liebe vergeben werden wird, was sie im Namen der Liebe gesündigt haben" (Mostar), die täglich mit Kurzbesuchen von ca. 1,2 Millionen Männern beehrt werden, die dafür in sehr unterschiedlich hohen Beträgen insgesamt ca. 17,5 Mill. Euro ausgeben. Statistisch gesehen sucht jeder vierte Mann einmal im Jahr eine „Sexarbeiterin“ auf. Der Umsatz des "horizontalen Gewerbes" wird auf sechs Milliarden Euro jährlich geschätzt. Die Damen gingen nach der bis dahin geltenden Wertung der Gerichte und des Gesetzgebers in § 138 BGB einem sittenwidrigen Gewerbe nach, für das sie sogar Steuern zahlen müssen, konnten den Liebeslohn nach eventuell erbrachter Vorleistung wegen der vom Gesetzgeber bisher so festgelegten Sittenwidrigkeit aber nicht einklagen, weshalb sie immer Vorkasse verlangten, und das BVerwG stellte diese spezielle Form der mitmenschlichen Zuwendung noch 1965 auf eine Stufe mit dem Berufsverbrechertum. Ende 1996 brachte die Fraktion der Grünen als erste Fraktion im Bundestag einen Gesetzentwurf ein, demzufolge die Prostitution als Beruf anerkannt werden solle, um damit die rechtliche Diskriminierung der Damen zu beenden; ein Jahr später folgten die Sozialdemokraten, die diesen Frauen den Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen erleichtern wollten, damit bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter nicht auf die Sozialhilfe zurückgegriffen werden müsse. Es solle nicht mehr Lebensumstände geben, die dann zu Meldungen führen wie: Bochum: 77-jährige Hure nach ihrer Arbeit im Bordell überfallen und ausgeraubt (10.01.03) Die Altersangabe ist kein Tippfehler! Und ich dachte immer, die Zuverdienstmöglichkeiten unterlägen, wie bei (anderen) Profisportlern, einer natürlichen altersmäßigen Begrenzung, die ich weit vorher gesehen habe. Wer mit Sozialhilfe nicht auskommt, weil er weitergehende Bedürfnisse hat, muss halt weiter (an-)schaffen. Dezember 2000 entschieden Richter des Verwaltungsgerichts Berlin, dass Prostitution heutzutage nicht mehr grundsätzlich sittenwidrig sei – und das nicht, weil eventuell auch sie schwach geworden und diese für einen

257

großen Teil der Männer offensichtlich freudvolle Erfahrung selbst gemacht hätten: Das großstädtische(!) Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf hatte die Sex-Bar der berühmtesten Berliner Bordell-Chefin mit der Begründung schließen wollen, durch die Vermietung von Zimmern in einem Hinterhaus an Prostituierte, die ohne Einschaltung von Zuhältern -, dorthin ihre in der Gaststätte kennen gelernten Freier mitnehmen konnten, leiste sie „der Unsittlichkeit Vorschub“, was als Verstoß gegen § 4 Nr. 1 Gaststättengesetz zwingend die Schließung der Anbahnungsgaststätte erfordere. Gegen diese Schließungsverfügung wehrte sich die GaststättenChefin mit einer Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Die Richter der mit diesem Rechtsstreit befassten Kammer erkannten - zum erstenmal in Deutschland - für Recht: Prostitution, die ohne kriminelle Begleiterscheinungen wie Menschenhandel oder Zuhälterei von Frauen freiwillig ausgeübt werde, sei heutzutage grundsätzlich nicht mehr als sittenwidrig einzustufen. Sie sei als „Teil des Zusammenlebens“ in der Gesellschaft weitgehend akzeptiert. In ihrer Urteilsbegründung verwiesen die Richter auf einen „Wandel der Wertvorstellungen in der Gesellschaft“. Anzeichen dafür sahen sie darin, dass sich Verbände, Organisationen und auch die Bundesregierung für gesetzliche Neuregelungen zu Gunsten der Prostituierten einsetzen würden. Dieser Wandel müsse auch in der Rechtsprechung ihren Niederschlag finden und sie in Bewegung bringen. Das Urteil wird über den Einzelfall hinaus in der gesamten Bundesrepublik seine Wirkung entfalten. Dessen bin ich mir völlig sicher. Im November 2001 verabschiedete die Regierungskoalition von SPD und Grünen einen Gesetzentwurf, demzufolge Prostitution nicht mehr als sittenwidrig einzustufen war. Das hat dann zur Konsequenz, dass der Kuppelei-Paragraph gestrichen werden wird, die Damen von ihren Freiern die vereinbarte Bezahlung einklagen können (obwohl nach meinen damaligen Kenntnissen aus meiner Tätigkeit bei der Hamburger Staatsanwaltschaft die Damen sowieso alle nur auf der Basis von Vorkasse arbeiteten), Arbeitsverträge abschließen können (es wurde optimistisch geschätzt, dass die Hälfte der 400.000 Gunstgewerblerinnen als Angestellte wird arbeiten wollen) und sie in die sozialen Sicherungssysteme der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung aufgenommen werden. Im Juni 2003 ging eine Meldung durch das Internet, dass sich eine Gunstgewerblerin beim Arbeitsamt Köln arbeitslos gemeldet und um Vermittlung als Hure im Teilzeitbereich gebeten habe. Das Arbeitsamt tat was seines Amtes ist: Es bemühte sich um eine Vermittlung. Außerdem haben jetzt auch diese Damen Anspruch auf eine Umschulung, was ihren Ausstieg aus dem „ältesten Gewerbe der Welt“ gewollt erleichtern könnte. Das BVerwG möchte nicht unbedingt so fortschrittlich sein wie das Berliner Untergericht in dem vorstehenden Fall. Es gab darum am 18.09.01 den Fall einer wegen ihres - vermutlich nicht in einer Großstadt ausgeübten horizontalen Gewerbes aus der Bundesrepublik ausgewiesenen niederländischen Prostituierten an den EuGH ab, der darüber befinden und entscheiden sollte, ob Prostitution (allgemein und europaweit?) noch weiterhin als sittenwidrig anzusehen sei. In dem nun seit dem 01.01.02 geltenden Prostituiertengesetz wurde eine rechtliche und soziale Besserstellung der „Gunstgewerblerinnen“ angeordnet und angestrebt. Den Frauen öffnet sich nun der Zugang in die Sozialversicherung: Wenn sie in einem Arbeitsverhältnis stehen, können sie Arbeitslosen-, Renten- und gesetzliche Krankenversicherung in Anspruch nehmen. Doch die weit überwiegende Anzahl von ihnen wird sicher weiterhin freiberuflich anschaffen: Ihre Luden werden eher kein Arbeitsverhältnis mit ihnen begründen – die abzuführenden Arbeitgeberbeiträge würden ja ihre Einnahmen schmälern -, und sie selber haben auch kein überragendes Interesse an einer exakten, vom Finanzamt überprüfbaren Buchführung! Die Steuermoral der Damen ist weit weniger entwickelt als ihre Oberweite! Und man kriegt sie auch nicht so recht in den Griff: die Steuermoral natürlich. Darum wurde z.B. in Stuttgart das Modell entwickelt, dass die Wirte der Freudenmädchen pro Liebesdienerin (worunter auch Dominas zu verstehen sind) und Arbeitstag einen Pauschalbetrag von 25 Euro überweisen sollen. Eine weitere wesentliche Besserstellung gegenüber dem vorherigen rechtlichen Status besteht für alle »Bordsteinschwalben« darüber hinaus nunmehr darin, dass die von den Gerichten bisher so beurteilte Sittenwidrigkeit des Hurenlohnes durch das Prostituiertengesetz entfallen ist und sie darum künftig den Lohn für ihre liebestollen Bemühungen einklagen können. Doch damit können sich von den Gerichten erst noch zu klärende Schwierigkeiten auftun, denn es könnte notwendig sein zu klären, was für eine Art eines zweiseitigen Vertrages da zwischen Freier und Liebesdienerin geschlossen wurde: ein Werkvertrag oder - wie im Entwurf der Grünen vorgesehen - ein Dienstvertrag oder vielleicht eher ein gemischter Vertrag? Von der Art des anzunehmenden Vertrages hängt u.a. die vertragstypische Leistungspflicht ab. Wir erinnern uns: Bei einem reinen Werkvertrag ist eine ganz bestimmte Leistung geschuldet, bei einem reinen Dienstvertrag hingegen nur das Einbringen der eigenen, lege artis anzuwendenden Kenntnisse. Bei einem ASTRA-Bier mit seiner jedenfalls in Hamburg zur Schau gestellten Kietz- und Proll-Werbung könnte man als Jurist ja seiner eigenen Phantasie ein wenig die Zügel schießen lassen und – rein juristisch(!), versteht sich – überlegen, welche möglicherweise bloß

258 gewährend-hinhaltende Leistung eine Dame bei einem Dienstvertrag auf „normal“, „oral“ oder „anal“ zu erbringen habe, und welche weitergehende Leistung bei einem speziellen Werkvertrag auf z.B. „französisch“, „griechisch“, „spanisch“ usw., was da alles in großstädtischen Zeitungsannoncen angepriesen wird und sich unsereiner auch in seinen feuchtesten Träumen gar nicht alles träumen lässt, mit bloßer Haut, in Latex, mit oder ohne Handschellen und anderen Fesselungsutensilien, mit Peitschen, heißes Wachs vertropfenden Kerzen und, und, und ... von meist osteuropäischen Spitzenkräften erbracht werden muss. Die praktizierte Sexualität ist fast so vielfältig, wie es die Menschen mit ihren unterschiedlichsten speziellen Bedürfnissen sind! Muss das BGB dann buchstabengetreu angewandt werden? „§ 242 BGB [Leistung nach Treu und Glauben] Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“ Gibt es dann das Recht auf einen Orgasmus „mittlerer Art und Güte“? „§ 243 BGB [Gattungsschuld] (1) Wer eine nur der Gattung nach bestimmte Sache schuldet, hat eine Sache von mittlerer Art und Güte zu leisten. (2) ... Und was geschieht bei Leistungsstörungen, was bei Schlechtleistung - unter welchen Voraussetzungen sollte sie angenommen, wie sollte sie bewiesen werden: die Striemenbreite auf dem Hintern messen? - oder gar bei behaupteter Nichtleistung? Und wie sollte die bewiesen werden? Nach jedem Geschlechtsverkehr zur Beweissicherung einen Scheidenabstrich vornehmen? Denn beweissichernde Fotos oder Überwachungsaufnahmen werden die Kunden ablehnen! Das gäbe nur Möglichkeiten zu Erpressungen! Und da darüber hinaus z.B. Dominas grundsätzlich keinen Intimverkehr mit ihren Kunden haben und Sado-Frauen ihre Kunden auf deren inständiges Flehen hin statt dessen prügeln: wird der Kläger dann vor Gericht die Hosen runterlassen müssen, wenn die Domina behauptet, auf des Klägers Gesäß die Spuren ihrer Peitsche nachweisen zu können? Und wenn sie auf Bitten des Kunden einen Tischtennisschläger oder ein anderes flaches Schlaginstrument genommen hatte, damit der Puffbesuch nicht der Ehefrau durch die Striemen aus freudevoll genossener Behandlung sofort ins Auge fällt? War das zum Rechtsstreit führende Verhalten, wie gemäß der §§ 242 und 243 BGB gesetzlich gefordert, eine Leistung mittlerer Art und Güte oder eine Schlechtleistung? Wie ist es gegebenenfalls mit einem Beweissicherungsverfahren? Selbst das Zivilrecht kann einem Strafrechtler wie mir manchmal Spaß machen! Nicht ahnen konnte ich bei der fortlaufenden Konzipierung des Buches, was die rechtliche Anerkennung der Prostitution als »normaler« Beruf einige Jahre später – außer der Einrichtung eines Welthurentages am 2. Juni eines jeden Jahres - sonst noch für Folgen haben würde; und was an den Fall Finanzamt gegen Gunstgewerblerinnen in Australien erinnert: „alles, was recht ist Ein Job wie jeder andere Hartz IV macht's möglich: Die Vermittlung von langzeitarbeitslosen Frauen ins Rotlicht-Milieu. Rechtlich gibt es keine Untergrenze der Zumutbarkeit bei der Jobvermittlung. Arbeitsagenturen legen sich - noch - eine Selbstbeschränkung auf von KAI VON APPEN Das Thema weckt feministische Emotionen. "Das glaub' ich nicht, da ruf' ich sofort meine Rechtsanwältin an", schimpft eine Kollegin. "Darüber berichten wir nicht, das verunsichert nur die Frauen", fordert eine andere. Und selbst DGB-Sprecherin Claudia Falk zeigt sich anfangs entrüstet. "Nee, nee, nee! Das kann so nicht sein!" Doch die Rechtslage sieht ab 1. Januar anders aus: Gemäß den Zumutbarkeitskriterien nach Arbeitslosengeld II könnten langzeitarbeitslose Frauen im Prinzip in seriöse Bordelle vermittelt werden - als Bedienung zum Beispiel, aber auch als Prostituierte. Seit 2002 ist der Beruf der Prostituierten legalisiert. Die Tätigkeit der Sexarbeiterin ist damit ein Job wie jeder andere. Also bestünde für die Agentur für Arbeit kein Grund, nach der neuen Hartz IVGesetzgebung nicht in den Bereich "sexueller Dienstleistungen" zu vermitteln. "Der Beruf gilt gesetzlich nicht mehr als sittenwidrig", erläutert Mechthild Garweg, Fachanwältin für Familien- und Sozialrecht, die in Qualifizierungsgesellschaften Leute auf die Erwerbslosigkeit vorbereitet. "Es gibt

259

juristisch keinen Hinderungsgrund, in diesen Dienstleistungsbereich zu vermitteln." Wenn eine Muslimin im Schlachthof Schweinefleisch verarbeiten, ein junger Mann sich als Nacktputzer und eine ehemalige Call-Center-Mitarbeiterin sich in der Telefonsexagentur verdingen müsse, "warum soll dann von einer erwachsene Frau nicht verlangt werden, ihr Einkommen durch kommerzielles Vögeln zu erzielen", fügt Garweg provozierend hinzu. "Strafrechtlich gibt es auch keine Barrieren, höchstens kulturelle, gesellschaftliche und moralische Hemmungen." Das muss nach interner Recherche unter Experten auch DGB-Sprecherin Falk eingestehen. "Es gibt tatsächlich keine Untergrenze bei der Zumutbarkeit", bestätigt sie, "da hat es der Gesetzgeber versäumt, Normen zu schaffen." Trotzdem setzt sie auf Einsicht. "Es herrscht hoffentlich Konsens, dass dies nicht durchsetzbar ist." Es gibt auch einen anderen Aspekt. "Bordelle und Prostituierte zahlen Arbeitslosen-, Kranken- und Sozialversicherung, dann haben sie auch ein Recht auf Vermittlung durch das Arbeitsamt", klagt Stephanie Klee vom Bundesverband sexueller Dienstleistungen bisher Versäumtes ein. Alles andere "ist eine Diskriminierung von Prostituierten". Im Kernbereich stimmen Bordellbetreiberin Klee und DGB-Sprecherin Falk aber überein: "Eine Frau kann in diesem Gewerbe nur arbeiten, wenn sie dazu bereit ist", sagt Klee. "Es wäre auch nutzlos, mich als Krankenschwester zu vermitteln." Daher geht sie davon aus, dass die Arbeitsagenturen an ihrer Selbstverpflichtungserklärung festhalten, nicht in den Bereich Prostitution zu vermitteln. Diese Direktive gelte für "Gastronomie und Tabledance" allerdings nicht. Auch Falk sieht da das große Dunkelfeld: "Es wird Grenzfälle geben. So die Kellnerin, die im kurzen Röckchen hinterm Bordelltresen stehen soll, oder die Tänzerin, die in ein Tabledance-Lokal vermittelt wird." Emilija Mitrovic, Sozialforscherin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und Verfasserin der ver.di-Studie "Arbeitsplatz Prostitution", sieht unterschiedliche Aspekte. "Für sexuelle Dienstleistungen braucht man keine Ausbildung", sagt die Forscherin. Trotzdem könne nach dem Prostitutionsgesetz keine Frau angewiesen werden, sexuelle Dienstleistungen gegen ihren Willen zu tätigen. Dieser Paragraph richte sich aber vornehmlich gegen das Weisungsrecht von Zuhältern oder Bordellbetreibern. Und es gebe auch im Erotikbereich großen Personalbedarf. Mitrovic: "Es ist sicherlich möglich, eine solche Arbeit abzulehnen, aber das könnte Probleme geben." Das bestreitet Knut Börnsen, Sprecher der Hamburger Arbeitsagentur. "Es gibt ja noch Sitte und Anstand." Daher werde nicht in Bordelle vermittelt. "Derartige Betriebe wenden sich nicht an die Agentur", so Börnsen, "die haben andere Kanäle." Doch Einzelfälle hat es bereits gegeben. Und wenn es sich offiziell nur um einen Tresenjob im Bordell handelt? "Wenn eine Frau da nicht arbeiten möchte, dann akzeptieren wir das", sagt Börsen und schränkt zugleich ein. "Ob das Folgen hat, muss dann im Einzelfall geprüft werden." Emilija Mitrovic verweist indes darauf, wie schnell sich Normen und Werte ändern. "Die Gefahr ist ziemlich groß, dass die Praxis der Arbeitsagenturen umkippt." Denn schon jetzt seien die Arbeitsämter verpflichtet, der Polin, die mit einem Bordellbetreiber kommt, eine Arbeitsgenehmigung für sein Etablissement auszustellen.“ (taz Hamburg 18.12.2004)

2.7.11 Gesetzesinterpretationen durch Auslegung oder Analogiebildungen zur Ermöglichung juristisch gewollter Ergebnisse ohne Gesetzesänderungen Doch zurück zum australischen Gesetzgeber der vorletzten Zeitungsmeldung. Der hatte vielleicht nur zu schludrig formuliert. Nun bedarf es einer Gesetzesänderung - oder einer feingesponnenen Auslegung, um das sich nach dem Gesetzeswortlaut aufdrängende Ergebnis zu vermeiden, denn Gesetze sind keine Königsworte: Als der Staufer (Gegen-)König Konrad III. im Kampf um die Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1140 die zu Kaiser Lothar haltende Stadt Weinsberg belagert und zur Übergabe gezwungen hatte, was üblicherweise so endete, dass die unterlegenen Männer getötet und nur den Frauen und Kindern freier Abzug gewährt wurde, erflehten die Weiber von Weinsberg die Gnade, ihre „wertvollste Habe beim Abzug mitnehmen“ zu dürfen. In Siegerlaune gewährte es der König – und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen, als kurz darauf die abziehenden Weiber ihre Männer auf ihren Rücken aus der Festung wegtrugen. Einige Ratgeber des Königs schäumten über diese »Hinterlist«. Aber König Konrad III. hatte die menschliche Größe, zu seinem Wort zu stehen und gab als Begründung den Satz, der ihn unvergessen machte: „An einem Königswort soll man nicht dreh‘n noch deuteln!“ (Es ist aber nicht bekannt, dass er die Mutter des juristischen Tricks zu seiner Hofjuristin

260

ernannt hätte. Äußerst gute Anlagen für diesen Job, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten, hatte sie ja nachgewiesen!) Aber Gesetze sind eben keine Königsworte. An ihnen wird ständig gedreht und gedeutelt. Angehende Professoren erschreiben sich so ihre Lehrstühle, die Richter der Obergerichte hauen den Richtern der Untergerichte deren Urteile um die Ohren, weil sie am entscheidungserheblichen gesetzlichen Wortlaut – manchmal nur einem einzigen Wort - anders drehen und deuteln, als es in der Vorentscheidung getan worden war. Nur nennen es die Juristen etwas feiner: Bei ihnen heißt es nicht Haarspalterei, sondern „Auslegung“ – ist leider aber oft nichts anderes. Gesetzesint erpretatione n oder Analogiebil dungen zur Ermöglichu ng juristisch gewollter Ergebnisse ohne Gesetzesän derungen

Für Gesetzesinterpretationen haben Generationen von Juristen Auslegungsregeln zur Deutung eines selbst ihnen unverständlichen oder unsinnig erscheinenden Gesetzestextes ersonnen - und so etwas gibt es gar nicht so selten! Ohne näher darauf einzugehen, seien als Methoden einer möglichen Gesetzesinterpretation die wörtliche, grammatikalische, sprachliche, systematische, auf den Sinn der speziellen Gesetzgebung abzielende teleologische, den Gesetzeswortlaut einschränkende, die über den Gesetzeswortlaut und -wortsinn hinaus extensive, die eine anstößige gesetzliche Formulierung einfach ignorierende grundgesetzkonforme und die historische Auslegung entweder einzeln oder in Kombination verschiedener Auslegungsmethoden, und wenn das alles nicht weiterhilft, eine analoge Anwendung einer gesetzlichen Bestimmung aus einem anderen Bereich mit ähnlicher Interessenslage und Interessenswertung genannt. U.a. das erfordert eine längere Studiendauer und macht die Juristerei manchmal so spannend - oder ärgerlich (für den Unterliegenden), den Ausgang von Rechtsstreiten oft zum Glücksspiel, nährt aber viele Juristen! In allen Rechtsbereichen, besonders gerne aber im Bereich des Strafrechts arbeiten die Obergerichte mit Auslegungen, um doch noch eine Strafbarkeit zu erreichen, wenn der Gesetzeswortlaut für einen Nichtjuristen schon keine Strafbarkeit mehr hergibt. Als ein Beispiel sei die vor der Reform des Sexualstrafrechts durch § 180 StGB strafbewehrte Kuppelei angesprochen, mit der die Begünstigung der Ausübung von Unzucht - nach damaliger BGH-Meinung jeder Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe - durch Vermittlung, Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit zum außerehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe gestellt wurde, so dass Eltern bestraft wurden, wenn sie ihre verlobten Kinder in ihrer Wohnung gemeinsam nächtigen ließen. Aber es wurde nicht nur die „normale“ Kuppelei, sondern - und das setzte dem Ganzen die Krone auf - durch eine feingesponnene Auslegung sogar „Selbstverkuppelung“ bestraft; und der für die Bestrafung einer Handlung als Kuppelei erforderliche Eigennutz wurde von der Rechtsprechung in dem Lustgewinn gesehen, den der hat, der außerhalb der Ehe „aktiv schläft“. So konnte man jeden lustvollen Geschlechtsverkehr neben dem ehepflichtigen pönalisieren. Und dann wird auch noch viel Paragraphenklauberei betrieben: "Kuh-Handel. Wie zu erwarten war, hält sich wieder mal kein Rindvieh an die Milchquote. Die 35 Kühe des Landwirtes Horst Garlik, 36, im oberschwäbischen Ottershofen haben bereits im Februar ihr Plansoll für das bis Ende März laufende Milchwirtschaftsjahr erfüllt und produzieren nun täglich einen Überschuß von rund 400 Litern - Milch, die nicht als Trinkmilch verkauft werden darf. Dem Bauern kam eine Idee: Hatte nicht Kleopatra in Milch gebadet? Garlik bot seine Überschüsse per Inserat als Bademilch an. `Zwei Tage lang lief das Telefon heiß, einer hat meine Frau gefragt, ob ein Milchbad die Potenz steigere.' Doch die Aktion war jäh beendet: Ein Mitarbeiter des Friedrichshafener Hauptzollamtes erklärte Garlik, daß sich beim Baden jemand verschlucken könne. Damit wäre die Bademilch wieder Trinkmilch geworden, und die müsse nun mal vom Markt verschwinden. Der Vorschlag des Beamten: die Milch zum Verzehr ungenießbar machen. Aber selbstverständlich müsse auch das erst einmal vom zuständigen Ministerium geprüft werden. Garlik hat die Nase voll: In Zukunft baden nur noch seine drei kleinen Töchter in frischer Milch. Und dürfen ruhig mal schlucken: Gegen Eigenbedarf hat das Amt nichts einzuwenden." (Stern 92) Um das vorläufig letzte Beispiel einer unsinnigen Gesetzesanwendung zu verstehen, muss man wissen, dass eine größere Anzahl Japaner zur Befriedigung ihrer Gelüste Geld dafür ausgibt, in bestimmten Läden von jungen Mädchen kurz getragene Unterwäsche zu überhöhten Preisen zu kaufen. Extrem hoch sind die Preise dann, wenn zu der getragenen Unterwäsche ein Bild der immer äußerst leicht bekleideten (angeblichen?) Höschenträgerin mitgeliefert wird. Weil dieser Handel in dem vielleicht offiziell von amerikanischer Prüderie geprägten Land nicht ganz legal war, wurden gebrauchte Slips als „antike“ Wäschestücke verkauft.

261

"Antike Höschen ap Tokio - Drei Japaner, die gebrauchte Damenwäsche verkauft haben, bekommen Ärger: Die Justiz in Tokio wirft ihnen einen Verstoß gegen das Antiquitätengesetz vor. Es lag keine Genehmigung vor." (HH A 22.09.93) "Wie das?", fragt man sich. Die in einem Fernsehbericht aus den einschlägigen Läden Japans gezeigte Damenunterwäsche war neuesten Schnitts. Es handelte sich wirklich nicht um antike Keuschheitsgürtel, sondern um modernste Dessous westlicher Provenienz, die Schulmädchen getragen und vor dem Waschen wieder verkauft hatten, um durch diese Taschengeldaufbesserung immer auf dem neusten Stand der Dessousmode zu sein und sich durch den von Karl Marx so nicht gesehenen „Mehrwert“ in der Qualität „hochkaufen“ zu können! Wir sahen: Gesetze können, noch mehr aber kann ihre Anwendung unsinnig sein. Aber ohne Gesetze geht es eben auch nicht. Nur Robinson Crusoe brauchte auf seiner Insel keine Gesetze - solange er dort alleine lebte.

2.7.12 »Einzelfall«-Gesetze trotz »abstrakt« (für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen) gehaltenen Wortlauts "Einzelfal l"Gesetze

Es sei angemerkt, dass die den vorstehenden Zeitungsmeldungen vorangestellte Definition des Begriffes »Gesetz« nicht für alle Gesetze gilt. Darum war das Wörtchen "grundsätzlich" zu Beginn der Definition eingeschoben worden. Damit macht ein vorsichtiger Jurist deutlich, dass es von einer von ihm getroffenen Aussage mindestens eine ihm bekannte juristisch relevante Ausnahme gibt. So wird z.B. der staatliche Haushaltsplan jedes Jahr in der Form eines Gesetzes beschlossen, gilt aber nur für den Einzelfall des jeweiligen Jahres und nicht, wie in der Definition grundsätzlich gefordert, »abstrakt« für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen. Und manche Gesetze sind zwar »abstrakt« abgefasst, so dass sie theoretisch für eine unbestimmte Vielzahl von Einzelfällen gelten könnten, wurden aber teilweise nur für einen vorliegenden Einzelfall beschlossen, von dem man annehmen konnte, dass er wohl nicht wieder geschehen werde. Ein Beispiel war das vom schwedischen Parlament geänderte Gesetz, das es (zunächst nur den) Geschwistern (des der Meldung zugrunde liegenden Falles) ermöglichte, mit ihren gemeinsamen Kindern als Familie weiter zusammenleben zu können, ein weiteres das vom kanadischen Parlament zu Gunsten der Adoptivkinder Broddy eingebrachte Gesetz. Ein »Einzelfall«-Gesetz aus deutschen Landen, das auch nach dem Fall der Mauer und dem Anschluss Ostdeutschlands an Westdeutschland bisher weitergilt: "Neues Gesetz für Honecker `DDR'-Staatsratsvorsitzender will im September nach Bonn Von Martin S. Lambeck Bonn - Der `DDR'-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker will im September dieses Jahres die Bundesrepublik besuchen. Das verlautet aus Bonner Regierungskreisen. Zuvor sind Regierung und Parlament aber noch damit beschäftigt, ein Hindernis für einen derartigen Besuch aus dem Wege zu räumen: Eilig wird ein neues Gesetz vorbereitet, das nach Angaben aus dem Bundesjustizministerium `Gäste der Bundesrepublik aus anderen Staaten' vor dem Zugriff der bundesdeutschen Justiz sichert. Bisher ist nicht endgültig geklärt, ob nicht ein bundesdeutscher Staatsanwalt womöglich wegen des Schießbefehls eine Strafverfolgung gegen einen offiziellen Repräsentanten der ‘DDR' einleiten könnte. Zwar hält man dies in Bonn praktisch für ausgeschlossen, doch bestehen mit Hinblick auf diese Möglichkeit in der Umgebung Honeckers offensichtlich große Vorbehalte. Ein UnionsAbgeordneter: `Ein solches Risiko kann und will man in Ost-Berlin nicht eingehen. Das wird jeder verstehen.' Aus den Reihen der Bundesregierung heißt es, es gebe hier `eine Quelle ständigen Unbehagens'. Man habe `ja schon alles mögliche erlebt'. ..." (HH A 24.03.83)

2.7.13 Auch unsinnig erscheinende Gesetze haben oder hatten meistens – aber nicht immer - einen nicht unbedingt billigenswerten, aber von der Intention des Gesetzgebers her nachvollziehbaren, zwischenzeitlich eventuell verschütteten Sinn

262

Unsinnig erscheine nde Gesetze

Gesetze und hierauf fußende Verordnungen und Satzungen bezwecken immer eine bestimmte Regelung. Sie streben eine bestimmte Lösung eines gerade als Problem empfundenen gesellschaftlichen Sachverhaltes an. Deswegen werden sie ja von der jeweiligen Machtelite erlassen. „Unnötige Gesetze unterbleiben am besten“, formulierte schon Montesquieu. Der Sinn erlassener Gesetze ist aber später nicht unbedingt mehr zu erkennen, oft jedenfalls nicht gleich. Warum haben die Nazis den deutschen Mitbürgern jüdischen Glaubens z.B. ab 1942 das Halten von Haustieren verboten? War das bloße Schurigelei wie u.a. die Verpflichtung zum Tragen des Judensterns oder das Verbot des Benutzens von Parkbänken durch Juden, ...? Beileibe nicht! In ihrer offensichtlich grenzenlosen Tierliebe wollten die Nazis, wenn sie die Tierhalter abholten, um sie zu deportieren und sie dann in den KZs als Arbeitssklaven oder menschliche medizinische Versuchskaninchen zu miss- und zu verbrauchen, um sie verhungern zu lassen, zu vergasen oder einfach zu erschlagen, nicht auch noch zusätzlich die Haustiere jüdischgläubiger deutscher Mitbürger erschlagen müssen. So etwas unkontrolliert Grausames konnte einem tierlieben Nazi auf das Gemüt schlagen! Einen Juden erschlagen: okay; da kam sogar (gewalttätige) Freude auf und damit konnte man innerhalb der Bande der braunen Mörder sogar Ansehen als ganzer Kerl erringen. Aber einem Piepmatz mit raschem Griff den Hals umdrehen, Mieze ersäufen oder Bello erschlagen? Das ging für einen »braungeistigen« Tierfreund entschieden zu weit. Man war ja kein Unmensch – den Wirbeltieren gegenüber! Auch noch Tiere erschlagen müssen, nur weil ein paar Millionen Juden umgebracht werden sollten, das ging wirklich zu weit! Feinfühlige Nazis wussten eben ihre Tierliebe zu differenzieren: Tierliebe ja, insbesondere gegenüber Schäferhunden, wie »der Führer« es vorlebte; aber nicht mit Ungeziefer – und diesem von den Nazis durch ihre Ungeziefertheorie gleichgestellten Juden, von denen viele einzelne mehr Kultur hatten als die ganze Bande ihrer Schlächter! Und diese differenzierte Tierliebe wurde, wie an dem Verbot der Haustierhaltung für Juden abzulesen ist, auf die Durchsetzung nationalsozialistisch verbogenen Rechts zielend mit dem Instrument des Gesetzes geregelt. „Menschenhaß und Tierliebe ergeben eine sehr böse Kombination“32, urteilt der Ahnherr der vergleichenden Verhaltenskunde, Konrad Lorenz. An diesem kleinen Beispiel der Tierliebe einerseits und des mörderischen Menschenhasses auf Deutsche jüdischen Glaubens andererseits wird die menschenverachtende Ideologie der Nazis wie unter einer Lupe überdeutlich sichtbar und führte nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands und dem Wiederaufbau einer gesitteten Rechts- und Gesellschaftsordnung im Nachkriegsdeutschland zu der zentralen programmatischen Aussage in Art. 1 I 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, mit der das dem Grundgesetz zugrunde liegende Menschenbild in einem Satz zusammengefasst wurde und woran nunmehr alles staatliche Handeln letzten Endes zu messen ist. In einer Demokratie erlassene Gesetze haben zumindest zum Zeitpunkt ihrer Beschlussfassung meistens einen akzeptablen Sinn - der sich bei einer anderen Sichtweise auf die Dinge allerdings ändern kann: In z.B. dem deutschen Adoptionsrecht galt bis 1961 die durchaus akzeptable Regelung, dass potentielle Adoptiveltern das 50. Lebensjahr vollendet haben mussten, bevor sie einen Antrag auf „Annahme eines fremden Kindes an Kindes statt“ stellen konnten. Der vom Gesetzgeber intendierte Sinn bestand darin, dass ausgeschlossen sein sollte, dass noch eigene Kinder geboren würden, was möglicherweise aus einem nicht zu unterdrückenden Genegoismus heraus zu Spannungen in der Familie führen kann. Mit der dann durchgeführten radikalen Reform des Adoptionsrechts hatten in Deutschland nur noch relativ junge Eltern eine Chance, dass ihr Wunsch auf die Adoption eines Kindes bewilligt werde. Man wollte nunmehr von Seiten des Staates aus, dass der Altersabstand zwischen Eltern und Adoptivkind möglichst gering sei: über 40-Jährige hatten nach der Änderung des Adoptivgesetzes kaum noch eine Chance auf die Vermittlung eines Adoptivkindes: „Zu bedenken ist, dass auch das heranwachsende Kind belastbare Eltern benötigt. Dem Wohl des Kindes wird es daher in der Regel nicht dienen, wenn der Altersabstand größer als 40 Jahre ist. Oberhalb dieser Grenze wird eine Vermittlung daher nur in begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommen“, hieß es nun in dem Leitfaden der Landesjugendämter. Eine zum bis dahin geltenden Recht völlig konträre Sichtweise! Und ebenfalls eine akzeptable Begründung für die neue gesetzliche Regelung; am Kindeswohl gemessen wohl die angemessenere! Wegen dieser Neuregelung wichen insbesondere ältere Ehepaare, die sich unbedingt ein Kind zulegen wollten, auf Auslandsadoptionen aus. Doch dieser Weg wurde vom Gesetzgeber verbaut: Als die Bundesregierung 2001 das Haager Übereinkommen zum Schutz von Kinder ratifiziert hatte, erlies sie 2002 das Verbot von Adoptionen 32

„Rettet die Hoffnung. Konrad Lorenz im Gespräch mit Kurt Mündl“ S. 43

263

über Drittländer. Andere Länder sahen oder sehen das anders: Die dänische Regierung, die den Wunsch dänischer Bürger nach Adoptivkindern unterstützen wollte, hatte Anfang der 90er Jahre der ungarischen Regierung umgerechnet drei Millionen Euro für den Aufbau von deren Jugendhilfe versprochen, wenn im Gegenzug einige hundert Kinder zur Adoption an dänische Eltern freigegeben würden. Und die rumänische Regierung koppelte bis 2002 die Vermittlungsquote an die Höhe der Unterstützungsgelder. Die USA haben das Haager Übereinkommen nicht unterzeichnet und so kaufen amerikanische Eltern den Weltmarkt leer, indem sie weltweit ungefähr die Hälfte aller Drittlandadoptionen vornehmen: bis zu 30.000 $ werden pro Kind bezahlt, wenn es möglichst jung, hellhäutig und gesund ist. Die Grenzen zum Menschenhandel werden laut STERN (26.08.04) fließend. Und nach der Tsunami-Katastrophe des Jahres 2004 waren sofort illegal operierende BabyAufkäufer in den betroffenen Gebieten unterwegs, um sich »Ware« für ihre zwielichtigen Geschäfte zu beschaffen: im günstigen Einkauf liegt der Gewinn, und der Preis für ein elternloses Kind ist dann am niedrigsten, wenn die allgemeine Not am größten ist. Als die Bundesregierung und die zuständigen Ämter in den Ländern sahen, dass die Neuregelung des Adoptionsrechts die teilweise gewandelten gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht ausreichend berücksichtigten, wurde an einer erneuten Novellierung des erst kurz zuvor abgeänderten Adoptionsrechts gearbeitet: Adoptionsrecht für ältere Paare Bundesregierung plant neue Richtlinien - 35-Jahre-Grenze wird angehoben von Claudia Ehrenstein Berlin - Die Bundesregierung will als Reaktion auf den demographischen Wandel in Deutschland künftig auch älteren Paaren die Adoption von Kindern ermöglichen. Die Richtlinien sollen entsprechend verändert werden, bestätigte eine Sprecherin von Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) der WELT. Die Menschen entscheiden sich heute immer später für ein Kind. Das müsse sich auch im Adoptionsrecht widerspiegeln. Die Vorsitzende des Bundesverbands der Pflege- und Adoptivfamilien, Ines Kurek-Bender, begrüßte die Initiative der Familienministerin. Lange Zeit galt ein Alter von 35 Jahren als Limit für eine Adoption. Aber auch mit 45 Jahren seien Männer und Frauen noch nicht zu alt für Adoptivkinder, meinte Kurek-Bender. "Eltern mit Lebenserfahrung sind doch nicht schlecht." Letztlich müsse aber stets im Einzelfall entschieden werden, wer die idealen Adoptiveltern für ein Kind sind. Die zuständigen Jugendämter hätten bereits in den vergangenen Jahren Adoptivkinder auch schon an ältere Eltern vermittelt. Bei den Richtlinien zur Adoption handelt es sich um Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Sie sollen im kommenden Jahr gründlich überarbeitet werden, erklärte Jörg Reinhardt, Leiter der Zentralen Adoptionsstelle in München. Das sei kürzlich beim Treffen der zwölf Zentralen Adoptionsstellen in Deutschland beschlossen worden. Auch die Altersbegrenzung für Adoptiveltern werde ein Thema sein. "Wir werden alle Details genau unter die Lupe nehmen", sagte Reinhardt. "Die veränderten Richtlinien sollen gut werden und mindestens zehn Jahre Bestand haben." Im Mittelpunkt der Beratungen wird vor allem die internationale Adoptionsvermittlung stehen. Im Jahr 2002 war Deutschland dem Haager Abkommen über Adoptionen beigetreten, das Auslandsadoptionen transparenter machen und den Menschenhandel mit Kindern verhindern soll. Die deutschen Adoptionsrichtlinien waren daraufhin vor zwei Jahren überarbeitet und Verfahrenswege angepaßt worden. Adoptionen ausländischer Kinder haben einen immer größeren Anteil an den Gesamtadoptionen in Deutschland. Prominentes Beispiel sind Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und seine Frau, die ein Mädchen aus Rußland adoptiert haben. Schröder habe damit, so Reinhardt, kurzzeitig Wellen geschlagen und das Thema Auslandsadoptionen und Altersgrenze von Adoptiveltern in die öffentliche Diskussion gebracht. Das Bürgerliche Gesetzbuch kenne keine Altergrenze für Adoptionen, hatte Schröder stets argumentiert. Informationen über Adoptionen ausländischer Kinder gibt auch die Bundeszentrale für Auslandsadoptionen, die dem Generalbundesanwalt untersteht. Bislang beschränkt sich seine Zuständigkeit lediglich auf Staaten, die dem Haager Abkommen beigetreten sind. Rußland und China gehören jedoch nicht dazu. Das Bundesfamilienministerium plant daher, die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts entsprechend zu erweitern. Ein "absolut sinnvoller Schritt", meinte Reinhardt. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 5338 Kinder und Jugendliche an Adoptiveltern vermittelt, davon in 344 Fällen an Verwandte. 2980 Kinder und Jugendliche, und damit die Mehrzahl, wurden von einem Stiefelternteil adoptiert. In 2012 Fällen waren die Adoptiveltern nicht verwandt.

264

In den neuen Ländern wurden deutlich weniger Adoptivkinder vermittelt als in den alten Ländern. Insgesamt ist die Zahl der Adoptionen in Deutschland rückläufig. "Das ist vor allem auf die gute Familienplanung zurückzuführen", erklärte Reinhardt. Es würden einfach immer weniger ungewollte Kinder in Deutschland geboren, die dann zur Adoption freigegeben werden. Es gebe eindeutig mehr Bewerber als Adoptivkinder. Unverheiratete Paare können nur als Einzelperson adoptieren. Das gilt auch für gleichgeschlechtliche Paare. Die geplante Änderung des Adoptionsrechts soll es ermöglichen, Stiefkinder des gleichgeschlechtlichen Partners zu adoptieren. Das Bürgerliche Gesetzbuch schreibt vor, daß Adoptionen nur zulässig sind, wenn sie dem Wohl des Kindes dienen und zu erwarten ist, daß ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht. Die örtlichen Jugendämter unterziehen die Bewerber daher einer strengen Prüfung - deutsche wie ausländische Adoptiveltern. Das geht so weit, daß sogar die türkischen Behörden Wert darauf legen, daß ein Kind aus der Türkei nur in eine türkische Adoptivfamilie kommt, die auch Deutsch spricht. (DIE WELT 14.12.04)

Der (zunächst unterstellte) akzeptable Sinn einer gesetzlichen Regelung kann in dem jeweiligen Gesetzeswortlaut selbst zum Ausdruck kommen - muss es aber nicht. Warum ist es seit Mai 2005 in Neapel verboten, Moped, Mofa oder Motorrad zu fahren? Jeder, der die Hintergründe der Meldung nicht erfahren hat, denkt unwillkürlich an die Smogbelastung dieser süditalienischen Großstadt durch Industrieabgase, Hausbrand, Wolken des Vesuvs oder an eine ortspezifische Umsetzungsmaßnahme zur Durchsetzung der europaweit geltenden Feinstaubverordnung, die in der BRD noch überall auf sich warten ließ. Umweltbewusste neapolitanische Stadtverwaltung! Hut ab! Ein im Herzen Grüner jubelt – jedoch völlig ohne Grund! Der in der Radiomeldung des DLFs mitgeteilte wahre Grund für dieses Verbot: Man versucht durch diese gesetzliche Regelung die Anzahl der Handtaschenräubereien von Moped-, Mofa- oder Motorrad-Zwei-Mann-Teams, die von hinten langsam an Passantinnen heranfahren und denen der Mann auf dem Sozius dann die Handtasche entreißt, während der Fahrer Gas gibt, zu reduzieren. Wir vertrauen jedoch zunächst darauf, dass den jeweiligen Gesetzgeber nicht nur lautere, sondern einsichtige Motive zu der von ihm getroffenen gesetzlichen Regelung bewogen haben – selbst dann, wenn Einzelbestimmungen misslungen sind und nachgebessert werden müssen. Dieser damit zum Ausdruck gebrachte gutwillige Vertrauensvorschuss gegenüber der jeweiligen gesetzgeberisch tätigen Körperschaft gilt aber beileibe nicht für jede von ihr in einer gesetzlichen Regelung enthaltene Einzelbestimmung: In einem sinnvollerweise erlassenen Gesetz enthaltene Einzelbestimmungen können manchmal äußerst fragwürdig sein! Die Ermordung von Lehrern in Erfurt durch einen frustrierten, an der Schule und am Leben gescheiterten Schüler z.B. hat einen Seitenblick auf das thüringische Schulgesetz werfen lassen, weil so bundesweit bekannt wurde, dass nach diesem Gesetz einem Schüler, der in der Abschlussklasse des Gymnasiums letztlich am Abitur scheiterte und daraufhin das Gymnasium ohne gymnasialen Abschluss verlassen musste, nicht einmal ein Hauptschulabschluss zuerkannt wurde! Ein Schulgesetz zu schaffen, ist nicht nur sicher sinnvoll, sondern unabdingbar notwendig. Aber musste darin eine solche möglicherweise zum Mord geführt habende Einzelbestimmung enthalten sein? Vielleicht wären die Rachemorde an »den Lehrern« als Teil des den in der Schule versagt habenden Schülers bedrängenden und von ihm für sein Versagen verantwortlich gemachten Schulsystems – auch nicht? - unterblieben, wenn es mitmenschlicher gestaltet worden wäre. Diese den Schüler möglicherweise zu seiner rächenden Verzweiflungstat getrieben habende skandalöse Einzelbestimmung ist für mich weder als Pädagoge noch als Jurist nachvollziehbar, wurde aber vom thüringischen Landesgesetzgeber so beschlossen. Diese in doppelter Hinsicht – sowohl die Zukunftsaussichten eines im Gymnasium versagenden Schülers vernichtende wie möglicherweise darum die Ermordung der Lehrer auslösende - »mörderische« Einzelbestimmung empfinde ich als ausgesprochen skandalös und jeder Partei, nicht nur der christlichen, die das Gesetz durch das Parlament gebracht hatte, unwürdig! Sie ist es deswegen, weil sie nicht aus Unwissenheit oder Versehen fahrlässig in das thüringische Schulgesetz geschrieben wurde, sondern weil sie eine nach meiner Bewertung »unmenschliche« (im Sinne von: nicht von Mitmenschlichkeit getragene) Geisteshaltung zumindest der thüringischen CDU, die dieses Gesetz so durch den thüringischen Landtag gebracht hat, offenbarte: Es gab kein anderes Landesschulgesetz mit einer solchen »mörderischen«, Schülerexistenzen und Lebensperspektiven vernichtenden Bestimmung! Und Schülerexistenzen sind schon vor dem schrecklichen Geschehen zu Hunderten vernichtet worden; es war nur noch nicht zu einer solchen Rachehandlung gekommen, weil die anderen schon vorher von dieser Bestimmung »unmenschlich« betroffenen Schüler sich trotz dieser ihre Zukunftspläne vernichtenden Regelung in ihr ihnen unnötig auferlegtes erschreckend trauriges Los gefügt hatten. Dieser eine - mit Sicherheit psychisch gestörte – Schüler aber tat es nicht. Warum aber hatte der thüringische Landesgesetzgeber entgegen allen anderen entsprechenden

265

gesetzlichen Regelungen aller anderen Bundesländer und trotz Patenschaft eines westdeutschen Bundeslandes nach dem Anschluss der wiedererrichteten östlichen Bundesländer, dessen Landesgesetze oft als Vorbild für eigene zu erlassende gesetzliche Regelungen übernommen wurden, eine solche von allen anderen Schulgesetzen der anderen deutschen Bundesländer abweichende, schlechterdings nicht fassbare, Lebensperspektiven von Schülern »mordende« Bestimmung in einem bewussten Willensakt beschlossen? Man kann sich aussuchen, ob dahinter infame Ideologie oder ideologische Infamie steckte; beides empfinde ich als gleich schlimm und eines deutschen Gesetzgebungsorgans unwürdig! Sehr bald nach den schrecklichen Ereignissen der sicher nicht nur von Großmannssucht, sondern auch aus verzweifelter Rachsucht getriebenen Ermordung der Lehrer des Erfurter Gymnasiums wurde die skandalöse gesetzliche Bestimmung geändert: Aber dass sie überhaupt in das Gesetz Eingang gefunden hatte, darin besteht für mich als Pädagoge und Jurist der Skandal! Von dem Beispiel einer für den Tod von 16 Unschuldigen möglicherweise mitverantwortlichen offensichtlich verfehlten Einzelbestimmung in einem Gesetz zurück zu dem Ausgangspunkt unserer Überlegungen in diesem Kapitel: Der Sinn eines Gesetzes ist oftmals nicht mehr zu erkennen. Er kann verschüttet oder gänzlich verloren gegangen sein. Warum ist es in Italien Männern gesetzlich verboten, Röcke zu tragen? Dass es dort Frauen, die „Maria“ heißen, verboten ist, als Prostituierte zu arbeiten, ist dagegen für ein katholisch geprägtes Land mit Marienkult nachvollziehbar. (Die daraus zu ziehende Lehre: Italienische Eltern sollten ihren Töchtern zur Geburt vorsorglich zwei Namen geben!) Warum in Frankreich auf Grund eines gesetzlichen Verbotes kein Bauer sein Schwein „Napoleon“ nennen durfte, ist zwar für wesentlich frühere Zeiten historisch erklärbar, für heutige, jedenfalls für Nicht-Monarchisten, wohl nicht mehr nachvollziehbar. Gleichwohl soll dieses Gesetz im Jahre 2001 immer noch Gültigkeit besessen haben! (Daran lässt sich das zeigen, was Soziologen die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ oder die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ nennen: Auf Grund unterschiedlicher historischer Nähe zu dem großen Kaiser Napoleon I. verbot es sich für die Zeitgenossen Napoleons und die erste/n nachfolgende/n Generation/en schon allein aus Gründen der Pietät, einem Schwein den Namen des Kaisers oder der drei Kaiser zu geben. Irgendwann ging auf Grund anderer historischer Erfahrungen dieses die Generationen verbindende und daher für alle verbindliche Pitätsgefühl verloren und musste nach Meinung der Älteren, die die Gesetze machten, strafbewehrt geschützt werden: Durch Gesetze werden Normen „gleichzeitig“ gemacht“, obwohl auf Grund unterschiedlicher historischer Erfahrungen deren Notwendigkeit irgendwann sehr „ungleichzeitig“ empfunden wird. So entstehen Generationenkonflikte durch einen subjektiv unterschiedlichen Aufenthalt im selben Zeitkontinuum.) Und den überlangen Kuss, den der später unterlegene Präsidentschaftsbewerber Al Gore 2000 auf einer Wahlkampfveranstaltung sehr fernseh- und gewollt anhängerwirksam seiner Frau gab, hätte er ihr in Iowa vielleicht nicht geben dürfen, denn dort ist es verboten, dass ein Kuss länger als 5 Minuten dauern darf!33 Warum? Warum gibt es bis ins Jahr 2000 in England die Sitte, dass der Barkeeper um 23.00 Uhr mit dem Ausruf: „Last order!“ die Glocke über dem Tresen schlägt, was jeder London-Besucher schon einmal erlebt haben wird?34 Einer Meldung zufolge sollte diese Sitte im Jahr 2000 im Zeitalter des Massentourismus wieder abgeschafft werden, aber dann würde den Touristen ein spezifisch britisches Erlebnis fehlen! Und inzwischen lässt der Gesichtspunkt des Alkoholabusus die Sitte wieder in einem vorteilhaften Licht erscheinen: "Kampftrinken gefährdet Ihre Schönheit" Der Durst der Briten wird nach Expertenansicht zur Gefahr für die britische Volkswirtschaft: Weil ihre Mitarbeiter nach Saufgelagen so häufig krankfeiern, entgehen den Unternehmen jährlich fast zehn Milliarden Euro. Jetzt soll eine Aufklärungskampagne vor allem Frauen zum Alkoholverzicht bewegen. London - Das "Binge Drinking", das schnelle Trinken bis zum Umfallen, ist in Großbritannien zum Volkssport geworden - und zum ernsten Problem für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes. Ein von der Regierung beauftragtes Expertengremium hat errechnet, dass die Briten in jedem Jahr insgesamt 14 Millionen Arbeitstage wegen "alkoholbedingter Krankheiten" ausfallen lassen. 6,5 Milliarden Pfund oder umgerechnet 9,75 Milliarden Euro an Produktivität koste dieses "Blaumachen" die Firmen, so die Fachleute. Noch gar nicht eingerechnet sind dabei rund zehn Milliarden Euro, die in die Reparatur von Sachschäden gesteckt werden, die Jahr für Jahr von sturzbetrunkenen Pubbesuchern angerichtet 33 Zitate 34

des STERN aus dem 2001 im Eichborn-Verlag erschienenen Buch: Crombie, David/ Helsing, Falk van: Pfeifen unter Wasser streng verboten. Die kuriosesten Gesetze der Welt. „Last order!“ bezweckte während des Ersten Weltkrieges eine staatlich verordnete Zwangsausnüchterungszeit gegenüber Kampftrinkern, denn die britischen Arbeiter sollten nach einem nächtlich ausgedehnten Pub-Aufenthalt nicht mehr am nächsten Morgen betrunken in den Rüstungsfabriken erscheinen.

266

werden. Mittlerweile greift die Regierung gegen die feucht-fröhlichen Missstände hart durch: Mit einer in diesem Sommer gestarteten Initiative sollen durch blitzartige Polizeikontrollen in Pubs und Bars alkoholisierte Rowdys gleich abgestraft werden. Außerdem sollen von der Regierung entsandte Berater den Städten und Gemeinden bei der Eindämmung alkoholbedingter Gewalt helfen. Besonders Frauen und Jugendliche finden Gefallen am "Kampftrinken". Neuesten Studien zufolge hat sich die Zahl der Frauen zwischen 16 und 24, die mehr als 35 Alkoholeinheiten pro Woche trinken, seit 1998 verdreifacht. Eine Alkoholeinheit entspricht einem Glas Wein oder einem halben Liter Bier. Durch eine landesweite Aufklärungskampagne hoffen die Behörden, die jungen Damen zum verantwortungsvolleren Trinken erziehen zu können. In Pubs, Bars und Cafés hängen mittlerweile Plakate aus, die mit ihrer Argumentation die Frauen an einem wunden Punkt treffen sollen: "Binge Drinking gefährdet Ihre Schönheit" heißt es dort. Exzessives Trinken "trocknet die Haut aus und unterbricht Ihren Schönheitsschlaf". Ob auch eine Kampagne gegen den männlichen Bierbauch in Planung ist, ist bislang nicht bekannt. (Spiegel Online 20.09.04) Warum sehen die britischen Taxen der Marke Austin „FX 4“ so »funny« aus? 35 Warum durften z.B. dem Faltblatt des Bundespostministeriums "Geschenksendungen ins Ausland" (4/89) zufolge in die Türkei Seifenwaren nur in beschränktem Umfang, in die Sowjetunion keine getragenen Bekleidungsstücke, nach Kanada keine Weinbrandbohnen, nach Israel keine Rundfunkapparate außer tragbaren Radios und nach Frankreich keine Kinderfläschchen von der Bundesrepublik aus versandt werden? Und was darf vielleicht nicht zu uns verschickt werden? „Den Ausweis bitte! Ohne Ausweis in Italien auch künftig kein Hotelbett. Gegen den Widerstand des Hotelverbandes wird weiterhin jeder Gast registriert. Name und Passnummer müssen der Polizei gemeldet werden. Dies sieht das überarbeitete Tourismus-Gesetz vor, das vom Parlament verabschiedet wurde. Dass diese Vorschrift für Einheimische und Ausländer gilt und streng gehandhabt wird, musste selbst der weltberühmte Tenor Pavarotti erfahren: Weil er keinen Ausweis bei sich trug, wurde er in Padua nicht in sein Hotel gelassen.“ (HH A 20.01.01) Das ist an sich kaum zu glauben, wenn es sich um »sein« Hotel handelte, in dem er ja schon erfasst worden sein muss, damit es zu »seinem« Hotel werden konnte. Die Vorschrift ist bestimmt sinnvoll wegen der Probleme des Staates mit der Mafia, illegalen Einwanderern und Terroristen, die an den langen Küsten Italiens an Land geschleust werden, damit eine größere Chance besteht, diesen Personenkreis identifizieren zu können. Aber ein weltbekannter Tenor müsste doch nicht per Pass identifiziert werden, um in »sein« Hotel kommen zu können! Da haben sich die Italiener »deutscher« verhalten, als sie es den Deutschen sonst gerne vorwerfen. Als der erste deutsche Bundeskanzler Adenauer einmal bei einem Staatsbesuch in Amerika seinen Pass vergessen hatte, haben die US-Amerikaner von ihren ansonsten strikt gehandhabten Passbestimmungen abgesehen und ihn ohne Pass ins Land gelassen: „Herr Dr. Adenauer ist überall als Person bekannt.“ (Vielleicht, weil er nicht sang?) In Italien, das nicht ein solches Besteuerungssystem wie die Bundesrepublik kennt, es aber gerne dort einführen würde, und wo die Steuerpflichtigen ohne weiteren Nachweis angeben können, wie viel Einkommen sie (angeblich nur) zu versteuern hätten, und wo darum das "Bescheißen" der Finanzämter ein noch größerer Volkssport ist als bei uns, müssen natürlich andere Steuergesetze gelten als hierzulande. Nur auf diesem Hintergrund ist der Sinn einer gesetzlichen Regelung zu ahnen, die folgende Auswirkungen hatte: "Rina Nucci, 74, aus Bibbiena in Mittelitalien muß umgerechnet 45 Mark Bußgeld bezahlen, weil sie sich von ihrem Sohn, einem Friseur, eine Dauerwelle legen ließ, ohne dafür eine Rechnung zu verlangen. Nach Ansicht der Finanzpolizei hätte Giancarlo seiner Mutter einen Beleg über »eine nichtbezahlte Dienstleistung« ausstellen müssen. Weil er das unterließ, wurde ihm ein Bußgeld von 400 Mark auferlegt. Die italienischen Steuergesetze schreiben vor, daß für jeden Kauf vom Kunden ein Kassenzettel verlangt und bis in 300 Meter Entfernung vom Ausstellungsort aufbewahrt wird. 35

In der Frühzeit der Autos wurde 1906 die Bestimmung erlassen, dass auch in den Droschken mit Motor Platz für eine Fuhre Heu wie für Pferdedroschken vorgesehen werden müsse. Der Erlass dieser Bestimmung hatte natürlich schon von Anfang an keinen nachvollziehbaren Sinn.

267

Kürzlich wurden in Norditalien einem Siebenjährigen 30.000 Lire (= 45 DM) Strafe wegen eines nicht quittierten Kaugummikaufs aufgebrummt.“ (STERN 29.04.92) 1992 gab es noch keinen BSE-Ausbruch in Italien: Ist's auch Menschen-Wahnsinn, so hat es doch Methode! Da müsste es sinnvollerweise Alters- und Bagatellbetragsgrenzen zu solchen Steuergesetzen geben. Sonst wird ein Kaugummi für einen Siebenjährigen doch viel zu teuer! Zunächst noch weniger verständlich ist die Meldung: "Stehen verboten SAD Honey Brook - Ein aberwitziges Gesetz: In Honey Brook (Pennsylvania/USA) ist mehr als 30 Sekunden Stillstehen verboten. Grund: Auf den Straßen soll nicht ‘herumgelungert' werden. Sogar ein 11jähriger, der auf einen Freund wartete, mußte 50 Dollar Strafe zahlen." (HH A 21.09.92) Und das im »gelobten Land der Freiheit«! Warum soll man nicht auf der Straße die Seele baumeln lassen und dafür auch ein bisschen mit Muße verweilen dürfen? In den heißeren Südstaaten ist das sicher nicht nur möglich, sondern auch üblich und gehört sicher zum Lebensgefühl des »big easy«. Inzwischen ist eine ähnliche Bestimmung in anderen Kommunen der USA erlassen worden, um das Dealen mit Drogen auf der Straße zu erschweren. Das hört sich dann auf diesem Hintergrund doch wieder irgendwie sinnvoll an, obwohl Straßendeals auch im Gehen abgeschlossen werden können. Aber wenn anlässlich der Olympischen Winterspiele 2002 in Salt Lake City als Kuriosa berichtet wurde, dass in dem Mormonen-Staat Utah nach den Gesetzen dieses Staates Vögel immer Vorfahrt haben, es verboten sei, vom Pferderücken aus zu angeln, dass Sex vor der Ehe und ein Abweichen von gesetzlich geregelten Sexualpraktiken und Beischlafpositionen im ehelichen Schlafzimmer strafbar sei, dann kann man nur den Kopf schütteln über Gesetze in dem nach dem Selbstverständnis der US-Amerikaner angeblich „freiheitlichsten Land der Welt“. Nun kann man dem vom Mormonentum durchdrungenen Staat Utah rigide Gesetze bezüglich der seinen Bürgern erlaubten Sexualpraktiken, selbst wenn sie »nur« hinter geschlossener Schlafzimmertür im Ehebett von den Eheleuten ausgeübt werden, vielleicht noch nachsehen. Zu religiös ist halt immer ein Hemmschuh! Doch nicht nur in den USA gibt es so viele einzelstaatliche oder gemeindliche Gesetze/von der jeweiligen Bevölkerung zu beachtende Rechtsvorschriften, deren Sinn einem unbefangenen Zeitgenossen trotz intensiven Nachdenkens nicht unbedingt einsichtig wird! Da ist inzwischen das Internet eine wahre Fundgrube. Rufen Sie einfach einmal die Web-Site „Die Unmoralische“ auf und lesen Sie – ohne dass ich mich für die Richtigkeit der 2003(!) dort gefundenen Angaben und ihre weiterhin bestehende Gültigkeit verbürgen kann - mit immer größerem Erstaunen den wohl »gutgemeinten Wahnsinn« insbesondere örtlicher »Gesetzgeber«, mit dem empfundenen Missständen gewehrt werden soll/te(?) und wovon eine Textprobe Zeugnis ablegen soll. Bei einer solchen – teilweise nicht mehr glaubhaften - Auswahl müsste für jeden etwas zum Wundern dabei sein. Die meisten abstrus anmutenden rechtlichen Regelungen stammen aus den USA, das sich als Land »der Freien« sieht, wo man in vielen Bundesstaaten der Union automatische Waffen frei erwerben, seinen Namen nach Belieben ändern kann, wo es keine Meldepflicht, keinen Ladenschluss und keine Kirchensteuer gibt: Es verstößt in Idaho gegen das Gesetz, wenn ein Mann seiner Angebeteten eine Pralinenschachtel überreicht, die weniger als 50 Pfund wiegt. In Carmel / NY gibt es ein Gesetz zur Förderung des guten Geschmacks: Männern ist es strikt untersagt, das Haus zu verlassen, wenn ihre Schuhe nicht zum Jackett passen. In NYC ist es Männern verboten, Frauen hinterher zu schauen. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, wird gezwungen, Scheuklappen für Pferde zu tragen, wann immer er auch spazieren geht. Weiterhin muss er eine Strafe von 25$ entrichten. In Utah ist der Ehemann für jedes kriminelle Vergehen seiner Ehefrau verantwortlich, welches sie in seinem Beisein begeht. In Florida ist es Männern verboten, sich mit einer sichtbaren Erektion in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. In New Mexiko dürfen die Taschen eines Mannes jederzeit von der Ehefrau durchsucht werden. In Detroit / Michigan ist es Männern gesetzlich verboten, ihre Frauen an Sonntagen böse anzuschauen. Ohne Begleitung seiner Frau darf in Kentucky kein Mann einen Hut käuflich erwerben. In dem Städtchen Brainerd in Minnesota wird es allen Männern gesetzlich abverlangt, sich einen Bart wachsen zu lassen.

268

In Auburn, einer angehenden Geisterstadt im US-Staat Washington, ist es Männern verboten, Jungfrauen zu deflorieren. Das Alter oder der Familienstand der Jungfrau ist dabei völlig irrelevant für das Gesetz. Tut er es doch, drohen ihm bis zu fünf Jahre Zuchthaus. Ein Gesetz des Staates Michigan stellt das ungebührliche Benehmen von Männern in Gegenwart von Frauen und Kindern unter Strafe. Laut dem Gesetz ist es verboten, in Nähe oder in Hörweite von Frauen und Kindern 'unanständige, unmoralische, obszöne, vulgäre oder beleidigende Wörter' zu gebrauchen. [Noch 1999 wurde ein Mann aufgrund dieses Gesetzes von 1897 verurteilt. Der Mann unternahm eine Kanutour, die jäh an einem Felsen endete. Der durchnässte Hobbykanute ließ seinem Ärger verbal freien Lauf, wobei Worte fielen, die in der amerikanischen Gesellschaft als anstößig empfunden werden. Unter anderem soll 75 Mal das Wort 'Fuck' gefallen sein. Da am Ufer Frauen und Kinder Zeugen dieses Schauspiels geworden waren, wurde der Kanute vor Gericht gestellt und verurteilt. Anfang 2002 wurde das Urteil allerdings von einem Berufungsgericht aufgehoben.] Während der Fischfang-Saison ist es den Männern im US-Bundesstaat New Jersey untersagt, zu stricken. In Tombstone / Arizona ist es Männern wie Frauen über 18 Jahren gesetzlich untersagt, ihren Mund zu einem Lächeln zu öffnen, wenn dabei mehr als ein fehlender Zahn sichtbar wird. Die Gemeinde Locust in Pennsylvania verbietet es ihren männlichen Einwohnern, in der Öffentlichkeit mit einer Erektion herumzulaufen. Zuwiderhandelnde können mit bis zu 3 Monaten Knast bestraft werden. In Arkansas darf ein Ehemann nach einem Gesetz seine Frau schlagen, allerdings nicht öfter als einmal im Monat. Ein spezielles Gesetz in Florida verbietet weiblichen Singles und geschiedenen oder verwitweten Frauen, an einem Sonntag Fallschirm zu springen. Unverheiratete Frauen, welche dennoch springen, droht eine Geldstrafe und/oder Gefängnis. In Carrizoro / New Mexiko ist es Frauen verboten, sich an Gesicht und Beinen unrasiert in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Ein Gesetz des Staates Illinois besagt, das alle weiblichen Singles männliche Junggesellen mit 'Meister' anzureden haben. In L.A. darf jeder Mann seine Frau mit einem Lederriemen schlagen, vorausgesetzt, der Riemen ist nicht breiter als zwei Inches. Benutzt er einen breiteren Riemen, bedarf es der vorherigen Erlaubnis seiner Ehefrau. In Norfolk / Virginia, darf keine Frau das Haus verlassen, ohne ein Korsett zu tragen. Um die Einhaltung dieses Gesetzes zu garantieren, gab es in früheren Zeiten einen nur Männern vorbehaltenen Beamtenposten - den des Korsett-Inspektors ... In Merryville / Missouri hingegen ist es Frauen strengstens verboten, ein Korsett zu tragen. Begründung: "Das Privileg, einen kurvenreichen und durch nichts eingeengten Körper einer jungen Frau bewundern zu dürfen, darf dem normalen amerikanischen Mann nicht verweigert werden." 'Frau am Steuer, Ungeheuer' müssen sich wohl die Stadtväter von Memphis / Tennessee gedacht haben. Denn Frauen dürfen dort einem Gesetz zufolge nur Auto fahren, wenn ein Mann vor dem Auto herläuft und zur Warnung von Fußgängern und anderen Autofahrern eine rote Fahne schwenkt. Die Stadt Dyersburg in Tennessee verfügt über eine Verordnung, welche es den Frauen untersagt, einen Mann zwecks eines Dates anzurufen. Ein Gesetz des Staates Michigan legt fest, dass das Haar einer Frau ihrem Ehemann gehört. Nach Klärung der Eigentumsverhältnisse versteht es sich von selbst, das sich in Michigan keine Frau ohne die Erlaubnis ihres Mannes die Haare schneiden lassen darf. In Cleveland / Ohio dürfen Frauen keine Lackschuhe tragen, da Männer in ihnen eventuell die Reflexion von etwas sehen könnten, was sie nicht sehen sollten. Keiner Frau ist es innerhalb der Stadtgrenzen von Tremonton / Utah erlaubt, in einem Krankenwagen Sex mit einem Mann zu haben. Wird sie 'auf frischer Tat' ertappt, kann sie eines Sexualvergehens angeklagt werden. Weiterhin muss ihr Name in der Tageszeitung veröffentlicht werden. Der Mann geht straffrei aus, sein Name wird nicht veröffentlicht. Die New Yorker Verkehrsbehörde hat entschieden, das auch Frauen 'oben ohne' U-Bahn fahren dürfen. Ein New Yorker Gesetz besagt, dass, wenn ein Mann sich irgendwo mit freiem Oberkörper zeigen darf, einer Frau dasselbe Recht zugestanden werden müsse. [Diese Entscheidung wurde getroffen, nachdem eine Gruppe von Frauen dieses Gesetz in der New Yorker U-Bahn 'getestet' hatte. Ein Polizeisprecher erklärte, dass die Polizei sich mit der Regelung abfinden werde. Sollte aber eine andere Regel verletzt werden, z.B. eine nackte Frau in der U-Bahn rauchen, würden

269

Maßnahmen ergriffen werden.] Frauen in Oklahoma dürfen an ihrem eigenen Haar keine Veränderungen vornehmen, es sei denn, sie hätten eine Lizenz des Staates. In Oxford / Ohio ist es Frauen untersagt, sich vor einem Gemälde oder Photo eines Mannes zu entkleiden. Frauen in Saco / Missouri ist es gesetzlich verboten, Hüte zu tragen, welche ängstlichen Personen, Kindern oder Tieren Angst einjagen könnten. In St. Louis ist es der Feuerwehr verboten, eine Frau zu retten, wenn diese nur mit einem Morgenmantel bekleidet ist. Um gerettet zu werden, müssen Frauen vollständig bekleidet sein. Das sind Zustände wie in Saudi-Arabien: 2003 wollten sich dort Frauen vor einem Gebäudebrand retten, sie liefen auf die Straße, doch sie wurden von Religionspolizisten mit Schlägen ins Feuer zurückgetrieben. Der Grund: Sie waren nicht verschleiert. Alle kamen ums Leben. In Siena ist es allen Frauen mit dem Vornamen 'Maria' verboten, als Prostituierte zu arbeiten. (Dort muss man also, will man dem späteren beruflichen Fortkommen der gerade Geborenen nicht eventuell im Wege stehen, seiner Tochter mindestens zwei Vornamen geben.) Frauen im US-Staat Minnesota können für 30 Tage ins Gefängnis wandern, wenn sie öffentlich als Weihnachtsmann verkleidet auftreten. In Florida ist es der Frau verboten, 2/3 ihres Pos am Strand zu zeigen. Tut sie's trotzdem, drohen ihr 500 $ Strafe oder Gefängnis. In Morrisville / Pennsylvania benötigt eine Frau eine behördliche Genehmigung, wenn sie sich Schminken will. Eine Genehmigung des Ehemannes reicht nicht aus! Jede Frau kommt in Seattle automatisch für 6 Monate hinter Gittern, wenn sie in einem Zug oder Bus auf dem Schoß eines Mannes sitzt, ohne zuvor ein Kissen zwischen sich und dem Mann geschoben zu haben. Auf der britischen Kanalinsel Sark ist es Ehemännern durch die Verfassung erlaubt, ihre Ehefrauen mit einem Stock zu schlagen, wenn der Stock nicht dicker als ein Finger ist und kein Blut spritzt. In London / GB ist es illegal, Ehefrauen nach 21 Uhr zu schlagen. [Dieses Gesetz sollte dazu beitragen, die hohe Zahl der nächtlichen Ruhestörungen in London zu verringern.] In Litauen waren Frauen gesetzlich verpflichtet, sich vor der Führerscheinprüfung gynäkologisch untersuchen zu lassen. [Dieses Gesetz wurde eingeführt, weil nach Meinung litauischer Mediziner bestimmte Frauen-Beschwerden zu plötzlichen Ohnmachtsanfällen führen können. 2002 wurde der entsprechende Gesetzespassus wieder abgeschafft.] In Indonesien müssen sich Frauen, die in die Armee eintreten wollen, sich einem Jungfräulichkeitstest unterziehen. In Tuscon / Arizona wird es Frauen per Verordnung verboten, Unterhosen zu tragen. In Großbritannien ist es Frauen verboten, in öffentlichen Verkehrsmitteln Schokolade zu essen. Die Frauen aus dem amerikanischen Bundesstaat Vermont dürfen ohne schriftliche Erlaubnis ihrer Ehegatten kein künstliches Gebiss tragen. Kinder über 3 Jahre dürfen in Virginia nicht im Bett ihrer Eltern schlafen. Verstöße gegen dieses Gesetz können mit bis zu 5 Jahren Haft geahndet werden. Sämtliche Hotelbesitzer in Hastings / Nebraska sind gesetzlich verpflichtet, jedem Gast ein sauberes und geplättetes Nachthemd zur Verfügung zu stellen. Keinem Paar, auch keinem Ehepaar, ist es gestattet, nackt miteinander zu verkehren. Sex ist erst legal, nachdem sie sich eines dieser sauberen, weisen Baumwoll-Nachthemden angezogen haben. Im Staat Washington ist es unter allen Umständen verboten, mit einer Jungfrau Sex zu haben. Das Gesetz schließt die Hochzeitsnacht mit ein. In Clawson / Michigan existiert ein Gesetz, welches den Bauern erlaubt, mit ihren Schweinen, Kühen, Pferden, Ziegen oder Hühnern Geschlechtsverkehr zu haben In Ventura County / Kalifornien ist es Hunden und Katzen gesetzlich verboten, ohne vorheriger Erlaubnis miteinander Sex zu haben. Öde Nächte in Washington / D.C.: Jede Stellung außer der „Missionarsstellung“ ist gesetzlich verboten! In Salem / Massachusetts ist es selbst verheirateten Paaren verboten, nackt in gemieteten Räumen zu schlafen. Ein altes tasmanisches Gesetz verlangt es von Witwen, den abgeschnittenen Penis ihres Mannes als Kette um den Hals zu tragen. In Israel gibt es für einen Mann namens Cohen keinen legalen Weg, eine geschiedene Frau zu

270

heiraten. Einem Ehemann, welcher seine Frau mit einem Liebhaber im Bett erwischt, hat in Uruguay bei der Bestrafung die Qual der Wahl. Entweder kann er den Liebhaber samt untreuer Ehefrau umbringen oder seiner Frau die Nase abschneiden und den Liebhaber kastrieren. Das Gesetz erlaubt beides. Wenn in North Carolina ein Mann und eine Frau sich in einem Hotel als Ehepaar ausgeben, dann sind sie nach einem Gesetz des Staates mit sofortiger Wirkung legal verheiratet. (Das ist ja noch härter als im Iran, wo es nach dem Willen der Ayatollahs keine Unzucht geben darf und daher, wenn die Natur sich Bahn brechen will, vor einem Besuch eines Etablissements, dass bei uns als Bordell bezeichnet würde, „Ehen auf Zeit“ geschlossen werden müssen – gegen eine geringe Gebühr, versteht sich: Obwohl die Ayatollahs Farsi und nicht Latein sprechen, hat sich auch bis dorthin der Gedanke des „pecunia non olet“ verbreitet. Das Humane an der iranischen Regelung: Wenn die Zeit um ist, ist Mann seine Partnerin wieder los.) In North Carolina ist es Unverheirateten verboten, vor der Ehe Geschlechtsverkehr auszuüben oder gemeinsam in einer Wohnung zu leben. [Noch 2001 wurde in North Carolina ein Mann aufgrund dieses fast 200 Jahre alten Gesetzes verurteilt. Jerry Ward musste über 100 € Strafe zahlen, weil er vor Gericht zugab, mit seiner Freundin Bett und Wohnung zu teilen. Vollstreckt wurde das Urteil von einem ledigen Richter und ordinierten Methodistenprediger, der auch einen Antrag auf Aussetzung der Strafe ablehnte.] Im US-Bundesstaat Arizona dürfen in keinem Haus mehr als zwei Dildos in Gebrauch sein. Sex darf in Virginia laut einem Staatsgesetz nur im Dunkeln stattfinden. Das Licht muss ausgeschaltet werden! Alle Stellungen außer dem „Missionar“ sind verboten. Der Besitz realistisch aussehender Dildos ist in Dallas / Texas verboten. In Michigan ist es strafbar, seine Frau an einem Sonntag zu küssen. Im September 2000 hat die Gemeinde Le Lavandou an der Cote d'Azur ihren Bewohnern kurzerhand das Sterben verboten. Grund für diese Verordnung war die Überfüllung des lokalen Totenackers - sterben darf nur noch, wer einen bereits reservierten Platz auf dem Friedhof vorweisen kann. «Es ist ein absurdes Gesetz, das wegen einer absurden Situation erlassen wurde», so der Bürgermeister der Gemeinde. [Auf Veranlassung von Umweltschützern wurde es der Gemeinde per Gerichtsbeschluss verboten, einen neuen Friedhof in Meeresnähe anzulegen. Als Alternativstandort wurde ein Steinbruch vorgeschlagen - was wiederum den Bürgermeister aufregte. Nachdem bereits 19 Leichen «zwischengelagert» werden mussten, wurde die Verordnung erlassen, die das Sterben verbot.] In China dürfen - angeblich - ertrinkende Menschen nicht gerettet werden, da nicht in ihr Schicksal eingegriffen werden dürfe. (Glauben kann ich diese Meldung aber nicht!) Im Februar 2004 erschien im Hamburger Abendblatt (HH A) ein Artikel mit der Überschrift: „Amerikas Angst um die Moral“. In ihm wurden folgende bizarre Gesetze beispielhaft aufgeführt: „Wer weiblich ist und im US-Bundesstaat Kentucky lebt, darf sich im Badeanzug nicht auf der Autobahn zeigen – es sein denn in der Begleitung von zwei Polizisten oder mit einem Knüppel bewaffnet. In Quitman (Georgia) ist es illegal, Schaufensterpuppen umzukleiden, wenn die Jalousien nicht geschlossen sind. Alleinstehende Frauen in Florida dürfen sonntags nicht Fallschirm springen. In Halethorpe (Maryland) dürfen Küsse nicht länger als eine Sekunde dauern. Wer in Bill Clintons Heimatstadt Little Rock (Arkansas) beim Flirten auf der Straße erwischt wird, muss mit 30 Tagen Haft rechnen. Da beugt man in Pasadena (Kalifornien) lieber vor: Dort ist es verboten, dass sich eine Sekretärin allein mit ihrem Chef in einem Raum aufhält … In Tuscon (Arizona) dürfen laut Verordnung ausschließlich Männer die Hosen anhaben. Dafür ist es ihnen in Miami (Florida) aber untersagt, trägerlose Kleider zu tragen, … In Chicago (Illinois) ist das Angeln verboten, wenn man einen Pyjama trägt. Noch schlechter geht es Einwohnerinnen in St. Louis (Missouri), wenn es brennt. Die Feuerwehr darf Frauen nicht retten, wenn sie nur mit Nachthemd oder Morgenmantel bekleidet sind. In Portland (Ohio) sind Lackschuhe für Damen verboten: Es könnte sich darin ja die Unterwäsche widerspiegeln. …“ Mexiko/Villahermosa: Neues Gesetz macht Nacktsein zuhause zur Straftat In Villahermosa, einer Stadt in Mexiko mit etwa 500.000 Bewohnern, werden ab 2005 einige neue Gesetze gelten, welche bei Nichteinhaltung zu einer Geldstrafe von 100 Euro oder 36 Stunden Arrest führen können. Eines der neuen Gesetze verbietet es, sich zuhause nackt aufzuhalten, sofern es jemand anderes sieht. Zudem ist es ab kommendem Jahr nicht mehr erlaubt, 'ohne Einladung zu einem Fest zu erscheinen'.

271 … (Sternshortnews 23.12.04)

Damit sei genügend demonstriert, mit welchen »gesetzlichen« Anordnungen Menschen versuchten oder auch noch versuchen, einem – ehemals(?) - empfundenen Missstand abzuhelfen, letztlich aber andere schurigeln. Der Ausgangspunkt vorstehender Überlegungen war, dass der Gesetzgeber, wenn er eine gesetzliche Regelung beschließt, einen von ihm so empfundenen bestimmten Missstand beheben will. Gutwillig könnte man zunächst unterstellen, dass in einem Rechtsstaat erlassene Gesetze von der Intention des Gesetzgebers her zunächst einmal einen guten Sinn haben. Was wäre den Menschen erspart geblieben, wenn sich die Juristen auch daran gehalten und nicht so oft Wege zur Umgehung der sie mitunter störenden Gesetze gesucht und gefunden hätten! Dieses schmerzliche Wissen veranlasste Harold Pinter zu dem sarkastischen Ausspruch: „Juristen sind Leute, die die Gerechtigkeit mit dem Recht (gemeint ist wohl besser: Gesetz; der Autor) betrügen“. Als folgenschwerstes Beispiel hierfür sei aus unserer deutschen Geschichte hervorgehoben: Das in der Weimarer Republik geltende Republikschutzgesetz ordnete zwingend(!) an, dass jeder wegen Hochverrates verurteilte Nichtdeutsche auszuweisen sei. Der Österreicher Adolf Hitler z.B., im Ersten Weltkrieg Kriegsfreiwilliger in der Bayerischen Armee, hätte nach seinem vor der Feldherrnhalle in München zusammengeschossenen „NovemberPutsch“ am 08./09.11.1923 als Ausländer sofort ausgewiesen werden müssen, auf jeden Fall aber im Deutschen Reich nicht 1933 zum Reichskanzler ernannt werden dürfen - und das österreichische Heer wäre zu klein gewesen, um damit die ganze Welt in Brand zu stecken. Nur weil trickreiche deutsche Juristen dafür gesorgt hatten, dass ihr Messias Hitler, der sie aus der Schmach des verlorenen Ersten Weltkrieges erlösen sollte, trotz von ihm vorgenommener verbotener rechtsradikaler und sogar hochverräterischer Bestrebungen entgegen der zwingenden(!) Gesetzeslage nicht ausgewiesen, sondern am 26.02.32 auf Veranlassung des nationalsozialistischen Landesinnenministers von Braunschweig durch die Ernennung zum Regierungsrat an der braunschweigischen Gesandtschaft in Berlin deutscher Staatsbürger geworden war - nachdem die braunschweigische Regierung mit ihrem ersten Umgehungsversuch gescheitert war und seine Ernennung zum Professor für Volkserziehung an der TH Braunschweig (mit der bezweckten Folge der dadurch möglichen Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft) auf den Protest des Lehrkörpers hin hatte zurückziehen müssen -, hatte Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen, so am 30.01.1933 zum Reichskanzler Deutschlands ernannt werden und dann durch den Zweiten Weltkrieg die ganze Welt in Brand stecken können! Wir hatten beispielhaft gesehen und dann gutwillig unterstellt, dass ein zu einer Regelung befugtes staatliches Gremium eine Regelung grundsätzlich dann beschließt, wenn es einen nach seinen Maßstäben bestehenden bestimmten Missstand beheben will. Trotz auch schon angeklungener Gegenbeispiele hatten wir gutwillig unterstellt, dass in einem Rechtsstaat erlassene Regelungen von der Intention des normsetzenden Gremiums her grundsätzlich einen guten Sinn haben. Aber selbst wenn das der Fall ist, dann ist man nicht vor einer unsinnigen Anwendung einer an sich vielleicht sogar sinnvollen Regelung geschützt: „Stillen verboten dpa London – Das britische Unterhaus, selbst ernannte ‘Mutter des Parlaments‘, hat weiblichen Abgeordneten das Stillen im Gebäude verboten. Begründung: Mitbringen von Erfrischungsgetränken sei verboten.“ (HH A 08.04.00) Wir wissen nicht, welchem als solchem empfundenen Missstand ursprünglich mit dem Verbot des Mitbringens von Erfrischungsgetränken abgeholfen werden sollte; die kurze Zeitungsmeldung teilt es leider nicht mit. Aber im Zeitalter der Hooligans, die selbst Supertorwarte wie Olli Kahn nicht nur mit Golfbällen, sondern u.a. auch mit Getränkeflaschen und -büchsen bewerfen, mag die Aufrechterhaltung dieser Regelung ja auch heutzutage noch Sinn machen, damit nicht im Unterhaus die Flaschen fliegen. (Die »most honourablen« Mitglieder des Unterhauses benehmen sich auch nicht immer wie Gentlemen und sind sich auch schon an die Wäsche gegangen.) Oder wurde bei der Beschlussfassung - in welcher juristischen Form auch immer - an die siegreichen Formel-1-Rennfahrer gedacht, die nach erfolgreichem Rennen aus übergroßen Sektflaschen dem Gegner eine klebrige Sektdusche verabreichen? Ich habe nur einmal eine Zeitungsmeldung gelesen - und weiß natürlich nicht, ob es eine Ente war -, dass eine Frau – »Dame« mag man in diesem Fall nicht mehr unbedingt sagen, denn eine Dame ist nach einer sehr schönen Definition eine Frau, die allein durch ihre Anwesenheit Männer dazu bringt, sich wie Herren zu bewegen - den Träger ihres Sommerkleides gelöst und einen ihrer Meinung nach übertrieben kontrollierenden Polizisten

272

(angeblich?) mit der Nahrung ihres Kindes bespritzt habe. Solch ein temperamentvoller Protest einer heißblütigen Italienerin ist aber selbst im warmen Italien, wo die Frauen eher in luftigen Sommerkleidchen gehen können, höchst selten. Im oft neblig-kühlen London ist er noch weniger zu erwarten. Was soll dann also diese vom Unterhaus beschlossene, übertrieben einschränkende Anwendung einer Regelung? Meine Phantasie reicht nicht aus, um mir den von einer Mehrheit als notwendig erachteten Grund für die Notwendigkeit dieser Einschränkung ausmalen zu können – wenn man Muttermilch juristisch überhaupt als »Erfrischungsgetränk« und nicht als Nahrungsmittel fassen will. Darüber würde ich im Unterhaus gerne streiten! Aber man lässt mich ja nicht. Natürlich sollte ein Stillen während einer Parlamentssitzung unter den Augen (selbst eines weiblichen) Speakers unterbleiben, weil es nicht zur direkten Parlamentsarbeit gehört. Aber warum gilt das Stillverbot für das gesamte Gebäude? Warum kann nicht irgendwo ein separates Stillzimmer angelegt werden, um nicht die gegnerische Partei, sondern das eigene Kind zur Brust nehmen zu können? Oder ob der anglo-amerikanische Rechtskreis besondere Probleme mit dem Stillen hat? „Muttermilch mit 6 afp New York – Das Jugendamt in Chicago hat einer Mutter (32) das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen. Sie stillt den Sechsjährigen noch immer. Das Familiengericht soll entscheiden.“ (HH A 12.12.00) Auch nicht nachzuvollziehen vermag ich, welchen Sinn eine gesetzliche Regelung haben könnte, die die nachfolgend in den sternshortnews vom 16.02.03 mitgeteilte Begebenheit haben könnte: Aus welchem Grund geben sich städtische Beamte zu einem solchen Handeln her? „16.02.2003 22:01 Uhr Niederlande - Erste Frau heiratet sich selbst Haarlem/Amsterdam - Gleichgeschlechtliche Hochzeiten gibt es schon lange in den Niederlanden. Jetzt will sich aber eine Frau selber das Jawort geben. Die 29-jährige Jennifer Hoes tritt alleine vor den Traualtar. Nachdem sie die Konflikte ihres 'sachlichen Ichs' und ihres 'emotionalen Ichs' ausgeräumt hatte, beschloss sie sich selbst zu heiraten. Von einer Freundin bekam sie Hilfe bei den Vorbereitungen der Zeremonie. Als Standesbeamter wird der Kulturbeigeordnete der Stadt Haarlem fungieren. Jennifer Hoes gab bekannt, dass es nicht zu einer Scheidung von sich selbst kommen werde. Diese Ehe soll halten bis dass der Tod sie scheidet. Quelle: derstandard.at Die stern.de-Redaktion ist nicht verantwortlich für den Inhalt dieser Meldung. Meine [des die Nachricht im Internet Mitteilenden; der Verf.] Meinung zur News: Ist ja lustig, da heiratet sich einen Frau selber. Da kann sie aber bei den Hochzeitstagen ne Menge Geld sparen. Und in der Hochzeitsnacht kann sie ... :-) “

Um unsinnige Gesetzesregelungen oder -anwendungen zu finden, brauchen wir aber nicht unbedingt über den Zaun ins Ausland zu kucken. Wir können und sollten uns an die eigene Nase fassen! Wenn nicht genau dahin, so fasste man sich aber doch an den Kopf, wenn man am 17.02.01 die Meldung gelesen hatte, dass am Vortag der Arzt Bertel Berendes aus der westfälischen Kleinstadt Lüdge vom Amtsgericht Detmold wegen eines Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz zu einer Geldbuße in Höhe von DM 5.261,- verurteilt worden sei. Dem lag einem Zeitungsbericht zufolge folgender Vorfall zu Grunde: Der Arzt hatte einige Lokaljournalisten zu sich in seine Praxis eingeladen, um sie über das umstrittene Arzneimittelbudgetrecht für Ärzte zu informieren, das die einem Arzt erlaubten Ausgaben für Medikamentenverordnungen an Patienten deckelt und darüber hinaus einen Regress gegen einen Arzt zulässt, wenn der das vorgegebene Budget überschreitet. Auf dem Schreibtisch des Arztes entdeckte einer der Journalisten teure Medikamente gegen Krebsleiden, die dieser Arzt einem seiner Patienten verordnet hatte, der aber ein paar Stunden vor diesem Gespräch vor Einnahme der Medikamente aus diesen neuen Packungen verstorben war. Als der Arzt den Totenschein ausgestellt hatte, hatte er die von den Angehörigen zwischenzeitlich vorsorglich schon besorgten, von diesem Patienten nun aber nicht mehr benötigten unangebrochenen Medikamentenpackungen mitgenommen, um sie an einen anderen Patienten zur Linderung

273

von dessen Leiden zu verschenken und so dessen Kasse und letztlich der Solidargemeinschaft der Versicherten unnötige Kosten zu ersparen. Ihm war als Arzt bekannt, dass in der Bundesrepublik jedes Jahr eine unglaubliche Menge an Arzneimitteln weggeworfen wird, allein in Hamburg, wo rund ein Fünfzigstel der Bevölkerung lebt, bis zu 280 Tonnen jährlich, und rund 40 % davon noch innerhalb des angegebenen Haltbarkeitszeitraumes original verpackt im Müll landen. Ein unverantwortlich handelnder Schreiberling verfasste auf Grund der zum Verschenken bereitgelegten Medikamente einen reißerischen Artikel mit der Tendenz, dass bei der jetzigen Arzneimittelbudgetknappheit nun schon die Ärzte den Toten in diesem Land die nicht mehr benötigte Medizin wegnehmen müssten. Durch diesen Bericht aufmerksam geworden, schickten die Behörden dem Arzt einen Bußgeldbescheid über 2.600 € wegen des Verstoßes gegen § 43 Arzneimittelgesetz, demzufolge grundsätzlich nur Apotheken Arzneimittel abgeben dürften. Nach Auskunft der von mir daraufhin befragten Apothekerkammer soll diese Regelung letztlich auf ein im 13. Jahrhundert um 1240 von dem Hohenstaufenkaiser Friedrich II. erlassenes Edikt von Salerno, der Stadt mit der (bis 1812) ältesten medizinischen Fakultät Europas, zurückgehen und einerseits die Trennung von Apotheker und Arzt bezwecken, um den schon damals als Missstand empfundenen Interessenkonflikt zu bannen, dass Ärzte an der von ihnen hergestellten und dann möglichst großzügig verordneten Medizin ein eigenes wirtschaftliches Interesse haben, andererseits sollte die ordnungsgemäße Herstellung und Lagerung von Medikamenten erreicht werden. Aber ein Arzt, der wie im Ausgangsfall die original verpackten Medikamente innerhalb der Haltbarkeitsgrenze kostenlos weitergibt, hat nicht das schon im Mittelalter als Konfliktpotential gesehene wirtschaftliche Eigeninteresse im Auge, und das Argument des nicht mehr gewährleisteten Verbraucherschutzes, wenn Medikamente zwischenzeitlich in den Händen anderer Patienten waren, dort eventuell nicht ordnungsgemäß gelagert wurden und dann an einen »Nachfolgepatienten« weitergegeben werden, scheint für originalverpackte Arzneimittel auch nicht zu greifen. Heutzutage werden fast alle Tabletten von den Fabriken in Blisterpackungen verschweißt tropentauglich verpackt ausgeliefert. Und viele zu spritzende Flüssigkeiten sind in für den Gebrauch erst aufzusägende Glasampullen abgefüllt. Und da darf ein Arzt ein solcherart verpacktes rezeptpflichtiges Medikament, das ja nur auf sein Rezept hin an einen Patienten abgegeben werden darf, nicht selber weitergeben? (Ich habe die nach dem Krebstod meiner Frau nicht mehr benötigten Ampullen des mir zum Spritzen in einem bestimmten zeitlichen Rhythmus überlassenen Medikamentes auch zurückgegeben, und der Arzt wird es hoffentlich weiter verwandt haben.) Diesen nach einigen Buchstaben des Arzneimittelgesetzes gewollten und durch das verhängte Bußgeld behördlich zu erzwingen versuchten wirtschaftlich unsinnigen Umgang mit dem gerade besorgten, originalverpackten Medikament vermochte der Arzt nicht einzusehen. Er muss Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt haben, denn sonst wäre die Sache nicht beim Amtsgericht Detmold gelandet, das entsprechend der Gesetzeslage - die Rechtmäßigkeit des Bußgeldbescheides bestätigte. Der Arzt will nicht zahlen und den Rechtsstreit nötigenfalls bis zum BVerfG hoch treiben, zumal das Bundesgesundheitsministerium die ergangene, von dem Arzt aber angegriffene Entscheidung zumindest moralisch mit dem Hinweis stützte: „Die Bestimmung im Arzneimittelgesetz ist sinnvoll, weil der einwandfreie Zustand von Medikamenten sichergestellt sein muss. Es geht hier um das Wohl der Patienten, das an erster Stelle stehen muss.“ Und? Hat das ein Arzt üblicherweise nicht als Erster und Erstes im Sinn? Er ist doch der dazu Berufene, bei dem – von einigen ärztlichen Scharlatanen wie z.B. dem Dermatologen (Hautarzt) und Skandalarzt Klier abgesehen, der, ohne Onkologe (Krebsforscher) zu sein, von ihm selbst hergestellte völlig wirkungslose Arzneien gegen Krebs an von Todesangst getriebene Krebspatienten zu horrenden Preisen zu verkaufen suchte und dem daraufhin nach langem geduldigen Zusehen dann doch seine Zulassung als Arzt entzogen wurde - das Wohl des Patienten an erster Stelle steht, der versucht, den jeweiligen Kranken mit der von ihm verordneten Arznei wieder gesunden zu lassen! Wenn aber die beiden Gesichtspunkte der Ausschaltung des wirtschaftlichen Eigeninteresses eines behandelnden Arztes an der Herstellung und der Verbreitung eines Medikamentes und seiner Aufbewahrungssicherheit zufriedenstellend gelöst sind und dann trotzdem auf Grund einer inzwischen nicht mehr so sinnvoll wie früher notwendigen, gleichwohl aber immer noch gegebenen Gesetzeslage eine „gesteigerte Pflichtenmahnung“ in Form eines Bußgeldes möglich ist, dann muss der Gesetzgeber eben nachbessern, wenn ihm eine Regelung so verrutscht ist, dass sie zu einem solchen meines Erachtens unsinnigen (Bestrafungs-)Ergebnis führt! Nachtrag: Nach langwieriger Prozesssiererei erreichte der Arzt vor dem OLG Hamm einen Freispruch (STERN 06.11.03) Als letztes Beispiel in dieser Reihe von »Gesetzgeber-Unsinn«: Wer in Deutschland nicht mit aus u.a. dem Gehirn oder dem Knochenmark gewinnbaren adulten (»erwachsenen«) Stammzellen experimentiert, die wenigstens theoretisch - auch zu »Ersatzorganen« heranreifen können, sondern für seine Forschungen

274 embryonale Stammzellen aus dabei zwangsläufig zerstört werdenden befruchteten Eizellen, Embryonen36, herstellt, wandert dafür ins Gefängnis. Nach einer vorgenommenen oder nicht stattgefundenen künstlichen Befruchtung überzählige eingefrorene embryonale Stammzellen dürfen nach nicht ganz unwesentlicher aber letztlich nicht entscheidender Meinung der Justizministerin Däubler-Gmelin - trotz einer dementsprechenden Gesetzeslücke - (bislang) auch nicht aus dem Ausland eingeführt werden, weil das auf eine Umgehung des Embryonenschutzgesetzes hinauslaufen würde. (Forscher und andere Juristen sehen das nicht so.) Aber auf der Grundlage von Forschungen an embryonalen Stammzellen entwickelte Medikamente dürften bei uns verwandt werden: „Wasch‘ mir den Pelz, aber mach‘ ihn nicht nass!“ Es entstand erst einmal Streit um die angesprochene Gesetzeslücke: Handelt es sich dabei um ein „bewusstes Schweigen des Gesetzgebers“ mit der Folge, dass erlaubt wäre, was nicht ausdrücklich verboten wurde oder stellt die Gesetzeslücke ein „redaktionelles Versehen“ dar, mit der Folge, dass der Import embryonaler Stammzellen zwar nach den Buchstaben des Gesetzes nicht ausdrücklich verboten ist, wohl aber dem Sinn des Gesetzes nach, was ausdrücklich zu regeln damals übersehen wurde, wie auch die Grünen argumentieren; die dritte rechtliche Deutungsmöglichkeit wäre, dass ein solches Verhalten bei der Schaffung des Embryonenschutzgesetzes noch gar nicht abzusehen gewesen sei und darum der neu aufgetretene Problemkreis nun einer neuen juristischen Erörterung und einer neuen, diese juristische Erörterung abschließenden gesetzlichen Regelung bedürfe, die auf Grund der neueren Entwicklung in das bestehende Embryonenschutzgesetz eingearbeitet werden müsse.

2.7.14 Gesetze können legalisiertes Unrecht sein „Grimassen per Gesetz verboten Harare – Die von Hunger und Misswirtschaft geplagte Bevölkerung Simbabwes darf nicht mehr ungestraft ihrem Unmut über Präsident Robert Mugabe (78) Luft machen: ’Unanständige Gesten’, Flüstern oder Grimassen beim Passieren von Mugabes Autokonvoi – normalerweise mehr als 20 schwere Limousinen – wurden per Gesetz verboten. (dpa)“ (HH A 19.11.02) Hoffentlich tritt keiner mit »barfen Beinen« gerade in dem Moment auf einen spitzen Stein, während die Autokolonne an ihm vorbei fährt: es könnte ihn mindestens seine Freiheit kosten! „Das Gesetz ist der Freund der Schwachen.“ Schön wär’s, wenn Schillers Figur aus der „Braut von Messina“ Recht hätte! Aber nach unseren historischen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtssystem und den von ihm erlassenen Gesetzen dürfte dem niemand mehr zustimmen können. Und auch dem mit historischen Forschungen befassten Schiller kann nicht verborgen geblieben sein, dass ein solcher Satz reines Wunschdenken ist. Wir alle könnten dem Satz aber zustimmen, wenn Schiller statt des Indikativs einen Konjunktiv verwandt hätte: „Das Gesetz sollte der Freund der Schwachen sein!“

36

Embryonale Stammzellen können auf drei verschiedenen Wegen gewonnen werden: a) Aus überzähligen Embryonen einer künstlichen Befruchtung, von denen es in Deutschland zur Zeit etwa 150 in flüssigem Stickstoff gelagert gibt. Von den vier Tage alten Blastozythen wird dazu die äußere Hülle entfernt. Damit wird der Embryo zerstört. Aus dem Inneren werden dann die Stammzellen gewonnen, die sich unentwegt teilen, aber nicht mehr zu einem Individuum heranwachsen können. Man benötigt für die Forschung folglich nur eine einzige, schon vorhandene Stammzelle. b) Aus den Vorläufern von Geschlechtszellen abgetriebener fünf bis neun Wochen alter Föten, denen Vorläufer von Ei- oder Samenzellen entnommen werden, die sich nicht von embryonalen Stammzellen unterscheiden. Die werden isoliert und kultiviert. c) Durch Klonen, wobei eine Eizelle entkernt und mit dem Erbmaterial der Körperzelle einer anderen Person angereichert wird. Eine so entstandene Zelle entwickelt sich wie ein Embryo weiter. Sowohl die überzähligen wie die geklonten Embryonen werden durch die Entnahme von Stammzellen aus dem Embryoplast der ausgehöhlten Blastozyste zerstört, denn die Einheit des Embryos aus den Trophoblasten (Kugelhülle, die für die Einnistung und Versorgung des Embryos zuständig ist) und den Embryoblasten (der innere Teil der Blastozyste, aus der der Embryo entsteht) wird zerstört. Darum sind diese Vorgehensweisen in Deutschland nach dem Embryonenschutzgesetz verboten. Bei der Forschung an adulten Stammzellen von Geborenen, die bisher in ca. 20 Organen des menschlichen Körpers und im Nabelschnurblut gefunden wurden, werden keine Embryonen zerstört. Darum ist diese Forschung nach dem Embryonenschutzgesetz in Deutschland erlaubt. Der Nachteil der adulten Stammzellen gegenüber embryonalen bis zum 8-Zellen-Stadium besteht darin, dass adulte Stammzellen das Entwicklungspotential früher embryonaler Stammzellen verloren haben; sie entwickeln und vermehren sich nur noch begrenzt. Sie sind in ihren Entwicklungsmöglichkeiten nicht mehr „pluripotent“. Aus einer adulten Stammzelle kann nicht mehr ein ganzer Körper heranreifen, sondern „nur“ noch bestimmte Gewebearten.

275

Gesetze können legalisier tes Unrecht sein

»Recht«

Im Gegensatz zu dem im von Schiller formulierten Satz zum Ausdruck kommenden Wunschdenken müssen wir leider konstatieren, dass Gesetze sehr ungerecht sein können, wie wir durch einen Blick auf u.a. die "Nürnberger Rassegesetze" erkennen können und insbesondere im Kapitel „Zur Funktion des Rechts im Nationalsozialismus“ noch näher sehen werden. Unter der Sammelbezeichnung "Nürnberger Rassegesetze" werden das auf dem "Reichsparteitag der Freiheit" ( - die nach NS-Ideologie angeblich aus dem Blute kam - ) beschlossene "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" und das "Reichsbürgergesetz" vom 15.09.1935, sowie das "Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes" vom 18.10.1935 verstanden. Sie waren legalisiertes (= vom Gesetzgeber in einem ordnungsgemäßen Parlamentsverfahren erlassenes) Unrecht und die seit April 1933 in rund 50 diskriminierenden Einzelgesetzen geschaffene abschließende Grundlage für den staatlich geplanten und dann später auch durchgeführten Mord an Millionen Deutschen jüdischen Glaubens und anderen Opfern. Soweit erst einmal zum Begriff »Gesetz«.

2.8 »Recht« „Will man wissen, was Recht ist, muß man sich die Juristen ansehen. Anders gesagt: Recht ist das, was in den Köpfen von Juristen vor sich geht.“37 Hoffentlich nicht! „Die Frage nach dem Recht beantwortet man am besten, indem man beschreibt, wie sie arbeiten, wo sie es tun und wie das Ganze in ihre Köpfe kommt.“38 Diese sehr »eigenwillige«, in meinen Augen völlig verfehlte Definition von »Recht« werden Sie spätestens nach der Lektüre des II. Teiles „DIE FUNKTION DES RECHTS IM NS-HERRSCHAFTSSYSTEM“ und des III. Teiles „DIE FUNKTION DES RECHTS IN DER DDR“ hoffentlich nicht mehr teilen! Man soll nicht über einen anderen Autor mit persönlich abwertenden Äußerungen herziehen. Das ist kein Stil unter Gentlemen, dessen man sich von Autor zu Autor aber grundsätzlich befleißigen sollte, wenn man den Anspruch erhebt, ein Buch zu schreiben und nicht ein Pamphlet. Man hat einen „Kollegen“ als Menschen zu achten - wenn er sich mit seinen Äußerungen im tolerablen Bereich hält! Aber an dieser Stelle muss ich - leider gegen das vorstehende Gebot bewusst verstoßen: Ich finde es beschämend, dass sich ein Professor für Rechtsgeschichte meiner Meinung nach unsterblich blamiert, indem er mit dem für die Wahrnehmung seines diesbezüglichen Lehrstuhls vorauszusetzenden Sachwissen der deutschen Rechtsgeschichte eine solche nicht nur unreflektierte, sondern in meinen Augen auch unverantwortliche Äußerung von sich gibt: Es gibt leider keine staatlicherseits begangene Schandtat und kein staatlicherseits begangenes Verbrechen, das nicht von willfährigen Juristen im Dienste der jeweiligen Machthaber zumindest gebilligt, ja sogar meistens mit einem Mäntelchen der Scheinrechtfertigung umhüllt und als angebliches Recht ausgegeben worden wäre! In der deutschen Geschichte finden sich dafür leider zu viele Beispiele. „Recht ist das, was in den Köpfen von Juristen vor sich geht.“ In den Köpfen der Juristen geht sehr viel Unrecht vor! So darf man »Recht« nicht definieren! Das ist unverantwortlich falsch! Juristen dürfen keinen Heiligenschein beanspruchen. Glauben Sie, dass die Rechtsanwälte dem Gericht - selbst in unserem Rechtsstaat - immer nur die volle ihnen bekannte Wahrheit erzählen? Das dürfen sie auch gar nicht: Den eigenen Mandanten »in die Pfanne zu hauen«, verbietet das parteiliche Interesse eines Rechtsanwaltes. Man kann doch nicht als Verteidiger des Mandanten aufstehen und sagen: „Herr Vorsitzender, mein Mandant lügt.“ Das hat der Richter alleine herauszufinden. Auch ich habe als Rechtsanwalt meinen Mandanten geholfen, sich durch »geschönte« Geschehensabläufe, die das Gericht dem jeweiligen Mandanten nicht widerlegen konnte, aus schwerwiegenderen vorsätzlich begangenen Delikten heraus und in leichter strafbedrohte fahrlässige Delikte hineinzulügen. Das finde ich sogar noch verständlich, denn ein in die Mühlen der Strafjustiz Geratener ist ein vom Gesetz Gehetzter, dem sein Strafverteidiger nach besten Kräften beizustehen hat. Der Interessenkonflikt zwischen Wahrheitspflicht und Hilfe für den Mandanten ist lange bekannt. U.a. darum hat der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. von Preußen 1726 in einer Kabinettsorder für Gerichte und Juristenfakultäten verfügt: „Wir ordnen und befehlen hiermit allen Ernstes, daß die Advocati wollene schwarze Mäntel, welche bis unter das Knie gehen, unserer Verordnung gemäß zu tragen haben, damit man die Spitzbuben schon von weitem erkennt.“

37 38

Wesel, Uwe: Juristische Weltkunde S. 7 Suhrkamp Wesel, Uwe: Juristische Weltkunde S. 7 Suhrkamp

8 8

2000 2000

276

Aber ein Strafverteidiger ist schon nach seinem Selbstverständnis im Interesse seines Mandanten zu einer dem Mandanten helfenden und deswegen oft »beschönigenden« Sachverhaltsdarstellung verpflichtet. Schlimmer finde ich es dagegen, wenn an sich zur Objektivität verpflichtete Staatsanwälte und sogar Richter allerdings wesentlich seltener als die nicht der Objektivität verpflichteten Rechtsanwälte - parteilich handeln und somit Unrecht tun. Recht kann nicht das sein, „was in den Köpfen der Juristen vorgeht“. Was ist es aber dann?

2.8.1 »Recht« und subjektives Rechts-/Gerechtigkeitsempfinden „Recht« und subjektiv es Rechts-/ Gerechtig keitsempfinde n

Was aber ist »Recht« im Verständnis juristischer Laien, also u.a. das Verständnis von »Recht« vor der Lektüre dieses oder ähnlicher Bücher, wenn es nicht als geschriebenes Recht mit dem Begriff »Gesetz« gleichgesetzt wird? Unterscheidet sich dieser so verstandene Begriff »Recht« - vielleicht auch nur in Teilen - von dem Begriff »Gesetz«? Wenn ja: wie? Das vorjuristisch verstandene »Recht« ist subjektiv das, was jeder (nach seinen teilweise verschrobenen Vorstellungen) in sich fühlt, aber meist nicht richtig ausdrücken kann. Es kann – muss aber nicht zwangsläufig das sein, von dem er spätestens dann wünscht, dass es Geltung habe, wenn er sich - eventuell auch durch eine bestimmte Gesetzeslage – als Betroffener benachteiligt glaubt. Persönliche Betroffenheit schärft das Rechtsempfinden! Dann wird das so empfundene »Recht« an dem gemessen, was man selbst ganz persönlich, ganz individuell und darum äußerst subjektiv für »Gerechtigkeit« hält. Dazu gehört dann meistens auch die subjektiv beanspruchte Berechtigung zu Rachehandlungen, wenn das eigene »Gerechtigkeit«sgefühl verletzt worden ist und keine Aussicht besteht, auf andere Weise vermeintlich angebrachte Genugtuung zu erlangen. "Mord aus Eifersucht Ehemann (79) war vor 52 Jahren fremdgegangen SAD London - Sie ist 79 Jahre alt, hat nur ein Bein und deckt sich im Rollstuhl mit einer selbstgehäkelten Decke zu. Mabel Hyams sieht so sanft aus. Dennoch hat die Engländerin ihren Mann brutal getötet. Der pensionierte Drucker Harold Hyams lag blutüberströmt im Ehebett, erschlagen - mit seiner Bettpfanne. Motiv: Eifersucht. Es ist 52 Jahre her. Damals, 1941, lag Mabel mit Kinderlähmung im Krankenhaus. Ihr mußte das rechte Bein abgenommen werden. Ihr Mann nutzte die Gelegenheit und ging fremd. Eine Scheidung war für die Katholikin ausgeschlossen. Aber vergeben hat sie ihm auch nie. So lebte das Paar in ständigem Streit. Mabel, die sich allein nicht einmal versorgen kann, traktierte ihn mit dem Krückstock und mit Worten. Jetzt griff sie zur Bettpfanne und schlug damit fünfmal auf seinen Kopf. Ein Gutachter sagte vor dem Londoner Schwurgericht Old Bailey: `Für den gebrechlichen Harold war das tödlich'. Die Geschworenen erkannten auf Totschlag. In einer Haftstrafe sah der Richter aber `keinen Sinn' mehr. Er ließ die Angeklagte ins Altersheim einweisen." (HH A 01.03.93) "Schwarzer wegen Hund getötet JOHANNESBURG, 13. Januar (Reuter). Ein schwarzer südafrikanischer Landarbeiter ist einem Pressebericht zufolge von acht Weißen zu Tode geprügelt worden, weil sich seine Hündin mit dem Rüden eines weißen Ehepaares gepaart hatte. Wie am Montag durch die Tageszeitung `The Star' bekannt wurde, mißhandelten die Weißen den 60jährigen am 25. Dezember auf einer Farm in Elandsfontein bei Johannesburg mit Knüppeln, einer Spitzhacke und einer Peitsche. Er starb einen Tag später im Krankenhaus. Ein Polizeisprecher sagte, gegen die Täter werde wegen Mordes ermittelt." (FR 14.01.92) Wieso hatten die Täter kein Gefühl für das Unrecht ihres Tuns? Wieso sahen sie es als rechtens - höchstens als etwas mühseliger - an, „Nigger“ genau so gleichgültig zu erschlagen wie Nager und Ungeziefer? Weil ihr Rechtsempfinden nicht auf Humanität oder göttliche Gebote - „Du sollst nicht morden!“ - gegründet war! Und trotzdem gingen solche Weißen oft genug als »gute Christen« sonntags in ihre Kirchen! "`Unberührbare' verbrannt afp Neu Delhi - Im indischen Staat Bihar haben Großgrundbesitzer eine vierköpfige Familie aus der Kaste der `Unberührbaren' bei lebendigem Leib verbrannt. Die Familie hatte ihr Vieh auf fremden Wiesen weiden lassen. Wie die indische Nachrichtenagentur PTI berichtete, steckten die

277

Grundbesitzer die Hütte der `Unberührbaren' nachts `zur Strafe' in Brand, als die Familie schlief. In Indien gehören rund 15 Prozent der Bevölkerung der untersten, als `unrein' geltenden Kaste an." (HH A 05.12.90) Die Lübeckerin Renate Bachmeier erschoss den mutmaßlichen Sexualmörder ihrer kleinen Tochter in der zu seiner Aburteilung angesetzten Gerichtsverhandlung direkt vor dem Richtertisch, weil sie selbst das erwartete Strafmaß "lebenslänglich" als zu wenig tat- und schuldangemessen empfand, da ihr vermutlich niemand gesagt hatte, dass verurteilte Kinderschänder und -mörder in der Hackordnung der "Knackis" auf der untersten Stufe angesiedelt werden und darum während ihrer Haftzeit u.U. sehr viel über die normalen Strafvollzugsmaßnahmen hinaus von ihren Mithäftlingen zu erdulden haben; jedenfalls viel mehr, als durch den unerwarteten und schnellen Tod durch Erschießen! Aber nicht jede Rachehandlung hat – jedenfalls nicht in vollem Umfang - mit nachvollziehbarem verletzten, höchstsubjektiv übersteigertem Rechtsgefühl zu tun: Welches von ihm (bewusst) missverstandene »Recht« sollte den 19-jährigen Erfurter Schüler berechtigt haben, in seinem Blutrausch lange geplant »Amok«(?)39 zu laufen und sowohl 12 von ihm im systematisch durchkämmten Schulgebäude gesuchte Lehrkräfte, sowie eine Schulsekretärin, einen Mitschüler, eine Mitschülerin und einen der vom Hausmeister alarmierten Polizisten zu erschießen, weil er nach einem vergeblichen Anlauf auch beim zweiten Mal kaum Chancen hatte, das Abitur zu schaffen, darum Atteste fälschte und deswegen die Schule verlassen musste? Rache wird nach der Logik eines sich Rächenden an denjenigen genommen, die nach dem verquasten, übersteigerten subjektiven Rechtsempfinden des Täters in nicht verzeihbarer Weise im Umgang mit ihm »die Gerechtigkeit« verletzt haben, aber nicht zur Verantwortung gezogen werden oder gezogen werden können. Da muss der »Held« die Angelegenheit in seine machtvollen Hände nehmen und so »der Gerechtigkeit« zum Sieg verhelfen. Der Schüler machte »die Lehrer« seiner Schule ganz allgemein für sein Schulversagen verantwortlich. Darum mussten »die Lehrer« für das ihm angetane (vermeintliche) »Unrecht« büßen, u.a. weil ihm zu dem Zeitpunkt nach dem thüringischen Schulgesetz bei seinem Scheitern in der Abschlussklasse nicht einmal ein Hauptschulabschluss zuerkannt wurde. Auf seine so viel Leid verursachende Rachetat bereitete er sich monatelang vor. Doch wenn ihn nach seinem gestörten Rechtsempfinden das von ihm so empfundene Unrecht zu seiner geplanten Tat berechtigt hätte, so bleibt für mich immer noch unerfindlich, wie er in diesem Zusammenhang seines Schulversagens und der sein Versagen kaschieren sollenden Betrugsversuche die weitere Tötung der Schulsekretärin rechtfertigen wollte: Welche Gerechtigkeit sollte von diesem letzteren Opfer so gravierend verletzt worden sein, dass sie nach dem Blut auch noch dieses Opfers schrie? Wie sollte gegenüber diesem anderen Opfer die nach seinem subjektiven Empfinden von »den Lehrern« verletzte und nach dem Empfinden des Täters anders nicht einforderbare juristische Gerechtigkeit wiederhergestellt werden? Da spielen vermutlich ganz andere Motive eine Rolle, wie z. B. übersteigerte Geltungssucht nach dem »Klassenkasper-« oder »BigBrother-Container-Effekt«: „Ich bin eine ganz dumme arme Sau und kann darum nichts Beachtenswertes in die Sozialbezüge meiner jeweiligen Gruppe einbringen, bewundert mich trotzdem alle einmal, gruselt, ja fürchtet euch auch ein bisschen vor mir und lasst mich Macht spüren und wenigstens einmal im Leben von allen beachtet im Mittelpunkt stehen“. Sollte – angestachelt durch in seinem Besitz gefundene Produkte der »Hassindustrie« wie Killer-Computerspiele und Hassgesänge mit u.a. der Liedzeile: „Macht die Lehrer platt ...“ - durch Allmachtsphantasien bis zur Herrschaft über Leben und Tod anderer, völlig unbeteiligter Menschen eigenes Versagen für einen Moment überspielt werden? Auffallend ist die Sucht nach Aufmerksamkeit, insbesondere Medienaufmerksamkeit; und sei es nach dem eigenen Tode. Aber man war dann – wenigstens für einen klitzekleinen Augenblick - einmal »wer« gewesen! Das Heikle an jedem, insbesondere aber einem so übersteigerten subjektiven Rechtsempfinden ist, dass die Mitmenschen oftmals ganz anders empfinden als man selbst. Wer hat dann »Recht«? Von wem soll das nach welchen Gesichtspunkten entschieden werden? Es gibt viele »Wahrheiten«. Das sich einzugestehen, bedeutet Menschlichkeit; es zu leugnen, das sagt dem Historiker ein Blick in die Geschichte, ist ein Indiz für die Gier nach Macht. Und es ist die Aufgabe der sachgemäßen Organisation eines auf inneren Frieden ausgerichteten Gemeinwesens, dafür zu sorgen, dass die Anhänger dieser oder jener Lehre einander nicht die Köpfe einschlagen, wie z.B. in den USA in den letzten zehn Jahren mehrere Ärzte, die in Abtreibungskliniken arbeiteten, von radikalen »Lebensschützern« wegen dieser ihrer Tätigkeit getötet wurden. Es braucht den auf den allgemeinen Menschenrechten als unverzichtbar anzusehenden Grundwerten fußenden, ansonsten aber ideologiefreien, für unterschiedliche Denkansätze und Glaubensüberzeugungen offenen Staat, denn alle 39

„Amok“ zu laufen bedeutet ein blindwütiges Losrennen, bei dem jeder in den Weg Kommende mit einem Kris oder einer anderen Waffe niedergestochen wird, nicht aber eine über ein halbes Jahr geplante Mordtat, bei deren Verwirklichung ganz gezielt nach bestimmten Opfern gesucht wird.

278 Ideologien – gleich ob »nur« religiöse und politische - sind in ihren Ansichten und Ausrichtungen hermetisch abgeschlossen und lassen keine anderen »Wahrheiten« gelten!

2.8.2 »Recht« als Definition einer Machtelite »Recht« als Definitio n einer Machtelit e

Schutzfu nktion des Rechts

Als »Recht« wurde aber in der Geschichte leider meistens nur das ausgegeben, was eine Machtelite nach ihrem (ideologischen) Vorverständnis an verbindlichen Normen aufgestellt hat, und was dann nicht mehr hinterfragt wurde oder nicht mehr hinterfragt werden durfte. Ein außerstaatliches Beispiel ist das Kirchenrecht der katholischen Kirche: So wurde z.B. 1968 von Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Humanae vitae“ dekretiert, Empfängnisregulierung und -verhütung durch die Pille sei ein „ehelicher Akt, der willentlich unfruchtbar macht und deshalb vom Wesen her sittlich unerlaubt ist“. Dieser nach Sicht der katholischen Kirche schwere Verstoß gegen das Kirchenrecht ist mit schweren Kirchenstrafen belegt! Wie viel seelische Pein ist vielen Katholiken durch diese immer noch aufrecht erhaltene Position des katholischen Kirchenrechts gegenüber selbst dem ehelichen Geschlechtsverkehr verursacht worden! Als Beispiele dafür, was eine staatliche Machtelite in jüngerer und jüngster Zeit an verbindlichen Normen aufgestellt hat, und was dann nicht mehr hinterfragt wurde oder nicht mehr hinterfragt werden durfte, kann die ideologisch geprägte NS- und die SED-Gesetzgebung angesehen werden. Wenn man die menschliche Natur nicht in Rechnung stellte, mag - kaum glaublich aber theoretisch möglich - in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft für eine kurze Zeitspanne zunächst eine Identität von Macht und Recht bestanden haben, die aber im Konfliktfall mit Sicherheit zu Lasten der Machtlosen aufgehoben worden sein wird. Stärke schafft nicht unbedingt »Recht« im Sinne von Gerechtigkeit! Das weiß jeder zu Unrecht Unterlegene aus eigener schmerzlicher Erfahrung. Rousseau brauchte für diese Erkenntnis nicht auf den Lauf der Geschichte zu verweisen. Er hat dafür auch einen logischen Beweis: Wenn Stärke Recht schüfe, dann wäre das Recht so vergänglich wie jede Veränderung des Kräfteverhältnisses – und Ungehorsam wäre legitim, sobald jemand genügend Macht für eine Änderung der Kräfteverhältnisses erlangt habe. »Das Recht« konnte als interessengeleitete Definition einer nicht demokratisch legitimierten Machtelite seiner vornehmsten Aufgabe, die es jedenfalls in einer demokratisch organisierten Gesellschaft wahrzunehmen hat, die Schwachen vor der Willkür der Mächtigen zu schützen, nicht gerecht werden. Die Schutzfunktion des Rechts ist dann obsolet. Es ist eine über Jahrtausende in schweren Auseinandersetzungen unter ungeheuren Verlusten erkämpfte Kulturleistung, dass das Recht die Schwachen einer Gesellschaft vor der Willkür der Mächtigen ihrer Gesellschaft schütze. Die als »Recht« des Stärkeren sprachlich kaschierte Macht des Stärkeren wurde abgelöst durch die Stärke des Rechts, die auch die »da oben« bezwingende Macht des Rechts. In der leider nie geradlinig zum Besseren einer demokratisch organisierten Gesellschaft hin verlaufenen historischen Entwicklung zu immer mehr Rechtsstaatlichkeit äußerst bedauerlich, aber leider historisches Faktum ist: Ein einmal erreichter Stand an Rechtsstaatlichkeit ist keine Gewähr für wenigstens das Andauern dieses mühsam erkämpften Zustandes. Die NS-Gesetzgebung ist schon mehrfach andeutungsweise angesprochen worden. Wer hätte in Deutschland einen solchen Rückfall in eine (allerdings hochzivilisierte) - nicht nur juristische – Barbarei für möglich gehalten, wie er dann ab 1933 dem deutschen Volk von verbrecherischen Fanatikern ihrer Machtelite übergestülpt wurde?!? Wer hätte einen solchen Rückfall von Angehörigen des „Volkes der Dichter und Denker“ für möglich gehalten? Nicht einmal zahlreiche Juden, die in Deutschland lebten und die Anfänge des Nationalsozialismus am eigenen Leib erleiden mussten!

„Recht« zur Absicher ung der Herrschaf t einer (staatlich en) Machtelite

2.8.3 »Recht« zur Absicherung der Herrschaft einer staatlichen Machtelite Zur Absicherung ihrer Herrschaft erließ die jeweils an die Macht gelangte Machtelite auf Grund politischer Willensentscheidungen an dem von ihren Gruppeninteressen geprägten und darum von ihr so empfundenen Recht ausgerichtete Gesetze. (Zum Beispiel das um 624 v.Chr. in Athen auf Veranlassung des Adligen Drakon aufgezeichnete Recht mit seinen durch diesen Gesetzesabfassungsakt sprichwörtlich gewordenen »drakonischen Strafen« gegen hauptsächlich die besitzlosen Athener.40) So empfand ein Sklavenbesitzer die Sklavenhaltung 40

Drakon hatte an sich nur das zu seiner Zeit herrschende Gewohnheitsrecht kodifiziert. Er hatte keine neue Verfassung ausgearbeitet. Über die Kodifizierung des Gewohnheitsrechtes hinaus hatte er aber versucht, die bis dahin nach ergangenem Urteil als Strafvollstreckung üblicherweise geübte Blutrache der Geschlechter, die nur Verwandten bis zu

279

gemeinhin nicht nur als äußerst nützlich, sondern auch als »gerecht«, schließlich hatte er ja den nach dessen Niederlage versklavten Gegner besiegt oder Geld ausgegeben und dafür menschliche »Ware« gekauft, eine reine Sache, mit der er nach Belieben verfahren konnte. (U.a. die Römer hatten Sklaven, die sie nicht mit ihren auch oder hauptsächlich zu diesem Zweck gekauften Sklavinnen gezeugt hatten - wenigstens einige Zeit lang - nicht als Menschen angesehen, sondern als „sprechende Werkzeuge“ oder „sprechendes Inventar“. Weil sie ihre leiblichen Kinder aber meistens nicht in einem solchen rechtlosen Zustand belassen wollten, wurden sehr viele von ihnen irgendwann freigelassen.) Und darum engagierte sich ein Sklavenbesitzer im Normalfall eben nicht für die Abschaffung der Sklaverei. Auch der für die Freiheit der Kolonisten von der englischen Krone in der Neuen Welt kämpfende George Washington besaß Sklaven. Gedanken über die erst viel später überwiegend so gesehene Sittenwidrigkeit des Geschäftes kamen ihm nicht, denn er handelte in seinem Selbstverständnis des Besitzenden und Herrschenden ja nach göttlich geglaubtem Recht, in der von ihm so interpretierten gottgewollten Ordnung. Die herrschenden Gruppen liehen sich unter Einschaltung der Priester die Autorität ihrer Götter zur Durchsetzung dessen, was ihnen frommte. Recht war so der verlängerte Arm der Politik – und sehr oft auch der Religion. Die in einem Fernsehbericht unserer Tage interviewten Sklavenhändler im Sudan vermochten auch kein Verständnis für eine abendländische Betrachtungsweise aufzubringen. Schließlich hatten sie ja Kapital investiert, das Ertrag erbringen sollte. Die Empfindung von »Recht« ist eben u.U. religiös, auf jeden Fall sehr kulturell bedingt, schicht- und milieugebunden. „Bürgerinitiative gegen das Stillen New York – Eine Bürgerinitiative in den USA kämpft gegen das Stillen. Mehr als 200 000 Amerikaner haben bereits eine Petition an den Kongress unterschrieben, Stillen unter Strafe zu stellen. ’Wer seinem Baby die Brust gibt, zieht daraus sexuelle Befriedigung. Das ist eine Form von Inzest.’“ (HH A 30.01.02)

2.8.4 In einer Demokratie steht der Staat unter der Herrschaft des Rechts und nicht das Recht unter der Willkür der Exekutive Keine juristische Kuriosität ist es für mich, wenn durch Fernsehsendungen oder Zeitungsmeldungen offenbar wird, dass hoch- und höchstrangige Politiker – zur Bekämpfung des damals akuten massiven RAF-Terrors mit Geiselnahme und Geiseltötung im Fall Schleyer zum Denken ohne alle Tabus aufgefordert - überhaupt mit dem Gedanken zu spielen wagten, unsere Verfassung als oberste rechtliche Richtschnur nicht im erforderlichen Maße ernst zu nehmen! Wie anders ist bei dem klaren Wortlaut des Art. 102 GG „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ die Meldung zu werten: "Stammheim passables Gefängnis? einem eingeschränkten Verwandtschaftsgrad rechtmäßigerweise zustand, durch eine staatliche Strafverfolgung und Strafvollstreckung zu ersetzen. Das war an sich ein positiver Ansatz. Sollten aber die Geschlechter zu einem Verzicht auf die ihnen ihrem Rechtsbewusstsein nach zustehende Blutrache bewogen werden, so mussten sie die Gewissheit haben, dass die Gesellschaft den jeweils als Schuldigen Angesehenen erbarmungslos abstrafen würde: Das erklärt die später sprichwörtlich gewordenen harten »drakonischen Strafen«, die von Drakon festgesetzt worden waren. Wer seinem Feind etwas Übleres als Blutrache gönnen wollte, sollte bestrebt sein, ihn der staatlichen Strafvollstreckung auszuliefern. Um den Aufbau eines staatlichen Strafvollstreckungsmonopols in die Wege zu leiten, musste Drakon die staatliche Strafverfolgung und Strafvollstreckung für die Rachegefühle der Hinterbliebenen attraktiv gestalten. So kam es, dass im Volk die Meinung entstand, Drakons Gesetze seien „mit Blut geschrieben“ worden. Sie waren aber noch sehr milde im Vergleich zu den in den Hexenprozessen gegen wehrlose Frauen angewandten gesetzlichen Bestimmungen des "Hexenhammers", mit denen mit den niederträchtigsten und unmenschlichsten Foltermethoden unschuldigen Frauen (und auch vereinzelt Männern) die unsinnigsten »Geständnisse« abgenötigt wurden.

280

Der frühere Terroristenjäger Kurt Rebmann hat bei einer Talk-Show eingeräumt, während der Schleyer-Entführung sei unter den Bonner Politikern auch über die Erschießung von RAFGefangenen als Geiseln nachgedacht worden. ..." (taz 27.06.92) "‘Sie hätte ich damals gern gehabt' Bei einer Talk-Show räumt der frühere Terroristenjäger Rebmann erstmals ein, daß 1977 über die Erschießung einzelner RAF-Gefangener nachgedacht wurde ... `Gnade für Terroristen?' will Gastgeber Wieland Backes in seiner SDR-Talk-Show Nachtcafé ... wissen. ... Der Staat, beharrt Rebmann, dürfe sich niemals erpressen lassen. Bei einem Mord komme es nicht auf die politischen Motive an. Daß dieser Staat dagegen immer noch so unbeugsam wie im deutschen Herbst 1977 sein würde, glaubt der pensionierte Generalbundesanwalt allerdings nicht. Den heutigen Politikern fehle die `soldatische Konsequenz eines Helmut Schmidt'. Eine Konsequenz, so Rebmann, mit der damals im Krisenstab der Bundesregierung auch über die eventuelle `Erschießung von RAF-Gefangenen als Geiseln' geredet wurde." (taz 27.06.92) Der bayerische Ministerpräsident Strauß hatte angeregt, „... verkleidet in die Form der Wiedergabe von Volkes Meinung, Standgerichte zu schaffen und ’für jede erschossene Geisel’ einen RAFHäftling erschießen zu lassen“ (SPIEGEL 24.02.03). Ein demokrat ischer Staat steht unter der Herrschaf t des Rechts

So eine Meldung muss allen, die dem (Irr-?)Glauben anhängen, dass unsere Verfassung alle staatlichen Institutionen ausnahmslos(!) binde, den Atem verschlagen! In einer Demokratie steht der Staat unter dem Recht und nicht das Recht unter der Willkür der Exekutive! Und unsere Verfassung ist die oberste Rechtsnorm unseres Staates. Es gibt für die Exekutive keine Legitimation außerhalb der Verfassung! Da kann auch nicht unter der Geltung des Grundgesetzes der CDU-Konservative Lummer am 01.08.92 laut Schlagzeile der Morgenpost für den sich damals noch in Moskau verbergenden Honecker die Todesstrafe fordern! In welchem Staat leben wir denn eigentlich?! Und was sind das für Politiker, die auch nur erwägen, sich über (das Grund-)Gesetz und (damit unser oberstes) Recht hinwegsetzen zu wollen, indem sie erörtern, gefangengenommene Terroristen staatlicherseits als Geiseln erschießen zu lassen! Auch gefangengenommene Terroristen unterfallen der Schutzfunktion des von ihnen nicht anerkannten und bis auf das Äußerste bekämpften Rechts. Die meist übermächtige Exekutive hat sich ausnahmslos an das Recht und an die oft zu ihrer Zügelung erlassenen Gesetze zu halten! Und auch ein »Ehren«-Wort des zu seiner Zeit mächtigsten Politikers kann die Gesetzesbindung der Verwaltung nicht außer Kraft setzen!

2.8.5 Wer soll über die Auslegung von »Recht« entscheiden? Wer soll über die Auslegung von »Recht« entscheiden ?

Wenn die Gesetze nicht alle ihnen Unterworfenen gleichermaßen begünstigen ("Jeder deutsche Staatsbürger erhält am Tage seiner Volljährigkeit vom Staat ein Auto geschenkt."/ "Jede Deutsche erhält am Tage ihrer Volljährigkeit zum Schutze vor Vergewaltigung auf nächtlich einsamen Straßen vom Staat ein Auto geschenkt."), werden sie nicht immer von allen Rechtsunterworfenen, besonders nicht von eventuell Benachteiligten oder sich auch nur benachteiligt Wähnenden, als »gerecht« empfunden. Trotzdem mögen sie »gerecht« sein. Problemstellung: Die Organe der Legislative haben ein gesellschaftliches Problem juristisch nicht umfassend genug geregelt oder neuere Entwicklungen verlangen erstmalige juristische Antworten, bevor die manchmal schwerfällige Gesetzgebungsmaschinerie richtig ins Laufen gekommen ist und eine neue gesetzliche Regelung produziert hat. Wer soll dann an Stelle des eigentlich zuständigen Gesetzgebers entscheiden? Denn irgend jemand muss es öfters tun: »Das Volk« in Volksbefragungen und Volksentscheiden? Das ist aber u.a. allein schon wegen des organisatorischen Aufwandes einer Befragung sehr umständlich und wegen der zu leistenden aufklärenden Vorabinformation, die gar nicht jeder verstehen und nachvollziehen kann, oft auch sehr schwierig und wohl nicht immer praktikabel. Wer soll dann möglichst sachverständig und juristisch abgesichert entscheiden: „Geistesgestörte mit psychischen Problemen“ als Voraussetzung für die Berufsausübung, wie der damalige italienische Ministerpräsident Berlusconi in einem seiner berüchtigt unqualifizierten Ausfälle die Richter (seines Landes) abzuqualifizieren beliebte? Gegenfrage: Wer außer den Richtern, wenn die Legislative nicht hinreichend problemlösend gearbeitet hat? Die in ihrem Handeln - zu unserer aller Beruhigung(!) - gesetzesgebundene Exekutive kann es nicht so abwägend und letztlich Rechtsfrieden stiftend leisten wie die Judikative, deren Aufgabe es ja auch ist, Maßnahmen der Exekutive auf

281

ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. "Todkranker Kassenpatient darf nicht ans Beatmungsgerät Karlsruhe - Können Angehörige verlangen, daß ein Sterbender an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird? Nein, zumindest nicht, wenn er Kassenpatient ist, entschied das Landgericht Karlsruhe. Auf Grund der Bestimmungen der gesetzlichen Krankenversicherung kam eine Heilbehandlung nicht mehr in Frage. Die Ärzte mußten nur seine Erstickungsqualen mildern. Der Patient litt an Lungenkrebs, war bis zum Schluß bei Bewußtsein. Der Wunsch seiner Frau, ihn an die künstliche Lunge anzuschließen, wurde nicht erfüllt; statt dessen erhielt er schmerzlindernde Medikamente. Das Paar erwirkte eine einstweilige Verfügung beim Amtsgericht. Die Klinik mußte den Mann in den letzten Lebenstagen doch an das Beatmungsgerät ankoppeln. Er war schon tot, als sich die Mediziner an das Landgericht wandten. Sie meinten `nach dem erledigenden Ereignis' einen Anspruch auf die Feststellung zu haben, daß die Entscheidung des Richters unzulässig gewesen sei. (Az.: 10 O 291/91)" (HH A 18.03.92) Wer sollte sonst entscheiden, wenn nicht der oder die zuständige/n Richter? Oft haben Richter durch das von ihnen gesetzte »Richter-Recht« nicht nur Fälle entschieden, denen zu ihrer Lösung eine eindeutige gesetzliche Grundlage fehlte, sondern durch ihre abgewogene Urteilsfindung und die teilweise damit verbundene Fall- und Untergruppenbildung den Gesetzgeber veranlasst, ihren Anregungen zu folgen und entlang der letztlich durch die höchstrichterliche Rechtsprechung in teilweise jahrelanger Arbeit und Abwägung gebildeten Fallgruppen neue gesetzliche Regelungen zu schaffen, die dann schon eine lange Erprobungsphase überstanden hatten und darum nicht so erschreckend kurzatmig waren, wie mancher legislative Schnellschuss mit einer Halbwertzeit von nur einigen Monaten, wie es bei der nur unter erheblichen Geburtswehen zustande gekommenen gesetzlichen Regelung der Voraussetzungen für die »Vereinigungswahl« 1994 zu beobachten gewesen war. Besonders stark hat sich die durch »Richter-Recht« geprägte normative Kraft der Judikative im Bereich des Arbeitsrechts ausgewirkt. Letztlich sind es die »Richter-Könige« des BVerfGs, die mit ihren meist auf Grundgesetz- und Gesetzesinterpretationen beruhenden Gerechtigkeitserwägungen und Entscheidungen teilweise auch völlig neues »Recht« setzen – oder verhindern: erinnert sei an die Verhinderung der vom Gesetzgeber mehrheitlich gewollten Fristenlösung -, indem sie das bisherige Recht neueren Entwicklungen anpassen, weil der Gesetzgeber nicht rechtzeitig in ausreichendem Maße tätig geworden ist: Als das vom Parlament aus Gründen der Zukunftsplanung – wie setzt sich unsere Bevölkerung zusammen und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für z.B. den Bau von Wohnungen, Schulen, Krankenhäusern, Altersheimen, für unsere sozialen Sicherungssysteme, ... – 1983 (ein Jahr vor der Orwell’schen Vision) einstimmig beschlossene Volkszählungsgesetz wegen der darin zum Ausdruck kommenden »staatlichen Neugierde« einige Leute auf die Palme brachte, weil sie problembewusster waren und schon um die Gefährlichkeit der Zusammenführung von Daten wussten, mit der durch den Staat oder Private eine bisher nicht mögliche Ausforschung von Bürgern durch den Einsatz der Mittel der Datenverarbeitung nunmehr möglich geworden ist, musste das BVerfG angerufen werden, weil es bis dato kein Datenschutzgesetz gab. Und die Richter des BVerfGs entwickelten zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Volkszählungsgesetzes in einer dogmatischen Auslegung und Zusammenschau der Art. 1 und 2 GG als einen weiteren Ausfluss und als Untergruppe des von ihnen in früheren Entscheidungen geschaffenen, auf der Menschenwürde aus Art. 1 und der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 GG beruhenden, die gesamte Breite der mitmenschlichen Existenz umfassenden allgemeinen Persönlichkeitsrechts das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Mit der Propagierung dieses von ihnen mit dieser Entscheidung gerade geschaffenen Rechtsinstituts erklärten sie dann das Volkszählungsgesetz für nicht rechtens. Dieses von den Bundesverfassungsrichtern neu geschaffene Rechtsinstitut wurde dann fallbezogen ausgebaut und auf ähnliche Problemlagen des Schutzes vor Ausforschung erweitert.41 41

Jüngstes Problemfeld und Gesetzesvorhaben in dem Bereich der informationellen Selbstbestimmung: „Zypries für EU-weites Verbot anonymer Vaterschaftstests Bundesjustizministerin sieht Selbstbestimmungsrecht von Mutter und Kind verletzt - Gesetz soll bis 2006 Rechtsunsicherheit ausräumen von Ansgar Graw Berlin - "Hat es Ihre Augen?", fragt eine Anzeige mit dem angeschnittenen Foto eines Kindergesichtes in der U-Bahn. "Ihre Nase? Ihren Mund?" Beworben wird ein privates Labor, das DNA-Analysen zur Feststellung der Vaterschaft

282 Um das Gesagte noch einmal an dem Beispiel des „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ zu veranschaulichen: Das Grundgesetz schützte seinem Wortlaut nach »nur« einzelne Teilbereiche der personalen Existenz, als es 1949 nach der nationalen Katastrophe der Hitler-Diktatur in seinem Abschnitt „I. Die Grundrechte“ die in der Abwehr staatlicher Übergriffe historisch gewachsenen Grundrechte in der Form von teilweise als Menschen- und teilweise »nur« als Bürgerrechte gefassten Rechte als vom Staat vorrangig zu beachtende Normen proklamierte. So sollte z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit verhindern, dass je wieder in Deutschland Bürger in Polizei- oder Gestapohaft gefoltert würden – was uneingeschränkter Konsens war, bis im Jahre 2003 in einem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Tabu-Bruch einem Frankfurter Kindesentführer und -mörder polizeiliche Folterhandlungen angedroht wurden, um das Versteck des – von der Polizeiführung so gehofft – noch lebenden Kindes zu erfahren, das der Entführer aber schon gemordet hatte. Von zentralen gesetzlichen Vorgaben unserer obersten staatlichen Norm wie „Menschenwürde“ und „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ ausgehend schufen die Richter des BVerfGs über den Schutz von Teilbereichen wie z.B. den der eben angesprochenen, in Art. 2 II GG geschützten Körperintegrität hinausgehend durch ihre Rechtsprechung in Rechtsfortbildung der vorhandenen Normen des Grundgesetzes ein »allgemeines Persönlichkeitsrecht«. Es stehe jedem Menschen wegen seines Menschseins unverzichtbar zu, da er nicht (mehr) als manchmal das Verwaltungshandeln störendes Objekt staatlichen Handelns betrachtet, sondern als Subjekt und oberster Souverän gesehen werden müsse. Dieses »allgemeine Persönlichkeitsrecht« schütze nicht nur die im Grundgesetz namentlich genannten Teilbereiche und den Kernbereich der Intimsphäre als Grundlage der personalen Existenz, sondern umfasse mit der weiter zu sehenden Privatsphäre und der noch ausgedehnter zu verstehenden Individual- und Sozialsphäre den gesamten Bereich der menschlichen Existenz. Wenn man erst einmal ein solches Rechtsinstitut wie das »allgemeine Persönlichkeitsrecht« neu erdacht und geschaffen hat, ist es nicht mehr allzu schwer, bei Bedarf eine neue Fallgruppe als dazugehörig auszugeben. So wurde die »informationelle Selbstbestimmung« als ein Ausfluss des »allgemeinen Persönlichkeitsrechts« erkannt und definiert, und es wurden nach weiterem Bedarf zu dieser neuen Fallgruppe Untergruppen gebildet, die alle auf demselben Grundgedanken basieren, dass der Bürger grundsätzlich entscheiden können muss, wer was von ihm in Erfahrung bringen, wissen und speichern darf, wenn dem Staat nicht aus überragendem anbietet. Ein Schnuller des Babys, ein Glas, aus dem Sohn oder Tochter getrunken haben, reicht aus. Mit 50 000 Vaterschaftstests auf Basis derartiger Mundschleimhautproben setzten rund 100 Labore in Deutschland vergangenes Jahr etwa 40 Millionen Euro um - jetzt soll Schluss sein mit diesem Geschäftsfeld. "Anonyme Vaterschaftstests verstoßen gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten", sagt Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) im Gespräch mit der WELT. "Darum müssen sie verboten werden. Mutter und Kind müssen die Hoheit über ihre Daten behalten." Ein entsprechendes Gesetz wird derzeit im Ressort von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) vorbereitet. Bis Herbst 2006 soll es bestehende Rechtsunsicherheiten beseitigen. Zypries verlangt, "dass die Betroffenen ihr Einverständnis geben, bevor ein Vaterschaftstest durchgeführt wird". Zwar räumt die Ministerin, die sich ansonsten - auch im Unterschied zu ihrer Amtsvorgängerin Herta DäublerGmelin - als Anhängerin eines schlanken Staates präsentiert, "ein Mehr an Bürokratie" ein. Doch dies sei in diesem Fall unverzichtbar: "Wir schützen das Fernmeldegeheimnis, und wir dürften nicht einmal die Urlaubskarte an die Nachbarn lesen. Aber bei dieser ausgesprochen privaten und hochsensiblen Frage gibt es bislang keine gesetzliche Regelung." Und das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Vaters, der sich bislang für 300 bis 500 Euro bei privaten Genlabors das Testat erstellen lassen kann? "Jeder Mann hat das Recht, sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob er wirklich der Vater ist", sagt Zypries. Wenn die Mutter einen freiwilligen Vaterschaftstest ablehnt, kann der Mann die Untersuchung bereits nach geltender Rechtslage in einem zivilrechtlichen Verfahren erzwingen. Ein aufwendiger Weg, und die Ministerin signalisiert Bereitschaft, auch die Situation betroffener Männer zu verbessern: "Wir werden prüfen, ob sich die gerichtliche Klärung der Vaterschaft beschleunigen lässt." Doch die derzeitige Möglichkeit, ohne Wissen und Einverständnis der Mutter den Test durchführen zu lassen, soll es nicht mehr geben: "Das Grundgesetz schützt das Recht eines jeden Menschen, zu wissen, was mit den eigenen genetischen Daten geschieht. Daran darf nicht gerüttelt werden." Das informationelle Selbstbestimmungsrecht gebe es "in dieser eindeutigen Ausprägung seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts Ende 1983", sagt die Politikerin. Die Bundesregierung reagiere mit dem geplanten Gesetz also lediglich "auf die veränderte Situation, die infolge des wissenschaftlichen Fortschritts in der Genanalyse" etwa seit Mitte der neunziger Jahre entstanden ist. Weil seitdem Tests immer unkomplizierter werden, ist es ohne weiteres möglich, dass auch gänzlich Fremde sich entsprechendes Spurenmaterial besorgen, um Verwandtschaften prüfen zu lassen - etwa die misstrauischen Schwiegereltern oder der neue Partner eines Elternteils. Oder jemand, der gern neuer Partner würde. "Mit solchen Tests können völlig intakte Familien zerstört und Menschen erpresst werden", warnt Zypries. ... Sollte das Gesetz kommen, bliebe eine Lücke bestehen: Bei einem Verbot von Gentests in Deutschland könnten Proben immer noch von Laboren in Nachbarländern geprüft werden. Darum strebt die Justizministerin mit dem geplanten Gendiagnostikgesetz eine einheitliche Gesetzeslage auf europäischer Ebene an: "Ich hoffe, dass unser Gesetz zum Verbot anonymer Vaterschaftstests Schrittmacher für eine EU-weite Harmonisierung im Umgang mit hochsensiblen, genetischen Daten wird." Nach der Verankerung im deutschen Recht solle daher, so Zypries, eine entsprechende Initiative auch im europäischen Rahmen gestartet werden.“ (Die Welt 01.06.04)

283

Gemeinschaftsinteresse auf genau zu fassender gesetzlicher Grundlage ein Recht auf Wissen zugestanden wird. Die Fallgruppe der »informationellen Selbstbestimmung« als eine der Fallgruppen des Jahre zuvor geschaffenen Rechtsinstituts des »allgemeinen Persönlichkeitsrechts« und ihre bislang gebildeten Untergruppen mussten durch »Richterrecht« erst geschaffen werden, als die Datenverarbeitung mit ihren sich ständig erweiternden Möglichkeiten und dadurch neu entstehenden Ausforschungsgefährdungen unser aller Leben zu prägen begann und der Gesetzgeber der Entwicklung atemlos hinterher hechelte. Der Grundgesetzgeber hatte diese Entwicklung nicht vorhersehen und darum nicht regeln können. So schufen unsere obersten Richter dieses neue uns schützende Recht der »informationellen Selbstbestimmung« und bildeten inzwischen die Untergruppen a) der personenbezogenen Daten, b) der statistischen Daten und c) der DNA-Analyse. Man kann in der heutigen Massengesellschaft und in dem Massenbetrieb Rechtsprechung nicht mehr - wie bei den alten Germanen im Thing unter dem "Umstand" der waffenfähigen Männer – zu jeder zu treffenden Regelung, zu jedem zu verkündenden Urteil eine Volksbefragung durchführen. Dafür sind die zu regelnden Sachverhalte oft zu kompliziert. Und dabei kämen meist auch nur »Bauchentscheidungen« ohne allzu viel Sachverstand heraus. Mehrheitsentscheidungen von juristischen Experten, die sich zuvor sachverständig zu machen versuchten, wie sie bei Kollegialentscheidungen in Richtergremien der Fall sind, wenn also nicht nur ein Einzelrichter entscheidet, sind da der Problemlösung wesentlich angemessener als auf meist eine einzelne simple Fragestellung zurückgeführte Volksentscheide. Die Judikative scheint da der angemessenere Ort für die Entscheidung komplizierter Sachverhalte durch die Schaffung von Richterrecht. Und die Rechtsprechung muss von Fachleuten gehandhabt werden, denn sie ist verwirrend kompliziert. Dabei sind die Entscheidungen der Richter oft auch durch ihre Sozialisation geprägt, wie wir am Beispiel der von den Bundesverfassungsrichtern verhinderten Fristenlösung sahen: Wer als oberster Richter z.B. katholisch erzogen und geprägt wurde und möglicherweise sogar praktizierend ist, wird dem Lebensschutzgedanken in der Ausprägung, wie er vom Heiligen Stuhl für seine Anhänger als verbindlich vorgeschrieben wurde, anhängen und so entscheiden. Solche Entscheidungen erwecken nicht immer unser aller Zustimmung! Und auch wenn wir Richter wären, gäbe es viele Leute, die mit unseren Urteilen nicht einverstanden wären, weil sie - vielleicht auf Grund ihrer persönlichen Biographie - zu anderen Wertungen kämen. Die Frage »Fristenlösung: ja oder nein« wäre aber ein Problembereich gewesen, der sehr wohl durch Volksentscheid hätte entschieden werden können. Und dabei wäre mit Sicherheit das gegenteiliges Ergebnis herausgekommen, als bei den Verfassungsrichtern; deren Entscheidungen sind also auch nicht immer »das Gelbe vom Ei«!

2.8.6 Medien sind als publizistisches Wächteramt der kritischen Öffentlichkeit gegenüber richterlichen Entscheidungen die »vierte Gewalt« im Staate Aber die Rechtsprechung ist zu wichtig, als dass man sie allein den Richtern überlassen dürfte! Zum Glück kritteln in unserer demokratisch offenen Gesellschaft unter der Geltung des Art. 5 GG, der die Meinungs-, Informations-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit garantiert, die Rechtsprofessoren an vielen Urteilen herum und bilden so manchmal ein gewisses Korrektiv, das zu unsinnige Entscheidungen aufdeckt (z.B. "Pfeffertüten-" und "Ade-Schatz-Fall" im Strafrecht), im günstigsten Fall sogar ihre Wiederholung verhindert. Auch die engagierte Presse, wegen ihres publizistischen Wächteramtes oft auch als »vierte Gewalt« im Staate bezeichnet, verhilft manchmal zu einer sachdienlichen Diskussion. Das kann sehr medienwirksam geschehen, wie im Fall der unhaltbaren Urteilsbegründung Mannheimer Richter in ihrem Urteil gegen einen NPD-Vorsitzenden wegen dessen »Auschwitz-Lüge«. Da schlugen die durch die zu verständnisvoll-entschuldigend abgefasste Urteilsbegründung hervorgerufenen Wellen der Erregung und Empörung durch Vermittlung der Presse bis ins Ausland und kosteten die Bundesrepublik viel außenpolitisches Renommee, verhinderten so aber hoffentlich eine Wiederholung. Das publizistische Wächteramt kann aber auch sehr verhalten gegenüber nur einer interessierten und für solche Probleme aufgeschlossenen Öffentlichkeit geschehen.

284

Medien als kritische Öffentlic hkeit gegenüb er richterlic hen Entschei dungen die »vierte Gewalt« im Staate

SPIEGEL-ESSAY 49/1990 "Ringparabeln des Rechts ... Wenn Richter mit tradierten Begriffen hantieren müssen, wirken sie hoffnungslos überfordert. Es gelingt ihnen beispielsweise nicht, zwei Sprachebenen zur Deckung zu bringen. Unter dem schlichten Wort `Gewalt' stellt sich der Laie anderes vor als der juristische Fachmann. Kritischen Bürgern wollte deshalb nicht einleuchten, warum die Theologiestudenten aus Tübingen, die in Mutlangen friedfertig auf der Straße saßen, laut BGH kriminelle Gewalttäter sein sollten. Doppelt unverständlich mußte ihnen dann ein anderes Urteil aus demselben Haus vorkommen. Es ging da um den Fall eines Meisters, der mit seinem Lehrmädchen in den Wald gefahren war und seinen Wagen so neben einem Baum geparkt hatte, daß die Tür nicht mehr aufging. Danach wurde sie von ihm mißbraucht. Die Bundesrichter entschieden in miserablem Deutsch: `Nicht in jeglichem Einschließen oder ähnlicher Beschränkung der Bewegungsfreiheit einer Frau in der Absicht, mit ihr geschlechtlich zu verkehren, liegt bereits Anwendung von Gewalt', auch nicht im `Fahren zu einer abgelegenen Stelle, an der die mitgeführte Frau Hilfe nicht erwarten kann'. Beide Urteile lassen sich leicht pointieren: Was würde passieren, wenn derlei Gerechtigkeit über eine einzige Familie hereinbräche - über eine Mutter etwa, die ihren 20jährigen Sohn und ihre 16jährige Tochter liebt? Das Szenario drängt sich auf: Sie ist gerade beim Hausputz, es klingelt, der Briefträger, Post aus Karlsruhe, zwei Urteile auf einmal. Natürlich versteht sie kein Wort. Also läßt sie sich die Texte von einem Rechtskundigen - im Zweifel gegen Bezahlung - ins Deutsche übersetzen. Nun begreift die Mutter. Der Sohn, der keinem etwas zuleide tat, hat kriminelles Unrecht begangen; er gilt als Gewalttäter. Die Tochter, erfährt sie mit der gleichen Post, ist kein Opfer von Gewalt gewesen. Die gute Frau zweifelt an ihrem Verstand - und, wenn sie eine besonders aufsässige Person ist, vielleicht sogar an dem der Richter. ..." Solche unverständlichen, ungerechtfertigten und ungerechten Entscheidungen wie die gegenüber dem mit Hinterlist hilflos gemachten Mädchen werden schon unter Geltung unserer demokratisch zustande gekommenen Gesetze von den höchsten Richtern produziert (- wenn sie vermutlich keine Töchter haben -), obwohl sie ihre eigene bisherige ausufernde Rechtsprechung zum Gewaltbegriff kennen, wonach alles, was einen anderen - auch nur durch seelische Einwirkung - zu einem bestimmten, von ihm nicht gewollten Verhalten zwingt, als »Gewalt« gewertet wird. Die obersten Strafrichter wären in ihren nicht immer verständlichen Entscheidungen relativ unangreifbar gewesen, wenn sie die vom »Notzüchtiger« planmäßig herbeigeführte Vereitelung einer Fluchtmöglichkeit zur Erzwingung des Geschlechtsverkehrs auch als Gewalt gewertet hätten. Doch nach ihrem nicht mehr nachvollziehbaren Selbstverständnis - von keinem dieser Richter wird eine ihrer Töchter so missbraucht worden sein wie das Lehrmädchen - haben sie ein und dieselbe gesetzliche Bestimmung bei gleichem Wortlaut unter unterschiedlicher Interpretation des Gewaltbegriffs beide Male falsch angewandt und so einem unter den legalistischen Sicherungen des Grundgesetzes demokratisch zustande gekommenen Gesetz so zur Geltung verholfen, wie es ihre Vor-Urteile zuließen oder erforderten. Das im SPIEGEL-Essay aufgezeigte unsinnige Ergebnis schien unsere höchsten Strafrichter nicht zu irritieren. Am 15.03.95 korrigierte das BVerfG mit 5 gegen 3 Stimmen seine seit 1986 damals mit 4 gegen 4 Stimmen gefasste und trotz vielfältiger Kritik bis 1995 aufrechterhaltene Rechtsprechung zum Gewaltbegriff wegen bisheriger "mangelnder Bestimmtheit" derart, dass friedliche Sitzblockaden (vor militärischen Einrichtungen) nun nicht mehr als »Gewalt« interpretiert und nun nicht mehr gemäß dem Nötigungsparagraphen § 240 StGB abgeurteilt werden dürfen. Unberührt bleibe aber eine Wertung als ordnungsrechtlicher Verstoß bei z.B. Verstößen gegen das Verkehrs- oder das Versammlungsrecht. Die jahrzehntelange willkürliche Rechtsprechung zum Gewaltbegriff, der zufolge Bergleute, die in der morgendlichen Rush-hour stundenlang eine Rheinbrücke blockiert hatten, um gegen den Verlust ihres Arbeitsplatzes, LKW-Fahrer, die Straßen blockiert hatten, um gegen ihre Arbeitsbedingungen und Bürger, die sich auf Straßenbahnschienen gesetzt hatten, um gegen Gebührenerhöhungen zu protestieren, unbehelligt blieben, Bürger aber, die in Mutlangen, Schwäbisch Gmünd oder Bitburg vor Kasernen- oder Munitionsdepottoren gesessen hatten mit Geld- und gelegentlich sogar mit Freiheitsstrafe überzogen hatte, konnte dem normalen Menschenverstand, insbesondere eines Nicht-Juristen, ja nicht mehr vermittelt werden! Nunmehr urteilte unser höchstes Gericht, es sei eine unzulässige Ausweitung des »Gewalt«-Begriffes, wenn dafür bereits "die körperliche Anwesenheit an einer Stelle" genüge, "die ein anderer einnehmen oder passieren möchte“. So hatten es aber die Wächter unseres Grundgesetzes 9 Jahre lang selber dekretiert! Wir erkennen: Auch das Bundesverfassungsgericht irrt vorurteilsbezogen!

2.8.7 Willfährige und/oder dogmatisierte Richter als Büttel der Staatsmacht setz(t)en legalisiertes Unrecht durch

285

Willfähri ge und/oder dogmatis ierte Richter als Büttel der Staatsma cht setz(t)en legalisier tes Unrecht durch

Aber auch wenn Gesetze offensichtlich ungerecht und Unrecht waren, haben trotzdem immer wieder willfährige Richter bei ihrer Durchsetzung geholfen! Ein Beispiel hierfür aus der jüngsten deutschen Vergangenheit sind die vorstehend schon angesprochenen »Nürnberger Rassengesetze« der Nazis, durch die Deutsche jüdischen Glaubens (in einer schon seit April 1933 ergangenen, rund 50 gleichgerichtete Einzelgesetze umfassenden, jetzt die Entwicklung nunmehr zunächst vorläufig abschließenden diskriminierenden Gesetzgebung) völlig rechtlos gestellt worden sind und durch die die rechtliche Grundlage für die Verfolgung der deutschen Juden im großen Stile und für weitere darauf zielende Nazi-Gesetzgebung und dann die physische Vernichtung dieser Deutschen und ihrer ausländischen Glaubensgenossen bereitet worden ist. Das hätte man auch mit allen Katholiken, Protestanten, Braun- oder Grünäugigen, Radfahrern, ... machen können, das wäre genauso (un-)»gerecht« gewesen! „Reichsbürgergesetz. Vom 15. September 1935. Der Reichstag hat einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: §1 ... §2 (1) Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen. ... §3 Der Reichsminister des Innern erläßt im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Nürnberg, den 15. September 1935, am Reichsparteitag der Freiheit.“ „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Vom 15. September 1935. Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: §1 (1) Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind. ... §2 Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes ist verboten. ... §4 (1) Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben verboten. (2) Dagegen ist ihnen das Zeigen der jüdischen Farben gestattet. Die Ausübung dieser Befugnis steht unter staatlichem Schutz. §5 (1) Wer dem Verbot des § 1 zuwiderhandelt, wird mit Zuchthaus bestraft. (2) Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder mit Zuchthaus bestraft. ...“ Und was war, wenn sich eine deutsche Frau einen jüdischen Liebhaber hielt? Das wäre vom Gesetzeswortlaut her nur verboten, aber nicht strafbar. Doch eine fehlende Strafbestimmung, ein Redaktionsversehen des von den Nazis beherrschten Reichstags als Gesetzgeber hielt doch keinen fanatisierten Nazi-Richter auf, wie wir noch an

286

einem exemplarischen Beispiel sehen werden. Die Nazis schufen zu diesem Zweck die Regelung, dass auch dann gestraft werden solle, wenn kein Verstoß gegen ein Gesetz vorliege, „das (an der Nazi-Ideologie ausgerichtete) gesunde Volksempfinden“ gleichwohl eine Bestrafung fordere. Und Richter kamen dem nach! Die in § 4 II 2 des vorstehenden Gesetzes zum Ausdruck kommende Heuchelei und Verhöhnung der Deutschen jüdischen Glaubens mündete dann später in die letztlich tödliche Verpflichtung, in Wiederbelebung der im Mittelalter den Juden gesetzlich vorgegebenen Verpflichtung, einen spitzen, meist gelben, Judenhut tragen zu müssen, nun einen gelben "Judenstern" an der Kleidung tragen zu müssen, in KZs abtransportiert zu werden und dort völlig rechtlos der Vernichtung preisgegeben zu sein. Mit diesen Gesetzen oder auf deren Grundlage waren ganze Bevölkerungsteile, zu vorderst die Deutschen jüdischen Glaubens, zunächst gesellschaftlich isoliert und diskriminiert, später dann - in letzter Konsequenz getötet worden. (Weil die Shoa - zur Vermeidung öffentlichen, insbesondere ausländischen Aufsehens außerhalb des durch Gesetze geregelten Rechtssystems ohne jegliche gesetzliche Grundlage stattfand, wird sie in diesem Rechtskundebuch nicht näher dargestellt.) Als ein Beispiel für die Willfährigkeit rückgratloser, der NS-Ideologie sich verpflichtet gefühlt habender Richter sei hier angeführt: Auf der Grundlage des Blutschutzgesetzes war von der Rassenschutzkammer des durch viele auf Grund der NSIdeologie ergangene Urteile unrühmlich hervorgetretenen Hamburger Landgerichts nach extensiver Auslegung der vorstehend aufgeführten Bestimmungen zu Lasten des Beschuldigten ein (jüdischer) Angeklagter wegen vollendeter "Rassenschande" (Geschlechtsverkehr zwischen jüdischen und arischen Un-Rechtsunterworfenen) zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt worden, der seine Freundin nur geküsst hatte und dadurch (nach wohl in der Verhandlung herausgekitzeltem Eingeständnis) sexuell erregt worden war. Andere Oberlandesgerichte waren sich dagegen darin einig gewesen, dass reine "Liebeswerbungen" nach natürlicher Betrachtung (noch) keine geschlechtliche Betätigung, geschweige denn Geschlechtsverkehr sein könnten, nicht so aber die nationalsozialistisch besonders verblendeten Richter der Rassenschutzkammer des Hanseatischen Oberlandesgerichtes und ihre Kollegen an anderen Hamburger Gerichten. (Von dem Hanseatischen Sondergericht sind mit mindestens 230 Todesurteilen in den sechs Jahren von 1939 - 1945 so viele Todesurteile gefällt worden wie von der in dieser Beziehung in Europa auch nicht gerade zimperlichen DDR mit 237 in vierzig Jahren. Dazu kommen noch die Todesurteile des Hanseatischen Oberlandesgerichts.) Auch bei der Umsetzung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14.07.33 hat die Hamburger Justiz eine unrühmliche Vorreiterrolle gespielt und zweieinhalbmal so viele Menschen zwangssterilisieren lassen wie im Reichsdurchschnitt. Rund 400.000 Menschen waren in Deutschland von dieser Auswirkung "nationalsozialistischen Rechts" betroffen, das von 205 Erbgesundheitsgerichten und 20 Erbgesundheitsobergerichten gesprochen wurde.

2.8.8 Rechtsanalogien in der Hand fanatisierter Richter im Strafrecht Rechtsanalo gien in der Hand fanatisierter Richter im Strafrecht

Extensive Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung oder eine Verurteilung gar auf Grund einer den Angeklagten belastenden - und daher in einem Rechtsstaat verbotenen - Analogie zu einem bestehenden, aber auf den abzuurteilenden Einzelfall wegen der Tatbestandssperre des Wortlauts der zugrunde gelegten Norm an sich nicht passenden Gesetz bedeutet im Strafrecht, des Staates schärfstem Schwert, dass ein nicht einschlägiges Gesetz von willfährigen Richtern auf die strafjuristische Streckbank gelegt und so gezerrt und gestreckt wird, dass die Richter in bewusster uferloser Überschreitung sowohl des im Wortlaut des Gesetzes vorgegebenen gesetzlichen Tatbestandes wie auch seiner höchstens zulässigen Bedeutungsauslegung doch noch zu einer von ihnen gewollten Verurteilung kommen. Schließlich orientieren sie sich (angeblich) an dem von ihnen so verstandenen »Recht« – ihren ideologiegeprägten Vorurteilen -, dem das zu enge Gesetz durch unzulässige Auslegungskunststückchen wie ein zu eng gewordenes Kleidungsstück durch das Auftrennen von Nähten angepasst wird. Diese das Kleidungsstück Gesetz überstrapazierende Vorgehensweise glauben sie nach ihrem Selbstverständnis dem ihnen anvertrauten Richteramt schuldig zu sein! Nur unter Anwendung des juristischen Prokrustesbettes einer (über)extensiven Auslegung hatten z.B. die Hamburger Richter einen Kuss als "außerehelichen Verkehr" umdeuten und so zu der angestrebten Verurteilung gelangen können. Ähnlich bei einer (heute aus rechtsstaatlichen Gründen verbotenen) Analogie zu Lasten des Täters. (Eine Analogie zu Gunsten eines Täters oder Klägers ist in allen Rechtsgebieten gestattet - auch wenn das im Zivilrecht zwangsläufig die Benachteiligung der anderen Prozesspartei/en zur Folge hat.) Der Schriftsteller Ernst Niekisch bezeichnete solche belastenden Rechtsanalogien im Strafrecht als "heimtückische Veranstaltungen", die zu dem alleinigen Zweck geschaffen seien, "jeden standhaften Gegner ins Zuchthaus zu schicken, obschon schlechthin kein Gesetz besteht, gegen das er sich jemals vergangen hätte". Solche (Un-)Rechtsprechung ist durch das

287

damals oberste deutsche Gericht, das Reichsgericht in Leipzig, gedeckt worden. Bei erster sich bietender Gelegenheit hatte der Große, für Grundsatzfragen zuständige Senat des Reichsgerichts am 09.12.1936 entschieden, dass die Strafdrohung des § 2 Blutschutzgesetz über den Wortlaut und jede Bedeutungsnähe hinaus auf fast jede Art von sexueller Intimität zu erweitern sei: "Der Begriff Geschlechtsverkehr im Sinne des Blutschutzgesetzes umfaßt nicht jede unzüchtige Handlung, ist aber auch nicht auf den Beischlaf beschränkt. Er umfaßt den gesamten natürlichen und naturwidrigen Geschlechtsverkehr, also außer dem Beischlaf auch alle geschlechtlichen Betätigungen mit einem Angehörigen des anderen Geschlechtes, die nach Art ihrer Vornahme bestimmt sind, an Stelle des Beischlafs der Befriedigung des Geschlechtstriebes mindestens des einen Teiles zu dienen. Gründe: Die Vorschrift des § 2 des Ges. zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, die den außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes verbietet, hat der § 11 der ersten AusfVO. erläutert, danach ist außerehelicher Verkehr nur der Geschlechtsverkehr. Was unter Geschlechtsverkehr zu verstehen ist, ist der Auslegung überlassen worden. Einer ... Begrenzung, die das Wort `Geschlechtsverkehr' mit dem Ausdruck `Beischlaf' gleichsetzen würde, steht ... entgegen, daß sie die Gerichte vor mitunter kaum überwindliche Beweisschwierigkeiten stellen und zur Erörterung über die heikelsten Fragen zwingen würde. Eine weitere Auslegung ist aber auch deshalb geboten, weil die Vorschriften des Gesetzes nicht nur dem Schutz des deutschen Blutes, sondern auch dem Schutze der deutschen Ehre dienen. Dies erfordert, daß ebenso wie der Beischlaf auch solche geschlechtlichen Betätigungen - Handlungen und Duldungen - zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes unterbleiben, durch die der eine Teil seinen Geschlechtstrieb auf einem anderen Weg als durch Vollziehung des Beischlafs befriedigen will."42 Mit anderen Worten: Wenn wir Richter uns in Beweisschwierigkeiten befinden könnten, aber gleichwohl zu einer Verurteilung kommen wollen, dann tun wir das, ohne uns von dem eingrenzenden Wortlaut selbst des für sich allein schon schändlichen Nazi-Gesetzes daran hindern zu lassen! Auch diese Richter hatten früher gelernt, dass die Rechtsgrundsätze: "Nullum crimen, nulla poena sine lege (stricta)" ["Kein Verbrechen, keine Strafe ohne ein (den Tatbestand genau angebendes) entsprechendes Gesetz"] und "In dubio pro reo!" ["Im Zweifel für den Angeklagten!"] die wohl fundamentalsten Rechtsgrundsätze im Strafrecht zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt sind. Heute kann sich jeder wieder auf die Geltung dieser beiden Fundamentalgrundsätze verlassen. „Sind wenigstens ihre Albträume strenger als der Richter? Sie tötete ihr Baby! Strafe: 750 Euro Von NICOLE BIEWALD Erfurt - Das Baby lag erstickt hinter dem Sofa. Getötet von seiner eigenen Mutter. Sie ist Gymnasiastin, sie ist sehr hübsch. Muss sie für ihre Tat ins Gefängnis? Nein! Gilt sie jetzt als vorbestraft? Nicht mal das! Doch wie werden ihre Träume mit ihr ins Gericht gehen? Der Totschlags-Prozess vor der Jugend-Strafkammer in Erfurt. Gymnasiastin Anja B. (19) sagt aus, sie habe die Pille vergessen. Das Baby sei von ihrem Freund. Dass sie schwanger war, habe sie nicht bemerkt. Trotz ihrer hohen Intelligenz (IQ von 123). Auch sonst sei es keinem aufgefallen. Die Geburt in ihrem Zimmer: Es war ein Junge, 1940 Gramm Leben, 46 cm groß. Als das Kind von Anjas Mutter gefunden wurde, steckte es tot hinter der Couch. In einer Plastiktüte. Ungläubige Blicke, als die Gymnasiastin erklärt: „An die Geburt kann ich mich überhaupt 42

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGStE) 70. Band, S. 375 ff; zitiert nach Hirsch u.a. a.a.O. S. 492

288 nicht erinnern. Da ist eine Blockade.“ Richter Holger Pröbstel (selbst zwei Kinder). „Wenn Sie das hier alles vorspielen, sind Sie Oscar-reif.“ Die zwei Gutachten bringen den Richter nicht weiter. Das eine glaubt ihr, spricht von Affektzustand bei der Geburt und einer „Persönlichkeitsstörung“ (durch viel Alkohol seit früher Jugend). Das andere bezweifelt, dass sie von der Schwangerschaft nichts mitbekam. Ergebnis der Obduktion: Das Baby wurde mit „weichem Material“ erstickt. Einem Kissen? Aber es sei auch möglich, dass es durch „Aufliegen“ auf dem Bettvorleger erstickte – und die Gymnasiastin nicht half. Also nur fahrlässige Tötung durch Unterlassen. Der Richter: „Lieber lass ich einen Schuldigen entkommen, als einen Unschuldigen einzusperren.“ Sein Urteil: eine Verwarnung – und 750 Euro an „Pro Familia“.“ (Bild.de 16.07.03)

Durch die Anwendung des Grundsatzes "In dubio pro reo" kann man zwar einer Verurteilung aus dem ursprünglich anvisierten und nur möglicherweise begangenen Regelverstoß entgehen, sich aber durch seine Verdeckungsmaßnahme/n gleichwohl aus einem anderen Delikt strafbar machen. Die Polizei wird in dem nachfolgenden Fall zunächst nur im Rahmen einer allgemeinen Verkehrskontrolle tätig geworden sein und darum keine eigenen genauen Messungen vorgenommen haben. Die Meldung macht ja nur Sinn, wenn sie keine eigenen Messungen vorweisen konnte: "Fast-Food dpa Fürth - Ein LKW-Fahrer hat den Begriff Fast-Food wörtlich genommen. Bei einer Polizeikontrolle verschluckte er die Scheibe des Fahrtenschreibers. Zwar kann der 29jährige nicht mehr wegen zu schnellen Fahrens belangt werden, dafür aber wegen Urkundenunterdrückung."

2.8.9 Zivilrichter sorgten in der NS-Zeit für den "bürgerlichen Tod", Strafrichter schickten den Henker hinterher Zivilricht er sorgten in der NS-Zeit für den »bürgerli chen Tod«, Strafricht er schickten den Henker hinterher

In der Weimarer Republik aber wurde die über viele Jahrhunderte unter Opferung aller Unschuldiger schwer erkämpfte - insbesondere strafrechtliche - Rechtskultur letztlich von den obersten deutschen Richtern des Reichsgerichts durch exzessive rassenideologisch geprägte Auslegungen und Analogiebildungen zu Lasten des Angeklagten auf den Müllhaufen der deutschen Strafjustiz geworfen. Was hatte es z.B. für Mühen couragierter fortschrittlicher, für ihre Überzeugungen teilweise sogar das eigene Leben gefährdender Juristen - wie z.B. eines als Jesuitenpater und letzter Beichtvater angeblicher »Hexen« vor deren Hinrichtung nach Einblick in die erfolterten »Geständnisse« gegen die Inquisitionsgerichte der Hexenverfolgungen kämpfenden Friedrich Spee von Langenfeld (1591–1635) - und Tränen und Qualen der unschuldigen Opfer gekostet, von den Gottesurteilen oder den durch Folter erpressten »Geständnissen« als Beweismitteln loszukommen und statt dessen im Falle der Nichterweislichkeit eher auf einen Strafausspruch zu verzichten, als eventuell Unschuldige zu »foltergeständigen Schuldigen« zu machen. Diese Abkehr des Reichsgerichts von der unter schwersten Opfern in Jahrhunderten mühsamst erarbeiteten Rechtskultur zurück in das dämonische und teilweise diabolische Zeitalter der Justiz war einer der vielen Schritte des obersten deutschen Zivil- und Strafgerichts vom Wahrer der deutschen Rechtseinheit und Hüter der Rechtskultur zum willfährigen Büttel eines Verbrecherregimes. Indem die Richter das Unrecht förderten, öffneten sie das Tor zur Hölle: Die Zivilrichter verschafften den in ihre Fänge geratenen Unrechtsunterworfenen den »bürgerlichen Tod«, die Strafrichter schickten den Henker hinterher. Die Tränen und Qualen der Opfer in den Gestapo-Gefängnissen waren nicht geringer als zu der dämonischen Zeit der deutschen Justiz! Wie das im Einzelnen funktionierte, wird noch exemplarisch ausführlicher dargestellt werden, wenn die Abschaffung »des Rechts« durch legal erlassene Gesetze in der Zeit der Nazi-Diktatur abgehandelt werden wird.

289

Die neuere deutsche Rechtsge schichte ist eine Geschich te der Gesinnun gsjustiz

2.8.10 Die neuere deutsche Rechtsgeschichte in der NS- und der SED-Diktatur ist eine Geschichte der Gesinnungsjustiz „Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure, als an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz!“ Ein solcher Ausspruch hat natürlich eine leidvolle Vorgeschichte. Viele deutsche Richter haben sowohl in der Kaiser-, wie auch in der NS- und der SED-Zeit ihre weitverbreitete Rückgratlosigkeit durch zu nahe Anbindung an Thron und Altar oder die herrschende Partei in erschreckendem Maße unter Beweis gestellt! Aus jeder dieser Epochen gibt es Belege für politisch-ideologisch motivierte, durch Rechtsbeugung bewusst gefällte Fehlurteile einer Klassen- oder parteiideologischen Gesinnungsjustiz. Zur Klarstellung sei hervorgehoben, was das LG Verden 1996 einer Richterin bescheinigte, die von der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Rechtsbeugung angeklagt worden war, weil sie in 20 Fällen Temposünder mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 40 km/h auf der Autobahn zwar mit hohen Geldstrafen belegt, aber auf die Verhängung des im Bußgeldkatalog darüber hinaus als in Betracht kommend vorgesehenen Fahrverbotes von einem Monat verzichtet hatte, weil - im Gegensatz zum Stadtverkehr - keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet worden waren oder andere Gründe vorlagen, so dass ihr - wie z.B. im Falle eines auf einen Rollstuhl angewiesenen Rentners mit zusätzlich einem behinderten Kind - die Einziehung der Fahrerlaubnis als eine »Übermaß-Strafe« erschienen wäre. Als vier der vom OLG aufgehobenen Urteile wieder bei ihr landeten, duckte sie sich nicht unter die höhere Weisheit des OLG und zog - unter Missachtung der Rechtsauffassung des OLG - immer noch nicht die Fahrerlaubnis ein, sondern pochte auf ihre richterliche Unabhängigkeit. Die im Katalog vorgesehenen Standardstrafen seien in der vom OLG gewollten Stringenz verfassungswidrig, da ihr als Richterin so kein Spielraum für die Feststellung individueller Schuld gelassen werde. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft, vom OLG auf die Fährte gesetzt, ein Strafverfahren gegen die in 23 Berufsjahren ehrbar ergraute Richterin ein. Den Anklagevorwurf der Rechtsbeugung versuchte die Staatsanwaltschaft mit der Begründung zu untermauern: „Ohne den Sachverhalt zu ermitteln haben Sie sich über die bindende Ansicht des OLG Celle hinweggesetzt. ... Wenn man die [zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung ergehende; d. Verf.] Rechtsbindung des OLG nicht beachtet, dann ist das auch Rechtsbeugung.“ Die StA forderte in ihrem Strafantrag von dem LG Verden für die angeklagte Richterin eine zweijährige Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt werden sollte, und zusätzlich 10.000 Mark (ca. 5.000 Euro) Geldstrafe! Eine maßvolle Strafe, wenn man für die Beurteilung zu Grunde legen würde, wie der persische Großkönig Dareios der Große (521-486 v. Chr.) Richter bestrafen ließ, die das Recht gebeugt hatten: Sie wurden bei lebendigem Leibe gehäutet, und mit ihrer Haut wurde der Richterstuhl bezogen – als warnendes Beispiel für den Nachfolger. Unter den heutigen Maßstäben des § 336 StGB als Verbrechen mit der Strafdrohung einer Freiheitsstrafe „von einem Jahr bis zu fünf Jahren“ vielleicht auch eine recht maßvolle Strafforderung – aber nicht für das, was die Richterin - nicht - getan hatte. Die Richterin äußerte sich der Presse gegenüber dahingehend, ihr Delikt sei, dass sie, indem sie auf ihrer Rechtsauffassung beharrte, „Majestätsbeleidigung gegenüber dem OLG“ begangen habe. Am Ende der viertägigen Verhandlung attestierte ihr der über ihr Verhalten urteilende Vorsitzende Richter des LG Verden mit kritischem Blick auf das OLG Celle: „Anderer Rechtsauffassung zu sein, ist keine Rechtsbeugung.“ Richterin Frerker hatte - im Gegensatz zu den NS-Richtern - keine ideologisch motivierte Gesinnungsjustiz begangen, sondern wohl erwogene Einzelurteile gefällt. „Mutter Gnädig“ (Ortspresse) wurde u.a. auch deswegen freigesprochen, weil es in dem Bußgeldkatalog heißt: „Ein Fahrverbot kommt in der Regel in Betracht, ...“, was dem Richter vom Gesetzeswortlaut her einen Ermessensspielraum eröffnet, auch wenn der dem OLG Celle nicht passte. Die Urteile der NS- und der SED-Richter hingegen waren in politisch motivierten Rechtsstreiten ja gerade der Staatsmacht gegenüber willfährige Unrechts-, teilweise sogar Vernichtungsurteile gewesen, die nicht auf unterschiedlicher Rechtsauffassung, sondern auf gleicher Unrechtsauffassung wie der der Staatspartei gründeten, im Falle der SED-Richter teilweise vom MfS in „Drehbüchern“ für den Ablauf des Prozesses bis in die einzelnen zu stellenden Fragen und den das getürkte Verfahren abschließenden Strafausspruch vorgegeben waren. Die junge Bundesrepublik hatte sich bei ihrem Neustart von den personellen Schatten der NS-Justiz nicht ganz frei gemacht: In einem juristischen Kommentar der NS-Zeit sind z.B. die Nürnberger Schandgesetze von dem Juristen Globke für die praktische Rechtsanwendung aufbereitet worden. Der durch seine NS-Justiztätigkeit nach demokratischem Verständnis an sich diskreditierte, ja gebrandmarkte Globke stieg trotz dieser allseits bekannten, ihn unter Demokraten an sich untragbar machenden NS-Belastung unter Adenauer bis zum

290

Staatssekretär auf - was den die Politik der Bundesrepublik in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik dominierenden Rechtskonservativen von „den Linken“ diesseits und jenseits der Mauer immer wieder vorgeworfen wurde und von den Machthabern der DDR immer wieder der gesamten politischen Klasse der Bundesrepublik vorgehalten worden war. Die DDR hatte sich von durch NS-Kumpanei, Mitläufertum oder NS(Un)Rechtsprechung belasteten Juristen meist viel konsequenter getrennt - um ihre eigenen Kumpane, Mitläufer und Unrechts-Richter in insbesondere der politischen Strafjustiz heranzuziehen und im Justizdienst einzusetzen. Doch längst nicht jeder NS-Richter ist von der DDR entlassen worden. Wer sich abduckte, Wohlverhalten zeigte und nicht weiter auffiel oder braun mit rot engagiert vertauschte, durfte auch dort im Justizdienst bleiben. Ähnlich war es mit Vertretern anderer Berufsgruppen: Gegen die Ärztin Rosemarie Albrecht wurde 2004 Anklage wegen Mordes erhoben. Dieser „Verdiente Arzt des Volkes“ soll während der NS-Zeit in Euthanasiemorde verstrickt gewesen sein, u.a. ist der Mord an Selma Albrecht aktenmäßig so gut belegt, dass Anklage erhoben wurde. Weil sie in der DDR Karriere gemacht, Mitglied der Akademie der Wissenschaften geworden war und die Aufdeckung ihres Falles einen Prestigeverlust für die DDR bedeutet hätte, hatte das MfS nach ersten Ermittlungen die Sache niedergeschlagen: „’Die Aufdeckung der vermutlichen EuthanasieVerbrechen in Stadtroda bedeutet, dass die national anerkannte und international bekannte Dr. Albrecht in das Untersuchungsverfahren einbezogen werden muß.’ Das MfS stellt die Ermittlungen ein: Die ’Auswertung’ könnte ’ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis’ zu Tage fördern. Die Akte wird mit Sperrvermerk geschlossen“ (STERN 26.08.04). So steht es in der bei der Gauck-Behörde gefundenen Akte „Ausmerzer“. Jede Diktatur ist auf willfährige Richter und Verwaltungsjuristen angewiesen. Jede Diktatur hat bisher immer rückgratlose, beförderungsgeile, machtwillige Juristen in ausreichend großer Zahl zur juristisch abgesicherten Unterdrückung der ihr unterworfenen Bevölkerung gefunden. Und wenn Sie keine weitere Erkenntnis aus der Lektüre diese Buches behalten, dann doch hoffentlich diese eine: Es gibt leider keine staatlicherseits begangene Schandtat und kein staatlicherseits begangenes Verbrechen, das nicht von willfährigen Juristen im Dienste der jeweiligen Machthaber zumindest gebilligt, ja sogar meistens mit einem Mäntelchen der Scheinrechtfertigung umhüllt und als angebliches Recht ausgegeben worden wäre! In der deutschen Geschichte finden sich dafür leider zu viele Beispiele.

2.8.11 "Kein Verbrechen, keine Strafe ohne entsprechendes Gesetz" Nach den schauerlichen Erfahrungen mit den Spitzen-Strafjuristen der NS-Zeit in den höchsten deutschen Gerichten bestimmt nunmehr Art. 103 II GG als eines der justiziellen Grundrechte: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Der in dieser Formulierung zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke "Kein Verbrec hen, keine Strafe ohne entsprec hendes Gesetz"

"nullum crimen, nulla poena sine lege (stricta)" ["Kein Verbrechen, keine Strafe ohne ein (den Tatbestand genau angebendes) entsprechendes Gesetz"] schließt das rechtsstaatliche Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit einer Strafbestimmung mit ein. Dieses Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit umfasst sowohl die Schilderung des gesetzlichen Tatbestandes mit der damit verbundenen Garantiefunktion, wie auch die Bestimmtheit des Strafrahmens. An Letzterer fehlte es z.B. im Nazi-Deutschland nach dem Inkrafttreten der 5. Verordnung zur Ergänzung des Kriegssonderstrafrechts vom 05.05.44; von diesem Tag an konnten für alle Delikte alle Strafen einschließlich der Todesstrafe verhängt werden, „... wenn der regelmäßige Strafrahmen nach gesundem Volksempfinden zur Sühne nicht ausreicht.“

2.8.12 Problemfeld: Hinreichende Bestimmtheit einer Strafbestimmung und "offene Rechtsbegriffe"

291

Hinreiche nde Bestimmthei t einer Strafbesti mmung und "offene Rechtsbe griffe“

In einem Rechtsstaat darf niemand auf Grund von Formulierungen mit letztlich undefinierten und dadurch nicht hinreichend bestimmten "offenen Rechtsbegriffen" belastenden staatlichen Maßnahmen ausgeliefert oder gar verurteilt werden, wie z.B. Verstoß gegen die "deutsche Ehre", gegen das "gesunde Volksempfinden" und die "Liebe zum Führer" in der Nazi-Gesetzgebung, "sozialistische Errungenschaften" in Art. 1 StGB-DDR, Verstoß gegen die "Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens" in § 215 StGB-DDR, Rowdytum und "Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit" in § 214 StGB-DDR usw., worunter man alles und jedes (miss-)verstehen konnte, wenn man es so wollte. (Und in politisch auch nur angehauchten Prozessen wollte man es immer!) Jede Rechtsordnung muss mit solchen Begriffen arbeiten, um die vielfältigen sozialen Phänomene gedanklich und sprachlich so in den Griff zu bekommen, dass sie juristisch handhabbar werden. Als einen Tag vor dem Beginn der Olympiade 2004 in Athen durch eine überraschende Dopingkontrolle zwei der vorher schon des langjährigen Dopings verdächtigen griechischen Sprinter-Medaillenhoffnungen durch Urinprobe und Blutabnahme des Dopings überführt zu werden drohten, flohen sie aus dem von ihnen schon bezogenen olympischen Dorf und inszenierten einen Unfall mit dem Motorrad ihres ebenfalls schon seit Jahren der Beteiligung am Doping der von ihm betreuten Athleten verdächtigen Trainers mit dem bezeichnenden Spitznamen „Der Dealer“, von dem inzwischen bekannt ist, dass er sich auf Dopingmittel stürzt wie die Termiten auf das Holz. Bei dem getürkten Unfall wurde das Motorrad an der linken Seite leicht beschädigt; die beiden Athleten wiesen aber leichte Schrammen an ihren rechten Körperseiten auf: sie müssen auf dem Motorrad rittlings durch Athens Süden gerast sein – wurden aber in ein Krankenhaus im Norden der Stadt eingeliefert, wo man, so wurde gemutmaßt, eine Blutwäsche vorzunehmen versucht haben könnte. Lügen haben kurze Beine, und das ist für Läufer schlecht. Nachdem das Lügengebäude zusammengestürzt war, fühlte sich das Gastgeberland bis auf die Knochen blamiert und die ehemaligen Nationalhelden wurden in den Orkus der öffentlichen Meinung geschickt: „’Es ist eine Schande für Griechenland’, sagte Staatspräsident Konstantinos Stefanopoulos. Das Justizministerium soll inzwischen sogar erwägen, die gestrauchelten Läufer wegen ’Verunglimpfung des Landes’ anklagen zu lassen.“ (STERN 19.08.04) Sollte es diesen Straftatbestand der ’Verunglimpfung des Landes’ wirklich geben, wäre das ein klassischer Fall eines unbestimmten offenen Rechtsbegriffes. "Gummiparagraphen" erfüllen nicht das Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes. Sie müssen zur Not an den Grundrechten orientiert verfassungskonform ausgelegt werden, aber eben nach "bürgerlichem" und nicht nach nationalsozialistischem oder »volksdemokratisch«-kommunistischem Rechtsverständnis; verfassungs- und nicht parteiideologiekonform wie zu Zeiten der braunen Faschisten in der Weimarer Republik oder der roten Faschisten zu Zeiten der SED-Herrschaft. Eine solche von unseren obersten Richtern jahrzehntelang nicht gemeisterte Hürde bildet, wie schon aufgezeigt, der Gewaltbegriff in § 240 StGB Nötigung. In neuerer Zeit drehte sich die Diskussion um offene Rechtsbegriffe wie z.B. den des „Hasspredigers“. Ab wann ist jemand ein solcher, zu staatlichen Abwehrmaßnahmen bis zur Ausweisung berechtigender „Hass/Dschihadprediger“, da es in Art. 5 I 1/ 1. HS GG heißt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten ...“ und eine der Einschränkungen in dessen Abs. II/ 1. HS schon jetzt lautet: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, ...“? Sicher ist derjenige muslimische Prediger dazu zu rechnen, der laut Aussage des bayerischen Innenministers seine Freitagspredigten immer mit dem Ausruf schließe: „Tod allen Ungläubigen! Tod allen Christen!“ Aber die Gefahr besteht, dass eine (möglicherweise provozierte) prononciert scharfe Äußerung eines Imams in eine angebliche Hasspredigt verdreht wird! Das behauptet ein in Berlin mit seinen Reden aufgefallener Imam aus dem Dunstkreis von Milli Görüs, der daraufhin vom Berliner Innensenator eine sofortige Ausreiseverfügung zugestellt erhielt. Gegen den sofortigen Vollzug klagte er vor dem BVerfG: Er habe nur ein selbstverfasstes Gedicht vorgetragen, dass falsch übersetzt und daher missverstanden worden sei. Der Imam bekam zunächst einmal insoweit Recht, dass die sofortige Vollziehung ausgesetzt wurde, weil das BVerfG nicht die Notwendigkeit einer Eilverfügung erkenn konnte und das Verfahren nach Berlin zurück verwies. Weitere offene Rechtsbegriffe aus der politischen Diskussion sind in diesem Zusammenhang die des „potenziellen Gefährders“, des „Gefährders“ und seiner Brüder im Geiste, des „islamistischen Gefährders“ und des „Toppgefährders“, des „Islamisten“, des „islamischen/islamistischen Extremisten“, des „radikalen Muslim“ und seines „terroristischen Hintergrundes“ wie z.B. eines „mutmaßlichen Terroristenhelfers“, wenn jemand wie

292

ein daraufhin abgeschobener Jordanier zur Planung von Anschlägen auf jüdische und israelische Einrichtungen Geld für eine terroristische Gruppe sammelt . Unter diesen Begriffen sollen nach der politischen Diskussion die Muslime verstanden werden, die als potenziell gefährliche Mitbürger mit uns zusammenlebend in einer (nach CSU-Vorstellungen zu schaffenden) „Zentraldatei islamischer Extremisten“ mit ethnischer Herkunft und Religionszugehörigkeit erfasst werden sollen – was bei Schiiten nichts nützt, da die wegen der jahrhundertelangen Verfolgung durch die sunnitischen Muslime nach ihren religiösen Geboten ihren Glauben verleugnen dürfen, wenn sie für sich eine Gefährdung befürchten. Wertneutraler und darum vielseitiger verwendbar ist der ebenfalls offene Rechtsbegriff des „mutmaßlich gefährlichen Ausländers“, des „gefährlichen Extremisten“, insbesondere dann, wenn er „terrorverdächtig“ sein müsste, damit sein Aufenthalt bei uns auch dann zwangsweise beendet werden könnte, wenn ihm hier noch kein Verstoß gegen eine Rechtsnorm nachgewiesen werden kann. Ab wann ist jemand „terrorverdächtig“? Erst ab Besuch eines al-Kaida-Camps – oder schon wenn man jemanden kennt, der jemanden kennt? Wenn man selbst noch nichts irgendwie Anstoß Erregendes gemacht hat, sondern hier in der Fremde nur Kontakt zu einem Landsmann hat, ihn öfter trifft, sein Testament als Zeuge unterschreibt, ...? Die Auswirkung: Soll jemand eine bloße „Verdachtsabschiebung“ erdulden müssen, für die ca. 1.000-3.000 Muslime in Betracht kommen -, oder darf nur eine „tatsachengestützte Gefahrenprognose“ zu einer Abschiebung führen? Was soll ein juristisch zu fassender Begriff „Verdacht“ beinhalten, wie konkret muss der Verdacht sein? Der Zentralrat der Muslime in Deutschland befürchtet eine generelle Beargwöhnung aller Muslime durch eine Pauschalverdächtigung und sieht durch eine solche Zentraldatei alle Muslime unter Terrorverdacht gestellt. Wer nicht abgeschoben werden kann, weil ihm in seinem Heimatland droht, soll bis zu einer Höchstdauer von zwei Jahren in „Sicherheits-/Sicherungshaft“ genommen werden können. Einig ist man sich, dass jemand, der seinen Jahresurlaub in einem Al-Keida-/Al-Qaida-Trainingskamp mit Terrortraining verbracht hat, nicht zu den hier erwünschten Ausländern gehören darf. Aber wie soll/en die Vorstufe/n gerichtsfest definiert werden? Und wie weit sollen die Konsequenzen reichen? Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion während der 15. Legislaturperiode, der ehemalige Verwaltungsrichter und als MdB nebenbei als Rechtsanwalt tätige Wiefelspütz, will nachweislich gefährliche Ausländer selbst dann ausweisen lassen, „wenn sie schon jahrelange bei uns leben, eine deutsche Ehefrau und Familie haben.“ Ob das BVerfG das in Ansehung von Art. 6 GG: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“, so mitmachen wird, bleibt abzuwarten! Und dann gibt es ja eine Reihe von potenziell gefährlichen Ausländern, die trotz ihres bei der al-Kaida verbrachten spirituellen Erlebnisurlaubes nicht abgeschoben werden können, weil in ihren Heimatländern gefoltert wird und die auch von der Bundesrepublik Deutschland unterschriebene Anti-Folter-Konvention eine Abschiebung in solche Länder verbietet: Welche wie weit gehenden Konsequenzen sollen bezüglich solcher als „radikale Muslime“ oder ähnlich bezeichneten Menschen ergriffen werden können, ohne dass sich der Rechtsstaat aufgibt? Der Strafrechtprofessor Kreutzer äußerte sich in einem Interview DER WELT vom 01.06.04: Es „... darf sich der Rechtsstaat nicht auf eine schiefe Bahn begeben, indem er seine eigenen Prinzipien preisgibt mit der Begründung, man müsse sich der Mittel des Gegenübers anpassen. Es gibt Prinzipien, die er strikt einhalten muss. Ich nenne das Folterverbot, das muss absolut bleiben. Es ist aus der Menschenwürde abgeleitet, aber auch aus einem bestimmten Demokratieverständnis. Gerade der starke Staat muss sich selbst binden und sich Grenzen auferlegen, auch wenn es mitunter den einzelnen schmerzt. Wir dürfen nicht das Argument tolerieren, dass der Zweck die Mittel heiligt. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass solche Mittel gegenüber Tätern, die zu besonderen Mitteln greifen wie Atombomben oder Selbstmordattentaten, eingesetzt werden. Wenn wir das machen, begeben wir uns tendenziell auf die gleiche Ebene, und dann ist die Demokratie als solche, nämlich als zugleich grundrechtserhaltend, nicht mehr erkennbar. Die Freiheit stirbt millimeterweise. Ich befürchte, dass wir in einigen Bereichen bereits auf einer schiefen Bahn sind.“ Gleicher Ansicht ist der kanadische Rechtsprofessor Ignatieff, der formulierte: „Folter verletzt unser Versprechen auf die Würde des Menschen, das Herzstück unseres Wertesystems im Kampf gegen den Terror!“ Und der aus einer vor den Nazis nach Frankreich geflohenen jüdisch-deutschen Familie stammende französische Philosoph André Glucksmann fasste anlässlich des us-amerikanischen Folterskandals in dem irakischen Gefängnis Abu Ghureib in einem SPIEGEL-Interview (28.06.04) zusammen: „Folter ist moralisch unerträglich, politisch kontraproduktiv, strategisch absurd und menschlich verabscheuenswert. ... Wenn die Mittel furchtbar werden, zerstören sie die besten Ziele. Die Realität steht hier nicht im Gegensatz zum Ideal. Unter Folter erpresste Geständnisse fördern nicht unbedingt die Wahrheit zu Tage. Folter bringt die Bevölkerung gegen die Armeen auf, die sie anwenden, verschärft den Widerstand und mithin den Terror. Ich glaube nicht, dass es realistische Argumente gibt, die Folter legitimieren können. Alle moralischen Argumente verdammen sie.“ Die CDU schlug laut einer Meldung im DLF vom 01.05.04 die Schaffung einer gesetzlichen Möglichkeit für eine bis zu zwei Jahren dauernde Sicherheits-/Sicherungsinhaftierung vor. Dazu meint der gerade zitierte Strafrechtler in dem angeführten Interview weiter: „... Sicherheitshaft ohne konkreten Schuldnachweis und ohne

293

Ermittlungsverfahren wie sonst bei Straf- oder Untersuchungshaft. Das bedeutet, dass wir Menschen, weil wir sie für gefährlich halten, so behandeln, als hätten wir ihre Gefährlichkeit nachgewiesen. Der Unterschied zwischen einer Strafe und einer vorbeugenden Sicherheitshaft ist nicht mehr erkennbar.“

2.8.13 Rechtsfragen sind oft Machtfragen Rechtsfrage n sind oft Machtfrage n

Auch heute und in Zukunft werden in den Parlamenten, vor und in den Gerichten bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht im Gewande der Verfassungs- und Gesetzesinterpretation Machtkämpfe ausgetragen, bei denen der juristische Argumentationsaufwand oftmals das dahinterstehende, durch eine bestimmte Weltsicht geprägte Interesse verdeckt. Schon der Staatsgerichtshof aus der Weimarer Republik hatte zutreffend angemerkt, dass "... im Hintergrund jedes Verfassungsstreites eine politische Frage steht, die geeignet ist, sich zur Machtfrage auszuwachsen." Dieser aufgezeigte Konflikt ist aber systemimmanent und muss ausgehalten werden, weil »Recht« keine festlegbare naturwissenschaftliche Größe ist. Aktuelles Beispiel aus nicht zu ferner Zeit ist der Kampf um die Neuregelung des § 218 StGB und die anderen damit im Zusammenhang stehenden gesetzlichen Bestimmungen.

2.8.14 Juristerei ist keine Mathematik, darum sind Rechtsfragen oft Wertungsfragen Wer sich auch nur ein bisschen mit der Juristerei befasst, dem drängt sich sehr schnell die Erkenntnis auf, dass juristische Entscheidungen in einer Vielzahl von Fällen nicht logisch zwingend, quasi mathematisch, aus den jeweils als einschlägig erachteten Paragraphen der angewandten Gesetze ableitbar sind. Sie fußen vielmehr im Gesetzgebungsverfahren letztlich auf der Wertung des einzelnen Mitgliedes der jeweiligen Gesetzgebungskörperschaft und in einem Urteilsverfahren auf den daraus ableitbaren Willensakten der an dem jeweiligen Verfahren beteiligten Juristen, z.B.: Wie steht der jeweilige Richter zum Schutze des ungeborenen Lebens? In Ländern mit gleicher oder teilweise besserer Rechtstradition, wie z.B. in Österreich und noch mehr in den Niederlanden, ist die Fristenlösung höchstrichterlich abgesegnet. In der Bundesrepublik war die vom Parlament mehrheitlich beschlossene Fristenlösung auf Antrag der Länder Bayern und Baden-Württemberg von den Verfassungsrichtern (entgegen einem Minderheitenvotum des mit der Entscheidung befassten Senats) mehrheitlich gestoppt worden. Ähnlich erging es 1993 der im Zuge der Vereinheitlichung des Rechts nach der Wiedervereinigung erarbeiteten Neuregelung des § 218 StGB. Richterberufungen an die obersten Gerichte eines Staates sind darum in jeder Gesellschaft reine Machtfragen und werden von den Parteien auch als solche gehandhabt! In den USA, in denen die obersten Richter auf Lebenszeit ernannt werden, vollzieht sich dieser Prozess wenigstens im Blickpunkt einer aufmerksamen Öffentlichkeit, denn solche Ernennungen beeinflussen naturgemäß und ganz erklärlich das gesamte Rechtsleben eines Staates durch die jahrelange Gültigkeit höchstrichterlich getroffener Entscheidungen. Rechtsfragen sind oft Wertung sfragen

Als Beleg dafür, dass »das Recht« auch von den zu seiner Anwendung und Auslegung berufenen Richtern immer wieder verkannt wird, braucht man nur eine juristische Fachzeitschrift aufzuschlagen und ein bisschen im Rechtsprechungsteil, der aktuelle Entscheidungen von einiger Bedeutung wiedergibt, zu blättern, um sofort eine Entscheidung z.B. einer Revisionsinstanz zu finden, die der Eingangs- und/oder Berufungsinstanz vorhält, dass dort jeweils falsch entschieden worden sei, obwohl auch die Richter der Vorinstanz/en die Urteilsformel benutzten: "Im Namen des Volkes ... erkennt das ... Gericht ... für Recht: ..." Bei manchen Urteilen kann man richtig vom Glauben abfallen! Deswegen gaben Professoren in Vorlesungen den durchaus ernst gemeinten Rat: „Wenn Sie in einem Fall aus dem zwischenmenschlichen Bereich nicht sicher sind, wie Sie sich entscheiden sollen, dann fragen Sie Ihre 80-jährige Großmutter mit all ihrer Lebenserfahrung. Begründungen sind relativ beliebig, die finden Sie dann schon.“ Und auch Bundesverfassungsrichter haben später zugegeben, dass sie sich trotz vielköpfiger Beratung der »Richter-Könige« auf der Grundlage von vorangegangenen Urteilen mit mitgelieferten Urteilsgründen, von Expertenanhörungen und der Vorarbeiten ihres wissenschaftlichen Stabes, des spöttisch oder in Selbstironie so genannten »dritten Senates«, mit einigen Entscheidungen geirrt haben. Trotzdem galt ihr Spruch und formte das Rechtsleben in unserem Staate auch in »falsch« entschiedenen Sachfragen.

294

2.8.15 Was ist dann „Recht«? Was aber ist „Recht«, wenn es so unterschiedlich interpretiert werden kann? Was ist dann »Recht«?

Jede Kultur hat religiöse Wurzeln, auch die Rechtskultur. Früher waren die obersten Priester oft wegen ihrer Funktion als Walter der Gottheit auch die obersten Richter. Aus ihrem jeweiligen Gottesverständnis heraus sprachen sie Recht. Und es gilt auch heute noch: Bei der Prägung oder Festlegung dessen, was »Recht« sein soll, sind »die letzten« und damit oft verfassungsrelevanten Wertentscheidungen weltanschaulich und oft sogar religiös gegründet. „Alle geschriebenen Gesetze sind Erläuterungen des Sittengesetzes“ (John Ruskin). Da muss man sich nicht erst vergegenwärtigen, welche rechtlichen Regelungen die Taliban-Milizen in den von ihnen kontrollierten Gebieten Afghanistans erlassen haben, z.B. das Arbeitsverbot für Frauen außerhalb des Hauses, so dass Kriegswitwen jegliche Möglichkeit genommen worden war, für ihre Kindern und sich das zum Lebensunterhalt Allernötigste zu verdienen. Und auch einige Jahre nach der Überwindung des Talibanregimes hat sich die Lage der von muslimischen Männern in Afghanistan unterdrückten Frauen nicht wesentlich gebessert, wie aus einem Bericht im STERN vom 14.10.04 über die Lage der Frauen in der ostpakistanischen Provinz Herat, der nachfolgend gekürzt widergegeben wird, hervorgeht: „Flucht ins Feuer Rund 150 Frauen setzten sich innerhalb von sechs Monaten in Herat, einer Stadt im Westen von Afghanistan, in Brand. Aus Angst, aus Scham, aus Verzweiflung. Ein Fanal, das mehr über das Land verrät als die Wahl am vergangenen Samstag. … Ohne Familie ist ein Mädchen nichts, und ein Vater verliert seine eigene Ehre mit der seiner Tochter. … Mehr als 150 Frauen haben sich allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres in der Provinz Herat in Brand gesteckt, im vergangenen Jahr waren es 160. Vielleicht liegt es an der Nähe zum Iran, an den afghanischen Frauen, die von dort zurückkehren nach Jahren im Exil. Im Iran konnten sie arbeiten und sich frei bewegen, das Leben hatte eine Zukunft. In Afghanistan bleibt davon nur eine Erinnerung, und das Einzige, was diese Frauen hinüberretteten, scheint die Freiheit zum Feuertod zu sein. … Unbestritten ist, dass es Frauen in Herat besonders schwer haben. Bis vor kurzem herrschte dort Ismail Khan. Er erlaubte zwar den Schulbesuch der Mädchen, aber verbot, dass Frauen ohne Ganzkörperschleier ausgehen, verurteilte diejenigen, die bei internationalen Organisationen arbeiten, und gebot, dass Frauen, die mit fremden Männern aufgegriffen werden, sich einem Jungfräulichkeitstest unterziehen müssen. Khan wurde Mitte September von Präsident Karzai abgesetzt, seine Anhänger verwüsteten daraufhin die Büros der Vereinten Nationen. Der selbst ernannte "Emir von West-Afghanistan" will als Privatmann in Herat bleiben. Seine Milizen, mehr als 1000 Mann stark, werden ihm den nötigen Einfluss sichern. … Es gibt keine offizielle Statistik über Selbstmorde. Die Polizei wagt es oft nicht, die Familien zu fragen. Die Schande ist zu groß. Wer doch nachhakt, hört Geschichten von Frauen, die Nadeln oder Glas schluckten, sich in Brunnenschächte warfen, eine Überdosis Medikamente nahmen. Jede Frau kennt Schicksale, die solchen Verzweiflungstaten vorausgehen: 15-Jährige, die von der Straße entführt und zwangsverheiratet wurden; Neunjährige, die Kinder bekommen; Ehefrauen, die in Kellern ohne Essen dahinvegetieren; die Journalistin, die von ihrem Vater unter Hausarrest gestellt und geschlagen wurde, nur weil sie einen Mann liebte, der den falschen Glauben hatte. Der zwar Muslim war, aber Schiit, nicht Sunnit wie die Familie seiner Liebe. Damit war er kein passender Schwiegersohn, allein sein Antrag galt als Anschlag auf die Ehre der Tochter. Der Vater sperrte sie ein, verbot ihr jeden Kontakt und zwang sie mit Schlägen zum Gehorsam. Die Tochter vergiftete sich. … Der Oberarzt der Station, Mohammed Homayon Azizi, sieht sofort, wenn der Tod mit Frauen wie Fatunah in die Station kommt. "Die sind so ruhig, als wären sie bereits erlöst." 14-Jährige hat er sterben sehen, glücklich, dass sie der Heirat mit einem 60-Jährigen entkommen waren, den der Vater ausgesucht hatte. … Fatunah war Grundschullehrerin, beliebt, engagiert. 13 Jahre war sie verheiratet, ihr Gesicht entstellt von den Schlägen ihres Mannes. Alle Kolleginnen wussten von den Misshandlungen, auch ihre Schwester Hatifah, die in derselben Schule arbeitete. Keine traute sich, Fatunah zu helfen. Der Mann hat das Recht, seine Frau zu züchtigen - fast die Hälfte aller Afghanen stimmen diesem Satz uneingeschränkt zu. Irgendwann konnte Fatunah nicht mehr. Erst versuchte sie, sich mit einem Lampenkabel unter Strom zu setzen. Das misslang. Als sie Petroleum über sich schüttete und mit

295

dem Streichholz entzündete, stellte sie sicher, dass die Flammen ihren ganzen Körper umhüllten. Sie starb in den Armen ihrer Schwester Hatifah, und seitdem spielt auch diese immer wieder mit dem Feuer. Sie kann den Gedanken nicht loswerden, dass der Tod vielleicht doch besser ist als ihr Leben. Die Wahlen sind gelaufen, die Probleme sind geblieben. In Kabul regiert weiterhin vor allem die Furcht vor den bärtigen Eiferern. Seit Monaten demonstrieren sie mit Angriffen auf Mädchenschulen, Wahlhelfer und Mitarbeiter westlicher Hilfsorganisationen ihre Macht. Ganze Regionen sind wieder zum Feindesland für jeden geworden, den die Taliban zum "Helfer der Ungläubigen" stempeln. Mehr als 1000 Menschen wurden in den vergangenen zwölf Monaten ermordet. Über den Kampf der Regierung gegen die Kriegsherren gerät der Aufbau der Zivilgesellschaft ins Hintertreffen. Noch tragen bis zu 60 000 Milizionäre Waffen, fließen jährlich 2,2 Milliarden Dollar aus dem Drogenhandel in die Taschen der Warlords. … Doch ohne Entwaffnung der Milizen gibt es keine Sicherheit - vor allem nicht für die Frauen. … Hilfsorganisationen verlangen von der Regierung in Kabul und von den internationalen Truppen im Land ein härteres Vorgehen gegen die Kriegsherren. "Frauen riskieren noch immer ihr Leben, wenn sie öffentlich auftreten", sagt die Menschenrechtsexpertin LaShawn Jefferson von Human Rights Watch. "Ihre Hoffnung, dass auch für sie endlich die grundlegendsten Menschenrechte gelten, haben sich nicht erfüllt." … Die Organisation Ärzte für Menschenrechte zeigt in einer Studie, dass sieben von zehn afghanischen Frauen schwer depressiv sind, zwei Drittel leiden unter Angstattacken, jede zehnte hat bereits versucht, sich umzubringen. … Niemand weiß, wie viele Frauen an ihrer Verzweiflung sterben. Es ist anzunehmen, dass die meisten es noch nicht einmal bis zu einem Krankenhaus schaffen. … Jedes Mädchen kann Geschichten erzählen von Schlägen, von Hausarrest bis zur Heirat, von Schulverbot. Um die Ehre zu retten, opfern Familien ihre Kinder.

Mag man mit Hinweis auf den uns fremden und in manchen Dingen befremdlichen islamischen Kulturkreis eine religiöse Gründung des staatlichen(!) Rechts auch in unserem verweltlichten abendländischen Kulturkreis gefühlsmäßig zunächst noch abwehren, so wird man eines Besseren durch Zeitungsmeldungen wie die nachfolgenden belehrt: „Vatikan entsetzt über Hostienverfallsdatum SAD Vatikanstadt – Auch ein ewiges Geheimnis besitzt nur Gültigkeit bis zum Verfallsdatum. So will es die EU. Mit Entsetzen stellt der Kirchenstaat fest, daß der Leib Christi sich einer Bestimmung der Haltbarkeit von Lebensmitteln unterwerfen soll. Aus Sicht der EU-Bürokraten ist alles ganz einfach: Die in der katholischen Kirche verteilten Hostien sind wie Lebensmittel zu behandeln und müssen darum nach der Herstellung mit einem Verfallsdatum versehen werden. ... Für den Vatikan ist dies eine Art Gotteslästerung. ... Der Vatikan verlangt nun, daß für die geweihten Hostien keine EU-Normen gelten sollen. ...“ „Kein Unterhalt dpa Rom – In Italien hat eine Frau nach der Scheidung keinen Anspruch auf Unterhalt, wenn sich der Ex-Mann zu seiner Homosexualität bekennt. Das Grundsatzurteil des Kassationsgerichts in Rom bestätigte eine Entscheidung des päpstlichen Gerichts Rota Romana, wonach ein Schwuler ‘psychisch unfähig‘ sei, eheliche Pflichten zu erfüllen. Das Urteil sorgte für Empörung.“ (HH A 12.04.00) Auch in unserem staatlichen(!) Recht werden »letzte« Wertentscheidungen oft religiös begründet. Erinnert sei an den »Glaubenskrieg« um die Neuregelung des § 218 StGB. Aber auch an anderen Fronten wird - insbesondere von der katholischen Kirche - gekämpft: „Berlins Kardinal mahnt die CDU KA N Berlin – Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky hat den [1999; der Autor] erweiterten Familienbegriff der CDU, der auch Alleinerziehende und nichteheliche Lebensgemeinschaften umfasst, kritisiert. Er sehe die Entwicklung weg von der auf Ehe gegründeten Familie ‘mit Sorge‘. Einer Partei, die ihr Programm auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes entwickelt sehe, ‘kann man abverlangen, dass sie die Werte wahrt und die Institution Ehe achtet‘.“ (HH A 21.12.99)

296

„Briten wollen das Klonen von Embryonen erlauben – Heftige Debatte in Deutschland ang/Fra London/Hamburg – Die Entscheidung des britischen Unterhauses, das Klonen von Embryonen zu erlauben, hat auch in Deutschland eine lebhafte Debatte über die ethischen Grenzen der Gentechnik entfacht. ... Der vatikanische Bioethik-Experte Bischof Elio Sgreccia sprach von einem ‘der katastrophalsten und verbrecherischsten Akte am Ende des Jahrtausends‘. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bezeichnete die Entscheidung aus London als ‘ethischen Dammbruch‘. ‘Hier werden Menschen als biologische Ersatzteillager geschaffen und zerstört‘, sagte der EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann. Der Kölner Erzbischof Meisner sprach sogar von einer ‘Perversion menschlichen Denkens‘ und fügte hinzu, wenn der Mensch anfange, Schöpfer zu spielen, bestehe die Gefahr, dass er auch ‘Herr über Leben und Tod‘ sein wolle. ...“ (HH A 21.12.00) Vor Jahren fand der ehemalige Generalstaatsanwalt Fritz Bauer über unser Recht die Worte: „Unser seitheriges Recht ist weitgehend Theologie und Moral, deren Magd es auch im Mittelalter gewesen ist.“ Ein Beispiel hierfür aus unserem Rechtskreis ist das bis vor wenigen Jahren so geregelte Schwägerschaftsheiratsverbot, für das es nie eine biologische Rechtfertigung gab, wie z.B. eine zu enge Blutlinie durch Heirat unter zu nahen Verwandten mit dadurch heraufbeschworener Gefahr von Missbildungen für Nachkommen, wie sie z.B. im spanischen Königshaus durch Blindheit und geistige Demenz so offensichtlich zu Tage getreten sind. Ein Schwägerschaftsheiratsverbot war – auch wenn das Wissen darum vielleicht in der Zwischenzeit verloren gegangen war - ursprünglich nur religiös begründet gewesen. De nicht hinreichend säkularisierte Staat hatte es dann aus Kirchenhörigkeit heraus in seine staatliche Gesetzgebung übernommen und viel zu lange bewahrt: Die römische Kirche hatte Ehe trotz bloßer Schwägerschaft seit 1.000 Jahren als „Blutschande“ gewertet: Wie abstrus die – im Verwandtschaftsgrad der verbotenen Verschwägerung mehrfach geänderte - kirchenrechtliche Wertung ausfiel, die dann die Maßstäbe für staatliche Gesetze vorgab, macht ein Zitat von Ranke-Heinemann klar: „Ja, auch wenn z.B. ein Mann vor seiner Ehe mit irgendeiner Frau Verkehr gehabt hatte, so bedeutete das für seine Brüder, daß für sie in bezug auf diese Frau das trennende Ehehindernis der Schwägerschaft aus unerlaubtem Beischlaf bestand.“43 Die vor einigen Jahren international berüchtigtsten Beispiele für die manchmal noch durchschimmernde oder auf ihr fußende religiöse Gebundenheit des staatlichen(!) Rechts sind die gegen die aus Bangladesch stammende Ärztin und Schriftstellerin Taslima Nasrin wegen angeblicher Missachtung des Islams ergangene „Fatwa“, ein religionsrechtlicher (Schieds-)Spruch, und die von Khomeini durch eine Fatwa auf den Kopf des Schriftstellers Salman Rushdie ausgesetzte Tötungsprämie von - nach einer Ende 1992 vorgenommenen Verdoppelung um 1 Mill. US-$ durch die islamische „Stiftung 15. Juni“ und einer weiteren Erhöhung um 0,5 Mill. 1997 – inzwischen 2,5 Mill. US-$, weil Rushdie mit einigen Passagen seines Buches "Satanische Verse" den Propheten Mohammed mit dem Teufel in Verbindung gebracht, Prostituierte nach Mohammeds Frauen benannt und so den Islam, die Lehren des Korans und auch den Imam Khomeini beleidigt habe. Zu dieser Todesfatwa gegen Rushdie schrieb der Schriftsteller und Journalist Henryk Broder: „Appeasement und wieder Appeasement Die offene Gesellschaft ist nicht bedroht, sie ist im Zustand der Auflösung. Das Datum, an dem die bedingungslose Kapitulation verkündet wurde, kann man genau festlegen: Es war der Tag, an dem die Fatwa gegen Salman Rushdie verkündet wurde und die europäischen Staaten und Institutionen NICHT mit einem sofortigen Abbruch ALLER Beziehungen zu dem Mullah-Regime reagierten. Statt dessen meldeten sich multikulturell gesinnte Versteher zu Wort, die uns erklärten, warum Rushdie besser daran getan hätte, die Mullahs nicht zu provozieren. Europa - dein Familienname ist Appeasement!“ (Welt am Sonntag 14.11.04) Dieses von Khomeinis Nachfolgern nicht aus der Welt zu schaffende Todesurteil, das der iranische Botschafter in Deutschland 1992 verteidigt hatte, womit eine mögliche „Vollstreckung“ bei uns iranischerseits sanktioniert 43

Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 61988, S. 223

297

wurde, auf dessen Vollstreckung regierungsamtlicherseits aber unter Khatami verzichtet worden war und nur noch von der fundamentalistischen schiitischen Gruppe aufrechterhalten wird, die die ausgelobte Mordprämie auf 2,8 Mill. US-$ erhöhte, war ausdrücklich religiös begründet. Genau so verhält es sich der nachfolgenden Zeitungsmeldung zufolge auch mit der Begründung für die im Iran legalen Vergewaltigungen von erheblich straffällig gewordenen Jungfrauen: "Vergewaltigung legal rtr New York - Über gesetzlich sanktionierte Gewalt gegen Frauen berichtet die im Exil lebende weltberühmte iranische Sängerin Marsieh. Im US-Magazin `Newsweek' verweist die `persische Nachtigall' unter anderem auf ein Gesetz, das die Vergewaltigung von zum Tode verurteilten Jungfrauen vorschreibe. Hintergrund sei die moslemische Vorstellung, daß eine unberührte Frau nach dem Tode in den Himmel komme." (HH A 28.03.95) Und da es nicht nur eine Religion gibt, gibt es nicht nur ein Recht. Tagelang konnte ich mich nicht von dem Grauen lösen, das eine in einem anlässlich der 56. Frankfurter Buchmesse 2004 geführten Interview (STERN 23.09.04) gemachte Bemerkung eines STERN-Reporters gegenüber dem syrischstämmigen Exil-Schriftsteller mit deutschem Pass, Rafik Schami, in mir hervorgerufen hat. Nachdem Schami gesagt hatte: Die USA „… haben willfährige Despoten installiert, korrupte Regime, die eine Gefahr für die eigene Bevölkerung sind. In SaudiArabien halten sie an den Wahhabiten fest, den eifrigsten Fundamentalisten, die die Taliban aufgebaut haben und die mit ihren Petrodollars unverdrossen den fundamentalistischen Islam anfeuern!“, fährt er fort: „Die Araber sind auch selbst schuld an der herrschenden Düsternis. Die Araber sind in Lethargie. Das Denken ist erstarrt, gefangen in der glorreichen Vergangenheit, unsere Denker sind erstarrt.“, woraufhin der Reporter das Interview mit der Bemerkung fortführte: „Mittelalterlich klingt eine Meldung aus Saudi-Arabien vom vergangenen Jahr: Da wollten sich Frauen vor einem Gebäudebrand retten, sie liefen auf die Straße, doch sie wurden von Religionspolizisten mit Schlägen ins Feuer zurückgetrieben. Der Grund: Sie waren nicht verschleiert. Alle kamen ums Leben.“ Auf religiösem Fundament gegründetes Recht bis zum Totschlag!

In kriegerischen Auseinandersetzungen, die im Namen der Religion geführt worden sind, war der Verlierer dann meistens rechtlos. Das galt auch für die Auseinandersetzungen der Christen untereinander, z.B. der Katholiken gegen die Protestanten in Deutschland im 30-jährigen Krieg 1618-1648, worüber ein zeitgenössischer Dichter u.a. die Zeilen geschrieben hat: "Ihr Heiden reicht nicht zu mit eurer Grausamkeit, was ihr noch nicht getan, das tut die Christenheit." (M. Opitz) Was ist dann »Recht«? Wenn man sich überlegt, welche Gräueltaten im Laufe der Jahrhunderte im Namen des auf der Glaubensgewissheit seiner Anhänger beruhenden christlichen Rechts begangen worden sind und daran als Messlatte eines der zentralen christlichen Gebote, das der Feindesliebe, oder das Jesus-Wort: "Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!", anlegt, dann erscheint es zumindest in der ursprünglichen Wortbedeutung »frag-würdig«, ob der Nutzen der Christianisierung, wie sie von der Kirche und den Gläubigen praktiziert und von den Kirchenoberen trotz unchristlichster Missetaten immer wieder gerechtfertigt worden ist, für die Menschheit über die Jahrhunderte gesehen nach Kreuzzügen, Inquisition mit Hexenverbrennungen und besonders in der Neuzeit im Zeitalter der Entdeckungen mit Zwangschristianisierung ganzer Kontinente und durch Christen in größtem Stil organisierter Sklaverei bisher größer gewesen ist als der durch sie angerichtete Schaden.44 „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker ...“ Die Christen aber, die ihre Glaubensgewissheit verabsolutierten und dadurch ihr Handeln ethisch als „ge»recht«fertigt“ ansahen, kamen 44

Beispiele hierzu in bedrückend hinreichender Anzahl sind zu finden in dem auf 10 Bände angelegten Werk des wegen der Verheiratung mit einer Geschiedenen exkommunizierten Katholiken : Deschner, K.: Kriminalgeschichte des Christentums, Rowohlt-Verlag, Reinbek

298

angeblich im Namen Gottes - als Räuber und Eroberer und schändeten die von ihnen überfallenen Völker, rotteten sie teilweise aus. Die im Gegensatz zu den Christen der Vielgötterei anhängenden und wohl deswegen in Glaubensdingen so toleranten Athener hatten als herausragende Vertreter der »alten Griechen« auf dem Areopag einen „Dem unbekannten Gott“ gewidmeten Altar gebaut. Dort ließen sie Andersgläubige ungestört ihre Gottesverehrung vornehmen. Die Christen hingegen ließen nicht einmal andere Christen in der von ihnen für richtig gehaltenen Art und Weise zum gemeinsamen Gott beten. Die römische Kurie setzte ihre Auffassung von Religion durch hierzu bereite römisch-katholische Mächte unduldsam bis zur Ermordung von Häretikern durch und verpflichtete die ihr verbundenen Machthaber durch Gewissensdruck, mit Mord und Brand dem von der römischen Kurie interpretierten Religionsrecht zum Sieg zu verhelfen. Das kostete Millionen Menschen das Leben. „Solange ich nicht sehe, dass man eins der vornehmsten Gebote des Christentums, seinen Feind zu lieben, nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Christen sind, die sich dafür ausgeben“ (Lessing). Der afrikanische Schriftsteller Aimé Césaire hat diesen Vorgang für seinen Kontinent mit den Worten beschrieben: „Man erzählt mir von Fortschritt und geheilten Krankheiten. Ich aber spreche von zertretenen Kulturen, von beschlagnahmtem Land, von ermordeten Religionen, von vernichteter Kunst. Ich spreche von Tausenden hingeopferter Menschen ... . Ich spreche von Millionen Menschen, die man ihren Göttern, ihrer Erde, ihren Sitten, ihrer Weisheit entriß. Ich spreche von Millionen Menschen, denen man geschickt das Zittern, den Kniefall, die Verzweiflung, das Domestikentum eingeprägt hat."45 Das Christentum wurde so, wie es in fast zwei Jahrtausenden Kriminalgeschichte mit Ketzerverbrennungen, Hexenverfolgungen, Ritualmordlügen gegen Juden, Religionskriegen und Zwangschristianisierungen ganzer Kontinente ohne jegliches mitmenschliches Erbarmen praktiziert wurde - entgegen seiner Lehre mit dem zentralen Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ – unter oberster ideologischer Leitung des Stellvertreters Christi auf Erden als eine mörderische Religion praktiziert, so dass der „größte Kirchenkritiker des 20. Jahrhunderts“, Deschner, den Aphorismus zu Papier brachte: „«Abstrakt genommen ist der Kommunismus christlicher als das Christentum, in der Wirklichkeit soll er zwanzig Millionen Menschen umgebracht haben.» Und das Christentum?“46 und Nietzsche „die Moral des Christentums als Kapitalverbrechen am Leben“ empfunden hatte. Zwar haben fast alle Religionen durch ihre fanatischen Anhänger gemordet, aber keine hat sich über so lange Zeit als so mörderisch erwiesen wie das ihrer Lehre nach der Feindesliebe als zentrale Maxime verpflichtete Christentum! Und da hat sich besonders die römische Kirche beschämend hervorgetan (die Protestanten hatten „die Gnade der späten Geburt“ entlastend auf ihrem Konto). Wenn man in kirchenkritischen Büchern liest, was für Verbrechen ein großer Teil der nach dem Kirchenrecht der römischen Kirche selig und heilig gesprochenen Päpste und kirchlichen Würdenträger begangen haben, müsste man alles dafür tun, nicht in den Himmel zu kommen, um als bei Gelegenheit ab und an Kleinkrimineller nicht mit allen diesen schwerkriminellen Verbrechern zusammen leben zu müssen! „Niemand vor Stalin und Hitler hat in Europa das menschliche Leben so unentwegt aufs Äußerste verachtet, in den Staub getreten, ja diese Vernichtung als »gottgewollt« verkündet wie die Fürsten der Kirche. Der gerade zitierte Kirchenkritiker Deschner formulierte die Aphorismen: „Gott ist der einzige Herr der Welt, der weniger zu sagen hat als seine Diener.“47 „In Jerusalem opferte sich – dem Vernehmen nach – jemand für andere. In Rom opferte man andere für sich.“48 Der englische Bischof Joseph Hall sagte im 17. Jahrhundert: »Man ist seines Lebens dort sicherer, wo es gar keinen Glauben gibt, als dort, wo alles zur Sache des Glaubens gemacht wird.«“ Dafür hat Papst Johannes Paul II. am Aschermittwoch des Jahres 2000 gegen den Widerstand führender Kardinäle in einem großen „Mea culpa“ („meine Schuld“) - für manchen kritischen Katholiken viel zu global im Namen der Kirche Abbitte zu leisten versucht. Das Ganze verlief aber eher nach der von dem Kirchenvater Augustinus vertretenen Ansicht: „Individuen können sündigen, nicht aber die wahre Kirche als Institution Gottes.“ Sicher können Individuen sündigen, auch Päpste: So wurde z.B. der mit 16 Jahren zum Papst Johannes 45

Zitiert nach Michler: Weißbuch Afrika Deschner, Karlheinz: Bissige Aphorismen, rororo 1994, S. 16 47 Ebenda, S. 12 48 Ebenda, S. 18 46

299

XII. gekrönte römische Adlige 964 als 24-Jähriger von einem gehörnten Ehemann mit einem Hammer erschlagen, der ihn statt mit einer Nonne - was er ihm wohl nachgesehen oder vielleicht sogar gegönnt hätte - mit seiner Frau in flagranti im Bett erwischt hatte. Nicht nur Mitbewerber um den Stuhl Petri brachten Kandidaten für das Amt mit Dolch und Gift um, auch als Heilige Väter ließen sie Gegner ermorden, Alexander VI. (14921503), der wohl unheiligste der Heiligen Väter, auch eines seiner zahlreichen Kinder: „Die Leiche wurde aus dem Tiber gefischt und Alexander VI. zu Füßen gelegt. In unnachahmlichem Zynismus kommentierten die Römer: ‚Na, endlich ist der Papst wie Petrus – ein Menschenfischer!’“49 Und von dem Medici-Papst Leo X. (1513-1521) ist das Wort überliefert: „Lasst Uns das Papsttum genießen, da es Gott Uns verliehen hat!“, mit dem er seine Wahl zum Papst kommentiert hat. Nicht nur er führte ein dementsprechend ausschweifendes Lotterleben. Clemens VII (1523-1534) verärgerte den (katholischen) Habsburger Karl V. als Herrn über Spanien und Deutschland so, dass dessen Landsknechte 1527 Rom erstürmten, was die Römer nach dem Abzug der Truppen als Gottesstrafe für das Lotterleben der Päpste ansahen, und was bei einem solchen Anschauungsunterricht über die Jahrhunderte Luther 1545 vom „vom Teufel gestifteten Papsttum“ sprechen ließ; sicher ein weiterer Grund für die – bis heute nicht aufgehobene – Exkommunizierung Luthers durch den Vatikan. Davon wäre hier nicht gesprochen worden. Es geht hier nicht um individuelle Verfehlungen selbst höchster Autoritäten des Christentums – Seine Heiligkeit Papst Johannes XXIII. (1410-1415) wurde auf dem Konzil von Konstanz wegen Piraterie, Mord, Vergewaltigung, Blutschande und Sodomie abgesetzt, nachdem die gravierendsten der 54 Anklagepunkte fallen gelassen worden waren50 -, sondern um das aus Intoleranz erwachsene, mit (von den kirchlichen Missetätern so interpretiertem) kirchlichen Recht gerechtfertigte himmelschreiende Unrecht, das die Institution christliche (zumeist römisch-katholische) Kirche über die verzweifelten Menschen dieser Welt gebracht hat! „Tötet sie alle, Gott wird wissen, wer ein rechter Christ war!“, soll der angesehene Abt Aumary des Klosters Citeaux den 1209 um Rat fragenden Rittern zur Antwort gegeben haben, die die Stadt Beziers eingeschlossen hatten und die dort lebenden, mehrheitlich vom reinen katholischen Glauben abtrünnigen christlichen Katharer/Albigenser richten wollten, aber nicht wussten, woran sie erkennen konnten, wer ein Ketzer sein könnte und wer ein - im Sinne des römischen Papsttums - rechtgläubiger Christ geblieben war. Daraufhin brachten die Ritter nahezu alle 20.000 Einwohner der Stadt um: Männer, Frauen und Kinder. Die Massenmörder gingen anschließend in dem Bewusstsein nach Hause, ein (ihrem) Gott (wie sie ihn sahen und anbeteten) wohlgefälliges Werk vollbracht zu haben. (Die nachfolgende Inquisition unter der Leitung des Dominikanerordens rottete den Rest der als Häretiker Verdächtigten mit Stumpf und Stiel aus.) Als wenige Wochen später Papst Innozenz III. von dem Massenmord erfuhr, dankte er dem Ordensbruder in einem erhalten gebliebenen Brief für seine (nach römischem Kirchenrecht) richtige und mutige Entscheidung. „Wo Klerus herrscht, hat Kreuz kein Ende“ (Deschner). Auf ein solches Verhalten trifft das weise Wort von Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach zu: „Es würde viel weniger Böses auf Erden getan, wenn das Böse niemals im Namen des Guten getan werden könnte.“ Eine kirchenrechtliche Hauptschwierigkeit des „Mea culpa“ besteht darin, dass einige der schwersten Sünden der katholischen Kirche von nach ihrem Tode von der Institution Kirche selig oder gar heilig gesprochenen Mönchen, Äbten, Bischöfen, Ordensgründern und Päpsten begangen worden sind: Sie rechtfertigten Massenmorde und Inquisition, ordneten sie sogar an. „Die Päpste sind da völlig unschuldig, so unschuldig wie Hitler, der auch nie einen Juden umbrachte, an deren Vergasung.“51 Wer auf einem Kreuzzug starb, dem wurde von vornherein von Gottes Stellvertreter auf Erden das Paradies verheißen. Mit dieser Heilsgewissheit, diesem als Geschäftsgrundlage vereinbarten An-»Recht«, zogen die Truppen los. Nach der Eroberung Jerusalems am Ende des von Papst Urban II. geforderten ersten Kreuzzuges 1099 wurden bei der al-Aksa-Moschee rund 70.000 Menschen abgeschlachtet. Es gibt zeitgenössische Berichte, dass die fränkischen Ritter eine Woche lang knöcheltief im Blut der wehrlos Hingemetzelten wateten. Der Leichengestank soll das Atmen in der Stadt fast unmöglich gemacht haben! So weit ein Schlaglicht auf die historische Realität. Und nun die kirchenrechtliche, aus den Glaubensüberzeugungen resultierende Schwierigkeit: Wer von der katholischen Kirche selig oder heilig gesprochen wurde, befinde sich (kirchlicherseits) unbezweifelbar bei Gott im Paradies - zusammen mit all den Massenmördern in Christo. Wer aber in unmittelbarer Nähe Gottes weilen darf, der kann andererseits hier auf Erden zu Lebzeiten keine schweren Sünden begangen haben. Deschner formulierte: „Es gibt wenige Gläubige auf der Welt, kennten sie ihre Religionsgeschichte so gut wie ihr Glaubensbekenntnis.“52 Und Papst Johannes XXIII. soll sich schon dahingehend geäußert haben: „Wir hoffen, dass Gott seiner Kirche vergeben kann.“ Hinter diesem offenherzigen Wort ist Johannes Paul II. sein 49

STERN 21.04.05 Serie über die Päpste, Teil 3 STERN-Serie über die Päpste, 2. Folge vom 14.04.05 51 Herrmann, Horst a.a.O. S. 14 52 Deschner, Karlheinz: Bissige Aphorismen, rororo 1994, S. 23 50

300 Leben lang zurückgeblieben, auch mit seinem „Mea culpa“, denn in dem im Petersdom mit bombastischem Pomp inszenierten Schuldbekenntnis bat der restaurativ denkende Papst nur um Vergebung für die Verfehlungen der „Söhne und Töchter“ der Heiligen Kirche, nicht für die der „Heiligen Väter“, die der „Kirche selbst“ und die der anwesenden Hierarchen, so die Kritik Hans Küngs (SPIEGEL 26.03.05), dem wegen seiner Kritik am Papsttum 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen worden war, woraufhin der Schweizer seine Professur für katholische Moraltheologie an der Universität Tübingen verloren hatte, so dass die Universität dem profunden Theologen einen Lehrstuhl für ökumenische Theologie einrichtete - über den Rom nun nicht mehr zu bestimmen hatte -, um diesen klugen Kopf nicht als Universitätslehrer zu verlieren. Johannes’ XXIII. Wort war insofern ein gewaltiger Schritt voran, weil dadurch nicht mehr der einzelne Sünder, sondern die Kirche als Unrecht tuende Institution in den Blick genommen worden war. Das hat der 2005 verstorbene polnische Pontifex in seinem sehr konservativen Kirchenverständnis aber wieder - gegen die Intention des Zweiten Vatikanischen Konzils und damit auf Kosten der mit dem Konzil mühsam erarbeiteten Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche - in mittelalterlich-römischem Kirchen- und Machtverständnis umgebogen. In dem Zusammenhang der Kirchengräuel warf aber schon vor Jahrzehnten ein Philosoph die viel radikalere Frage auf: Wer lädt Gott vor welches Gericht, wer bestraft Gott und wer vergibt Gott, dass er solches Elend wie Zwangschristianisierung, Inquisition, Hexenverbrennungen, KZs, Völkermorde usw. in seinem Namen zugelassen hat? Und von keinem der Stellvertreter Christi auf Erden ist meines Wissens bisher ein rechtsgerichteter mittel- oder südamerikanischer Diktator exkommuniziert worden, obwohl die Pinochets, Stroessners, Duvals, Somozas und wie sie alle hießen ihre politischen Gegner zu Tausenden hatten umbringen, in anonymen Massengräbern hatten verscharren oder bei lebendigem Geiste und Leibe über dem Atlantik aus Flugzeugen hatten werfen lassen, um angeblich christliche Wertvorstellungen gegen den Kommunismus zu verteidigen. Allein in Chile sind unter Pinochet mit der Aktion „Condor“ drei- bis viertausend Menschen aus politischen Gründen ermordet und viele Zehntausende gefoltert worden, u.a. in der von einem deutschen kinderschänderischen Päderasten und Kindesentführer geleiteten, damals so genannten Deutschenkolonie „Colonia Dignidad“. Und auf die Frage des Untersuchungsausschusses zur Klärung dieser Verbrechen, warum in vielen Gräbern mehrere Leichen entdeckt worden seien, verhöhnte der nach der demokratischen Reform damals immer noch als mächtigster Militärbefehlshaber Chiles in Amt und Würden befindliche Pinochet die Mitglieder des Ausschusses mit der Antwort: "Das ist doch sehr sparsam." Dann schien eine von Gottes Mühlen angefangen zu haben, langsam zu mahlen, denn von Oktober 1998 bis Januar 2000 saß Pinochet - nicht nur für ihn, sondern auch für die ehemalige britische Premierministerin Thatcher, mit der er sich in ihrem Land getroffen hatte - gänzlich unvermutet in Großbritannien fest, weil ein spanischer Untersuchungsrichter während eines Aufenthaltes des Ex-Diktators in Großbritannien einen Auslieferungsantrag gestellt hatte, um den chilenischen Militärmachthaber wegen seiner Verbrechen zur Verantwortung ziehen zu lassen. So etwas geschieht entweder dann, wenn inländische Rechtsgüter durch Taten im Ausland betroffen sind oder nach dem Weltstrafrechtsgrundsatz für einige in dem jeweiligen Strafgesetzbuch eines Landes enumerativ aufgeführte Verbrechen, nach dem die strafrechtliche Verfolgung für einige auch außerhalb der Gerichtsbarkeit eines Landes begangene Verbrechen von dem Staat, der des Täters habhaft wird, möglich ist. In Deutschland regelt § 6 StGB den Bereich Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter, § 5 den Bereich der Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter, dessen erster Punkt die Verfolgung der Vorbereitung eines Angriffskrieges ermöglichen soll – was dem us-amerikanischen Präsidenten und seinem Verteidigungsminister nach dem Angriff gegen den Irak bedenklich erschien: „Keine Ermittlungen gegen Rumsfeld wegen Folter im Irak Generalbundesanwalt verneint Zuständigkeit Berlin - In Deutschland wird es wegen der Foltervorwürfe in irakischen Gefängnissen keine Ermittlungen gegen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld oder den früheren CIA-Direktor George Tenet geben. Generalbundesanwalt Kay Nehm macht in Karlsruhe deutlich, daß für die Strafverfolgung der mutmaßlichen Täter und deren Vorgesetzten die USA zuständig seien. Das gelte auch für die Soldaten, die in Deutschland stationiert seien. Eine Reihe von deutschen Anwälten des Republikanischen Anwaltsvereins hatten zusammen mit dem US-Center for Constitutional Rights Ende November Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft gestellt. Der Vorwurf gegen Rumsfeld und führende US-Militärs lautete auf Kriegsverbrechen und Folter. Diese seien von höchsten Funktionären der Regierung abgesegnet worden, erläuterten damals die Kläger. Sie beriefen sich auf das 2002 in Kraft getretene deutsche Völkerstrafgesetzbuch, wonach im Ausland von Ausländern begangene Kriegsverbrechen auch in Deutschland verfolgt werden können. Nach Ansicht von Nehm aber können deutsche Strafermittler die Strafverfolgung erst dann

301

aufnehmen, wenn US-Behörden nicht handelten. Dafür gebe es aber keine Hinweise, da in den USA bereits Verfahren gegen mutmaßliche Täter liefen. Es gebe keine Lücken bei der Strafverfolgung, die deutsche Behörden schließen müßten. In der Bundesregierung ist die Karlsruher Entscheidung mit Erleichterung aufgenommen worden. "Mir war klar, daß eine solche Anzeige in Deutschland keinen Erfolg haben wird", sagte Bundesverteidigungsminister Peter Struck am Rande eines Nato-Verteidigungsminister-Treffens in Nizza. Unmittelbar vor der Münchener Sicherheitskonferenz dürfte die Entscheidung Nehms zusätzlich für Entspannung im deutsch-amerikanischen Verhältnis sorgen. Die Anzeige gegen Rumsfeld wurde lange Zeit als ein Grund genannt, warum der US-Verteidigungsminister seine Teilnahme an dem Münchener Treffen abgesagt hatte. Die US-Administration ist bei der Konferenz stark unterrepräsentiert. Ranghöchster US-Vertreter wird Rumsfelds Stellvertreter Paul Wolfowitz sein. Auch die ehemalige First Lady und heutige New Yorker Senatorin Hillary Clinton hat ihr Erscheinen angekündigt. Sie wird eine Rede halten. Die Bundesregierung wird dagegen hochrangig wie noch nie vertreten sein. Neben Bundespräsident Horst Köhler wird Bundeskanzler Gerhard Schröder kommen. Der Kanzler wolle, so heißt es in Berlin, in seiner Rede am Samstag deutlich machen, wie das transatlantische Verhältnis zukunftsfähig gemacht werden könne. Außerdem werden Außenminister Joschka Fischer und Verteidigungsminister Peter Struck anwesend sein. Der Veranstalter der Konferenz, Horst Teltschik, wird rund 40 Verteidigungs- und Außenminister aus aller Welt begrüßen können. Ein Grund für die geringe US-Beteiligung dürften die Attacken von Fischer auf den beiden vergangenen Treffen gegen die USA sein. Auf der Konferenz vor zwei Jahren hatte es einen heftigen Wortwechsel zwischen Fischer und Rumsfeld wegen des damals noch nicht begonnenen Irak-Krieges gegeben. Im Vorjahr sagte Fischer dann mit "tiefer Skepsis", Deutschland werde einen Nato-Einsatz im Irak nicht blockieren. Fischers Hinweis auf die fatalen Folgen eines Nato-Einsatzes im Irak für das Bündnis selbst war damals von der US-Delegation mit großer Verärgerung aufgenommen worden. mdl/hl“ (DIE WELT 11.02.05)

Das juristische Hauptproblem im Fall Pinochet war: Genießt Pinochet als ehemaliges Staatsoberhaupt völkerrechtliche Immunität für die Untaten, die er als Staatsoberhaupt beging oder begehen ließ, oder kann er wegen der unter seiner Verantwortung vorgenommenen Verletzungen der Menschenrechte vor Gericht gestellt werden? Was sollte rechtens sein? Das wäre an sich eine zentrale Frage für den in Rom als Sitz geplanten Weltgerichtshof, vor dem später einmal Fragen des noch zu definierenden internationalen Strafrechts wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Terror und Kriegsverbrechen verhandelt werden sollen. Doch so weit ist es ja noch nicht. Das House of Lords, bei dem die Rechtssache schließlich landete, rang sich in einem schwierigen Denk- und Entscheidungsprozess schließlich zu der Entscheidung durch, dass Pinochet als ehemaliger Junta-Chef von Chile sehr wohl die einem Staatsoberhaupt zukommende völkerrechtliche Immunität genieße, sofern es sich um Taten handele, die er in seiner Funktion als Staatsoberhaupt begangen habe und die nach Völkerrechtsverständnis zu den gebilligten üblichen Aufgaben eines Staatschefs gehören. Da aber Geiselnahme, Folter und Völkermord nicht zu den von der internationalen Staatengemeinschaft gebilligten Aufgaben eines Staatschefs gehören, könne für solche Untaten keine Immunität bestehen und gewährt werden. Mit diesem Urteil hatte das House of Lords internationale Rechtsgeschichte geschrieben und vermutlich auch die Entscheidungsgrundlinie für den damals erst noch zu errichtenden Weltgerichtshof vorgezeichnet. Der Ex-Diktator, der sich so sicher wähnte, durfte Großbritannien 15 Monate lang nicht verlassen und wurde dort für die Auslieferung an die spanische Justiz bereitgehalten, bis vier unabhängige britische Ärzte Anfang des Jahres 2000 seine Auslieferungsunfähigkeit im jetzigen Zustand an Spanien feststellten, woraus in der Presse eine Prozess-/Verhandlungsunfähigkeit gemacht wurde. Wäre es zu einer Auslieferung nach Spanien und dort zu einer Verurteilung gekommen, so hätte der damals 84-jährige Pinochet trotzdem nicht ins Gefängnis gehen müssen – laut einer Zeitungsmeldung verhaftet die spanische Justiz niemanden über 75 Jahre. Eine auch für unser Rechtssystem bei der zunehmenden Altersdelinquenz durchaus überdenkenswerte Regelung! Die aber nicht in Chile zu gelten scheint, denn Chiles damals scheidender Präsident Frei kündigte an, dass sich Pinochet nach seiner Rückkehr nach Chile dort doch vor Gericht werde verantworten müssen, obwohl der sich zum Ende seiner 17-jährigen Diktatur zum Senator auf Lebenszeit hatte ernennen lassen, um so einem Prozess wegen seiner im Amt begangenen Straftaten vorzubeugen, denn mit diesem Ehrenamt war eine lebenslange Immunität vor den chilenischen Gerichten verbunden. Daran hatten sich die nachfolgenden demokratisch legitimierten Amtsinhaber bis zu dieser Ankündigung gebunden gefühlt, daran hatten sie sich darum gehalten. Das sahen sie als Preis für die mehr oder

302 minder freiwillige Aufgabe der Diktatur durch Pinochet an. Dann verkündete Frei: “Kein Bürger steht über dem Gesetz!“ Dieser Satz ist so nicht ganz richtig und zeigt wieder einmal die grundsätzliche Fragwürdigkeit von Gesetzen auf, denn Pinochet hatte sich ja gerade zum Senator auf Lebenszeit wählen lassen, weil ein chilenisches Gesetz für dieses Amt lebenslange Immunität für Taten vorsah, die nach »dem Gesetz« verboten waren. (Eine Änderung dieser Gesetzeslage wurde seit Frühjahr 2000 erwogen und dann erst 2004 beschlossen, um Pinochet in seinem Heimatland doch noch wegen Mordes und Entführungen im Zusammenhang mit der zwischen mehreren südamerikanischen Diktaturen vereinbarten Aktion Condor vor Gericht stellen zu können wobei es fraglich war, ob gegen den zu dem Zeitpunkt 89-Jährigen überhaupt noch verhandelt werden könnte.) Frei hätte besser formulieren sollen: „Kein Gesetz steht über den - universelle Geltung beanspruchenden Menschenrechten. Verstöße gegen Menschenrechte müssen immer geahndet werden können – selbst wenn ein innerstaatliches Gesetz diese Ahndung zeitweilig außer Kraft gesetzt hat.“ In diesem Sinne hatte laut einer Zeitungsmeldung der Oberste Gerichtshof Chiles im August 2000 die zwischenzeitlich unterinstanzlich ergangene Aufhebung der Immunität (angeblich) bestätigt. [Zweifel an dieser Meldung ergeben sich durch eine Meldung der taz vom 26.03.05: Chile: Pinochet bleibt immun SANTIAGO ap Das oberste Gericht Chiles hat es gestern abgelehnt, die Immunität des früheren Diktators Augusto Pinochet aufzuheben. Es ging um die Ermittlungen wegen der Ermordung von General Carlos Prats, dem Vorgänger Pinochets als Oberbefehlshaber der Armee unter der sozialistischen Regierung von Salvador Allende. Das Gericht hob damit das Urteil einer Vorinstanz auf. Die Richter gaben zunächst keine Begründung ihrer Entscheidung, vermutlich fiel sie jedoch wegen des Gesundheitszustands des 89-jährigen Pinochet. Prats und seine Frau Sofia Cuthbert wurden 1974 bei einem Bombenattentat in Argentinien ermordet. Aber vielleicht haben die für die Meldung verantwortlichen Journalisten auch »nur« ungenau recherchiert, denn es macht keinen Sinn, die Immunität eines eventuell Anzuklagenden wegen seines schlechten Gesundheitszustandes zu bestätigen: Entweder ist derjenige durch seine Immunität vor Strafverfolgung geschützt, dann gilt das Strafverfolgungshindernis bei guter und bei schlechter Gesundheit, oder Pinochets Immunität ist – wie der davor zitierten Meldung von 2000 zufolge – zwar weiterhin aufgehoben, aber wegen Verhandlungsunfähigkeit auf Grund seines schlechten Gesundheitszustandes wird er nicht mehr zur Verantwortung gezogen.] Dann musste die Prozessfähigkeit des zu dem Zeitpunkt 85-jährigen Ex-Diktators geprüft werden. Nach chilenischem Recht hat das bei über 70 Jahre alten Angeklagten immer zu geschehen. Vor Abschluss dieser Prüfung war aber schon ein Verfahren wegen der Menschenrechtsverletzungen zu Anfang seines Regimes durch den Sondereinsatz einer sogenannten „Todeskarawane“ (landesweiter Mord an Regimegegnern, deren Leichen dann durch Dynamit zerfetzt und deren Leichenteile anschließend in den riesigen Weiten der Atacama-Wüste versteckt worden sind) eröffnet worden, wird jedoch bei letztgültig festgestellter Prozessunfähigkeit nie mehr durchgeführt werden. Der chilenische Staatspräsident Ricardo Lagos hatte unter Vorsitz von Monsignore Sergio Valech Aldunate, dem ehemaligen Weihbischof von Santiago, eine Kommission zur Aufarbeitung der Vergangenheit eingesetzt, die fast fünfzehn Jahre nach der Rückkehr Chiles zur Demokratie einen Bericht über willkürliche Haft aus politischen Gründen und Folterung politischer Gegner vorgelegt hat. Das 1.200 Seiten umfassende Dokument rekonstruiert die Zeit vom 11. September 1973, dem Tag des Sturzes der Volksfrontregierung Salvador Allendes durch General Augusto Pinochet, bis zum 10. März 1990, dem Ende der Militärdiktatur. Der Bericht führt 35.865 Zeugen namentlich auf, von denen annähernd 28.000 als politische Gefangene anerkannt werden. Er gibt ausführlich Zeugnis von deren Leiden und berichtet detailliert über die Art und Weise, wie diese an 1.200 über das ganze Land verteilten Orten systematisch und von Angehörigen aller chilenischen Waffengattungen gequält worden waren. Jedes zehnte Folteropfer war eine Frau, fast alle wurden in der Folterhaft vergewaltigt. 102 gefolterte Kinder werden in dem Bericht gesondert aufgeführt, der im Übrigen 14 Foltermethoden detailliert beschreibt und durch im Einzelnen wiedergegebene anonymisierte Opferaussagen die staatlich verordnete und institutionalisierte Brutalität des Pinochet-Regimes entlarvt. Lagos sagte in einer Ansprache an die Nation, dass dieser Bericht endlich den "Abgrund des Leidens" begreifbar mache: Die Veröffentlichung der Verbrechen sei das wichtigste Mittel, den Schmerz der Opfer zu lindern, die damit ihre Würde zurückgewonnen hätten. Chile leiste sich diese Form der Vergangenheitsbewältigung, weil das Land eine stabile Demokratie sei: "Wie viele Länder haben bisher den Mut gehabt, so tief in ihre Geschichte einzutauchen? Wie viele Länder hatten wirklich den Mut, bis auf den Grund dessen, was passiert ist,

303

vorzustoßen?" Der Bericht habe enthüllt, "dass die politische Gefangenschaft und Folter gängige politische Praxis waren". Für Lagos ist es "unerklärlich", dass Chile dreißig Jahre über diese Zusammenhänge geschwiegen habe: "Aber dieses Schweigen wurde nicht zur Grundlage kollektiven Vergessens, es ist vorbei." Die Argumentation, für die erfolgten Übergriffe seien einzelne, nicht aber der Staat und seine Institutionen verantwortlich zu machen, gehörte in den 90er Jahren zu den Lebenslügen der chilenischen Gesellschaft. Aber auch in Chile wurde der Wahrheit eine Gasse geschlagen. An die Stelle der "Lügen des Pinochet-Regimes", es habe gar keine Folter gegeben, war zunächst im Bewusstsein der Konservativen und den von ihnen beherrschten Medien die Lüge getreten, es habe zwar Folter gegeben, aber man selber habe nichts davon gewusst. Diese Argumentation wich dann dem Eingeständnis der Mitwisser, dass man mehr hätte dagegen tun können und dass man sich entschuldigen müsse, nichts getan zu haben. Der spektakulärste Schritt in diese Richtung war das Schuldeingeständnis, das Juan Emilio Cheyre, der Chef des Heeres, 2004 abgab. Ohne Wenn und Aber bekannte sich der General zur Verantwortung des Heeres als Institution für "alle strafwürdigen und moralisch unakzeptablen Taten der Vergangenheit". Das Militär habe „in verwerflicher und moralisch unakzeptabler Weise" gehandelt, für die es "keinerlei ethische Rechtfertigung" gebe. Ausdrücklich verneinte er dabei, dass "das politische Umfeld" des Jahres 1973 Menschenrechtsverletzungen hätte rechtfertigten können. Der Ende 2004 vorgelegte Folterbericht hat diesen Umdenkungsprozess in der chilenischen Öffentlichkeit beschleunigt. Präsident Ricardo Lagos, dem es eigenen Worten zufolge schwer fiel, wegen der geschilderten Brutalitäten durch Anwendung von Elektroschocks, Bedrohung der Angehörigen, Scheinerschießungen und sexuellen Übergriffen mit Hunden, Ersticken und Erwürgen, Vergewaltigungen und Quälereien und der unendlichen Phantasie, die aufgeboten wurde, um die Opfer zu demütigen, den Report zu lesen, hat durchgesetzt, den Opfern kleine Pensionen zu zahlen, um so u.a. deutlich zu machen, dass der Staat als Institution die Verantwortung für die Verbrechen übernehme. "Man kann solche Verbrechen mit Geld nicht wieder gut machen, aber der Staat muß zumindest den Versuch machen, eine Kompensation anzubieten. Das ist eine Form, seine Verantwortung für das Geschehene zu akzeptieren." Es ist einsehbar, dass der Staat, der solche Verbrechen begangen hat, den Opfern eine wenigstens kleine Kompensation leistet. [Nicht so eindeutig klar – aber dennoch zu begrüßen – ist es, dass die Bundesrepublik den 170.000 Opfern des Stasi-Terrors von 1992 bis 2004 aus einem mit 650 Mill. € dotierten Fonds Kapitalentschädigungen und Unterstützungsleistungen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz für die Verbrechen zahlte, die die (Ex-)DDR ihren ihr politisch missliebigen Bürgern angetan hatte. Die Bundesrepublik hatte ja nicht die Stasi-Verbrechen begangen und steht nicht in der Rechtsfolge der (Ex-)DDR, deren Länder der BRD beigetreten sind.] In Chile sollte das Anderthalbfache der staatlichen Mindestrente in Höhe von 180 € gezahlt werden, was die Opferverbände als zu lächerlichen Betrag zurückwiesen – genauso, wie den Opferverbänden aus der ehemaligen DDR die von der BRD gezahlten Beträge zu gering waren. Ähnlich wie Chile arbeitete auch das in die Pinochet-Verbrechen mitverwobene Argentinien seine leidvolle Geschichte aus der Zeit seiner Pinochet im Rahmen der Aktion Condor verbundenen Diktatur auf: ARGENTINIEN Gericht erklärt Amnestie für Ex-Militärs für verfassungswidrig Der Oberste Gerichtshof Argentiniens hat die Gesetze zur Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen von Militärs unter der Diktatur von 1976 bis 1983 für verfassungswidrig erklärt. Damit können Dutzende Verfahren gegen Schergen aus der Zeit der Junta wieder aufgenommen werden. Buenos Aires - Ein Sprecher des Gerichts in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires sagte, von den neun Richtern hätten sieben für die Entscheidung gestimmt. Damit seien die nach dem Ende der Diktatur auf Druck der Militärs erlassenen Amnestiegesetze hinfällig. Staatspräsident Nestor Kirchner sagte, das Urteil stärke das "Vertrauen und den Glauben in die Justiz". Dies sei das "Ende der Straffreiheit in Argentinien". Auch die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Großmütter der Plaza de Mayo, Estela Carloto, begrüßte das Urteil. Jetzt müssten alle Militärs, die unter der Diktatur folterten und Menschen verschwinden ließen, vor Gericht erscheinen und sagen, was seinerzeit geschehen sei. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen wurden während der Herrschaft der Militärs bis zu 30.000 Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet. Das argentinische Parlament hatte im August 2003, wenige Monate nach Kirchners Amtsantritt, zwei Amnestiegesetze wieder aufgehoben. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Verfassungsmäßigkeit der Parlamentsentscheidung stand aber noch aus. Im konkreten Fall, über den das Gericht zu befinden hatte, ging es um den früheren Polizisten Julio

304

Simon. Er war angeklagt, 1978 in das Verschwinden des Chilenen José Liborio Poblete und seiner argentinischen Frau Gertrudis Hlaczik sowie die Entführung von deren achtmonatiger Tochter Claudia verwickelt gewesen zu sein, die er später als seine eigene aufzog. Wegen der Amnestiegesetze wurde Simon jedoch nicht verurteilt. Verteidigungsminister José Pampuro sagte, Teile der Armee seien über das Urteil des Obersten Gerichts beunruhigt. Zwischen 500 bis 1000 Militärs drohe nun eine Anklage. (SPIEGEL ONLINE 15.06.05)

Ein Nachtrag in Sachen Pinochet: Sieg und Niederlage für Pinochet Chiles Exdiktator darf nicht als Mörder angeklagt werden, aber wegen Geldgeschäften BUENOS AIRES taz Exdiktator Augusto Pinochet konnte am Dienstag in Chile vor Gericht einen Sieg erringen und musste in einem weiteren Verfahren eine Niederlage einstecken. Der Berufungsgerichtshof in Santiago entschied, die Anklage gegen Pinochet wegen seiner Beteiligung an der berüchtigten Operation Cóndor fallen zu lassen. Die Richter begründeten ihre Entscheidung mit dem schlechten Gesundheitszustand des 89-Jährigen. Pinochet wird vorgeworfen, im Rahmen der Operation Cóndor für Folter, Mord und Entführung verantwortlich zu sein. Während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) ermordeten in Chile die Sicherheitskräfte 3.000 Menschen, über 35.000 Menschen wurden in den Lagern der Militärs gefoltert. Am selben Tag entschied ein anderer Gerichtssenat, dass Pinochet seine Immunität als Senator verliert. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Exdiktator wegen Steuerhinterziehung und Vetternwirtschaft. Vergangenes Jahr wurden mehrere Schwarzgeldkonten von Pinochet mit insgesamt 17 Millionen US-Dollar auf einer US-Bank entdeckt. Der Anwalt der Pinochet-Opfer, Eduardo Contreras, sagte zu der Einstellung des Verfahrens gegen Pinochet im Falle der Operation Cóndor: "Die Richter halten es für schlimm, dass Pinochet ein Dieb war, aber es interessiert sie nicht, dass er ein Mörder war." INGO MALCHER (taz 09.06.05)

Meines Wissens ist bisher nur ein mittel- und südamerikanischer Diktator exkommuniziert worden: 1962 Fidel Castro, drei Jahre nach seiner Machtübernahme. Aber das ist ja auch ein linker Diktator und kein Gesinnungsfreund der USA, der Pinochets, Stroessners, Duvals, Somozas und wie sie alle hießen, heißen und noch heißen werden. Was muss man daraus lernen, wenn man diese Logik des Rechts der katholischen Kirche verstehen will, nur einen linken Diktator zu exkommunizieren, blutrünstige rechte Diktatoren aber zu unterstützen? Menschenrechtsverletzungen eines linken Diktators führen zu dessen ewiger Verdammnis, aber die tausendfache Tötung von demokratisch orientierten Regimekritikern durch rechte Diktatoren wird denen als lässliche Sünde nachgesehen! Würde der allgemeine Gleichheitsgrundsatz doch auch in der katholischen Kirche zur Geltung kommen und nicht kirchenrechtlich mit zweierlei unterschiedlichem - einem „linken“ und einem „rechten“ - Maß gemessen werden! Wie viel Leid und wie viele Verbrechen an den katholischen Machtunterworfenen der Diktatoren wäre jenen eventuell erspart geblieben, wenn auf das Gewissen der sich als gläubige Christen bezeichnenden und diesen Anspruch erhebenden Diktatoren, die sich von ihrer Kirche ja nicht lossagten, durch deren Beichtiger und damit die katholische Kirche und die in ihrem Kirchenrecht vorgesehenen Zwangsmittel hinreichend Druck - meinetwegen auch durch erzeugte Jenseits-Angst - ausgeübt worden wäre! Sonst warf die katholische Kirche ja auch ungeniert mit zehntausenden von Jahren Fegefeuer nur so um sich. Aber Glaubenskind scheint nicht gleich Glaubenskind zu sein. Vor dem Papst als dem Stellvertreter Gottes sind anscheinend nicht alle Glaubenskinder gleich. (Oder haben die südamerikanischen Diktatoren vor Ausübung ihrer Gräueltaten immerzu die Ringe ihrer Kardinäle geküsst? Denn nach katholischem Kirchenrecht gilt bis jetzt die Anweisung des Sanctum Ufficium, des Heiligen Offiziums, der früheren Inquisitionsbehörde und heutigen Glaubenskongregation, vom 08.04.1909, wonach ein jeder, der den Ring eines Kardinals küsst, das Recht auf einen 50-tägigen Ablass seiner Sünden erhält.) Im irdischen Zivilrecht kann der Geschäftsherr eine Stellvertretung auch wieder entziehen, wenn sie nicht in seinem Sinne wahrgenommen wird - und er tut es auch! Für mich am empörendsten: Die rechtsgerichteten katholischen Diktatoren mit ihren blutigen Händen sind nie

305

exkommuniziert worden. Aber jeder Katholik einer "Mischehe" mit einem evangelischen Partner war bis mindestens 1959 in dem Augenblick, in dem er in eine evangelische christliche Taufe der Kinder aus dieser Ehe eingewilligt hatte, automatisch von der katholischen Kirche exkommuniziert, d.h., er durfte nicht mehr an den Sakramenten teilnehmen und wurde nicht mehr kirchlich beerdigt. Das war katholisches Kirchen-»Recht«. Wer eine Abtreibung vornimmt oder vornehmen lässt und damit, jedenfalls nach katholischer Auffassung, einen Menschen tötet, ist automatisch exkommuniziert. Warum gilt dieser Lebensschutz nicht erst recht für schon eigenständiges Leben? Die allesamt katholischen verbrecherischen Diktatoren Südamerikas dagegen sind nie exkommuniziert worden. Im Gegenteil: Am 02.04.87 segnete Papst Johannes Paul II in Santiago de Chile anlässlich seines Staatsbesuches den verbrecherischen General Augusto Pinochet Ugarte, der seine Qualitäten als Diktator, Folterer und Menschenschlächter vieltausendfach unter Beweis gestellt hatte, während vor dem Präsidentenpalast Tausende von Opfern oder Angehörige von Opfern für eine "gerechte" Kirche beteten. (Um die Elle deutlich werden zu lassen, nach der der vormalige Papst nach Kirchenrecht seine Gunst differenziert hatte: Zehn Jahre später ist dem portugiesischen Staatspräsidentenehepaar vom Papst eine Audienz verweigert worden, weil Jorge Sampaio und seine Frau nicht kirchlich getraut worden sind.) Doch nur die Exkommunikation der katholischen Diktatoren wäre eine kirchenrechtlich und damit juristisch bruchlose Argumentation gewesen! Auf der anderen Seite sollte die teilweise mehr als offenherzig auftretende Sängerin Madonna laut einer Zeitungsmeldung (HH A 31.05.91) auf Veranlassung des New Yorker Kardinals O'Connor wegen ihrer mangelhaften Bekleidung bei öffentlichen Auftritten und ihres lasziven Hautkontaktes mit einem Kruzifix in einem Video exkommuniziert werden, was beweist, dass ein hübscher Busen höchste katholische Geistliche mehr zu beunruhigen vermag – sein Nachfolger McCarthy trat Juni 2002 wegen seiner Frauenbeziehungen von diesem Amt zurück - als Abertausende von durch Katholiken über viele Jahre hinweg grausamst gefolterte und ermordete andere Katholiken. Nähme sich die katholische Kirche doch der Geborenen mindestens in gleicher Intensität an wie der noch Ungeborenen oder der noch gar nicht Gezeugten! Andere Religionen sind in ihren Gräueltaten oft nicht wesentlich besser gewesen als die christliche - nur predigen sie auch nicht die Feindesliebe als zentrales Gebot. "Wenn jedermann die Regeln des Islam befolgte, könnten alle Probleme der Welt gelöst werden!", hatte 1973 der strenggläubige Moslem und als Staatsmann lange Jahre als Chefterrorist agierende Ghaddafi 53 - wie später Khomeini gegenüber Gorbatschow - verkündet. Zehn Jahre später presste er zwei libysche Mörder, die in seinem Auftrag einen regimekritischen libyschen Studenten in Köln ermordet hatten und daraufhin zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden waren, dadurch frei, dass er acht deutsche Geschäftsleute unter hergesuchten Beschuldigungen (Alkoholgenuss in seinem islamischen Land) als Geiseln gefangengesetzt hatte, bis seine von ihm gedungenen und in Deutschland abgeurteilten Mörder zu ihm abgeschoben worden waren. Ein Jahr später war aus seiner Botschaft in London auf vor dem Haus auf und ab gehende und dabei gegen seine Politik protestierende Demonstranten geschossen worden, wobei eine Londoner Polizistin getötet worden war. Auch hier bestand die (dieses Mal allerdings nicht realisierte) unausgesprochene Drohung der Geiselnahme, weil zu der Zeit etwa 8.000 Briten in Libyen lebten. Darum konnte Ghaddafi den mörderischen Gesinnungsgenossen auch dieses Mal wieder freibekommen. Die Mitglieder des libyschen "Volksbüros" durften geschlossen, ohne Untersuchung und Auslieferung des Mörders Großbritannien verlassen. Und das soll »Recht« sein? Als in Israel 1984 Sicherheitskräfte palästinensische Terroristen, die die Insassen eines Busses als Geiseln genommen hatten, nach der Überwältigung der Terroristen, Befreiung der Geiseln und der Gefangennahme der Kidnapper erschlagen hatten, wurden die Soldaten nach einem anfänglichen Verschleierungsversuch des Verteidigungsministeriums(!) dann doch vor Gericht gestellt und verurteilt. Das ist der Unterschied eines Staates mit dem Anspruch, ein Rechtsstaat sein zu wollen, wie Israel es im Gegensatz zu dem Libyen Ghaddafis wohl meistens zu sein versucht - wenn es nicht um Auseinandersetzungen mit Palästinensern in den besetzten arabischen Territorien geht. Der Deutsche Wilhelm Goller leitet nach 21 Jahren Schulleitertätigkeit in Tübingen in Bethlehem die evangelische Schule „Talitha Kumi“. „... Goller ertappt sich immer öfter dabei, dass er Partei ergreift, wenn ein palästinensischer Mitarbeiter enteignet wird, weil auf seinem Land jüdische Siedlungen gebaut werden sollen, oder 53

2000 gelang es ihm, durch den Freikauf von auf die Philippinen entführten Geiseln aus der Hand muslimischer Rebellen aus seiner Rolle als Paria der Staatenwelt auszubrechen, und nach der Verurteilung des libyschen „Lockerbie-Attentäters“ vor einem in den Niederlanden tagenden schottischen(!) Gericht 2001 übernahm Libyen 2003 die Verantwortung für dieses Attentat und zahlte 2,7 Mrd. $ Entschädigung plus einen weiteren Geldbetrag für den Anschlag in Berlin, damit die von der UNO erlassenen Sanktionen gegen das Land nach eineinhalb Jahrzehnten wieder aufgehoben wurden.

306

wenn er wieder einer Familie kondolieren muss. Es ärgert ihn, dass die Palästinenser keine Brunnen bauen dürfen und das Wasser viermal so teuer einkaufen müssen wie ihre jüdischen Nachbarn in den Siedlungen.“ (STERN 19.12.01) Aber um Auseinandersetzungen mit Palästinensern in den von Israel besetzten arabischen Territorien geht es dort praktisch ständig. Da herrscht dann nur noch die israelische Form der Apartheid: nackte Militärdiktatur und zum Teil von der Militärführung geduldete und gedeckte Gewalt fanatisierter jüdischer Siedler, Soldaten und irgendwelcher Sicherheitskräfte gegen Palästinenser. So wurden z.B. auf autonomem palästinensischen Gebiet 500.000 der für die ein wenig Land besitzenden Palästinenser als wirtschaftliche Existenzgrundlage dienenden Öl-/Olivenbäume von Soldaten oder den in zum großen Teil selbst nach israelischem Recht illegal errichteten Siedlungen lebenden orthodoxen jüdischen Siedlern unter dem Schutz israelischer Soldaten entschädigungslos zerstört, um die Palästinenser zur Aufgabe des ihnen verbliebenen Restlandes zu zwingen. Dem gleichen Ziel dient die höchst ungerecht gestaltete Wasservergabe: viel Wasser für die israelischen Siedlungen u.a. zum Anbau von landwirtschaftlichen Exportprodukten, sehr wenig für die Palästinenser. Die davon betroffenen Palästinenser werden durch solche Maßnahmen bewusst dem jahrelangen Hunger preisgegeben, da die zerstörten Olivenbäume, die normalerweise bis über 1.000 Jahre alt werden und somit Generationen ernähren können, nur in jahrelanger Arbeit wieder ersetzt werden könnten. (Bis zur ersten Blüte dauert es mindestens fünf Jahre.) Die von der auf ihre Vertreibung abzielenden boshaften Willkür der orthodoxen Siedler betroffenen Palästinenser haben jedoch nichts anderes, wovon sie leben könnten. Ihre Lebenssituation in den von Israel besetzten Gebieten ist unerträglich! “Wer nicht spurt, dem wird wahlweise das Haus zerstört, die Arbeitserlaubnis weggenommen, der Führerschein entzogen, oder er wird deportiert, ohne Prozess ins Gefängnis gesteckt, gefoltert“ (STERN 06.06.02). „Es herrscht nicht das Gesetz, es wird per Gesetz geherrscht“ (M. Benvenisti; ehem. stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem). So hatte z.B. während des Libanonfeldzuges 1982 der damalige Verteidigungsminister Scharon geduldet, dass mit Israel verbündete christliche libanesische Milizen nach einem tödlich verlaufenen Attentat auf ihren Anführer rund 1.000 Bewohner der libanesischen Lager Sabra und Schatila ermordeten. „Später sagen die Soldaten, sie hätten nichts gemerkt von dem Blutbad. ’Das stimmt’, so [der us-amerikanische Journalist] Friedmann, der damals vor Ort war. ’Die Israelis sahen keine Unschuldigen, die massakriert wurden, sie hörten keine Schreie unschuldiger Kinder, die in ihre Gräber geschickt wurden. Sie sahen ’eine terroristische Plage’ die ’gesäubert wurde’, sie sahen ’terroristische Krankenschwestern’, sie sahen ’terroristische Teenager’ und ’terroristische Frauen’, die um ihr Leben schrieen“ (STERN 06.06.02). Weil der damalige israelische Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber im Libanonkrieg, Scharon, bewusst nicht einschritt, urteilte eine israelische Regierungskommission 1983 in einem einmaligen politischen Vorgang über ihren eigenen Verteidigungsminister, Scharon sei wegen seiner indirekten Verantwortung für das Massaker „ ... unfähig, jemals wieder das Verteidigungsministerium leiten zu dürfen“. Andere Israelis machen Scharon auch noch für andere Massaker verantwortlich, z.B. für das Massaker der israelischen Armee an etwa 1.000 unbewaffneten ägyptischen Gefangenen in El Arisch auf dem Sinai. Und dann wurde dieser Mann, den der Justizminister der Vorgängerregierung, Beilin, als den „hässlichen Israeli, der alles verkörpert, was in unserer Gesellschaft böse ist; ein gefährlicher Mann im Schafspelz“ bezeichnete (HH A 02.02.01) und der sich wegen der in seiner Mitverantwortung begangenen Gräueltaten bisher mit dem Argument zu verteidigen suchte: „Da haben christliche Araber ohne unsere Kenntnis moslemische Araber getötet!“, 2001 zum neuen Ministerpräsidenten des Landes Israel gewählt! So ist das, wenn strafwürdiges Verhalten nicht durch das Recht mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht wird. "Was ist denn das für eine Demokratie, wenn tagtäglich die grundlegendsten Menschenrechte verletzt werden", wurde wiederholt in der Debatte des Europäischen Parlaments am 11.10.90 gefragt, an deren Schluss in ungewöhnlich scharfer Form mit breiter Mehrheit die menschenrechtsverletzende Politik der Regierung Israels gegenüber den Palästinensern verurteilt worden war (Das Parlament 02.11.90). „Der vielbeschworene ’jüdische und demokratische Staat’ ist ’demokratisch für die Juden und jüdisch für die Araber’, diagnostizierte die Labour-Abgeordnete Yael Dayan“ (Stern 29.05.02). Dabei wird von Israel nicht nur kurzfristiger Terror zur Beantwortung des aus Ideologie und/oder Hoffnungslosigkeit geborenen palästinensischen Terrors betrieben, sondern auch ganz bewusst langfristige Unterentwicklung angestrebt. Die mit einem Araber verheiratete, sich für die Rechte der Palästinenser engagierende israelische Lehrerin Arna Mer-Chamis berichtete in der Hamburger Lehrerzeitung (10-11/90): "Die Armee betreibt mit dem kontinuierlichen Schließen der Schulen in den besetzten Gebieten eine systematische Politik. Ziel dieser Aktivitäten ist die gewollte intellektuelle Unterentwicklung der palästinensischen Jugend. Die Spuren sind schon jetzt ablesbar. Schon zwei Jahrgänge konnten nicht altersgemäß anfangen, Lesen und Schreiben zu lernen. Ältere Jahrgänge haben das einst Gelernte längst vergessen. Heute ist es der Bevölkerung in den besetzten Gebieten verboten, ihre Kinder zu

307

unterrichten. Wer dabei vom Militär erwischt wird, muß mit bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen." (Als Historiker weiß ich: So ähnlich hatten auch die Nazis in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten versucht, die intellektuelle Entwicklung der ihrer Ideologie unterworfenen "fremdländischen" Bevölkerung im Osten Europas, insbesondere Polens, zu behindern. Die Polen sollten nach dem Willen der Nazis nur noch ein wenig das Lesen, Schreiben und Rechnen im Zahlbereich bis 100 erlernen, so weit sie dadurch für die deutschen Herrenmenschen nützlicher verwendbar würden. Und nach solchen historischen Erfahrungen, die die polnischen Juden, so weit sie überleben konnten, mit durchlitten haben, verhält sich Israel als Besatzungsmacht gegenüber den Palästinensern in der gleichen unmoralischen Weise, wie es die Nazis ihnen gegenüber getan haben! Das ist eine skandalöse Tatsache. Darum ist es mir unverständlich, wenn von dem Redakteur Henryk M. Broder in Spiegel Online vom 10.05.05 sauertöpfisch-moralisierend moniert wurde: „Etwa die Hälfte der Deutschen ist überzeugt, dass die Israelis den Palästinensern das antun, was die Nazis den Juden angetan haben. So werden aus resozialisierten Gewalttätern Bewährungshelfer, die darauf aufpassen, dass deren Opfer sich anständig verhalten.“) Der alltägliche Gruß "Shalom" ("Friede") wurde schon längst zur Farce. Darüber schreibt die als einzige israelische Journalistin im Auftrag ihrer Zeitung Ha’aretz in Palästinensergebiet lebende Amira Hass in ihren Büchern, u.a. in: „Bericht aus Ramallah – Bericht einer Israelitin im Palästinensergebiet“. 1988 berichtete die „Jerusalem Post“, dass israelische Soldaten in den besetzten Gebieten vier Palästinenser unter Einsatz einer Planierraupe (kurzfristig) lebendig begraben hatten! Israelische Soldaten brachen Palästinensern vor laufender Fernsehkamera von Auslandsreportern die Arme mit Steinschlägen und verprügelten anschließend die so wehrlos gemachten genüsslich, als die im Jahre 1987 begonnene erste Intifada in den besetzten Gebieten Anfang 1988 schon einige Zeit angedauert hatte und die Erregung auf beiden Seiten erheblich angestachelt worden war. Wegen der internationalen Empörung über die israelische Justizpraxis der Besatzungsarmee wurden die soldatischen Straftäter der genannten Beispiele festgenommen. Für den Versuch der Ermordung durch lebendiges Begraben wurden nur mehrmonatige Haftstrafen verhängt - und das auch nur wegen der Wachsamkeit der internationalen Kommunikationsmedien. Und das auf beiden Seiten verbitterte Verhalten hält an: Nachdem am Vorabend des Pessach-Festes 2002 ein Palästinenser, der sich zu einem traditionellen Ceder-Mahl in eine in einem Hotel versammelte Festgesellschaft eingeschlichen und mit einem weiteren Selbstmordattentat durch um den Leib geschnürte Bomben 21 Israelis getötet und mehr als 120 weitere teils schwer verletzt hatte, besetzten die Israelis, von unbestreitbar berechtigtem Selbsterhaltungswillen und kalter Wut getrieben, wieder die vor einiger Zeit an die Palästinensische Selbstverwaltung übergebenen Gebiete in einer Art und Weise, dass israelische Menschenrechtsgruppen dagegen protestierten und israelische Gerichte das Verscharren der durch den Militäreinmarsch verursachten Leichen verbot, um – gegen den Willen der Armeeführung – Untersuchungen nicht unmöglich zu machen, die die Art des Vorgehens der israelischen Armee nachträglich überprüfbar erhalten wollten. Aber Urteile und Anordnungen des Obersten Gerichtshofes Israels scheinen – jedenfalls in den besetzten Gebieten – in der Lebenswirklichkeit grundsätzlich nur zum Schutz von Israelis Gültigkeit zu haben, nicht aber zum Schutz von Palästinenser. Anders ist es nicht zu erklären, dass der Oberste Gerichtshof Israels z. B. 2002 zwar verboten hat, dass israelische Soldaten Palästinenser als menschliche Schutzschilde missbrauchen, indem sie beliebige Palästinenser greifen und auf ihre Autos binden, wenn sie in Palästinensergebiet fahren und Schüsse oder Steinwürfe der Intifada-Kämpfer befürchten. Trotzdem gingen 2004 Bilder durch die Weltpresse (STERN 29.04.04), die einen als menschlichen Schutzschild mit einem Plastikgurt an das Eisengitter vor der Windschutzscheibe gefesselten 13-jährigen Jungen zeigten. Niemand, der abgewogen zu urteilen versucht, spricht Israel das Recht ab, sich angemessen gegen Selbstmordattentäter – und das sind diese ideologisch verbohrten Kriminellen, die entgegen den Worten ihres Propheten mit gemeingefährlichen Mitteln Selbstmord begehen oder indoktrinierte, fanatisierte Kinder54 dazu

54

Im März 04 gingen Bilder eines zumindest körperlich zurückgebliebenen 16-jährigen palästinensischen Jungen um die Welt, der mit einer nicht gezündeten Sprengstoffweste an dem Kontrollpunkt Hauwara bei Nablus stand und von einem Roboter von der tödlichen Last befreit wurde. Über diesen Jungen berichtete DIE WELT am 26.03.04, dass er, nach seinen Motiven befragt, seine Handlungsweise damit erklärte: „Niemand hat mich lieb, und im Himmel warten 72 Jungfrauen auf mich.“ Außerdem hatte er für die Aufopferung seines Lebens den Gegenwert von 18 Euro, 100 Schekel, erhalten. Im Zusammenhang mit dieser Recherche wurden Fälle von 10-jährigen Kindern berichtet, die – im Unklaren gehalten über den Inhalt - für ein paar Cent in ihren Schultornistern unkontrolliert Sprengstoff für die Fatah oder die ihr nominell unterstehen Tansi-Zellen durch die israelischen Kontrollen geschmuggelt hatten. „Erst Mitte März hatten israelische Soldaten einen zehnjährigen Palästinenser gestellt, der mit Sprengstoff in seinem Rucksack einen Kontrollpunkt passieren

308

benutzen, um dadurch möglichst viele Israelis mit sich in den Tod zu reißen - verteidigen zu dürfen, aber wie die Israelis oft vorgehen, spricht jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn: „Auge um Auge, Zahn um Zahn Die Serie von Selbstmordattentaten und Israels Rachefeldzug schüren neuen Hass zwischen Juden und Palästinensern. ... Vor allem die Schikanen an den Armeekontrollpunkten seien menschenverachtend. Da müssen sich Männer bei Leibesvisitationen auf offener Straße vor Frauen nackt ausziehen – in der prüden islamischen Gesellschaft eine Schmach. Bei Hausdurchsuchungen – immer nachts oder im Morgengrauen – würden die schlaftrunkenen Bewohner in ihren Pyjamas auf die Straße getrieben. Väter würden vor ihren Kindern mit Gewehrkolben zusammengeschlagen. Seit kurzem hätten sich die Besatzer weitere Erniedrigungen ausgedacht: So urinieren Soldaten auf Verdächtige, die oft stundenlang mit auf dem Rücken gefesselten Händen und verbundenen Augen auf öffentlichen Plätzen liegen müssen. Oder: Die Passagiere von den allgegenwärtigen gelben Sammeltaxis werden zur Kontrolle angehalten. Aber sie dürfen nicht etwa durch die Türen aussteigen. Sondern sie müssen sich – ob alt oder jung – unter dem Gejohle der Soldaten aus den Fenstern ins Freie quälen. Eine Tante des Märtyrers ... glaubt. dass diese Einschüchterungen und Erniedrigungen auch bei besonnenen Palästinensern den Hass schüren: ’Wir müssen täglich erleben, dass die Soldaten nicht nur uns wie Tiere behandeln. Sie benehmen sich selbst wie welche.’ ... Ramallah, die provisorische Hauptstadt der Palästinenser, war zum Schlachtfeld geworden, überall wurden vermeintliche und tatsächliche Terroristen verhaftet. In der Cairo-Amman Bank hatten Sharons Truppen allem Anschein nach mindestens fünf Polizisten Jassir Arafats der Einfachheit halber durch Kopfschüsse hingerichtet.“ (STERN 04.04.02) Auf beiden Seiten hat sich tödlicher Hass aufgestaut. Das auf der Beerdigung eines Soldaten gesprochene nachdenkliche Wort ihres Kriegshelden und späteren Verteidigungsministers Moshe Dayan: „Lasst uns keine Schuld bei den Mördern suchen. Was können wir gegen ihren schrecklichen Hass auf uns sagen? Seit Jahren sitzen sie nun in ihren Flüchtlingslagern und haben gesehen, wie wir vor ihren Augen ihr Land und ihre Dörfer, wo sie und ihre Vorfahren einst lebten, in unsere Heimat verwandelt haben“, verhallte ungehört. Was sollte ein solches Verhalten israelischer Soldaten mit Recht oder Besatzungsrecht zu tun haben? Darin vermag ich nur reine Willkür und Menschenverachtung zu erkennen – wie sie „den Juden“ von „den Nazis“ entgegengebracht worden war. Der israelische Professor Kimmerling spricht zur Kennzeichnung des von Israel den Palästinensern gegenüber an den Tag und die Nacht gelegten Verhaltens in einer bewussten Wortschöpfung von einem von den Israelis an dem palästinensischen Volk verübten „Politizid“. „Lotterie der besonderen Art Israels Besatzungstruppen lassen Palästinenser per Los Art der Misshandlung wählen Es braucht nicht viel dafür: Einige israelische Soldaten, einige Palästinenser, ein paar Stückchen Papier – fertig ist die »palästinensische Lotterie«. Ein Tombola-Trend der besonderen Art hat in kürzester Zeit die Westbank erfasst. Von der israelischen Armee aufgegriffene Palästinenser werden gezwungen, ein »Los« zu ziehen, auf dem das Körperteil vermerkt ist, das danach gebrochen wird. Die ersten Fälle wurden Ende vergangenen Jahres in Hebron bekannt Die israelische Zeitung Yedioth Ahronot hatte am 22. Dezember erstmals über die zynische Misshandlung berichtet. Die Washington Post brachte am 10. Januar den Fall des Ende Dezember zu Tode geprügelten jugendlichen Amran Abu Hamediye unter dem Titel »Brutal Routine« mit der »Lotterie« in Verbindung. Die US-Zeitung berichtete, der junge Palästinenser sei kurzzeitig festgenommen worden. Später sei seine Leiche auf einer Straße in Hebron voller Anzeichen schwerer Misshandlungen gefunden worden. wollte. Die Bombe sollte mit einem Handy ferngezündet werden. Der Junge wusste offenbar nichts von seinem Auftrag.“ (HH A 25.03.04) Die Kinder werden so erzogen, die Familien sind so verbittert und ihre wirtschaftliche Lage ist so hoffnungslos, dass 74 % der palästinensischen Kinder und Jugendlichen davon träumen, auch Märtyrer zu werden, wie die ihnen in Rundfunk, Fernsehen und auf Straßenplakaten ständig als Vorbilder präsentierten bisherigen Selbstmörder.

309

Laut Hussein Al Schuchi, einem Rechtsanwalt aus Hebron, begannen Misshandlungen dieser Art im November – und sie dauern bis heute an. Er selbst habe mit mindestens 50 Palästinensern aus Hebron gesprochen, die geschlagen worden seien, nachdem sie ein »Los« gezogen hatten. Der palästinensische Jurist nennt den Fall von Wassim Radschaih: Der 14jährige sei »an einem ganz normalen Tag im Dezember« während der Ausgangssperre aus der Wohnung gegangen, da er gehofft habe, den Lebensmittelladen erreichen und etwas einkaufen zu können. Auf dem Weg habe neben ihm ein Jeep mit fünf israelischen Grenzpolizisten gehalten, die ihn gefragt hätten, wo er denn hin wolle. Dann hätten sie zu ihm gesagt, dass es verboten sei, auf die Straße zu gehen, und dass sie ihm eine Lektion erteilen würden. Die Soldaten haben Rechtsanwalt Al Schuchi zufolge Wassim Radschaih mehrere Zettel gezeigt, von denen er einen wählen sollte. Auf dem auseinandergefalteten Papier habe gestanden: »Wir werden dir deine Hand brechen.« Danach hätten die Polizisten seine Hand ergriffen und ihm einen Finger gebrochen. Ein weiterer Bericht handelt von Ibrahim Jabare. Er habe gerade mit seinem Cousin zusammengesessen, als ein Jeep vor dem Haus gehalten habe. Mehrere israelische Polizisten seien aus dem Fahrzeug gesprungen und hätten die beiden Palästinenser aufgefordert, herauszukommen. Erst seien sie geschlagen worden, aber dann hätten die Polizisten plötzlich gesagt: »Du musst wählen, wie wir dich weiter verprügeln.« Er habe einen Zettel ziehen müssen, auf dem gestanden habe: »linkes Bein und linke Hand«. Bewußtlos sei er später mit gebrochenem Bein und gebrochener Hand ins Krankenhaus eingeliefert worden. Auch aus anderen Städten der Westbank wurden solche Fälle bekannt. So berichtet »Palestine Monitor«, das Informationsorgan der palästinensischen Nichtregierungsorganisationen, dass am 12. Januar der 23jährige Firas Al Sarfandi ins Sheikh Zayed Krankenhaus in Ramallah eingeliefert worden sei, nachdem man ihn bewusstlos und blutüberströmt auf der Straße gefunden hatte. Augenzeugen berichteten, Firas sei gegen 17 Uhr von Soldaten aufgehalten worden, die ihm mehrere Zettel entgegengehalten hätten. Sie hätten ihn gezwungen, einen auszuwählen und ihn dann fast eine halbe Stunde lang verprügelt. Die israelische Menschenrechtsorganisation PCATI (Public Committee Against Torture in Israel) bestätigte gegenüber junge Welt, auch sie habe Informationen, wonach mehrere Soldaten und Grenzpolizisten Palästinenser gezwungen hätten, an der »Lotterie« teilzunehmen. PCATI hat inzwischen einen Beschwerdebrief im Fall des zu Tode geprügelten Palästinensers Amran Abu Hamediye an die zuständigen Behörden geschickt, mit der Aufforderung, eine Untersuchung einzuleiten.“ (jungewelt.de 28.01.03) Wenn man solche Berichte, die bei mir Erinnerungen an Drangsalierungen von Juden durch fanatische Nazis in KZs wachrufen, liest, kann man vermuten, dass die israelische Verfassung keinen Artikel hat, der Art. I GG entspricht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Ich bin zwar nicht stolz darauf, ein Deutscher zu sein, denn auf so eine reine Zufälligkeit ohne erbrachte eigene Leistung wie die Geburtsstaatsbürgerschaft vermag ich nicht stolz zu sein. Aber ich bin meinem Schicksal dankbar dafür, dass ich die Sozialchancen wahrnehmen durfte, die unser Staat seinen Bürgern bietet, und ich lebe sehr gerne unter der Geltung des Grundgesetzes mit seinen Garantien für jeden einzelnen Menschen im Geltungsbereich unserer Verfassung!

Ohne die - bei uns in Art. 5 I GG verfassungsrechtlich abgesicherte - Presse- und Kommunikationsfreiheit würden solche Verfehlungen wie die vorstehend berichteten nicht bekannt. Die Presse- und Kommunikationsfreiheit kann, wenn sich eine Staatsführung vor der internationalen Öffentlichkeit noch zu genieren vermag und befürchtet, wegen eines bestimmten Verhaltens vor der Weltöffentlichkeit bloßgestellt zu werden, dem »Recht« (teilweise) zum Durchbruch verhelfen. Nach der Verleihung der Autonomie in den ersten palästinensischen Gebieten und der Verleihung des Friedensnobelpreises an die (damals) führenden Politiker dieser Krisenregion wuchs die Hoffnung, dass ein an »Recht« und »Gerechtigkeit« orientierter Ausgleich gefunden werden möge! Es scheint aber noch ein weiter Weg bis dahin vor den Völkern zu liegen, die sich gegenseitig an die Kehle gehen – und letztlich doch nebeneinander her leben müssen. Der französische Schriftsteller Joseph Joubert fand das zunächst einprägsam und bedenkenswert klingende Wort: „Gerechtigkeit ist Wahrheit in Aktion.“

310

Aber da sich »Wahrheit« auch nicht genau definieren lässt und zum Teil sehr subjektiv ist – was leicht einsehbar ist, wenn wir z.B. über den Begriff der „Glaubenswahrheit“ nachdenken –, dann können wir uns vorstellen, dass es schwer ist, eine allgemein verbindliche Elle zu finden, an der in jedem Einzelfall für alle überzeugend und verbindlich »Gerechtigkeit« gemessen werden könnte. „Wer den Menschen auf beiden Seiten dieses Konflikts zuhört, stellt fest, dass sie nicht einmal mehr denselben Krieg führen. Für die Israelis sind die Gewalt und Gegengewalt der vergangenen 18 Monate schlicht ein Kampf um Sicherheit, ein Krieg gegen den Terror ähnlich dem der Amerikaner nach dem Anschlag vom 11. September. Für die Palästinenser ist es der Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, der nicht aufhören wird, solange sich die Truppen der Israelis nicht auf die Grenzen von 1967 zurückziehen.“ (STERN 04.04.02) Wie findet man da zur vorstehend als „Wahrheit in Aktion“ zitierten Gerechtigkeit? Realistisch, aber das Gerechtigkeitsgefühl nicht befriedigend, ist im internationalen Bereich oft, was zwei Athener Generale schon 416 v.Chr. den Einwohnern von Melos, die sich im peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta dem vom ehrgeizigen und machthungrigen attischen Staatsmann und Feldherrn Alkibiades vertretenen Herrschaftsanspruch der Athener nicht hatten unterwerfen und neutral bleiben wollen, gesagt hatten: "Recht gilt nur bei Gleichheit der Kräfte. Ansonsten setzt der Überlegene das Mögliche durch, und der Schwache hat es hinzunehmen!" Als die Meler auf ihrer (wie die attischen Generale meinten: irrigen) Rechtsansicht beharrten, wurde die Insel von den Athenern verwüstet, die männliche Bevölkerung geköpft, Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. Die attischen Generale standen vermutlich in der Tradition der Sophisten. Einer von ihnen, Thrasymachos, hatte als Erkenntnis formuliert: „Macht ist Recht, und Gerechtigkeit ist der Vorteil des Stärkeren.“ Ein sehr unkritisches Gerechtigkeits- und Rechtsverständnis! Das von den USAmerikanern als einzig verbliebener Weltmacht in attischer Tradition weitergepflegt wird: Das zeigt sich darin, wie sie für sich Sonderrechte reklamieren, damit z.B. nie ein Landsmann Gefahr läuft, vor dem 2002 eingerichteten Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden zu können, dass ein Dekret erlassen wurde, welches es jedem US-Präsidenten ermöglicht, in den Niederlanden einzumarschieren und einen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag angeklagten US-Amerikaner zu „befreien“. Und die in Afghanistan gefangengenommenen Al-Quaida-Kämpfer des arabischen Terroristen Osama bin Laden wurden bewusst auf den us-amerikanischen Militärstützpunkt Guantanamo gebracht, damit sie – nach konservativ-usamerikanischem Verständnis - weder nach afghanischem noch us-amerikanischem oder sonst einem Recht behandelt werden müssen, sondern vogelfrei sind. Die Argumentationslinie der zu der Zeit an der Macht befindlichen US-Konservativen: Da sich die Terroristen an kein internationales Recht gehalten hätten und halten, hätten sie das Recht verwirkt, nach völkerrechtlichen oder us-rechtlichen Normen behandelt zu werden! Eine solche Argumentation auf das Inland bezogen zeigt die Schwäche einer solchen das Recht verneinenden Position: Weil ein Verbrecher sich nicht an die für die Gesellschaft aufgestellten Normen hält, wäre er vogelfrei und staatliche Organe könnten mit ihm verfahren, wie es ihnen beliebt. Das war im NS-Staat so! „Alles OK in Guantanamo-Bay“, singt Reinhard Mey in seinem sarkastisch anprangernden Lied. Inneramerikanische Gegner der konservativen Republikaner sprechen von einer „Talibanisierung des Rechts“ durch die US-Regierung des sich selbst als „Botschafter Gottes“ bezeichnenden und als „born-again Christian“ („wiedergeborener Christ“) ungeniert Jesus als Wahlhelfer einsetzenden US-Präsidenten George W. Bush jun, der wie noch kein Präsident vor ihm – so der Vorwurf seiner demokratischen Gegner - „die Religion für seine Zwecke gekidnappt“ hat. Der Supreme Court hat dieser Rechtsauffassung nach zweijähriger Praxis der totalen Rechtsverweigerung widersprochen: Auch wenn sich die Basis außerhalb des Territoriums der USA befinde, gelte dort, da die Militärbasis der Verwaltung der USA untersteht, us-amerikanisches Recht! Die Inhaftierten seien nicht rechtsund vogelfrei, sondern könnten gegen ihre Inhaftierung klagen. Seit dem völlig ungerechtfertigten Angriff der Athener auf die Meler hat sich in den zwischenzeitlich verflossenen 2.400 Jahren im Grundsatz nicht allzu viel geändert: So überfielen z.B. die Deutschen 1939 unter der Führung Hitlers die Völker Europas und steckten die ganze Welt zum zweiten Male in Brand, besetzte die Großmacht China 1950 das seit dem Sturz der Mandschukaiser 1913 von China unabhängige, friedliche Tibet, um es angeblich zu "befreien" (die Tibeter fragen sich noch immer: von wem?; aber leider gibt es in Tibet kein Erdöl, so dass die internationale Staatengemeinschaft bei der für ein Militärunternehmen schlechten strategischen Lage keinen bewaffneten Konflikt wie im Falle Kuwaits gegen den Aggressor zu führen bereit ist), überfiel die damalige Weltmacht UdSSR das kleine Afghanistan wie vordem die USA Vietnam, wurden die Häfen des damals sozialistisch ausgerichteten Nicaraguas 1984 unter der Leitung des amerikanischen Geheimdienstes CIA mitten im offiziellen Frieden zwischen beiden Ländern vermint, ... . Der Beispiele sind

311

Legion! Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind mehr Menschen in lokalen kriegerischen Auseinandersetzungen gefallen als in dem letzten Weltkrieg. Die Generale der serbisch dominierten Bundesarmee des früheren Jugoslawien demonstrierten in fünf Kriegen gegen kleinere Bevölkerungsgruppen des früheren Vielvölkerstaates Jugoslawien durch die Zerstörung nichtserbischer Städte, dass sie genauso denken wie die attischen Generale vor fast 2.500 Jahren, als sie Melos zerstörten, weil die Völkergemeinschaft sich bis 1999 nicht aufraffen konnte, die systematischen Massenvergewaltigungen hauptsächlich muslimischer Frauen und den Völkermord in dem früheren Jugoslawien durch Entsendung (starker) Kampftruppenkontingente mit „robustem“ Auftrag zu unterbinden. Die 52 KSZE-Mitgliedsstaaten waren bis dahin nur bereit gewesen, Serbien als Aggressor zu brandmarken. Aber so etwas stört doch einen Aggressor nicht, egal wer es gerade ist! Lästiger ist da schon das (immer wieder durchbrochene) Wirtschaftsembargo - das Griechenland als Lieferant des Erdöls für die serbischen Panzer aus eigennützigen wirtschaftlichen Erwägungen heraus lange zu verhindern und zu unterlaufen suchte! Die Weltgemeinschaft hatte immer noch nichts aus den Anfängen der nationalsozialistischen Okkupationsherrschaft gelernt. Erst 1999 engagierte sie sich zum ersten Mal ohne selbst angegriffen zu sein zur Durchsetzung der Menschenrechte, als die Massenvertreibungen der Albaner aus dem Kosovo, der systematische Völkermord an ihnen und Massenvergewaltigungen albanischer Frauen durch Serben den Balkan wieder in Brand steckten. Recht ohne Macht - nach innen durch das Gewaltmonopol des Staates oder nach außen z.B. gegenüber einem rücksichtslosen Aggressor - zerfällt! Wehret den Anfängen! In solchen Fällen wie denen der attischen Generale, Hitlers oder der Serben im auseinanderfallenden Jugoslawien vom "Recht des Stärkeren" zu sprechen, ist eine sprachliche Verirrung oder bewusste Verschleierung; besser sollte man in solchen Fällen von dem „angemaßten oder dem usurpierten Recht des Stärkeren“ oder der "Macht des Stärkeren" sprechen. Da herrscht das nackte Gesetz des Dschungels. Was aber ist »Recht« im internationalen, was im nationalen Rahmen? Die Entgegnung der attischen Generale gegenüber den Melern konnte nicht die letztgültige Antwort sein! „Jeder hat soviel Recht, wie er Macht hat“, schrieb Spinoza (1632–1677) zwei Jahrtausende später. Wenn dem wirklich so wäre, warum suchen dann alle Menschen nach „dem Recht“, besonders wenn sie unterdrückt werden? Nur um selber mehr Macht in den Händen zu halten? Nein, mit dem Ruf nach »Recht« und der damit erhofften Freiheit für jedermann wird ja gerade grenzenlose Macht, wird Willkür bekämpft. Nationales oder internationales »Recht« muss also etwas anderes sein als die bedenkliche Definition der attischen Generale oder das Wort von Spinoza glauben machen will. Die Definition von Leon Uris: „Internationales Recht ist das, was der Übeltäter missachtet, während der Rechtschaffene ablehnt, es mit Gewalt durchzusetzen“, kommt dem schon wesentlich näher, was wir akzeptieren können.

2.8.16 Vorstellungen von »Recht« in anderen Kulturkreisen anhand von Zeitungsmeldungen Vorstellung en von »Recht« in anderen Kulturkreisen

Wenn wir nicht internationale Konflikte betrachten, sondern den Blick auf Gegebenheiten innerhalb nur eines Landes verengen, so finden wir dort (teilweise von der Mehrheit gebilligte) Verhaltensweisen, die sich nicht mit unseren Vorstellungen von »Recht« und »« decken. So kann z.B. im Iran ein Ehemann seine beim Seitensprung ertappte Ehefrau rechtlich gebilligt töten. Zu dem Problem in anderen Ländern teilweise von der Mehrheit gebilligter Verhaltensweisen, die nicht unserem Rechtsempfinden entsprechen, einige nicht ganz so drastische Zeitungsmeldungen, deren Richtigkeit unterstellt wird: „Scheidung Ehemann (6) verließ Frau dpa Teheran – Nach nur zweimonatiger Ehe ist ein Sechsjähriger in Iran von seiner fünfjährigen Ehefrau geschieden worden. ... In Iran sind Frühehen erlaubt, vor allem um junge Mädchen vor ‘unmoralischem Lebenswandel‘ zu bewahren.“ (HH A 01.10.97) "In Pakistan ist ein 25jähriger Mann wegen Raubüberfalls zur Amputation der rechten Hand und des linken Fußes verurteilt worden." (HH A 04.02.84) Anm.: Solche Strafen wie die u.a. in Pakistan angewandten des religiösen islamischen Rechts der Scharia verbieten sich unter der Geltung des Grundgesetzes. Als ein Ausfluss der in Art. 1 GG geregelten Würde des Menschen als oberstes Prinzip unserer Verfassung sind nur »gerechte«,

312

»angemessene« Strafen staatlicherseits verhängbar. Solch eine Worthülse wie "gerecht und angemessen" muss natürlich für den Einzelfall konkretisiert werden: Nach unserem Verständnis verbieten sich Körperstrafen durch Stockschläge, Auspeitschungen oder Verstümmelungen ebenso wie die anderen in der Scharia geregelten Körper- und Leibesstrafen der Hinrichtung durch das Schwert auf offenem Marktplatz, der (öffentlichen) Kreuzigung, Steinigung, verstümmelnden Amputation und der Auspeitschung; nach islamischem Rechtsverständnis aber nicht. "Zwei finnische Schüler sind von einem sowjetischen Gericht wegen groben Rowdytums zu je einem Jahr Arbeitslager verurteilt worden, weil sie in dem auf der Straße befindlichen Brunnen ihres sowjetischen Hotels nackt gebadet hatten." (FR 14.04.84) (Sie sind später begnadigt worden.) "Haftstrafe für Küsse ap Jerusalem - Ein israelischer Militärrichter hat einen Palästinenser zu zehn Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil er im Gerichtssaal Verwandte traditionell arabisch mit Umarmung und Küssen begrüßte." (HH A 13.11.92) "Fünf Jahre für einen Fluch Jerusalem (dpa). Politisch aktive jüdische Geistliche, die ihre Gegner öffentlich mit einem Fluch belegen, müssen in Israel künftig mit deftigen Strafen rechnen. Bis zu fünf Jahre Gefängnis droht ein Gesetzentwurf Rabbinern an, die ihre Rivalen damit aus dem Rennen um politische Mandate und Pöstchen werfen wollen. Während des Wahlkampfes 1988 hatten Rabbiner verschiedener ultraorthodoxer Parteien ihre Konkurrenten und alle jene mit Flüchen belegt, die bei der Wahl nicht für sie stimmen wollten. Dies veranlaßte jetzt die weltlichen Politiker, dem Mißbrauch von Religion einen Riegel vorzuschieben." (Allgäuer Zeitung 16.06.91) Erst auf dieser Grundlage ist die nachfolgende Meldung zu verstehen: „Der Fluch des Rabbiners afp Jerusalem – Einer der einflussreichsten Rabbiner Israels hat Justizminister Jossi Sarid verflucht und damit den Zorn der Regierung auf sich gezogen. Der Rabbiner Owadia Jossef nannte Sarid ... einen ‘Satan, dessen Erinnerung ausgelöscht werden muss‘. ... Die Regierung plant jetzt rechtliche Schritte gegen den Rabbiner.“ (HH Abendblatt 20.03.00) Weitere Meldungen über das israelische, von den orthodoxen Juden geprägte Rechtssystem: „Israel ist ... eine Teil-Theokratie unter dem Monopol des orthodoxen Judentums: Es gibt weder zivile Ehen noch Scheidungen. Im Familienrecht herrscht die Halacha, das jüdische Gesetz. So darf in Israel keiner der Cohen heißt, eine geschiedene Frau heiraten; ein sogenannter Bastard, ein Kind, das nicht vom Ehemann der Mutter stammt, darf überhaupt nicht heiraten, ebensowenig eine Witwe, deren Schwager sie nicht offiziell freigegeben hat, sowie alle, an deren Judentum die Orthodoxen zweifeln – meistens russische oder äthiopische Einwanderer. ... Cohen: Ein Jude mit dem Nachnamen Cohen, Kohen, Kahn oder Kahane darf als direkter Nachfahre von Moses‘ Bruder Aaron keine geschiedene Frau heiraten.“ (STERN 15/98), denn Cohen ist das hebräische Wort für „Priester“. „Unter dem Einfluss der den Staat und das israelische Rechtssystem dominierenden Orthodoxen, denen am Sabbath, dem Tag der Heiligung, der geistigen Erneuerung und Arbeitsruhe verboten ist zu reisen, etwas zu tragen oder ein ’Feuer’ anzuzünden, so dass sie u.a. kein Licht anknipsen, keinen Fahrstuhlknopf betätigen ... dürfen, denen das Auto fahren und der Kriegsdienst verboten ist, gibt es in Israel keine Verfassung, die den Staat von der Religion trennt. So diktieren die etwa 15 Prozent ’Haredim’ große Teile des politischen und gesellschaftlichen Lebens nach den 613 Geboten der Thora, den fünf Büchern Mose. Doch auch dort tritt langsam ein Wandel ein: Mittlerweile wird nur noch die Hälfte der Ehen in Israel von Rabbis geschlossen. Die anderen lassen sich auf Zypern trauen und schließen einen Ehevertrag. Das wird vom Staat anerkannt. Der Staat erkennt auch solche Personen als Juden an – das betrifft hauptsächlich russische Immigranten – denen die Orthodoxen die Zuerkennung dieser Eigenschaft verweigert haben und macht sie zu Staatsbürgern.“ "Drei Fahrräder habe er gestohlen, gestand ein 16jähriger Chinese. Das genügte dem Gericht zur sofortigen Verurteilung. Ohne Zeugen zu hören, verhängte es die Todesstrafe. Noch am selben Tag

313

wurde der Schüler in der Stadt an den Pranger gestellt, ein Schild um den Hals, das ihn als `Verbrecher' auswies. Sein Name war durchgestrichen, das hieß: Er war aus der Gesellschaft getilgt. Auch bis zum letzten Akt verging nicht mehr viel Zeit. Auf einer Wiese am Stadtrand mußte der 16jährige niederknien. Ein Polizist setzte ihm die Pistole in den Nacken und drückte ab. Genickschuß ist die in der VR China übliche Hinrichtungsmethode. ... In entlegenen Provinzen werden außer politischen Gegnern in Blitzprozessen auch Angeklagte zum Tode verurteilt, gegen die nur eine Denunziation von Nachbarn vorliegt. ... Viele Chinesen denken an die Säuberungen der KP in den frühen 50er Jahren und das Mao-Wort über eine Million liquidierter `Konterrevolutionäre': `Abgehackte Köpfe wachsen nicht wie Schnittlauch nach.'" (STERN 3/84) "China: Exekutionen vor Asienspielen In China ist es in diesem Jahr nach Erkenntnissen der Menschenrechtskommission amnesty international (ai) zu einer dramatischen Zunahme von Hinrichtungen gekommen. Die Exekution von über 500 Menschen seit Jahresbeginn wird offiziell mit dem Bestreben gerechtfertigt, vor den im September beginnenden Asienspielen in der Volksrepublik für Ruhe und Ordnung zu sorgen. ... Unter den mindestens 1.100 Menschen, die in den vergangenen 12 Monaten hingerichtet wurden, waren nach ai-Angaben auch politische Gefangene, denen konterrevolutionäre religiöse Aktivitäten vorgeworfen worden waren. Den meisten Todesurteilen gingen unfaire Gerichtsverfahren voraus. Die Todesstrafe ist nach Überzeugung von ai generell nicht zur Abschreckung geeignet und verletzt das fundamentalste Recht eines jeden Menschen, nämlich das Recht auf Leben. ddp" (Berliner Zeitung 13.09.90) "Amnesty international prangert China an Es wird brutaler und mehr denn je gefoltert ap/afp London In China wird heute mehr und brutaler gefoltert als noch vor wenigen Jahren. Dies berichtete die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai). Die Bemühungen der chinesischen Regierung zur Verbrechensbekämpfung und der Unterdrückung jeglicher Opposition hätten zu einer insgesamt `bedrückenden Lage der Menschenrechte in China' geführt, in der `eine exzessive Anwendung der Todesstrafe' zum Alltag gehöre. Die Organisation kritisierte in ihrem Bericht, daß das chinesische Justiz- und Strafvollzugssystem die Folter begünstigten. Gefangene hätten schon nach dem Gesetz kaum Rechte, in der Praxis seien sie völlig rechtlos. Zu den Foltermethoden in China gehörten neben Prügel und der Anwendung von Elektroschocks auch das tagelange Anketten von Gefangenen und das Einsperren in winzige Zellen, die den Betroffenen weder aufrechtes Stehen noch ausgestrecktes Liegen erlaubten. Gefangene würden in Zellen ohne Frischluftzufuhr, Licht und mit primitiven sanitären Einrichtungen festgehalten. Die Folgen: Geistige Schäden und körperliche Verletzungen bei den Opfern. Nach amtlicher chinesischer Darstellung habe es im vergangenen Jahr 407 Fälle von `Folter zur Erzwingung von Geständnissen' gegeben. Tatsächlich dürfte die Zahl weit höher sein, hieß es weiter. Strafrechtlich werde die Folter fast nie geahndet. Angesichts dessen könne von einer Besserung der Menschenrechtslage in China, wie sie als Argument für die Normalisierung der Beziehungen gebraucht werde, nicht die Rede sein. Das müsse auch die deutsche Politik zur Kenntnis nehmen. Als ‘fatalen Rückschlag' bezeichnete ai die Haltung von Bundesaußenminister Klaus Kinkel, der bei seinem kürzlichen China-Besuch die Menschenrechte zum Gegenstand ‘stiller Diplomatie' gemacht und erklärt habe, Bonn stehe eine ‘Einmischung in die inneren Angelegenheiten' Chinas nicht zu." (HH A 09.12.92) "China: Haft ohne Prozeß ist normal rtr/dpa/afp Peking/Bonn - ... Ohne formelle Anklage und Verurteilung sind nach chinesischen Gesetzen bis zu drei Jahren `Erziehung durch Arbeit' in Lagern möglich. Tatsächlich wird diese Frist oft auch ausgedehnt. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Betroffenen auf mehr als 10.000 Personen. Insgesamt sollen in Chinas Arbeitslagern rund zehn Millionen Menschen inhaftiert sein, ... ." Diese Jahrzehnte alte Meldung wurde 2005 bestätigt, als Peking begann, das berüchtigte System „Umerziehung durch Arbeit“ zu liberalisieren. Bis dahin konnten insbesondere mutmaßliche Dissidenten, Kleinkriminelle und Prostituierte ohne gerichtliches Verfahren und Rechtsbeistand bis

314

zu vier Jahre in Umerziehungslager gesteckt und damit praktisch in sogenannte Administrativ-Haft genommen werden. 2005 gab es in China rund 300 Umerziehungslager, in denen nach (bestimmt sehr niedrig angesetzten) offiziellen Angaben 260.000 Delinquenten festgehalten wurden. Die angekündigte Reform verstößt aber weiterhin gegen internationale Menschenrechtskonventionen, insbesondere Art. 8 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ mit dem darin postulierten Anspruch auf ein (rechtsstaatliches) gerichtliches Verfahren, weil auch weiterhin erst einmal Polizisten und Verwaltungsbeamte entscheiden, wie mit den Verhafteten zu verfahren sei (SPIEGEL 26.03.05). "Es geschieht jeden Tag und auch in diesem Moment: In China und Indien werden Mädchen nach der Geburt getötet, werden nach einem Geschlechtstest ungeborene Frauen abgetrieben. ... Daß Töchter getötet und Frauen, die statt des gewünschten Sohnes ein Mädchen zur Welt bringen, von ihren Ehemännern mißhandelt, verstoßen oder umgebracht werden, ist die brutalste Form der allgemeinen Diskriminierung und Frauenverachtung. ... Inzwischen haben die chinesischen Parteiorgane eine Pressekampagne gestartet, weil das `Gleichgewicht der Geschlechter' umzukippen droht, weil bereits so viele Mädchen, geborene und ungeborene, getötet wurden, daß in 20 Jahren Millionen chinesischer Männer keine Ehefrau mehr finden werden. ... Vinala Ranadive, indische Gewerkschaftsfrau: `Es ist wie die Endlösung der Nazis zur Ausrottung der Juden.' ... Die Vereinten Nationen haben ausgerechnet jetzt China und Indien ausgezeichnet, weil sie am erfolgreichsten Geburtenkontrolle und Bevölkerungsplanung betreiben. ... Unter den Männern macht sich ein mitleidiger Zynismus breit: `Es ist doch so', erklärte ein Arzt, `sie sind in jedem Fall die Diskriminierten. Der Unterschied ist bloß, ob sie im Leib der Mutter getötet oder von ihren angeheirateten Verwandten verbrannt werden.' ... In Indien herrscht ein fatales Mitgift-System, das die Brauteltern zwingt, sich über Generationen zu verschulden, wenn der Bräutigam und dessen Eltern immer mehr und mehr verlangen." (Die Zeit 10.06.83) Andheri-Hilfe 4/03: „30 %, ja in manchen Fällen sogar bis 80 % der neugeborenen Mädchen werden umgebracht, weil man wegen der spätere[n] Mitgiftforderungen seitens der Familie des Ehemannes den absoluten finanziellen Ruin fürchtet.“ Anm.: „In manchen Altersgruppen kommen in China auf 100 Mädchen 122 Jungen.“55 Als Ergänzung dazu ein paar Jahre später die Meldungen: „Der staatliche Babymord In China wurde ein Kind vor den Augen seiner Eltern ertränkt – von Funktionären ... Der Fall, der die nach wie vor geltende Ein-Kind-Politik des Regimes grausig ins Schlaglicht rückt, ereignete sich in einem Dorf in der zentralchinesischen Provinz Hubei. In Caidian, rund 1500 Kilometer Luftlinie südlich von Peking, ertränkten Funktionäre ein gesundes Neugeborenes vor den Augen der Eltern. Das Baby war das vierte Kind der Familie Liu. Auf Anweisung der Familienplanung wurde der hochschwangeren Frau in der Klinik zwangsweise eine Salzlösung gespritzt, um die Wehen vorzeitig einzuleiten und das Ungeborene abzutöten. Normalerweise zerstört Salzlösung das Nervensystem des Kindes und führt zur Totgeburt. Zur Verblüffung der Familienplaner und der Eltern brachte Frau Liu jedoch ein gesundes Baby zur Welt. Unmittelbar nach der Entbindung wurde dem Vater befohlen, den Säugling ins Freie zu tragen und umzubringen. Das brachte der Mann nicht übers Herz. ... Dort [zu Hause] warteten schon fünf Offiziere im Wohnzimmer auf die Familie. Es kam zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Funktionäre das Kleine packten und aus dem Haus auf ein Reisfeld brachten, wo es vor den Augen der Eltern ertränkt wurde. ... Entrüstete Dörfler schalteten die Presse in der Stadt Wuhan am Jangtse ein. Von dort verbreitete sich die Geschichte durch das ganze riesige Land. Deshalb blieb der Provinzregierung von Hubei 55

Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998 S. 174

315

nichts anderes übrig, als öffentlich die Bestrafung der Funktionäre zu geloben. ... Übergriffe dieser Art finden nach Darstellung ausländischer Bevölkerungsexperten jedoch nicht mit Wissen und Billigung der Zentralregierung in Peking statt.“56 (HH A 25.08.00) Anm.: „In manchen Gesellschaften scheint die Begünstigung des männlichen Geschlechts von der herrschenden Schicht auf die Gesamtgesellschaft übergegriffen zu haben. Die besten Beispiele hierfür sind China und Indien. In China hat die Politik des Einzelkindes zum Tod von siebzehn Prozent aller Mädchen geführt.“57 Daraufhin hat sich Jahre später in China ein „weit verbreiteter Menschenhandel“ etabliert: „Vor allem Frauen und Kinder werden regelrecht geraubt und in andere Landesteile verkauft. Frauen und Mädchen enden in Bordellen oder als Arbeits- und Ehesklaven eines Bauern. Auf dem Land gibt es oft einen hohen Männerüberschuss.“ (HH A 28.03.02) „MÄDCHEN UNERWÜNSCHT Auf 100 Mädchen, die in China zur Welt kommen, werden rund 120 Jungen geboren, stellt die 5. Nationale Volkszählung des Jahres 2000 fest. ... In einigen Jahren, so schätzt Unicef, wird es 50 Millionen chinesische Männer geben, die keine Frau finden können. Schon heute kommen in manchen Gegenden acht Männer auf zwei Frauen. ...“ (taz 02.12.03) „FRAUENHANDEL Der UN-Berichterstatter für Gewalt gegen Frauen sieht seit Mitte der 80er-Jahre mit der Öffnung und dem Wegfall sozialer Kontrollen eine Zunahme des Verkaufs von Frauen im ländlichen China. "In einigen Kreisen und Dörfern sind zwischen 30 und 90 Prozent der Eheschließungen das Ergebnis von Menschenhandel." Es ist ohnehin billiger, eine entführte Frau zu kaufen, als regulär zu heiraten, da die Hochzeit teuer ist und der Familie der Braut eine hohe Summe gezahlt werden muss. 1949 wurde zwar der Verkauf von Kindern, doch erst 1991 auch der Kauf von Frauen gesetzlich verboten. "Ein Mangel an Strafverfolgung aufgrund von Korruption, wenig durchsetzungsfähiger lokaler Behörden oder Gleichgültigkeit ist ein großes Problem", klagt die Menschenrechtsorganisation Human Rights in China (HRiC). "Einige örtliche Funktionäre betrachten Menschenhandel nicht als ernstes Verbrechen und unternehmen nichts." Andere seien sogar daran beteiligt oder kassierten Bestechungsgelder.“ (taz 02.12.03) NACHWUCHSPROBLEM In China droht Frauenmangel Akuter Frauenmangel bedroht die chinesische Gesellschaft: Wegen der Ein-Kind-Politik der Regierung sind Abtreibungen und Morde an Mädchen an der Tagesordnung. Schon im Jahr 2020 könnten 40 Millionen Chinesen keine Frauen mehr finden. Millionen männlicher Chinesen könnten künftig keine Partnerin mehr finden, berichtet die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. "Ein derartiges Ungleichgewicht der Geschlechter ist eine große Bedrohung für das gesunde, harmonische und nachhaltige Bevölkerungswachstum", sagte Familienplanungsexperte Li Weixiong. Folgen könnten unter anderem ein zunehmender Missbrauch von Frauen und Prostitution sein. Familienminister Zhang Weiqing zufolge kommen in China durchschnittlich 117 Jungen auf 100 Mädchen. Bei Kindern unter neun Jahren entspricht dies einem Jungenüberschuss von 13 Millionen. Wenn dieser Trend anhält, könnte es im Jahr 2020 etwa 40 Millionen Männer geben, die keine Frau finden. Zhang forderte "energische Maßnahmen", um das wachsende Ungleichgewicht zu bekämpfen. Um das Bevölkerungswachstum einzudämmen, erlauben chinesische Behörden seit den achtziger Jahren meist nur noch ein Kind je Ehepaar. In der Hoffnung auf einen Jungen töten viele chinesische Eltern neugeborene Mädchen oder nehmen Abtreibungen vor. Männlicher Nachwuchs wird oft als In diesem Zusammenhang zur Erhellung der Gesamtsituation: „... sie entscheiden sogar, wer wann Kinder bekommen darf oder nicht. Denn um das Bevölkerungswachstum zu bremsen, erlaubt die Partei nur ein Kind, auf dem Land zwei, falls das erste ein Mädchen ist. Vor der Zeugung aber brauchen die Eheleute die schriftliche Genehmigung der Parteioberen, und die haben die Quoten einzuhalten, wenn sie in Peking nicht in Ungnade fallen wollen.“ (STERN 26.10.00) 57 Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998 S. 181 56

316

wertvoller empfunden, weil der Familienname weitergegeben wird und die Versorgung im Alter gesichert erscheint. Die Regierung hat Ultraschalluntersuchungen verboten, mit denen das Geschlecht von ungeborenen Kindern bestimmt werden kann, und publiziert stets die hohen Strafen für Kindesmörder. Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der Geburten infolge der Ein-Kind-Politik58 in den vergangenen zehn Jahren um 300 Millionen gesunken. Dennoch soll die Zahl der Chinesen laut einschlägiger Prognosen von derzeit 1,3 Milliarden bis 2043 auf 1,6 Milliarden steigen. Joe McDonald, AP (Spiegel Online 11.05.04) "Keine Mitgift - 4.100 Inderinnen ermordet In den letzten drei Jahren wurden mehr als 4.100 indische Frauen von ihren Männern oder Schwiegereltern umgebracht - weil sie keine Mitgift hatten. Die meisten Morde ereignen sich am Herd. Die Männer stecken ihre Frauen in Brand und tarnen den Mord als Unfall." (Bild 25.11.88) Anm.: Um die hohen Mitgiftkosten so niedrig wie möglich zu halten, verheiraten viele Familien ihre Töchter möglichst noch im Babyalter, wenn noch nicht so viel Mitgift verlangt werden kann, mit männlichen Kindern – obwohl Kinderheiraten in Indien seit 1930 als Verbrechen gesetzlich erfasst sind. Und 1.000 Zeugen „sehen hin, duldungsstarr, nicht einer wagt zu widersprechen. ... Behörden ... greifen nur ein, wenn eine Kinderhochzeit formal angezeigt wird; also sorgen die Dorfältesten dafür, dass niemand eine Anzeige wagt. Bisweilen geschieht das mit brutalen Methoden. Ein indischer Regisseur hat das Schicksal der Sozialarbeiterin Bhanwari Devi verfilmt. Am frühen Abend des 22. Septembers 1992 vergewaltigten mehrere Männer aus der führenden Kaste des Dorfes Batheri die damals 40-jährige Sozialarbeiterin. Zwei Männer fielen über sie her, ein Dritter hielt sie dabei fest. Wenige Meter entfernt musste ihr Ehemann Mohan, blutig geschlagen und festgehalten von zwei weiteren Tätern, bei der Vergewaltigung zusehen. Die Täter wollten Bhanwari Devi ’eine finale Lektion erteilen’. Denn fünf Monate zuvor hatte sie ihre Familienehre besudelt. In der Funktion als Sathin, als Sozialarbeiterin des Dorfes, hatte sie versucht, einen Mann davon abzubringen, seine einjährige Tochter zu verheiraten. Ramkaran Gurjar hörte nicht auf sie; auch der Dorfälteste weigerte sich, gegen die Zwangsheirat vorzugehen. Doch im Ort sorgte Bhanwaris Beschwerde für so viel Aufsehen, dass Polizisten bei der verbotenen Trauung auftauchten und störten. Hinterm Rücken der Beamten wurde das Kind in derselben Nacht heimlich getraut. Aber die Familien von Braut und Bräutigam begriffen den Vorfall als Schande. Nach der Vergewaltigung begann für Bhanwari Devi ein zweiter Albtraum. Der jahrelange Kampf um Gerechtigkeit ist noch immer nicht gewonnen. Ihre Brüder glaubten die eigene Familienehre beschmutzt, sagten sich los von ihr Bhanwari, verschwiegen ihr sogar den Tod des Vaters. Lange wurde sie im Dorf geächtet, Schulkinder verspotteten sie als Hure. Ein Gericht sprach die Täter nach einem dubiosen Prozess 1995 vom Vorwurf der Vergewaltigung frei, verurteilte sie nur wegen 58

Weltkirche 03. März 2005, 10:52: Noch immer Zwangsabtreibungen in China Die rigide Bevölkerungskontrolle hat ihre Opfer, zuallererst die Kinder. Viele werden abgetrieben. Wer ein „nicht genehmigtes“ Kind bekommt, muss Strafe zahlen. Washington, DC (www.kath.net / LifesiteNews.com / CWN) In China stehen Zwangsabtreibungen nach wie vor auf der Tagesordnung. Das geht aus dem Menschenrechtsbericht des US State Department hervor, der am Montag veröffentlicht wurde. Gewalt gegen Frauen inklusive einer strengen Geburtenkontrolle habe zu „erzwungenen Abtreibungen und Sterilisationen“ geführt, was bis in die Gegenwart ein Problem darstelle, heißt es in dem Bericht. Er geht konkret auf die chinesische Politik der Bevölkerungskontrolle ein. In einem Fünftel der chinesischen Provinzen müssten die Bürger die Erlaubnis der Regierung einholen, um ihr erstes Kind bekommen zu können. Die Zahl der Geburten werde von der Regierung beschränkt. Das 2002 beschlossene Bevölkerungsgesetz schränke die Zahl der Kinder massiv ein. „Das Gesetz berechtigt verheiratete Paare, ein Kind zu haben, und es gestattet bestimmten Paaren, um die Erlaubnis anzusuchen, ein zweites Kind zu bekommen“, heißt es in dem Bericht. Viele Frauen müssten nach der Geburt ihres ersten Kindes vier Jahre oder länger warten, ehe sie ein solches Ansuchen stellen könnten. In sieben Provinzen – Anhui, Hebei, Heilongjiang, Hubei, Hunan, Jilin, and Ningxia – sei ein „Schwangerschaftsabbruch“ vorgesehen, wenn die Schwangerschaft gegen die Familienplanungsgesetze der Provinz verstößt, heißt es weiters in dem Bericht. Das Gesetz schreibe Paaren außerdem eine „soziale Entschädigungszahlung“ vor, wenn sie ein „nicht genehmigtes“ Kind erwarten. Die Summe der „Strafe“ habe schon das Zehnfache eines Jahreseinkommens erreicht. Dies werde als Druckmittel verwendet, um eine Abtreibung durchzusetzen, heißt es in dem Menschenrechtsbericht. Auf Frauen werde außerdem Druck ausgeübt, sich sterilisieren zu lassen.

317

Misshandlung zu neun Monaten Haft. Jetzt möchte ihr Anwalt, unterstützt von Indiens Frauenbewegung, weiter um ihr Recht kämpfen.“ Der STERN dokumentierte in einem Bildbericht solche Kleinkinderhochzeiten, auf denen gleich sieben Kinderhochzeiten geschlossen wurden: Beim jüngsten Brautpaar war der Bräutigam zweieinhalb Jahre, die Braut „wehrlose zehn Monate alt.“ „’In unserem patriarchalischen System gelten Mädchen als soziale Last ... zur Schule schickt man sie nur bis zur vierten Klasse – wenn überhaupt.’ Je früher Mädchen verheiratet werden, desto früher sind ihre Familien die Verantwortung los. Im Gegenzug bekommt die Familie des Bräutigams eine Arbeitskraft.“ Die eigentliche Tragödie sei ... dass so ein [Braut-; der Autor]Vater nicht mal erwägen würde, gegen den Befehl und die Autorität der Familienältesten aufzubegehren und für eine andere Perspektive seiner kleinen Tochter zu kämpfen.“ (Stern 18.12.02) Erstaunlich, dass es dann mit Indirah Gandhi eine Frau zur langjährigen Premierministerin Indiens schaffen konnte! Aber sie war halt die Tochter des ersten Ministerpräsidenten Indiens, Nehru. "Indien In keinem Land der Erde wird von Männern so unverhohlen mörderisch mit Frauen verfahren wie in Indien. Im Jahre 1988 wurden 6.000 Frauen getötet, weil sie nicht genügend Mitgift mitgebracht hatten. An rechtlosen Frauen wurden Fruchtwasseruntersuchungen durchgeführt, Föten abgetrieben, Mädchen wurden mit Kerosin überschüttet und verbrannt. ..." (HH A 10.04.89) Anm.: Viele Frauen in Indien und Pakistan müssen hauptsächlich deshalb sterben, weil sie keinen Sohn zur Welt gebracht haben oder weil die Männer oder deren Familien eine weitere (hohe) Mitgift durch eine Wiederverheiratung kassieren wollen. Zu diesem Problemkreis findet sich in dem Buch des Zoologen und Wissenschaftspublizisten Ridley „Eros und Evolution“ unter Verweis auf die Untersuchungen von Dickemanns über die traditionellen Heiratsbräuche in Indien die Passage: „Das brutale Verbrechen, weibliche Säuglinge zu töten, gegen das die Briten vergeblich vorzugehen versuchten, korreliert mit einem relativ hohen Sozialstatus in der sehr stark geschichteten indischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Angehörige höherer Kasten töteten ihre Töchter häufiger als Angehörige niederer Kasten. Es gab eine Sippe sehr wohlhabender Sikhs, die all ihre Töchter tötete und vom Erbe ihrer Frauen zehrte.“59 „Die Mädchenmörder ... »Dieses Kind ist zum Sterben geboren«, sagt die Frauenärztin Dr. Kalaimani Banumathi aus Salem. »Schon weil es das dritte Mädchen ist, hat es keine Chance. Außerdem ist es an einem Samstag geboren, und die Leute glauben, daß das Unglück bringt. Die Kleine ist so gut wie tot.« Die Ärztin schätzt, daß jedes Jahr in Indien 1,5 Millionen neugeborene Mädchen umgebracht werden. Aber kaum jemand nimmt von dem Massenmord Notiz. Er wird verdrängt oder zu einem »sozialen Problem« schöngeredet. Doch zu beschönigen gibt es wenig: Die Babys werden erdrosselt, mit Pflanzensäften oder Pestiziden vergiftet. Man schiebt ihnen eine Handvoll Sand oder ungekochten Reis in den Mund, vergräbt sie lebend oder wickelt sie in nasse Saris, bis sie an Unterkühlung sterben. Man träufelt Öl in ihren Mund, in dem giftige Oleanderbeeren zerstoßen wurden. Oder man wirft sie einfach weg. Söhne gelten als »Stammhalter«, als Altersversicherung der Eltern und auch als gute Investition, weil sie bei der Hochzeit von der Familie der Braut die Mitgift einstreichen. Töchter dagegen werden als Wesen zweiter Klasse und als Bürde angesehen. »Mädchen sind in Indien ein soziales Stigma«, sagt die katholische Ordensschwester Manick in Madurai. ... An Zehntausenden von Plakatwänden prangte [im Zuge einer landesweiten Familienplanungs- und Schwangerschaftsabbruchskampagne] der Slogan »Gib jetzt 500 Rupien aus und spare später 500.000« - ein Hinweis darauf, daß man durch eine Geschlechtsbestimmung und Abtreibung für 500 Rupien (25 Mark) die Zahlung einer Mitgift von 500.000 Rupien (25.000 Mark) umgehen könne.“ (STERN 30.04.97) „... Kampf gegen Mädchentötung ... Wir filmen im südindischen Staat Tamil Nadu, nahe von Madurai. Rosi Gollmann [die Gründerin 59

Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998 S. 179

318

der Andheri-Hilfe Bonn, über deren Arbeit ein Film für den WDR vorbereitet wurde] schlägt entsetzt die Hände vor das Gesicht, als einige Frauen der [von der Andheri-Hilfe geförderten] Projektgruppe vor der Fernsehkamera von den vierzehn verschiedenen Methoden berichten, neugeborene Mädchen gleich nach der Geburt umzubringen. Eine Frau sagt uns: ‘Statt Muttermilch wird den weiblichen Säuglingen die giftige Milch einer Pflanze eingeflößt. Nach 30 Minuten ist das Mädchen tot. Die Eltern sagen dann, das Kind sei an einer Krankheit gestorben.‘ Eine zweite Frau ergänzt: ‘Über die Ohren wird dem Neugeborenen Pflanzengift eingeführt. Von dort gelangt es ins Gehirn. Dann tritt der Tod sehr schnell ein. Manche Mädchen bekommen kochend heiße Hühnersuppe eingeflößt. Andere werden in ein eiskaltes Tuch eingewickelt, so dass sie erfrieren. Manchen massiert man ein bestimmtes Gift in die Kopfhaut.‘ Wir drehen in Dörfern, in denen noch vor einigen Jahren zwei Drittel der Kinder, denen man das Leben gewährte. Jungen waren, aber nur ein Drittel Mädchen. In extremen Fällen wurden 50, sogar 80 Prozent der neugeborenen Mädchen getötet. Die Ursachen dafür sind Armut und Angst vor der immer höher werdenden Mitgiftforderung, wenn das Mädchen später heiratet. Die 25-jährige Lakshmi gab vier Töchtern das Leben. Ihre Schwiegermutter hat zwei der Mädchen gleich nach der Geburt vergiftet ‘Was hätten wir denn machen sollen? Mehrere Töchter sind der wirtschaftliche Ruin‘, erklärt die Schwiegermutter die Situation. ‘Mein Mann ist gestorben, und mein Sohn verdient als Kuli nur 30 Rupien (DM 1,50) am Tag.‘ ‘Und mir blieb nur zu gehorchen‘, sagt uns Lakshmi. ‘Was meinte ihr Mann dazu?‘ frage ich die junge Mutter. ‘Er war dafür, dass die beiden Mädchen getötet werden.‘ ... Die Statistik einer Abtreibungsklinik in Bombay – so berichtet man uns – sieht so aus: 100 abgetrieben Jungen, aber 6900 abgetriebene Mädchen. Die vorgeburtliche Geschlechtserkennung macht es möglich. ... Gesetzlich ist Tempelprostitution längst verboten, wie natürlich auch der Mädchenmord. Aber allein in diesem Staat [Andhra Pradesh] gibt es noch 25.000 Mathammas [Tempelprostituierte]. Wenn Eltern ein Schicksalsschlag trifft, wird eines ihrer Mädchen – oft schon im Alter von sechs Jahren – der Tempelgöttin als Sühneopfer geweiht. Mit neun Jahren müssen diese Mädchen vor Männern tanzen und als Dreizehnjährige bereits den Tempelpriestern, den Dorfältesten und vielen anderen Männern sexuell zur Verfügung stehen. ... Die jungen Frauen erzählen uns ihre Geschichte. Padma: ‘Ich war nur das Spielzeug von Männern – viele hundertmal. Mit der Verehrung der Göttin hatte das gar nichts zu tun.‘ ... Sie konnten aussteigen dank der Hilfe aus Deutschland. ... Für das noch immer frauenfeindliche Indien sind die Entwicklungen durch die Frauenprojekte eine Kulturrevolution. Indiens Frauen verändern ihre Welt. ...“ (Franz Alt in: Andheri-Hilfe Bonn Forum Nr. 1/01 März 2001 Entwicklungszusammenarbeit im indischen Subkontinent) Anm.: „Sechsundneunzig Prozent aller Frauen in einem indischen Krankenhaus, denen mitgeteilt wurde, daß sie eine Tochter erwarteten, entschieden sich für eine Abtreibung, während nahezu einhundert Prozent aller Frauen, die Söhne erwarteten, diese austrugen. Das heißt nichts anderes, als daß eine leicht zugängliche Technik, die es Menschen ermöglicht, das Geschlecht ihres Kindes zu beeinflussen, tatsächlich das Geschlechtsverhältnis innerhalb der Population verschieben würde.“ 60 „Bei einer vor kurzem in Bombay durchgeführten Studie stellte sich heraus, daß bei 8000 Abtreibungen in 7997 Fällen weibliche Feten betroffen waren.“61 In Gesellschaften westlicher Wohlstandsländer scheint das Argument der Bevorzugung von Jungen dagegen nicht zuzutreffen: In den USA, wo das Verfahren der Geschlechtsselektion – im Gegensatz zu der Rechtslage in Deutschland – nach der MicroSort-Methode zum „Ausbalancieren von Familien“ seit 1996 legal genutzt werden kann, wünschen sich Familien mit Söhnen in einem solchen Umfang Töchter, dass vier Fünftel der Kinder, deren Geschlecht durch Mikrosortierung62 vor der 60

Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998 S. 181 Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998 S. 174 62 Der Samen wird zunächst mit einem fluoreszierenden Farbstoff gemischt, der sich dann mit dem genetischen Material im Kopf der Spermien verbindet. Da die für die Zeugung eines Mädchens benötigten X-Chromosomen größer sind als die YChromosomen und dreimal mehr DNS enthalten, nehmen sie mehr Farbstoff auf und leuchten deshalb unter Laserlicht heller. Die Chromosomen lassen sich für einen Preis von € 2.100 mit einer Trefferquote von 90% automatisch sortieren. Hinzu kommen dann Kosten für eine eventuell gewünschte künstliche Befruchtung der weiblichen Eizelle mit der mädchen- oder jungenzeugenden Samenzelle und eine genetische Voruntersuchung des Embryos. 61

319

Zeugung festgelegt wurde, Mädchen waren. „Der grausame Handel mit der Ware Mensch ... Die ersten Erkenntnisse über diesen Kindertransport [in Saudi-Arabien, wo die Kinder hauptsächlich verstümmelt zum Betteln oder zur Prostitution eingesetzt gewesen waren] bieten Einblicke in unvorstellbares menschliches Elend. So sollen die Mädchen von ihren muslimischen Eltern auf einer Pilgerreise nach Mekka und Medina in die Sklaverei verkauft worden sein. ... Einer halbamtlichen Quelle zufolge werden Kinder armer Eltern in Indien von Menschen-Einkäufern ‘beschafft‘, um im Nahen Osten an Bordelle oder als Billigst-Arbeitskräfte weiterverkauft zu werden.“ (HH A 27.01.97) "Wie Sklaven dpa Neu Delhi - Etwa 55 Millionen Kinder arbeiten in Indien unter sklavenähnlichen Bedingungen." (HH A 25.01.93) Pessimistischere Schätzungen sprechen laut Andheri-Hilfe 4/03 von 100-110 Millionen Kindern, die in Indien in sklavenähnlichen Verhältnissen als Vollzeit-Ausgebeutete insbesondere in Steinbrüchen, auf Müllhalden, in der Landwirtschaft, der Kleinindustrie, in Hotels, in der »Sex-Industrie« und als Kinder-Dienstboten arbeiten müssen. Aus dem Andheri-Bericht 4/03: „Millionen Kinderarbeiter schuften als ’Schuldknechte’: Ihre Eltern haben einen Kredit aufgenommen (oft nur eine geringe Summe in existenzieller Notlage) und die Kinder müssen Jahr um Jahr schuften, allein um die Wucherzinsen zu tilgen. Die Schuld nimmt niemals ab, es gibt keine Hoffnung auf ’Freiheit’. Zum weitaus größten Teil arbeiten die Kinder im ’informellen’ Sektor, d.h. für sie gibt es keine Arbeitsverträge, keine festgesetzten Arbeitszeiten oder Löhne, keine Kontrolle über die Einhaltung gesetzlicher Mindeststandards. Damit sind sie in der Mehrzahl der Fälle schutzlos der Willkür ihrer Arbeitgeber ausgesetzt. ... Und: Sind die Eltern ’Schuldknechte’, so werden sehr häufig auch die Kinder zu ’Schuldknechten’. ... [Wer aus der Schuldknechtschaft entlassen wird, kann nur als schlecht bezahlter Tagelöhner arbeiten.] In Maragathapuram arbeiten alle Dalits (Kastenlosen) im Tagelohn auf den Feldern der Reichen. Sie erhalten nur 20 Rupien (ca. 40 Cents) pro Tag und Person. Selbst wenn alle Familienmitglieder arbeiten, reicht dies kaum zum Überleben. ... Gemeinsam traten die Dorfbewohner in Streik und erreichten schließlich die Lohnerhöhung [auf 25 Cents].“ Indien hat seit mehr als einem Jahrzehnt die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, in deren Artikel 32, Absatz 1 es heißt: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes an, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt und nicht zu einer Arbeit herangezogen zu werden, die Gefahren mit sich bringt, die Erziehung des Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte.“ Ein großer Teil der Kinder wurde einem Fernsehbericht zufolge von ihren Eltern für ca. DM 500,- in die Schuldknechtschaft z.B. an ausbeuterische Teppichknüpfunternehmer verkauft, wo sie jahrelang ohne Lohn den ganzen Tag über mindestens zehn Stunden lang arbeiten müssen. Sie erhalten nur ein wenig Essen. "Kinder Ein Sklave kostet 100 Mark ap Genf - Armut hat besonders für die Schwächsten der Dritten Welt schlimme Folgen: Die Kinder werden verpfändet, verkauft, versklavt. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat jetzt in Genf die Ergebnisse von Untersuchungen vorgelegt, wonach weltweit Millionen von Jungen und Mädchen extrem ausgebeutet werden. In Sudan, dem größten Flächenstaat Afrikas, verpfänden viele verarmte Eltern nach Angaben der Geschlechterselektion ist in Europa bisher in Großbritannien eingeschränkt möglich, um geschlechtsspezifische Erbleiden, wie z.B. die nur bei Männern auftretende Bluterkrankheit, zu verhindern. Nun befragt die britische Kontrollbehörde HFEA die Bevölkerung, ob dieses Verfahren allen Eltern Großbritanniens zur Verfügung gestellt werden sollte. Bei positivem Ausgang wir die Frage der freien Geschlechterwahl über kurz oder lang dann sicherlich auch bei uns in die gesellschaftliche Diskussion geraten. 2003 kam in Belgien, wo die Anwendung des Verfahrens erlaubt ist, die erste »ausbalancierte« Tochter Europas zur Welt.

320

ILO ihre Kinder an Händler mit der Vereinbarung, sie später auszulösen. Meist sehen sie jedoch ihren Nachwuchs nie wieder. Jungen zwischen sieben und zwölf Jahren werden für umgerechnet 100 Mark abgegeben. Als Land, in dem die Sklaverei traditionell bestehe, wird Mauretanien genannt. In Pakistan (7,5 Millionen Kinder) und Indien (zehn Millionen Kinder) habe die Armut zu einer großen Verbreitung der Schuldknechtschaft geführt, berichtet die UNO-Organisation. Es seien Fälle bekannt, wonach Kinder in der achten Generation für die Schulden der Väter schuften. Auch in Haiti, Thailand und Brasilien hätten Zwangsarbeit und Kinderkidnapping inzwischen ein erhebliches Ausmaß erreicht." (HH A 09.03.93) "Mädchen hatten Aids - Behörde gab Todesspritze SAD Bangkok - 25 Mädchen aus Birma sind in ihrer Heimat mit Zyankalispritzen `hingerichtet' worden - auf Anordnung der Behörden! Grund: Sie hatten sich in thailändischen Bordellen mit dem Aids-Virus infiziert, sollten keinen anderen Menschen anstecken. In Birma und China werden Hunderte Frauen entführt, nach Bangkok verschleppt und zur Prostitution gezwungen. Allein 1990 befreite die Polizei 200 von ihnen und brachte sie in ihre Heimat. Ein Sprecher der thailändischen Kripo: `Nach den Todesspritzen schicken wir niemanden mehr nach Birma. Wir wollen die Mädchen nicht retten, damit sie hingerichtet werden.'" (HH A 04.04.92) "Familienjustiz in arabischen Ländern / Mord auch an Kindern In den arabischen Ländern werden nach wie vor viele junge Frauen, die des Ehebruchs beschuldigt worden sind, getötet. ... Selbst eine Vergewaltigung könne für die geschändete Frau das Todesurteil durch die Familie bedeuten. Es komme vor, daß ein getötetes Mädchen erst 13 Jahre alt sei. Eine Mutter habe Selbstmord begangen, weil sie gezwungen gewesen sei, ihr Kind zu vergiften. Ein sechzehn Jahre altes Mädchen, dem man in Ägypten vorgeworfen habe, zu eng mit einem Freund in Verbindung gewesen zu sein, sei von den Eltern und dem Bruder vom Balkon gestoßen worden und später im Krankenhaus gestorben; dort habe man zudem eine Vergiftung festgestellt. ... Die Organisation ‘Sentinelles' beschreibt in ihrem Bericht 20 exemplarische Fälle aus Ägypten, Irak, Saudi-Arabien, Syrien und den von Israel besetzten Gebieten, in denen Frauen von Familienangehörigen oder gedungenen Mördern getötet worden seien. Keineswegs jedoch verübten allein Moslems Verbrechen dieser Art; man tötet in jenen Ländern auch Frauen christlichen Glaubens - eine solche Handlungsweise habe dort eine uralte Tradition." (FR 13.09.84) "‘Allah weiß es besser' In einem für die islamische Welt aufsehenerregenden Urteil hat ein Gericht in Kairo den Vorrang der islamischen Rechtsprechung gegenüber staatlichen Gesetzen betont. Der Richter lehnte nach Presseberichten den Antrag einer Ehefrau auf die Scheidung ihrer Ehe mit dem Hinweis ab, daß das ägyptische Scheidungsgesetz gegen die Scharia, die islamische Rechtsprechung, verstoße. Die Scharia gilt als Grundlage der ägyptischen Rechtsprechung. Die Frau hatte unter Berufung auf Artikel 6 des neuen Familienrechts die Auflösung ihrer Ehe gefordert, weil ihr Mann ohne ihr (gesetzlich vorgeschriebenes) Einverständnis eine zweite Frau geheiratet hatte. Nach Artikel 6 braucht der Mann dazu jedoch die Zustimmung der ersten Frau. Ohne eine erwartete Entscheidung des Verfassungsgerichts abzuwarten, entschied der Richter, daß die Scharia Vorrang vor den staatlichen Gesetzen habe. ‘Allah weiß besser als die Menschen, was für sie gut ist', hieß es in der Urteilsbegründung. ‘Wenn Allah die Ehe mit einer zweiten Frau legalisiert hat, dann ist es unvorstellbar, daß sterbliche Gesetzesschöpfer dies als Beleidigung der ersten Frau auslegen.'" (FR 24.04.84) Anm.: 2000 hat das ägyptische Parlament ein Gesetz für mehr Frauenrechte gebilligt, darunter erstmals(?) das Recht auf Scheidung (HH A 28.01.00). Das „erstmals“ deckt sich nicht mit der Information aus der vorstehenden 16 Jahre älteren Meldung. "Tod zu Weihnachten dpa Riad - In Saudi-Arabien sollen am ersten Weihnachtstag zwei christliche Prediger aus den Philippinen hingerichtet werden, weil sie in dem streng islamischen Land eine Kirche bauen wollten." (HH A 24.12.92)

321

„Auge um Auge rtr Dubai – Ein saudi-arabisches Gericht hat einem Ägypter das linke Auge herausoperieren lassen, weil er einem Landsmann mit einem Säureanschlag die Sehkraft des linken Auges genommen hatte. In Saudi-Arabien gilt das islamische Recht der Scharia.“ (HH A 16.08.00) "Schleierhaft afp Teheran - Irans Regierung hat Frauenportraits, auch verschleierte, in der Werbung wieder verboten. Vor zwei Jahren waren sie erlaubt worden." (HH A 25.01.93) "Todesstrafe Weil der iranische Journalist Naser Arabha in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Farad« zu einem Artikel über Leibesertüchtigung einen von ihm gezeichneten Fußballspieler abbildete, droht ihm die Todesstrafe. Fromme Eiferer wollen in den Gesichtszügen des Sportlers Ähnlichkeiten mit dem toten Revolutionsführer Khomeini erkannt haben. Nachdem Demonstranten mit den Rufen »Nieder mit dem zweiten Rushdie« und »Tod dem Herausgeber« das Redaktionsbüro der Zeitschrift in Brand gesteckt hatten, wurde Arabha im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran eingekerkert. Der Ausgang seines Prozesses scheint festzustehen: Mehrere Mullahs haben sich für die Hinrichtung ausgesprochen.“ (STERN 04.06.92) "Mutter erstochen: Vier Jahre Haft Das Gericht scheut sich nicht, am Ende dieses Prozesses von ‘Muttermord' zu sprechen. Aber es verurteilt den Afghanen Sabrin Sch. (19) gemäß dem maßvollen Antrag des Staatsanwaltes lediglich wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von vier Jahren. Der Angeklagte hatte am 17. Mai 1992 ... seine Mutter (42) erstochen. ‘Die Kammer hatte sich mit dem Ende eines Familiendramas, mit einer wirklichen Tragödie zu befassen', sagte der Vorsitzende Richter Günter Bertram in der Urteilsbegründung. Die Mutter von sieben Kindern, verheiratet in zweiter Ehe, mußte sterben, weil sie einen 25jährigen Pakistani liebte. Damit hatte sie die Familienehre geschändet. Und weil die Empfindungen einer Frau nach islamischer Glaubensvorstellung nichts gelten, war sie eine Todeskandidatin. Das Gericht sagt vom Angeklagten: ‘Irgendwann muß bei ihm der Entschluß gereift sein: Ich muß es tun. Sicher ist es ein Tötungsdelikt ohne niedere Motive im rechtlichen Sinne; die Motive sind dem Angeklagten viel zu sehr durch höhere Kräfte aufgedrängt worden. Aber er kann aus der fürchterlichen Tat nicht ohne Strafe rausgehen, die er nicht als Bagatelle empfindet.'" (HH A 08.11.92) Die nächsten Meldungen haben durch die inzwischen erfolgte Umwälzung in Südafrika ihre Brisanz verloren. Als Beispiel dafür, welche Verhältnisse während der Apartheid herrschten, was »Recht« für Farbige in der Südafrikanischen Union vor Mandela bedeutete, werden sie aber beibehalten: "Fast 800 Südafrikaner wurden letztes Jahr offiziell zu Mitgliedern einer anderen Rassegruppe, wie die im Parlament veröffentlichten Zahlen belegen, die auf dem Population Registration Act beruhen. Zu ihnen gehören 518 Farbige, die offiziell als Weiße neu klassifiziert wurden, 7 Chinesen, die Weiße wurden, 2 Weiße, die Chinesen wurden, 3 Malaien, die Weiße wurden, ein Weißer, der Inder wurde, 50 Inder, die Farbige wurden, 54 Farbige, die Inder wurden, 17 Inder, die Malaien wurden, 4 Farbige, die Chinesen wurden, 1 Malaie, der Chinese wurde, 89 Farbige, die Schwarze wurden." Aus STERN 22/89 über den Kabarettisten Pieter-Dirk Uys und sein Stück "Adapt or Die": "So etwas", fügte Uys hinzu, "könnte ich beim besten Willen nicht erfinden. Das sind offizielle Parlamentsberichte." Anm.: Die Weißen, die solche Umwandlungen ermöglichenden Gesetze wie das berüchtigte Volksgruppen-Gesetz mit den daran geknüpften Auswirkungen für das tägliche Leben beschlossen, bezeichneten sich selbst als (überwiegend protestantische) Christen. Nach Lessings Ringparabel kann man aber ihr "Christentum" an ihren Handlungen erkennen. Diese "Umstufungen" hätte man damals vor dem "New Wind of Change", der nun auch Südafrika reinigend durchweht, als uninformierter Europäer achselzuckend zur Kenntnis nehmen können - wenn sie einen nicht schon allein wegen ihrer sich aufdrängenden Ähnlichkeit zu den Rassegesetzen der Nazis betroffen gemacht hätten. Und wie die Nazis (jüdische) "Ehrenarier" kannten, so wurden Japaner und Chinesen wegen der

322

bestehenden Handelsverbindungen groteskerweise als Weiße eingestuft. Aber für die negativ Betroffenen hatten die Rassengesetze des Apartheid-Regimes unter widrigen Umständen lebensbedrohende und -vernichtende Auswirkungen: "Ambulanz nur für Weiße - Schwarzer verblutete Pietersburg - Weil der Krankenwagen ausschließlich für Weiße reserviert war, soll ein schwarzer Simbabwer im südafrikanischen Pietersburg nach einem Autounfall auf offener Straße verblutet sein. Die Rettungsmannschaft habe sich geweigert, den Farbigen ins Krankenhaus zu transportieren. Zwei bei dem Unfall verletzte Weiße sollen bereits vor Ankunft der Sanitäter von Privatleuten in die Klinik gebracht worden sein. Erst später, auf Anordnung der Polizei, seien die Leichen des direkt getöteten und des später verbluteten Schwarzen per Taxi weggefahren worden. Dies berichtet die simbabwische Tageszeitung `The Herald'. Südafrika gab zu den Vorwürfen keine Stellungnahme ab." (Morgenpost 31.05.89) "Wie man an Apartheid stirbt. Ein als Fernsehmonteur arbeitender Mischling ist Presseberichten zufolge nach einem Unfall auf einer Bahre gestorben, weil er wegen seiner unklaren Rassezugehörigkeit von einer Krankenhausabteilung in die andere geschickt wurde. Vivian Salomons, der bei seinem Unfall keine Personalpapiere mit einer klaren Aussage zu seiner Rasse bei sich hatte, ist Zeugen zufolge nacheinander in die - streng getrennten - Abteilungen für Mischlinge, Asiaten und Weiße eingewiesen worden, weil ein Mensch in der Südafrikanischen Union nach den dort geltenden Rassentrennungsgesetzen nur in `seiner' Abteilung behandelt werden darf. Er ist während der Überweisungen gestorben. Dabei haben sich die Krankenhausangestellten den Zeugen zufolge einzig um seine Hautfarbe, nicht aber um seine Verletzungen gekümmert." (FR. 25.04.84) Anm.: Als Nelson Mandela 1990 nach über 27jähriger Gefangenschaft wegen seines Kampfes für die Menschenrechte der schwarzen Bevölkerungsmehrheit freigelassen wurde, bahnte sich eine Wende an. Sie führte dazu, dass am 18.05.90 als erster Schritt auf dem Weg zur Abschaffung der Apartheid die Rassentrennung in den Krankenhäusern offiziell aufgehoben wurde, nachdem es im Land für Schwarze 2.000 Betten zu wenig gegeben hatte, 7.200 Betten für Weiße aber leergestanden hatten: Zu unterhaltende Überkapazitäten störten die Weißen wegen deren finanzieller Auswirkungen zuerst. Südafrika ohne Rassengesetze wird noch längere Zeit der Situation in Indien ähneln, wo die Regierung schon seit Mahatma Gandhis Zeiten das Kastensystem offiziell verdammt und von Gesetzes wegen auch abgeschafft hat, wo das Kastenunwesen aber trotzt des Kastenverbotes in der Verfassung weiterhin praktiziert wird, an dessen unterem Ende man die Unberührbaren findet. So werden auch in Südafrika die in Jahrzehnten errichteten menschenunwürdigen Grenzen in den Köpfen der weißen Bevölkerung noch schwerer zu überwinden sein als die restriktiven Gesetze der Apartheidspolitik. Das wird widerlich anschaulich illustriert durch die Meldung, dass schon nach Abschaffung der Apartheidsgesetze ein 60-jähriger schwarzer Afrikaner von mehreren aus diesem Anlass zusammengerotteten weißen Farmern deswegen erschlagen worden sei, weil der Rüde des weißen Nachbarn die Hündin des Schwarzen gedeckt hatte. Im Gegensatz zu Indien besteht Südafrikas Chance darin, dass die bisher Benachteiligten die Bevölkerungsmehrheit bilden und nun mit Nelson Mandela den ersten farbigen Präsidenten stellten, was für Unberührbare in Indien oder Schwarze in den USA ja nicht gilt. In Australien gibt es für die an ganz andere Wertvorstellungen gebundenen Ureinwohner, die Aborigines, auf Grund ihres völlig anderen Werterlebens eine eigene, von den Wertvorstellungen der Weißen losgelöste Rechtsprechung, weil sie auf Grund ihrer ganz anders gearteten kulturellen Wertvorstellungen entweder das von den Weißen so beurteilte Unrecht nicht unbedingt nachvollziehen können und insoweit dann schuldlos handeln oder die vom weißen Mann verhängten Strafen als nicht angemessen empfinden. "‘Spießen' erlaubt SAD Sydney - Das oberste Gericht Australiens hat die traditionelle Bestrafung eines Ureinwohners in seiner Heimatgemeinde Yuendumu zugelassen. Statt drei Jahren Haft wegen Totschlags drohen Wilson Jagamara Walker vom Stamme der Walpiri Speerstiche in beide Oberschenkel." (HH A 26.02.94) Sollen aber völlig anders geartete kulturelle Wertvorstellungen, denen die jeweiligen Menschen wie unter einem

323

ihnen zu freier Entscheidung keinen Raum bietenden Zwang unterworfen sind, in jedem Fall auf Grund ihres anders gearteten Werterlebens zur Schuldlosigkeit führen? Für die Aborigines vermögen wir das einzusehen. Da können wir schulterzuckend großzügig sein. Was soll aber für den folgenden Fall gelten, der sich in HamburgWilhelmsburg, in dem wegen seines 34-prozentigen Türkenanteils im Volksmund so genannten „Balkan des Nordens“ ereignete: Ein in seinem sozialen Umfeld hochangesehener 60-jähriger Kosovo-Albaner, Vater von vier erwachsenen Kindern, streckte seinen 25-jährigen Schwiegersohn mit zwei Schüssen nieder, weil der seine Tochter wegen einer anderen Frau verlassen wollte, die ihm als Prostituierte ein in jeder Hinsicht angenehmeres Leben versprach. Der Familienpatriarch, der sich in seiner Ehre so schwer verletzt gefühlt hatte, dass er zum Totschläger geworden war, weil es für ihn nach seinem seelischen Erleben keine andere Lösung gab, seine zutiefst erniedrigte Ehre wieder reinzuwaschen, rechtfertigte sich mit dem von ihm seelisch so erlebten Argument, er habe nach dem Kanun, dem albanischen Gewohnheitsrecht, so handeln müssen: In dieser moralischen Werteordnung stelle die Ehre der Sippe den alles überragenden Wert dar. Schwere und schwerste Ehrverletzungen, insbesondere der Sippenehre, wie durch den Schwiegersohn geschehen, könnten nur durch Blutvergießen getilgt werden: „Wasche dein beschmutztes Gesicht (mit Blut).“ Als Familienoberhaupt und damit die oberste moralische und juridische Instanz der Sippe habe er für die Sippenehre einzustehen und die Tötung des Ehrverletzers vorzunehmen gehabt. Die Aborigines können sich auf ihre anderen Normen unterliegende Leitwerte berufen, der Albaner jedoch nicht, obwohl er seine Normen genau so zwanghaft erlebt, wie ein Aborigine die tradierten Normen seiner Vorfahren! Interessant ist ein vom TÜV angestellter internationaler Rechtsvergleich über die Bestrafung von alkoholisierten Autofahrern, die im Suff einen Menschen getötet haben: „... In Deutschland erhält ein alkoholisierter Autofahrer, der einen Unfall mit tödlichem Ausgang verursacht, wegen fahrlässiger Tötung höchstens fünf Jahre Haft. In Großbritannien ist die Strafe doppelt so hoch. In den USA gilt die Tat als vorsätzlicher Mord, auf den in etlichen Bundesstaaten die Todesstrafe steht.“ (HH A 26.11.99) Ein weiteres Urteil aus den USA, das bei uns so nicht möglich ist: „Fehlgeburts-Urteil SAD New York – Eine Mutter ist im US-Staat South Carolina zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden, weil sie nach dem Rauchen der Droge Crack eine Fehlgeburt hatte. Das Gericht sah das als Totschlag – zum ersten Mal in der US-Rechtsgeschichte.“ (HH A 23.05.01) Eine Frau, die bei uns ihr Kind durch eine leichtsinnige oder krankhafte Lebensweise verliert, wird nach deutschem Recht nicht bestraft. Sie wird nach deutschem Recht nur dann bestraft, wenn ihre Handlung eine Abtreibung bezweckte. Sie muss mit irgendwelchen Mitteln bewusst auf eine Abtreibung zielen. Zu einer solchen zielgerichteten Handlung, so sie denn nachweisbar wäre, könnte sie auch Drogen einsetzen. Das wäre dann aber ein Verstoß gegen § 218 StGB, nicht aber ein Totschlag! Es kann nach deutschem Recht schon deswegen kein Totschlag sein, weil § 212 StGB erfordert, dass ein (anderer) Mensch getötet worden sein muss, einem Fötus aber nach deutschem Recht strafrechtlich noch keine »Mensch«-Qualität zuerkannt wird. Durch das StGB geschützte »Mensch«-Qualität erlangt eine Leibesfrucht erst mit dem Beginn des Geburtsaktes. Vor Erlangung einer strafrechtlichen »Mensch«-Qualität ist aber ein Totschlag, die Tötung eines (anderen) Menschen, denklogisch nicht möglich: Wenn es im strafrechtlichen Sinne noch keinen Menschen gibt, dann kann auch noch kein Mensch getötet werden! Zum Schluss dieses Einblicks in andere Rechtskreise die Meldung aus den USA: 1992 wurde dort ein Mann vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, weil er auf Flehen seines Opfers ein Kondom benutzt hatte! Die Erkenntnis aus diesen Zeitungsmeldungen ist: »Recht an sich« gibt es nicht. »Recht« ist von der Gesellschaftsordnung, in der es praktiziert wird, nicht zu trennen. Zum Abschluss dieses Kapitels noch einige Zitate aus dem Buch „Frauen der Welt“, in dem eine 1984 ausgestrahlte Sendereihe von Radio Bremen in Buchform bebildert herausgegeben wurde. In den nachfolgend

324 zitierten Beschreibungen und aus den Interviews mit Frauen verschiedener Kulturkreise63 heraus wird eine jeweils ganz andere Auffassung von »Recht« - eventuell nur in der Form von »Gewohnheitsrecht« - deutlich: Auf S. 69 unter einem Bild eines Babys auf dem Arm seiner Mutter über die Verhältnisse im Stamm der Kokomba in Togo „Die kleinen Mädchen auf den Armen ihrer Mütter sind bereits verlobt. Sobald eine Frau schwanger ist, wird um die Hand der eventuell auf die Welt kommenden Tochter angehalten. Unter den Bewerbern wird ein Bräutigam ausgewählt. Wird ein Junge geboren, hat er Pech gehabt. Kommt eine Tochter zur Welt, dann muß er einen Tag pro Woche auf den Feldern seiner zukünftigen Schwiegereltern arbeiten, bis sie heiratsfähig ist. Sie wird zur Frau genommen, auch wenn sie blind, lahm oder geistesgestört sein sollte. So findet jede Frau einen Mann. Schönheitskriterien fallen nur bei vorehelichen Liebesbeziehungen ins Gewicht oder bei Seitensprüngen. ... Jedenfalls scheinen die Kokomba von einer Liebesheirat nichts anderes zu erwarten als Erpressung. Schönheit ist vergänglich, sagen sie, aber die Gruppe muß überleben. Dies Eheverständnis gibt allen gleiche Chancen, den Schönen wie den weniger gut Geratenen. Vereinsamung ist hier unbekannt. Auch soziale Unsicherheit. Aber je mehr man sich den Städten nähert, desto weniger ist davon übrig geblieben.“ Über einen Hochzeitsbrauch und die Lage der Frauen in Ägypten heißt es dort (S. 164 f. und 175 ff.): „Laut Ehevertrag bleibt die Mitgift zeitlebens Eigentum der Frau. Der Vertrag gibt ihr auch das Recht, sich scheiden zu lassen, falls ihr Mann sie schlecht behandelt oder seine ehelichen Pflichten vernachlässigt. Aber noch ist der Vertrag nicht gültig, die Ehe nicht geschlossen. Erst muß die Jungfräulichkeit der Braut erwiesen sein. Der Mann wird sich davon überzeugen. Auch Verwandten und Freunden muß der Beweis erbracht werden. Vor dem Haus warten die Gäste. Sie werden das Brautpaar begleiten, um Zeugen zu sein. Dies ist wohl der wichtigste Tag im Leben einer ägyptischen Frau. Bei der Hochzeit verkörpert sie die Ehre ihrer Familie. Besonders glücklich macht so viel Verantwortung offenbar nicht. In wenigen Minuten wird sich zeigen, ob ihre Familie Ansehen verdient und sie, die Braut, zukünftigen Ehefreuden entgegensehen kann - oder ob sie verstoßen und vielleicht sogar heimlich ermordet wird. ... Die Menge verlangt den Beweis.“ Darum wickelt eine Hebamme ein Tuch um einen Finger und durchstößt das Jungfernhäutchen. Der so auf dem Tuch entstehende Blutfleck wird der wartenden Menge vorgezeigt. Der Ehemann wiederholt diese Prozedur und zeigt ebenfalls den auf diese Art erzeugten Blutfleck. Erst dann gilt die Ehre der Familie der Braut als gerettet. „Lust gilt hier ja nicht als Sünde. Die Jungfräulichkeit ist vielmehr das Siegel der Sippe, der Beweis, daß kein Fremder in die Familie eingedrungen ist. Weshalb hätte Gott oder die Natur sonst diese blutige Barriere geschaffen - so fragt man sich. In einer Inzucht-Gesellschaft lautet die Antwort: um die Einheit der Familie zu sichern. Daraus folgert man, daß ein Mädchen, das seine Jungfräulichkeit verliert - also das Siegel der Sippe bricht - den Tod verdient. Wir fragten eine Bäuerin, was passiert, wenn ein Mädchen die Jungfräulichkeit verliert. »Das ist ein großes Unglück.« « »Warum eigentlich?« »Wenn einem Mädchen etwas zustößt - sei es durch fremdes oder eigenes Verschulden - dann wird es umgebracht.« »Halten Sie das für richtig?« »Ja, damit bin ich einverstanden. Wenn es sonst niemand täte, könnte ich es sogar selbst tun.« »Die eigene Tochter töten?« »Ja.« »Aber ist es nicht die Schuld des Mannes?« »Was haben wir mit dem Mann zu tun?« »Der hat es doch getan.« »Das geht uns nichts an. Der hat keine Schuld.« »Wieso denn nicht? « »Wir sind so - wir töten das Mädchen und lassen den Mann laufen.« ... „Auch die Bemühungen der Regierung, die Beschneidung abzuschaffen, haben bisher wenig Erfolg. Daß dies nichts mit der Religion zu tun hat, beweisen vier Millionen ägyptische Christen - die Kopten: Ebenso wie ihre mohammedanischen Schwestern sind die christlichen Ägypterinnen überzeugt, nur durch Beschneidung in den Vollbesitz ihrer Weiblichkeit zu gelangen. - Die alten Bräuche haben sich gegen christliche, islamische und moderne Einflüsse behauptet.“ „Ein Bauer ist hinzugekommen. ... Ihn fragen wir, warum die Ehre eigentlich so wichtig ist. ... »... Also bin ich sehr vorsichtig, sonst mag sie nach einigen Monaten einen dicken Bauch kriegen. 63

Deffarge, M.-C. / Troeller, G.: Frauen der Welt, Verlag 2001, 1986 4

325

Das werden die Leute sehen und mich fragen: Was ist mit deiner Tochter passiert? Du hast nicht aufgepaßt. Das wäre eine Katastrophe. Ich müßte sie töten, damit die anderen die Schande nicht mehr sehen. Es gibt natürlich eine Möglichkeit. Wenn meine Frau das Unglück vor mir bemerkt - und vor allen anderen Leuten natürlich - und das Kind mit Hilfe einer diskreten Hebamme wegbringt, dann kann meine Tochter sich eventuell retten. Ich darf davon natürlich nichts wissen, sonst müßte ich sie töten - am gleichen Tag.«“ Eine andere befragte Ägypterin erklärt auf die Frage: »Wenn der Verführer sie heiratet, war er doch der erste. Was soll schon sein?« »Wir sind nicht wie ihr. Sie werden das nicht verstehen. Es geht doch um die Ehre. Wenn der Mann in der Hochzeitsnacht zu ihr kommt, hat sie keine Ehre mehr. Da sie nicht mehr Jungfrau ist, nimmt der Mann seine Einwilligung zurück - und die Familie ihre Tochter. Die wird dann umgebracht.« „Diese Lustbejahung [die der Islam den Frauen zugesteht] erklärt wohl, warum die Frauen jenseits des Mittelmeeres so selbstsicher und ausgeglichen sind - trotz des Rituals ihrer Entjungferung, trotz gesellschaftlicher Unterdrückung und Beschneidung. Dort meinen die Frauen übrigens, daß die Verteufelung der Sexualität bei christlich erzogenen Frauen tiefere psychische Wunden hinterläßt, als die Entfernung der Klitoris. – »Mit Sünde und Schuld habt ihr eure Frauen im Kopf beschnitten«, sagen sie, »jedenfalls haben wir keine Schwierigkeiten, sexuelle Erfüllung zu finden.« Sexuelle Erfüllung erst durch Genitalverstümmelung mit teilweise anschließender Vernähung (Klitoridektomie mit Infibulation)? Diese so wiedergegebenen Gespräche lesen sich etwas sehr unkritisch und sind mit den medizinischen Gegebenheiten nicht vereinbar. Nicht ohne Grund kämpft die Frau des ermordeten ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten Sadat gegen das archaische, rund 4.000 Jahre alte Ritual der sexuellen Verstümmelung durch Beschneidung der Klitoris und anderer weiblicher Genitalbereiche. Nicht umsonst hat die UNO ein Programm gegen diese Art der als Initiationsritual gesellschaftlich erzwungenen sexuellen Verstümmelung gestartet, die noch in 28-30 afrikanischen Staaten vor allem im Mittleren Afrika und Nahen Osten als gesellschaftlicher Brauch praktiziert wird und dort rund 130 Mio. Mädchen und Frauen als Opfer hat. Nicht umsonst ist die Gefahr der sexuellen Verstümmelung selbst in der nicht allzu asylfreudigen Bundesrepublik ein absoluter Asylgrund! Denn viele der hier in Europa lebenden afrikanischen Eltern fühlen sich trotz des selbst erlebten Leides der Ehefrauen unter einem solchen kulturellen und soziologischen Druck durch die eigene Großfamilie, durch Freunde und Nachbarn aus dem Heimatland, dass sie glauben, ihre Töchter - teilweise unter falschen Vorspiegelungen oder sogar gegen deren Willen – in einem so deklarierten „Urlaubsaufenthalt“ in ihre Heimatländer bringen zu sollen, um dann dort die hier nicht erlaubten Beschneidungen vornehmen zu lassen. Beschneidungen an Mädchen auch in Deutschland Bonn (dpa) - Auch in Deutschland lebenden afrikanischen Mädchen drohen nach Darstellungen von Organisationen und Initiativen verstümmelnde Genital-Beschneidungen. Rund 6000 Mädchen seien potenzielle Opfer, außerdem lebten rund 35000 beschnittene Migrantinnen in Deutschland. Die Vorsitzende des Vereins Intact, Christa Müller, appelierte vor allem an Gynäkologen, Hebammen, Kinderärzte, Erzieher und Lehrer, nicht die Augen vor dem Thema und den für die Opfer damit verbundenen körperlichen und psychischen Leiden zu verschließen. Es gebe Hinweise und Verdachtsfälle, dass auch in Deutschland solche Beschneidungen «im Geheimen» vorgenommen würden, erläuterte Müller. Allerdings sei der Nachweis schwierig. Dem stünden uneinsichtige Familien und auch rechtliche Schranken beim Kindschaftsrecht entgegen. «Kinder werden in Deutschland immer noch zu sehr als Eigentum ihrer Eltern betrachtet.» In Deutschland könnten solche Eingriffe als Körperverletzung oder Kindesmisshandlung strafrechtlich verfolgt werden. Bisher ist laut Müller allerdings noch kein einziger Fall zur Anklage oder vor Gericht gekommen. Nach Darstellung der Frauenorganisation Terre des Femmes ist es eine «Tatsache», dass auch in Einwanderungsländern wie Deutschland solche «Genitalverstümmelungen» praktiziert werden oder die Mädchen hierzu in ihre Heimatländer gebracht werden. Die Organisation für Frauenrechte fordert auch die Anerkennung der Flucht vor «Genitalverstümmelung» als Asylgrund. Nach Angaben von Terre des Femmes werden weltweit täglich mehr als 6000 Mädchen «an ihren Genitalien verstümmelt». Gegenwärtig seien mehr als 150 Millionen Mädchen und Frauen betroffen, davon zum größten Teil in Afrika, wo der Brauch in 30 Ländern praktiziert werde. Bei dem nach traditionellen Bräuchen oder einem missinterpretierten Islam begründeten Eingriff wird fast immer

326

die Klitoris zum Teil oder vollständig amputiert, darüber hinaus werden oft zusätzlich die inneren Schamlippen teilweise oder komplett entfernt. Die äußeren Schamlippen werden in etwa 15 Prozent der Fälle so vernäht, dass nur noch eine kleine Öffnung bleibt. (www.pipeline.de 06.05.04) So bedrohten Mädchen und Frauen wird hier jetzt ein Bleiberecht64 gewährt: „Schutz vor Beschneidung Abschiebung Zum Schutz vor drohender Genitalverstümmelung in ihrer Heimat darf eine togoische Staatsangehörige nicht abgeschoben werden. Das hat das Verwaltungsgericht Oldenburg entschieden. Die 23 Jahre alte Klägerin sei wegen unmittelbar drohender Zwangsbeschneidung aus Togo geflohen, teilte das Gericht am Mittwoch mit. Diese Gefahr könne bei ihrer Rückkehr nicht ausgeschlossen werden. Die Genitalverstümmelung sei eine politische Verfolgung und mit Folter vergleichbar. dpa“ (Die Welt 13.05.04) Der in dem Buch „Frauen der Welt“ von der islamischen Frau erhobene Vorwurf der Verteufelung der Sexualität bei christlich erzogenen Frauen wird in diesem Buch mit folgendem Zitat belegt: „Kirchenlehrer erklärten: »Die Frau ist die Lockspeise des Satans, der Auswurf des Paradieses, die Quelle der Sünde, das verdammte Geschlecht, dessen verruchte Aufgabe es ist, die Menschheit zu verderben.« Papst Pius warnte die Männer: »Wenn du eine Frau siehst, denk‘, es sei der Teufel.« Und auf den Konzilien waren sich die Gottesmänner einig: »Alle Bosheit ist gering gegen die Bosheit des Weibes.« Kein Wunder, daß jeder christliche Ehrenmann seine Frau schlagen durfte, »bis sie« - so ein Zitat – »wie tot umfiel«.“ Männer!!! Insbesondere Gottesmänner!!! Mit ihrer damals vorherrschenden Ansicht Brüder im Geiste zu den heute tätigen Imamen, die die Frauen immer noch im wahrsten Sinne des Wortes verteufeln.

64

Solche Flüchtlinge vor Verfolgung durch innerstaatliche Gruppen des Heimatstaates, die staatliche Macht usurpiert haben und andere Bevölkerungsgruppen verfolgen und umbringen, wie z.B. in Ostafrika in der Auseinandersetzung zwischen den Hutus und Tutsis in Uganda und Ruanda und in den Kriegen der 15 Warlords in Somalia oder in den Stammeskämpfen in Afghanistan geschehen, leben im rechtlichen Status der Duldung, das bedeutet, dass den Flüchtlingen zwar weder Asyl noch ein sonstiges Bleiberecht in Deutschland zusteht, sie jedoch nicht abgeschoben werden können. Das ist eigentlich nur eine ausgesetzte Abschiebung, denn meist bekommen die Betroffenen eine Erlaubnis nur für einen kurzen Zeitraum und müssen immer wieder neue Anträge stellen. Neuerdings wird auch solchen Ausländerinnen ein Bleiberecht gewährt, die zwar nicht Verfolgung durch innerstaatliche Gruppen des Heimatstaates befürchten müssen, denen aber in ihrem Heimatland eine von ihren hier lebenden Eltern veranlasste (ihre primären Geschlechtsmerkmale verstümmelnde) Beschneidung und teilweise verengende Vernähung des Restes droht, wie sie z.B. in 28-30 Staaten Afrikas - per Rasierklinge oder Glasscherbe, ohne Betäubung und wegen der Wundinfektionen zu einem Drittel mit tödlichem Ausgang - fast ausnahmslos der Fall ist. Einen besseren aufenthaltsrechtlichen Status innerhalb dieser Gruppe der hier geduldeten Flüchtlinge haben die sogenannten Kontingentsflüchtlinge. Kontingentsflüchtlinge sind im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge. Ihnen wird ein dauerhaftes Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland gewährt, ohne dass sie sich zuvor einem Anerkennungsverfahren unterziehen müssen. Nach der Neufassung des - vom BVerfG 2002 wegen der für verfassungswidrig erklärten Abstimmung im Bundesrat aufgehobenen - Zuwanderungsgesetztes sollte der Status der Duldung abgeschafft werden. Es sollte nur noch die zwei Aufenthaltstitel befristete Aufenthaltserlaubnis und unbefristete Niederlassungserlaubnis geben. Bürgerkriegsflüchtlinge, Opfer geschlechtsspezifischer oder nichtstaatlicher Verfolgung sollten entsprechend einem EU-Beschluss eine humanitäre Aufnahme und damit einen Abschiebeschutz erhalten, der den von der Genfer Flüchtlingskonvention gesteckten Rahmen ausfüllt. Eine dauerhafte Bleiberechtsregelung für alle langfristig geduldeten Flüchtlinge als Ziel von Reformbestrebungen beträfe 2005 rund 217.000 bisher geduldete Flüchtlinge in Deutschland, von denen mehr als 150.000 bereits seit mehr als fünf Jahren weitgehend rechtlos in Deutschland leben. Die meisten davon stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien (83.000), aus der Türkei (14.000), aus Afghanistan und Vietnam (8.000).

327

2.8.17 Unterschiedliche Ansichten über das »Recht« und den Rechtsgüterschutz innerhalb selbst einer kulturell einheitlich geprägten Gesellschaft Unterschi edliche Ansichten über das »Recht« und den Rechtsgüt erschutz innerhalb einer Gesellsch aft

Aber auch innerhalb einer kulturell einheitlich geprägten Gesellschaft gibt es unterschiedliche Ansichten - sogar unter den zur Feststellung hierüber berufenen Richtern - zu der jeweils zu entscheidenden Frage, was im Einzelfall als »Recht« gelten solle. So sind z.B. schon viele Klagen vor dem BVerfG gescheitert, weil zwar vier Richter dieses mit acht Richtern besetzten Spruchkörpers in dem zu entscheidenden Fall eine Grundrechtsverletzung erkennen zu können glaubten, die vier anderen Richter aber eine Verletzung verneinten; und bei Stimmengleichheit wird der Antrag, eine Grundrechtsverletzung festzustellen, abgelehnt. Ein anderes Beispiel für die unterschiedliche Interpretation dessen, was »Recht« sein soll, durch Richter wird zwei gleichlautenden Zeitungsmeldungen entnommen: "Ein 85jähriger Mann, der seit Mai letzten Jahres krank in einem Pflegeheim in Syracuse liegt, darf sich zu Tode hungern. Das entschied Donald H. Miller, Richter am Obersten Gerichtshof im USBundesstaat New York. ... Das Urteil steht im Gegensatz zum Spruch des Obersten Gerichtshofes von Kalifornien, der der unheilbar gelähmten Elizabeth Bouvia das Recht abgesprochen hatte, sich in einem Krankenhaus der Stadt Riverside zu Tode zu hungern. Die 26jährige Frau wird auf Anordnung des Gerichts zwangsernährt." (HH A und FR 04.02.84) Nun mögen in den beiden eben angesprochenen Fällen der vorstehenden Meldung die Voraussetzungen verschieden sein, weil es sich einmal um einen Todkranken, das andere Mal um eine Schwerstgelähmte handelt, die ihr Dasein als nicht mehr lebenswert empfand. Nur die geplante Vorgehensweise beider war gleich, weil ihnen die "assistierte Selbsttötung" mit der erst später - trotz des im Gegensatz zu unserer Rechtslage in den USA (wie u.a. auch in Kanada und Österreich) geltenden Beihilfeverbotes bei Selbsttötung - konstruierten Selbsttötungs-Maschine (STERN 07.11.91) noch nicht zugänglich gewesen war. Aber selbst bei genau identischen Fällen gibt es unterschiedliche Urteile.65 So erschien 1984 bei uns ein Buch mit einer geschmacklosen Fotomontage als Buchumschlag. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Das kann alle Tage passieren. Auf dieser Fotomontage war aber auf dem oberen Bild die Mittelpartie eines Männerkörpers dargestellt, von dem aus ein Urinbogen in das untere Bild floss - genau in eine von jungen Soldaten anlässlich einer Vereidigung feierlich waagerecht gehaltene Nationalflagge. Ein Gericht in Hamburg sprach mit (zu?) großstädtischer Toleranz drei Angeklagte des Verlages vom Vorwurf frei, die Flagge der Bundesrepublik durch eine Fotomontage gemäß § 90 a StGB "grob verunglimpft" zu haben. Es veranschlagte in seiner Interessensabwägung das Grundrecht der Freiheit der Kunst aus Art. 5 III GG in diesem Falle höher als den Strafanspruch des Staates. Im kleinstädtischen hessischen Loller hingegen ist ein Buchhändler, der genau dieses Buch im Laden ausgestellt hatte, dafür zu einer Geldstrafe von 4.500 DM verurteilt worden. "Nun beschäftigen sich das OLG in Frankfurt, der BGH und das Bundesverfassungsgericht mit der Frage, was als höherwertiges Rechtsgut gilt - die Freiheit der Fotomontage als Kunst oder der Respekt vor der Flagge." (STERN 21/84) Abgesehen davon, dass sich hier ins Prinzipielle gehobene juristische Streitfragen auftun, hätte man vielleicht gelassener auf die »Dummheit« der Autoren reagieren sollen, die verdrängten, dass sie 1984 diese von ihnen strapazierte Freiheit nur hatten, weil die Bundeswehr mit den Streitkräften der NATO-Partner diese von ihnen in Anspruch genommene und von ihnen überstrapazierte Freiheit schützte. Die Autoren hätten sich 1984 die Kontrollfrage stellen sollen: Hätte ein Buch über die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR mit dieser Aufmachung in der damals noch sehr real existierenden DDR erscheinen können? Fazit: Auch innerhalb einer Gesellschaft ist ständig umkämpft, was »Recht« sein und durch Gesetze verwirklicht oder geschützt sein soll. Zu beantworten ist oftmals die Frage: Was ist der Schutzzweck einer bestehenden Norm? Kein Schadensersatz für Verlust der Vorhaut Nürnberg (ddp-bay). In einem äußerst delikaten Fall von Schadensersatz und Schmerzensgeld hat das Oberlandesgericht Nürnberg gegen den 14-jährigen Kläger entschieden. Der Jugendliche hatte nach dem Pinkeln den Reißverschluss seiner Hose etwas zu schnell nach oben gezogen und sich dabei die Vorhaut eingeklemmt. Erst im Krankenhaus konnte er befreit werden, musste allerdings ein 65

Siehe dazu auch den Fall "Russisches Roulett vor dem Amtsgericht" in Teil I unter Punkt 2.10.2

328

paar Zentimeter kostbarer Haut lassen. Der 14-Jährige versuchte danach, von einem Kioskbesitzer über 5000 Euro Schadenersatz und Schmerzensgeld, sowie 150 Euro Schadenersatz für die bei der Rettung demolierte Hose einzuklagen. Im Laden des Mannes hatte der Jugendliche nämlich zuvor Bier und Schnaps gekauft. Die Argumentation des Klägers lautete, der Mann hätte dem jungen Mann gar keinen Alkohol verkaufen dürfen. Wenn der 14-Jährige nichts getrunken hätte, wäre es auch nicht zu dem schmerzhaften Zwischenfall gekommen. Das Gericht wies die Klage aber am Montagabend ab. Der Sinn des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit sei, einer Verwahrlosung entgegen zu wirken, die durch zu frühen Alkoholgenuss eintreten könne. Hingegen sei der individuelle Schutz nicht vorrangig. Im übrigen, befand das Gericht, könne es keinen rechten Zusammenhang zwischen Alkoholgenuss und fehlerhafter Benutzung des Reißverschlusses erkennen. Dies sei nicht typisch für einen Unfall unter Alkoholeinfluss. (Az.: OLG Nürnberg 1 U 2507/03) (Yahoo Nachrichten 04. 05.04) Lässt sich die Norm mit dem Grundgesetz, insbesondere der Würde des Menschen als oberstem Rechtsgut unserer Verfassung, vereinbaren? Ist eine fragwürdig gewordene Norm wirklich noch zeitgemäß? Das wird exemplarisch am Beispiel des früheren sogenannten „Kranzgeld-Paragraphen“ § 1300 BGB noch näher ausgeführt, der einer bisher unbescholtenen, aber dann »nachgebend lebenslustigen« Verlobten einen Schmerzensgeldanspruch für gewährte und hoffentlich auch selber gehabte voreheliche Freuden gewährte, wenn die Verlobung in die Brüche ging und die Frau nun nicht mehr als „virgo intacta“ eine neue Beziehung eingehen konnte. Außerdem stellt sich bei der Suche nach »dem Recht« ständig neu die Frage: Was soll zukünftig durch zu verändernde oder noch zu schaffende gesetzliche Normen eventuell stärker als bisher oder neu geschützt werden? Gibt es zu schließende gesetzliche Lücken bei dem Schutz wichtiger Rechtsgüter? Oder soll in bestimmten Bereichen wie z.B. dem des Ladendiebstahls oder der Beförderungserschleichung der Rechtsgüterschutz zurückgenommen werden?

2.8.18 Was »Recht« sein soll, ist in einer sich verändernden Gesellschaft ständig im Fluss, ständig umkämpft Was »Recht« sein soll, ist in einer sich veränder nden Gesellsc haft ständig im Fluss, ständig umkämpf t

Dazu zunächst einige Fälle aus dem Straf- und dem Strafprozessrecht: "Union will Strafgesetze erweitern Bonn - Die rechtsextremistischen Ausschreitungen und Anschläge haben nach Ansicht des Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Fraktion, Jürgen Rüttgers, im deutschen Strafrecht vor allem zwei Schwachstellen aufgedeckt: das Haftrecht und die Strafbestimmung über den Landfriedensbruch. `Die Union will deshalb die Möglichkeiten der Sicherungshaft in der Strafprozeßordnung und des Landfriedensbruchs in einem Gesetz erweitern', sagte der CDU-Politiker in einem Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt. Es könne nicht hingenommen werden, daß `umherziehende Gewalttäter' nach der Verhaftung und der Feststellung der Personalien wieder auf freien Fuß kämen, `um an anderer Stelle ihre Serienverbrechen fortzusetzen'. Zudem müsse es eine Handhabe gegen Leute geben, die - scheinbar unbeteiligt - Gewalttätern Schutz und Deckung bieten. `Wer sich trotz einer entsprechenden Aufforderung nicht aus einer gewalttätigen Kundgebung oder aus der `Gaffermenge' entfernt, dem muß Strafe drohen können.' In diesem Punkt hat sich jetzt auch die FDP bewegt. Sie will erreichen, daß zur Verdunkelungsund Fluchtgefahr auch die Wiederholungsgefahr als Haftgrund hinzukommt, also Täter bis zu ihrer Verhandlung auch dann in Gewahrsam genommen werden können, wenn die Gefahr der Wiederholungsgefahr besteht, sagte jüngst FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms. Dazu meinte Rüttgers: `Daß die FDP hier auf uns zukommt, gibt der Koalition die Chance, schnell das Stadium der Absichtserklärungen zu überwinden und zu Ergebnissen zu kommen.' Die verstärkte Anwendung des Artikels 18 - Aberkennung der Grundrechte beim Mißbrauch der Meinungsäußerungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit - sieht der CDU-Politiker nicht als die `Wunderwaffe ' im Kampf gegen den Rechtsextremismus an. Das hätten die Erfahrungen gezeigt. Bislang seien zwei Anträge auf Entziehung der Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht

329

gestellt worden. Es ging um den stellvertretenden Vorsitzenden der rechtsradikalen `Sozialistischen Reichspartei' Remmer und den Vorsitzenden der `Deutschen Volksunion', Frey. In beiden Fällen wurde der Antrag nach vierbeziehungsweise fünfjährigem Verfahren vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Wichtiger sei zunächst, daß Vergehen wie Volksverhetzung, Verwendung von Nazisymbolen oder Aufstachelung zum Rassenhaß wirkungsvoll und erfolgreich bestraft werden. `Das sind keine Bagatellen, sondern kriminelle Handlungen gegen den Kern unserer freiheitlichen Verfassung. Diesem bösen Spuk muß mit aller Schärfe ein Ende gemacht werden.'" (HH A 09.12.92)

Unter diesem Gliederungspunkt gab es in den früheren Fassungen an dieser Stelle als ein weiteres Beispiel dafür, wie umkämpft »Recht« in einer Gesellschaft sein kann, längere Abhandlungen zu dem jahrzehntelangen Streitpunkt Vergewaltigung in der Ehe. § 177 I StGB definierte „Vergewaltigung“ folgendermaßen: „Wer eine Frau mit Gewalt oder der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf mit ihm oder einem Dritten nötigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.“ Zum durch diese Strafnorm geschützten Personenkreis gehörten ausschließlich Frauen außerhalb ihrer Ehe nicht aber Frauen in ihrer Ehe oder gar Männer; darüber hätte man höchstens gelacht Nach jahrzehntelangem Gezerre wurde der Wortlaut des § 177 StGB nunmehr geändert. Nach der Gesetzesänderung sind die früheren Ausführungen obsolet geworden. Warum hatte es aber so lange gedauert, bis auch eine verheiratete Frau den Schutz erfuhr, den eine unverheiratete ganz selbstverständlich genoss? "Gescheitert ist die Gesetzesänderung bisher kurioserweise vor allem an der harten Haltung der CDU/CSU-Fraktion in der Abtreibungsfrage. Hardliner befürchten nämlich, eine solche Regelung könnte schwangere Ehefrauen auf die Idee bringen, sich auf die kriminologische Indikation zu berufen und so massenweise legal abzutreiben. Ein Argument, das viele, darunter die niedersächsische Frauenministerin Waltraud Schoppe, zwar für »absurd« halten, das jedoch ausreichte, einen Gesetzentwurf, den die damaligen Minister Rita Süssmuth und Hans Engelhardt 1988 vorgelegt hatten, in letzter Minute abzuwürgen. ... Es reiche zunächst aus, das Wörtchen »außerehelich« aus den existierenden Vergewaltigungsparagraphen zu streichen. ... So hätte die deutsche Ehefrau sofort das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung - wie jede Unverheiratete.“ (STERN 21.11.91) Nach der erfolgten Gesetzesänderung zu Gunsten verheirateter Frauen müssen nun auch die Gerichte ihre Rechtsprechung ändern, der zufolge verheiratete Frauen, die sich gegen bislang vom Gesetzgeber so nicht bewertete "Vergewaltigung" in der Ehe zur Wehr gesetzt und dabei den sie angreifenden Ehepartner getötet hatten, die Berufung auf Notwehr bisher verweigert worden war: In einer Ehe habe man mehr hinzunehmen als als freier Mensch. (Darauf liefen die Urteilsbegründungen hinaus.) Inzwischen wurde der § 177 StGB so geändert, dass er mit der früher durch § 178 StGB geschützten sexuellen Nötigung zusammengezogen wurde und nun unter Vergewaltigung nicht mehr nur einschränkend der gegenüber einer Frau erzwungene außereheliche Geschlechtsverkehr unter Strafe gestellt wurde, sondern jedes in den Körper Eindringen mit irgendetwas, so dass jetzt auch Männer unter Vergewaltigungsschutz stehen. Wer an dieser Stelle gerade die Augenbraue hob, bedachte nicht die ganze Bandbreite zwischenmenschlicher Verhaltensweisen, wenn sich z.B. in Gefängnissen beim Duschen oder nach dem Einschluss in der Zelle einige Männer in Ermangelung einer Frau über einen schwächlichen Außenseiter hermachen, der dann seinen Hintern hinhalten muss. Mit ein paar anderen Worten hat man nun einen umfassenderen Schutz (mit weiter differenzierenden Strafdrohungen als bisher) erreicht. Es geht also ohne weiteres, »das Recht« zu ändern, um es den gewandelten Vorstellungen anzupassen – wenn man nur will. Die jetzt gefundene Formulierung hinsichtlich dessen, was bei uns nunmehr durch die Definition einer »Vergewaltigung« als eines besonders schweren Falles einer sexuellen Nötigung „... den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt ..., wenn sie mit dem Eindringen in einen Körper verbunden sind (Vergewaltigung) ...“

330

geschützt wird, muss aber nicht die letzte bleiben. Andere Länder haben andere Formulierungen zum Schutz vor dem, was sie als »Vergewaltigung« definieren, denn sonst wäre eine Zeitungsmeldung nicht verständlich, dass in einem Staat der USA zwei Frauen wegen der »Vergewaltigung« eines Mannes verurteilt worden waren, die einen schmucken Tramper in ihrem Auto mitgenommen hatten und dann seine männlichen Reflexe überprüften, indem sie ihm irgendwo unterwegs eine Pistole an den Kopf setzten, damit er ihnen beiden(!) das gab, was sie (gerade) zu sehr entbehrten. (So ungerecht kann die Welt sein: Andere Männer hätten dafür bezahlt, von den Frauen auf einen solchen Lusttrip mitgenommen zu werden! „Der Nabel der Welt liegt etwas tiefer!“ – nicht nur bei Männern.) Bei den Bemühungen um die Neuregelung der Bestimmungen des StGB geht es aber nicht nur um Verschärfungen, wie eine Vergegenwärtigung des Kampfes um die Neuregelung des § 218 StGB deutlich macht. In einigen Bereichen der Bagatell-Kriminalität wird auch über eine Rückstufung des staatlichen Strafanspruchs nachgedacht Geändert werden soll eventuell z.B. "§ 265a StGB Erschleichen von Leistungen (1) Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Fernmeldenetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) Die §§ 247 und 248a gelten entsprechend." Als Beleg dafür die Meldung: "Schwarzfahren bald keine Straftat mehr? Für Schwarzfahrer könnte möglicherweise bald eine glückliche Zukunft anbrechen: Nach Hessen und Niedersachsen prüft zurzeit auch Hamburg, ob sogenannte Bagatell-Delikte weiter strafrechtlich verfolgt werden müssen oder nur noch beispielsweise als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden können. Wird diese Frage bejaht, könnte daraus eine Bundesrats-Initiative aller drei Bundesländer werden, die dann allerdings noch eine Mehrheit im Bundestag finden müßte. Hessen und Niedersachsen haben nach Angaben des Sprechers der Hamburger Justizbehörde, Nikolaus Berger, dazu bereits umfangreiche Gesetzesvorschläge erarbeitet. `Die Frage ist, ob der gesamte Justizapparat mobilisiert werden muß, wenn sich zum Beispiel jemand Güter von geringfügigem Wert aneignet', erklärte die Hamburger Justizsenatorin Lore Maria Petschel-Gutzeit (SPD) gestern. Stattdessen sollten sich alle Kräfte auf die Verfolgung der Schwerkriminalität konzentrieren." (HH A 13.01.93) "Schwarzfahren bald nicht mehr strafbar? Richter: Das trifft nur die Armen - HVV dagegen Schwarzfahren soll nicht mehr strafbar sein. Richter und Staatsanwälte im ÖTV-Fachausschuß wollen, daß der fahrscheinlose Trip mit Bus und Bahn neben anderen Bagatell-Delikten künftig als Ordnungswidrigkeit geahndet wird - wie es auch Generalstaatsanwalt Arno Weinert fordert. `Schwarze Schafe' unter den HVV-Kunden würden dann nicht mehr vor Gericht landen, sondern wie etwa Falschparker - nur noch im Bußgeldverfahren zur Kasse gebeten. Gegen Dauer-Schwarzfahrer werden derzeit Haftstrafen bis zu einem Jahr verhängt. Nach Ansicht von Richter Achim Katz trifft das vor allem sozial Schwache: `Manche können einfach nicht zahlen. Ich bin es einfach leid, Leute für ihre Armut zu bestrafen.' Die Verkehrsbetriebe sehen das anders. Beförderungserschleichung, so der amtliche Terminus, ist nach ihrer Auffassung `Diebstahl'. Hochbahnsprecher Joachim Häger: `Wenn Schwarzfahren nicht mehr strafbar ist, könnten wir die Kontrollen gleich abschaffen. Dann würde es ja jeder machen eine Zumutung für die ehrlichen Fahrgäste.' Auf knapp zehn Millionen wird die Zahl der Schwarzfahrer jährlich geschätzt. Schaden: neun Millionen Mark. Wer innerhalb von zwölf Monaten drei- bis viermal auffällt, wird automatisch angezeigt - ein Fall für die Justiz. Knapp 10.000 sind es jährlich. Die meisten kommen mit einem Strafbefehl davon. Wer das Geld nicht aufbringt, kommt vor Gericht. Katz: `Wir haben es am Ende

331

mit den Ärmsten der Armen zu tun.' Denn Schwarzfahrer, die das `erhöhte Beförderungsentgelt' von 60 Mark sofort beim Kontrolleur berappen, werden gar nicht registriert. Das wird ausgenutzt. Häger: `Viele machen sich einen Sport daraus. Da sind Leute im Anzug mit Lederkoffer genauso dabei wie Studenten oder Arbeitslose. Die rechnen sich aus, daß sie so immer noch billiger fahren.' Auch der HVV ist gegen eine Lockerung der Bestimmungen. Sprecherin Ursula Felten: `Das würde nur routinierte Schwarzfahrer zum Weitermachen ermutigen.' Richter Katz glaubt nicht daran: `Bei sozial Schwachen hat die bisherige Praxis total versagt. Die Verkehrsbetriebe verursachen das Problem ja mit, indem sie Schwarzfahren durch fehlende Bahnsteigkontrollen leicht machen.' Da die Chancen für eine Gesetzesänderung schlecht stehen, werden die ÖTV-Juristen in der nächsten Woche am `runden Tisch' versuchen, die Verkehrsbetriebe umzustimmen. Doch die fahren eine andere Linie: Sie wollen die Strafe für Schwarzfahrer erhöhen - auf 80 oder 100 Mark." (Morgenpost 07.02.92) Anm.: Das Argument der Verkehrsbetriebe, man könne nicht auf die Einschaltung der Strafjustiz verzichten, "weil es dann ja jeder machen würde", ist brüchig, denn wie das Bußgeldverfahren bei den Parkverstößen das "wilde Parken" weitgehend unterbindet, so könnte sich dieser Effekt ja auch auf dem Gebiet der Beförderungserschleichung auswirken. Es ist nur eine Frage der Anzahl der für die Fahrscheinkontrollen abzustellenden Beschäftigten. Selbst wenn die Kosten für die "GreiferTrupps" 9 Millionen Mark im Jahr kosten sollten, so sagt das ja noch nichts über die betriebswirtschaftliche Kalkulation dieser Sparte: Es ist doch durchaus denkbar, dass - wie bei den Finanzbeamten - die durch diese Truppe erzielten Einnahmen wesentlich höher sind als deren Personalkosten. Diese Kosten-Nutzen-Gegenüberstellung sind die Verkehrsbetriebe in ihren Antworten schuldig geblieben, und das macht misstrauisch!

"Panta rhei!" ("Alles fließt!"), lehrte schon vor 2500 Jahren der griechische Philosoph Heraklit: Alles Sein befinde sich im Strom des Entstehens und Vergehens, und im Kampf der Gegensätze, besonders aber in ihrer Harmonie, verwirkliche sich die Weltvernunft. So kann auch das sich ständig wandelnde Wesen des Rechts gesehen werden. Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, dass wegen sich ständig ändernder gesellschaftlicher Bedingungen innerhalb einer Gesellschaft ständig im Fluss, ständig umkämpft ist, was »Recht« sein und durch Gesetze verwirklicht oder geschützt sein soll. Zu beantworten ist dabei oftmals die Frage: Was ist der Schutzzweck einer bestehenden Norm? Dazu folgender Sachverhalt: "Abtreibung - Jagd an der Grenze? `Frauen zwangsuntersucht' HA/dpa Bonn - Erheblichen politischen Wirbel haben Berichte ausgelöst, wonach Grenzschutzbeamte westdeutsche Frauen bei der Einreise an der deutsch-niederländischen Grenze zum Nachweis von Schwangerschaftsabbrüchen zwangsuntersuchen lassen. Während das Bundesinnenministerium solche Vorfälle bestritt, verlangten Politikerinnen und Politiker in Bonn eine sofortige Aufklärung. Nach einem Bericht des `Spiegel' sollen wiederholt Frauen unter dem Verdacht, in den Niederlanden abgetrieben zu haben, festgehalten worden sein. Manche Verdächtigen seien gezwungen worden, sich von Ärzten gynäkologisch untersuchen zu lassen. Das Magazin führt den Fall einer jungen Frau aus Süddeutschland an, die auf Veranlassung des Grenzschutzes zwangsweise in einem Krankenhaus in Gronau untersucht worden sei. Sie sei an der Grenze in Verdacht geraten und habe auf die Frage nach ihrem Reise-Zweck eine Antwort verweigert. Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Roland Bachmeier, erklärte, diese Behauptungen entbehrten jeder Grundlage. Der Grenzschutz sei von Gesetz wegen verpflichtet, bei Verdacht einer strafbaren Handlung die zuständige Staatsanwaltschaft zu unterrichten. Die weiteren Entscheidungen treffe aber allein die Staatsanwaltschaft. Dazu könne auch eine ärztliche Untersuchung gehören. In den vergangenen zehn Jahren seien nach Angaben der Grenzschutzstellen an die Justiz etwa zehn Verdachtsfälle von strafbaren Schwangerschaftsabbrüchen gemeldet worden, sagte Bachmeier. Dabei habe es sich stets um Fälle gehandelt, in denen die Betroffenen bei der Einreise einen

332

Schwangerschaftsabbruch offenbart hatten. ... Unterdessen bestätigte der Amtsarzt Gerhard Ettlinger (Borken), daß deutsche Frauen an der Grenze auf Abtreibungen untersucht würden. `Wenn die Beamten ausreichende Verdachtsmomente haben, können sie eine Untersuchung veranlassen', sagte er der `Bild am Sonntag'. Bei den Parteien in Bonn lösten die Berichte Empörung aus. Inge Wettig-Danielmeier (SPD) äußerte `ohnmächtige Wut gegenüber einer Männerwelt, die so etwas inszeniert und zuläßt'. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) erklärte, die Berichte belegten erneut, `wie wenig das Strafrecht geeignet ist, das Problem des Schwangerschaftsabbruchs zu bewältigen'. Die Vorsitzende der Frauengruppe der Unionsfraktion, Ursula Männle, und der stellvertretende FDP-Vorsitzende Gerhart Baum sprachen von einer `Jagd auf Frauen'. Frau Männle forderte, der Rechtsausschuß des Bundestages müsse klären, `ob hier nicht jemand deutlich seine Kompetenzen überschritten hat'. Die Innenpolitiker von SPD und FDP, Wilfried Penner und Wolfgang Lüder, verlangten eine Aufklärung im Innenausschuß." (HH A 04.03.91) "KOMMENTARE Klarheit schaffen Von HANS-WERNER EINECKE Die Berichte über das Vorgehen staatlicher Stellen gegen Frauen, die an der deutschniederländischen Grenze in Abtreibungs-Verdacht gerieten, und die Bonner Reaktion darauf lassen nur zwei Möglichkeiten zu. Entweder handelt es sich um Übergriffe, die eines Rechtsstaates unwürdig sind und für die die Verantwortlichen schleunigst zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Oder das Innenministerium in Bonn hat es fahrlässig versäumt, in seinen ersten Stellungnahmen Klarheit zu schaffen und unberechtigten Verdacht von den betroffenen Dienststellen zu nehmen. ... Mit Empörung allein ist es freilich nicht getan. Die unzumutbare Prozedur, der Grenz- und Justizbeamte Frauen unterwerfen, die in Abtreibungs-Verdacht geraten sind, entspringt offenkundig nicht bloßer Willkür. Sie ist Folge einer Gesetzgebung, nach der auch im Ausland vorgenommene Schwangerschaftsabbrüche bei uns mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden können. Unabhängig von der ethischen Grundsatzfrage, wie menschliches Leben zu schützen ist, gibt dies Anlaß zur Besinnung darauf, in welche Sackgasse die Bundesrepublik mit dem Paragraphen 218 geraten ist. Wenn überall in Europa die Grenzen fallen, wird man sie kaum um diesen Paragraphen herum dauerhaft neu errichten können." (HH A 04.03.91) "Zwangsuntersuchung an der Grenze war offenbar Einzelfall BONN, 13. März (AP). Wegen der Zwangsuntersuchung von Frauen, die nach einer Abtreibung in den Niederlanden in die Bundesrepublik zurückkehren, können dem Bundesgrenzschutz nach Ansicht des FDP-Innenpolitikers Burkhard Hirsch keine Vorwürfe gemacht werden. Nach einem Bericht von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) vor dem Bundestags-Innenausschuß gebe es nur einen nachgewiesenen Fall, in dem außerdem die Zwangsuntersuchung von der Staatsanwaltschaft Münster angeordnet worden sei, teilte Hirsch am Mittwoch in Bonn mit. Hirsch forderte den nordrhein-westfälischen Landtag auf zu klären, warum die Staatsanwaltschaft die Untersuchung ohne richterliche Entscheidung anordnete. Die zwangsweise gynäkologische Untersuchung sei `eine Zumutung'. Hirsch sagte: `Ich bin sicher, daß diese Auslegung der Strafprozessordnung schon längst beendet wäre, wenn es eine Zwangsuntersuchung der Prostata geben würde.'" (FR 14.03.91) Von dem FDP-Politiker Hirsch wird eine Auslegung der Strafprozessordnung (StPO) angesprochen. Das lässt vermuten, dass der Gesetzestext der einschlägigen Norm nicht ganz eindeutig oder zu generell formuliert ist und darum unter dem Gesichtspunkt - eventuell einschränkend - interpretiert werden muss: Was hatte der Gesetzgeber mit der Schaffung dieser nachträglich in die StPO aufgenommenen Norm bezweckt? Sollte der vorliegende Fall nach der Intention des Gesetzgebers von dieser Norm miterfasst werden? Die einschlägige Norm, nach der die Staatsanwaltschaft Münster Frauen nicht nur unter den Rock kucken, sondern auch noch tiefere Einblicke nehmen ließ, ist "§ 81 a StPO (1) Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen

333

angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben oder andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. (2) Die Anordnung steht dem Richter, bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten (§ 152 des GVG) zu." War nun im vorstehenden Fall nach dieser Norm die durch die Staatsanwaltschaft angeordnete gynäkologische Zwangsuntersuchung zulässig? Ein Blick ins Gesetz behebt manchen Zweifel - aber eben nur manchen. Der bloße Wortlaut des § 81 a StPO scheint die Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft zu decken, mit der nicht nur alkoholisierte Autofahrer zur Gewinnung gerichtsverwertbarer Beweise angezapft, sondern auch z.B. auf Flugplätzen nach Rasterfahndung potentielle Rauschgiftkuriere auf mit Rauschgiften gefüllte verschluckte Kondome in Magen und Darm untersucht und zur »Herausgabe« des Magen- und Darminhaltes veranlasst werden. Aber die Verabreichung von Brechmitteln für Drogen-Dealer, die die während des Bahnhof- oder Straßendeals im Mund verwahrten kleinen Kokainkügelchen bei Gefahr einer Razzia oder Festnahme nach beobachtetem Deal schlucken, wird nicht in allen Großstädten als verhältnismäßig angesehen. In Berlin, Bremen und Frankfurt werden seit längerer Zeit unter ärztlicher Aufsicht Brechmittel zur Beweissicherung verabreicht, in z.B. Hamburg wurde diese Zwangsmaßnahme bislang aus so beurteilter Unverhältnismäßigkeit wegen befürchteter und vielleicht nicht ganz auszuschließender gesundheitlicher Gefährdung bis 2001 abgelehnt. Vor der anstehenden Bürgerschaftswahl, als gegenüber den Wahlkampfbehauptungen des politischen Gegners Entschlossenheit und Härte demonstriert werden sollte, damit die linke Koalition aus SPD und Grünen/Alternativer Liste nicht zur Mitte hin zu viele Stimmen an „Law-and-Order-Parteien“, insbesondere die von „Richter Gnadenlos“, verloren gehen, wurde es – u.a. auch weil Gerichte von Polizisten bei der Festnahme von Drogendealern beobachtete und als Zeugen in der Verhandlung mitgeteilte „eindeutige Schluckbewegungen“ nicht als Beweismittel für heruntergeschluckte Drogen ausreichen ließen - nicht mehr als unverhältnismäßig angesehen, Drogendealern den Saft der mexikanischen Ipecacuanha-Wurzel zu verabreichen. Weil für die Beweissicherung durch den Brechmitteleinsatz nur ein Zeitfenster von zwei Stunden zur Verfügung steht, braucht die Polizei bei „Gefahr im Verzug“, dass die Beweismittel verloren gehen könnten, nur die Genehmigung der Staatsanwaltschaft einzuholen, von der ein Vertreter rund um die Uhr in Bereitschaft ist. Eine zusätzliche Zustimmung eines Richters ist dann nicht erforderlich. Wehrt sich der Beschuldigte gegen die Einnahme des Brechmittels, wird er - da er nach unseren diesbezüglich, insbesondere in der StPO verankerten Rechtsgrundsätzen nicht aktiv an seiner Strafverfolgung mitwirken muss, ihn insoweit keine Mitwirkungssondern nur eine bloße Duldungspflicht trifft - im Institut der Rechtsmedizin auf einem Stuhl festgeschnallt, und ihm wird anschließend das Mittel per Nasensonde eingeführt. Allerdings blamiert man sich dabei natürlich dann, wenn der Berg kreist und nur ein Mäuschen gebiert, weil zwar vier Polizisten den des Dealens Verdächtigten auf dem Stuhl festhalten, von der Ärztin aber nur eine mittlere Dosis des Brechmittels eingesetzt wird und der Delinquent so in der Lage ist, immer wieder den in den geschlossenen Mund hochkommenden Mageninhalt runterschlucken zu können, man aber ohne die Dosis zu erhöhen aufgibt - wie es in Hamburg beim ersten Brechmitteleinsatz geschehen war. Wer B(rechmitteleinsatz) sagt, muss auch A(uskotzen) sagen! Die wenigsten Städte haben sich bisher zu einem solchen Vorgehen entschlossen. Zum Nachweis einer schwerer wiegenden Straftat als eines Straßendeals ist aber nach allgemeiner Ansicht die Anordnung einer körperlichen Untersuchung bei Verdacht des Vorliegens einer Straftat zur Beweissicherung nicht nur möglich, sondern auch üblich. So kann und wird z.B. nach einer »schwanzweisen« Vergewaltigung – die Straftat einer „Vergewaltigung“ ist inzwischen zum umfassenderen Schutz von Frauen und neuerdings auch Männern in z.B. dem sexuellen Notstandsgebiet der Gefängnisse, wo immer mal wieder der sozial Verachtetste zwangsweise seinen Hintern hinhalten musste, so umdefiniert worden, dass jedes unerlaubte Eindringen in den Körper eines Anderen darunter fällt - für eine Spermasicherstellung aus der Vagina oder dem Darm eine körperliche Untersuchung vorgenommen; auch zwangsweise. Und Abtreibung war zum Zeitpunkt der angeordneten Zwangsuntersuchung eine Straftat gemäß "§ 218 StGB: (1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) In besonders schweren Fällen ist die Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. gegen den Willen der Schwangeren handelt oder 2. leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren

334

verursacht. Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2). (3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Die Schwangere ist nicht nach Satz 1 strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung (§ 218 b Abs. 1 Nr. 1, 2) von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind. Das Gericht kann von einer Bestrafung der Schwangeren nach Satz 1 absehen, wenn sie sich zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis befunden hat. (4) Der Versuch ist strafbar. Die Frau wird nicht wegen Versuchs bestraft." Da die Abtreibung zum Zeitpunkt der angeordneten Zwangsuntersuchung ganz eindeutig eine Straftat war und die Staatsanwaltschaft dem "Legalitätsprinzip" unterliegt, das von ihr gemäß "§ 152 StPO: (1) Zur Erhebung der öffentlichen Klage ist die Staatsanwaltschaft berufen. (2) Sie ist, soweit gesetzlich nicht ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbarer Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen." und "§ 160 I StPO: (1) Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen." fordert, bei hinreichenden Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Straftat ein Ermittlungsverfahren einzuleiten und bei hinreichendem Tatverdacht Klage zu erheben, konnte die Staatsanwaltschaft Münster zur Anordnung der zwangsweisen gynäkologischen Untersuchung verpflichtet sein. Die Grenzschutzbeamten hatten nach längerem Suchen im Auto der Beschuldigten und ihres Mannes einen Prospekt der holländischen Abtreibungsklinik und in einer Plastiktüte Damenbinden gefunden und daraufhin die zuständige Staatsanwaltschaft alarmiert. Da die Staatsanwaltschaft das staatliche Verfolgungs- und Anklagemonopol wahrnimmt, nach dem Gleichheitsgrundsatz alle Straftäter ausnahmslos verfolgen muss und bei Kungelei mit einem Staatsanwalt ein Straftäter sich dem staatlichen Strafanspruch entziehen könnte, ist dieser staatliche Strafanspruch dadurch abgesichert, dass durch § 258 a StGB Strafvereitelung im Amt Amtsträger, die von Amts wegen zur Strafverfolgung verpflichtet sind, unter eine besondere Strafdrohung gestellt werden. Einem Staatsanwalt droht im Falle des § 258 a StGB "Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren". Warum regten sich dann die Politiker und insbesondere die Frauen so auf, wenn die Staatsanwaltschaft im tief katholischen Münster nur ihrem gesetzlichen Auftrag, wie sie ihn verstanden hatte, gewissenhaft nachgekommen war? Wo sollte da bei dem klaren Gesetzeswortlaut noch etwas auszulegen sein? War er etwa im Falle dieser Frauen nicht verhältnismäßig? Die Staatsanwaltschaft konnte sich das wohl nicht vorstellen. Vielleicht war es ja Auslegungssache? Juristen können ohne Auslegungen nicht leben, und auch nur so ist eine größtmögliche Einzelfallgerechtigkeit überhaupt erreichbar. Auslegungen werden in Fachpublikationen wie Zeitschriftenaufsätzen und Büchern und durch Richter in Urteilen vorgenommen. Das Ergebnis kann man zusammengefasst in juristischen Groß- und Klein- oder Handkommentaren nachschlagen. In dem Handkommentar Kleinknecht/Meyer zur StPO (1989) hieß es dazu vor diesem Vorfall mit Verweisen auf jeweilige Gerichtsentscheidungen auszugsweise: "Die zwangsweise körperliche Untersuchung des Beschuldigten gestattet die Vorschrift. Er muß hinnehmen, daß sein Körper zum Augenscheinsobjekt gemacht wird. Im Schrifttum wird § 81 a aus diesem Grund, aber auch wegen mangelnder Bestimmtheit für grundgesetzwidrig gehalten. Das BVerfG folgt dem nicht, fordert aber eine verfassungskonforme Auslegung in der Weise, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besonders beachtet wird. Der Beschuldigte muß körperliche Untersuchungen dulden. Er ist auch verpflichtet, sich für die Untersuchung zu entkleiden und die erforderliche Körperhaltung einzunehmen. Zu einer aktiven Beteiligung an der Untersuchung kann er aber nicht gezwungen werden. Er braucht keine Fragen zu beantworten, muß sich keinen Prüfungen unterziehen, die Knie nicht beugen, die Arme nicht ausstrecken und keine Gehproben vornehmen. Die Untersuchung der natürlichen Körperöffnungen

335

(Mund, After, Scheide) ist kein Eingriff, sondern eine einfache Untersuchung (str.). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert die Prüfung, ob die Stärke des Tatverdachts die Maßnahme rechtfertigt. Je schwerer die Maßnahme wiegt, desto größere Anforderungen sind an den Tatverdacht zu stellen. Die Maßnahme darf auch nur angeordnet werden, wenn sie unerläßlich ist und in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat steht. Zulässige Untersuchungen und Eingriffe sind Computer-Tomographie, Elektronencephalographie (Hirnstromuntersuchung), Elektrokardiographie (EKG zur Prüfung der Herztätigkeit), Magenausheberung, Röntgenaufnahmen und -durchleuchtungen, Röntgenuntersuchungen der Hand zur Altersbestimmung, Szintigraphie. Unzulässig wegen ihrer Gefährlichkeit sind Angiographie, Harnentnahme mittels Katheters und wegen der Unzumutbarkeit der Begleitumstände und des zweifelhaften diagnostischen Wertes die zwangsweise ohnehin nicht durchführbare Phallographie. Allenfalls zur Aufklärung schwerer Straftaten zulässig sind die Entnahme der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit und die Hirnkammerlüftung zur Ermöglichung einer Röntgenaufnahme des Gehirns." Ein Richter, der mit der Frage befasst ist, ob er in einem speziellen Fall wie z.B. dem Ausgangsfall einer vermuteten Abtreibung eine zwangsweise körperliche Untersuchung anordnen solle, wird erst einmal diesen Kommentar wälzen, wegen dessen teilweiser Unverständlichkeit auf Grund der nicht erklärten und in normalen Lexika nicht nachschlagbaren medizinischen Fachausdrücke in weiteren Kommentaren Nachforschungen anstellen und dann entweder seinen Hausarzt oder einen Amtsarzt anrufen. Auch das ist Juristerei! Wenn der Hausarzt erklärt hat, was sich hinter den Fachausdrücken verbirgt, dann kann der Richter anhand der schon entschiedenen und vorstehend aufgeführten Einzelfälle die Abwägung treffen, ob die Vaginal- und Gebärmutteruntersuchung mehr als erlaubter Eingriff in der Nähe einer Magenausheberung oder mehr als unzulässiger Eingriff in der Nähe einer Harnentnahme mittels Katheters oder einer Phallographie anzusiedeln ist. Dann hätte der Richter weiter abzuwägen, ob der geplante Eingriff unter der Geltung des Art. 1 I 1 GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar“, überhaupt zulässig und, sollte er das für sich bejahen, ob er dann außerdem noch verhältnismäßig ist. Spätestens an dieser Stelle müssten einem Richter Bedenken kommen! Aber solche Abwägungen wird die Staatsanwaltschaft vermutlich nicht vorgenommen haben, denn sonst hätte die "Kavallerie der Justiz" nicht den für die Anordnung einer Zwangsuntersuchung primär zuständigen Richter übergangen und wäre nicht wegen behaupteter Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Fristablauf schneidig vorgeprescht. Man ahnt: Strafrecht kann Spaß machen. Und nun noch einige nationale und internationale Anschauungsbeispiele mit dem Schwerpunkt Zivilrecht zu der Frage, was »Recht« sein soll: "`Mein Sohn soll selbst entscheiden' Eine Frau im Konflikt mit dem Gesetz Lena Grieben (Name von der Redaktion geändert) wollte unbedingt ein Kind, aber nicht zwangsläufig den Vater dazu. Die 38 Jahre alte Lehrerin ist eine von fünf bis zehn Prozent lediger Frauen in Deutschland, die die Identität des Vaters verschweigen. Mirko, heute zwei Jahre alt, soll später einmal den Namen seines Vaters erfahren, aber die Behörden, meint Lena Grieben, gehe die Vaterschaft nichts an. Das sieht der Gesetzgeber anders: In der Bundesrepublik hat jedes Kind das Recht, Vater und Mutter zu kennen. `Ich will meinem Sohn den Vater ja nicht lebenslang vorenthalten', erklärt Lena Grieben, `aber ob Mirko einmal die Begegnung mit ihm sucht, das soll er selbst entscheiden.' Bereits vor der Geburt ihres Kindes hat Lena Grieben versucht, die Gründe für ihr Schweigen (der Vater des Kindes hat selbst Frau und Kinder) dem zuständigen Amtspfleger verständlich zu machen und vorgeschlagen: Der Name des Mannes sollte bei einem Notar hinterlegt werden - eine Maßnahme, die nach geltendem Gesetz nicht genügt. `Meine finanzielle Situation ist gesichert, ich bin nicht auf Unterstützungszahlungen für Mirko angewiesen. Warum sollte ich den Vater und seine Familie dem Eingreifen der Behörden aussetzen', fragt sie. `Die Amtspflegschaft gibt mir andererseits die Möglichkeit, die Unterstützung der Behörde zu suchen, wenn sich meine wirtschaftliche und soziale Situation einmal ändern sollte.'" Das BGB regelte - bis zu seiner Neufassung, mit der eine (weitgehende) Gleichstellung nichtehelicher mit ehelichen Kindern angestrebt wurde - im Bereich des Rechts des nichtehelichen Kindes bis dahin u.a.:

336

"§ 1706 BGB [Aufgaben eines Pflegers für das Kind] Das Kind erhält, sofern es nicht eines Vormunds bedarf, für die Wahrnehmung der folgenden Angelegenheiten einen Pfleger: 1. für die Feststellung der Vaterschaft ... 2. für die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen ... 3. die Regelung von Erb- und Pflichtteilsrechten ..." Mit dem "Gesetz zur Abschaffung der gesetzlichen Amtspflegschaft und Neuordnung des Rechts der Beistandsschaft" wurden sowohl eine Angleichung der Rechtslage ehelicher und nichtehelicher Kinder als auch eine Beendigung der Diskriminierung unverheirateter Mütter angestrebt. Die Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder ging bei uns zum Glück nicht so weit wie in Israel: „Schwarze Liste afp Jerusalem - Israels Großrabbinat hat aus einer 4150 Namen umfassenden vertraulichen ‘schwarzen Liste‘ von sogenannten Bastarden 350 Namen gestrichen. Diesen ‘Unreinen’ untersagt das Großrabbinat aus religiösen Gründen zu heiraten, was in Israel mißlich ist, weil es standesamtliche Heiraten dort nicht gibt. Als ‘Bastarde’ gelten nicht nur die Kinder einer unverheirateten Frau, auch deren Nachkommen bis zur zehnten Generation. Die Liste soll die Namen bekannter Politiker, Künstler und Geschäftsleute enthalten.“ (HH A 21.06.95) Die Ungleichbehandlung der deutschen ehelichen und nichtehelichen Kinder war aber trotzdem verbesserungsfähig und wohl auch -bedürftig, auch wenn sie nicht so weit ging wie in Israel. "Es geht um die Anpassung unseres Kindschaftsrechts an die veränderte Wirklichkeit, um das Abschneiden alter Zöpfe“, erklärte der Parlamentarische Staatssekretär der Bundesministerin der Justiz, Funke, die Intention seines Hauses für dieses Reformvorhaben. So etwas hört sich sehr schön fürsorglich-weitschauend an. Es ging aber auch um die Umsetzung des Grundgesetzauftrages aus Art. 6 V GG: „(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“, dessen fehlende Umsetzung das BVerfG schon angemahnt hatte. Auch das Problem unklarer Vaterschaften scheint nach den Worten der Bundesjustizministerin Zypries gelöst: „Und das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Vaters, der sich bislang für 300 bis 500 Euro bei privaten Genlabors das Testat erstellen lassen kann? "Jeder Mann hat das Recht, sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob er wirklich der Vater ist", sagt Zypries. Wenn die Mutter einen freiwilligen Vaterschaftstest ablehnt, kann der Mann die Untersuchung bereits nach geltender Rechtslage in einem zivilrechtlichen Verfahren erzwingen. Ein aufwendiger Weg, und die Ministerin signalisiert Bereitschaft, auch die Situation betroffener Männer zu verbessern: "Wir werden prüfen, ob sich die gerichtliche Klärung der Vaterschaft beschleunigen lässt." Doch die derzeitige Möglichkeit, ohne Wissen und Einverständnis der Mutter den Test durchführen zu lassen, soll es nicht mehr geben: "Das Grundgesetz schützt das Recht eines jeden Menschen, zu wissen, was mit den eigenen genetischen Daten geschieht. Daran darf nicht gerüttelt werden." Das informationelle Selbstbestimmungsrecht gebe es "in dieser eindeutigen Ausprägung seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts Ende 1983", sagt die Politikerin. Die Bundesregierung reagiere mit dem geplanten Gesetz also lediglich "auf die veränderte Situation, die infolge des wissenschaftlichen Fortschritts in der Genanalyse" etwa seit Mitte der neunziger Jahre entstanden ist. Weil seitdem Tests immer unkomplizierter werden, ist es ohne weiteres möglich, dass auch gänzlich Fremde sich entsprechendes Spurenmaterial besorgen, um Verwandtschaften prüfen zu lassen - etwa die misstrauischen Schwiegereltern oder der neue Partner eines Elternteils. Oder jemand, der gern neuer Partner würde. "Mit solchen Tests können völlig intakte Familien zerstört und Menschen erpresst werden", warnt Zypries. Bislang ist die Rechtsprechung zum Thema verwirrend: Im Juli 2003 hatte das Landgericht München in einer wettbewerbsrechtlichen Auseinandersetzung über die Klage eines Labors zu entscheiden, das im Auftrag von Gerichten Vaterschaftstests anfertigte und einem Mitbewerber die Erstellung

337

derartiger Gutachten ohne richterliche Anordnung untersagen lassen wollte. Doch die Klage wurde abgewiesen. Anonyme Tests seien nicht wettbewerbswidrig, beschieden die Richter. Zugleich waren sie der Frage nachgegangen, ob die Gutachten gegen Grundrechte verstießen. Ihr Urteil: Auch der Mann habe ein Grundrecht, Aufschluss über seine Vaterschaft zu bekommen. Und ein heimlicher Abstammungstest sei für das Kindeswohl besser als eine gerichtlich erzwungene Klärung. Gegenteilig entschied im März das Oberlandesgericht (OLG) Celle im Falle eines Mannes, der den Kaugummi seiner - vermeintlichen - zehnjährigen Tochter hatte untersuchen lassen. Das Ergebnis: negativ. Doch die niedersächsischen Richter verwarfen den Test als wertlos, weil die Mutter, die das alleinige Sorgerecht hat, der Untersuchung nicht zugestimmt hatte. Dies sei aber zwingend erforderlich, da sie die Rechte des Kindes bis zu dessen Volljährigkeit vertrete. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat das OLG die Revision zugelassen. Der Kläger hat sich bereits an den Bundesgerichtshof in Karlsruhe gewandt.“ (DIE WELT 01.06.04) Zur Klärung der Rechtslage soll nach dem Willen der Justizministerin der Gesetzgeber tätig werden. Dabei will die Justizministerin die betrügende Mutter gegen den argwöhnenden Scheinvater schützen: KUCKUCKSKINDER Zahlväter rüsten zum Wattestäbchen-Krieg Von Jochen Bölsche In Deutschland leben Hunderttausende Seitensprung-Kinder, die falschen Vätern untergeschoben worden sind. Zwei Ministerinnen wollen jetzt die diskreten DNS-Tests verbieten, mit denen die gehörnten Zahlväter betrügerische Mütter überführen können. Deutschlands Männer-Lobby läuft Sturm, Politiker und Juristen sind uneins. Für Klarheit sorgt ein Set samt Wattestäbchen und Versandröhrchen, rezeptfrei erhältlich in jeder Apotheke, beworben mit Slogans wie "Mein oder nicht mein?" Der Test kostet 300 oder 400 Euro, mithin weniger als manch ein Kinderwagen. Zwei schlichte Speichelproben von Mann und Kind genügen, und binnen 72 Stunden klärt ein Gen-Labor, ob der Ernährer auch wirklich der Erzeuger war - oder ob er vielleicht schon Zigtausend Euro für ein "Kuckuckskind" berappt hat, das in Wahrheit einem Seitensprung entstammt und dem Gehörnten bloß untergeschoben worden ist. Wenn, wie so häufig nach einer Scheidung, die Mutter dem Alimentezahler den Umgang mit dem Kind verwehrt, reicht statt eines Abstrichs von der Mundschleimhaut notfalls auch irgendein anderer Gegenstand, dem Körperzellen des Kindes anhaften: ein heimlich stibitzter Schnuller oder ein alter Kaugummi, eine schmutzige Windel oder ein gebrauchtes Heftpflaster. Das soll bald anders werden, wenn es nach dem Willen zweier SPD-Frauen aus Gerhard Schröders rot-grünem Kabinett geht: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Justizministerin Brigitte Zypries haben ein Gentest-Gesetz verabredet, dessen Paragraf 21 heimliche Vaterschaftstests von 2006 an verbieten soll. Seit die Absicht durchgesickert ist, machen Männerrechtler gegen das Vorhaben mobil - mit Petitionen und Unterschriftensammlungen, alarmistischen Flugblättern und empörten Leserbriefen. Der Streit um den Kuckuckskinder-Test scheint fast so viele Emotionen zu wecken wie einst der hitzige Konflikt um die Reform des Abtreibungsrechts. Dabei geht es den beiden Ministerinnen, wie sie sagen, nur um den Schutz der "Datenhoheit" von Müttern und Kindern. "Wer heimlich Gene bestimmen lässt", argumentiert Zypries, "greift in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Beteiligten ein" - ein Recht, das vom Bundesverfassungsgericht 1983 nach jahrelangen Auseinandersetzungen um die Zulässigkeit von Volkszählungen statuiert worden ist. Wenn Schwiegermutter Haare sammelt Befürworterinnen und Befürworter eines Verbots heimlicher Tests malen beispielsweise das Gespenst der bösen Schwiegermutter an die Wand, die ein paar Haare von Vater und Kind an ein Gen-Labor schickt, um der verhassten Schwiegertochter einen Seitensprung anzulasten und die Ehe zu spalten. Per Gentest könne von Dritten, argumentiert auch Zypries, "rechtswidrig in sozial funktionierende Familien eingegriffen werden". Daher müssten Vaterschaftsnachweise ohne Zustimmung aller Beteiligten, also auch der Mutter, nach Ansicht der SPD-Politikerin strikt untersagt sein und auch geahndet werden können. Völlig absurd, wettern Organisationen wie der Verein "Väteraufbruch für Kinder", sei diese Regelung: Sie räume der Mutter, also ausgerechnet jener Person, "der eine Falschaussage zu Vaterschaft und 'Fremdgehen' unterstellt wird", eine Art Vetorecht gegen den Test ein, der eben

338

diese Falschaussage aufdecken könnte - und der womöglich eine Straftat ans Licht bringen kann. Vater Staat - Verräter der Väter? Denn "wer ein Kind unterschiebt", wird laut Strafgesetzbuch-Paragraf 169 "mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft"; schon "der Versuch ist strafbar". Nun protestieren die Väterverbände, verfolgt werden sollten künftig offenbar weniger die Betrügerinnen als die Betrogenen, die den Betrug aufzudecken versuchten. Die Berliner Ministerinnen, argwöhnen diese Kritiker, wollten nicht nur - mit Blick auf weibliche Wählerstimmen - untreue Geschlechtsgenossinnen schützen, sondern mit dem Verbot heimlicher Vaterschaftstests zugleich auch den Sozialetat entlasten. Aus dieser Sicht begeht Vater Staat Verrat an den Vätern. "Der Mann soll für das Kind sorgen und bezahlen", vermutet Väteraufbruch-Aktivist Wolfgang Wenger als Motiv hinter der Neuregelung: "Das tut der Mann aber nur, wenn er glaubt, dass er der Vater ist." Ein Datenträger namens Pampers Die Verfechter der Neuregelung weisen solche Darstellungen als bizarres Verschwörungsdenken zurück. Der Regierung gehe es vielmehr um die Bewahrung wertvollster Rechtsgüter. In diesem Bemühen weiß die Justizministerin auch den Datenschutz voll auf ihrer Seite. Bei den Speichel- und sonstigen Gewebeproben, etwa dem "aus der Windel 'entwendeten' Kot eines Babys", handele es sich um "datenschutzrechtlich relevante Datenträger", urteilt das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz in Kiel. Und mit der heimlichen Analyse solcher Proben würden "die schutzwürdigen Interessen der Referenzpersonen" verletzt, also der Kinder. Schon die Entnahme solchen Gewebematerials, ob es einem Schnuller oder einem Kaugummi anhafte, erfolge durchweg "gegen den Willen der in der Regel sorgeberechtigten Mutter", schreiben die Datenschützer: "Den Versicherungen des Auftraggebers, dass eine Einwilligung zum Test vorliege, ist regelmäßig kein Glauben zu schenken." "Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung" Auch die forensischen Blutproben-Gutachter, die lange Zeit unangefochten das Monopol auf gerichtlich angeordnete Vaterschaftsnachweise innehatten, urteilen ähnlich. Zwar habe, so die Bundesarbeitsgemeinschaft dieser Sachverständigen, "jeder Mensch" das "Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung". Durch heimliche Untersuchungen aber werde die Zivilprozessordnung unterlaufen, die einen Vaterschaftsnachweis ohne oder gegen den Willen aller Betroffenen "ausschließlich auf der Basis eines richterlichen Beschlusses" gestatte. Folglich sei der Test aus dem Apothekenregal als "unethisch" abzulehnen. Die Gerichtssachverständigen sind den neu entstandenen Gen-Labors freilich auch aus einem anderen Grund spinnefeind: Vor allem diese Konkurrenz profitiert davon, dass die Schnelltests in den letzten Jahren zum Massenphänomen geworden sind. "Weil meine Ex 'ne Schlampe ist" Spätestens seit Boris Beckers Londoner Besenkammer-Affäre ist der genetische Vaterschaftsnachweis jedem Boulevardblatt-Leser geläufig. Mittlerweile werben Testlabors sogar auf Papierhandtüchern in Kneipentoiletten. Und auch TV-Quotenrenner nach dem Muster der RTL2-Show "Er oder er" haben dazu beigetragen, die Schnelltests populär zu machen. Typischer Talkshow-Dialog: "Du bist der Vater von Nina?" - "Nee." - "Warum glaubst du das?" "Weil meine Ex 'ne Schlampe ist." - "Du bist aber der Vater - so lautet das Ergebnis des Vaterschaftstests." - "Mist." Mittlerweile produzieren in Deutschland rund drei Dutzend Unternehmen alljährlich eine fünfstellige Zahl von Vaterschaftsnachweisen. In etwa jedem vierten Fall stellt sich heraus, dass der Auftraggeber tatsächlich nicht der leibliche Vater des von ihm alimentierten Kindes ist. Jedes zehnte Baby ein Kuckuckskind Das Geschäft läuft gut. Allein die Firma "ID" der Wiesbadener Firmengründerinnen Kirsten Thelen und Angelika Lösch erwirtschaftet in einem rosa Zweckbau inmitten eines Gewerbegebiets einen Jahresumsatz von einer Million Euro. "Der Markt wächst", glauben die Unternehmerinnen - solange der Bundestag nicht das Aus für die heimlichen Vaterschaftstests beschließt. Noch zehrt auch der Frankfurter Mitbewerber Humatrix von der Testwut. Die Firma versäumt es nicht, das Geschäft mit der Ungewissheit immer wieder mal mit verstörenden PR-Texten über die hohe Zahl betrogener Männer zu beleben. An einschlägigem Material mangelt es nicht. Auch seriöse Fachblätter wie die "Zeitschrift für das gesamte Familien-Recht" operieren mit Schätzungen, nach denen "etwa 10 Prozent der Kinder in Deutschland so genannte Kuckuckskinder" sind - das wären allein im vorigen Jahr mehr als 70.000 der 715.000 Neugeborenen gewesen. Insgesamt leben in Deutschland demnach weit über eine Million minderjährige Kuckuckskinder. Das

339

Wort hat, neben Neuschöpfungen wie "Minijob" und "Fotohandy", jüngst auch Eingang in den Duden gefunden. Entschädigung ist selten durchsetzbar Der Anteil der untergeschobenen Kinder scheint allerdings je nach Region und Herkunft zu variieren. So wurde nach Untersuchungen zum Thema "paternity fraud", die der britische Sexualforscher Robin Baker anstellte, in der Schweiz nur jedes hundertste Kind außerhalb der Ehe gezeugt, im Großraum London aber nahezu jedes dritte. Sicher ist, dass auch in der Bundesrepublik alljährlich Abermillionen Euro für Scheinvaterschaften gezahlt werden. Selbst wenn ein Test Klarheit schafft - der materielle Schaden des Zahlvaters lässt sich selten wieder gutmachen. Regressansprüche gegen den wahren Vater sind nur befristet und nur dann durchsetzbar, wenn die Mutter dessen Namen preisgibt. Schock nach 17 Jahren Zahlvaterschaft Fataler noch als die finanziellen Einbußen sind oft die seelischen Folgen - wie etwa die eines niedersächsischen Schlossers, der mehr als anderthalb Jahrzehnte lang für seinen vermeintlichen Sohn gezahlt hat. Wegen der laufenden Unterhaltsleistungen konnten sich der seit sieben Jahren geschiedene Handwerker und seine neue Partnerin kein gemeinsames Kind leisten - zum Leidwesen beider. Erst im 17. Jahr seiner Zahlvaterschaft gab der Schlosser, angespornt von seiner jetzigen Lebensgefährtin, für 435 Euro einen Test in Auftrag - und war schockiert, als er das Resultat las: Eine Vaterschaft sei mit 99,9999-prozentiger Gewissheit auszuschließen. Seither liegen bei dem Geprellten "die Nerven blank". Waffengleichheit dank Wattestäbchen Angesichts solcher Erfahrungen stellen Väterorganisationen - und natürlich auch die Gentec-Firmen - die neuen Schnell- und Billigtests als Segen für die Männerwelt dar. Die Wattestäbchen sorgten gleichsam für Waffengleichheit: Während Frauen schon immer sicher sein konnten, dass ein Kind ihr "eigen Fleisch und Blut" ist, hätten erstmals in der Geschichte der Menschheit nun Männer die Chance, "diskret und zuverlässig partnerschaftliche Unsicherheiten auszuräumen" (Humatrix-Werbung) - sofern das Zypries-Gesetz ihnen diese Möglichkeit nicht wieder nimmt. Bis vor wenigen Jahren noch konnten sich Männer ihrer "Ursorge" (ID-Gründerin Thelen) nur entledigen, wenn sie sich auf den ebenso schwierigen wie zermürbenden Weg der gerichtlichen Vaterschaftsanfechtung begaben. Zweifler mussten, das Einverständnis der Frau vorausgesetzt, samt Kind zur aufwendigen blutserologischen Untersuchung im Labor vorstellig werden; der Nachweis kostete vor der Jahrtausendwende noch bis zu 10.000 Mark Heimliche Tests sind kinderfreundlicher Dass ein heimlicher Schnelltest, zumal wenn er die Vaterschaft bestätigt, die Ehe weniger belastet als ein langwieriger Gerichtsprozess - dieser Ansicht folgte voriges Jahr auch das Münchner Landgericht. Nach dessen Urteil "besteht ein anerkennenswertes Interesse des möglicherweise biologischen Vaters, die Abstammung durch einen wenig belastenden heimlichen Vaterschaftstest zu klären". Ein solches Vorgehen sei auch dem "Wohl des Kindes" eher dienlich als "eine gerichtlich erzwungene Klärung der Partnerschaft". Andere Gerichte sehen das allerdings anders. "Ein ohne Zustimmung des sorgeberechtigten Elternteils eingeholter Vaterschaftstest begründet wegen Verstoßes gegen das Recht des Kindes auf informationelle Selbstbestimmung keinen Anfechtungsverdacht für eine Vaterschaftsanfechtungsklage", entschied zum Beispiel das Oberlandesgericht Celle. Noch ist der Entwurf nicht Gesetz Die seither bestehende Rechtsunsicherheit dient der Bundesregierung nun als Anlass für die geplante Neuregelung. "Mit unserem Gesetzentwurf", sagt Brigitte Zypries, "wollen wir die Rechtslage eindeutig klarstellen." Männer sollten im Zweifelsfalle das Einvernehmen der Frau zum Gen-Test einholen und, falls das misslingt, ein Gerichtsverfahren gegen die Gattin anstrengen. Noch ist der Zypries-Entwurf nicht Gesetz. Im Bundestag wachsen die Zweifel am geplanten Testverbot. Und unter Juristen mehren sich die Stimmen derer, die durch die vorgesehene Regelung zu Gunsten der Frauen nun wiederum die Grundrechte von Männern massiv verletzt sehen. Schließlich sei auch eine "untergeschobene Vaterschaft", urteilte der Garchinger Rechtsanwalt Manfred Plautz unlängst in der "Zeitschrift für Rechtspolitik", "ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen". (SPIEGEL ONLINE 07.12.04)

340

Es ist für mich einfach nicht nachvollziehbar, warum eine betrügende Mutter gegenüber einem argwöhnenden Scheinvater, der von ihr Jahrzehnte lang zu Unrecht in Anspruch genommen werden kann, mit Hinweis der Ministerin auf die schutzbedürftige „Intimsphäre“ der Mutter als schutzbedürftiger als der »Kuckucksvater« angesehen und darum von der Rechtsordnung in ihrem betrügerischen Verhalten unterstützt werden sollte, wie es die Gerichte leider zu häufig machen, indem sie teilweise kaum überwindbare Zulassungshürden gegen die Erhebung einer Vaterschaftsklage errichten! „ANFECHTUNG VATERSCHAFT Handfeste Beweise Für die Anfechtung der Vaterschaft reichen anonyme Hinweise nicht aus. Dies entschied das OLG Köln. Der Kläger hatte auf anonyme Anrufe verwiesen und zugleich geltend gemacht, sein angeblicher Sohn sehe ihm nicht ähnlich. Auch die Erzwingung eines Vaterschaftstests wurde ihm verwehrt. (Az. 14 UF 235/03) (afp)“ (taz 10.6.2004) Da finde ich die Rechtsansicht des LG München sachangemessener: Auch der Mann habe ein Grundrecht, Aufschluss über seine Vaterschaft zu bekommen. Und ein heimlicher Abstammungstest sei für das Kindeswohl besser als eine gerichtlich erzwungene Klärung. Die Mutter und das Kuckuckskind sind bei Feststellung der Nicht-Vaterschaft des Scheinvaters ja nicht schutzlos: die Mutter hat es in der Hand, den wirklichen Vater in Anspruch nehmen zu können. Die von ihr möglicherweise bezeichneten mehreren Männer müssen sämtlich eine Speichelprobe abliefern, damit auch gegen ihren Willen die Vaterschaft ausgeschlossen oder festgestellt werden kann: Warum sollte dann nicht auch umgekehrt gegen den Willen der Mutter die Kuckucks-Vaterschaft des ernährenden Scheinvaters festgestellt werden können? Und das so diskret und familienschonend wie möglich! 2004 wurden rund 40.000 verdeckte Tests zur Überprüfung der (Schein-?)Vaterschaft vorgenommen. Das will die Bundesjustizministerin durch die von ihr veranlasste Gesetzesvorlage zukünftig unterbinden. Mit einem bisschen Glück lässt sich der aus der Uneinsichtigkeit der Ministerin resultierende gesetzgeberische Nonsens verhindern: VATERSCHAFTSTEST Grüne und Opposition gegen Zypries-Entwurf Bundesjustizministerin Zypries will heimliche Vaterschaftstests verbieten lassen. Damit stößt sie beim grünen Koalitionspartner und bei der Opposition auf Widerstand. Denn so bliebe Vätern nur der Weg der offenen Anfechtung der Vaterschaft vor Gericht. Hamburg - Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte der "Süddeutschen Zeitung", sie werde der vorgeschlagenen Regelung nicht zustimmen. Durch eine offene Anfechtung der Vaterschaft vor Gericht - die einzige Alternative zu heimlichen Tests - würde Familien oft mehr geschadet. Auch Politiker von Union und FDP sprachen sich gegen das Zypries-Vorhaben aus. Falls sich der "Kuckuckskind"-Verdacht als falsch herausstelle, sei die Beziehung ohne Not beschädigt, argumentierte die Göring-Eckardt. Außerdem dürften Männer nicht benachteiligt werden. Sie müssten genauso sicher wie die Frau wissen dürfen, ob sie der Vater sind. Zuvor hatte bereits der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer der Grünen, Volker Beck, erklärt, seine Partei halte vor allem die vorgesehenen Strafen für "verfehlt". Der Entwurf des Gendiagnostik-Gesetzes sei "noch nicht überzeugend". Der CSU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Zeitlmann, Mitglied des Rechtsausschusses des Bundestages, sagte der "Bild"-Zeitung: "Ein Mann muss klären können, ob er Vater ist. Dieses Recht ausschließlich von der Zustimmung der Frau abhängig zu machen ist lebensfremd." FDP-Familien-Experte Klaus Haupt füge hinzu: "Es liegt nicht im Kindeswohl, wenn ein Vater ständig zweifelt oder gar klagen muss. Ein heimlicher Test kann den Klageweg vermeiden und dient damit dem Familienfrieden." Der mit 3000 Mitgliedern bundesweit tätige Verein "Väteraufbruch e. V." kritisierte die Pläne ebenfalls scharf. Bundesvorstandsmitglied Dietmar Nikolai Webel sagte: "Das Verbot stellt die Lügen der Mütter unter staatlichen Schutz." Zypries hatte angekündigt, mit dem Gesetz noch in diesem Jahr alle heimlichen Vaterschaftstests verbieten zu lassen. Labors und Väter, die heimliche Tests durchführen oder in Auftrag geben, sollen demnach mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden. (SPIEGEL ONLINE 07.01.05)

Sie sehen: »Recht« ist das, was aus einer bestimmten gesellschaftlichen Situation heraus von starken

341

gesellschaftlichen Kräften gemacht wird - wenn es nicht von einer einflussreichen politischen Minderheit verhindert wird.

2.8.19 Notwendigkeit der Anpassung gesetzlicher Regelungen an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse wegen sich wandelnden Rechtsbewusstseins in der Bevölkerung 2.8.19.1 Wertewandel - eventuell durch wissenschaftlichen Fortschritt verursacht - bedingt Rechtswandel Wertewand el bedingt Rechtswan del

Das BGB hatte einen Juristen schon längere Zeit amüsierenden § 1300. Er gewährte einer von ihrem Bräutigam verlassenen Verlobten, die als noch „Unbescholtene“ diesem Filou in Erwartung der Schließung der vereinbarten Heirat und im Vorgriff auf die damit verbundenen Freuden mehr gestattet hatte, als es zur Zeit der Schaffung des BGB für eine höhere Tochter als schicklich galt - Sie kennen alle aus der Werbung den gewollt zweideutig gemeinten, zum Kult gewordenen Spruch: „Bin ich schon drin oder was?“ -, der Entjungferten „auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld“, wenn der Verführer sie dann – vielleicht noch mit der Begründung: „Eine Frau, die ich einmal heiraten werde, muss noch Jungfrau sein, und das bist Du nun nicht mehr!“ – schmählich verlassen hatte. Weil die Geschädigte (nach früherer Ansicht) nun nicht mehr rechtmäßig mit einem Jungfernkranz (als den Nachbarn sichtbares - oder nur vorgespiegeltes Zeichen einer „virgo intacta“) in der Kirche heiraten konnte, erhielt sie durch § 1300 BGB ein so genanntes „Kranzgeld“ zugesprochen. Als 1995 eine solcherart geschädigte »Nicht-mehr-Jungfrau« DM 1.000,- (rund € 500,-) für ihr eingerissenes oder nicht mehr vorhandenes Jungfernhäutchen haben wollte, verweigerte ihr eine wohl mehr im Leben stehende Frankfurter Richterin - zum Glück war es eine Frau, die diesen Paragraphen als erste für obsolet angesehen hatte, so dass nicht von Feministinnen über einen Mann hergefallen werden konnte den geltend gemachten Schadensersatzanspruch mit dem Hinweis auf Art. 3 GG. Die Richterin sah in dem Begehren einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot. Die freudevoll Geschädigte vermochte das nicht so zu sehen und rief das BVerfG an. Das urteilte dann ebenfalls im Sinne der Richterin. Damit war der § 1300 BGB nicht mehr durchsetzbar, stand aber bis zur Änderung des Familienrechts 1997 weiterhin im BGB, ohne dass der dem Wortlaut nach weiterhin im BGB enthalten gewesene Anspruch gerichtlich hätte durchgesetzt werden können. Die (vermutlich nicht, jedenfalls nicht streng katholische) Richterin hatte die seit fast einhundert Jahren bestehende Rechtsnorm des § 1300 BGB wegen des inzwischen mehrheitlich gewandelten Rechtsbewusstseins innerhalb der Bevölkerung bezüglich vorehelicher sexueller Kontakte zwischen den Geschlechtern durch Feststellung der Unzeitgemäßheit der Norm an die gewandelten Verhältnisse angepasst. Das BVerfG hatte diese Feststellung sanktioniert und damit für seine formelle Abschaffung gesorgt. Solche Anpassungen zwischenzeitlich als veraltet angesehener Normen an die jeweilige Rechtsauffassung, wie sie von der Bevölkerung oder der Richterschaft mehrheitlich getragen wird, ist ein ständig zu leistender Prozess. An dem nun wirklich marginalen Beispiel der Frage der Weitergeltung des Kranzgeld-Paragraphen - dass sich das BVerfG damit befassen musste, kann die vielbeschäftigten Richter auch angestunken haben, wenn sie die Behandlung dieser Klage nicht als aufgedrängten Spaß zu sehen vermocht hatten - wird deutlich, dass die Wertvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft ständig im Fluss sind, sich wandeln, und dass dann »das Recht« den sich wandelnden Wertvorstellungen angepasst werden muss, damit es von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als wirklichkeitsfremde Belastung, als überholt und darum als nicht mehr zu befolgen empfunden wird. »Das Recht« soll dem Rechtsbewusstsein des Volkes, dem zu dienen es manchmal auch nur vorgibt, grundsätzlich entsprechen - ohne dass wir deswegen morgen gleich das Grundgesetz ändern und z.B. die durch Art. 102 GG für abgeschafft erklärte Todesstrafe wieder einführen müssten, wenn wieder einmal ein grausamer Mord an einem Kind oder etwas ähnlich Schreckliches geschieht, die Volksseele nach Rache dürstet und von den Stammtischen der Schrei: "Rübe ab!" ertönt. Eine zur Entscheidung anstehende aktuelle Rechtsproblematik sollte nicht nach der Lufthoheit über den Stammtischen entschieden werden! Andererseits darf es auf die Dauer kein »Recht« und keine Rechtsprechung geben, die sich dem Leben verschließen und mit dessen Anforderungen in (Dauer-)Widerspruch treten.

Man muss aber nicht jede rechtliche Position räumen: "`Horror-Vision, die überall verboten sein sollte'

342

Weltweite Kritik am Klonen menschlicher Embryonen dpa/ap Washington - Das erste Klonen menschlicher Embryonen ist weltweit auf Kritik gestoßen. ... Hall, Experte für künstliche Befruchtung, hatte - wie berichtet - aus 17 Embryonen 48 identische `produziert', indem er die Chromosomen (Träger der Erbanlagen) befruchteter Eizellen teilte. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen das Klonen von Menschen im Embryonenschutzgesetz verboten ist. ... Wolf-Michael Catenhusen (SPD), der Vorsitzende des Bundestags-Forschungsausschusses, warnte vor einem ‘geradezu zynischen' Szenario: ‘Man läßt einige dieser Eizellen zu Kindern heranwachsen, verwahrt die Kopie in der Tiefkühltruhe und, wenn es Schwierigkeiten mit den Kindern gibt, dann taut man die Kopie auf, läßt sie heranwachsen und entnimmt ihr Organe, um den schon geborenen Kindern zu helfen.'" (HH A 27.10.93) Das Klonen von Menschen sowohl in der Form der Embryonenteilung als auch der Kerntransplantation mittels einer – durch die Art des Vorgehens mitunter Behinderungen verursachenden - Hohlnadel („HonoluluMethode“) oder eines Stromstoßes von 3.000 Volt, mit dem das im Nucleus einer Ausgangszelle enthaltene Erbgut in das Zytoplasma, in den entkernten Zellkörper einer Eihülle eines anderen Körpers eingeschmolzen wird („Dolly-Methode“), wird von ihren Gegnern nicht wegen der dabei entstehenden identischen Erbinformationen für an sich verwerflich gehalten, weil ja menschliche Klone auch auf natürliche Weise als eineiige Mehrlinge entstehen. Ethisch unverantwortbar sei das Klonen vielmehr deshalb, weil Menschen zu bestimmten Zwecken geplant und erzeugt würden. Der Hinweis auf das analoge Vorgehen der Natur bei der Schaffung von eineiigen Mehrlingen sei kein Freibrief für den Menschen, ein Gleiches zu tun, denn – so die Ethiker in einem möglicherweise »schiefen« Vergleich – es könne aus dem Umstand, dass die Natur die Menschen (wie alle Lebewesen) sterben lässt, ja auch nicht der Schluss gezogen werden, dass es erlaubt sei, Menschen zu töten. Aus Phänomenen in der Natur dürfe man keinen Rückschluss auf menschliches Verhalten, auf erlaubt und nicht erlaubt, auf gut und böse, auf die menschliche Moral vornehmen. Die Menschen dürfen sich nicht anmaßen, über den Zweck eines noch zu schaffenden Menschen als Ersatzteillager für den genetisch identischen anderen Menschen zu entscheiden. Doch das scheint heutzutage auch schon ohne Klonen im Rahmen der Reproduktionsmedizin möglich: „Baby als Lebensretter für den kranken Bruder London – Die Eltern von Zain Hashmi (2) wünschen sich nichts mehr als ein Baby, jedoch nicht als Spielgefährten für ihren Sohn, sondern als Lebensretter. Zain leidet an einer genetisch vererbbaren Blutkrankheit. Nur Bluttransfusionen oder Rückenmark von einem geeigneten Spender könnten ihn retten. Da keiner der vier anderen Geschwister als Spender in Frage kommt, wollen die Eltern ... ein weiteres Baby, das mit Hilfe von künstlicher Befruchtung gezeugt werden soll. Der Embryo muss auf die richtigen genetischen Merkmale überprüft werden. Dafür benötigen sie jedoch eine offizielle Erlaubnis ... [durch] die britische Behörde für menschliche Befruchtung und Embryologie. In einem ähnlichen Fall in den USA ist zu Gunsten der kranken Tochter entschieden worden. ... (HH A 02.01.01) Die Klonierung eines Menschen wird bisher als mit den Prinzipien der Menschenwürde des entstehenden Menschen unvereinbar und daher sittenwidrig angesehen. Darum hatte der Europarat 1996 die „Übereinkunft über Menschenrechte und Biomedizin“ verabschiedet, die in einem Zusatzprotokoll jegliche Form des Klonens von Menschen untersagt. Die USA mit ihrer - von der in 38 Staaten immer noch verhängbaren Todesstrafe und deren Vollstreckung einmal abgesehen - annähernd gleichen Zivilisationsstufe sehen das anders und öffnen ihren Wissenschaftlern die Wege zur Arbeit mit embryonalen Stammzellen. "Würde des Menschen Die Aufgabe der Kirche sei es, als `kritische Instanz' für Leben und Würde jedes Menschen einzutreten, sagte der Bischofsvikar für Hamburg und Schleswig-Holstein, Weihbischof Hans-Jochen Jaschke. Mit Blick auf das erste Klonen menschlicher Embryonen in den USA stellte er klar: `Es gibt Punkte, über die man nicht mehr diskutieren kann.' Auch die Wissenschaft müsse sich ethischen Grundüberzeugungen von der Würde jedes Menschen unterordnen." (HH A 05.11.93) "Zum erstenmal haben amerikanische Ärzte Embryonen geklont. Was alles kann die Reproduktionsmedizin? Und was darf sie? Ich, Ich Ich und Ich Von Hans Harald Bräutigam und Christian Weymayr

343

Dr. Jerry Hall ist ein ehrgeiziger Mann. ... Die Reproduktionsmedizin ist ein diskretes Geschäft. Jerry Hall brach die Diskretion. Am 13. Oktober teilte er ... eine Neuigkeit mit: Er habe erstmals menschliche Embryonen kloniert. Das heißt: Halls Team hatte Embryonen geteilt und sie in Nährlösungen heranwachsen lassen. Theoretisch hätten daraus dann genetisch identische Menschen werden können - künstliche Mehrlinge. ... Er setzte [überbefruchtete] Eizellen [die nicht nur die zwei Kerne - den väterlichen und den mütterlichen - in sich tragen, sondern mehrere] ins Reagenzglas und teilte sie unter Einsatz chemischer Stoffe in zwei Teile. In der Natur ist die Teilung einer frischbefruchteten Eizelle nichts Ungewöhnliches, es ist der ganz normale Entstehungsweg von eineiigen Zwillingen. Und genau das machte Hall künstlich nach. ... Doch keines der Zellklümpchen wurde irgendwem eingepflanzt. Hall brach an diesem Punkt sein Experiment ab. Die Embryonen warf er weg, denn sein Ziel war erreicht. Er hatte bewiesen, daß menschliche Embryonen künstlich teilbar sind: Menschen lassen sich klonen. Der Frage, ob sich aus solchen genetisch identischen Embryonen tatsächlich vervielfältigte Menschen entwickeln, will Jerry Hall zunächst nicht weiter nachgehen. ... `Meine Studie', so Jerry Hall, `sollte nur wissenschaftliche Grundfragen klären helfen.' Halls Versuche sind keine wissenschaftliche Großtat, längst ist das Klonen bei Tieren ein probates Mittel zur Verbesserung des Zuchterfolges. Auf diese Weise erhält man mehrmals die gleiche preisgekrönte Milchkuh oder den gleichen monströsen Schlachtbullen. Daß dies auch am Menschen gelingen könnte, wurde nie ernsthaft bezweifelt. Es wurde nur einfach nie versucht. Jedenfalls nicht öffentlich. Hall nennt vier neue Möglichkeiten, die sein Experiment der Reproduktionsmedizin eröffne: - Die Sicherheitskopie. Bei einer gelungenen künstlichen Befruchtung könnte ein identischer Embryo im Gefrierfach aufbewahrt werden. Falls das Kind stirbt, dient der tiefgefrorene Zwilling in Wartestellung als identischer Ersatz. - Das Testmodell. Soll nach einer Reagenzglasbefruchtung der Embryo auf genetische Defekte untersucht werden, muß ihm bislang eine Zelle entnommen werden. Eine Untersuchung, die den Embryo nicht selten das Leben kostet. Wird der Embryo jedoch vorher geklont, könnte ein Exemplar, da es sich ja um genetisch gleiche Embryonen handelt, für den Test geopfert werden. - Das Ersatzteillager. Erkrankt ein Kind an Blutkrebs oder an einem Nierenleiden, kann ihm nur eine Knochenmarksübertragung oder eine Nierentransplantation helfen. Die funktioniert aber bloß dann, wenn die Spenderzellen genetisch gleich sind oder die Abstoßung medikamentös unterdrückt wurde. Auch dafür könnte die Kopie dienen. Man ließe sie ein Weilchen heranreifen, um sie als menschliches Ersatzteillager zu nutzen. - Die Risikobetreuung. Mit einem Embryosplitting, so der Fachausdruck für das Teilen der menschlichen Zellklumpen, stehen bei einer künstlichen Befruchtung mehrere Embryonen zur Einpflanzung in die Mutter zur Verfügung. Die Chancen dafür, daß sich einer der Embryonen auch wirklich einnistet und es zu einer erfolgreichen Schwangerschaft kommt, steigen. ... Doch auch Jerry Hall hatte nicht ohne Kontrolle arbeiten können. Er hatte sich die Zustimmung für sein Experiment bei der zuständigen Ethikkommission seiner Universität holen müssen. Die hielt seinen Versuch für unbedenklich, und sie hatte gute Gründe dafür: - Erstens waren die verwendeten Embryonen nicht lebensfähig, da sie überzählige Chromosomen besaßen. Selbst wenn Hall es gewollt hätte, fehlte somit die Voraussetzung dafür, sie im Mutterleib zur Entwicklung zu bringen. Dies war die Bedingung, unter der das Experiment gestattet wurde. - Zweitens tastete Hall das Erbgut nicht an. Bei seinem Versuch von Gentechnik zu sprechen ist deshalb falsch. - Drittens wurde im Washingtoner Labor lediglich die Natur imitiert, die auf ähnliche Weise dauernd eineiige Mehrlinge schafft. Ohne Frage aber hat Jerry Hall die Grenze, bis zu der Forscher sich vorwagen können, ein Stück weiter nach vorne verschoben. Seine geklonten Embryonen könnten das Material sein, mit dem eines Tages weitergehende Manipulationen machbar sind." (DIE ZEIT 05.11.93) Und die sind schon ins Auge gefasst. In den USA sind nicht nur Eizellen- und Samenspenden erlaubt. Für 2.200 US-Dollar konnte sich 1997 jede unfruchtbare Frau einen Embryo kaufen und das Kind dann auszutragen versuchen. Besonders begehrt sind dabei in den USA Eizellen begabter Studentinnen der Eliteuniversitäten. Für eine ihrer Eizellen sind einer gut aussehenden und hochintelligenten Absolventin der Eliteuniversität Princeton 35.000 US-Dollar geboten worden. Im Internet stellen Makler schon das Wunschprofil von Embryonen zusammen. Dort wurden 1999 die Eizellen

344

von acht Fotomodellen in einer Auktion versteigert. Das Ganze ist ein boomender Markt! „Sperma lässt sich im Internet bestellen Von Vlad Georgescu Der Online-Handel mit menschlichem Sperma floriert: Weltweit versprechen Samenbanken ungewollt Kinderlosen die Erfüllung ihrer Wünsche per Mausklick und Kreditkartenzahlung vorab. Sperma wird online angepriesen Die Liste der ’Erzeuger’ ist für alle Kunden online abrufbar, die Qualität der angepriesenen Ware einwandfrei. Keine Verunreinigungen, keine Fehler, kein Verschleiß. Als ob diese Kriterien allein noch nicht genügten, garantiert der amerikanische Online-Versand die Unbedenklichkeit all seiner Lieferanten. Nur wer ’keiner gesellschaftlichen Risikogruppe’ angehört, darf für ’Scandinavian Cryobank’ das gefragte Gut ejakulieren: menschliches Sperma. Vom Cybersex zum Spermahandel Das in Seattle angesiedelte Reproduktionsmedizin-Unternehmen ist kein Monopolist, wenn es um den Online-Handel mit Spermienzellen geht. Galt das Internet bisher als Oase für den schnellen virtuellen Sex, mausert es sich nun zum Medium für all jene, die ’auf der Suche nach Sperma’ sind, wie das angesehene Web-Kultmagazin ’Wired’ feststellte. Ein großer Markt wird erschlossen Rund 200 Dollar pro Charge Sperma zahlen die Käuferinnen und Käufer vorab, zehn und mehr mit Sperma gefüllte Röhrchen sind oft nötig, um endlich zum Wunschkind zu gelangen. Wie groß der globale Bedarf an Web-erworbenem Samen wirklich ist, weiß niemand. Doch allein für Deutschland beziffert PRO FAMILIA die Zahl ungewollt Kinderloser auf rund zwei Millionen Paare. Da es sich um Menschen im Web-fähigen Alter handelt und das Netz ohnehin zunehmend alle Gesellschaftsschichten erreicht, liegt die Expansion des Online-Handels mit menschlichem Samen auf der Hand. Anbieter garantieren für Qualität Das Prinzip der Samenbeschaffung aus dem Web ist denkbar einfach. Die reproduktionsmedizinischen Online-Shops stellen ihren Kunden Listen mit anonymisierten Daten verschiedener Spender zur Verfügung. Ausschließlich positive Eigenschaften der Spender stechen hervor - und suggerieren auf diese Weise eine potenzielle Unfehlbarkeit des kommenden Nachwuchses. So erfährt die Mutter in spe bei einem der Anbieter, dass ein Donor im April 1974 das Licht der Welt erblickte und bereits heute über einen Doktortitel verfügt. Angaben über Augen-, Haut-, und Haarfarbe sind ebenso online abrufbar wie Informationen über die ausgeübte Religion oder die ethnische Herkunft des Spenders. Zudem garantieren genetische Untersuchungen des Samenguts dessen medizinische Unbedenklichkeit. Schwere, meist erblich bedingte Erkrankungen lassen sich somit von Anfang an ausschließen, behaupten die Händler. Sperma geht auf Reisen Ist die Entscheidung für den ’optimalen’ Spender gefällt, reicht die Angabe einer gültigen Kreditkartennummer und - je nach Land - eines Arztes als Kontaktperson und die nachwuchsversprechende Fracht trifft bald darauf ein. In eigens dazu hergestellten Thermosbehältern und bei rund 170 Grad unter Null tiefgekühlt gelangen die Sperma-Röhrchen ans Ziel, mitunter über Kurierdienste versandt, wie eine US-Samenbank betont. Zwischen zehn und 20 Millionen aktiver Spermien warten dann darauf, ihren Weg zur Eizelle der Kundin zu finden. Eine davon wird es vielleicht schaffen, diese zu befruchten. Nur wie? Orgasmus erhöht Chancen für Empfängnis Hierzu muss die Flüssigkeit lediglich aufgetaut und auf eine nadelfreie Kunststoffspritze aufgezogen werden. Nach Ansicht der amerikanischen Selbsthilfeorganisation ’FertilityPlus’ reicht die Einführung der Spritze in die Vagina aus, um schwanger zu werden. Weil die Erfolgsrate trotz Spermien ’erster Wahl’ lediglich bei rund 15 Prozent liegt, raten die Expertinnen zur Masturbation. Ein während der Samenübertragung ausgelöster, heftiger Orgasmus erhöhe die Befruchtungswahrscheinlichkeit deutlich, da die kontrahierende Gebärmutter mehr Spermienzellen

345 ’ansaugen’ kann. Strenge Regeln in Deutschland In Deutschland stehen nur verheirateten Frauen, deren Ehemänner unfruchtbar sind, Samenbanken zur Verfügung, und noch betreibt keine davon den Online-Spermahandel derart aggressiv wie die US-Pendants. Denn hier zu Lande ist der Einsatz der donogenen Insemination, wie Mediziner den Spendersamen-Einsatz in die Vagina bezeichnen, strikt reglementiert. Lediglich Gynäkologen dürfen Frauen nach dieser Methode behandeln. Die Praxis freilich sieht anders aus. Schon die Reise beispielsweise in die Niederlande genügt, um sich das online bestellte Samengut völlig legal und unabhängig vom ehelichen Status einführen zu lassen - oder es einfach selbst zu tun. Unterschiedliche Reproduktionsraten Während seit der offiziellen Zulassung der ersten Samenbanken hier zu Lande im Jahr 1986 lediglich rund 4.300 Kinder pro Jahr durch Spender-Sperma gezeugt wurden, erblicken nach Angaben der USReproduktionsfirma Xytex Corporation in den USA jährlich über 75.000 Inseminations-Babys das Licht der Welt. Aggressiver Kundenfang in den USA Grund für den eklatanten Unterschied der Reproduktionsraten ist möglicherweise die Form der jeweiligen Online-Auftritte der Samenbanken. Während sich deutsche Samenbanken im Internet eher allgemein-bieder geben, nutzen die Amerikaner das Web zum Kundenfang. So können bei Xytex potenzielle Kunden nicht nur die Stimme des Spenders aus dem Internet downloaden und anschließend abhören. Ein beigefügtes Babyfoto des gläsernen Samen-Donors lässt werdende Eltern erahnen, wie der potenzielle Nachwuchs aussehen könnte.“ (Spiegel online.de 10.01.03) Schon 1999 befanden sich rund 30.000 Embryonen in Kältetanks, um „Designer-Babys“ herstellen zu können, da Genbeimischungen geplant sind. Wohlhabende könnten sich dann das »Baby von der Stange« bestellen. Da deutet sich ein ethischer Erosionsprozess im Bewusstsein einer Gesellschaft an, wenn bei entsprechendem finanziellen Background nur noch »schicke« Babys designed werden: »Schicke« Babys für Reiche, Lotto-Babys für Arme! Die ethischen Grenzen werden durch die Fortschritte in der medizinischen Forschung von der  Insemination (die – teilweise für eine Selbst-Insemination über das Internet bestellten - Spermien des/eines geplanten Erziehungsvaters oder die eines Samenspenders werden zur Erzeugung eines Babys/„Internet-Babys“ mit einer Kanüle in die Gebärmutter der Erziehungsmutter einer heterosexuellen Beziehung oder einer Lesben-Ehe oder, z.B. im Falle einer Schwulen-Partnerschaft, in die einer Leihmutter eingeleitet)  über Leihmutterschaft (Austragung einer Schwangerschaft für eine andere Frau mit beliebiger Eizelle, die mit dem Samen des geplanten Erziehungsvaters oder eines Samenspenders befruchtet worden ist),  In-Vitro-Fertilisation (IVF = Befruchtung einer Eizelle meist der geplanten Erziehungsmutter im Reagenzglas mit dem Samen des geplanten Erziehungsvaters oder eines Samenspenders, z.B. bei Lesben-Ehe oder weiter bestehender Single-Absicht, und anschließende Einleitung des herangezogenen Embryos per Kanüle in die Gebärmutter der geplanten erziehenden oder einer Leihmutter mit einer Erfolgsrate von 25 %),  Intracytoplasmische Spermieninjektion (ICSI = ein einzelnes dafür extra ausgewähltes Spermium des Erziehungsvaters wird in eine Pipette aufgezogen und direkt in die Eizelle der geplanten Erziehungsmutter injiziert, der herangezogene Embryo wird dann durch eine Kanüle in die Gebärmutter der geplanten erziehenden oder einer Leihmutter gespült und hat dort eine Erfolgschance von rund 30 %),  Eizellenspende (die Eizelle einer Spenderin wird durch IVF- oder ICSI-Methode mit dem Samen des geplanten Erziehungsvaters befruchtet und in die Gebärmutter der geplanten Erziehungs- oder einer Leihmutter eingesetzt) und  Embryospende66 (bei der Behandlung anderer Paare mit meistens der IVF-Methode übrig gebliebene 66

In Deutschland ist dieses Verfahren verboten – in den USA seit langem und seit Ende 2004 selbst im katholischen Spanien erlaubt. 2005 wurde berichtet, dass in Spanien das Forschungsinstitut Instituto Marqus in Barcelona in Zusammenarbeit mit einer Geburtsklinik 1.700 Embryonen zur unkomplizierten aber rechtlich erforderlichen Adoption freigegeben habe. Die Embryonen waren zwischen 1989 und 1999 bei künstlichen Befruchtungen übrig geblieben und

346

Embryonen werden in die Gebärmutter der geplanten Erziehungs- oder einer Leihmutter eingesetzt) bis zum  Klonen immer weiter verschoben; auch in Richtung Klonen, trotz der mit dem Klonen verbundenen Gefahren, denn Eingriffe in die Keimbahnen sind nie mehr rückgängig zu machen und wirken sich auf die nachfolgenden Generationen aus. Da tut sich die Büchse der Pandora auf, denn - da sollten wir uns nichts vormachen - was technisch irgendwie möglich sein wird, wird auch irgendwer irgendwann versuchen. Was in Tierversuchen, u.a. mit dem ersten geklonten Säugetier, dem Schaf Dolly, mit dem 276. Versuch, erfolgreich ausprobiert wurde, das Klonen eines Säugetieres, würde, das stand fest, über kurz oder lang auch am Säugetier Mensch ausprobiert werden – auch als sich bei der Untersuchung der Anfang 2003 nach nur sechs Jahren verstorbenen Dolly herausstellte, dass geklonte Säuger eventuell extrem frühzeitig altern. So war bei Dolly schon nach drei Jahren beobachtet worden, dass der Zellreproduktionsprozess nicht wie erwartet ablief: die Telomere genannten Endstücke von Dollys Chromosomen waren verkürzt Die Vermutung geht dahin, dass Dollys Tod mit einem durch das Klonen ausgelösten vorzeitigen Alterungsprozess im Zusammenhang stehen könnte – und dass (neben all den anderen Klonierungsdefekten bei 95 % aller bisher geklonten Tiere, u.a. ein gestörtes Immunsystem, Atem- und Kreislaufstörungen) ein solcher Alterungsprozess nicht nur bei allen zwischenzeitlich geklonten Tieren aus sieben Tiergattungen (Schaf, Rind, Maus, Schwein, Ziege, Katze67 und Kaninchen) auftreten könnte, sondern auch dann, wenn Menschen geklont würden. „Der Geist ist aus der Flasche“, formulierte der us-amerikanische Genetiker Zavos, der sich, zusammen mit dem italienischen Reproduktionsmediziner Antinori und dem israelischen Kollegen Ben-Abraham, schon in einem wissenschaftlichen Wettlauf mit der in Kanada lebenden französischen Biochemikerin Boisselier um das erste Klonbaby der Welt sieht. Dafür sind eventuell (zunächst?) eben so viele Fehlversuche notwendig, wie bei dem Klonen von (anderen Säuge-)Tieren. 98 % der Klonexperimente sind bisher u.a. wegen Totgeburten und Missbildungen der entstandenen Lebewesen gescheitert. Die statistische »Erfolgsrate« wird auf 1:500 geschätzt. Die tierischen Missgeburten mussten – wenn sie nicht, wie ungefähr die Hälfte von ihnen, binnen Wochenfrist gestorben waren - teilweise getötet werden. Was soll dann aber mit den voraussichtlich an Herz- und Gefäßmissbildungen, unterentwickelten Lungen oder Immunschwächen leidenden missgebildeten Kindern mit zum Teil anormalen Hirnfunktionen passieren, wie solche Missbildungen bisher beim reproduktiven Klonen von Säugetieren aufgetreten sind und darum auch beim Klonen des Säugetieres Mensch mit Sicherheit entstehen können? Denn eine Störung in der Funktion der Gene ist nicht vorher überprüfbar. Die kann man erst nach der Geburt feststellen. Wer wird die Klone dann leiden lassen wollen, wer wird sie dann mitleidig töten? Damit es dazu möglichst gar nicht erst kommt, müssen von ihrem Forschungsgebiet besessene Wissenschaftler ohne ausreichende Gewissenskontrolle, die nach der bissigen Definition von Robert Lembke Gewissen höchstens als etwas empfinden, das ihnen bei der Entfaltung ihrer (Forscher-)Persönlichkeit gewöhnlich im Wege steht, bei Sozialschädlichkeit ihrer Forschungstätigkeit durch entsprechende Gesetze an ihrem unheilvollen Tun möglichst gehindert und muss dieses Tun unter erhebliche Strafdrohung gestellt werden! Trotzdem werden die Experimente mit Sicherheit vorgenommen werden. Dafür wird schon eine der ambivalenten Grundgegebenheiten des Menschseins sorgen: die Neugierde. Sie macht Menschen sowohl zu segensreichen Wissenschaftlern und Erfindern, in ihrer diabolischen Form aber auch zu Kriminellen. Die in Kanada lebende französische Biochemikerin Brigitte Boisselier, Bischöfin des Ufo-Kults der Sekte der „Raelianer“68, der „Raelistischen Religion“, deren Anhänger von sich (angeblich) glauben sollen, vor 25.000 Jahren von Außerirdischen nach deren Landung mit Ufos auf der Erde aus toter Materie durch Klonen im seither als „Frosty“ in flüssigem Stickstoff aufbewahrt worden. Die biologischen Eltern hatten keine Verwendung mehr für ihren Zellhaufen und darum der Klinik freigestellt, ihren jeweiligen Embryo zu vernichten, zu Forschungszwecken zu verwenden oder zur Adoption freizugeben. 90 Frauen machten zunächst von dem Adoptionsangebot Gebrauch, bei 14 ließ ein gerundeter Bauch auf baldiges Mutterglück hoffen. Die Implantation kostet inklusive der dafür als Voraussetzung erforderlichen Hormontherapie rund 2.500 € und wird ambulant vorgenommen. Es wird mit einer Erfolgsquote von über 35 % gerechnet. Ein katholischer Pfarrer in Italien versucht, Frauen dafür zu gewinnen, in Spanien Embryonen zu adoptieren, um so „Leben“ zu retten. (HH A 08.03.05) 67

Die US-Firma "Genetic Savings and Clone" bietet einen Klon-Service für Haustiere an. 2005 sollen erstmals neun KlonKatzen gezüchtet werden. 41 000 Euro verlangt das Unternehmen pro Tier. Kritiker prophezeien, dem ersten gelungenen Versuch würden zahllose Missbildungen vorausgehen. Die Kopie eines Hundes dagegen lässt bisher auf sich warten.

68

Die Rael-Bewegung wurde von dem ehemaligen Sportjournalisten Claude Vorilhorn gegründet. Er wird von seinen Anhängern als „Prophet und Messias des wissenschaftlichen Zeitalters verehrt, der (angeblich) 1975 eine Reise durch den Weltraum unternommen habe, auf der er mit Buddha, Moses, Jesus und Mohammed zusammengetroffen sei.

347 Reagenzglas gezeugt worden zu sein, gründete die Firma „Clonaid“ mit dem erklärten Ziel, Menschen zu klonen. Der Sektengründer, der französische Ex-Journalist Raël, verfolgte dabei das Ziel, Adolf Hitler – woraus? – zu klonen und dann vor Gericht zu stellen (SPIEGEL 24.03.03). Wie die Biochemikerin Boisselier vor einer Untersuchungskommission des Repräsentantenhauses in Washington zugab (HH A 30.03.01), bereiten sich seit Dezember 00 ein Genetiker und ein Arzt durch übungsweises Entkernen von Kuh-Eizellen darauf vor, im Auftrag eines amerikanischen Ehepaares, deren Kind im Alter von zehn Monaten an den Folgen einer Herzoperation gestorben war, für einen Auftragswert von 500.000 Dollar eine Klonkopie dieses Kindes zu erstellen. Sein irgendwie erhaltenes Erbgut solle in das Ei einer Kuh eingepflanzt und später der Mutter oder einer Leihmutter implantiert werden. Fünf Leihmütter in Montreal sollen angeblich bereit sein, diesen Klon auszutragen. Ob diese Wissenschaftlerin die erste sein wird, die eventuell einen geklonten Menschen hergestellt haben wird, ist noch nicht ausgemacht, denn neben den unsicheren Erfolgsaussichten eines solchen Klonexperimentes befindet sie sich, so weit bekannt wurde, in einem harten wissenschaftlichen Wettrennen mit u.a. einem koreanischen Institut. Und auch der italienische Arzt, der der (bis dahin69) „ältesten Mutter der Welt“ mit 63 Jahren zu einem Kind verholfen hat, kündigte anlässlich eines Vortrages in den USA für das Jahr 2001/02 das Klonen eines Menschen an, um so kinderlosen Paaren zu einem Kind zu verhelfen (HH A 23.01.01). Um der Strafverfolgung für diese Klonexperimente, für die sich bei Antinori und Zavos schon 200 Paare angemeldet haben sollen, zu entgehen, sollen die Klonversuche in einem Land ohne diesbezügliche Verbotsgesetze oder auf einem Schiff in internationalen(!) Gewässern vorgenommen werden. Dieses Land schien - kurzfristig - gefunden zu sein: Großbritannien! Laut einer Meldung vom 17.11.01 wollte der Gynäkologe Antinori in Großbritannien möglichst sofort mit seinen Klonversuchen starten, nachdem zwei Tage zuvor der High Court, das oberste britische Zivilgericht, entschieden hatte, dass eine befruchtete Eizelle, in die, wie bei dem Klon-Schaf Dolly geschehen, ein fremder Zellkern eingesetzt worden ist, nach derzeitiger britischer Gesetzgebung nicht als Embryo betrachtet werden könne. Die britische Regierung sah nun auch diese Regelungslücke und wollte darum im Schnellverfahren sofort ein neues Gesetz einbringen, um den Klon-Arzt Antinori doch noch zu stoppen. „CHINA Menschliche Embryos geklont New York – Chinesische Wissenschaftler haben bereits vor gut zwei Jahren den ersten menschlichen Klon-Embryo erschaffen und seither Dutzende weitere produziert. Das berichtet das angesehene New Yorker Wall Street Journal. Der erste Klon entstand 1999 am Xiangya Medizin College in der zentralchinesischen Stadt Changsha. Die Wissenschaftler ließen das Embryo sich so weit entwickeln, bis sie aus ihm Stammzellen gewinnen konnten. Mindestens drei weitere chinesische Labors arbeiten daran, Menschen zu klonen. (sad)” (HH A 07.03.02) Für März 2002 kündigte der US-Mediziner Zavos den Beginn seiner Versuche mit Menschen-Klonen an. Er wollte – trotz der extrem geringen Erfolgsrate und der Gefahren von Missbildungen - in eine entkernte Eizelle die Erbinformation (DNA) eines Mannes aus einer unfruchtbaren Partnerschaft einsetzen und diese Eizelle dann einer anderen Frau einpflanzen. So würde eine genetische Kopie des Mannes entstehen. Ende 2003 teilte Zavos mit, dass sein Klonverfahren – nach geheimen Versuchen mit der Eizelle einer allein stehenden 46-Jährigen in arabischen Labors? - Marktreife erlangt habe. Er könne nunmehr unfruchtbaren Paaren helfen, sich ihren Kinderwunsch für 150.000 € zu erfüllen (HH A 15.10.03). Doch schon die Tierversuche zeigen (neben all den aufgetretenen Defekten, weil in den einzelnen Individuen die gleichen Gene verschieden und teilweise abnorm tätig sind): gleiche Gene in den Zellkernen bedingen nicht gleiche Individuen mit identischen Persönlichkeiten. Durch Klonen wird niemand wiedergeboren! Alle Lebewesen sind mehr als ihre Gene. Dezember 2002 kündigten sowohl Antinori wie auch Boisselier die kurz bevorstehende Geburt eines KlonBabys an! Boisselier gab Ende Dezember 02 an, dass das erste Klonbaby am 25.12.02 geboren worden sei. Der Name des Ehepaares werde geheim gehalten, aber es sollten DNA-Analysen von Mutter und Tochter zur Überprüfung der großspurigen Behauptung bereitgestellt werden. Damit hätte Boisselier ihren Konkurrenten 69

Auf jeden Fall handelt es sich hierbei um „die (bis dahin) älteste Mutter der Welt“, die durch künstliche Befruchtung gebenedeiten Leibes geworden war. 2003 fand sich im Internet mit Namensangabe und Interview der behandelnden Gynäkologin eine Meldung, dass eine über 80-jährige Asiatin auf natürlichem Weg schwanger geworden sei, obwohl ihre Regel schon mehr als 30 Jahre ausgesetzt hatte. (Nun schäme sie sich ein wenig vor ihren Enkeln.) Das wäre dann die älteste Muter der Welt, wenn das Kind lebend geboren worden sein sollte. Laut einer Meldung im HH A vom 24.02.04 wurde von einer 64-jährigen Inderin als nunmehr ältester Mutter der Welt durch künstliche Befruchtung berichtet.

348 Antinori um ein paar Wochen geschlagen – wenn sich die (skeptisch aufzunehmenden) Ankündigungen bewahrheiten sollten, die dann eine Woche später mit der Meldung über die Geburt eines weiteren Klonbabys als Tochter einer niederländischen Lesbe ergänzt wurde. Aber es wurden wieder weder wissenschaftlichen Protokolle über die vorausgehenden Vorbereitungen, noch Beweise für die Behauptung, einem Klonbaby auf die Welt geholfen zu haben, vorgelegt. Nach der von den Raelianern behaupteten Geburt eines dritten Klonbabys durch eine Japanerin wurde von der Biomedizinerin und Clonaid-Chefin Boisselier vor einem Gericht in Florida unter Eid als Geburtsland des ersten Klonbabys Eve70 Israel angegeben. Dann schloss der Richter die Akten, weil er den vermutlichen Schwindel nicht aufdecken konnte. Bis 2004 hatte Boisselier die Geburt von inzwischen sechs Klonbabys vollmundig herausposaunt – ohne bislang einen von Medizinerkollegen überprüfbaren Beweis vorgelegt zu haben. Obwohl die Kosten für einen Klonversuch nicht unter 400.000 € geschätzt werden, wollen angeblich immer mehr Paare sich ein Kind klonen lassen, und das nicht nur als dringend benötigtes »Ersatzteillager« für ein schon vorhandenes, aber lebensgefährlich erkranktes heißgeliebtes Kind, sondern als »designtes Kind«. Die Neugierde als Motor allen menschlichen Fortschritts bedarf der Korsettstangen des Rechts, denn in der Geschichte gibt es kein Beispiel für Technikverhinderung auf Grund nur ethischer Bedenken: was gemacht werden konnte, wurde auch gemacht und auch eingesetzt – bis hin zur Atombombe! Über das hinter jedem »Recht« stehende – und sich auch verändernde(!) - Menschenbild muss jede Gesellschaft klären und gesetzlich festlegen, was der Mensch maximal von dem »dürfen können soll«, was die Phantasie ihm ausmalt und die Technik zulässt. Letztlich muss die Entscheidung fallen: Soll das Klonen als ärztliche Hilfe bei anders nicht heilbarer Krankheit oder gar als partielle Teilhabe an der Unsterblichkeit oder dem Wahn, wie Gott werden zu können, erlaubt sein: ja oder nein? Ein nachdenklicher Wissenschaftler formulierte seine Besorgnis mit den Worten: „Von zwei Kernen hätte der Mensch besser die Finger gelassen: vom Atomkern und vom Zellkern!“ Und der spätere Papst Benedikt XVI. hatte schon als Kardinal Ratzinger über die Genforschung mahnend formuliert: „Wir müssen wissen, dass der Mensch nicht unseren Montageplänen unterworfen sein darf. Wir müssen wissen, dass schon der Beginn des Montierens zu einer Herrschaftsanmaßung über die Welt werden kann, die zugleich ihre Zerstörung in sich trägt.“ Das weite Feld der Gentechnik mit ihren vielen ethisch und juristisch teilweise noch ungelösten Fragen sei durch die Wiedergabe einiger weiterer Meldungen nur angedeutet: „Gericht ließ es zu – Toter zeugt ein Kind Nur zwei Wochen nach der Heirat starb der Ehemann (25) einer Israelitin (22) aus Tel-Aviv bei einem Verkehrsunfall. Die Witwe ließ ihm in der Klinik Sperma für eine künstliche Befruchtung entnehmen – das geht bis zu drei Tage nach dem Tod. ‘Ich will meinen Mann in einem Kind weiterleben lassen‘, sagte sie. Ein Gericht erlaubte ihr jetzt, sich mit dem Samen befruchten zu lassen.“ (HH A 26.11.99) SPD und Union wollen Gesetz lockern Signal an Gentechniker HA Bonn - Koalition und SPD-Opposition sind sich einig, zügig das Gentechnikgesetz zu ändern, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu sichern. Gesundheitsminister Horst Seehofer wurde aufgefordert, eine entsprechende Novelle des erst zwei Jahre alten Gentechnikgesetzes schnellstmöglich vorzulegen. In der mehr als zweistündigen Aussprache zeichnete sich zwischen Koalition und der SPD weitgehende Übereinstimmung darüber ab, das eigentliche Gentechnikgesetz so zu ändern, daß Forschungsvorhaben nicht überlangen Genehmigungsverfahren unterliegen. Vor allem gentechnische Arbeiten in den Bereichen der niedrigsten Sicherheitsstufe sollen erleichtert werden. Der FDPAbgeordnete Wolfgang Schnittler beklagte in diesem Zusammenhang, daß die bereits 1984 von Hoechst beantragte gentechnische Produktion von Humaninsulin immer noch nicht genehmigt sei. Bundesgesundheitsminister Seehofer begrüßte die Initiative des Bundestages. Er erklärte, Bürokratie dürfe nicht zum Hemmschuh werden, um die Chancen der Gentechnik zu nutzen. Bei der Bekämpfung von Krankheiten wie Aids und Krebs könne man nur mit Hilfe der Gentechnik weiterkommen. 70

Da die Frau, von der die Zelle stammen soll, 30 Jahre alt ist, wäre die »Zelluhr« bei Eve auch schon 30 Jahre gelaufen. Das Baby würde, wie bei der nach derselben Methode hergestellten Dolly erwiesen, 30 Jahre vorzeitig altern.

349

Nach Ansicht der SPD müsse jedoch bei der Gesetzesnovellierung den schärferen EG-Richtlinien gefolgt werden, statt diese den Wünschen von Forschung und Industrie anzupassen." (HH A 13.11.92) "Stier mit Menschen-Gen dpa Den Haag - Ein künstlich gezeugter Stier, dem Forscher in Holland ein menschliches Gen eingepflanzt hatten, darf Nachkommen zeugen. Das hat das niederländische Parlament entschieden." (HH A 19.12.92) "Rettung für Gorillas? SAD London - Dieser Vorschlag des US-Professors Stephen Seagar (43) vom `National Rehabilitation Hospital' in Washington ist ernstgemeint: Frauen sollen sich Gorilla-Embryos als Retortenbabys implantieren lassen, um die Affen vor dem Aussterben zu retten. Sie sollen per Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden. In London sagte der Professor, daß er schon Frauen kenne, die bereit seien, an dem Experiment teilzunehmen." (HH A 28.09.92) Dazu passt der Bericht „Das Ende der Menschenaffen. Wie wir unsere nächsten Verwandten ausrotten“ (Stern 22.05.03) „Menschenaffen vor dem Aussterben ... Die Menschenaffen sind vom Aussterben bedroht. ... Auf dem ganzen Planeten gibt es nicht einmal mehr 350 000 Gorillas, Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans. Nach Schätzungen der ’Bushmeat Crisis Task Force’ (BFTC) ... sind von den rund fünf Millionen Schimpansen, die vor 50 Jahren in 25 west- und zentralafrikanischen Wäldern durchs Geäst sausten, weniger als 150 000 übrig geblieben. ... Nur noch 110 000 Gorillas leben auf der Welt. ... Es haben etwas 12 000 OrangUtans überlebt. ... Heute gelten 3000 Bonobos als der kümmerliche Rest [von ca. 100.000 um 1980; der Autor]. Verantwortlich für das große Sterben seiner engsten Verwandten ist vor allem der Mensch. In Afrika und Asien werden den Affen die Bäume unter den Beinen weggesägt, damit das Tropenholz exportiert oder große Plantagen, meist für Ölpalmen, angelegt werden können. Von den menschlichen Vettern als Delikatesse geschätzt, werden die Tiere gnadenlos gejagt und abgeschlachtet. In Afrika macht ihnen zudem der Ebola-Virus zuschaffen. ... Durch verseuchtes Affenfleisch überträgt sich der Virus auf die Menschen. ... ’Bushmeat’ ist nach wie vor begehrt. Vor allem in Afrika boomt der Handel mit Gorilla-Steaks, Schimpansen-Schnitzeln und geräucherten Bonobo-Rippchen wie nie zuvor. Laut BCTF wechselt in West- und Zentralafrika jährlich Affenfleisch im Werte von etwa einer Milliarde Dollar den Besitzer. Den Angaben der Organisation zufolge stehen die rund 2000 auf Affen spezialisierten Wilderer oft im Sold der Konzerne, die den Regenwald niedermachen und ihre Holzfällertrupps mit Fleisch versorgen lassen wollen. ... Ein guter Affenkiller verdient im Kongo zwischen 300 und 1000 Dollar im Jahr – ein lukratives Einkommen in einem Land, in dem der Durchschnittsverdienst bei 100 Dollar liegt. ... ’Ich glaube nicht, dass es auf der Welt eine Stadt mit westafrikanischen Einwanderern gibt, in die kein Affenfleisch eingeführt wird’, sagt Richard Ruggiero vom US Fish und Wildlife Service der Zeitschrift ’Nature’. Viele Asiaten lecken sich ebenfalls die Lippen nach Menschenaffenfleisch: Orang-Utans werden genauso abgeschlachtet, verzehrt und exportiert wie ihre afrikanischen Verwandten. ... Getrocknet wird es unter anderem nach China exportiert, wo es als Aphrodisiakum gilt. ... Wie die letzten Affen gerettet werden können? ... ’Der Westen muss aufhören, Tropenholz und Palmöl ... zu kaufen ... Wenn die Welt das Holz und Öl nicht mehr will, wird kein einziger Baum mehr gefällt.’“ Da berührt sich der Befund mit unserem vorrangigen Buchinteresse, dem Recht: Es müsste sowohl für Tropenhölzer wie für Primatenfleisch ein Importverbot erlassen werden. „Genforschung Der Zwilling für alle Fälle Schottische Wissenschaftler wollen Babys klonen – als ‘Ersatzteillager‘ SAD/dpa/cw London – Kommen Ersatzorgane bald aus dem Genlabor? Schottische Forscher wollen für alle Neugeborenen einen genetisch identischen ‘Zwilling‘ in ersten Keimstadien züchten und einfrieren. Aus den geklonten Zellen sollen im Krankheitsfall Organe entstehen, die der Körper nicht wie Spendergewebe abstößt. ... (HH A 10.11.98)

350

„Wann kommt das geklonte Baby? SAD London – Für das bloße Auge unsichtbar, aber ein Meilenstein auf dem fragwürdigen Pfad zum geklonten Menschen – ein winziger Klumpen von fast 400 Körperzellen, ein zwölf Tage alter menschlicher Klon-Embryo, warf am Donnerstag ein Schlaglicht auf die ethische Problematik der Gentechnologie in der Humanmedizin. Das US-Unternehmen Advanced Cell Technology (ACT), das bereits im November vergangenen Jahres mit geklonten Menschenzellen für Schlagzeilen sorgte, hat seine Forschung fortgesetzt. ... Die US-Forscher schufen aus dem DNS-Kern einer Hautzelle eines Mannes und der Eizelle einer Kuh abermals einen Embryo. ACT-Präsident Michael West ...: ‘Vielen Leuten ist nicht klar, dass es sich hier erst um Zellen handelt, die noch nichts darstellen. Es gibt keine Hände und Füße.‘ Kritiker befürchten jedoch, dass Forscher wie bei ATC und dem kalifornischen Konkurrenzunternehmen Geron heimlich beabsichtigen, sehr viel weiter zu gehen. Es gibt Experten, die damit rechnen, dass schon in zwei Jahren das erste geklonte Baby zur Welt kommen könnte. ...“ (HH A 18.06.99) In einem STERN-Interview mit dem Molekularbiologen Konrad Beyreuther über das Klonen von Menschen vertritt der Forscher die Notwendigkeit einer teilweisen Aufhebung des Klonverbotes: „... Welche Wachstumsfaktoren brauchen wir, um aus Stammzellen Organe für die Transplantation erzeugen zu können? Ohne solche »künstlichen« Organe ist der Bedarf auf Dauer nicht zu decken. Und ohne die Forschung an menschlichen Embryonen kommen wir aus diesem Problem nicht heraus. ... Etwa in 50 Jahren wird die durchschnittliche Lebenserwartung in den Industrieländern bei 100 Jahren liegen. Wenn wir bis dahin nicht gelernt haben, was wir gegen die Zerfallsprozesse im Gehirn unternehmen können, wird es für die allermeisten eine Qual sein, so alt zu werden. Und ich weigere mich, über Euthanasie als Alternative nachzudenken. Wenn wir nicht die Sklaven unserer Gene sein wollen, dann müssen wir eben die Gene versklaven.“ Professor Beyreuther bejaht die Forschung sehenden Auges, denn auf die Nachfrage des STERN, ob so nicht auch dem Klonen ganzer Menschen Tür und Tor geöffnet werde, antwortete er: „ Ich denke, es wird früher oder später passieren. Und wenn der erste Mensch nicht in Europa oder den USA geklont wird, dann eben in Indien oder China oder sonst wo. Da sollten wir uns nichts vormachen. Forschung lässt sich global nicht verbieten.“ (STERN 17.12.98) Natürlich geht die Forschung weiter: Zunächst zur Herstellung von »lebensfähigen« oder gar »lebenden Ersatzteilen«, und dann nach der in seinem Buch „Sex im 21. Jahrhundert“ geäußerten, an anderer Stelle schon mehrfach zitierten Vermutung des Evolutionsbiologen Baker in Richtung geklonter Designer-Babys. Anfang 2004 war es Forschern aus Korea erstmals gelungen, in durch leichten Druck – und nicht mittels einer Hohlnadel - entkernte Eizellen fremde Körperzellen zu implantieren und so aus den Körperzellen Kranker einem genetisch kopierten menschlichen Embryo zu erzeugen und aus dem dann nach frühestens einer Woche aus der entstandenen Blastozyste körpereigene Stammzellen zu gewinnen, was einem koreanischen Professor inzwischen bei jedem zehnten geklonten Embryo gelingt. Dazu müssen die aus 100 bis 150 Zellen bestehenden Embryos abgetötet werden. Das ist das ethische Dilemma, das sich aber nicht lösen lässt, wenn man 40 bis 50 Jahre Leiden chronisch Kranker (möglicherweise) behandeln können will, weil sich adulte Stammzellen bisher als weniger flexibel erwiesen haben. Auf diesem Weg könnten sich für jeden Patienten bei schwerer Erkrankung maßgeschneiderte körpereigene Ersatzorgane herstellen lassen, die dann nicht abgestoßen werden. Das Verfahren zum therapeutischen Klonen bei Menschen zu medizinischen Zwecken scheint jetzt sieben Jahre nach der Geburt von Dolly entwickelt zu sein, nachdem 30 Klone bis zum medizinisch wirklich spannenden Reifegrad einer Blastozyste entwickelt – und nicht wie 1998 im Vierzellstadium abgebrochen – worden waren. Erst in diesem Blastozystenstadium setzen sich die von den Medizinbiologen heiß begehrten Stammzellen ab. Es scheint nunmehr nach dem Dolly-Vorbild der Weg eröffnet, im Wege des »therapeutischen Klonens« irreparable Schäden eines Organs durch einen teilweisen oder gar kompletten Austausch zu kurieren. Damit wäre den vielen auf Ersatzteile wartenden Patienten – 2004 etwa 14.000 allein in der Bundesrepublik – geholfen, denn bisher stehen bei der geringen Spendebereitschaft der bundesrepublikanischen Bevölkerung jährlich nur ca. 4.000 (großenteils aus dem EU-Ausland über den Organverbund Eurotransplant) besorgte Spenderorgane zur Verfügung. (Die BRD ist zum Ärger der anderen Mitgliedsstaaten auf Grund des zu geringen eigenen Organinputs ein Organ-Nehmerland.) Und die Glücklichen, die nicht vorher wegsterben, bevor sie ein für sie relativ passendes Ersatzorgan erhalten, müssen ihr durch die Transplantation verlängertes Leben lang schwere Medikamentendosierungen einnehmen, um ihr Immunsystem ihr weiteres Leben lang an seiner an sich lebensschützenden Aufgabe zu hindern, körperfremde Krankheitskeime zu bekämpfen. Sie müssen durch die Einnahme von Medikamenten verhindern, dass ihr Immunsystem die

351

körperfremden Zellen abstößt. In dieser Zwangslage zwischen Skylla und Charybdis warfen die Mediziner all ihre Hoffnungen auf das »therapeutische Klonen« als Königsweg aus dieser Zwangslage. Wenn man aber anfängt nachzurechnen, stellt man fest, dass die Dolly-Methode für das therapeutische Klonen nicht der Königsweg zur Herstellung menschlicher Embryonen werden kann: Um Dolly zu klonen, brauchte es 277 Embryonen und es entstanden etwa 50 missgebildete Tiere und ein Klon, aus dem Dolly heranwuchs. Bei den Versuchen in Korea benötigte man 240 gespendete Eizellen, um einen Embryo so wachsen zu lassen, dass sich aus ihm die embryonalen Stammzellen entnehmen ließen. Für eine Stammzelltherapie auf diesem Weg bräuchte man ungeheure Mengen an Eizellen, und es wurde vorgerechnet, dass allein in Deutschland etwa 250.000 Menschen leben, die an Parkinson erkrankt sind. Um maßgeschneiderte Stammzellen zu erhalten, müsste für jeden dieser Menschen ein Klon erzeugt werden. Legt man die koreanischen Daten zu Grunde - 16 Frauen, 240 Eizellen, ein Klon - bräuchte man vier Millionen Frauen, die 60 Millionen Eier spenden, damit für jeden ein Klon mit passenden Stammzellen für eine Therapie entsteht. Aber vielleicht ist durch eine intensive Forschung inzwischen ein noch eleganterer Weg zur Gewinnung von Ersatzorganen entdeckt worden, der gleichzeitig aus dem mit der Gewinnung von Ersatzorganen verbundenen ethischen und dem physiologischen Dilemma befreit: „Neue Quelle für Stammzellen entdeckt Deutsche Forscher melden einen spektakulären Durchbruch: Die Bauchspeicheldrüse von Menschen und Ratten ist eine ergiebige Quelle für Zellen, die sich ähnlich wie die umstrittenen embryonalen Stammzellen verhalten - und diese künftig ersetzen könnten. Weltweit haben Mediziner lange vergebens nach einem Weg gesucht, an Stammzellen heranzukommen, ohne in ethische Konflikte zu geraten. In Deutschland und anderen Ländern etwa ist die Forschung mit embryonalen Stammzellen nach wie vor gesetzlich stark eingeschränkt. Deutsche Wissenschaftler wollen das Dilemma jetzt gelöst haben: Die Bauchspeicheldrüse soll künftig zum Lieferanten für Stammzellkulturen werden, die viele Eigenschaften embryonaler Stammzellen besitzen. Wie das Team des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik in St. Ingbert und der Universität Lübeck im Fachmagazin "Applied Physics A" schreibt, wurden aus dem Drüsengewebe von Menschen und Ratten adulte Stammzellen gewonnen. Sie sollen embryonalen Stammzellen kaum nachstehen, was die Vermehrbarkeit und das Potenzial zur Differenzierung in unterschiedliche Gewebetypen betrifft. "Was trotz weltweiter intensiver Suche nicht gelungen war", heißt es in einer Mitteilung der Wissenschaftler, "konnte in nur eineinhalb Jahren am Beispiel der Ratte, aber auch des Menschen wiederholt werden." Stammzellen von jedem Wirbeltier Die mit der neuen Methode gewonnenen Stammzellen - selbst solche, die vor über einem Jahr einem 74-jährigen Patienten entnommen wurden - haben sich demnach in stabilen In-Vitro-Kulturen gut entwickelt, sind leicht vermehrbar und tiefgekühlt aufzubewahren. Zudem lasse sich über Kultivierungsschritte die Differenzierung der Zellen gezielt einleiten. Die Wissenschaftler halten ihre Entdeckung für einen Durchbruch von weltweiter Bedeutung. Künftig ließen sich aus Menschen, aber auch "aus nahezu jedem Wirbeltier" unabhängig von Geschlecht und Alter "hochpotente" Stammzellen für Medizin und Biotechnologie gewinnen. Deutschland habe durch die Forschung des Teams um den Biomediziner Charli Kruse eine "Schlüsselposition in der adulten Stammzellforschung" eingenommen. Das Team schränkt allerdings ein, dass die Ergebnisse durch weitere Forschung abgesichert werden müssten. Auch eine Bestätigung durch andere Wissenschaftler steht noch aus. Mögliche Lösung ethischer Probleme Stammzellen lassen Mediziner schon seit Jahren hoffen, schwere Krankheiten zu heilen, verschlissene Organe wieder herzustellen und neue Organe züchten zu können. Jeder Organismus enthält Stammzellen, die allerdings ein unterschiedliches Entwicklungspotenzial besitzen. Adulte Stammzellen kommen in vielen Organen vor. Sie haben den Vorteil, dass aus ihnen entwickeltes Gewebe vom Körper des Patienten nicht abgestoßen wird. Die Zellen lassen sich auch in andere Zelltypen verwandeln. So wandern Stammzellen aus dem Knochenmark auf natürliche Weise in die Leber ein. Allerdings lassen sich adulte Stammzellen, deren Einsatz ethisch problemlos ist, nur begrenzt im Labor halten und vermehren. Embryonale Stammzellen haben überlegene Eigenschaften. Sie können sich nach aktuellem Wissensstand unbegrenzt weiter teilen und im Körper noch zu mehr als 200 verschiedenen Gewebesorten heranwachsen. Jedoch werden die Zellen unter anderem mit Hilfe von Embryonen

352

gewonnen, die bei einer künstlichen Befruchtung entstehen und nicht mehr für eine Schwangerschaft benötigt werden.“ (Spiegel-online 29.05.04) „Stammzellen aus der Schweißdrüse Deutsche Forscher entdecken Alternative zum umstrittenen Material aus Embryonen von Samiha Shafy Berlin - Mit pluripotenten Stammzellen hoffen Mediziner, in näherer Zukunft beschädigtes oder fehlendes menschliches Gewebe ersetzen zu können. Auf diese Weise könnten Krankheiten wie Multiple Sklerose, Parkinson oder Diabetes behandelt werden. Allerdings war es bisher nur begrenzt möglich, pluripotente Stammzellen zu isolieren, die sich im Labor vermehren und zu verschiedenen Zelltypen ausdifferenzieren lassen. Embryonale Stammzellen würden sich vermutlich dafür eignen, sind aber aus ethischen Gründen umstritten, weil für ihre Herstellung Embryonen in einem frühen Stadium zerstört werden müssen. Adulte Stammzellen hingegen ließen sich bisher zwar aus verschiedenen Körpergeweben von erwachsenen Menschen, wie etwa Knochenmark, Gehirn, Leber und auch bereits aus der Bauchspeicheldrüse, nachweisen, aber nur in beschränkten Mengen gewinnen. Zudem zweifeln Experten daran, dass sich diese Stammzellen noch vollständig in andere Zelltypen umwandeln lassen. Nun hat ein Team um den Privatdozenten Charli Kruse vom Institut für Medizinische Molekularbiologie der Universität Lübeck eine Entdeckung gemacht, welche die Stammzellenforschung einen entscheidenden Schritt weiterbringen könnte: Es ist den Forschern offenbar gelungen, adulte Stammzellen aus leicht zugänglichen, exokrinen Drüsen zu isolieren. Das sind Drüsen, die Sekrete nach außen absondern, wie etwa Speichel- und Schweißdrüsen sowie Teile der Bauchspeicheldrüse. Die Forscher isolierten Stammzellen aus dem Drüsengewebe von Ratten und Menschen, darunter auch diejenigen eines bereits 74-jährigen Mannes. Dabei konnten sie mit Hilfe von "hängenden Tropfen" als Labortechnik nachweisen, dass diese adulten Stammzellen im Labor stabil wuchsen und sich in alle Typen der drei Keimblatt-Zelllinien (Ektoderm, Mesoderm und Endoderm) ausdifferenzierten. Dies überprüften die Forscher unter anderem anhand von zellspezifischen Fluoreszenzfärbungen und Proteinmusteränderungen der Zellen bei der Differenzierung. So konnten sie sich etwa zu Nerven-, Muskel-, Knorpel- oder auch zu Drüsenzellen entwickeln. Die Ergebnisse wurden zunächst in der Online-Ausgabe des Journals "Applied Physics A" veröffentlicht und gestern auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt. Die Universität Lübeck hat bereits eine Forschungsallianz mit dem Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in St. Ingbert sowie den Max-Planck-Instituten für Biophysikalische Chemie in Göttingen und Molekulare Biomedizin in Münster abgeschlossen. Gemeinsam wollten die beteiligten Wissenschaftler jetzt die Ergebnisse weiterentwickeln und damit "die Innovationsführerschaft im Bereich der regenerativen Medizin" übernehmen, sagte Alfred X. Trautwein, Rektor der Universität Lübeck. Das Verfahren biete eine Alternative zur Verwendung embryonaler Stammzellen. Als "sehr interessant" bezeichnet Michael Cross von der Universität Leipzig die Lübecker Ergebnisse. Aber nun müssten Funktionstests die Plastifität bestätigen.“ (DIE WELT 29.05.04)

Zum Abschluss der in diesem Kapitel an einigen Beispielsbereichen untersuchten Frage, was in einer Gesellschaft als »Recht« gelten solle, sei, wie in dem vorstehenden Interview mit Professor Beyreuther schon ganz kurz angetippt, der - allein schon auf Grund unserer politischen Vergangenheit - wohl sensibelste Bereich dessen angesprochen, was bisher in der öffentlichen Diskussion tabuisiert war, sensibler noch als die Frage der Abtreibung, bei der es sich »nur« um die Tötung werdenden Lebens handelt. Noch heikler ist die Frage der durch die Mordprogramme der Nazis ("Vernichtung lebensunwerten Lebens" durch als "Euthanasie" kaschierte Ermordung rund 275.000 Geisteskranker und Behinderter) in Misskredit gebrachten Euthanasie (der im Buch "Rechtskunde - Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten" detaillierter nachgegangen wird). Der Problembereich Euthanasie oder besser, da historisch unbelastet, Sterbehilfe ist zur problemangemessenen Erörterung einerseits von der - im Gegensatz zu z.B. den USA, Kanada und Österreich - bei uns straflosen Beihilfe zur Selbsttötung abzugrenzen und andererseits zu unterscheiden in die bei uns bislang strafbare aktive (den Lebensverlöschungsprozess z.B. durch Verabreichung von Medikamenten/Gift durch einen Dritten gezielt fördernde) und die inzwischen straflos belassene passive,

353

indirekte Sterbehilfe (Aussetzung von an sich noch möglichen lebensverlängernden Maßnahmen bei Todgeweihten durch zum Tätigwerden an sich verpflichtete Ärzte), ein Unterschied, der – kaum glaublich angeblich selbst jedem zweiten Arzt nicht klar sein soll. Eine vom Bundesjustizministerium eingesetzte Arbeitsgruppe forderte 2004, dass alle Formen der passiven und indirekten Sterbehilfe straffrei gestellt werden sollten. Die 21-köpfige Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" legte nach neunmonatiger Arbeit einen Bericht vor, in dem sie eine entsprechende Ergänzung des Paragraphen 216 StGB vorschlägt. Dabei soll die Anwendung einer schmerzlindernden Maßnahme, die das Leben als "nicht beabsichtigte Nebenwirkung verkürzt", sowie "das Unterlassen oder das Beenden einer lebenserhaltenden medizinischen Maßnahme, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht", ausdrücklich straffrei gestellt werden. Die von dem früheren Vorsitzenden des Bundesgerichtshofs Klaus Kutzer geleitet Kommission empfahl zudem, dass lebensverlängernde medizinische Maßnahmen auch dann abzustellen seien, wenn die Erkrankung noch keinen tödlichen Verlauf genommen habe. Damit ging die Arbeitsgruppe über eine Einschränkung hinaus, die der BGH in einem maßgeblichen Urteil im März 2003 getroffen hatte. Als die Justizministerin Zypries diesen Vorschlag aufgriff, übten Union, Bundesärztekammer und die Deutsche Hospizstiftung scharfe Kritik an ihrem Vorschlag. Er drohe, der aktiven Sterbehilfe ein Einfallstor zu öffnen. Die Kirchen befürchteten darin eine Annäherung an die in den Niederlanden und Belgien praktizierten Euthanasie-Regelungen. "Das Tötungsverbot, also die Unantastbarkeit des Lebens eines anderen Menschen, steht auch einer Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid strikt entgegen", hieß es in einer gemeinsamen Stellungnahme der evangelischen und katholischen Kirche. Die Kritiker der aktuellen Kommissionsvorschläge sehen diese als Einfallstor in Richtung der in den Niederlanden geltenden Regelungen, etwa dann, wenn Schwerstkranke künftig "terminal sediert" würden. Die Kommission betont hingegen, man sei sich einig, dass die Tötung auf Verlangen - also aktive Sterbehilfe und Euthanasie - "weiterhin strafbar bleiben muss, um den Schutz des hohen Rechtsgutes Leben zu gewährleisten". Die Euthanasie (von gr.: eu-thanatos = sanfter Tod) ist von der Idee her die Erleichterung des Endes eines mit Sicherheit und auf qualvolle Weise verlöschenden Menschenlebens. Wer aus dem Mitleid heraus, mit dem man ein sich zum Tod hin quälendes Tier - in unserer Gesellschaft sozial anerkannt - von seiner Pein erlösen würde, wer aus dem gleichen Mitleiden heraus gegenüber der sich zum Tode hin quälenden Kreatur Mensch der z.T. sehr verständlichen Bitte eines Todgeweihten nachkommt71, ihn von seinen Qualen zu erlösen, der macht sich strafbar gemäß "§ 216 (StGB) Tötung auf Verlangen (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. ..." Barmherzigkeit, Mitleid und Mut zeigte z.B. der Beifahrer eines schwedischen Truckers, der den hinter dem Steuer seines verunglückten, brennenden Tanklastzuges unrettbar eingeklemmten Fahrer auf dessen flehentliche Bitte hin, ihn nicht lebendigen Leibes bei vollem Bewusstsein verbrennen zu lassen, sondern ihn zu erschlagen, mit einer Axt tötete. Das Handeln des Beifahrers fand gnädige Richter: Er wurde nicht verurteilt. Der Problemkreis Euthanasie müsste kaum erörtert werden, wenn er auf solche extremsten Fälle beschränkt bleiben würde. Sterben müssen wir alle, anders ist Leben nicht denkbar; aber elendig so krepieren, wie man es seinem geliebten Haustier immer ersparen würde? Es ist bei der ständig zunehmenden Vergreisung unserer Bevölkerung abzusehen, dass die Euthanasie ein Massenproblem werden wird. Die Niederländer, von ihrer jüngeren Geschichte nicht so geschlagen wie wir Deutschen, hatten begonnen, das Problem durch eine vom Parlament eingeleitete Strafrechtsreform zu lösen. Ausgangspunkt war der bekannt gewordene Fall gewesen, dass 1973 eine Ärztin ihrer todkranken Mutter eine Überdosis Morphium gespritzt hatte, um sie – vorzeitig – zu erlösen. Weil dafür nach der damaligen Gesetzeslage eine Strafe ausgesprochen werden musste, die Richter aber in diesem Fall nicht hinter der vom Gesetz geforderten Strafe standen, war die Ärztin daraufhin von den zuständigen Richtern mit einer Woche Haft, die darüber hinaus zur Bewährung ausgesetzt wurde, (nur noch symbolisch) "bestraft“ worden. Ziel des nach 20-jähriger öffentlicher Diskussion – Sterbehilfe: Segen oder Fluch? - abgeschlossenen Gesetzgebungsvorhabens war es gewesen, aktive Sterbehilfe als eine "normale ärztliche Handlungsweise" zu werten. Das ist aber zunächst nicht gelungen. Tötung auf Verlangen blieb auch in den Niederlanden weiterhin in jeder Art eine durch eine entsprechende Strafnorm mit bis zu 12 Jahren Gefängnis strafbedrohte Straftat, wurde 71

Fälle dazu siehe Scharnweber, Hans-Uwe: Rechtskunde - Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten

354

ab 1993 aber ausnahmsweise dann nicht mehr von der Staatsanwaltschaft verfolgt, wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen auf wiederholten ernstlichen Wunsch eines Todgeweihten vorgenommen, im Geschehensablauf von zwei Ärzten protokolliert und unter Vorlage der Protokolle den gerichtsmedizinischen Instituten angezeigt worden war. Ab 01.04.02 gilt in den Niederlanden als dem ersten Land der Welt nunmehr ein Gesetz, das unter (den schon bisherigen) einschränkenden Voraussetzungen aktive Sterbehilfe durch Ärzte für Personen ab 16 Jahren erlaubt; wer jünger ist, braucht die Zustimmung seiner Eltern. (Von daher gesehen sind einige Fakten in den nachfolgend widergegebenen Zeitungsmeldungen für die Niederlande überholt. Aber für die anderen Länder – bis auf Belgien, das angelehnt an die Gesetzeslage in den Niederlanden im selben Jahr eine entsprechende Regelung in Kraft setzte - bleibt die Problemlage aktuell!) Man ging zunächst davon aus, dass in den Niederlanden jährlich über 3.000 todkranke Menschen (2,5 % der jährlich 130.000 Sterbenden) die Hilfsmöglichkeit der Euthanasie zum erleichterten Sterben in der Endphase des Lebens in Anspruch nehmen würden. Nach dem „Remmelink Report“ des Generalstaatsanwaltes am Obersten Gericht in Den Haag wurden im Berichtsjahr 1990 3.300 Menschen durch Injektionen oder durch Überdosen von Medikamenten getötet, davon ein Drittel ohne ihre Einwilligung und ohne Wissen der Angehörigen (SPIEGEL 19.07.04). 90 % waren Krebspatienten. In 38 % der Fälle töteten die Mediziner auch deswegen, weil die Nächsten das Elend des Sterbens nicht ertragen konnten (SPIEGEL 19.07.04) – oder den Angehörigen das Sterben ihres Angehörigen zu lästig gefallen war: Es wurde von dem Amsterdamer Kriminologen Rutenfrans auf einem Kongress in Erlangen auch der Fall eines Mannes berichtet, der seinen Arzt „aus familiären Gründen“ gebeten hatte, ihn umzubringen. „Der Arzt hatte keine Bedenken, das Leben des Mannes zu beenden. Obwohl er wusste, dass die Ehefrau den Kranken, weil sie ihn nicht mehr pflegen wollte, vor die Wahl gestellt hatte, entweder ins Pflegeheim zu gehen oder sich umzubringen“ (SPIEGEL 19.07.04). An eine solche Verwilderung der Ethik hatte man nicht geglaubt, als man aus Humanitätsgründen die Möglichkeit der Euthanasie für Sterbende schuf, um ihnen den oft mit unerträglichen Schmerzen verbundenen Prozess des Sterbens zu erleichtern. Kaum einer will in seiner letzten Lebensphase u.a. deswegen zu einem schmerzgepeinigten Klumpen komatöser Biomasse herabgewürdigt werden, weil er - und mit ihm neun Zehntel der Patienten - nicht die Dosis Schmerzmittel erhält, die er bis zu seinem relativ schmerzfreien Ableben benötigt!

"Bringen Sie mich um, Herr Doktor! Holländische Ärzte dürfen Sterbenskranken auf Wunsch eine tödliche Spritze geben. In Deutschland fordern vor allem Alte ein Recht auf den Gnadentod. ... Holland ist der einzige Staat der Welt, in dem aktive Sterbehilfe durch Ärzte nicht mehr strafrechtlich verfolgt wird, obwohl sie nach dem Gesetz noch mit Gefängnis bedroht ist. Zwar müssen die monatlich knapp 200 Fälle gegenüber der Staatsanwaltschaft protokolliert werden, aber die Anklagebehörde verzichtet auf Verfolgung, wenn zwei Ärzte bestätigen, daß die Tötung auf den bei klarem Bewußtsein geäußerten wiederholten Wunsch eines Todkranken erfolgte. Der Patient muß sich seines Zustandes voll bewusst sein, sein Leiden unerträglich, die Krankheit unheilbar, ihr tödlicher Verlauf unabwendbar. »Allein die Gewißheit, notfalls mit Sterbehilfe rechnen zu können« sagt Dr. Lide Jaminsk aus Enschede, »gibt den Kranken eine ungeheure Stärke - die meisten sterben dann ohne Euthanasie von ganz allein.« ... Heute werfen sich in der Bundesrepublik Befürworter und Gegner einer Euthanasie an Todkranken gegenseitig Menschenverachtung vor. Die einen malen etwa aus, wie immer mehr Menschen mit den Apparaturen der modernen Hochleistungsmedizin am Ende ihrer Tage gegen ihren erklärten Willen statt länger am Leben nur noch unter Qualen länger am Sterben gehalten werden. Da werde der Tod zum Freund, der Arzt zum Feind. Die anderen argwöhnen, der Euthanasie-Begriff solle erneut als Vorwand für Massenmord dienen. Statt alte Menschen zu pflegen, wolle man sie »entsorgen« damit sie nicht länger Kosten verursachen und Wohnraum blockieren. Befürworter einer freiwilligen Euthanasie fordern es als ein Freiheitsrecht des Menschen, den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmen zu dürfen. ... Massiv gegen aktive Euthanasie richtet sich ein in Bayern veröffentlichtes »Kinsauer Manifest«. 194 vorwiegend süddeutsche Ärzte, Juristen, Philosophen, Politiker und Naturwissenschaftler warnen darin: »Ist die Tötung auf Verlangen erst einmal legalisiert und gesellschaftlich akzeptiert, dann hat auch der, der nicht freiwillig aus dem Leben geht, die Last zu verantworten, die sein Leben

355

für andere bedeutet. Es wird bald zur gesellschaftlichen Pflicht jedes dauerhaft Pflegebedürftigen, die Umwelt von der Last seiner Pflege zu befreien, indem er um Tötung ersucht.« Hochgeschaukelt wird die Diskussion durch das deutsche Dilemma einer Endzeitgesellschaft mit zurückgehenden Geburtenraten und steigendem Anteil an Greisen. Immer weniger Junge müssen für immer mehr Alte sorgen. Die Rentenanstalten erwarten deswegen bis zum Jahr 2015 ein Ansteigen der Sozialversicherungsbeiträge auf 45 Prozent des Bruttolohnes. Schon sagt das Zeitgeist Magazin »Wiener« eine Kündigung des Generationenvertrages voraus, der bislang die Jüngeren zur Versorgung der Ruheständler verpflichtete. Vor diesem Hintergrund erhält die natürliche Angst älterer Menschen vor einem langen Sterben eine neue düstere Dimension. Sie müssen nun fürchten, im hohen Alter außer sich selbst auch noch den eigenen Nachkommen eine unzumutbare Last zu sein. ... ... Von 9.000 bundesdeutschen Freitodfällen betraf jeder dritte Menschen im Alter von 60 Jahren und mehr. Kaum noch zu überbieten ist das Grauen, wenn Todkranke durch körperliches Elend selbst zum Suizid nicht mehr in der Lage sind und mangels eines hilfsbereiten Arztes die eigene Familie zur Sterbehilfe zwingen. ... Um Todkranken in ähnlichen Fällen die Chance auf Sterbehilfe durch einen Arzt rechtlich zu ermöglichen, formulierte 1986 eine Gruppe deutscher Strafrechts- und Medizinprofessoren einen »Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe«. Wie in Holland praktiziert, sollte deutschen Ärzten beispielsweise erlaubt werden, einem Krebskranken im finalen Stadium auf dessen Wunsch hin das Sterben durch eine tödliche Injektion zu verkürzen. Aber die beabsichtigte Reform scheiterte bereits in den Rechtsausschüssen des Bundestages. ... Schließlich gibt es neben der in Holland praktizierten aktiven Euthanasie noch die passive Sterbehilfe, die nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes von 1991 deutschen Ärzten im Gegensatz zum »gezielten Töten« auf den erklärten oder mutmaßlichen Wunsch des Patienten durchaus erlaubt ist - »durch die Nichteinleitung oder den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen«. In der Praxis sind die Grenzen zwischen aktiver und passiver Euthanasie fließend. Es hängt von der Risikobereitschaft und mitunter auch von der Konfession eines Arztes ab, inwieweit er dem Flehen eines Todkranken nachgibt. ... Den Vorwurf mancher Kirchenväter, durch eine aktive Sterbehilfe pfusche der Arzt Gott ins Handwerk, kontert der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard mit dem Hinweis, dann würden die Ärzte umgekehrt Gott ja auch ins Handwerk pfuschen, wenn sie ein Antibiotikum verabreichten, um den Tod abzuwenden. ..." (STERN 14.05.92) "Ja zur Sterbehilfe dpa Hamburg - In den Niederlanden leisten 54 Prozent der Ärzte Sterbehilfe. Weitere acht Prozent verweigern die Lebensverkürzung, verweisen die Patienten jedoch an Kollegen. ..." (HH A 24.09.91) Mit einer gesetzlichen Neuregelung Ende 2000 wurde Euthanasie in den Niederlanden ab 2001 unter bestimmten Voraussetzungen, die den bisherigen zur Straflosigkeit der aktiven Sterbehilfe geführt habenden entsprechen, legalisiert - was die aus den Reihen der christlichen Parteien stammenden Gegner dieser mit überwältigender parlamentarischer Mehrheit beschlossenen gesetzlichen Neuregelung mit den Worten geißeln: Durch diese Neuregelung werde medizinische Fürsorge nunmehr durch Totschlag ersetzt. Aus den Niederlanden sind tatsächlich laut WELT vom 11.06.04 hohe Missbrauchsraten bekannt geworden: Im Jahr 2001 wurden neun Prozent von 9.700 Menschen medizinisch getötet, ohne dass sie dies verlangt hatten. Und der Staatsanwalt erfährt, entgegen den Bestimmungen, nur von gut der Hälfte der Fälle, da immer weniger Euthanasieärzte ihrer Meldepflicht nachkommen und der Staat die Kontrolle eingestellt hat. Anders stellte es daraufhin in derselben Zeitung - wohl als Reaktion auf den vorgenannten Beitrag - eine Woche später ein Niederländer dar: „Die Sterbehilfe regt in den Niederlanden kaum noch jemanden auf Seit das "Gesetz zur Euthanasie" in Kraft ist, sinkt die Zahl der Patienten, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen - Die Dunkelziffer soll allerdings höher liegen

356

von Ad Vaessen Rotterdam - "War es Euthanasie?" Diese Frage stellten sich viele Holländer, als sie vom Ableben des niederländischen Sozialdemokraten Johan Stekelenburg erfuhren, der schwer vom Krebs gezeichnet war. Niemand nahm Anstoß daran, dass der Spitzenpolitiker, der zuvor noch als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten gehandelt worden war, so aus dem Leben schied. Seit etwas mehr als zwei Jahren ist in den Niederlanden ein Gesetz in Kraft, das Sterbehilfe, also Euthanasie, zulässt. Anders als die Deutschen, gehen die Holländer weitgehend unbefangen mit diesem Wort um. Für sie hat es nichts Belastendes. Kommende Woche wird sich eine Bundestagsdelegation von den Abgeordneten der niederländischen "Tweede Kamer" in Den Haag detailliert über die holländische Sterbehilfe informieren lassen. Dann werden sie oft den Begriff "Euthanasie" hören. Vielleicht fahren sie am Ende beruhigt nach Hause. Denn in der holländischen Sterbehilfe ist das Horrorszenario ausgeblieben, das viele Kritiker an die Wand malten. Das Euthanasie-Gesetz hat nicht zum befürchteten Sterbetourismus geführt, weil es Sterbehilfe bei Patienten aus dem Ausland verbietet. Auch weiß kaum ein Beobachter aus den Nachbarländern, dass die Fälle der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden zurückgehen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums nahmen im letzten Jahr 1815 Menschen die Sterbehilfe in Anspruch (darunter waren 1626 Euthanasie-Fälle, 148 Menschen, denen beim Suizid geholfen wurde, und 41 Personen, die durch eine Kombination aus Euthanasie und Suizid ihr Leben verloren). 2002 lag die Gesamtzahl noch bei 1882 Fällen. Ein Jahr früher, also vor der Einführung des Gesetzes, betrug diese Zahl 2054 und im Jahr 2000 sogar 2123. Keiner kann sich genau erklären, warum die Zahlen zurückgehen. Zwar gaben sie Anlass zu Spekulationen, eine erregte Debatte aber entflammte nicht. Selbst die Partei des Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende, die Schwesterpartei der CDU, stellt das Gesetz nicht mehr infrage. "Wir haben dagegengestimmt, aber jetzt, da es ein Gesetz gibt, kann man es nicht wieder abschaffen. Wir spielen hier kein Jo-Jo", stellt der Abgeordnete Henk Jan Ormel (CDA) fest. Ormel fordert allerdings, dass die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. Der Parlamentarier fürchtet, dass die Dunkelziffer erheblich höher liegt. Aus Daten des Ärztebundes gehe hervor, dass die Anzahl der Euthanasiefälle sogar fast doppelt so hoch sei wie angegeben. "Wir sind besorgt", so Ormel. "Was steckt hinter der Abnahme der Zahl der Euthanasiefälle. Wurde weniger Sterbehilfe beantragt? Oder wird Euthanasie betrieben, ohne dass eine Meldung erstattet wird, wie gesetzlich vorgesehen?" Inzwischen hat das niederländische Gesundheitsministerium eine Untersuchung angekündigt. Geht alles seinen legalen Gang, ist es in den Niederlanden nicht so einfach, Sterbehilfe zu leisten. Niemand hat ein Recht auf Euthanasie. Auch ist der Arzt nicht verpflichtet, dem Kranken sein Ende durch den Tod zu erleichtern. Nach wie vor sieht das Gesetz die Strafbarkeit bei aktiver Sterbehilfe vor. In diesem Sinne unterscheidet sich die holländische Rechtslage nicht von der deutschen. Die Höchststrafe bei Missbrauch liegt in den Niederlanden sogar höher als in Deutschland. Sterbehilfe ist nur dann straflos, wenn die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. So darf die Initiative nur vom Patienten ausgehen. Er muss seine Bitte freiwillig und nach reichlicher Überlegung äußern. Sein Leiden muss unerträglich sein, sein Zustand aussichtslos. Wenn Patient und Arzt gemeinsam zu der Meinung gelangen, dass es keine Heilung mehr gibt, muss der Arzt einen zweiten Kollegen hinzuziehen. Der prüft seinerseits die Lage und fertigt ein Protokoll an. Eine regionale Prüfungsbehörde - bestehend aus einem Juristen, einem Arzt und einem Ethiker, die vom Justiz- und Gesundheitsministerium berufen werden - untersucht jeden Fall. Wird nicht gesetzeskonform gehandelt, wird sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Von den rund 1800 untersuchten Meldungen im Jahr 2003 wurden acht als Problemfälle deklariert. So wurde in einem Fall zur Sterbehilfe geraten, bevor ein zweiter Arzt den Patienten tatsächlich untersucht hatte. Bei den meisten Fällen handelte es sich aber um Krebskranke, die nicht mehr zu heilen waren. 1477 der 1815 Patienten starben zu Hause, 207 in Krankenhäusern, 47 in Pflegeheimen, der Rest teilweise in Hospizen oder bei Angehörigen. Natürlich verlief die Debatte über das Gesetz zur Sterbehilfe nicht einhellig. Den härtesten Widerstand leisteten zwei extrem-religiöse Parteien, die SGP und Christen-Unie. Allerdings handelt es sich dabei um kleine Parteien, die zusammen nur über fünf der 150 Parlamentssitze verfügen. Wegen ihrer oft reaktionären Ansichten werden sie in den Niederlanden oft als "Kleine Rechte" bezeichnet. In ihrem orthodox-protestantischen Milieu sind noch immer keine Fernseher erlaubt. Frauen dürfen keine Hosen tragen.

357

Im nächsten Jahr wird das Gesetz zur Sterbehilfe routinemäßig überprüft und möglicherweise auch modifiziert - wenn CDA und die kleinen christlichen Parteien sich durchsetzen können. Die Debatte geht also weiter. Ihre Teilnehmer sind darauf bedacht, sie so besonnen wie möglich zu führen - mit großem Erfolg. Ad Vaessen war bis 2003 Deutschlandkorrespondent des "Algemeen Dagblad". Heute arbeitet er als Chef der Wirtschaftsredaktion wieder in der niederländischen Zentrale des Blattes.“ (DIE WELT 18.06.04) Die katholische Kirche spricht, wie nicht anders zu erwarten, von einer „Kultur des Todes“. An dieser Argumentation scheint etwas dran zu sein: Laut SPIEGEL-Bericht (23.06.03) sei ein Gradmesser für die Qualität der Schmerztherapie an Todkranken der Morphiumverbrauch: „Um alle Schmerzen ausreichend zu lindern, müssten die Ärzte 80 Kilogramm pro eine Million Einwohner verschreiben. In Dänemark sind es derzeit 69 Kilogramm, in Frankreich 35, in Deutschland 18, Tendenz steigend, immerhin. In den Niederlanden seit Jahren unverändert: 10 Kilogramm.“ Schaut man diese Daten an, drängt sich der Eindruck auf, dass durch die in den Niederlanden praktizierte Art der aktiven Sterbehilfe Mängel in der schmerzlindernden Palliativmedizin für Sterbende »behoben« werden! Als Belgien 2002 eine an die niederländische Regelung angelehnte gesetzliche Möglichkeit zur Euthanasie Sterbenskranker verabschiedete, gehörte selbstverständlich u.a. die katholische Kirche mit dem Vlaamsblock zu den Gegnern der neuen Regelung. In Deutschland kann weiterhin der Tod zum Freund, der Arzt aber immer noch zum Feind werden: „Warum musste mein Sohn so unwürdig sterben? Ein eindeutiges Patiententestament lag vor. Trotzdem wurde der 66-Jährige nach seinem dritten Herzinfarkt reanimiert. Er lag dann fast zwei Jahre im Koma. ’Sein Sterben war unmenschlich, eine Folter’, beklagt Gabi D. Was ich in den letzten Monaten durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Ich habe mit ansehen müssen, wie unwürdig mein Stiefsohn dahin siechen musste. Ich bin sicher, dass das viele Menschen ergreifen und vielleicht zu heftigen Diskussionen führen wird. Ich hoffe es – für uns alle, die das Sterben noch vor sich haben. Mein Stiefsohn (66 Jahre) hatte in den letzten Jahren zwei Herzinfarkte und bekam vier Bypässe. Bei seinem dritten Herzinfarkt lag er eine halbe Stunde ohne Sauerstoffzufuhr. Trotz eines eindeutigen Patiententestaments wurde er reanimiert. Danach lag er fast zwei Jahre im Koma, sein Stammhirn war zerstört. Vor sieben Wochen erwirkte seine Frau eine richterliche Verfügung, wonach die Ernährung abzustellen sei. Diese Anordnung wurde befolgt. Als mein Sohn nach vier Wochen immer noch lebte, wurde auch die Flüssigkeitszufuhr abgestellt. Es dauerte zwei Wochen, bis er sterben konnte. Sein Aussehen glich dem einer ägyptischen Mumie. Ich habe nicht gewusst, was Menschen Menschen antun können – mit richterlichem Beschluss. Jeder Verbrecher, der zum Tode verurteilt wird, hat das Recht auf einen humanen Tod! Jedes Tier, das todkrank ist, bekommt eine Gnadenspritze! Wenn ich ein Tier sechs Wochen lang verhungern und verdursten lasse, muss ich ins Gefängnis. Aber mit einem Menschen, der ohne Schuld ist, darf man das ungestraft tun! Was ist das für ein Gesetz, das so etwas zulässt? Es ist das Unmenschlichste, von dem ich je gehört habe, eine grausame Folter. Wozu ist eigentlich ein Patiententestament gut? Gabi D. (71)” (Leserbrief im HH A 23.11.02) Aus solchen Gründen wurde 2005 in der Bundesrepublik Deutschland ein weiterer Anlauf unternommen, eine tragbare und akzeptierte Regelung für dieses äußerst sensible Gebiet zu finden und zu beschließen. Als ein erster Schritt sollte Patientenverfügungen ein größeres rechtlich bindendes Gewicht zugemessen werden. Aber manche Bundestagsabgeordneten sind bereit, noch weiter zu gehen: Politiker wollen Sterbehilfe erleichtern Berlin - Politiker von SPD und FDP haben vor der für heute angesetzten Bundestagsdebatte über Patientenverfügungen gefordert, die Sterbehilfe zu erleichtern. Nach einem Pressebericht schlägt der Bundestagsabgeordnete Rolf Stöckel (SPD) vor, Schwerkranken nach Schweizer Vorbild einen ärztlich assistierten Suizid zu erlauben. "Ich nehme einfach zur Kenntnis, daß sehr viele schwer erkrankte Patienten aus Deutschland diese Regelung nutzen", sagte Stöckel. In der Schweiz wird ein

358

tödliches Mittel in Gegenwart eines Arztes eingenommen. Der FDP-Obmann der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin", Michael Kauch, plädierte dafür, dem Schwerkranken das von einem Arzt verschriebene tödliche Medikament mit nach Hause zu geben, wie es im US-Bundesstaat Oregon praktiziert werde. Eine Patientenverfügung dokumentiert vorab den Willen des Betreffenden für den Fall, daß dieser sich als Schwerkranker oder nach einem Unfall nicht mehr selbst äußern kann. Eine zentrale Frage ist die nach lebenserhaltenden Maßnahmen bei Todkranken. Die Union übte Kritik an den Gesetzesplänen zur Patientenverfügung von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD). dpa (HH A 10.03.05)

Die Grenze des selbstbestimmten Todes ist aber in den Niederlanden auch schon überschritten worden, als Richter 1995 die „Euthanasie“ eines todkranken Säuglings und 1999 die Sterbehilfe für einen AlzheimerPatienten sanktionierten! „Die Gewissheit, auf Wunsch schmerzlos und in Frieden sterben zu können, bezahlen die Holländer mit dem Risiko, ungefragt von einem Arzt umgebracht zu werden. … Deshalb tragen viele eine ’Credo Card’ in der Brieftasche, auf der ihr Lebenswunsch eingestanzt ist, oder schlicht einen Zettel mit der Bitte: ’Maak mij niet dood, Dokter’. Die Angst ist berechtigt. Viele Ärzte fragen nicht mehr, ob es dem Patienten recht ist, wenn sie ihn mit einer Spritze oder mit Medikamenten ins Jenseits befördern. … Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität München, Wolfgang Eisenmenger, und der Münchner Medizinethiker Fuat Oduncu, der die darwinistischen Zustände in niederländischen Kliniken vor Ort besichtigt hat, zogen in einem gemeinsame verfassten Aufsatz aus dem Ergebnis der Umfrage ein harsches Resümee: In den Niederlanden werde unter dem Deckmantel der Euthanasie ’rechtswidrig getötet oder ermordet’“ (SPIEGEL 19.07.04). Der Grund besteht darin, dass nicht mehr der Staat durch seine Staatsanwälte die Tötungen kontrolliert, sondern ein Ärztekonsortium, das Verstöße gegen die erlassenen gesetzlichen Bestimmungen so gut wie gar nicht anzeigt. Die Staat geht – wie sich inzwischen herausgestellt hat: fälschlicherweise - davon aus, dass Ärzte ihre Lizenz zum Töten nur im Einklang mit dem Gesetz ausüben werden. So werden schon mal Todkranke vorsorglich(!) »abgespritzt«, wenn die Gefahr besteht, dass der Sterbende sich mit seinem Sterben nicht beeilt und die schon gebuchte bezahlte Urlaubsreise der Familie gefährden würde (SPIEGEL 19.07.04). Es geht also doch oft um „sozialverträgliches Frühableben“ (Unwort des Jahres 1998) als »Pflicht« des Sterbenden, ein Ausdruck, mit dem der Ärztekammerpräsident Vilmar diese von ihm damals zunächst nur befürchtete Praxis geißeln wollte und wofür er so arg gescholten wurde, dass er sein Amt zur Verfügung stellen musste!

2.8.19.2 Gesellschaftliche Umbrüche sind immer auch gravierende Umbrüche im Rechtssystem Die vorstehenden Beispiele gaben einen aktuellen Einblick darein, dass in einer Gesellschaft - meist nur in wechselnden einzelnen Teilbereichen - ständig umkämpft ist, was in ihr als »Recht« angesehen werden soll. Es waren aber keine Beispiele großer gesellschaftlicher Umbrüche. Den haben in jüngster Zeit nur unsere ostdeutschen Landsleute als radikalen Einschnitt erlebt - viele Westdeutsche berührte dieser Umbruch schon nach kurzer Zeit nicht mehr sonderlich: Engagierte ostdeutsche Protestierer vor dem Fall der Mauer: „Wir sind ein Volk!“ Von Zynikern behauptete Antwort Westdeutscher nach dem Mauerfall: „Wir auch!“ Oder: „Ich will meine Mauer wiederhaben, und dieses Mal drei Meter höher!“

359

Gesellsc haftliche Umbrüch e sind immer auch gravieren de Umbrüch e im Rechtssy stem

Nach diesem Umbruch fand in der ostdeutschen Gesellschaft kein Kampf darüber statt, was jetzt als »Recht« gelten solle. Es war durch den erstrebten Anschluss selbstverständlich und bis auf die anstehende Neuregelung des § 218 StGB ganz fraglos das Recht der Bundesrepublik. Warum hätte es auch anders sein sollen: Die Rechtsordnung der Bundesrepublik unter der Geltung des Grundgesetzes ist die freiheitlichste Rechtsordnung, die es je in Deutschland gab! Das ist ein höchstrangig schützenswertes Gut, auch wenn es viele durch die wirtschaftliche Entwicklung enttäuschte Ostdeutsche (noch) nicht zu schätzen wissen, wie es durch den Ausspruch der ostdeutschen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: "Wir wollten Gerechtigkeit - und erhielten den Rechtsstaat." - und die für einen Demokraten unverständlich hohen Protestwahlstimmen der Ostalgiker für die Erbengemeinschaft der Unterdrückungspartei, die von SED in PDS umbenannte Partei der von sich so geglaubten „Vereinigungsverlierer“ oder der Unverbesserlichen - deutlich wird. „Rechtsstaat ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie ist, dass nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern“, meinte einer unserer bedeutendsten Juristen, Gustav Radbruch. Nur auf dem Fundament des Rechtsstaates ist der Versuch möglich, Gerechtigkeit anzustreben; oft lässt sie sich aber nicht erreichen. „Absolute Gerechtigkeit ist sicher unmöglich; möglich ist aber, im Einzelfall gerecht zu sein“ (Michael Spachtholz). Das zeichnet einen Rechtsstaat aus. Frau Bohley und ihre Gesinnungsgenossen aber sehnen sich nach dem Paradies. Um zu verstehen, was die Änderung nicht nur einzelner Gesetze, sondern einer ganzen geltenden Rechtsordnung für die Menschen innerhalb einer solchen Gesellschaft für einen historischen Umbruch bedeuten kann, müssen wir etwas in der Geschichte zurückgehen. Als historisches und darum uns Heutige weniger aufwühlendes Beispiel für die Erkenntnis, dass innerhalb jeder Gesellschaft ständig darum gerungen wird, was »Recht« sein und durch Gesetze verwirklicht oder geschützt werden soll und welche umwälzenden Auswirkungen auf eine Gesellschaft die Änderung ihres »Rechts« nach sich ziehen kann, soll uns zunächst ein Blick auf die Zustände vor, während und nach der Französischen Revolution dienen: Vor der Revolution herrschte der König im Absolutismus uneingeschränkt, der Adel und die Kirche hatten unverdiente Vorrechte wie z.B. weitestgehende Steuerfreiheit und Standesgerichte, in denen nur ihresgleichen über Standesangehörige verständnisvoll zu Gericht saßen. Die große Masse war recht- und besitzlos. Das empfanden die Herrschenden und Begünstigten als gottgewollt, damit als durch die höchste Autorität abgesegnet und somit gerecht. Sie stützten dabei aber ihre aus dem königlichen Gottesgnadentum abgeleitete Standesherrschaft auf ein System juristisch und sozial zementierter Unterdrückung und waren von ihrer politischen Einsichtsfähigkeit her unfähig und daher unwillig zu notwendigen Reformen, mit denen der starre Absolutismus wenigstens in einen erträglicheren aufgeklärten Absolutismus hätte umgewandelt werden können. Während der Anfangsphase der Französischen Revolution wurden nun in einer kopernikanischen Wende des bis dahin geltenden Rechtssystems zum ersten Male in Europa die großen Freiheitsideen verkündet und - zunächst nur teilweise: unter Ausgrenzung u.a. der Gleichberechtigungsproblematik und der Frage der Sklaverei umgesetzt, die die westliche - und inzwischen auch die östliche - Staatenwelt bis auf den heutigen Tag mit ihren Freiheitsrechten prägten. Über Nacht wurde im Zuge der Revolution durch eine unheilige Allianz der aufkommenden neuen politischen Elite mit dem leicht aufhetzbaren Pöbel der Straßen mit revolutionärer staatlicher Macht etwas ganz anderes als »Recht« durchgesetzt als das, was vorher als »Recht« gegolten hatte. Doch das ist bei Revolutionen immer so. Leider wird aber durch eine Revolution nicht immer an Stelle einer vorherigen ungerechten Ordnung eine gerechtere installiert. Oft wird eine ungerechte Ordnung durch eine andere ungerechte Ordnung abgelöst, die die Masse der Bevölkerung noch mehr bedrücken kann, als es der Fall war, als die alte Ordnung noch nicht durch die Revolution auf den Misthaufen der Geschichte geworfen worden war. So auch in der Französischen Revolution mit ihrem Blutrausch der Emporkömmlinge. Die Henker konnten den als Gegnern der neuen Ordnung Denunzierten gar nicht schnell genug die Köpfe abschlagen. Es musste zwar erst noch von dem französischen Arzt Guillotin drei Monate nach Beginn der Revolution am 10.10.1789 die Einführung einer »menschenwürdigeren«(?), humaneren Form der Todesstrafe in der Nationalversammlung gefordert und durch den Chirurgen Louis das nach englischen und deutschen Vorbildern verbesserte Fallbeil konstruiert und 1792 der Öffentlichkeit vorgestellt werden, um Frankreich nach dem Willen Robespierres für seine Gegner mit Hilfe der Guillotine in einen „Leichenacker“ verwandeln zu können. „Verruchtes Blut der Acker sauf’!“, heißt es in der in den Revolutionskämpfen gedichteten und noch heute so gesungenen französischen Nationalhymne. Am Ende der Revolution waren die Massen fast genauso recht- und besitzlos wie vor ihrem Beginn. Nur das männliche gehobene Bürgertum hatte von den neuen Freiheitsrechten profitiert, nicht aber die Frauen, die einfachen Bauern und Tagelöhner und damit die Mehrheit der Bevölkerung. Die Sklaverei in den französischen Kolonien war trotz des Revolutionsmottos: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" von der Nationalversammlung ausdrücklich legalisiert worden. Im April 1793 erklärte der Konvent, dass "Kinder, Irre, Minderjährige, Frauen

360

und Kriminelle" kein Bürgerrecht genössen. Die Regierung war der Meinung, dass "Frauen weder die moralische, noch die körperliche Kraft hätten, Bürgerrechte auszuüben." 1795 wurden Frauen von politischen Versammlungen ausgesperrt. Bis eines der zentralen Versprechen der Anfangszeit der Französischen Revolution, das Wahlrecht für Frauen, in Frankreich eingeführt wurde, dauerte es bis 1944; in Deutschland wegen des mit dem verlorenen Ersten Weltkrieges einhergehenden Umbruchs - "nur" bis 1918.

2.8.19.3 Aus u.a. Gerechtigkeitsstreben heraus entstandene Revolutionen installieren oft ein neues Unrechtssystem Revolution en installieren oft ein neues Unrechtssy stem

Die Installierung ungerechter nachrevolutionärer Ordnungen durch dominierende Revolutionskräfte, die die Verwirklichung einer "gerechten" Gesellschaftsordnung auf ihre Fahnen geschrieben hatten, geht durch die Geschichte: Die kommunistische Revolution in Russland löste das zaristische Unrechtsregime, mit u.a. Leibeigenschaft, ab und installierte dafür bis in Gorbatschows Zeit ihr Unrechtsregime mit Nervenkliniken für politisch Unliebsame, Straflager à la Archipel Gulag (die unter Putin in „Kolonien“ umbenannt wurden, weil sich das so besser anhört) mit 18 "Fütterungsgraden" für die zu "Laboratoriums-Ratten" degradierten Häftlinge, die durch ein ausgeklügeltes System von Nahrungsentzug willfährig gemacht werden sollten, gesetzlos handelnder Geheimpolizei KGB, Verweigerung demokratischer Freiheiten, in politischen Prozessen Missachtung jeder Rechtssicherheit. Das war Ausfluss des von Parteiideologen interpretierten »Rechts« der Arbeiterklasse, dem in anderen von der kommunistischen Ideologie vergewaltigten Staaten von den Parteibonzen applaudiert und nachgeeifert worden war, denn "Die Partei, die Partei hat immer Recht". In Persien ist durch die islamische Revolution des Ajatollah Khomeini das blutige Folterregime des Schahs hinweggefegt und danach eine - selbst nach Meinung führender Politiker aus der Anfangsphase der Revolution noch blutigere Herrschaft im Namen Allahs unter der Geltung des "göttlichen Rechts" der Scharia errichtet worden. Es ergingen seitdem zehntausende von Todesurteilen, zum Teil durch Steinigungen, wobei gesetzlich festgelegt ist, dass die Steine nicht so groß sein dürfen, dass der oder die Verurteilte schon beim ersten Treffer sterben könnte. Der Delinquent soll ein bisschen was von seiner Steinigung haben. Das sei - so wird behauptet vom Propheten Mohammed offenbartes "göttliches Recht". Sicher kann die in vielen islamischen Staaten geltende Scharia auf Mohammed zurückgeführt werden, aber in ihren (vom modernen, säkularisierten westlichen Kulturkreis als unmenschlich empfundenen) Strafen auch auf Gott? Die Scharia sei Mohammed von Gott so offenbart worden, wie er vordem die Zehn Gebote Moses in den Griffel oder den Meißel diktiert habe. An Gottes Recht könne nicht ein Jota durch fehlbare Menschen geändert werden. Dieser für strenggläubige Muslime unaufgebbare göttliche Rückbezug des Rechts und seine damit verbundene Unwandelbarkeit seit den Zeiten der mohammedanischen Beduinengesellschaft des 7. Jahrhunderts macht das Recht der Scharia so starr. Fazit: Revolutionen sind immer ein Überkochen eines Kessels, dessen Deckel von den Machthabern gewaltsam dichtgehalten wurde, so dass nicht langsam schädlicher sozialer Überdruck entweichen konnte. Nur durch ständige behutsame Anpassung der rechtlichen Normen an die sich fortwährend verändernden technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Herausforderungen, an z.B. auch sich verändernde medizinische Möglichkeiten und an das sich mit der Veränderung der Verhältnisse ändernde Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung über »das Recht« lassen sich sonst in Revolutionen zum Ausdruck kommende eruptive Ausbrüche verhindern. Revolutionen schaffen nicht per se gerechtere Verhältnisse. Evolution der Gesellschaft statt Revolution!

2.8.19.4 Das Mehrheitsprinzip - unter rechtlich abgesicherter Achtung von Minderheitenrechten - ist der Königsweg demokratischer Willensbildung Das Mehrheits prinzip ist der Königswe g demokrati scher Willensbil dung

Bei der erforderlichen ständigen behutsamen Anpassung der rechtlichen Normen an die sich fortwährend verändernden technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Herausforderungen muss nicht immer der Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung das Maß aller Dinge sein – die faschistischen Bewegungen in Europa haben spätestens nach der Machterringung die Mehrheit ihres jeweiligen Volkes hinter sich gehabt -, denn wenn es in der Bundesrepublik Deutschland nach der Mehrheit ginge, dann hätten wir vielleicht bald wieder die Todesstrafe: nach dem nächsten Sexualmord an einem Kind hieße es dann nicht mehr bloß „Schwanz ab!“, sondern „Kopf ab!“ Aber Demokratie heißt ja nicht, durch Demoskopie die Hand an den Puls der Bürger zu legen und ausschließlich danach Entscheidungen zu treffen. „Wir leben in einer Demokratie, nicht in einer Demoskopie“ (Heiner Geißler).

361

Die Problematik von Mehrheitsentscheidungen brachte Schiller im unvollendet gebliebenen Demetrius auf die provokative Frage und die hierauf formulierte polemische Antwort: "Was ist Mehrheit?" "Mehrheit ist Unsinn: Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.", lässt er Sapiehea sagen. Die tiefe Wahrheit dieses realistischen Ausspruchs bezüglich der Unsinnigkeit von Mehrheitsentscheidungen konnte man in den letzten Jahren mehrere Male in der Bundesrepublik bei der Auswahl des deutschen Beitrages für den Europäischen Schlagerwettbewerb bestätigt finden! Jahr für Jahr wurde ein neuer Rekordwert auf der nach unten offenen Niveaulosigkeitsskala der Volksverblödung erreicht. Es täte diesen Siegern und ihrem Geräuschmüll zu viel Ehre an, sie hier - und wenn auch nur als abschreckendes Beispiel - namentlich zu erwähnen. Sie und ihre akustische Umweltverschmutzung seien dem wohlverdienten Vergessen anheim gegeben. Derselbe kritische Gedanke gegenüber dem Mehrheitsprinzip findet sich auch in Maria Stuart: "Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe." Ähnlich pessimistisch wie von Schiller wurde die Schattenseite des Majoritätsprinzips - neben vielen anderen Intellektuellen - u.a. auch von Ibsen gesehen. Als Beleg und Denkanstoß sei sein Ausspruch angeführt: „Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass die Dummen die geradezu überwältigende Majorität bilden rings um uns her auf der ganzen weiten Erde. Aber zum Donnerwetter, das kann doch nie und nimmer das Richtige sein, dass die Dummen über die Klugen herrschen." Er war - auch ohne Erleben der Vorgeschichte der NS-Diktatur - der nicht ganz unbegründeten Meinung: „Der gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit – das ist die kompakte Majorität.“ Man muss das nicht unbedingt so pessimistisch sehen wie die zitierten Denker ohne große Demokratieerfahrung, die der Auffassung waren, dass es den gesunden Menschenverstand »der Masse« nicht gebe. So stand z.B. an manchen Zügen, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Viehwaggons Soldaten zum Sterben zur Front brachten, mit Kreide aufgemalt die in umnebeltem Hurra-Patriotismus erdachte und verfasste Parole: „Hier werden noch Kriegserklärungen angenommen!“ Und auch heute noch hat man hin und wieder sehr begründeten Anlass, an der Urteilsfähigkeit »der Masse« zu zweifeln. Die zitierten Denker waren der Ansicht, dass die quasi Seligsprechung der Quantität vor der Qualität mit ihren irrationalen Auswirkungen, wenn »die Masse« wieder einmal irgendeinem „-ismus“ mit lautem Gebrüll und hechelnder Zunge hinterherjagt, oft gegen jegliche Vernunft sei. Das ist aber das Grundproblem jeglicher Demokratie. Mit viel Empathie drückte es Abraham Lincoln mit den Worten aus: „Gott hat die einfachen Menschen offenbar geliebt, denn er hat so viele von ihnen gemacht.“ Demokratie muss durch eine demokratische Geisteshaltung ihrer Bürger erworben und gesichert werden. So gesehen ist Demokratie kein statischer Akzeptanzzustand, sondern überall, wo sie existiert, ein ständiges Ringen um ihre jeweils beste Form. Dies ist ihr unschlagbares Privileg und zugleich ihre ständige Herausforderung – und ihre Gefahr, wie die Geschehnisse der Weimarer Republik und der NS-Zeit gezeigt haben.. „Ohne politische Erziehung ist das souveräne Volk ein Kind, das mit dem Feuer spielt und jeden Augenblick sein Haus in Gefahr bringt.“ (Pestalozzi) Dann gilt das Wort von Theodor Heuss: „Demokratie heißt nicht Massenherrschaft, sondern Aufbau, Sicherung, Bewährung der selbstgewählten Autoritäten.“

362

Demokratie setzt in jeder Generation heranzubildende Demokraten voraus! Dabei besteht das Grundproblem jeder Demokratie, „außergewöhnliche Menschen von gewöhnlichen Menschen wählen zu lassen“ (Golo Mann), ohne dass sie einem die Massen faszinierenden Rattenfänger wie Hitler nachlaufen. Auch angesichts dieser generellen Schwierigkeit ist aber die rechtlich geregelte Befolgung von Mehrheitsentscheidungen in ihrer die gesellschaftlichen Verhältnisse beruhigenden Kraft eine nicht zu unterschätzende Friedensregel: "Ballot - not bullet!" ( "Der Stimmzettel - nicht die Gewehrkugel!") Wer wollte diese eingängige Formulierung nach u.a. den gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik mit über tausend Toten, dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, dem UngarnAufstand 1956, dem ebenfalls mit Panzern am 20. August 1968 niedergewalzten Prager Frühling und den schrecklichen Ereignissen der Bartholomäusnacht in Peking am 3./4. Juni 1989 mit 3.000 - 4.000 in einer einzigen Nacht niedergeschossenen oder von Panzern niedergewalzten toten Demonstranten für mehr Demokratie und Recht auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ für ein bloßes Wortspiel halten? Das entscheidungslegitimierende Mehrheitsprinzip - unter rechtlich abgesicherter Achtung von Minderheitenrechten - ist an sich der Königsweg demokratischer Willensbildung. Niemand weiß etwas Besseres. „Ein Demokrat braucht nicht zu glauben, dass eine Mehrheit immer eine weise Entscheidung treffen wird. Woran er (aber) glauben soll, ist die Notwendigkeit, dass der Mehrheitsbeschluss, ob klug oder unklug, angenommen werden muss, bis die Mehrheit einen anderen Beschluss fasst“ (Bertrand Russel). „Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute beugen zu müssen“ (Winston Churchill). Mehrheit ist nicht Wahrheit, aber die Alternative wäre eine (unkontrollierte) Diktatur oder das Faustrecht einzelner heilsgewisser Gruppen, die nicht nur in Staaten mit einem virulenten islamischen Fundamentalismus zu wissen glauben, was ihren Nächsten am besten frommt: "Terroranschlag auf griechischen Abgeordneten rtr/dpa Athen - Linksgerichtete Terroristen haben gestern in Athen auf einen Abgeordneten der griechischen konservativen Regierungspartei Nea Demokratia einen Anschlag verübt. Zwei Mitglieder der marxistischen Untergrundorganisation 17. November hielten den Wagen des 44jährigen Eleftherios Papadimitriou auf dem Weg ins Parlament an und zwangen ihn auszusteigen. Dann hätten sie dreimal in die Beine geschossen. Papadimitriou wurde operiert, doch wird befürchtet, daß er Lähmungen im linken Bein behält. Die Untergrundgruppe bekannte sich in einem Schreiben an einen Rundfunksender in der griechischen Hauptstadt zu dem Anschlag. Er sei als Strafe für die Sparpolitik und die Privatisierungspläne der Regierung gedacht. Die Gruppe erklärte, sie habe Papadimitriou, der Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Parlament ist, verletzen aber nicht töten wollen. Seit Gründung der Organisation 1975 haben ihre Mitglieder 18 Menschen getötet. Der Anschlag wurde einen Tag vor der Parlamentsabstimmung über die konservative Privatisierungspolitik verübt. Die Regierung verfügt nur über eine Zwei-Stimmen-Mehrheit der 300 Sitze. Papadimitriou kann vom Krankenbett abstimmen." (HH A 22.12.92) Der stellvertretende SPD-Vorsitzende (und spätere Bundestagspräsident) Wolfgang Thierse mahnte in einem STERN-Interview (12.11.92): "Wenn die Anerkennung der relativen Gültigkeit von Mehrheitsentscheidungen [durch die rechtsextremistischen Krawalle und die Gegengewalt der sogenannten "Autonomen"] außer Kraft gesetzt wird, dann bleibt ja nur übrig, an die Stelle von Demokratie andere Mittel zu setzen. Der Grundkonsens, auf den die Demokratie angewiesen ist, geht kaputt. Es gibt keine Verteidigung von Grundrechten, wenn man sie zur Sache der Politiker, also einer Minderheit im Lande, oder einiger weniger Gruppen macht. Die Mehrheit muß diese Grundrechte verteidigen wollen, nur dann sind sie gesichert. Dass dieses in Zweifel gezogen wurde durch die Gewalt der Sprache einer Minderheit, hat mich unerhört erschreckt. ... Die Demokratie ist auch in Gefahr durch schweigende, resignative Untätigkeit der Mehrheit. Sie wird gefährdet durch die Unfähigkeit, zuzuhören, durch die Unfähigkeit, zu argumentieren, und dadurch, zunehmend die Sprache der Gewalt zu sprechen und den schmalen Grat zur physischen Gewalt zu überschreiten."

363

Der Rückblick auf die Geschichte und die hierdurch erkennbaren Ursachen von Revolutionen ließen es schon vor über zwei Jahrzehnten wahrscheinlich erscheinen, dass z.B. sowohl fast ganz Afrika als auch fast ganz Mittel- und Südamerika sowie die kommunistischen Länder explosiv waren wie ein Pulverfass, an dem die Lunte schon brannte, weil die jeweils herrschenden Cliquen, in Europa z.B. in Rumänien, Ex-Jugoslawien und der DDR, die zu ihrem Vorteil ungerechten sozialen Verhältnisse zu zementieren versuchten und als gerecht ausgaben, wogegen die Unterdrückten verständlicherweise rebellierten. In Europa sind die angesprochenen Sprengsätze zwischenzeitlich explodiert.

2.8.19.5 Ständige Kämpfe um »das Recht« auch in unserer demokratisch verfassten und damit auf ständigen Wandel angelegten Gesellschaft Ständige Kämpfe um »das Recht«

Aber auch in Gesellschaften wie der unseren, in denen der soziale, politische und rechtliche Wandel vom System her prinzipiell möglich ist, werden manche rechtlichen Regelungen als ungerecht empfunden und oft erst nach langen, mühevollen Kämpfen abgeändert. Als Beispiele seien die Liberalisierung des Sexualstrafrechts - z.B. keine Bestrafung mehr von Eltern wegen "Kuppelei", die ihr (in dem abgeurteilten Fall schon erwachsen gewesenes) Kind mit der oder dem (in dem abgeurteilten Fall noch verheirateten aber in behaupteter Trennung lebenden) Verlobten in ihrer Wohnung gemeinsam nächtigen lassen - und die Verschärfung des Umweltstrafrechts angesprochen, das in Deutschland vor Jahrhunderten schon effektiver geregelt worden war.

2.8.19.6 Beispiel Umweltschutz und Recht So hatte Kaiser Friedrich II. in dem „liber Augustalis“ umweltfeindliches Verhalten 1231 n.Chr. mit Zwangsarbeit in Ketten und Enteignung bestraft und u.a. geregelt: Umweltsc hutz und Recht

"Wir verbieten, daß von Fischern [große Chemiekonzerne und Wirtschaftsbetriebe mit ungeklärten und/oder sogar ungenehmigten Schadstoffeinleitungen gab es noch nicht, ein Überdüngen der Felder oder eine das Grundwasser verunreinigende Ausbringung von Gülle durch Massentierhaltung usw. war noch nicht bekannt] Eiben oder ähnliche Giftpflanzen, an denen die Fische zugrunde gehen oder sterben, in die Gewässer geworfen werden. Dadurch werden nämlich sowohl die Fische selbst vergiftet als auch die Gewässer verseucht, aus denen bisweilen Menschen und häufig Tiere trinken. Wer eine solche Handlung begangen hat, soll auf ein Jahr zu öffentlichen Arbeiten in Ketten verurteilt werden." Und der Große Kurfürst (1640 - 1688) hatte in Brandenburg-Preußen angeordnet: "Wer Unrat auf die Straßen (meiner Hauptstadt Berlin) wirft, dem soll er ins Haus zurückgeworfen werden." Das war auch dringend notwendig gewesen, denn jeglicher Unrat war in jeder Stadt aus den Häusern einfach auf die Gassen geworfen worden: von kaputten Möbeln und Geschirr über Abfälle bis zu Urin und Kot. Wer sich erleichtern musste, kackte einfach auf die Straße. Alle warteten dann auf den erlösenden Regen, der den stinkenden Kot und Abfall in die Bäche und Flüsse schwemmte. Die Auswirkungen dieses mittelalterlichen Verhaltens können wir Heutigen zwar nicht mehr riechen, aber indirekt immer noch sehen, wenn wir gelernt haben, richtig hinzuschauen: Allgemein wurden für die Dome, Kirchen und Klöster die besten Plätze ausgesucht, meist an erhöhten Stellen, damit die Bauten zu Gottes Ruhm weithin sichtbar seien. Nie wurde eine Senke oder Kuhle gewählt! Da wundert man sich beim Besuch z.B. des Doms zu Schleswig, dass der Dom rund drei Meter unter dem Straßenniveau der direkten Umgebung liegt. Der Grund hört sich plattdeutsch feiner an, als es die Umstände in den Gassen der Stadt, und damit auch rund um den Dom, waren: „De Lüüd hebt sich hochscheeten.“ Und in ein paar Jahrhunderten ist da ordentlich was zusammengekommen! Vielleicht müssen wir zu einem mit ähnlich drakonischen Strafen drohenden Umweltschutz zurückkehren, um unseren ausgelaugten, sterbenden Planeten zu retten, auf dem schon Flüsse brannten, weil sich die darin schwimmenden Stoffe entzündet hatten, auf dem glasklare Seen ohne Leben sind, weil sie durch ungefilterte Luftemissionen aus Kohlekraftwerken, Hausbrand und Autoabgasen in Verbindung mit Regen ("saurer Regen") so sauer wie Zitronen- oder Essigsäure geworden sind. Kein Lebewesen kann aber in purer Zitronensäure existieren. Appelle halfen bisher nicht genügend:

364 „Wer sich nicht schämt, hier Unrat abzuladen, kann sich von der Gemeindevertretung eine Bescheinigung holen, daß er ein Schwein ist. Gemeinde Eidelstadt/Holstein 1932.“72 Mit unserem technisch-industriellen Know-how haben wir die Erde, von der wir uns hauptsächlich nähren müssen, verseucht, das Grundwasser, ohne das wir nicht lange existieren können, dazu die Flüsse und Meere vergiftet, die Luft, die wir atmen müssen und ohne die wir nur Minuten existieren können, verpestet, todbringende Löcher in die Atmosphäre gerissen und das Klima unseres Planeten ins Wanken gebracht. Natürlich gibt es inzwischen schon Umweltschutzbestimmungen, die meist durch größere Katastrophen ausgelöst werden. Wenn alle Menschen sehr offensichtlich betroffen sind, gibt es für Politiker kein Ausweichen mehr: „London vor 50 Jahren, es ist ungewöhnlich kalt, die Londoner heizen mehr als sonst – mit schlechter heimischer Kohle. Es ist nebelig, wie so oft im englischen Winter. Doch diesmal braut sich eine Katastrophe zusammen: Tonnen von Ruß, Staub, Schwermetallen und Schwefel vermischen sich mit dem Nebel, der Smog liegt lähmend über London. ... der Londoner Epidemiologe Tony Fletcher: ’Man erzählt, dass man im dichtesten Nebel nur einen halben Meter sehen konnte: Man konnte seine Taille nicht sehen und auch nicht die Füße.’ Schiffe kollidieren, Busfahrer lassen ihre Busse stehen, Fußgänger fallen in die Themse. London steht still: ’Der Verkehr brach zusammen, der Smog war auch in den Häusern. Kinos und Theater mussten schließen, weil man Leinwand und Bühne nicht sehen konnte.’ Selbst wer sich auskannte, findet nicht mehr nach Hause: ... ’Der Vater eines Freundes verlief sich im Nebel. Ein blinder Mann aus der Nachbarschaft führte ihn nach Hause, er war einer der wenigen, die den Weg nach Hause fanden.’ Den gelb-braunen Londoner Nebel, genannt: peasouper, gibt es Mitte des Jahrhunderts häufiger – aber diesmal, im Jahr 1952, ist etwas anders als sonst: Leichenbestattern gehen die Särge aus, Floristen die Blumen für Grabkränze. Preisgekrönte Zuchtbullen auf einem Londoner Viehmarkt verenden röchelnd. Die Krankenhäuser sind überfüllt: Lungenentzündungen, Kreislaufkollaps, Übelkeit sind die gängigen Symptome. Viertausend Menschen sterben in der Smog-Woche, achttausend in den folgenden Wochen. Ein Weckruf, die Smog-Katastrophe verändert nachhaltig das Bewusstsein der Menschen: ’Es starben sehr viele Menschen, die Bevölkerung und Regierung merkten, dass etwas getan werden muss.’ Die Behörden reagieren: London erhält vier Jahre später das erste Gesetz zur Luftreinhaltung: Ungefilterte Kohlekraftwerke, Kamine werden verbannt, bald können Londoner auch im Winter wieder die Sterne sehen. Bis heute aber ist es ein Rätsel, warum der Smog vor 50 Jahren so tödlich war. Erklärungsversuche von Epidemiologe Fletcher: Entscheidend könnte gewesen sein, dass kurz zuvor in den Straßen der Hauptstadt Diesel-Busse eingeführt worden sind: ’Man fand nicht nur Kohlepartikel in den Lungen der Toten, sondern auch Diesel. Es kann sein, dass der Smog so tödlich war, weil er ein giftiges Gemisch aus dem alten Kohlenstaub und der neuen Bedrohung der Dieselabgase war.’ Der gelb-braune Smog ist längst verschwunden, die Luft in London heute sauberer. Aber nicht sauber: Die Schmutzpartikel sind heute unsichtbar, aber genauso gefährlich. In Großbritannien, so die Schätzung von Epidemiologe Fletcher, sterben noch immer jedes Jahr zwischen 10.000 und 25.000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung. Früher waren es die Kohleöfen, die die Luft verpestet haben – heute sind es die Autos.“ (Eva Kötting zum Thema: Great Smog 1952; Sendung: Deutschlandfunk „Umwelt und Landwirtschaft“ 04.12.2002) „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann!“ (Weissagung der Cree) Dem schleunigst Einhalt zu gebieten, hat viel mit »Gesetz« und »Recht« zu tun. Ein Umdenken ist dringendst erforderlich. Bei den Konflikten, die das mit sich bringt, "... haben wir es mit einer Polarisierung quer durch Parteien, Schichten und Altersgruppen hindurch 72

Es fängt damit an, daß am Ende der Punkt fehlt Stilblüten aus amtlichen und privaten Schreiben Hrsg. von Margit und Emil Waas 198423

365

zu tun. Die einen wollen die Gesellschaft mit radikalen Protestaktionen aufrütteln und auf Gefahren für die Zukunft aufmerksam machen. Andere sehen in der Radikalität von Protesten eine Gefahr für die freiheitliche Demokratie und damit einen Grund zur Sorge um die Zukunft. Ich glaube, wir müssen beide Ansätze ernst nehmen. Die Demokratie kann nur bestehen, wenn die langfristigen Überlebensfragen der Menschheit schonungslos erörtert und glaubwürdig beantwortet werden. Angesichts des Ausmaßes der Probleme kann dieses nicht ohne Härte und Ungeduld abgehen." Das schrieb der vormalige Bundespräsident von Weizsäcker den Politikern mit seiner Antrittsrede 1984 ins Stammbuch. Dazu gehören aber nicht »Scherben-Demos« so genannter »autonomer« Gruppen, auf denen als Frust-Protest gegen das Establishment Schaufensterscheiben zerschlagen werden. Auch das Ansägen von Strommasten und ähnliche »Protest«formen sind keine überzeugenden Argumente, sondern kriminelle Handlungen! Andere Prominente äußerten sich ähnlich drängend zu der globalen Notwendigkeit eines juristisch abgesicherten radikalen Umdenkens in unseren Konsum- und Lebensgewohnheiten mit seinen „Luxus-Emissionen“, um das Überleben der Menschheit und den Erhalt der Artenvielfalt zu sichern, wenn sich durch die „ÜberlebensEmissionen“ einer ständig wachsenden Weltbevölkerung die globale Umweltbelastung zwangsläufig weiter verschlechtern muss. So redete der britische Thronfolger Prinz Charles nicht nur seinen Landsleuten ins Gewissen, als er 1989 sagte: "Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird in 60 Jahren ein Drittel aller Lebewesen auf diesem Planeten aussterben. Können wir bei dem Gedanken daran etwas anderes empfinden als kosmischen Horror?" Der Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 versuchte, rechtliche Regelungen auf Freiwilligkeitsbasis zu finden oder anzustoßen, die das Überleben der Menschheit sichern sollen. Der Mensch braucht die Natur, aber die Natur braucht den Menschen nicht! Im Gegenteil: Es ginge ihr besser, wenn sie darauf verzichtet hätte, die angebliche Krone der Schöpfung zu entwickeln. Und der Kabarettist Werner Schneider brachte es mit der Sentenz auf den Punkt: "Die Menschheit ist im Begriff, das Problem ihrer Endlagerung zu lösen." Das abzuwenden, hat sehr viel mit »Recht« zu tun.

2.8.19.7 Vorzüge der demokratischen Staatsform aus ihren rechtlichen Grundentscheidungen heraus Vorzüge der demokrat ischen Staatsfor m aus ihren rechtlich en Grundent scheidun gen

Oft ist es zum Verzweifeln mühselig, bis eine problembewusste Minderheit eine gesellschaftliche - meistens träge - Mehrheit zur im wahrsten Sinne des Wortes »not-wendigen« Änderung der Rechtsvorschriften organisiert hat. Dabei besteht die Gefahr, dass sich die engagierten Vorkämpfer aus Enttäuschung über die Langwierigkeit der Instanzenwege demokratischer Entscheidungsprozesse radikalisieren und ins demokratische Abseits geraten. Es ist eine Frage des "Rechts", wie diese Entscheidungsprozesse organisiert werden. "Eine Demokratie lebt einzig und allein von der demokratischen Methode. Aus dieser Erkenntnis folgt die Grundregel der Freiheitlichkeit: Man darf die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen wollen, sondern muss sie überzeugen, muss Mehrheiten organisieren, nicht ein für allemal, sondern immer wieder neu, muss sich, in einem Wort, der Mühsal der Politik unterziehen. Wer solche Mühsal scheut, ist kein Demokrat, sondern Strukturfaschist" (Th. Sommer). Die Überlebensfragen der Menschheit können "... nirgendwo mit einer größeren Chance auf Erfolg behandelt werden als in einer Demokratie. Sie ist offener und lernfähiger als jede andere Regierungsform. Auch wenn es oft nicht schnell genug geht und nicht immer auf Anhieb der richtige Weg gefunden wird, so ist doch die Demokratie am besten in der Lage, Fehler zur Sprache zu bringen, sich zu korrigieren, Einsichten und Vernunft im Widerstreit der Meinungen zu entwickeln" (von Weizsäcker). Demokratie ist bisher das optimalste Verfahren zur Ermöglichung und Verteilung selbstbestimmter individueller Lebenschancen und zur Verringerung staatlicher Irrtümer. Demokratie ist dabei nicht als statischer Akzeptanzzustand zu sehen, sondern überall dort, wo sie nicht nur in Staatsnamen behauptet, sondern wirklich gelebt wird, ist sie ein Ringen um die beste Form ihrer stets unvollkommenen Verwirklichung. Dieses ist ihr unschlagbarer Vorteil in der Organisierung gesellschaftlichen Zusammenlebens und zugleich ihre ständige Herausforderung. Die angesprochenen Vorzüge der demokratischen Staatsform ergeben sich aus ihren rechtlichen Grundentscheidungen. Demokratie bedeutet die Entscheidung für eine offene Gesellschaft, für eine rechtlich abgesicherte Entwicklung, deren Ziele nicht vorab festgelegt sind. Oft ist allein schon der Weg das Ziel! Der Friedens- und

366 Konfliktforscher Senghaas hat zur Kennzeichnung einer demokratischen Gesellschaft ein „zivilisatorisches Hexagon“ mit folgenden Eckpunkten aufgestellt: a) Gewaltmonopol des Staates, b) Rechtsstaatlichkeit, c) wirtschaftliche Interdependenz und Affektkontrolle, d) soziale Gerechtigkeit, e) demokratische Partizipation und f) demokratische Streitkultur. Viele im gesellschaftlich relevanten Bereich zu treffende Entscheidungen lassen sich nicht logisch zwingend so begründen, dass jeder gutwillige Vollsinnige ihnen nach Kenntniserlangung aller Hintergründe zwangsläufig zustimmen müsste, da viele juristisch zu regelnde Fragen zum großen Teil Nützlichkeits- und/oder gar reine Wertungsfragen sind. Aus der Unzahl der möglichen Beispiele hierfür sei eines für eine Nützlichkeitserwägung und seien zwei aktuelle für reine Wertungsfragen relativ beliebig herausgegriffen: *

73

Soll bei Wahlen das Mehrheits- oder das Verhältniswahlprinzip - rein oder mit welchen Modifizierungen? für die Verrechung der erhaltenen Wählerstimmen in Abgeordnetensitze angewandt werden? Soll bei einer nach dem Mehrheitsprinzip durchgeführten Wahl dieses Prinzip auch dann rein durchgehalten werden, wenn in einem Wahlkreis der erfolgreichste Bewerber nur eine relative, nicht aber die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen kann, wie es in Großbritannien geschieht, oder muss zwischen den beiden aussichtsreichsten Bewerbern eine Stichwahl stattfinden, wie es in Frankreich oder bei uns anlässlich von Kommunalwahlen gesetzlich festgelegt ist? Soll bei nach dem Grundsatz einer Verhältniswahl durchgeführten Wahlen eine Prozentklausel gelten, ab deren Erreichen erst Sitze in einem Kommunal-, Landes- oder im Bundesparlament beansprucht werden dürfen? Wenn ja: Ab welchem Prozentsatz soll politische Repräsentanz beansprucht werden dürfen? Es waren in verschiedenen Staaten Prozentsätze zwischen 1 %73 und 10 %74 im Gebrauch. Das ist eine eminent wichtige Frage für den möglichen Einzug ökologisch-alternativer, rechtsradikaler, linkssozialistischer oder anderer Parteien mit geringem Wählerpotential in einem demokratisch organisierten politischen System. Die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend für die Ausgestaltung des politischen Lebens in einer Gesellschaft: Die westdeutschen Grünen, erst/schon seit 1983 im Bundestag vertreten, waren bei der Bundestagswahl 1990 im westlichen Bundesgebiet an der 5-%-Hürde gescheitert. Nur die mit Blick auf den Osten der erweiterten Bundesrepublik anlässlich der »Vereinigungswahl« für diese eine Wahl geschaffenen Sonderbestimmungen brachten ostdeutsche Vertreter der Grünen in den Bundestag. 1994 drohte nach für sie zwei Jahre zuvor erfolgreich verlaufenen Landtagswahlen der Einzug der NPD in den Bundestag. Und über der FDP hängt seit Jahrzehnten das Damoklesschwert der 5-%Klausel. Zu ihrer Rettung vor dem jederzeit möglichen Verschwinden aus dem Bundestag war aus Gründen der möglichen Notwendigkeit als »Mehrheitsbeschafferin« für das bürgerliche Lager und zur Verhinderung des Machtüberganges an die »Sozen« von den bürgerlichen Parteien die Ausnahmeregelung erdacht worden, dass mit der Erringung dreier Direktmandate die grundsätzlich weiterhin geltende 5-%-Klausel außer Kraft gesetzt werden könne – wovon dann die PDS 1994 profitierte, und was die CDU/CSU vor dieser Wahl wegen dieses von ihr befürchteten Ergebnisses zunächst zu öffentlich vorgebrachten Überlegungen hinsichtlich der nur mit einfacher Mehrheit möglichen Änderung des Wahlrechts bezüglich der nunmehrigen Abschaffung der Direktmandatsregelung veranlasste. Doch diese geplante Änderung hätte auch einen Wiedereinzug der an der Regierung beteiligten FDP in den Bundestag verhindern können, und darum unterblieb sie. Den u.a. aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Grünen drohte bei der Bundestagswahl 2002 der Verlust parlamentarischer Vertretung, nachdem die Mehrheit ihrer Delegierten den Einsätzen der Bundeswehr im Ausland zugestimmt hat, was eine Reihe der mit ihr sympathisierenden oder in ihr organisierten unterlegenen Friedensbewegten nicht hinnehmen und mit Stimmverweigerung bei der nächsten Bundestagswahl abstrafen wollte. Die Grünen befürchteten den Verlust von einem Drittel der Stimmen, was sie unter die 5-%-Hürde drücken und damit marginalisieren würde! Diese Beispiele zeigen, dass die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft allein bei einer anderen rechtlichen Regelung als der 5-%-Klausel mit Sicherheit anders verlaufen wäre! Doch weiter: Soll in jeder parlamentarischen Körperschaft der gleiche Prozentsatz gelten? (Bayern verlor einen Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht, weil der für die Wahl zum Landesparlament ehemals mit 10 % vorgegebene Prozentsatz vom BVerfG als zu hoch angesetzt erkannt worden war.)

Wahl zur Knesseth; wegen der dadurch hervorgerufenen Abhängigkeit der Regierungsbildung von wenigen Vertretern radikaler Splitterparteien zunächst auf 1,5 % erhöht. 74 Zum Einzug in den Bayerischen Landtag waren 10 % der Wählerstimmen in wenigstens einem der sieben Regierungsbezirke erforderlich gewesen. Diese gesetzliche Regelung wurde vom BVerfG wegen Verstoßes gegen das grundlegende Wahlprinzip der Wahlgleichheit in Form des gleichen Erfolgswertes der abgegebenen Stimmen für rechtswidrig erkannt und aufgehoben.

367

Und als Beispiele für ethisch motivierte Wertungsfragen: *

Ab wann soll vorpersonalem, aber beginnendem menschlichen Leben »Mensch«-Qualität mit allen sich daraus ergebenden, insbesondere rechtlichen Konsequenzen zuerkannt werden? Wann beginnt die Würde des »Menschen«? Hat schon ein amorpher Zellhaufen insoweit »Mensch«-Qualität, dass ihm Menschenwürde zuerkannt werden soll? Um bei diesem Problem einen fundierten eigenen juristischen Standpunkt einnehmen zu können, muss man erst einmal wissen, was »Sache ist«. Darum geraten die nachfolgenden Ausführungen zwangsläufig ein wenig ins »Biologistische«: a) Soll »Mensch«-Qualität sogar schon dann angenommen werden, wenn außerhalb des menschlichen Körpers eine menschliche Eizelle mit einer menschlichen Samenzelle vereint und so Zellteilung bis hin zur Ausformung eines menschlichen Körpers auch außerhalb einer Gebärmutter in Gang gesetzt wird? Also alles ab der bei natürlicher, intrauteraler Befruchtung innerhalb des Körpers nur bis spätestens acht Stunden nach der Ovulation möglichen Verschmelzung einer menschlichen weiblichen, polar gebauten, dotterlosen Eizelle mit einer menschlichen männlichen Samenzelle noch vor Verschmelzung des Erbgutes aus beiden Zellen, wenn bei natürlicher Zeugung die das Ei umgebende, aus zunächst samenanlockenden hochmolekularen Zuckern und Proteinen bestehende Zona pellucida nach Berührung durch ein Spermium durch das Einwärtsdrehen ihrer Zucker gerade erstarrt ist und keine andere männliche Samenzelle mehr durch diesen festen Schutzwall in die weibliche Eizelle eindringen lässt als den Gewinner des Wettrennens unter Beteiligung hunderter von Millionen Spermien, wenn also die genetische Disposition möglicherweise entstehenden menschlichen Lebens damit unumkehrbar festgelegt ist? (Weder die Erzeugung von Chimären noch die Verpflanzungsabsichten von befruchteten Eizellen gefährdeter Affenprimaten in menschliche Uteri, an deren Herstellung sich bestimmt einige von den technischen Möglichkeiten ihrer Wissenschaftsdisziplin besessene Forscher verbotenerweise versuchen werden, ist mit dieser allein auf die menschliche Befruchtung abstellenden Betrachtung erfasst.) Solche Vorkernstadien der Verschmelzung von menschlichen Ei- und Samenzellen entstehen auch in Deutschland bei der künstlichen Befruchtung zu Tausenden – und werden weggeworfen, obwohl in ihnen schon das Potential menschlichen Lebens steckt. Dieses Vorkernstadium wäre der extremste zeitlich nach vorn verlagerbare Zeitpunkt für die Annahme von »Mensch«-Qualität. Oder soll »Mensch«-Qualität „erst“ ca. vier Stunden später ab Verschmelzung des Erbgutes von Ei- und Samenzelle definiert werden? Ein Zeitpunkt, den z.B. die katholische Kirche seit der Ende des 19. Jahrhunderts im Kirchenrecht vollzogenen Kehrtwende ihrer Ansicht von der vorher vertretenen Sukzessiv75 zur Simultanbeseelung einnimmt: Ab dem Zeitpunkt der Befruchtung – gleichgültig, ob inner- oder außerhalb des weiblichen Körpers - entstehe menschliches Leben und habe deswegen ab diesem Zeitpunkt geschützt zu sein. Man weiß aber noch nicht sicher, ob bei einer Schwangerschaft außerhalb des weiblichen Körpers daraus ab diesem frühest möglichen Zeitpunkt letztlich ein Mensch bis zu einem aus eigener Kraft lebensfähigen Stadium heranwachsen könnte. Versuche mit exuteral zum Wachsen gebrachten Ziegenembryonen lassen es allerdings vermuten. Und es wird auch schon bei Menschen eine aus Zellen gezüchtete Gebärmutter für möglich gehalten, so dass Embryonen auch außerhalb des Mutterleibes heranwachsen könnten. Doch bisher erfolgreich verlaufene diesbezügliche Experimente in den USA wurden erst einmal gestoppt, um die damit verbundenen ethischen Fragen zu diskutieren und sich dann rechtliche Regelungen zu überlegen. Die Frage nach Simultan- oder Sukzessivbeseelung, selbst wenn sie für männliche und weibliche Embryonen für den gleichen Zeitraum angenommen wird, hat auch Auswirkungen auf die Einstellung zum therapeutischen Klonen. Ranke-Heinemann zitiert den bedeutenden katholischen Moraltheologen Karl Rahner, der der Ansicht der Sukzessivbeseelung zuneigt und 1967 mit Blick auf Experimente mit menschlichem Keimmaterial schrieb: »Es wäre doch an sich denkbar, daß unter Voraussetzung eines ernsthaften positiven Zweifels an dem wirklichen Menschsein des Experimentiermaterials Gründe für ein Experiment sprechen, die in einer vernünftigen Abwägung stärker sind als das unsichere Recht einer dem Zweifel

75

Im Mittelalter war die katholische Kirche auf der Grundlage des Alten Testaments von einer sukzessiven Beseelung nach der Befruchtung ausgegangen und hatte dafür zwei später liegende und – als Ausdruck der damals so gesehenen unterschiedlichen Menschqualität von Mann und Frau - unterschiedliche Daten für die Entstehung beseelten männlichen (ab dem 40. Tag) und beseelten weiblichen Lebens (ab dem 80. Tag) angenommen.

368 unterliegenden Existenz eines Menschen.«76 Wenn die katholische Kirche in einer Rückbesinnung auf die von ihr zuvor jahrhundertelang vertretenen Ansicht wieder diese Auffassung der Sukzessivbeseelung als Lehrmeinung verträte und die katholischen Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihr dann darin folgen würden, hätten wir von der Religion her bezüglich der Forschung mit embryonalen Stammzellen eine solche Regelung wie in Israel, wo der dort vertretene religiöse Standpunkt der Sukzessivbeseelung in die Gesetzgebung eingeflossen ist, so dass dort ohne religiöse Beschränkungen embryonale Stammzellen gewonnen werden können und mit ihnen gearbeitet wird. Und so konnte der erste bundesrepublikanische Forscher, dem 2003 Experimente mit embryonalen Stammzellen erlaubt wurden, diese Zellen aus Israel beziehen. Wieder ein Beispiel dafür, wie religiöse Ansichten die Gestaltungsrichtung von Gesetzen bestimmen können. Und natürlich hat die Frage Simultan- oder Sukzessivbeseelung auch Auswirkungen auf die Stellung der katholischen Kirche zur Abtreibung: Nie! Auch dann nicht, wenn sie im Falle einer medizinischen Indikation notwendig wäre, um das Leben der Mutter zu retten, weil sonst beide sterben müssen. Eindringlich wird dieser Konflikt in dem 1951 erschienenen Roman von Robinson „Der Kardinal“ dargestellt, in dem der später zum Kardinal aufsteigende irische Priester seine Lieblingsschwester sterben lässt, weil er getreu der katholischen Morallehre handeln muss: „Die Kirche hält unerbittlich an dem Grundsatz fest, daß unter keinen Umständen erlaubt sein kann, das Leben eines unschuldigen Kindes im Mutterschoß direkt anzugreifen.“77 Wenn das Kind eine Chance hat, wenn auch nur für kurze Zeit ins Leben geholt zu werden, damit es getauft werden kann, so habe die Mutter notfalls ihr Leben zu opfern, damit nicht ihr sonst nicht(!) zur Welt kommendes Kind der von Augustinus behaupteten ewigen Verdammnis anheim falle! Die Mutter habe ihr zeitliches Leben hier auf dieser Erde dem geistlichen Leben ihres Kindes in der Ewigkeit zu opfern.78 „Der Tod der Mutter kann der notwendige Preis sein für die Taufe des Kindes.“79 Wie wenig Vertrauen auf einen gnädigen Gott aus dieser Sicht spricht! Die deutschen katholischen Bischöfe weichen zwar nicht von dieser kirchlichen Lehrmeinung, ihrer »Mütteropferungsideologie«, ab, respektieren aber in den katholischen Krankenhäusern seit dem 07.05.1976 eine ärztliche Gewissensentscheidung, in einem solchen Konflikt das Leben der Mutter zu retten – auch wenn sie sie nicht gutheißen! Das nur nebenbei. Zurück zu unserem Problem des anzunehmenden Beginns von »Mensch«-Qualität.80 Soll also ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt des Eindringens einer der 200 bis 500 Mill. menschlichen männlichen Samenzellen pro Ejakulat in eine menschliche weibliche Eizelle - und der so entstandenen Chance des natürlichen Ablaufs der Entstehung eines Menschen -, also noch vor deren Kernverschmelzung, der mit einem männlichem Samen angefüllten Eizelle »Mensch«-Qualität nach dem Grundgesetz zuerkannt werden? Oder soll »erst« ab dem Stunden später erfolgenden Augenblick einer natürlichen Verschmelzung einer menschlichen Eizelle mit einer menschlichen Samenzelle für diese nunmehr als befruchtet anzusehende Eizelle »Mensch«-Qualität angenommen werden? Soll einer durch eine exuterale oder im menschlichen Körper erfolgte Befruchtung entstandenen „Zygote" wegen einer angenommenen »Mensch«-Qualität grundgesetzlicher Schutz zuerkannt werden? Diese »radikal lebensschützende« Position ist in sich stimmig, geht auf diese Weise weiteren Fragen und damit verbundenen Konflikten aus dem Weg, ignoriert aber, dass eine befruchtete Eizelle von sich aus noch überhaupt nicht lebensfähig ist und viele sich gar nicht zu einem Menschen weiterentwickeln! b) Soll »Mensch«-Qualität dann angenommen werden, wenn sich eine Eizelle nach der Befruchtung schon ein-, zwei- oder dreimal geteilt hat, aber noch völlig beziehungslos und ohne Verbindung zur späteren Mutter sich 4-5 Tage durch deren Eileiter zur Gebärmutter zu arbeiten beginnt - obwohl eine sich 50 Stunden nach der Befruchtung total äqual furchende Zygote in dieser Form, wenn sie als Blastomere, sich durch mehrfache Teilung jeweils in der Zellanzahl verdoppelnde amorphe Zellkugel durch den Eileiter treibt, allein auf sich gestellt gar nicht überlebensfähig ist?

76

Rahner, K.: Schriften zur Theologie Bd. 8, 1967, S. 301; zitiert nach Ranke-Heinemann S. 318 Ranke-Heinemann, U.: Eunuchen für das Himmelreich 1988, S. 314 mit Verweis auf eine Ansprache des Papstes Pius’ XII. vom 29.10.1951 78 ebenda S. 320 79 ebenda S. 321 80 Für die Auffrischung der biologischen Kenntnisse muss notfalls in Biologie-Lehrbüchern nachgeschlagen werden. Ich verwandte dafür u.a. Lindner, H.: Biologie 1998 21, 4. Druckauflage 2000 77

369

c) Soll »Mensch«-Qualität dann angenommen werden, wenn sich auf diesem Weg durch den Eileiter die schon mehrfach geteilte Zygote nunmehr in der Form einer hügeligen maulbeerförmigen relativ amorphen „Morula“ im 16- oder 32-Zell-Stadium durch Furchung zu einem sich strukturierenden hohlen Zellenball aushöhlt und als „Blastozyste“ eine Keimblase bildet, die sich in der Gebärmutter einnisten kann? Eine Blastozyste erreicht die Gebärmutter frühestens ca. drei Tage nach der Befruchtung. Wenn sie sich im Uterus festsetzt, und das ist nicht immer der Fall, entwickelt sich die Blastozyste weitere drei bis vier Tage weiter und beginnt unter für sie günstigen Umständen erst dann, sich - unbemerkt von der Frau - in der nährenden Gewebeschicht ihrer Gebärmutter, im „Endometrium“, einzunisten. Für diese „Implantation“ oder „Nidation“ braucht sie ungefähr eine Woche. Soll erst ab dieser den Lebenskeim am Leben erhaltenden Verbindung, also mit dem Vorliegen einer Schwangerschaft, eine schutzwürdige Menschqualität angenommen werden? Wenn eine Zygote die Gebärmutter erreicht, bevor sie sich in eine Blastozyste verwandelt hat oder wenn das Endometrium noch nicht reif für die Aufnahme der Blastozyste ist, kann aus natürlichen Gründen keine Implantation und somit keine Schwangerschaft erfolgen. Nicht jede schon befruchtete Eizelle entwickelt sich somit zu einem Kind. (So haben manche unvorsichtigen Mädchen und ihre Lieben, insbesondere der eine, einfach Glück gehabt!) Die Blastozyste stirbt ab und löst sich auf. Stirbt dann - und das wäre z.B. für die von der katholischen Religion geprägte Auffassung wichtig: ungetauft - ein »Mensch«? Was ja die Konsequenz wäre, wenn man, wie u.a. die katholische Kirche und andere meist fundamentalistisch religiös geprägte extreme »Lebensschützer« es tun, die »Mensch«-Qualität für ein so frühes Stadium annehmen wollte! Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es mir zu früh, wenn - meist fundamentalistisch religiös geprägte extreme »Lebensschützer« schon einer befruchteten Eizelle oder einer Blastozyste »Mensch«-Qualität zuerkennen wollen. Was soll gelten, wenn eine Frau eine Nidation nicht allein Gottes unerfindlichem Ratschluss überlässt, sondern sie durch das Tragen einer Spirale willentlich verhindert? Extrem religiös-fundamentalistische Positionen meinen: Jeder Geschlechtsverkehr habe ungeschützt und mit der »Gefahr« der Zeugung - und eventuell auch der der Ansteckung mit dem HI-Virus - zu erfolgen. Wer »nur« Lust wolle und deswegen einer Befruchtung bewusst vorbeuge, habe als spätere Konsequenz ewige Höllenqualen zu erleiden, wenn er nicht die unsichere und von solchen religiösen Überzeugungen wohl deswegen als zulässig gewertete Kalender-Methode anwende. Wenn man aber solch eine extrem religiös-fundamentalistische Position nicht teilt und einer durch den weiblichen Körper wandernden Blastozyste noch keine »Mensch«-Qualität zuerkennt, warum sollte man dann mit einer außerhalb des weiblichen Körpers geschaffenen Blastozyste anders verfahren? Das ließe dann allerdings eine Forschung an embryonalen Stammzellen zu! Und dieses Problem auf einer anderen Ebene gleich weitergedacht: Was soll bei der zu deren Arterhaltung schon angeregten Vereinigung einer menschlichen Eizelle mit einer männlichen Samenzelle von (anderen) Primaten gelten? Die Frauen, die schon ihre Bereitschaft erklärt haben, sich für eine solche Maßnahme zur Verfügung zu stellen, wollen, das sei unterstellt, keine Chimären gebären, sondern finden es – für die Wissenschaft oder sich(?); egal, beides würde, jedenfalls bei den ersten Malen, ungeheure mediale Aufmerksamkeit sichern und ließe so ein geistiges Hascherl, das es nicht in einen der „Big-Brother“Container geschafft hat, einmal im Leben im Scheinwerferlicht stehen – interessant, durch das Austragen eines Affenembryos das Aussterben unserer nächsten Verwandten, die mit uns 98,6 % der Gene gemeinsam haben, hinauszuzögern oder zu verhindern. Doch beschränken wir unsere Überlegungen wieder auf die »Krone der Schöpfung« - und die größte Gefahr(!) für ihr Fortbestehen -, den Menschen. Wenn man in diesem frühest möglichen Stadium, der Verbindung von Ei- und Samenzelle, aus welchen Gründen auch immer noch keine »Mensch«-Qualität anerkennen will: Ab wann wäre dann einem zunächst amorphen und sich langsam strukturierenden Zellhaufen eine »Mensch«-Qualität mit dem sich aus dieser Wertung ergebenden grundrechtlichen Schutzanspruch zuzusprechen? d) Erst ab dem (bei natürlicher Befruchtung aber nicht feststellbaren!) 5.-12. Tag, nach fester Einnistung der befruchteten Eizelle in die Schleimhaut des Uterus und Ausbildung der Individualisierung, weil der Embryo erst durch diese Verbindung zur Mutter überlebensfähig wird - und obwohl die eingenistete Eizelle noch kein Nerven- und Sinnessystem besitzt? Das scheint die bisherige Position des BVerfGs zu sein, das sich hinsichtlich dieser Frage aber noch nicht abschließend geäußert hat. Das GG unterscheidet nach der bisherigen Interpretation durch das BVerfG nicht zwischen einem Embryo und geborenem Leben. Darum kippte das BVerfG ja zweimal die vom Parlament beschlossene Fristenlösung.

370

Dieser Zeitpunkt erfolgter Einnistung könnte dann auch bruchlos für die Zuerkennung von »Mensch«Qualität für außerhalb des Körpers befruchtete menschliche Ei- mit menschlichen Samenzellen angenommen werden, die einer Frau in ihre Gebärmutter eingesetzt werden sollen – mit der Folge, dass vor der Einnistung vorgenommene Manipulationen an Zellkernen zulässig wären, die Entwicklung und Verwendung embryonaler Stammzellen möglich wäre. Wenn man erst zu diesem Zeitpunkt der Einnistung »Mensch«-Qualität anerkennen wollte, dann könnte man sich die gesamte Diskussion um die Erforschung und möglicherweise Verwendung embryonaler Stammzellen in der Therapie menschlicher Krankheiten sparen, denn die außerhalb des menschlichen Körpers durch Vereinigung von menschlicher Ei- mit menschlicher Samenzelle zur Zellteilung angeregten Zellen, aus denen Stammzelllinien entwickelt werden, sollen ja gar nicht in eine Gebärmutter eingepflanzt werden! Gegen die Annahme dieses Zeitpunktes für die Zuerkennung von »Mensch«-Qualität spricht aber eindeutig seine mangelnde Praktikabilität bei natürlicher Zeugung. e) Ab dem 19. Tag nach der Befruchtung, wenn erste Blutgefäße und eine primitive Herzanlage gebildet werden? Doch nur bei sehr regelmäßiger Periode könnte zu diesem Zeitpunkt schon der Verdacht einer Schwangerschaft aufkommen. Die Periode könnte sich ja auch etwas verschoben haben. f) Ab Entwicklung des Großhirns? g) Erst dann, wenn ab dem 47. Tag nach der Befruchtung erstmals Hirnströme nachweisbar sind und der Embryo nunmehr empfindungs- und leidensfähig ist? h) Erst dann, wenn ab dem 56. Tag nach der Befruchtung in dem Embryo alle Organsysteme angelegt sind? i) Nach alttestamentarischer Vorstellung erst nach dem ersten Atemzug des Neugeborenen, so dass ein Fötus als bloßer Teil der Mutter anzusehen ist und keinerlei eigene Rechte besitzt? j) Oder gar erst dann, wenn ein bei Nahrungszufuhr allein lebensfähiger Organismus geboren wurde, um so das Problem anenzephaler Föten gleich mit zu lösen? In unserer Gesellschaft ist immer noch ungeklärt, ob froschartig aussehende Anenzephale, bei denen Großund Zwischenhirn, sowie Schädeldach und eventuell sogar Teile des Stammhirns in unterschiedlicher Graduierung ganz oder weitgehend fehlen, als »Menschen« anzusprechen seien oder ihnen eine »Mensch«Qualität abzusprechen sei. Das mag, das sollte man vielleicht auch so sehen, aber dann muss man sich darüber verständigen und einig sein, es auch so sehen zu wollen. Jeder dieser aufgezeigten Zeitpunkte wäre ein denkbarer - aber nicht immer praktikabler Anknüpfungspunkt für die Zuerkennung der »Mensch«-Qualität und der daraus abgeleiteten, im Grundgesetz für unantastbar erklärten Menschenwürde. Brauchen wir einen »abgestuften Lebensschutz«? Und wenn man nach einer universellen Lösung dieses ethischen Problems sucht, dann gibt es nicht nur biologische, sondern auch rein religiös festgelegte Zeitpunkte, ab denen in manchen Kulturen erst von einer Menschqualität gesprochen wird. So erkennen drei der vier sunnitischen Rechtsschulen eine Menschqualität erst ab dem 40. Tag an. In Israel, woher einige unserer Forscher aus eben diesem Grund Stammzelllinien beziehen, wird die Menschqualität aus religiösen Gründen auch erst ab einem so spät liegenden Zeitpunkt zuerkannt. Solche Kulturen haben aus diesem Grund keine ethisch-religiösen Schwierigkeiten mit embryonaler Stammzellforschung wie christlich-katholisch geprägte mit durchgreifenden meist religiös gegründeten Vorbehalten. (Diese christliche Position ist aber nicht zwingend aus dem Christentum begründbar, denn sonst gäbe es ja aus dem protestantisch geprägten Schweden keine dort entwickelten Stammzelllinien!) Welcher Zeitpunkt soll es nun sein? Es geht um die politische Entscheidung einer auf biomedizinischen Fakten beruhenden, aber selbst von den Wissenschaftlern nicht eindeutig zu entscheidenden gesellschaftlichen Streitfrage eines längeren biologischen Prozesses von der Vereinigung einer Ei- mit einer Samenzelle, über die mögliche Auflösung des Eies bis endlich zur Einnistung des zwischenzeitlich entwickelten Zellhaufens in der Uterusschleimhaut. „Es gibt einfach keine eindeutige wissenschaftliche Antwort auf die Frage, wann menschliches Leben beginnt, oder unter welchen Voraussetzungen es beendet werden darf. Dies sind grundsätzliche ethische Probleme, die jedem einzelnen eine persönliche

371

Gewissensentscheidung abverlangen.“81 Religion oder Philosophie bieten zwar ihren jeweiligen Anhängern Orientierung, aber keine allgemein verbindliche Entscheidungsbasis an. Das Ergebnis der politischen Entscheidung in dieser Streitfrage muss dann in rechtliche Formen gegossen werden. *

Ab wann soll einem menschlichen Organismus Menschqualität aberkannt werden? Früher war ein Mensch offensichtlich spätestens dann tot, wenn er kalt auf der Bahre lag. Das verstand jeder, und jeder war gleich kompetent, solchen offensichtlichen Tod festzustellen. (Selbst wenn ein so offensichtlich Toter angeblich – wie Siegfried - beim Erscheinen seines Mörders noch bluten können sollte, um so als Toter einen letzten Hinweis darauf zu geben, wer rächend verfolgt werden musste, um der göttlichen Gerechtigkeit schon auf Erden zu einem weiteren Sieg zu verhelfen, wurde keiner der so offensichtlich Toten als noch bis zu diesem letzten Hinweis lebend geglaubt. Man hätte ihn ja sonst verwesend noch einige Zeit oberhalb der Erde aufbewahren müssen.) Und es gab keinen Grund, dieses natürliche Verständnis vom Tod eines Menschen anders sehen zu wollen. Mit den Erfolgen der Transplantationsmedizin dagegen wuchs das Bedürfnis, an noch lebensfähige Organe aus schwerstgeschädigten und darum ohne medizinische Unterstützung nicht mehr lebensfähigen menschlichen Körpern zu kommen. Die Organe durften noch nicht durch zu lange Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zu den Zellen unwiederbringlich geschädigt sein, um sie noch zumindest relativ lebensfähigen Menschen, deren Lebenssituation durch die geplante Organtransplantation entscheidend verbessert werden sollte und/oder die ohne eine solche Operation oftmals keine größere Chance des Weiterlebens haben, einzusetzen. Aus diesen Leiden lindernden Nützlichkeitserwägungen heraus, musste »der Tod« eines Menschen vorverlegt werden. Ein künstlich an der Aufrechterhaltung von Lebensfunktionen gehaltener warmer menschlicher Körper musste jetzt auf der Grundlage medizinischer Erkenntnisse von Ärzten auf der Grundlage einer juristischen Definition »tot definiert« werden! Das war ein ungeheurer Tabu-Bruch! In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um den vorzuverlegenden nunmehr anzunehmenden Zeitpunkt des menschlichen Todes setzte sich die Ansicht durch, dass der Hirntod die »Mensch«-Qualität und damit die Menschenwürde begrenzen solle. Das ist mit Ängsten besetzt, denn jetzt geht das Bestimmungsrecht über die Feststellung der Aberkennung von »Mensch«-Qualität noch warmer menschlicher Körper an die Ärzte über. Ein großer Teil der im Krankenhaus den noch warmen Körper eines hirntoten Angehörigen Erlebenden hat Schwierigkeiten, die Aberkennung der »Mensch«-Qualität durch die Feststellung des Hirntodes nachzuvollziehen und den nicht mehr lebensfähigen Körper zur Organentnahme freizugeben! In den USA wird als weitere Vorverlegung der Aberkennung der Menschqualität inzwischen sogar diskutiert, ob nicht vielleicht schon der Ausfall nur einzelner Hirnregionen als Tod des ganzen Menschen definiert werden könne. Das würde dann konsequenterweise auch den Bereich über die schwierige Entscheidung der Aberkennung der »Mensch«-Qualität von »Wachkoma-Patienten« betreffen: Soll die künstliche Ernährung, ohne die ein Körper nicht lebensfähig ist, abgebrochen werden, ohne dass durch die Strafjustiz zu verfolgende unterlassene Hilfeleistung vorliegt? Ab wann darf auf das Verabreichen künstlicher Ernährung verzichtet werden? Das berührt sowohl Fragen der Sterbehilfe wie der Organentnahme. Ein bei uns bisher ungelöstes juristisches Problem. Seit September 2002 klagt nun ein Vater vor dem Landgericht Traunstein gegen die Pflegeeinrichtung, in der sein Sohn nach einem Selbsttötungsversuch und anschließender halbstündiger Reanimierung durch einen Notarzt seit vier Jahren als Wachkomapatient liegt. Der damals 33-Jährige wurde durch einen Notarzt von den Toten zurückgeholt, ohne aber ins Leben zurückzufinden. Als jedoch im Krankenhaus in Hannover, in das der Notarzt den von ihm Reanimierten hatte einliefern lassen, auf Bitten des Vaters der Beatmungsapparat abgeschaltet wurde, begann der Körper wieder, alleine zu atmen. Nun liegt der Wachkomapatient in einem Pflegeheim im oberbayerischen Kiefersfelden. Heimleitung und Pfleger weigern sich, dem Wunsch des Vaters nachzukommen und den Wachkomapatienten durch Entfernen der Magensonde verhungern zu lassen. Ein solcher Tod würde nach Meinung ärztlicher Experten dem Alterstod am ähnlichsten und wohl auch schmerzlos sein. Nun sollen Richter entscheiden, ob der Tod durch Verhungernlassen auf Grund des gemutmaßten Willens des Wachkomapatienten, wie der Vater ihn interpretiert, erzwungen werden kann. Sowohl Befürworter wie Gegner eines gerichtlich zu erlaubenden Verhungernlassens sammeln als Unterstützer für Vater oder Pflegeeinrichtung ihre Bataillone für einen langen juristischen Kampf bis hoch zum BVerfG.

*

Soll das Embryonen-Schutzgesetz dergestalt verschärft werden, dass die seit 1990 angewandte

81 Haeberle,

E. J.: Die Sexualität des Menschen S. 114 Berlin 19852

372

Präimplantationsdiagnostik (PID), mit der bis Mai 2001 weltweit in 693 Fällen embryonenausgesuchte Kinder geboren wurden, bei uns verboten bleibt? Soll sie erlaubt werden? Mit deren Verfahren können Gene in einer befruchteten Eizelle im Acht-Zell-Stadium durch Herausnahme und Aufteilung nur einer Zelle zwecks Untersuchung vor der Implantation der Eizelle in die Gebärmutter auf Geschlecht und für Erbkrankheiten verantwortliche Gendefekte hin untersucht werden. Bei einem Gendefekt würde dieser Embryo vernichtet und ein anderer der üblicherweise drei dafür vorbereiteten in die Gebärmutter eingesetzt. Durch Chromosomenselektion bei Risikopaaren mit vererbbaren Chromosomenstörungen oder erhöhter Gefahr genetischer Erkrankungen – 50 bis 100 Paare pro Jahr in Deutschland - werden die Embryonen selektiert, die die besten Entwicklungschancen haben. Embryonen mit zum Abort führenden Chromosomenstörungen könnten ausgeschieden und so Fehlgeburten verhindert werden. Wenn nur Embryonen mit günstigen Chromosomen eingesetzt werden, werden Mehrlingsgeburten vermieden und die Erfolgsraten einer künstlichen Befruchtung verbessert. Von den Gegnern der PID-Anwendung wird immer wieder vorgebracht, es gäbe kein Recht auf ein unbehindertes Kind. Darum sei die PID zur Selektion von Embryonen abzulehnen. Die Eltern hätten durch PID-Anwendung verhinderbares Leid hinzunehmen. Nach meinem Dafürhalten eine grausame rigoristische Haltung – vielleicht geboren aus der Beobachtung chinesischer und indischer Verhaltensweisen, dass vorrangig männlicher Nachwuchs gewünscht wird, wenn durch PID das Geschlecht bestimmt werden kann. Diese Tendenz zur Geschlechtsdiskriminierung weiblicher Embryonen sei nach einer auf Grund von Befragungen in verschiedenen Kulturkreisen ermittelten UNO-Studie global festzustellen. Dem müsste von Anfang an ein Riegel vorgeschoben werden. Doch dem lässt sich entgegenhalten, dass »der (Heirats-) Markt« dieses Problem schon regeln werde: Wenn es zu wenige Frauen gibt, wird ihre Gesellschaft so attraktiv, dass jeder Mann bereit ist, die von ihm Angebetete auf Händen zu tragen! Oder sie zu rauben, wie es in ländlichen Gegenden Chinas schon in nennenswertem Umfang passiert; wobei Frauenräuber ihre Opfer schon aus Nachbarländern Chinas rauben und dann in China gegen Gebot verkaufen. Inzwischen hat sich noch eine Variante einer möglichen Ablehnung der PID mit entgegengesetzter Stoßrichtung ergeben: Gibt es ein Recht auf ein behindertes Kind? In Großbritannien wollten gehörlose Eltern aus mehreren zur Implantation in die Gebärmutter der Ehefrau zur Verfügung stehenden Embryos den eines weiblichen Embryos mit ebenfalls auf Grund der Genstruktur anzunehmender Gehörlosigkeit auswählen. Ein zu gebärendes gehörloses Mädchen würde am besten in die bestehende Familienstruktur mit schon vorhandenen gehörlosen Kindern passen. Die Richter hatten zu entscheiden, ob es ein Recht auf ein „wrongful life“ gebe! (Den Ausgang des Verfahrens teilte die Justizministerin Däubler-Gmelin in dem Rundfunk-Interview, in dem sie diesen Fall schilderte, aber leider nicht mit. Juristisch gesehen sehr schade! Vielleicht stand die Entscheidung ja noch aus.) Doch wir sind nicht aus der Verpflichtung entlassen, uns Gedanken darüber zu machen, was nach unserem Empfinden und unserer Überlegung in diesem Fall „für Recht erkannt“ werden sollte: Wie würden wir als mit der Entscheidung in diesem Fall befasste Richter entscheiden? Zunächst wehrt sich bei mir als gesundem Menschen im Inneren alles dagegen, dass Eltern bewusst ein noch auszutragendes Kind sollten auswählen dürfen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht über alle Sinne verfügen wird – was gemeinhin (von Gesunden) als »Behinderung« verstanden wird. Und in unserer Massenverkehrsgesellschaft ist Gehörlosigkeit sicher eine Behinderung: Das werden die Eltern vermutlich spätestens dann auch so sehen, wenn ihr Kind von einem Auto tödlich überfahren werden sollte, dessen Herannahen es nicht hörte, auf Grund der bewussten vorgeburtlichen Entscheidung der Eltern nicht hatte hören können. Gehörlose sehen das aber nicht alle so: In den USA hat sich ein Netzwerk von Gehörlosen gebildet, die sich als in anderen Räumen lebende Elite verstehen und eine eigene Kultur mit teilweise eigenem Slang in ihrer Gebärdensprache entwickelt haben. Zwei in diesen Kreisen lebende gehörlose lesbische Frauen wollten gehörlose Kinder haben. Die konsultierten Ärzte lehnten eine dementsprechende Hilfestellung ab. Sie konnten es nicht mit ihrem Standesethos vereinbaren, dass behindertes Leben bewusst ausgewählt und gezeugt werde. „Taube Designerkinder“, oder allgemeiner betrachtet: „positive Behindertenselektion“, sei eine mit dem ärztlichem Selbstverständnis nicht zu vereinbarende eugenische Gefahr der neuesten Reproduktionsmedizin. Auch das von den Lesbierinnen angefragte Samendepot in Maryland verweigerte seine Mithilfe. Durch die Ablehnung fühlten sich die Frauen in ihrer »Reproduktionsfreiheit« eingeschränkt, eine Freiheit, die man in einer freien Gesellschaft zu den Rechten eines Individuums zählen kann und die in den USA von der Leihmutterschaft bis zur gezielten Geschlechtsreproduktion alles erlaubt,. Sie klagten aber nicht gegen die Ablehnung der Ärzte. Eine solche Klage wäre vermutlich auch nicht erfolgreich: Wie will ein Gericht einen Arzt zu einem Eingriff zwingen, den er glaubt, ethisch nicht vertreten zu können? Sie sannen anders auf Abhilfe. In »ihren Kreisen« suchten sie nach einem gefälligen Samenspender, und fanden

373

auch jemanden, der schon in der fünften Generation taub ist, was eine hohe Wahrscheinlichkeit beinhaltet, dass er genmäßig ebenfalls taube Kinder zeugen werde. Ohne Mithilfe eines Arztes – und ohne weiteren Spaß – führten die lesbischen Frauen sich die Samenspende ein und waren 1996 und 2002 erfolgreich: Gauvien und Jehanne sind beide ebenfalls taub. Die in den USA gesellschaftlich traditionell über großen Einfluss verfügenden Kirchen konnten in diesem Fall nicht aufschreien, denn die beiden Frauen haben weder - wie von den in Großbritannien klagenden Eltern beabsichtigt - die Methoden der PID zu gezielter Selektion in Richtung Behinderung genutzt, noch Embryonen mit Gendefekt vernichtet oder gesunde Embryonen abgetrieben! Sie haben auch keinen „Samenraub“ begangen, wie ihn Boris Becker in Bezug auf die in einer Hotelbesenkammer gezeugte Tochter für sich in Anspruch nehmen wollte, sondern nur eine Samenspende nach einem bestimmten körperlichen Merkmal des Samenspenders ausgewählt. Und wenn sich in unseren Überlegungen Bedenken einstellen sollten, dass eine Samenspende zu diesem Zweck der bewussten Zeugung eines hörbehinderten Kindes benutzt wurde, dann müssten wir uns (als die gedanklichen englischen Richter, die entscheiden sollen, was als rechtens angesehen werden solle) vorstellen, dass das Kind von einem Lebenspartner oder dem Ehemann gezeugt worden sei. Dagegen lassen sich keine rechtlichen Einwendungen vorbringen. Die klagenden britischen Eltern haben diese Chance ja auch – aber sie wollten sicher gehen und dafür die Möglichkeiten der PID nutzen. Darf „erlaubte Reproduktionsautonomie“ so weit gehen? Jeder muss in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Grenzen dessen, was in unserer Gesellschaft erlaubterweise toleriert werden soll zu seiner eigenen Antwort finden und dann – falls sie oder ihn das Problem bewegt – nach einer Einflussmöglichkeit, z.B. durch Gespräche mit den Abgeordneten aus dem eigenen Wahlkreis, suchen, um zu versuchen, seine Sichtweise in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen. Und bevor wir zu unserem ganz persönlichen Richterspruch finden, sollten wir uns eine mögliche weitere Konsequenz unserer Entscheidung vor Augen führen: Wenn wir zugestehen sollten, dass eine irgendwie behinderte Mutter die Implantation eines nach PID-Untersuchung mit hoher Wahrscheinlichkeit in der gleichen Weise wie sie behinderten Embryos rechtlich erzwingen können soll, soll dann in letzter Konsequenz eine Behinderte ein sich gesund entwickelndes Kind straffrei abtreiben dürfen, weil sie glaubt, es nicht ertragen zu können, dass ihr möglicherweise gesundes Kind nicht in ihrer abgeschlossenen Welt leben werde, in der sie sich so gut eingerichtet hat, dass sie nicht mehr anders leben möchte, weil sie sich möglicherweise als kulturelle Elite empfindet? Eine weitere sich im Kontext mit der PID auftuende Frage ist, ob Ärzte schadensersatzpflichtig gemacht werden können, wenn sie bei einer PID vorhandene und sehr wohl erkennbare Gendefekte fehlerhaft nicht erkennen. In Frankreich ist nach einem solchen Fall Ende 2001 die Diskussion in Gang gekommen, ob Ärzte von solchen Schadensersatzansprüchen freigestellt werden sollen, weil sich die Ärzte sonst weigern könnten, die – in den USA schon auf 40-60 Tests sich erstreckenden - Möglichkeiten der PID anzuwenden, wenn sie hinterher für Fehlbeurteilungen haftbar gemacht werden können. Selbstverständlich haben die Ärzte in ihren Haftpflichtversicherungen starke Verbündete, denn die haben kein Interesse daran, für ein behindertes Kind lebenslang zu zahlen. Jetzt müssen die Juristen abwägen, was geschehen soll: Von den Folgen einer Falschbeurteilung freistellen, oder aus diesem und anderen, eventuell den vorstehend genannten Gründen die Anwendung der PID verbieten? Der am 02.05.02 zur Einschätzung der Risiken in den Lebenswissenschaften von der Bundesregierung zu ihrer Beratung eingesetzte, aus 24 Vertretern der Bereiche Naturwissenschaften, Medizin, Theologie, Philosophie, Soziologie und Rechtswissenschaft bestehende und auf vier Jahre berufene Nationale Ethikrat sprach sich 2003 – entgegen dem Mitte 2002 abgegebenen Votum der vom Bundestag eingesetzten Enquetekommission Bioethik - in eng umgrenzten Fällen des Vorliegens eines durch die Anlage zu einer Erbkrankheit oder auf Grund einer Chromosomenstörung zu befürchtenden Gen-Defektes bei den potentiellen Eltern entstehenden „existenziellen Konfliktes“ mit 15 gegen 9 Stimmen mehrheitlich in einem 72-seitigen Gutachten für die Anwendung der nach dem Embryonenschutzgesetz bisher verbotenen PID aus. Das die Mehrheit überzeugende Argument: Es könne nicht im Reagenzglas verboten werden, was Monate später im Mutterleib erlaubt wäre! Es wäre reine Prinzipienreiterei, beim Vorliegen von Verdachtsgründen auf eine Erbgutschädigung möglicherweise geschädigte befruchtete Eizellen erst einzupflanzen und den daraus entstandenen Fötus dann erlaubterweise noch im 5.-6. Monat abzutreiben. (Bei über 40-Jährigen sind mehr als 60 % der Eizellen nicht in Ordnung, bei 43-Jährigen sind rund 80 % und ab etwa 44-45 Jahren sind rund 100 % der Embryonen geschädigt, so dass Reproduktionsmediziner fordern, das Embryonenschutzgesetz auch hinsichtlich der Zahl der pro Zyklus bisher zur künstlichen Befruchtung freigegebenen drei Embryonen zu ändern, damit die gesündesten - per PID - ausgewählt werden können.) Die PID müsse immer im Zusammenhang mit der pränatalen Diagnostik gesehen werden! Die Frauen

374

müssen durch eine frühe Feststellung einer Chromosomenschädigung vor dem Beginn einer Schwangerschaft geschützt werden dürfen, die sie dann Monate später mit gesundheitlichen Risiken für sich wegen der dann offenbar gewordenen Schädigung des Fötus mit einer Abtreibung erlaubt beenden könnten. Ohne Anwendung der Möglichkeiten der PID ergäbe sich beim Vorliegen von Verdachtsgründen auf eine Genschädigung (z.B. Down-Syndrom/„Mongolismus“) oder eine Erbkrankheit (z.B. Mukoviszidose), die Eltern zur vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft veranlassen könnte, ein „Menschsein auf Probe“. Unverständlicherweise will der Ethikrat die Anzahl der PID-Untersuchungen auf 100 pro Jahr begrenzt wissen: Und wenn der Bedarf größer ist? Will man die anderen Frauen dann zunächst in eine Schwangerschaft treiben und später deren geschädigte Leibesfrucht abtreiben – also ihnen zunächst das auferlegen, was durch die PID-Untersuchung verhindert werden kann und soll? Kritiker befürchten, dass die pränatale Diagnostik Frauen mehr als andere gynäkologische Maßnahmen dazu zwingen könnte, Gesundheitskontrolle nicht nur als ein Gut, sondern sogar als moralische Pflicht gegenüber dem zukünftigen Kind zu sehen, die von einem Partner, einer Versicherung der Gesellschaft oder gar dem Kind selbst eingefordert werden könnte. In diesem Zusammenhang wird auf die so genannten „wrongful life“-Prozesse in den USA verwiesen. Eine solche Pflicht wird aber maximal nur in den Fällen bestehender Therapiemöglichkeit als sinnvoll angesehen, zumal sie selbst dort nicht immer eindeutig bestimmbar sei.82 Ein weiteres vorgebrachtes - auf jeden Fall zunächst bedenkenswertes, aber möglicherweise dann doch nicht durchschlagendes - Gegenargument der Vertreter der Minderheit im Nationalen Ethikrat ging dahin, dass durch eine solche Entscheidung für die Anwendung der Möglichkeiten der PID zwar den zukünftigen „verhinderten Eltern“ geholfen werde. Aber welch ein inhumanes Signal sei das für die jetzt in unserer Gesellschaft lebenden Kranken, deren Krankheit durch die Anwendung der (sich immer mehr ausweitenden) Möglichkeiten der PID frühzeitig hätte erkannt werden können und deren Geburt dann vermutlich überwiegend verhindert worden wäre, wenn diesen Kranken durch die Entscheidung der Gesellschaft für die geburtenverhindernde Nutzung der Möglichkeiten der PID signalisiert würde: Eine unerwünschte Geburt von weiteren eurer Leidensgenossen soll verhindert werden; und damit unausgesprochen: ihr seid lebende Unerwünschte! Es ist für mich aber sehr die Frage, ob von der jeweiligen verhinderbaren Erbschädigung Betroffene in so kleinen geistigen Karos denken - oder ob sie angesichts ihrer eigenen Krankengeschichte nicht vielmehr anderen wünschen, von ihrer Krankheit und ihrem Leid verschont zu bleiben: „Das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht!“ Mit dem Minderheitenargument hätte sich viel medizinischer Fortschritt zum Nachteil Nachgeborener verhindern lassen: „Die sollen auch das durchmachen, was ich durchmachen muss. Es wäre ungerecht, wenn ich einer der letzten an dieser Krankheit Leidenden gewesen sein sollte. Warum nur ich?“ Ich glaube nicht, dass Gespräche mit Betroffenen eine solche »negative Solidarität« einfordernde Geisteshaltung zu Tage fördern würde!

Gesundheitsministerin Fischer hatte 2001 vor ihrem Rücktritt einen Gesetzentwurf erarbeiten lassen, der die Anwendung der PID verbieten sollte, weil sie befürchtete, dass die Entwicklung, wenn man sie weiterdenke, auf Kinder mit gewollter Genausstattung hinauslaufen könnte. Qualitativ als nicht optimal beurteilte Embryonen würden vernichtet werden. Über diese Problematik wurde der (bislang in Deutschland noch nicht gezeigte) USFilm „Gattaca“ gedreht, in dem ein Arzt mittels Gentest nach idealem Nachwuchs sucht. Die Eltern dürfen sich einen Embryo aussuchen. Die Gesundheitsministerin schreckte – wie mehrheitlich die Grünen, die in dieser Frage sehr »katholisch-fundamentalistisch« denken - die Vorstellung selektierten Lebens. „PID bedeutet faktisch eine Selektion von Embryos nach den Kriterien von Tauglichkeit und Optimalität“, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Loske. Das sei „Gen-Diskriminierung“. Der Mensch dürfe niemals ein Geschöpf des Menschen in Form einer chemischen Formel werden. „Eltern haben kein Recht auf ein gesundes Kind.“ Die damalige Justizministerin teilte diese Ansicht: Das deutsche Embryonenschutzgesetz erlaube die Herstellung von Embryonen ausschließlich zur künstlichen Befruchtung, nicht aber zur Selektion unter Anwendung von Verfahren der PID. Andere sehen in der durch die PID ermöglichten „positiven Eugenik“ die Chance, Anlagen zu schwersten Krankheiten zurückzudrängen: Warum solle ein Embryo mit Anlagen zu schwersten genetischen Schäden zur Entwicklung gebracht, warum ein solcher Fötus vor der Geburt abgetrieben werden, wenn von den einzupflanzenden Embryonen auch völlig gesunde zur Verfügung stehen? Die Eltern hätten kein Recht auf ein gesundes Kind: Wenn aber mehrere Embryonen zur Einpflanzung zur Verfügung stehen, warum muss es dann der mit den Schäden in seinen Erbanlagen sein, wenn ungeschädigte gleichfalls zur Verfügung stehen? Was soll 82

Vgl. Mieth, D./Haker, H.: Gentechnik am Menschen – Eine ethische Bewertung in Brandt P.: Zukunft der Gentechnik, S. 261

375

an dieser Wahl falsch sein? Die Nachfolgerin der Justizministerin teilte bezüglich der Nichtanwendung der PIDMethoden die Meinung ihrer Vorgängerin. Das ist in meinen Augen eine etwas wirklichkeitsfremde rigoros aber für die Ministerin typische Sicht der Dinge, denn es entstehen durch die Hormonbehandlung zur Vorbereitung auf eine künstliche Befruchtung oft mehr Embryonen, als hinterher eingesetzt werden. Es muss dann sowieso selektiert werden: Warum nicht nach defektloser Genstruktur? Dieser programmatische Satz: „Eltern haben kein Recht auf ein gesundes Kind“, der mehrheitlich ebenfalls von den Ärzten vertreten wird, kann aber auch in die Richtung seiner negativen Konsequenz hin umformuliert werden und zeigt dann die teilweise lebenslangen Anforderungen, die Ärzte und Theologen mit dieser die PID ablehnenden Meinung und letztlich die Mehrheit der Politiker im Gesetzgebungsorgan Bundestag den betroffenen Eltern (bisher) zumuten, wenn die jetzige Gesetzeslage nicht geändert werden sollte: „Eltern haben nötigenfalls die Pflicht zum (erneuten) eventuell lebenslangen Leid, auch wenn sie schon ein krankes Kind haben, durch das das Vorliegen der meist verdeckten Gendefekte beider Eltern offensichtlich wurde!“ Wer vielleicht sogar erst unwissentlich - Gendefekte in sich trägt und trotzdem möglicherweise weitergibt, habe dafür lebenslang zu büßen – auch wenn das vermeidbar wäre! So entsteht z.B. ein mukoviscidosekrankes Kind dadurch, dass sich zwei lieben, die beide den Träger dieser Krankheit in sich tragen und es vielleicht bisher nicht wussten, da bisher immer der die Krankheit auslösende ergänzende Teil in der Familiengeschichte fehlte. Ohne den zweiten in dieser Hinsicht erblich belasteten Partner kann die Krankheit nicht ausbrechen. Und selbst wenn wie in meinem Freundeskreis passiert - in Tuttis Geschwisterkreis ein mukoviscidoses Kind schon vor der Geburt ihrer eigenen Tochter aufgetaucht war, woher sollten sie und ihr Mann Uwe wissen, ob durch diesen anderen Ehepartner ebenfalls die die Krankheit auslösende Genkombination zusammentrifft? Damals gab es noch keine PID, und sie haben ein mukoviscidosekrankes Kind. Aber wie hätte sich die katholische Ehefrau und wie hätte sich der evangelische Ehemann entschieden, wenn es die neueren biomedizinischen Untersuchungsmöglichkeiten schon gegeben hätte? Hätten sie von vornherein auf ein „eigenes“ Kind verzichtet und gleich ein (nunmehr weiteres) Adoptivkind angenommen? Vermutlich ja. Durch ein vermeidbares Schicksal gefährdeten Eltern diese neue biomedizinische Erkenntnismöglichkeit zu verweigern, ist in meinen Augen eine unbarmherzige und menschliches Leid anderer verachtende, in meinen Augen vielleicht sogar unchristliche Haltung. Aber über letzteren Gesichtspunkt müssen Berufenere als ich in der evangelischen Kirche streiten; die Position der katholischen Kirche zur PID ist klar ablehnend. Die Anwendung von Verfahren der PID zu verbieten, lässt sich rigoros und unbarmherzig fordern, wenn man nicht selber betroffen ist! Beispiel: Ca. 3.000 Jungen in der Bundesrepublik - Mädchen befällt diese Krankheit nicht – leiden an neuraler Muskeldystrophie, einer Krankheit, die zwar in einem Gendefekt angelegt ist, aber üblicherweise erst zwischen dem 5. und 20. Lebensjahr auftritt und sich entfaltet und in deren Verlauf sich alle Muskeln des ganzen Körpers zersetzen, bis die Jungen nach langen Jahren im Rollstuhl mit all den Auswirkungen der schwindenden Muskeltätigkeit für eigenes Handeln, Essen, Trinken, Blasen- und Darmtätigkeit qualvoll erstickt sind, weil die zur Atmung erforderlichen Muskeln irgendwann nicht mehr ausreichend arbeiten. Eine Familie, die schon ein mit dieser Krankheit befallenes Kind hatte, bekam ein zweites, von dem sich nachträglich herausstellte, dass dieser Junge ebenfalls an dieser Krankheit leidet. Die interviewten Eltern fanden es schwer zu wissen, dass sie von ihren beiden Jungen werden Abschied nehmen müssen. Sie hätten sich gerne das zweite Leid erspart, wenn – auf Grund der beim ersten Kind diagnostizierten Krankheit – vor der zweiten Schwangerschaft durch PID untersucht worden wäre, ob das zweite Kind auch ein Junge sein und an dieser Krankheit leiden werde. Wer will, wer kann - außer rigorosen »Lebensschützern« - solcherart durch unverträgliche Genkombinationen betroffenen Eltern die viel menschliches Leid ersparende Prognosemöglichkeit der PID an einem »Acht-Zell-Haufen« verweigern? „Sie würde den Fluch über ihrer Familie brechen, ein für alle Mal. Wenigstens die Kinder sollten verschont bleiben. Das beschloss die 30-jährige US-Amerikanerin, als sie erfuhr, sie selbst werde bald Opfer von V717L sein. Als Genetikerin wusste sie sehr genau, was sie da unternahm: Ihr Vater starb mit 42 ohne Gedächtnis. Die Schwester geriet mit 38 in die Klauen des Leidens und verdämmerte, nun nicht mehr ansprechbar, in einem Pflegeheim. Bei ihrem Bruder begann das große Vergessen schon mit 35. V717L ist nur ein winziger Defekt, eine einzige Veränderung im Erbgut, und doch sind die Folgen grausam: Nahezu sicher erkranken die Träger des Genfehlers vor ihrem 40 Geburtstag an einem aggressiven Alzheimer-Leiden. Um ihren Kindern das Schicksal zu ersparen, vertraute die Frau auf einen relativ wenig bekannten Gentest, die Polkörperdiagnose (...). Dieser Test erfolgt extrem früh: an einer Eizelle, in die erst vor

376

kurzem ein Spermium eingedrungen ist. Das Erbgut von Mutter und Vater hat sich noch nicht vereinigt, deshalb genießt diese besamte Eizelle auch noch nicht den juristisch und ethisch strengen Schutz eines Embryos. Daher ist die Polkörperdiagnose eine kaum anfechtbare Variante der umstrittenen Präimplantationsdiagnostik PID (...). Mit solchen Polkörperdiagnosen an künstlich befruchteten Eizellen der jungen Genetikerin beendete der Reproduktionsforscher Yuri Verlinsky vom Reproductive Genetics Institute in Chicago das tödliche Roulette der Natur. Insgesamt 13 künstlich besamte Eizellen der Patientin hatte Verlinskys Ärzteteam mit der Polkörperdiagnose durchleuchtet. Sieben dieser Eizellen wurden verworfen, bevor ihr Leben richtig begonnen hatte. Die anderen sechs zeigten keine AlzheimerVeranlagung. Vier wurden der Mutter übertragen, eine gesunde Tochter brachte sie zur Welt. Sein noch ungeborenes Geschwister, an dessen Zeugung Verlinskys Kollegen gerade arbeiten, soll ebenfalls gesund bleiben. Auch dieses Kind wird nur leben, wenn Gentests vor seiner embryonalen Entwicklung bestätigt haben, dass es den Alzheimer-Defekt nicht geerbt hat und nicht weitergeben kann – eugenische Auslese im Labor. Der Fall, erst im Februar im Journal of the American Medical Asssoziation publiziert, ist nur der letzte in einer Reihe spektakulärer Versuche der Reproduktionsgenetiker, Albträumen der Natur zu wehren. Und nicht nur diesen. Das Anwendungsspektrum der PID-Techniken reicht inzwischen von verbesserten Schwangerschaftsraten bei Retortenbefruchtungen über genetische Qualitätsprüfung bis zur Zeugung gewebekompatibler Babys, mit deren Spenderzellen todkranke Geschwister therapiert werden können. ... In Lübeck wird auf Mukoviszidose getestet. In solchen Fällen erheben PID-Gegner rasch den Eugenikvorwurf: Niemandem, auch den Eltern nicht, stehe die Entscheidung zu, ob ein kranker oder gesunder Mensch leben dürfe. Wie diffizil die Entscheidungen sein können, zeigt der Alzheimer-Fall aus Chicago besonders deutlich: Dürfen die Aussortierten gar nicht erst leben, weil ihnen eine schwere Krankheit droht, und zwar nach 40 gesunden Jahren? Darf man das?, fragen sich nicht nur Ethiker. Und welcher Schaden droht der nun geborenen gesunden Tochter, die bald eine Mutter haben wird, die nicht für sie sorgen kann, sie in wenigen Jahren nicht einmal erkennen wird? Oder ist gerade deshalb der Embryonencheck doch vorbildlich, geradezu ethisch geboten? Schließlich hat sie ihrem Kind das eigene, schlimme Schicksal erspart. Dann müsste man allerdings auch Eltern gewähren lassen, die ihre Kinder vor dem Veitstanz (Huntington-Krankheit) bewahren wollen. Dieses tödliche Nervenleiden bricht meistens erst jenseits der 50 aus. ... Längst ist schon die nächste Eskalation im Ringen um die Babytests in Sicht: Rechtfertigt bereits eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für schwere Krankheiten die Laborselektion?... Unwägbar erscheinen schließlich die aufsehenerregendsten Fälle Verlinskys: Bereits dreimal hat er verzweifelten Eltern zu genetisch geprüftem Nachwuchs verholfen, um ihre todkranken Kinder zu retten, denen nur noch mit Nabelschnurblut oder einer Knochenmarkspende zu helfen war. Die musste immunologisch passen – aber dafür fehlten Spender. Also half er bei der Zeugung eines passenden Babys. Mindestens ein todgeweihtes Kind hat er so bereits gerettet.“ (Aus dem Artikel „Check im Eikern“ DIE ZEIT 21.03.02) Man muss wissen, wovon man spricht, wenn man juristisch Position beziehen will. Wir alle müssen uns informieren, um uns an der erforderlichen gesellschaftlichen Diskussion um die gewollten und die nicht gewollten Möglichkeiten der Biomedizin beteiligen, um notfalls mit unseren Abgeordneten vor deren Entscheidung im Parlament wenigstens diskutieren zu können! Parteien erarbeiten vor Wahlen Wahlprogramme, in denen sie gesellschaftspolitische Grundpositionen beziehen, mit denen sie um Wählerstimmen werben. Für den Fall des Wahlsieges kündigen sie bestimmte gesetzgeberische Vorhaben oder ein Absehen von in der gesellschaftlichen Diskussion befindlichen gesetzlichen Neuregelungen an. Für die nächste anstehende Bundestagswahl kann es sehr gut sein, dass zu diesen exemplarisch angesprochenen aktuellen Problempunkten aus dem Bereich der Biomedizin gesetzgeberische Maßnahmen angekündigt oder ausdrücklich ausgeschlossen werden. Zwar sind in der verfassungsrechtlichen Theorie die Abgeordneten laut Art. 38 I 2 GG „... Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, aber wehe ihnen, sie haben (zu häufig) kein parteikonformes Gewissen und vertreten von der von der Mehrheit der Fraktionsmitglieder in Fraktionsabstimmungen festgelegten Meinung abweichende Ansichten! Dann wurden sie am Ende der Wahlperiode bisher meistens durch verweigerte erneute Nominierung abgestraft! Für die Einhaltung der einzelnen (wichtigen) Punkte der Wahlprogramme sorgt so der Fraktionszwang, den es nach der

377

in der Verfassungstheorie gewährten Gewissensfreiheit gar nicht geben dürfte, dem sich aber im Zweifelsfall für den Preis des eigenen politischen Überlebens (fast) alle Abgeordneten unterwerfen. Das ist bundesrepublikanische Verfassungsrealität. Dem Zwang zur Einhaltung der Fraktionsdisziplin entgegen der hehren Verfassungstheorie unterwerfen sich die Abgeordneten letztlich, um nicht ihre erneute Nominierung als Wahlkreiskandidat ihrer Partei für die nächste Wahl zu gefährden, denn als parteiunabhängiger Wahlkreiskandidat hat man beim Verhältniswahlrecht so gut wie keine Chance, in den Bundestag gewählt zu werden. Das hat in den 50 Jahren Bundesrepublik bisher nicht einmal eine Handvoll Kandidaten geschafft. Nur in wenigen den einzelnen Menschen zentral betreffenden Fragen geben die Parteien die Abstimmung über die Fraktionsgrenzen hinweg frei. Da dürfen die laut Art. 38 I 2 l. H. GG (angeblich) nur ihrem Gewissen unterworfenen Abgeordneten jeder für sich unabhängig vom Fraktionszwang – aber dann nicht unbedingt frei von außerparlamentarischem Druck gesellschaftlicher „Pressure-groups“, in denen sich die katholische Kirche immer wieder Anstoß erregend hervor tat, keinen Wertepluralismus zuließ und von allen anderen die Einhaltung der von ihr vertretenen Grundpositionen forderte, ja sogar mit einem Aufruf an ihre Gläubigen zur Stimmverweigerung gegenüber Abgeordneten drohte, die nicht die von der Kirche vorgegebene Meinung vertreten würden - entscheiden, welche Position sie in der die parlamentarische Debatte letztlich abschließenden Abstimmung beziehen. Alle Fragen aus den Bereichen der Biomedizin und Medizinethik werden hoffentlich solche nicht dem Fraktionszwang unterworfenen Fragen sein. Die Abgeordneten müssen vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigen, welche Antworten sie auf solche existentiellen Gretchen-Fragen geben wollen wie: „Wie hältst du es mit der PID, der Nutzung von Stammzellen, dem Klonen, ... ? Wo beginnt für dich die »Mensch«-Qualität?“ Mit dieser Entscheidung müssen wir dann so lange leben, bis - wie z.B. in der Diskussion um die Neuregelung des § 218 StGB geschehen - das von den unterlegenen Abgeordneten mit nahezu tödlicher Sicherheit angerufene BVerfG die Bundestagsentscheidung bestätigt oder verwirft; oder nach einer neuen Wahl anders zusammengesetzte parlamentarische Mehrheiten anders entscheiden. Wer kann in den anstehenden Entscheidungen der Biomedizin gengeschädigten Eltern bei bestehendem (eventuell weiterem) Kinderwunsch die Pflicht zu (weiterem) lebenslangem Leid wegen vermeidbarer schwerster Erbkrankheiten (weiterer) geplanter Kinder auferlegen, wenn er nicht selber diese Last zu tragen hat? Da haben sich nach meinem Dafürhalten die zur Entscheidung aufgerufenen Abgeordneten mit ihren (Glaubens-) Überzeugungen zurückzuhalten und betroffenen Eltern eigene Entscheidungsautonomie zu eröffnen! Dabei ist es immer noch wieder eine ganz andere Sache, wenn in ihrem eigenen Leben selbst durch eine Erbkrankheit zumindest eines Elternteiles betroffene Eltern sich im vollen Bewusstsein des Risikos für ein gemeinsames Kind für eine Realisierung dieses Kinderwunsches entscheiden, weil sie ihr eigenes BehindertenLeben als Kranke/r trotz dieser Krankheit als so lebenswert empfinden, dass sie davon ausgehen, dass ihr Kind zu der gleichen Haltung finden werde wie sie, wenn es die Anlage zu der Krankheit von seinen mit dem Gendefekt belasteten Elternteilen als Danaergeschenk in seine eigene Genstruktur gelegt bekommt. Aber wer nicht so empfindet, dem soll diese Leid verhindernde Erkenntnismöglichkeit der PID vom Gesetzgeber verschlossen werden? Das ist für mich nicht nachvollziehbar! Die Nachfolgerin der zurückgetretenen Gesundheitsministerin Fischer, Schmidt, ließ diesen die Sachlage verschärfenden Entwurf ihrer Vorgängerin im Amt nach Amtsantritt – in Übereinstimmung mit der Forschungsministerin Buhlmann - sofort stoppen: Da Genuntersuchungen am Kind im Mutterleib möglich seien, so dass bei festgestelltem Gendefekt, z.B. bei Mongolismus, eine Abtreibung des Fötus möglich sei, wäre es nicht nur nach ihrer Ansicht höchst unlogisch und ein von Doppelmoral zeugender Wertungswiderspruch, wenn man diese Untersuchung nicht dann schon vornehmen dürfte, wenn die Eizelle noch nicht eingepflanzt sei, sondern erst dann, wenn sich nach Einsetzung aus ihr ein gendefekter Fötus entwickelt habe. Bei möglichst frühzeitiger Untersuchung würde man einer potentiellen Mutter die physischen und psychischen Belastungen einer Schwangerschaft und einer Abtreibung ersparen. Es ist für mich nicht einsehbar, dass einem Embryo im Acht- oder Sechzehn-Zell-Stadium durch das Verbot der PID ein höherer Rechtsschutz zugebilligt wird als einem ausdifferenzierten Fötus nach zwölf Wochen, der nach der Feststellung einer Erbkrankheit abgetrieben werden darf: PID statt „Schwangerschaft auf Probe“! Die damalige Justizministerin Däubler-Gmelin hielt dem entgegen, dass eine Abtreibung in einem solchen Fall nach dem Verbot einer aus Embryodefekten herrührenden eugenischen Indikation durch das BVerfG - nur auf der Grundlage einer medizinischen Indikation erlaubt sei, wenn Leben oder Gesundheit der Schwangeren durch das geschädigte Kind ernsthaft gefährdet sei, u.a. deswegen, weil die Schwangere nicht glaube, mit den auf sie durch ein schwerstgeschädigtes Kind zukommenden Belastungen fertig werden zu können. Dann stehe in einer Rechtsgüter-Kollision Leben gegen Leben und/oder Gesundheit und erlaube den Eingriff. „Ich halte den Test an

378

einem in vitro erzeugten Embryo damit nicht vergleichbar. Dort gibt es keine Rechtsgüter-Kollision. Da geht es um Forschung und Selektion.“ Und auf Nachfrage der interviewenden Redakteure: „Auch wenn die Eltern genetisch belastet sind und damit rechnen müssen, dass ihr künstlich gezeugtes Kind behindert geboren wird, muss dieses Kind also eingepflanzt werden, ohne dass man es vorher untersuchen darf?", die erklärend-bestätigende Antwort: „Wenn Sie an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festhalten, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Samenzelle und Ei beginnt, dürfen Sie Leben ohne Kollision mit einem gleichwertigen Rechtsgut nicht vernichten.“ (Die Woche 02.03.01) Da hat die Ministerin aber das BVerfG nicht richtig verstanden – oder sie will uns ein X für ein V vormachen. Am 01.06.01 äußerte sich die damalige Präsidentin des BVerfGs in aller gebotenen Zurückhaltung in der FR: Das BVerfG habe zweimal zu dem Problem des Schutzes werdenden Lebens explizit Stellung genommen. 1975 habe es in einer Entscheidung festgestellt, dass das sich im Unterleib entwickelnde Leben als selbstverständliches Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung stehe. „Leben besteht nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tag nach der Empfängnis an. Ab diesem Zeitpunkt steht menschliches Leben unter dem Schutz des Grundgesetzes.“ Ob davor bereits „Leben“ durch Verschmelzung von Ei und Samenzelle bestehe, wurde – da nicht entscheidungserheblich – ausdrücklich offen gelassen. 1993 wurde entscheiden, dass schon dem ungeborenen Leben Menschenwürde zukomme. Die Präsidentin weiter: „Beide Entscheidungen gestatten keine Aussage darüber, wie das BVerfG den Grundrechtsstatus eines in vitro gezeugten Embryos beurteilen wird, denn beide Entscheidungen bezogen sich auf die Zeugung herkömmlicher Art.“ Somit muss das Problem extrakorporaler Befruchtung – entgegen der im politischen Meinungsstreit ständig mit übertriebenem Sendungsbewusstsein vorgetragenen Ansicht der damaligen Bundesjustizministerin – erst noch verfassungsrechtlich geklärt werden. Bisher ist der unangebrachte Rückgriff der Bundesjustizministerin auf die durch eine pure Behauptung erschwindelte Autorität des BVerfGs ein reines »Totschlagsargument«, um die Gegner in dem politischen Ringen um eine angemessene Antwort auf die Gegenwartsfragen der Biomedizin mundtot zu machen. Aber die Möglichkeit des politischen Ringens der an der Lösung des Problems interessierten gesellschaftlichen Gruppen und Ansichten um eine mehrheitsfähige Position zeigt die Stärke demokratischer Willensbildung. Der Weg ist das Ziel! Die rigoristische Ansicht der damaligen Bundesjustizministerin, die sich unrechtmäßig auf die Autorität des BVerfGs in einer Entscheidung berief, die gar nicht die Probleme der PID grundrechtlich abklärte, halte ich darüber hinaus für hergesucht und intellektuell unredlich, denn eine spätere Abtreibung ist ebenfalls eine Selektion. Der Entscheidungszeitpunkt würde durch die Freigabe der PID nur vorverlagert! Der nicht stichhaltigen Beweisführung der Bundesjustizministerin ist entgegenzuhalten, dass durch die Freigabe der PID ja erstens kein Elternpaar gezwungen werde, auf diese Früherkennungsmöglichkeit zurückzugreifen - das werden ja doch nur Eltern tun, die vielleicht schon ein gengeschädigtes Kind haben, auf jeden Fall aber solche Eltern, die sich nach einer (wegen der damit verbundenen Gefahr der Embryonenschädigung83 fragwürdigen) späteren Fruchtwasseruntersuchung sowieso für eine Abtreibung entscheiden würden - und zweitens durch das Ergebnis einer PID keine Frau gehindert würde, aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus eine Schwangerschaft auch dann beginnen zu lassen und auszutragen, wenn nach dem Ergebnis der PID ein gengeschädigtes Kind zur Welt kommen werde! Nicht einmal dann, wenn man es so sehen will, dass schutzwürdiges menschliches Leben mit der Verschmelzung 83

STERN 18.03.04: „Über 35-Jährigen wird zusätzlich eine Fruchtwasseruntersuchung empfohlen. … Rund 723 000 Kinder werden jährlich in der Bundesrepublik geboren; von 100 Babys kommen 97 gesund auf die Welt, von 100 Frauen im Alter von 40 Jahren bekommt im Schnitt eine ein Kind mit Down-Syndrom. Die meisten Behinderungen entstehen bei der Geburt und im Leben danach. Nur 0,5 % der angeborenen Behinderungen kann die pränatale Diagnostik überhaupt feststellen. … Findet der Gynäkologe beim ersten großen Ultraschall etwas, zum Beispiel eine unnormal dicke Nackenfalte, dann stechen Spezialisten Kanülen in den Bauch der Frau, entnehmen Fruchtwasser (Amniozentese) oder Zellen der Plazenta (Chorionzottenbiopsie). … Inzwischen sind es 80 000 [Fruchtwasseruntersuchungen; der Verf.] pro Jahr. Zwar steigt mit zunehmendem Alter das Risiko, ein Kind mit Down-Syndrom auszutragen, rein rechnerisch ist die Wahrscheinlichkeit bei einer 35-Jährigen sechsmal so groß wie bei einer 26-Jährigen. Aber sie liegt immer noch bei 0,5 Prozent. Doppelt so hoch ist das statistische Risiko, durch die Fruchtwasseruntersuchung eine Fehlgeburt zu erleiden. Rein mathematisch betrachtet ist die Fruchtwasseruntersuchung Irrsinn, … Eine britische Studie führte zu dem grotesken Ergebnis, dass auf ein abgetriebenes Down-Syndrom-Kind vier genetisch gesunde Kinder kommen, die bei einer durch die Fruchtwasseruntersuchung ausgelösten Fehlgeburt sterben. So gesehen sind Amniozentese und Chorionzottenbiopsie in Anbetracht sinkender Geburtenraten auch gesellschaftlicher Irrsinn. … ’Skandalös sind nicht die 2000 Abbrüche nach der zwölften Woche pro Jahr. Skandalös ist, dass mit dem Angebot der pränatalen Diagnostik 723 000 schwangere Frauen zunehmend verunsichert werden und unter Druck geraten.’“ Die ganze Diskussion um die Fragwürdigkeit der Embryoschädigung durch Zellentnahme für eine PID kann sich aber bald erledigt haben, weil Ärzte festgestellt haben, dass bei einer Schwangerschaft nicht weiter gebrauchte Pollkörper(?) auftreten, an denen man die Untersuchungen genau so vornehmen kann, ohne den Embryo zu beschädigen.

379

von Samenzelle und Ei beginne, - in Großbritannien z.B. wird diese Frage anders beantwortet, da beginnt der Schutz werdenden Lebens erst nach dem Ablauf einer 14-Tage-Frist mit der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter (Nidation), in Israel aus religiösen Gründen gar erst mit dem 49. Tag -, hat die von der damaligen Justizministerin mit Verve vertretene Auffassung eine gewisse Folgerichtigkeit für sich, weil die Möglichkeit einer späteren Abtreibung die von ihr eingenommene Haltung konterkariert. Jeder möge für sich entscheiden, welchem Argument, welcher Wertung er den Vorzug geben will. Und jeder möge die Möglichkeit haben, nach seinen Wertvorstellungen entscheiden zu können, wenn das Schicksal ihm das schwere Los eines gengeschädigten werdenden Kindes auferlegt! Wer die strengen bundesrepublikanischen Gesetze umgehen und die modernen medizinischen Möglichkeiten der Präimplantationstechnik nutzen will, schließt sich dem schon seit einiger Zeit bestehenden Patiententourismus in die benachbarten Länder oder nach Israel an, wo nicht so strenge Vorschriften gelten wie in der Bundesrepublik auf Grund der deutschen NS-Vergangenheit. Die politische Gemengelage ist ähnlich, wie wir sie schon im Zusammenhang mit der Neuregelung des § 218 StGB erlebt haben. Andere wichtige und wenigstens teilweise – vielleicht jedoch nur vorläufig, aber nicht endgültig(?) – geklärte Fragen im Rahmen der Reproduktionsmedizin sind:  Die künstliche Befruchtung von eigenen Eizellen, die der Frau, der sie entnommen wurden, wieder eingesetzt werden. Das ist erlaubt und wird schon wegen der ständig sich verringernden Güte der Spermien der deutschen Männer auch erlaubt bleiben.  Eizellenspende: Eine Frau spendet einer anderen Frau eine Eizelle, die das entstehende Kind in ihrem Körper austrägt. Genetisch-biologische und austragende Mutter fallen auseinander.  Leihmutterschaft: Bei der „Leih- oder Ersatzmutter“ wird entweder durch eine künstliche Befruchtung mit dem Samen des Ehemannes der späteren Eltern oder durch einen Embryonentransfer eine Schwangerschaft hervorgerufen, die von der Leihmutter ausgetragen wird. Die Leihmutter gibt nach der Geburt das von ihr ausgetragene Kind an die „Bestellfamilie“ oder die andere Frau ab. Im Falle einer künstlichen Befruchtung liegt eine „gespaltene Mutterschaft“ vor, weil die genetische oder biologische und die (spätere) soziale Mutter nicht personengleich sind; bei einem Embryonentransfer sind die soziale und die biologische Mutter eine Person.  Auswahl des Geschlechts des Kindes bei der künstlichen Befruchtung durch die Auswahl eines entsprechenden Typs von Spermien. Diese vorstehenden Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin sind in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten, in vielen anderen Ländern besonders des anglo-amerikanischen Rechtskreises aber erlaubt.  Gentransfer durch künstliche Veränderung der Erbinformationen einer Keimbahnzelle. Im Zuge einer „helfenden Ethik“ könnte zur Vermeidung von Erbkrankheiten ein Eingriff eventuell irgendwann erlaubt werden.  Das Klonen von Menschen.  Die Erzeugung von Chimären durch das Verschmelzen menschlicher Zellen unterschiedlicher Herkunft.  Die Erzeugung von Hybridwesen aus Mensch und Tier. „CHIMÄREN Behörde stoppt Patent auf Halbmenschen Es klingt wie ein Albtraum: Ein künstliches Lebewesen, halb Mensch, halb Affe. Eine US-Behörde hat jetzt entschieden, keine Patente auf solche Mischkreaturen zu erteilen - und damit dem Erfinder eine große Freude gemacht. Das erste patentierte Lebewesen war ein Ölschlamm fressendes Bakterium. Vor 25 Jahren gewann der Mikrobiologe Ananda Chakrabarty einen Prozess, in dem der oberste US-Gerichtshof entschied, Chakrabarty könne sich den gentechnisch veränderten Organismus patentieren lassen, weil er das Wesen durch die mikrobiologische Manipulation "hergestellt" habe. Der Biologen Stuart Newman sieht in diesem Urteil den Beginn einer unheimlichen Entwicklung hin zu künstlichen Mischwesen. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier, fürchtet Newman, könnten dem Machbarkeitswahn von Wissenschaft und Industrie zum Opfer fallen. Newman tat sich mit Jeremy Rifkin zusammen, einem politischen Aktivisten, der sich seit Jahrzehnten als Mahner wider die Gefahren der Biotechnologie betätigt. Rifkin und Newman wählten einen scheinbar paradoxen Weg, um ihrer Sorge Ausdruck zu verleihen: Sie bewarben sich um ein Patent für

380

eine Chimäre, ein Mischwesen aus Mensch und Tier. Der Begriff "Chimäre" bezeichnet in der griechischen Mythologie Wesen, die einen Löwenkopf, einen Ziegenkörper und den Schwanz einer Schlange haben. Der Zellbiologe Newman skizzierte zunächst eine Methode, mit der er menschliche embryonale Zellen mit Embryonalzellen von Affen oder anderen Tieren kombinieren wollte. Dann stellte er einen Patentantrag. "Wir waren der Meinung, dass die Bewerbung um ein Chimären-Patent dieses Thema der Öffentlichkeit und dem Rechtssystem besonders dramatisch deutlich machen würde", schrieb Newman 2002 im Fachjournal "Medical Ethics". Schafziegen und leuchtende Kaninchen Chimären aus verschiedenen Tierarten sind in der neuen Welt der Genmanipulation längst Alltag. Schon 1985 präsentierten stellten US-Forscher ein Mischwesen aus Schaf und Ziege vor, dass sie "Geep" (zusammengesetzt aus "goat" und "sheep") nannten. Im Jahr 2000 erzeugten französische Wissenschaftler für den Künstler Eduardo Kac aus Quallen- und Kaninchenzellen ein Albinokarnickel, das im Dunkeln leuchtet. Und auch Chimären mit menschlichen Zutaten gibt es bereits: Der Wissenschaftler Esmail Zanjani etwa arbeitet an der University of Nevada in Reno an Schafen, denen schon als Fötus menschliche Stammzellen injiziert werden. Zanjani will seine Schafe, die eines Tages vielleicht als Organspender dienen könnten, allerdings nicht patentieren lassen. Stuart Newman sind solche Vorstellungen ein Graus, deshalb hoffte er, dass sein Patentantrag abgelehnt werden würde, und diese Hoffnung hat sich jetzt erfüllt. Der Wissenschaftler hatte nie wirklich vor tatsächlich Menschen und Affen zu kreuzen - obwohl eine solche Kreatur durchaus nützlich sein könnte, etwa um Ersatzorgane zu züchten oder für Medikamentenversuche. Für Newman aber ist die Ablehnung ein Sieg - denn nun können auch andere Forscher keine ähnlichen Patente anmelden. "Die ganze Privatisierung der biologischen Welt muss überdacht werden", sagte Newman der "Washington Post", "so dass wir uns nicht plötzlich fragen müssen, 'Wie sind wir hier gelandet? Alles gehört irgendjemandem.'" Auch dem US-Patentamt war der Antrag von Newman und Rifkin offenbar unangenehm. Vor allem die Frage, ab welchem Anteil menschlicher Zellen ein Organismus als "menschlich" und damit nicht patentierbar zu betrachten sei, machte den Beamten Kopfzerbrechen. "Keiner kann aufgrund von groben Prozentzahlen unter Menschen und Nichtmenschen differenzieren", sagte Patentbeamter John Doll der "Washington Post". Und: "Es wäre hilfreich, etwas Anleitung vom Kongress oder den Gerichten zu bekommen." Moral im Patentamt? Alle Beteiligten sind sich einig, dass die Frage am Ende nicht allein durch Patentregelungen zu klären ist - grundsätzliche Entscheidungen über Machbarkeit und Tabu sind zu treffen. Die "Washington Post" zitiert Leon Kass, den Vorsitzenden der Bioethik-Kommission, die Präsident George W. Bush einberufen hat: "Das Patentamt ist nicht der Ort, an dem die Gesellschaft ihre moralischen Entscheidungen zu treffen hat." In Deutschland dürfen Patente auf menschlich-tierische Mischwesen übrigens nicht erteilt werden, auch nicht nach dem neuen Patentgesetz, das am 28. Februar [2005] in Kraft tritt. Solche Kreaturen wären laut Bundesjustizministerium nämlich "Erfindungen, deren Veröffentlichung oder Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde". (SPIEGEL ONLINE 15.02.05) Diese Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin sind in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Es wurde ein weltweites Verbot durch einen UN-Beschluss angestrebt, reichte dann aber 2005 nur zu einer juristisch unverbindlichen UN-Resolution, die das Klonen eines Menschen als nicht gewünscht erklärte. Anstehende Wertentscheidungen - wie in den zur Illustration angeführten Beispielen - müssen in einem demokratischen Prozess nach den individuellen Wertungsmaßstäben der zur jeweiligen Entscheidung durch einen demokratischen Wahlakt Berufenen entschieden werden. Diese ganz individuellen Maßstäbe sind höchstpersönliche Wertungsfragen. Ihre Allgemeinverbindlichkeit scheitert systembedingt daran, dass in einer Demokratie - schon allein von ihrem gedanklichen Ansatz und ihrem Menschenbild her - keine verbindliche Ideologie den Maßstab vorgibt, im pluralistischen Mit- und Gegeneinander auch gar nicht vorgeben kann! Was Mehrheitse dann »Recht« sein soll, ist strittig. Mangels einer geeigneteren Vorgehensweise gelten als Friedensregel (von ntscheidung Zeit zu Zeit durchaus wechselnde) Mehrheitsentscheidungen. Auch wenn es z.B. der historische Materialismus für sich behauptet(e), so gibt es doch keine höhere Einsicht, in deren Namen eine politische Gruppierung en als Friedensreg berechtigt wäre, vorhandene Mehrheiten zu missachten. Und dass die Mehrheit die Macht haben sollte, die el

381

anstehenden Entscheidungen zu treffen, ist alles in allem und trotz der damit verbundenen Gefahr, dass die Mehrheit der Dummen politischen Rattenfängern nachläuft, richtig; nicht weil es an sich gerecht wäre, sondern weil diese Art der Entscheidungsfindung weniger ungerecht ist als jede andere Lösung des Problems. Aber die Institutionen der Gesellschaft müssen Vorkehrungen für einen effektiven Minderheitenschutz treffen, und dafür, dass als ein Korrektiv gegen zu einseitige Ansichten eine ständige und ununterbrochene Opposition gegenüber dem Willen der Mehrheit aufrechterhalten bleibt.

2.8.20 Rechtsunterworfenheit in Sonderbereichen nur durch Beitritt Rechtsu nterworf enheit in Sonderb ereichen nur durch Beitritt

Ein Bürger in unserem Staat ist aber nicht jedem »Recht« unterworfen. In einigen Teilbereichen gilt ein spezielles »Recht« mit »gesetzlichen« Regelungen nur für den, der sich ihm durch Beitritt unterwirft. Das kann natürlich nicht für z.B. den Bereich des Strafrechts gelten, denn sonst würden alle Ganoven sofort aus diesem Bereich austreten. Ein spezielles, nur durch Beitritt erworbenes Recht, dem man auch dann unterfällt, wenn es für einen ganz persönlich unangenehm wird oder werden könnte, gilt z.B. für den Bereich der Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft. Am Beispiel der Katholischen Kirche aufgezeigt: Wer sich, was die katholische Kirche inzwischen nicht mehr verhindern kann, staatlich scheiden lässt, kann so lange nicht wieder mit dem Segen seiner Kirche heiraten, bevor nicht der unerträglich gewordene jeweils andere Ehegatte verstorben ist. Da beginnt das zähe Durchhalten! Wer schafft es, den anderen zu überleben, um wieder kirchlich zulässig heiraten zu können? Kirchlich jedenfalls ist eine Wiederverheiratung bei noch lebendem kirchlich verbundenem Ehegatten wegen des Sakramentes der Ehe und ihrer grundsätzlich so gewerteten Unauflösbarkeit nicht möglich. Und katholisch geprägte Staaten ohne ausreichende Säkularisierung hatten diese kirchenrechtliche Regelung in ihre zivile Gesetzgebung übernommen, so dass ein kirchlich bestehendes Verbot der Wiederverheiratung wegen genau dieses kirchlichen Verbots staatlich ebenfalls nicht erlaubt worden war! Anderes Beispiel: Ein religiös nicht gebundener denkender Mensch, der sich über ein Problem, einen Sachverhalt oder ein Sachgebiet informieren möchte, beschafft sich das Buch, von dem er sich die bestmögliche Information, den größtmöglichen Nutzen und Gewinn, die größtmögliche geistige Erhellung und Lust erhofft, und liest es. Ein Katholik hingegen darf sich nicht uneingeschränkt informieren! Für ihn gibt es nicht die von Luther zu einem Titel einer Streitschrift wider die dogmatisch verfestigte katholische Kirche gemachte „Freiheit eines Christenmenschen“. Ein Katholik musste sich bis ins 20. Jahrhundert erst einmal vergewissern, ob er ein vielleicht zu kritisches Buch lesen durfte oder ob es auf dem (spätestens) 1559 von Pappst Paul IV. eingerichteten „index librorum prohibitorum“ stand, dem Verzeichnis der für einen Katholiken von seiner Kirche zu lesen verbotenen Bücher. Die letzte kirchenamtliche Neuausgabe des Index war – so weit mir bekannt - 1948 erfolgt. Gegen das Leseverbot zu verstoßen, zog früher schwerste Kirchenstrafe nach sich! Nach der Neuordnung des Heiligen Offiziums 1965 und der Umbenennung dieses höchsten und einflussreichsten Kardinalskollegiums in nunmehr „Glaubenskongregation“ galt der Index nach über 400-jähriger Dauer seit dem 15.11.1966 (kirchen)rechtlich nicht mehr. Deswegen sind auch die zahlreichen diesbezüglichen kirchlichen Strafbestimmungen nunmehr weggefallen, die einen Gläubigen härter treffen konnten als staatliche Strafen: Was sind schon ein paar Monate oder Jahre staatliche Einkerkerung gegenüber – wenn es ganz hart kam - ewiger Verdammnis? Da wurde mit Jahrtausenden Verdammnis für die unbotmäßige Seele nicht gegeizt! Trotz der Abschaffung der kirchenrechtlichen Strafen gilt aber weiterhin für einen gläubigen, die Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls respektierenden Katholiken die Gewissensverpflichtung, das kirchliche Bücherverbot, bestimmte Bücher weder herauszugeben, noch zu lesen, aufzubewahren, zu übersetzen oder zu verbreiten, zu beachten. Das Fundament dafür ist eine Regelung des Corpus juris canonici (CIC) von 1983, derzufolge die Bischöfe weiterhin berechtigt sind, alle Schriften, die von Christen herausgegeben werden und Glaube und Sitte betreffen, ihrem Urteil zu unterziehen und solche, die zum Schaden des rechten Glaubens und der Sittlichkeit gereichen, zu verwerfen. Bis zum 19.03.1975 gab es weiterhin eine Vorzensur der Bücher mit theologischem Inhalt. Ein weiterer großer Bereich mit eigener Verbandsgerichtsbarkeit, dem man sich nur durch Beitritt zu einer Organisation unterwirft, ist der des Sports: Straßenkicker oder Fußballspieler am Strand z.B. unterliegen ihr nicht. Sowie jemand aber organisiert Sport betreibt, unterfällt die oder der so Sporttreibende der Verbandsgerichtsbarkeit. Weil dieser Bereich Millionen von Menschen wochenendlich betrifft, sei auf ihn nachfolgend besonders eingegangen.

382

2.8.20.1 Verbandsgerichtsbarkeit im Bereich des Sports "Die Höchststrafe Barren: Schockemöhle muß 5.000 Mark zahlen dpa Mühlen - Mit Unverständnis hat Paul Schockemöhle auf die Höchststrafe von 5000 Mark reagiert, die die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) gegen den dreimaligen Europameister der Springreiter ausgesprochen hat. ... Die Geldstrafe war mit der Mitwisserschaft verbotenen Barrens zur Vorbereitung von Auktionspferden begründet worden. ..." (HH A 13.02.92) Dem 100-m-Goldmedaillengewinner Ben Johnson war 1988 auf Grund stümperhaft vorgenommenen und daher öffentlich gewordenen nachgewiesenen Dopings die von ihm zunächst errungene Siegermedaille der Olympischen Spiele aberkannt worden. (Andere positive A-Proben ließ das IOC verschwinden, um den Sponsoren „saubere Spiele“ präsentieren zu können, er allein wurde geopfert.) Darüber hinaus war er mit einem mehrjährigen nationalen und internationalen Startverbot belegt worden, was für ihn als Profi-Sportler ein totales Berufsverbot bedeutete. (Er hatte aber nichts daraus gelernt, denn 1993 war er wieder beim Doping erwischt und daraufhin auf Lebenszeit gesperrt worden.) Ähnliche Überlegungen bezüglich der sich aus der Verbandsgerichtsbarkeit ableitenden Strafgewalt von Sportverbänden galten für die nach der Wiedervereinigung in den Verdacht der Manipulation mit Dopingmitteln geratenen ostdeutschen Sprinterinnen. Nicht nur in der DDR war ein solches Verhalten - obwohl, wie das Beispiel Ben Johnson zeigte, international geächtet - vom Staat zum höheren Ruhme des Sozialismus jahrelang nicht nur gedeckt, sondern sogar durch medizinwissenschaftliche Projekte an staatlichen Institutionen untersucht und gefördert worden. (Kommentar eines DDR-Schwimmtrainers auf die Nachfrage von Reportern wegen der durchgängig verdächtig tiefen Stimmen der Schwimm-Mädchen: "Sie sollen ja nicht singen, sondern schwimmen und Medaillen holen.") Viele ostdeutsche Spitzensportler/innen hatten durch die – von ihnen teilweise nicht als solche erkannte - Einnahme leistungsfördernder Chemikalien - geschluckt wurde, was Mannschaftsarzt und Trainer hinhielten - ihre internationale Konkurrenz, wenn die vielleicht auf die Einnahme von Dopingmitteln verzichtet haben sollte, um deren Medaillenhoffnungen betrogen. „Fair guys finish last.“ Darum wurde, nachdem die Dokumente vorlagen, international die Forderung laut, sämtlichen DDR-Sportlerinnen und Sportlern nachträglich ohne Einzelfallprüfung ganz pauschal ihre Medaillen abzuerkennen und die damals jeweils Nächstplatzierten zu ehren! Nach der Wiedervereinigung entfiel die bisherige kriminelle staatliche Unterstützung – und die geschädigten Sportler klagten teilweise auf Entschädigung gegen den deutschen Staat der Bundesrepublik, der durch die Machenschaften der DDR-Trainer und -Mediziner seinerseits um Medaillenhoffnungen betrogen worden war. Damit war aber das diesbezügliche Wissen ja nicht aus der Welt. Es wurde von einigen der bisherigen "StaatsAmateure" und jetzigen Profi-Sportler weiter angewandt. Nun aber drohte den in den Verdacht des Dopingmissbrauchs geratenen Spitzensportlern entsprechend den internationalen Vereinbarungen eine von ihrem Dachverband zu verhängende vierjährige Sperre für nationale und internationale Wettkämpfe. Zu der gleichen Zeit war ein deutscher Eishockey-Spieler Amok gelaufen und hatte einem (im Gegensatz zu ihm "unten" ungeschützten) Eishockey-Linienrichter einen Stockstich in den Unterleib verpasst. Spätfolgen seien laut Zeitungsberichten unabsehbar. Auch hier tagte das "Sportgericht" des zuständigen Verbandes, nachdem in einer Einzelrichterentscheidung eine Sperre für 8 Jahre und damit faktisch ein lebenslanges Berufsverbot für den 29-jährigen Sünder ausgesprochen worden war, denn mit 37 Jahren hätte er nicht mehr erneut als Eishockey-Profi beginnen können. Das juristische Problem in allen diesen und ähnlichen Fällen ist: Sind die auf ein Berufsverbot hinauslaufenden Sportverbands-Urteile durch die ordentliche Gesetzgebung (im Gegensatz zu der bisherigen Verbands-Rechtsprechung) hinreichend juristisch abgesichert und mit dem Grundgesetz vereinbar?

383

Verban dsgeric htsbark eit im Bereich des Sports

"Berufsverbot für Katrin Krabbe Rechtsexperten halten jahrelange Sperren im Sport für verfassungswidrig Hamburg - Der deutsche Sport steckt in einer selbstgemachten Zwickmühle. Mit aller Härte und Macht wird neuerdings der Kampf gegen das Doping und für Sauberkeit und Fairneß im Sport geführt - und dabei möglicherweise gegen geltendes deutsches Recht verstoßen. Folge: Die Rechtsprechung des Sports muß überdacht werden. ... Der Rechts-Professor Georg Turner von der Universität Stuttgart: `Es gibt keine gesicherten Maßstäbe, welches denn die äußerste Grenze des verfassungsrechtlich erlaubten Wettkampfverbotes ist.' Ansatzpunkt ist das Grundgesetz, Artikel 12. Dort heißt es: `Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstelle frei zu wählen.' Laut Bundesverfassungsgericht schützt dieser Artikel 12 nicht nur die Freiheit der Berufswahl, sondern auch die Berufsausübung. Eine zeitweise oder lebenslange Wettkampfsperre berührte danach die Freiheit des Sportlers hinsichtlich seiner Berufswahl als Leistungssportler wie auch bei der Ausübung seines Berufes. Durch Artikel 9 Grundgesetz (`Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.') wird aber Vereinen und Verbänden eine eigene Rechtsprechung für interne Angelegenheiten zugestanden. Genau hier beginnt die juristische Unsicherheit und für Professor Turner `eine Art rechtsfreier Raum. Wenn man sich streng an das Grundgesetz hält, ist eine langjährige oder lebenslange Sperre tatsächlich ein Berufsverbot'. Das Bundesverfassungsgericht sieht als Beruf jede erlaubte Tätigkeit an, die auf Dauer berechnet ist und der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient. Das gilt für Profi-Sportler in jedem Fall. Aber auch Leichtathleten, auf dem Papier Amateure, sind berücksichtigt. Professor Turner: `Auch dann, wenn kein Arbeitsvertrag zwischen Sportler und Verein existiert, sondern der Sportler eine sogenannte Sportförderung seitens des Verbandes erfährt, fällt seine Tätigkeit laut Bundesverfassungsgericht unter den Schutz des Artikels 12 Grundgesetz.' Genau hier liegt der Ansatzpunkt für jeden Sportler, dessen Existenzgrundlage der Sport ist, mit guten Erfolgsaussichten vor ordentlichen Gerichten gegen Sperren zu Felde zu ziehen. Und das völlig unabhängig vom Delikt und dessen Schwere. In dem exemplarischen Fall Krabbe sticht auch nicht das Argument des DLV, man nehme ihr nur das Hobby, schließlich habe sie ja als Beruf ihr Sportgeschäft. Denn das greift keinesfalls bei einer Grit Breuer, die noch am Anfang ihrer Karriere steht. ... Gute Chancen für Sportler im Kampf gegen Sperren erkennt auch Günther Schaub, Richter am Bundesarbeitsgericht in Kassel. `Das hat Aussicht auf Erfolg, weil die Verhältnismäßigkeit fehlt.' Professor Klaus Viehweg ... rechnet nicht damit, daß Sperren von solcher Länge ... einem gerichtlichen Verfahren standhalten können. `Die herrschende Experten-Meinung ist, daß eine zweijährige Sperre das höchste Maß sein sollte, und das auch nur bei Wiederholungstätern.' Eine weitere Klippe sieht Viehweg auch darin, daß `ein Richter immer eine Interessenabwägung vornehmen muß.' Das würde am Beispiel Krabbe bedeuten, daß die Möglichkeit des Sportlers, seinen Beruf auszuüben und damit seine Existenz zu sichern, dem Interesse des Verbandes gegenübersteht. Der DLV seinerseits wiederum könnte vom Weltverband ausgeschlossen werden, wenn er den weltweit geltenden Regeln nicht folgt. Viehweg: `Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Richter in diesem Fall gegen den Sportler entscheidet, sondern vielmehr davon ausgeht, daß ein starker Verband dieses Risiko eines möglichen Ausschlusses eingehen kann.' Die Schaffung von generellen Sport-Gesetzen im Zivilrecht, die den Verbänden als verbindliche Richtschnur dienen und rechtsfreie Räume beseitigen könnten, hält Viehweg jedoch für nicht nötig. `Jeder Sportler hat das Recht, gegen eine Entscheidung vor einem ordentlichen Gericht anzugehen, das dann die Verbandsentscheidung überprüft. Und es wäre fragwürdig, den Sport mit speziellen Gesetzen aus dem normalen gesellschaftlichen Bereich herauszunehmen.'" (HH A 20.03.92) "`Katrin Krabbe hat manipuliert hundert Millionen zu eins' sid Hamburg - Mark Gay, Rechtsberater des Internationalen Leichtathletik-Verbandes IAAF, hat nicht die Spur eines Zweifels: Katrin Krabbe, Grit Breuer und Silke Möller haben bei der

384

Manipulation ihrer Dopingproben mitgewirkt. ... `Die Möglichkeit, daß drei Urine die gleiche Beschaffenheit haben, ist hundert Millionen zu eins. Und sie ist nur zu erklären, wenn die drei Athletinnen daran beteiligt waren. Dabei ist es nicht nötig zu erklären, wie sie manipuliert haben', wird Gay von der `Bild am Sonntag' zitiert. Somit hätten die Athletinnen einen Verstoß nach IAAF-Regeln begangen und damit ein Startverbot von vier Jahren hinzunehmen. Ein Olympiastart ist jetzt so gut wie ausgeschlossen. Offenbar schon im Vorgriff auf das endgültige Urteil haben die wichtigsten Sponsoren Mercedes und Coca Cola ihre Verträge mit dem Deutschen Leichtathletik-Verband verlängert. Die Geldgeber hatten ihre Unterstützung davon abhängig gemacht, daß die Dopingvorwürfe aufgeklärt würden. Den umstrittenen Freispruch wegen Formfehler wollten sie nicht akzeptieren." (HH A 09.06.92) Ein paar Tage später wurde die Meldung gesendet, der Trainer der in Verdacht geratenen Spitzensportlerinnen habe an- und zugegeben, dass er die Empfängnisverhütungspillen der Sportlerinnen ohne deren Wissen vertauscht und so den Sportlerinnen ohne deren Wissen die Dopingmittel verabreicht hätte. Der untersuchte Urin - der bei den drei auffällig gewordenen Sportlerinnen gleich(!) gewesen war - stamme von seiner Ehefrau. Das sind - bis auf die letzte Angabe - völlig unglaubwürdige "Schutzbehauptungen", wie sie auch Angeklagte in Strafprozessen immer wieder vorbringen: Welche Frau lässt sich von ihrem Trainer ihre Empfängnisverhütungsmittel zuteilen und vertauschen? Wie kam darüber hinaus der Urin der Trainer-Ehefrau in die Blasen der drei angeblich ahnungslosen Sportlerinnen, die ja gar keine Notwendigkeit gesehen hätten, ihren Urin durch Absaugen des eigenen und Nachfüllen des fremden zu manipulieren, wenn ihnen die verbotenen Mittel ohne ihr Wissen beigebracht worden wären? Soll mir keiner erzählen, die Sportlerinnen hätten kein Unrechtsbewusstsein gehabt! Aufmerksame Zeitungsleser haben noch in Erinnerung, dass die Ärztin, die die Urinproben abgenommen hatte, ausgesagt hat, sie habe mit den Sportlerinnen bei deren Urinabgabe "Knie an Knie" gesessen und versucht, Unregelmäßigkeiten während der Urinabgabe zu unterbinden, könne aber natürlich nicht sagen, ob die Sportlerinnen ihre Blasen am Morgen des Tages der Probe mit dem Urin einer vierten Person aufgefüllt hätten! [Zwölf Jahre später, 2004, hatte der Trainer, inzwischen Lebenspartner der Sprinterin Breuer, wieder ein Verfahren am Hals, weil die Staatsanwaltschaft Magdeburg bei einer Durchsuchung des von Breuer und ihm bewohnten Hauses verbotene Substanzen gefunden hatte. Er kann es einfach nicht lassen! Und die Sprinterin war mit ihm nach Griechenland in den Urlaub gefahren, ohne sich bestimmungsgemäß bei der Nationalen AntiDoping-Agentur abgemeldet zu haben, was bei einer Abwesenheit von mehr als drei Tagen für Spitzensportler unbedingt erforderlich ist. So stand der Doping-Kontrolleur bei einer unangemeldeten Kontrolle vor verschlossener Tür: Ein klarer Verstoß gegen die eindeutigen Anti-Doping-Richtlinien des nationalen Sportverbandes. Solch einen die eigene Existenz als Berufssportlerin gefährdenden Verstoß begeht man ja nicht ohne Grund!] Dieser und andere Vorfälle führten dazu, dass Spitzensportler, insbesondere nach einem Medaillengewinn, jetzt fast nackt ihren Urin unter Beobachtung abgeben müssen, weil zuviel manipuliert wird, um die Einnahme von Dopingmitteln zu vertuschen, mit der die »saubere« Konkurrenz um ihre Siegchancen betrogen wird: Manche Frauen tragen nicht ohne Grund überlange Fingernägel! Sie verstecken in der Vagina ein Kondom mit Fremdurin, wenn sie sich den nicht am Wettkampfmorgen oder bei einer anderen bevorstehenden Urinprobe, von der sie erfahren haben, durch einen Katheter in ihre Blase leiten lassen wollen oder können. Bei der abzugebenden Urinprobe ritzen sie dann mit ihren überlangen Fingernägeln das in ihrer Vagina versteckte Kondom auf und lassen den für die erwartete Probe »zwischengelagerten« Urin in das Uringlas laufen. Allerdings darf frau es dabei nicht so machen wie die irische Schwimmerin Smith De Bruin, die - was sollte man von einer Irin anderes erwarten – ihren Urin mit Whiskey mischte; allerdings mit einer Alkoholkonzentration, die, wenn sie auf natürlichem Wege entstanden wäre, unweigerlich zum Tode geführt hätte. Männer lassen sich ebenfalls einen Katheter durch die Harnröhre legen und von Einnahmerückständen unbelasteten Urin zur späteren Abgabe in die Blase leiten. Die einfachere aber unsicherere Methode besteht für Männer darin, sich von einem hinter den Hodensack zwischen die Beine geklemmten Plastikbeutel aus an der Unterseite des Penis entlang einen dünnen Schlauch legen zu lassen. Von dem mit dem unbelasteten Urin eines Vertrauten gefüllten Beutel aus wird der zur Probe abzugebende Urin durch das Zusammenpressen der Schenkel in das Proberöhrchen geleitet. Damit ist der ungarische Goldmedaillengewinner im Diskus bei der Olympiade 2004 aufgefallen: Er hatte nach dem Gewinn der Goldmedaille versucht, aus einem um seine Genitalien gebundenen Plastikbeutel mit Fremdurin den präparierten Beutelinhalt anzuzapfen, um nicht seinen eigenen Urin abgeben zu müssen. Zum Glück ist er damit noch vor der Siegerehrung aufgefallen und hat den eigentlichen Gewinner nicht um den emotionalen Höhepunkt seiner Sportlerlaufbahn, die Ehrung als Olympiasieger mit Goldmedaille, Nationalflagge und Nationalhymne im Angesicht der Welt, bringen können, wie es ebenfalls 2004 bei der

385

russischen zunächst als Olympiasiegerin ausgerufenen und geehrten Kugelstoßerin leider der Fall gewesen war, weil die Manipulation erst bei der Analyse der Probe positiv getestet worden war. Erstaunlicherweise verhängte das Schiedsgericht des IAAF dann im Fall Krabbe aber keine Sperre. Es kam zu einem Freispruch zweiter Klasse: Die drei Richter des Schiedsgerichtes des IAAF sahen es zwar als erwiesen an, dass die Athletinnen identische Urinproben abgegeben hatten. Aber aus formalen Gründen seien sie laut Satzung nicht befugt, den DLV-Schiedsspruch des Rechtsausschusses zu korrigieren, denn es lägen keine neuen Beweise vor. Doch nach dem Motto: "Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht“, lieferten Krabbe und Co. die neuen Beweise nach, als sie kurz vor der Olympiade in Barcelona erneut des Dopingmissbrauchs durch Einnahme des Medikamentes Spirodent mit dem selbst in der Rindermast verbotenen anabolen Wirkstoff Clenbuterol überführt wurden. Der Trainer hatte sehr »tricky« die Tabletten auf dem Schwarzen Markt besorgt, weil sie nicht auf der Dopingliste des DLV verzeichnet waren. Dass Clenbuterol aber auf der Dopingliste der IAAF als Anabolikum verzeichnet sei, habe er (natürlich) nicht gewusst. Die Einnahme dieses Mittels wird laut IAAF-Regel 60 Absatz 2 mit einer Sperre von vier Jahren bestraft. Ist das unter der Geltung des Grundgesetzes nun möglich? Als Nachtrag: "Katrin Krabbe räumt erstmals Mitschuld ein Folge der Doping-Sperre: Sponsor Nike kündigt den Werbevertrag ra Neubrandenburg - ... Unterdessen haben Katrin Krabbe und die ebenfalls suspendierte 400-Meter-Läuferin Grit Breuer erstmals Mitschuld an der Affäre eingeräumt. ... Was Grit Breuer an gleicher Stelle sagte, kommt einem Eingeständnis gleich: `Merken Sie sich mal eines: Leistung kommt nicht von Spinat allein. Wer im Leistungssport was werden will, muß bestimmte Stimulanzien nehmen.' Krabbe: `In Barcelona sind gleich fünf Läuferinnen unter 11 Sekunden geblieben - das sagt doch alles.'" (HH A 20.08.92) Aber Karin Krabbe erhielt 2001 vom BGH als Ausgleich für die hochgerechneten Einkommenseinbußen auf Grund der vom internationalen Verband gegenüber der vom nationalen Verband verhängten Sperre um zwei Jahre verlängerten Sperre wegen der Einnahme eines Mittels, das nicht auf der deutschen Dopingliste stand, 1,2 Mill. DM an Schadensersatz zugesprochen, die der Internationale Leichtathletikverband bezahlen muss. Wie die vorstehenden Artikel deutlich machen, ist den nationalen Verbänden eine eigene Verbandsgerichtsbarkeit in ihren Angelegenheiten zugestanden. Diese Sportgerichtsbarkeit besteht auch international; höchstes Gremium ist für Olympische Spiele der Internationale Sportgerichtshof des IOC, der CAS. Bei der Olympiade 2004 haben wir erlebt, dass eine der deutschen Vielseitigkeitsreiterinnen, als sie zum Ritt über den Parcours starten sollte, unerlaubterweise zweimal über die Startlinie geritten war, da – so hieß es – die Zeitnahme beim ersten Überqueren der Startlinie nicht richtig angesprungen war. Bettina Hoy bricht den Anritt ab, dreht eine Volte, was 14 Sekunden dauert, der Zeitnehmer, der das Starten der Uhr zunächst verschlafen oder unterbrochen hatte, startet die Uhr erneut und Bettina Hoy ihren fehlerlosen Ritt, mit dem sie für ihre Mannschaft Gold gewinnt. Die Schiedsrichter sagten ihr nach ihrem Ritt, dass sie keinen Fehlerpunkt auf ihr Konto verbucht bekomme. Die Teamleitungen der Mannschaften auf den nächstfolgenden Plätzen, Frankreich, Großbritannien und die USA, protestierten, denn „sie schämeten sich nicht“: Wegen des zweimaligen Überschreitens der Startlinie seien der deutschen Schlussreiterin 14 Strafpunkte aufzuerlegen Die erste Tatsachenentscheidung wurde daraufhin nachträglich von der Ground Jury korrigiert – was es z.B. bei einer Elfmeterentscheidung im Fußball nicht gibt: 14 Fehlerpunkte für die 14 Sekunden des ersten Anritts. Die deutsche Equipe kam so auf den undankbaren vierten Platz. Auf den von einem zum deutschen Olympiateam gehörenden Professor für Sportrecht formulierten Gegenprotest hin wurde vom Schiedsgericht des Reiterweltverbandes FEI die Entscheidung der Ground Jury überstimmt und dem deutschen Team die Goldmedaille erneut zuerkannt. Weil die Wertungen aus dem ersten Umlauf auch für die Einzelwertung gelten, gewann Bettina Hoy dann anschließend mit einem weiteren guten Ritt auch die Goldmedaille im Einzelwettbewerb. Auf erneuten Gegenprotest Frankreichs wurden dem Teammitglied Hoy erneut die 14 Strafpunkte aus dem ersten Ritt auferlegt: Damit hatte die deutsche Mannschaft erneut die Goldmedaille in der Mannschaftswertung verloren und Bettina Hoy verlor so außerdem ihre Goldmedaille in der Einzelwertung; sie wurde nunmehr als Neunte eingestuft. Gegen diese Entscheidung sei kein weiteres Rechtsmittel mehr möglich, u.a. deswegen, weil nach Meinung der CSA der deutsche Gegenprotest vor dem FEI-Gericht nicht zulässig gewesen sei. Die deutschen Reiter konnten nur noch auf eine Gnadenentscheidung der IOC-Spitze hoffen und

386

regten an, ihnen wegen der besseren sportlichen Leistung neben den französischen Reitern ebenfalls die Goldmedaille zuzuerkennen; eine doppelte Medaillenvergabe ist ja durchaus üblich, wodurch aber - mit Ausnahme z.B. im Judo - im Normalfall die nächstfolgende Medaille wegfällt. Ich kenne das der Entscheidung zu Grund liegende Regelwerk nicht und weiß nicht, ob die Entscheidung zu recht ergangen ist: mir erscheint sie aber widersinnig, denn wieso hätte die deutsche Reiterin starten sollen, wenn die Zeitnahme nicht angesprungen war und man so nicht hätte feststellen können, ob sie das Zeitlimit für ihren Ritt eingehalten hatte oder mit Strafpunkten wegen Zeitüberschreitung hätte bestraft werden müssen. Auf jeden Fall scheint es mir eine unsachgemäße, unlogische und daher ungerechte Entscheidung zu sein, wenn das erste Anreiten die Zeitnahme nicht ausgelöst hatte und sich die deutsche Teilnehmerin mit dem zweiten Anreiten keinen Vorteil erschlichen hatte, sondern der Mechanismus der Zeitnahme erst richtig in Gang gesetzt worden war. Ein Regelverstoß im offenen Kampf oder durch Doping muss geahndet werden, wenn ein Mitbewerber dadurch benachteiligt wird, dass ein nicht regelgerecht Kämpfender sich einen regelwidrigen Vorteil verschafft hat. Aber wenn kein Vorteil erschlichen wurde? Müssten dann nicht die Regeln teleologisch ausgelegt werden? Die Entscheidung widerspricht jedenfalls der Olympischen Idee, derzufolge der Bessere gewinnen sollen, wenn sich der Bessere keinen unerlaubten Vorteil erschlichen hat, und nicht die Anwälte des sportlich Unterlegenen! Bettina Hoy überlegte, ob sie vor einem ordentlichen – griechischen? – Gericht gegen die ihr ihre Medaillen aberkennende Entscheidung klagen solle; andere Mannschaftsmitglieder überlegten ein Gnadengesuch an das IOC, was aber den Verzicht auf eine gerichtliche Klage voraussetzte; und vermutlich aussichtslos verlaufen wäre, da - wenn man den Äußerungen von Reportern, die bei solchen Besprechungen ja nicht mit dabei sind, glauben darf - der Präsident des IOC selbst diese Entscheidung gegen Deutschland gefordert haben soll. In diesem Zusammenhang sei an das unter „Recht und Gesetz in Art. 20 III GG“ behandelte Beispiel des italienischen Star-Schiedsrichters Pierluigi Collina erinnert, der bewusst gegen die auf Herstellung der Gleichheit der Wettkampfbedingungen abzielende an sich eherne Regel verstieß, dass die gegeneinander antretenden Mannschaften nach der Halbzeitpause die Spielfeldhälften zu tauschen haben, damit die das Spielergebnis möglicherweise beeinflussenden örtlichen Gegebenheiten von Wind, Sonnenstand und Platzunebenheiten ausgeglichen werden, und der trotzdem nach der Pause des Spiels Foggia gegen Bari Ungleichheit anordnete, nicht die Seiten wechseln ließ und damit gegen die auf Gleichheit der Wettkampfbedingungen und damit auf Gerechtigkeit abzielende Grundregel des Seitentausches bewusst verstieß: Er wollte so verhindern, dass der Torwart von Bari in das Tor musste, hinter dem Hooligans von Foggia ihn mit Wurfgeschossen attackieren wollten und dort erreicht hätten. Die Fifa akzeptierte die ungewöhnliche Maßnahme, obwohl sie eindeutig gegen die Statuten verstößt, die in dieser Hinsicht keinen Ermessensspielraum eröffnen! Der die an sich zwingenden Fußballregeln in dieser Ausnahmesituation mit viel Zivilcourage übergehende Schiedsrichter und anschließend die Berufungsrichter des Sportgerichts sahen in diesem Ausnahmefall das Gesetz nicht als eine das Recht folternde „eiserne Jungfrau“ an, wie es leider im Tatsächlichen manchmal auch zum Nachteil des Rechts so angewandt wird. So sollten alle Regeln ausgelegt werden, und das heißt im Falle der deutschen Vielseitigkeitsreiter, dass ihnen »ihre« im ehrlichen Wettkampf als Beste erworbene Goldmedaille zurückgegeben werden müsste! Die ordentlichen Gerichte müssen sich mit der Sportgerichtsbarkeit zunächst einmal nicht befassen, wenn sie nicht von einer der betroffenen Parteien über die Sportgerichtsbarkeit hinaus angerufen werden. (Welches internationale Gericht – wenn überhaupt - für den internationalen Rechtsstreit in Sachen Reitergold zuständig wäre, müsste vielleicht ja auch erst noch geklärt werden.) Durch die Presse geht die Verbandsgerichtsbarkeit fast an jedem Wochenanfang, wenn das DFB-Sportgericht die "Rot-Sünder" des vorausgegangenen Wochenendes abstraft. Dem Sonderrecht der Verbandsgerichtsbarkeit untersteht aber nur, wer sich einem Verband angeschlossen und durch diesen Beitritt dessen Regeln unterworfen hat. Wenn jemand aus dem Verband austritt, kann er nicht mehr von der Verbandsgerichtsbarkeit erreicht werden: Als man dem Fußballschiedsrichter Hoyzer durch die Meldungen einiger Wettbüros wegen beobachteter ungewöhnlicher Wettvorgänge 2005 auf die Schliche kam, dass er mindestens achtmal hohe Wetteinsätze auf bestimmte eher unwahrscheinliche Spielausgänge von ihm geleiteter Spiele gesetzt und dann u.a. das Pokalspiel des Bundesligisten HSV gegen die Regionalligamannschaft von Paderborn im Sinne seiner Wette verpfiffen hatte, um der kroatischen Wettmafia und sich hohe Gewinne zu ermöglichen, trat der aus seinem Verein und dem Verband aus – und war so für die Verbandsgerichtsbarkeit nicht mehr erreichbar. Aber natürlich für die staatliche Gerichtsbarkeit, die ganz andere Mittel zur Wahrheitsfindung zur Verfügung hat. Trotzdem ist der Sport nicht mit speziellen Gesetzen aus dem normalen gesellschaftlichen Bereich herausgenommen; das bedeutet u.a., dass die »im normalen Leben« üblichen gerichtlichen Möglichkeiten auch hier gegeben sind. So ließ die Staatsanwaltschaft im Fußball-Schiedsrichter-Skandal Wohnungen durchsuchen,

387

Kontounterlagen und PCs beschlagnahmen und nach der Ausweitung des Skandals sogar den Ex-Schiedsrichter wegen eventueller Fluchtgefahr in Haft nehmen. Das kann eine Verbandsgerichtsbarkeit natürlich nicht! Im Falle des Amok gelaufenen Eishockeyspielers bedeutete die Inanspruchnahme der staatlichen Gerichtsbarkeit, dass der durch den rechtswidrigen Angriff verletzte Schiedsrichter Zivilklage (zur Erstattung der Kosten für Arzt, Krankenhaus, vielleicht auch „Schadensersatz für entgangene Lebensfreude“, wenn Sie verstehen, was ich meine, Verdienstausfall oder Ersatz der verauslagten Gelder für Rechtsanwalts- und Gerichtsgebühren gemäß §§ 823 I und II i.V.m. § 223 a StGB, Schmerzensgeld gemäß § 847 BGB und Erstattung der von Arbeitgeber und Krankenkasse aufgewandten Beträge) erhoben hatte, die er auch gewonnen haben wird. Darüber hinaus stand dem ausgerasteten Eishockeyspieler ein Strafverfahren bevor: Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen eines Verstoßes gegen § 223 a StGB gefährliche Körperverletzung "mittels einer Waffe" oder eines „gefährlichen Werkzeugs“84, eventuell i.V.m. § 224 StGB schwere Körperverletzung, wenn die Körperverletzung zur Folge hat, "... dass der Verletzte ... die Zeugungsfähigkeit" (für mindestens einen längeren Zeitraum) verloren hat. Dann wäre die Verbrechenskategorie eröffnet und es wäre auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren zu erkennen.

2.8.20.2 Rechtsunterworfenheit durch Kirchenbeitritt Rechts unterw orfenh eit durch Kirche nbeitritt

Ein weiteres Beispiel dafür, dass man sich einem ganzen Rechtsbereich folgenlos entziehen kann, sich ihm aber durch Beitritt mit teilweise haarsträubenden Folgen unterwirft, ist das Kirchenrecht. Dazu gehört als Grundrecht die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 GG - der zusätzlich in seinem Absatz 3 als mögliche zwangsläufige Konsequenz einer Gewissensentscheidung die Kriegsdienstverweigerung regelt.85 Art. 4 GG gewährleistet neben der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit auch die ungestörte Religionsausübung. (Deswegen durfte niemand - oder darf vielleicht offiziell immer noch nicht - am Sonntag Bäume pflanzen.) Träger des Grundrechts aus Art. 4 I GG sind nicht nur die einzelnen Staatsbürger, sondern nach einer Entscheidung des BVerfGs u.a. auch die Religionsgesellschaften. Die werden indirekt noch einmal in Art. 140 GG angesprochen, in dem erklärt wird, dass einige genau genannte Artikel aus der Weimarer Verfassung (WV) Bestandteil des Grundgesetzes seien. Art. 140 GG ist wie ein "Mantel-Gesetz" zu sehen, das alles von ihm Umhüllte ohne (nochmalige) nähere Ausführung auch im Grundgesetz zur Geltung bringt. Deswegen gilt u.a.: "Art. 137 III WV Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde." So war z.B. der Autor ehemals als Lehrer an einer evangelischen Privatschule ohne Mitwirkung des Staates zu einem "Kirchenbeamten auf Lebenszeit" ernannt worden, obwohl Beamte üblicherweise Staatsdiener sind. Im Bereich des Kirchenrechts mit seinen rund 1,3 Mill. Beschäftigten herrschen also Institutionen mit oft öffentlich-rechtlichem Status in einem Bereich, aus dem sich der Staat bewusst zurückgezogen hat. Wer zu einer der großen Religionsgemeinschaften gehört, muss in Deutschland (bis jetzt; die Grünen strebten zwar eine Änderung an, die wohl aber nicht durchgesetzt werden wird) auf jeden Fall Kirchensteuern zahlen auch wenn er das allsonntägliche Angebot seiner Kirche nicht annimmt. Das ist so, wie jeder Besitzer eines Rundfunk- oder Fernsehgerätes nur allein für die Möglichkeit, an einer Übertragung als Konsument teilzunehmen, Gebühren zahlen muss - gleichgültig, ob er "den Kasten" oder "die Glotze" oder den Pastor anstellt oder nicht. Die Befugnis der nicht nur in dieser Hinsicht bevorrechtigten Großkirchen zur Erhebung von Kirchensteuern leitet sich über Art. 140 GG aus Art. 137 VI WV ab. Kirchensteuererhebung ist beileibe nicht selbstverständlich, sondern ein Privileg, das es nur in ganz wenigen Ländern gibt; und dort nicht einmal für alle Religionsgemeinschaften. In den USA z.B. leben die Kirchen nur 84

85

Strafjuristenschnack: „Alles, was in der konkreten Anwendung härter ist als Butter in der Sonne“, z.B. ein Stöckelschuh, den die Ehefrau nicht zum Strecken ihrer dadurch »verhübschbaren« Wade, sondern gegen ihren Ehemann einsetzte, dem so eine klaffende Kopfwunde beibrachte und sie dafür von einem Kölner Amtsrichter sieben Monate Haft auf Bewährung erhielt; selbst ein Wattebausch erfüllt diese Anforderung: wenn er mit Äther getränkt ist und dem Opfer auf die Nase gepresst wird, oder eine Strumpfhose: wenn sie nicht über den eigenen Po, sondern immer enger um einen fremden Hals gezogen wird. Sie wird noch ausführlich behandelt, wenn die Funktion des Rechts in der Bundesrepublik in einem besonderen Kapitel näher dargestellt wird.

388

von den Spenden der ihnen jeweils angehörenden Gläubigen. Kirchensteuern sind dort völlig unbekannt. Mit u.a. dem Privileg zur Erhebung von Kirchensteuern bevorrechtigt sind bei uns allerdings nur die großen Religionsgemeinschaften. So hat z.B. das BVerwG als Revisionsgericht 1997 in einem seit 1993 ausgetragenen Rechtsstreit die rechtliche Gleichstellung der Zeugen Jehovas - entgegen den Entscheidungen der beiden Unterinstanzen - abgelehnt. Die Ablehnung der von den Zeugen angestrebten Anerkennung ihrer kirchlichen Organisation als Körperschaft des öffentlichen Rechts wurde dabei interessanterweise vom BVerwG mit deren mangelnder Loyalität zum Staat begründet: U.a. die für die Sektenmitglieder verbindliche Weigerung, an Wahlen teilzunehmen, seien ein „verfassungsrechtlich nicht hinnehmbarer Widerspruch zum Demokratieprinzip“. Damit fehle den Sektenmitgliedern die „unerlässliche Loyalität zum Staat“. Der Gleichstellungsanspruch mit den beiden Großkirchen, der u.a. den Anspruch auf die Erteilung von Religionsunterricht, auf Mitwirkung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie auf eine Beteiligung an der Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge, auf die Erhebung von Kirchensteuern und die Befreiung von der Verpflichtung zur Entrichtung von Körperschafts-, Vermögens- und Grundsteuern beinhaltet, war sowohl von dem VG wie auch dem OVG Berlin mit dem Hinweis auf Artikel 137 V 2 der Weimarer Verfassung, der über Artikel 140 GG weiterhin gilt, bejaht worden, denn darin heißt es: „Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten.“ Andere zu erfüllende Voraussetzungen werden im Grundgesetz nicht genannt. Darum können neben den beiden großen Volkskirchen als geborenen Körperschaften des öffentlichen Rechts auch andere Religionsgesellschaften den Körperschaftsstatus verliehen bekommen. Das gebietet die Neutralitätspflicht des Staates. Im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik war deswegen der Körperschaftsstatus an kleinere Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen verliehen worden, so dass es 2005 mehr als zwei Dutzend solcher "anerkannten Religionsgemeinschaften" gab. Seit geraumer Zeit wollte der Staat bei der Verleihung des Körperschaftsstatus aber zurückhaltender verfahren. Die Gewähr auf Dauer sahen das VG als Eingangsinstanz 1993 und das OVG als Berufungsinstanz 1995 in dem Rechtsstreit der Zeugen Jehovas gegen das Land Berlin bei rund 200.000 getauften Mitgliedern, die alle auf eine Endzeit hoffen, und wohl auch in Anbetracht der langen Dauer des Bestehens dieser Religionsgemeinschaft seit 1881 trotz staatlicher Verfolgung durch die Nazis als gegeben an. Das Land Berlin ging in die Revision. Das Land Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, erhob in diesem Zusammenhang vier zentrale Vorwürfe: Erstens sollen Bluttransfusionen bei Kindern auch in lebensbedrohlichen Situationen verhindert worden sein; laut "Ärzteblatt" hatten die Zeugen Jehovas sogar Krankenhaus-Verbindungskomitees gegründet, die mit 24-Stunden-Sitzwachen kranke Mitglieder kontrollierten, um die Einhaltung der Bestimmungen sicherzustellen und von Krankenschwestern, die der Gemeinde angehören, werde angeblich verlangt, Verstöße gegen die Glaubenssätze zu melden und damit gegen ihre berufliche Schweigepflicht zu verstoßen (Die Welt 26.03.05). Zweitens sei das Wohl von Kindern durch rigide Erziehungsmethoden bis zur Anwendung körperlicher Gewalt gefährdet worden. Und drittens werde auf die Mitglieder selbst enormer Druck ausgeübt; Aussteiger müssten mit "psychischen Sanktionen" rechnen. Das Land Berlin argumentierte des weiteren viertens: Dem GG ist eine Wertordnung immanent, gegen die eine Gemeinschaft verstoße, die den Staat als „Werkzeug des Satans“ ansehe, unerbittlich auf das Privatleben ihrer Mitglieder zugreife und elementare Grundrechte und Grundpflichten ablehne. So werde den Mitgliedern jede politische Betätigung untersagt und Wehr- oder Zivildienst verboten – worin sie sich nicht von den angesehenen Quäkern unterscheiden. Das BVerwG gab dem Land Berlin 1997 mit seiner Revisionsentscheidung Recht. Wie nicht anders zu erwarten, war dieser Rechtsstreit Ende 2000 dann beim BVerfG gelandet. Und das schrieb dem BVerwG im Dezember 2000 als Weihnachtsgeschenk ins Stammbuch: Zwar können nur „rechtstreue“ Religionsgemeinschaften den grundsätzlichen Anspruch auf Anerkennung des angestrebten Status‘ erheben. Dazu gehöre die Beachtung der fundamentalen Verfassungsprinzipien, aber eine über die Grundsätze der Verfassung hinausgehende „Staatsloyalität“ dürfe von den Zeugen Jehovas nicht eingefordert werden. Religiöse Gemeinschaften seien nicht zur Zusammenarbeit mit dem Staat verpflichtet, Karlsruhe bejahte sogar ein Recht auf Distanz zum Staat. Das religiöse Verbot, an staatlichen Wahlen teilzunehmen, sei, da keine Wahlpflicht bestehe, nicht aus sich heraus demokratiefeindlich, denn eine solche Entscheidung treffe jeder Nichtwähler; vor allen Dingen stehe hinter dieser Entscheidung kein demokratiefeindliches anderes Staatsverständnis und Staatskonzept. Ein solches Verhalten einer gewissen Staatsferne sei durch die Religionsfreiheit gedeckt. Das BVerfG hob also im Dezember 2000 die Revisionsentscheidung des BVerwG auf - im wesentlichen, weil diese den Gleichheitsgrundsatz zwischen Religionsgesellschaften verletze - und verwies die Sache an das BVerwG zurück. Das BVerwG seinerseits hat daraufhin nach erneuter Aufhebung des OVG-Urteils, das dem Verlangen der Religionsgemeinschaft stattgegeben hatte, das Verfahren an das OVG zurückverwiesen. Insbesondere sollte

389

nun festgestellt werden, ob das Verhalten der Religionsgemeinschaft Grundrechte Dritter verletze. Anfang Dezember 2004 schlug das OVG einen Vergleich vor: Danach sollte das Land Berlin der Religionsgemeinschaft den Körperschaftsstatus zuerkennen. Im Gegenzug sollten die Zeugen Jehovas verbindlich und unwiderruflich mit Wirkung für die gesamte Bundesrepublik auf das Recht zur Erhebung von Kirchensteuern, das sogenannte Dienstherrenprivileg sowie auf das Recht zur Erteilung von Religionsunterricht an staatlichen Schulen verzichten. Auf diesen Vergleichvorschlag gingen die Zeugen Jehovas ein, nicht aber das Land Berlin. Am 24.03.05 hatte das OVG dann erneut entschieden, dass die Religionsgemeinschaft die Voraussetzungen zur Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erfülle, dass darum die Zeugen Jehovas wegen der Geltung des Gleichheitsgrundsatzes für den Staat den anerkannten Großkirchen gleichzustellen seien und ihnen der Status eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts zuzuerkennen sei. Damit bestätigte das Gericht in der Berufungsverhandlung einen eigenen Urteilsspruch von vor knapp zehn Jahren. In der Urteilsbegründung des OVG spielten die vom Land Berlin vorgebrachten Ablehnungsgründe alle keine Rolle. Das OVG verneinte die drei vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Fragen: Erschweren die Zeugen Jehovas staatlichen Schutz wie Bluttransfusionen bei nicht einsichtsfähigen Kindern? Versuchen sie, den Kontakt zu ausgeschiedenen Familienmitgliedern auf das absolut Notwendige zu beschränken? Schreiben sie Erziehungsmaßstäbe vor, die die Entwicklung der Kinder zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten hemmen und das Kindeswohl gefährden? Dafür gebe es keine objektive Belege staatlicher Stellen, sagte der Vorsitzende Richter des fünften Senats. Das OVG konnte mangelnde Rechtstreue der Zeugen Jehovas, etwa die Anschuldigung, dass sie das Wohl Dritter verletzten, nicht feststellen. Alle gegen sie erhobenen Vorwürfe, so das Gericht, hätten sich als nicht hinreichend substantiiert erwiesen. "Im Ergebnis könne sich der Beklagte (das Land Berlin) daher nur auf sogenannte Aussteigerberichte, Berichte von Sekteninitiativen ... stützen." Familiengerichte, Ärzte, Psychologen und wissenschaftliche Untersuchungen hätten jedoch deren Sicht der Dinge nicht bestätigt. Daß "Aussteiger ihren Erfahrungen mit der Gemeinschaft ... im nachhinein positive Aspekte abgewinnen könnten, sei kaum anzunehmen". Nachfragen bei Ärzten und Krankenhäusern, Gerichten und Sekten-Experten hätten keine Bestätigung der erhobenen Vorwürfe erbracht. Das Land Berlin sei für hinreichende Ablehnungsgründe seit zwölf Jahren darlegungspflichtig gewesen, habe sie aber in dem mehr als ein Jahrzehnt währenden Rechtssstreit nicht überzeugend dargelegt. Die über das Urteil empörten Kirchenoberen der Großkirchen müssen sich die Frage gefallen lassen, wie sie wohl reagieren würden, wenn die Vorwürfe entlaufener Priester und kirchenkritischer Atheistenverbände vor ordentlichen Gerichten für bare Münze genommen würden. Eine Revision gegen das stattgebende Urteil wurde ausdrücklich nicht zugelassen. Damit hat die umstrittene Religionsgemeinschaft zum ersten Mal in einem Bundesland ihre staatliche Anerkennung durchgesetzt. Dem Land Berlin blieb als einziges noch zulässiges Rechtsmittel, gegen die Nichtzulassung der Revision die Erhebung einer sofortigen Beschwerde beim BVerwG. Ob das Land weiter streiten will, soll davon abhängig gemacht werden, welche Konsequenzen sich aus dem Urteil für andere Gemeinschaften ergeben, zum Beispiel für fundamentalistisch-islamische. Die Zeugen Jehovas erwägen jetzt, den Status als öffentliche Körperschaft in allen Bundesländern zu beantragen. Gern gesehene und vom BVerwG mit seiner ersten Entscheidung in dieser Sache wenigstens indirekt eingeforderte Wahlbeteiligung steht nicht über der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit! Wie gut, dass das BVerfG den anderen Obergerichten des Bundes Nachhilfeunterricht in der wertenden Auslegung unserer Grundrechte erteilt – wenn es dabei nicht selber irrt. Aber auf diesen Problemkreis der grundrechtlichen Irrtumsbefangenheit selbst des BVerfGs komme ich später, bei der Behandlung der Kriegsdienstverweigerungsproblematik, genauer zu sprechen. Und weil absehbar war, dass über kurz und gar nicht lang muslimische Religionsgemeinschaften den gleichen privilegierenden Rechtsstatus anstreben werden, hat das BVerfG in seinem Urteilsspruch gleich die Zulassungsvoraussetzungen für die Anerkennung als bevorrechtigte Religionsgemeinschaft i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WV geregelt. Anerkennungsvoraussetzungen sind: a) Gewähr des Bestandes der Religionsgemeinschaft auf Dauer, wofür der Mitgliederbestand ein wichtiger Indikator sei, b) Rechtstreue, die bei dem Vorliegen bloßer Wahlverweigerung aber nicht verneint werden könne und c) die Wahrung der Grundrechte Dritter. Letzterer Punkt sei von dem BVerwG noch einmal zu überprüfen, denn die von den Zeugen Jehovas propagierte Erziehung mit „Stock und Rute“ - so der Titel ihres Erziehungsbuches - könnte gegen die Persönlichkeitsrechte der Kinder und ihre Menschenwürde gerichtet sein. Ich kenne das Buch nicht, und hier wäre auch nicht der Ort, sich mit den Erziehungsmethoden der Zeugen Jehovas auseinander zusetzen. In meiner Tageszeitung wurde in diesem Zusammenhang aus einer Ausgabe der Zeitschrift „Erwachet“ von 1979 zitiert: „Schläge können ganz

390 gut wirken. Nicht, daß das Kind zu Untertänigkeit geprügelt werden sollte – aber ein paar feste Klapse mögen ihm zeigen, wer die Autorität hat.“ Das soll falsch sein? Lieber mal zur rechten Zeit einen energisch Grenzen ziehenden Klaps, wenn bis dahin alles Reden nichts half, als die Erziehung aus dem Ruder laufen zu lassen! Ich kenne einige Leute dieser Glaubensgemeinschaft, die an meiner Tür klingeln, u.a. eine Mutter mit einem so angenehmen erwachsenen Sohn, dass ich ihn gerne zum Freund hätte. Ich teile deren religiöse Ansichten ganz und gar nicht, aber ich habe einen ausgesprochen guten Eindruck von deren Sozialverhalten. Dann können deren Erziehungsmethoden nicht so falsch sein! (Schwierigkeiten hatte ich als Lehrer mit beileibe nicht so gut erzogenen Kindern!) Und das soll zur Ablehnung als Religionsgemeinschaft reichen? Das wäre mir als Verfassungsrichter juristisch zu dürftig! Auch die Ablehnung von Bluttransfusionen86 könnte von dem BVerwG in seine Überlegungen mit einbezogen werden, dürfte aber in den Zeiten aidsverseuchten Blutes und aidsverseuchter Blutprodukte und Blutersatzstoffe meiner Meinung nach kein alleiniger Versagungsgrund mehr sein. Außerdem könne nach den angedeuteten Überlegungen des BVerfGs der Druck auf austrittswillige Mitglieder unzulässig sein, von einem solchen Vorhaben Abstand zu nehmen, weil ein solcher Druck deren negative Religionsfreiheit verletzen könnte. Zur Abklärung des Vorliegens der dritten Zulassungsvoraussetzung oder ihrer Verneinung wurde das Verfahren an das BVerwG zurückverwiesen. Sollten muslimische Religionsgemeinschaften ihre Anerkennung betreiben, wird vermutlich geprüft werden, ob sie den demokratischen Rechtsstaat abschaffen und die Errichtung eines theokratisch verfassten Gottesstaates/Kalifates propagieren. Da wird die Rechtsfindung schon schwieriger! (Aber nicht so sehr aus Befangenheitsgründen, weil der eigene Arbeitsplatz der Richter betroffen sein könnte: In einem Gottesstaat braucht man ja schließlich keine irdischen Richter mehr, weil alles automatisch gleich vor der höchsten Instanz verhandelt wird! Das wäre als Ablehnungsgrund zu dünn.) Die Zeugen Jehovas sehen den Staat als „Werkzeug des Satans“, ohne dass das bisher ihre Anerkennung ausschloss. Und die Christen beten im „Vater unser“ zu Gott: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden.“ Das zielt letztlich auch auf einen Zustand, in dem der demokratische Rechtsstaat aufgelöst ist, ohne dass das bisher zur Aberkennung der christlichen Großkirchen als bevorrechtigte Religionsgemeinschaft führte. Das werden muslimische Gruppen, die die Errichtung des Gottesstaates für einen etwas früheren Zeitraum als die eschatologische Endzeit propagieren, mit Sicherheit ins Feld führen! Wie wollen die Verfassungsrichter differenzieren: An die christliche Schwärmerei glaube doch niemand, darum sei sie keine Gefahr für den demokratisch verfassten Staat? Manche muslimische Glaubensrichtungen aber wollen den Gottesstaat, den die Christen irgendwie auch wollen, möglichst bald, und das sei eine Gefahr für den demokratisch verfassten Rechtsstaat? Eine solche Differenzierung halte ich nicht für einen schlüssigen Ablehnungsgrund! Da müssten andere Kriterien gefunden werden. Als Verfassungsrichter würde ich mich gegenüber muslimischen Religionsgemeinschaften u.a. darauf beziehen, dass nach dem Koran die Scharia zu gelten habe, und dass die in ihren Hudud-Strafen als auf dem offenen Marktplatz zu vollziehende Todesstrafe das Abschlagen des Kopfes durch einen Schwertstreich für z.B. das Delikt des Austritts aus der Gemeinschaft der Muslime - auch für jemanden, der auf seiner Suche nach Gott aus einer anderen Glaubensrichtung zum Islam gestoßen ist, dann aber doch wieder zu dem Glauben seiner Väter(?) zurückkehren will - und andere als todeswürdig erachtete »Verbrechen« vorsehe, die Todessstrafe durch das Schwert in Saudi-Arabien z.B. für so angesehene »Blasphemie« tatsächlich vollzogen wird.. Andererseits gibt es bei uns z.B. auch evangelische Gliedkirchen, für die manche Bundesländer nicht die (von den bevorzugten Großkirchen dem Staat zu vergütende) Dienstleistung erbringen, von allen »Karteileichen« Geld für »ihre« Kirche abzufordern, bis die »Leiche« manchmal mobil wird und austritt. (Die katholische Kirche fordert nach ihrem Kirchenrecht sogar von ihren ausgetretenen Mitgliedern weiterhin Kirchensteuern, kann sie aber in einem solchen Fall nicht mehr durch das Finanzamt einziehen lassen oder gerichtlich geltend machen. Das hat das BVerfG entschieden. Mir ist ein Fall bekannt, in dem die katholische Kirche sich von der Mutter einer ausgetretenen Frau durch Einsatz des Glaubensdruckes die der Kirche durch den Austritt der Tochter entgangenen Kirchensteuern erstatten ließ. Aber schon allein die Forderung zur weiteren Zahlung der Mitgliedsbeiträge von Nicht(mehr)-Mitgliedern ist nach meiner Ansicht sittenwidrig und verstößt gegen das Grundgesetz!) Wer aus seiner Kirche austritt, verzichtet damit auf Leistungen, auf die ein Mitglied Anspruch hat - wobei einige evangelische Pastoren gegenüber den ihnen verbliebenen (Rest-)Gläubigen so rigoros waren/sind(?) wie die katholische Kirche und für die Erbringung einer kirchlichen Leistung nicht nur die Mitgliedschaft voraussetzen, sondern auch einen regelmäßigen Gottesdienstbesuch forder(te)n. Eine evangelische Pastorin verkündete (und 86

Siehe dazu den Bluttransfusionsfall unter IV. Teil 5.2, der zwar die „Religiöse Vereinigung des evangelischen Brüdervereins" betrifft. Diese Sekte steht - wie die der Zeugen Jehovas auch - auf Grund einer speziellen Interpretation einiger Bibelzitate Bluttransfusionen aus religiösen Gründen ablehnend gegenüber. Der Fall hat damit auch Bedeutung für die Zeugen Jehovas.

391

wurde damit in der Presse zitiert): "Wer am Sonntag statt den Gottesdienst zu besuchen in den Wald geht, weil er meint, dass er dort Gott näher sei als in der Kirche, der soll sich nach seinem Tode auch von dem Oberförster begraben lassen!" Viele Katholiken haben Schwierigkeiten mit ihrer Kirche, wenn die sich zu sehr in ihren Intimbereiche drängt und dort (nach kirchlichem Selbstverständnis zu „Recht«) in einem Bereich Geltung beansprucht, der aber von den Gläubigen als nur der eigenen Verantwortung unterworfen angesehen wird; so z.B., wenn der Leiter des päpstlichen Instituts für Ehe und Familie, das "opus dei"-Mitglied Prälat Monsignore Carlo Caffarra, 1989 als Verhaltensmaxime u.a. forderte: "Wenn ein Ehemann zu seiner Frau sagt: Ich nehme heute ein Kondom, soll die Ehefrau nein sagen. Wenn der Mann dann droht: Ich gehe dann zu einer anderen, soll sie sagen: Bitte, dann geh. Besser untreu als Kondom. ... Wer Verhütungsmittel benutzt, will nicht, daß neues Leben entsteht, weil er ein solches Leben als Übel betrachtet. Das ist dieselbe Einstellung wie die eines Mörders, der es als Übel ansieht, daß sein Opfer existiert." (STERN 12/89) Ein mehr als gewagter, ein abstruser Vergleich auf Grund einer abstrus konstruierten Kausalkette! Und das im Zeichen von Aids! (Möglicherweise geübte andauernde sexuelle Enthaltsamkeit scheint manchmal zur Verblödung führen zu können.) Theologen und Laien, die wie u.a. der katholische Moraltheologe Professor Bernhard Häring für die Empfängnisverhütung eintreten, wurden von Prälat Caffara, den der Papst für die zitierten Äußerungen ausdrücklich gelobt und der sie somit ausdrücklich gebilligt hatte, als "Gottesfeinde" beschimpft (weil sie durch die Verwendung von Empfängnisverhütungsmitteln die der katholischen Kirche suspekte und daher von ihr verfemte Lustsuche außerhalb des von ihr vorgegebenen religiösen Bezuges ermöglichen). Das soll rechtens sein? Die extreme Haltung der offiziellen katholischen Kirche in Fragen der generellen Ablehnung jeglicher Empfängnisverhütung "Jedwede Empfängnisverhütung, so hatte es 1968 die von Kurienkardinal Alfredo Ottaviani angeführte Minderheit der Pillenkommission Pauls VI. notiert, sei `ein verdammenswertes Laster, ein vorweggenommener Mord'" (SPIEGEL 52/1990) wird mit Gewissensdruck gegenüber den katholischen Gläubigen in aller Welt durchzusetzen versucht, obwohl es auch der Amtskirche bekannt ist, dass z.B. - besonders in den Entwicklungsländern - jeden Tag auf der Erde fast 60.000 Kinder verhungern, alle eineinhalb Sekunden eines, dass aidskranke Eltern mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aidskranke Kinder in die Welt setzen werden, ... Wäre es vielleicht nicht barmherziger, dass nur gesunde Kinder geboren werden, die von ihren Eltern gewollt und ersehnt werden? "Theologin wirft Papst klerikale Arroganz vor ap Frankfurt - Scharfe Kritik hat Papst Johannes Paul II. für seinen Aufruf geerntet, vergewaltigte Frauen in Bosnien von Abtreibungen abzuhalten. ... Die Theologin Uta Ranke-Heinemann sprach dem Papst das Recht ab, sich in Sachen einzumischen, die er nicht beurteilen könne. ..." (HH A 01.03.93) (Von katholischen Bosnierinnen, die von serbischen Tschetniks geschwängert worden waren, hatte der Papst verlangt, statt abzutreiben, "den Feind in sich zu akzeptieren".) Eine Turiner Zeitung kommentierte die vorstehend zitierten, (zumindest Denk-)Anstoß erregenden Ausführungen des obersten Ehe- und Familienexperten der katholischen Kirche, des Prälaten Monsignore Carlo Caffarra, mit den Worten: "Diese Aussagen sind so skandalös, daß jeder, der nicht dagegen protestiert, sich vor Gott verantworten muß!"

In Deutschland und überall auf der Welt regte sich Widerstand gegen die unverantwortliche und nach Meinung Vieler unchristliche Haltung des Papstes und der meisten von ihm ernannten konservativen Kirchenfürsten im Bereich der menschlichen Sexualität. Stellvertretend für viele andere sei zitiert:

392

"Lambsdorff greift Papst wegen Verhütung an rtr Aachen - Heftige Angriffe hat der FDP-Bundesvorsitzende Otto Graf Lambsdorff ... angesichts der Immunschwäche-Krankheit Aids gegen die Politik der katholischen Kirche und den Papst gerichtet. `Die Angst des Papstes vor Pille und Präservativ schadet uns allen', sagte Lambsdorff in Aachen. `Wer im Aids-Zeitalter gegen Präservative predigt, handelt unverantwortlich.' ..." (HH A 29.04.91) Auch wenn es die katholische Kirche nicht wahrhaben will und noch Papst Johannes Paul II selbst bei Ehepaaren - im Sinne des Stoikers Seneca: „Nichts ist verderbter, als seine Gattin wie eine Ehebrecherin zu lieben. ... Die Männer sollen sich ihren Frauen nicht als Liebhaber, sondern als Ehemänner erweisen.“87 - vom „Ehebruch mit der eigenen Frau“88 spricht, wenn Sexualität ohne das Ziel der Zeugung um der Liebe oder des puren Lustgewinns willen gelebt wird: Sexualität dient nicht ausschließlich der bloßen Arterhaltung, sondern – unter Verheirateten wie Nichtverheirateten – der Arterfreuung, um auf dieser zuverlässigen Grundlage des Lustprinzips die Arterhaltung so angenehm wie möglich sicher zu stellen! Das ist unsere biologische Determinante zur Arterhaltung. Der letztlich allein auf Arterhaltung angelegten Natur ist es völlig gleichgültig, auf welcher religiösen oder juristischen Grundlage dieses überragende Ziel erreicht wird! Fast ein Jahrzehnt später hat die katholische Kirche ihre Meinung zum Schutz vor Aids beim Geschlechtsverkehr und zur Empfängnisverhütung selbst in Extremfällen nicht geändert, obwohl inzwischen einige Bischöfe Asiens und Afrikas angesichts der epidemischen Ausbreitung von Aids und dem Aids-Tod von (auf Grund der stoischen Tradition der Verdächtigung des Luststrebens und der damit verbundenen Höherbewertung der Ehelosigkeit und der Ehe als Konzession gegenüber denjenigen, die sich sexueller Lust nicht enthalten können erst seit 1139 n.Chr.89 und damit unbiblisch) eigentlich dem Zölibat verpflichteten Priestern – innerhalb der katholischen Kirche ein absolutes Tabu-Thema – eine Duldung von lebensrettenden Maßnahmen angesichts der wachsenden Bedrohung durch Aids durchzusetzen versuchten. In Afrika ist die alles andere überschattende Aidsproblematik – teilweise ist schon ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung mancher Länder mit dem HI-Virus verseucht mit ihren vielfältigen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche insbesondere durch folgende gesellschaftlichen Auswirkungen gekennzeichnet: Familien mit Aidskranken sind stigmatisiert, so dass betroffene Familienmitglieder vor den Augen der Nachbarn möglichst versteckt werden, die Eltern sterben weg, die verwaisten Kinder müssen sich allein durchschlagen, sie sind hoffnungslos unterernährt, durch den frühen Verlust ihrer Eltern traumatisiert und erhalten keine Ausbildung mehr, weil sie sich keinen Schulbesuch ermöglichen können, da es schon am Nötigsten zum bloßen Überleben fehlt, es wächst eine Generation mit einem extrem hohen Analphabetenanteil heran, überdurchschnittlich viele Lehrer sollen Aids haben und diese Krankheit durch Geschlechtsverkehr mit ihren Schülerinnen weitergeben, immer mehr junge Mädchen werden in immer jüngerem Alter überfallen und vergewaltigt, weil sich unter den Männern der ihnen als Rechtfertigung ihrer sexuellen Gelüste angenehme Aberglaube immer weiter verbreitet, dass Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau nicht nur »normale« Geschlechtskrankheiten, sondern sogar Aids heile – und wenn nicht beim ersten, dann vielleicht bei einem der nächsten Versuche, ganze Wirtschaftszweige werden lahm gelegt, weil die jungen, gut ausgebildeten Fachkräfte wegsterben und neue Fachkräfte fehlen, die Krankensysteme sind zusammengebrochen, dafür braucht man kaum noch Alterssicherungssysteme, weil so viele Menschen vor Erreichen ihres Ruhestandes von der Krankheit hinweggerafft worden sind, ... . All das ist ja nicht nur uns Zeitungslesern und nicht nur den Bischöfen Afrikas - Nairobis ehemaliger Kardinal hat einmal im Jahr eine öffentliche Gummi-Verbrennung zelebriert - und Asiens bekannt, sondern auch dem vormaligen Papst Johannes Paul II. und seinen engsten Ratgebern, wie u.a. dem damaligen obersten Glaubenswächter Kardinal Ratzinger, 2005 als Benedikt XVI. sein Nachfolger im Amt ("Als das Fallbeil auf mich herabfiel und mir ganz schwindelig zumute wurde, habe ich zu Gott gebetet. ’Tu mir das nicht an!’ habe ich gefleht, ’doch der Herr hat mir diesmal offenbar nicht zugehört.’" HH A 12.05.05). Das Wissen um das Elend Afrikas hat aber bisher trotzdem nicht zu einem Umdenken geführt. Das (veraltete) Kirchenrecht ist da (bisher) starrer als eine Dornenkrone: „Vatikan lehnt Schutz vor Aids ab SAD Rom – Katholische Eheleute dürfen nach einer Richtlinie des Vatikans keine Kondome benutzen, um sich vor der Übertragung des Aids-Virus‘ innerhalb der Ehe zu schützen. Dies gilt 87

Seneca: Über die Ehe, zitiert nach Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 15 88 Vgl. Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 16 89 Vgl. Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 15

393

sogar dann, wenn einer der beiden Partner mit der Immunschwächekrankheit infiziert ist. Das stellte zum Auftakt eines Aids-Kongresses im Vatikan der Leiter der zuständigen Kommission, der mexikanische Bischof Javier Lozano Barragan, klar: ‘Wenn eine gesunde Katholikin mit ihrem HIVpositiven Ehemann sexuellen Kontakt haben will, darf sie das, allerdings ohne Kondom.‘ Das Risiko einer Ansteckung sei ‘ihre Sache‘.“ (HH A 02.12.00) So viel Unbarmherzigkeit mit den der Kirche nach ihrem Selbstverständnis von Gott anvertrauten Gläubigen ist (jedenfalls mir) unfassbar! Es wird Zeit, dass der Herr wieder einmal zur Erde käme und dieses Mal andere Leute als vor 2.000 Jahren die Geldwechsler aus „seines Vaters Haus“ raus jagte! Aber vielleicht schickte er ja den Heiligen Geist, denn fünf Jahre später fand sich die Meldung: Vatikan prüft Kondom-Frage Rom - Der Vatikan prüft derzeit die strittige Frage des Gebrauchs von Kondomen zur AidsVerhütung innerhalb der Ehe. Wie am Freitag aus Vatikankreisen verlautete, untersucht die Römische Glaubenskongregation die unterschiedlichen Aspekte des Problems. Dabei würden auch internationale Experten zu Rate gezogen. KNA HH A 22.01.05 Das wäre ein für die Ideologie der katholischen Kirche erdbebenartiger Akt des Umdenkens, da bisher jeder Geschlechtsverkehr unabdingbar die Möglichkeit einer Zeugung beinhalten musste! Andernfalls war er schwerste Sünde! Und wer schon kein Erbarmen mit der seelischen Not von Eheleuten hat(te?), den kümmert natürlich auch nicht das Welt-Überbevölkerungsproblem. Oder gibt sich die Leitung der katholischen Kirche gar der zynischen Hoffnung hin, dass sich das Welt-Überbevölkerungsproblem nach Gottes Willen durch Aids ohne menschliches Zutun lösen könnte? "Ruandas Regierungssprecher las Papst Johannes Paul II. die Leviten `Widerstand gegen Geburtenkontrolle und Verhütung verstößt gegen die Interessen der Menschen Afrikas' KIGALI/HAMBURG, 9. September (Reuter/AFP). Papst Johannes Paul II. ist wegen seiner kompromißlosen Haltung in der Sexualmoral bei seinem Besuch in Ruanda auf offenen Widerstand gestoßen. Im Stadion der Hauptstadt Kigali warf Regierungssprecher Christofe Mfizi am Wochenende dem Papst und der katholischen Kirche vor, Bastionen weißer Vorherrschaft zu sein und durch den Widerstand gegen Geburtenkontrolle und Verhütung gegen die Interessen der Menschen zu verstoßen. ... Hart ging der Sprecher mit der Ablehnung der Geburtenkontrolle durch die Kirche ins Gericht. `Was soll ich einem völlig verarmten und unwissenden Ehepaar raten, das immer wieder gespenstisch anzuschauende Kinder bekommt, denen der Hungertod sicher ist?' Ebenso heftig attackierte Mfizi die Weigerung der Kirche, den Gebrauch von Kondomen zur Verhinderung von Aids-Infektionen zu gestatten. `Was soll ich einem jungen Mann sagen, der zu ewiger Arbeitslosigkeit verdammt ist und den die Gesetze der Gesellschaft und der Religion dazu verdammen, keusch zu bleiben, der aber keine Kontrolle über seine Sexualität hat, währenddessen Aids Menschen umbringt', fragte der Regierungssprecher. ... Übervölkerung ist einer der Gründe für die Verelendung Afrikas. Die Immunschwäche Aids hat epidemische Ausmaße angenommen. ... Der Papst, der wiederholt während seiner derzeitigen zehntägigen Afrika-Reise die kirchliche Ablehnung der künstlichen Geburtenkontrolle und der Aids-Bekämpfung durch Präservative bekräftigt hatte, ... In der Bundesrepublik haben Politiker von FDP und CSU scharfe Kritik an der Haltung der Kirche zur Empfängnisverhütung geübt. FDP-Generalsekretärin Cornelia Schmalz-Jacobsen bezeichnete die Äußerungen des Papstes auf seiner Afrika-Reise als unverantwortlich. ... Auch der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Jürgen Warnke (CSU), griff die Kirche wegen ihrer Haltung zur Familienplanung in der Dritten Welt scharf an. Die Bevölkerungsexplosion könne ohne Mithilfe der Kirche nicht gestoppt werden ... . Deshalb dürfe die Familienplanung kein Tabu mehr sein. ... Nach Auffassung Warnkes ist eine Empfängnisregelung in Respekt vor der menschlichen Würde durchaus mit der christlichen Moral vereinbar." (FR 10.09.90)

394

"Weltbevölkerung bis 2050 verdoppelt? afp New York - Die Ausgaben für die Eindämmung des Bevölkerungswachstums müssen nach Ansicht der Vereinten Nationen in den nächsten zehn Jahren verdoppelt werden, wenn weit teurere Schäden für Wirtschaft und Umwelt vermieden werden sollen. In ihrem gestern in New York veröffentlichten Weltbevölkerungsbericht für 1991 fordert die UNO dazu auf, die Zahl der von der Familienplanung erfaßten Paare in der nächsten Zeit um 50 % zu erhöhen. ... Dieses Wachstum könne nur dann wirksam eingedämmt werden, wenn die Milliarden von Menschen in den Entwicklungsländern im nächsten Jahrzehnt an der Geburtenkontrolle beteiligt werden." (HH A 14.05.91) "73 Kinder: Schwanger! ADN Santiago - Die Chilenin Leontina Judith Epinoza (59) ist schwanger. Sie hat schon 73 Kinder geboren, davon viermal Vierlinge, siebenmal Drillinge, 16mal Zwillinge. ‘Das ist Gottes Wille', sagt Ehemann Gerardo." (HH A 10.06.91) Dass ein Körper das aushält! Die Frauen sind wohl doch das wahre starke Geschlecht! Die Frau, wohl strenggläubige Katholikin, müsste sich - obwohl das kirchenrechtlich auch nicht erlaubt ist zivilrechtlich scheiden lassen. Dann wäre ihr wohl geholfen: "Sexverbot für Geschiedene SAD Rom - Papst Johannes Paul II. will Geschiedene, die sich wiederverheiratet haben, zu den Sakramenten der Beichte und der Kommunion zulassen. In einem Papier, das in den Hauptnachrichten des italienischen Staatsfernsehens RAI verlesen wurde, stellt der Vatikan allerdings eine harte Bedingung: Die ‘zweite, nicht anerkannte Ehe darf nicht vollzogen werden'. Die geschiedenen Partner sollen ihre sexuellen Beziehungen für immer unterbrechen." (HH A 09.10.93) Am 14.10.94 verkündete der Vatikan als Antwort auf die Initiative dreier süddeutscher Bischöfe dann sein kirchenrechtliches Nein zum Empfang der Kommunion für zivilrechtlich wiederverheiratete Geschiedene: "Wenn Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht" - so wie die katholische Kirche es auslegt. Von dieser Norm befreit werden können nur diejenigen wiederverheirateten Paare, die sich "verpflichten, völlig enthaltsam zu leben, das heißt, sich der Akte zu enthalten, welche Eheleuten vorbehalten sind." In diesem Falle "können sie zur Heiligen Kommunion hinzutreten, wobei die Pflicht aufrechterhalten bleibt, Ärgernis zu vermeiden." Nur komisch, dass die evangelische Kirche, die mit dem gleichen Recht das Gesetz Gottes aus der Bibel erkennen zu können angibt, das völlig anders sieht und keinen Geschiedenen vom Abendmahl und der damit verbundenen Sündenvergebung ausschließt. Beide berufen sich aber auf den einen Gott und sein „Gesetz«, wobei dem Autor nur die Zehn Gebote als Gesetz Gottes bekannt sind, und daraus ist ein Verbot einer kirchlichen Wiederheirat nach Scheidung für einen theologischen Laien nicht ableitbar! Aber der Vatikan macht‘s möglich! „Während bei Jesus Ehe- und Frauenfreundlichkeit, ja überhaupt Menschenfreundlichkeit das Prinzip war, ist es hier [bei der katholischen Kirche; der Autor] Ehefeindlichkeit und häufig genug Unmenschlichkeit, die nicht mehr ein Prinzip um des Menschen willen bejaht, sondern den Menschen einem Prinzip opfert“, urteilt die mit Lehrverbot belegte Professorin für katholische Theologie Ranke-Heinemann.90 Natürlich gibt es auch einen juristischen Trick, um als Katholik aus dieser kirchenrechtlichen Klemme des kanonischen Rechts, als Geschiedener nicht wieder kirchlich heiraten zu können, herauszukommen: Man muss seine Erst-Ehe nach katholischem Recht annullieren lassen. Das gelingt aber meist nur sehr Prominenten. "Vatikan: Carolines Ehe in erster Instanz annulliert SAD Vatikanstadt - Das oberste Kirchengericht des Vatikans, die Sacra Romana Rota, hat in erster Instanz entschieden, daß die Ehe von Prinzessin Caroline (35) mit dem Franzosen Philippe Junot (51) annulliert wird. Erst wenn die zweite Instanz diese Entscheidung bestätigt, gilt die Ehe als nicht geschlossen. Als Begründung hatte Caroline gesagt, Junot habe sie nur aus sexuellen Gründen geheiratet und keine Achtung vor ihr gehabt. Für Caroline ist die Annullierung sehr wichtig. Sollte ihr Bruder Albert keinen Nachfolger zeugen, wären ihre Kinder aus zweiter Ehe thronfolgeberechtigt. Solange sie nach Ansicht des Vatikans in unheiliger Verbindung gezeugt wurden, gelten sie als illegitim gezeugt und hätten keinen Anspruch 90

Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 39

395

auf Monacos Thron." (HH A 25.03.92) Und die Schwester von Caroline hält die Kirchenjuristen des Vatikans ebenfalls in Atem: "Fürst Rainier von Monaco gibt dem Drängen der Kirche nach Stephanie darf heiraten SAD Paris - Fürst Rainier gibt nach: Seine Tochter Stephanie darf Daniel Ducruet heiraten. Auf Drängen der Kirche soll der Fürst in die Hochzeit seiner Jüngsten mit dem Mann, den er nie als Schwiegersohn anerkennen wollte, eingewilligt haben. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Fürsten war der Erzbischof von Monaco, Monsignore Joseph Sardou. Der Kirchenfürst hat Rainier offenbar überzeugt, daß eine Prinzessin von Monaco nicht auf Dauer ‘in Sünde' leben kann. Stephanie erwartet im Mai ihr zweites Kind von Ducruet. Sordou machte geltend, daß Stephanies nicht ehelich geborener Sohn Louis nach der Eheschließung endlich in den Schoß der Kirche aufgenommen und getauft werden könne. ..." (HH A 01.03.94) Was kann, bitte, das kleine Kind dafür, dass seine Mutter den Begriff „Leib-Wächter“ etwas anders ausgelegt hat, als wir »Normalen« ohne Leibwächter ihn zunächst denken würden, sie ihren body von ihrem Leibwächter Ducruet zu eng vor dem möglichen Angriff anderer Männer guarden ließ? Deswegen durfte das Kind nicht „in den Schoß der Kirche aufgenommen“ werden? Wenn man so etwas liest, muss man unweigerlich an Asterix denken: „Die spinnen, die Römer!“ (1998 brachte die lebensfrohe Prinzessin ihr drittes nichteheliche Kind zur Welt, nachdem sie 1996 nach nur 15-monatiger Ehe von dem Ex-Leibwächter wieder geschieden worden war. Vater des dritten Kindes ist ein anderer „Leib-Wächter“. Da wird der Vatikan wohl wieder bemüht werden!) „Zu katholisch ist ein Hemmschuh!“, meinte schon mein bald nach dem Abitur tödlich verunglückter katholischer engster Schulfreund. Und wenn schon katholisch, dann zur Absicherung wenigstens auch adlig! Das stellt sich dann doch als sehr hilfreich heraus. Zumal der erinnerungsfähige Zeitungsleser noch im Hinterkopf hat, dass die Ehe der älteren Fürstentochter zunächst mit dem Argument geschieden werden sollte, sie sei nie vollzogen worden. Das Argument hätte kirchenrechtlich gegriffen. Aber der erste Ehemann hatte in seinen JetSet-Kreisen zunächst nur darüber gelacht, dann aber unfein Intimes zum Schlechtesten gegeben: Die Ehe sei nur zustande gekommen, weil er in seinem Freundeskreis gewettet hatte, dass er die Fürstentochter werde „flachlegen“ können. Da hatte dann ein anderes Argument gesucht werden müssen, um den kirchenrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Annullierung einer Ehe zu genügen - auch wenn jeder weiß, dass alles nur eine Farce ist. Da haben es evangelische Christen, die sich auf denselben Gott berufen und ihn ebenfalls als ihre oberste Gewissensinstanz betrachten, leichter, die "Freiheit eines Christenmenschen" (Luther) zu leben, da für sie nur die Bibel und ihr eigenes Gewissen den Ariadne-Faden durch das Anfechtungslabyrinth des Lebens bilden, nicht aber Verlautbarungen der Kirchenoberen ihrer Amtskirche und deren mit Gewissensdruck durchgesetztes Kirchen»recht«. Noch unangenehmer für die persönlichen Lebensumstände kann es werden, wenn man nicht mit einem Wappen auf dem Nachttöpfchen geboren wurde – und wer ist das schon? - und die (katholische) Kirche als Arbeitgeber hat. Dann muss man sich laut Arbeitsrecht - wie es z.B. auch in anderen "Tendenzbetrieben" wie Zeitungen, Gewerkschaftsbetrieben, Arbeitgeberverbänden, politischen Parteien usw. der Fall sein kann - besonderen ideologisch oder konfessionell begründeten Rücksichtspflichten unterwerfen, denen ein Arbeitnehmer in einem normalen Arbeitsverhältnis nicht ausgesetzt ist. "Der Zölibat: Ein Tabu bröckelt Katholiken stellen Ehelosigkeit der Geistlichen in Frage / Kirche beklagt Priestermangel ... Daß auch katholische Priester in Deutschland in eheähnlichen Verhältnissen leben, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Aber der Zölibat zwingt Kirchendiener immer noch zu einer Heuchelei, deren Ende Tausende Priester und deren Frauen herbeisehnen. 15 Jahre lang mußten zum Beispiel Gisela Forster (45) und Pater Anselm (56) ihre Liebe verheimlichen. Erst als er, Leiter des Gymnasiums im Benediktinerkloster Schäftlarn bei München und mittlerweile zweifacher Vater, die Kunstlehrerin heiratete, wurde die Familie glücklich. Bis dahin mußten Thomas (14) und Gabriele (10) zu ihrem Vater `Onkel' sagen. Doch die Forsters

396

mußten für ihr privates Glück bitter bezahlen: Beide verloren ihre Arbeit bei der katholischen Kirche, beide wurden exkommuniziert. Die Rache der Kirche ging sogar noch weiter: Anselm Forster hat nur Anspruch auf 420 Mark Rente. ... Als Nicht-Geistlicher hätte er eine hohe Pension bekommen. Weitaus gnädiger ging der Orden mit zwei Mitbrüdern von Forster um, die mehrere Jungen vergewaltigt hatten. Einer der Zöglinge war so geschädigt, daß er viele Monate in psychiatrische Behandlung mußte. Nachdem die Mönche ihre Gefängnisstrafen abgesessen hatten, wurden sie wieder ins Kloster aufgenommen. ... " (Morgenpost 08.11.91) Um die sexualfeindliche kirchliche Rechthaberei nicht nur gegenüber Geschiedenen, sondern auch gegenüber ihren eigenen heiratswilligen Priestern richtig einschätzen zu können, sei angemerkt, dass die Forschungen Ranke-Heinemanns ergaben, dass der Zölibat erst 1139 nach Christus in der christlichen Kirche römisch-katholischer Provenienz eingeführt wurde, und dass sich der von den Päpsten reklamierte Pflichtzölibat für Priester weder auf Jesus noch auf die allesamt verheiratet gewesenen Apostel zurückführen läßt: „Apostolische Lehre ist nicht die Lehre vom Pflichtzölibat der Priester. Apostolische Lehre ist im Gegenteil die Lehre vom Recht aller kirchlichen Amtsträger auf Ehe.“91 Die Apostel und Petrus, der erste Papst, waren allesamt verheiratet und nahmen ihre Frauen sogar auf ihre Reisen mit. Der jüdische Religionswissenschaftler Ben-Chorin vertritt sogar die These, dass auch Jesus verheiratet gewesen sei: Erstens fordere der Talmud von den jungen Männern, dass sie mit ungefähr 18 Jahren verheiratet zu sein hätten, da nur die Ehe vom Trieb befreie, und zweitens, hätte Jesus die Ehe verschmäht, so hätten seine pharisäischen Gegner ihm das vorgehalten, und seine Schüler hätten ihn nach dieser Unterlassungssünde gefragt.92 Auch wenn man kein Priester ist, kann ein einfaches Mitglied der katholischen Kirche die zivilrechtlichstaatliche Eingehung einer Ehe unter kirchenrechtlich verbotenen Umständen den Arbeitsplatz bei eben dieser Kirche kosten. So entschied das BAG 1989 in einem Kündigungsrechtsstreit in letzter Instanz: Die katholische Kirche, die die Ehe als Sakrament ansieht, eine Ehescheidung grundsätzlich ablehnt und damit das Recht vieler katholisch geprägter Länder in Sinne ihres Kirchenrechts geprägt hat93, ist als Arbeitgeber berechtigt, eine Mitarbeiterin zu entlassen, die einen geschiedenen Mann geheiratet hatte, weil sie damit "gegen ihre eigene Loyalitätsverpflichtung gegenüber der Kirche verstoßen und die katholischen Glaubensgrundsätze verletzt hat." Die Loyalitätsverpflichtung auf das Gedankengut des Arbeitgebers wird zwar bei "Tendenzbetrieben" von unserer Rechtsordnung anerkannt - aber war die Entlassung einer praktizierenden Christin, von der angenommen werden darf, dass sie ihre Ehe in christlicher Verantwortung leben will und wird, selber auch wirklich christlich? Wie hätte wohl Christus darüber gedacht?! Von der evangelischen Kirche als Arbeitgeber ist noch nicht einmal dann jemand entlassen worden, wenn er sich selbst hatte scheiden lassen, geschweige dann, wenn er/sie nur eine/n Geschiedene/n geheiratet hatte. Die FDPBundestagsabgeordnete Prof. Uta Würfel teilte in dem Manuskript ihrer Rede zu der Bundestagsdebatte um die Neuregelung des § 218 StGB den Fall mit: "Einer katholischen Altenpflegerin in einem katholischen Altenzentrum in Rheinland-Pfalz wurde 1990 gekündigt, weil die Frau, nachdem sie schwanger geworden war, ihren Lebensgefährten heiratete und ihrem Kind den Vater gab. Diese ungewollt schwangere katholische Altenpflegerin bekannte sich zum Leben, trug es aus und wollte eine Familie gründen. Ihre persönliche Tragik liegt darin, daß sie seit 10 Jahren rechtskräftig geschieden war, von einem Mann, den sie katholisch kirchlich geheiratet hatte. Die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses wurde damit begründet, daß die katholische Kirche eine zweite Ehe nach einer rechtskräftigen Scheidung nicht anerkenne. Nach den Vorstellungen der katholischen Kirche lebt die Altenpflegerin mit dem zweiten Ehemann kirchenrechtlich in einem permanent ehebrecherischen Verhältnis. Interessanterweise heißt es in dem Urteil des VG Trier, daß die zivilrechtliche Scheidung von dem ersten Mann keinen Verstoß gegen die Normen der katholischen Kirche darstelle, sondern die kirchenrechtlich zulässige Trennung von Tisch und Bett bedeute. Das Vorhandensein eines unehelichen Kindes stelle auch keinen schwerwiegenden Verstoß gegen die Sitten der Kirche dar. Ebenso sei die Geburt eines unehelichen Kindes kein kirchenfeindliches Verhalten. Die Eheschließung mit dem Vater des Kindes rechtfertige allerdings in diesem Fall nach katholischem Kirchenrecht die Kündigung des Arbeitsverhältnisses. 91

Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 42 Vgl. Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 48 f 93 So gibt es auch heute noch auf dem „katholischen Kontinent“ z.B. in Chile keine Möglichkeit einer Ehescheidung. 92

397

Wie finden Sie das, verehrte Kolleginnen und Kollegen? Ungewollt schwanger darf die Frau werden, das Kind unehelich zur Welt bringen auch, aber einen Vater darf das Kind nicht haben. Die Frau muß ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn sie ihrem Kind und ihrem Lebensgefährten eine Familie bieten möchte. Was ist das für eine Moral."

Und was ist das für ein aus dieser Moral abgeleitetes »Recht«! (Wie hat die katholische Kirche den Fall unseres zu ihrer Herde gehörenden damaligen Bundesfinanzministers Waigel beurteilt, der nach seiner Scheidung eine ehemals sehr erfolgreiche Ski-Rennläuferin geheiratet und mit dieser Ärztin nun ein Kind gezeugt hat - wofür den beiden unsere gesamte Sympathie sicher ist?) Vielleicht hat das BAG ähnlich systemimmanent in den Bahnen der katholischen Glaubenslehre im Falle eines bei der katholischen St.-Elisabeth-Stiftung in Bremen angestellten Krankenhausarztes entschieden, dem von seinem Arbeitgeber fristlos gekündigt worden war, weil er sich im STERN 5/89 gemeinsam mit 282 Kolleginnen und Kollegen für die Abschaffung des "Abtreibungsparagraphen" § 218 StGB ausgesprochen hatte, denn „Keine Gesetze, weder politische noch religiöse, vermögen den Bedürfnissen der Menschennatur absolutes Schweigen zu gebieten. Im besten Falle werden sie umgangen, und die Landessitte sanktioniert, was das Gesetz verbietet“ (von Hellwald), nicht aber die katholische Kirche. Zunächst einmal aber erklärte das Arbeitsgericht Bochum als zuständige Eingangsinstanz die ausgesprochene Entlassung des Krankenhausarztes für rechtsunwirksam. Die Kammer befand: "Die katholische Kirche ist nicht dazu da, ein staatliches Gesetz zu schützen." Ob das BAG das eventuell auch so gesehen haben wird? In der Pressenotiz über das Urteil des Arbeitsgerichtes Bochum wurde nicht mitgeteilt, ob eine Güterabwägung mit dem Grundrecht der in Art. 5 GG garantierten Meinungsfreiheit stattgefunden hat. Aus diesem Grund könnte dieser Fall nach Ausschöpfung des arbeitsgerichtlichen Rechtsweges vor das BVerfG gelangen. Doch das ist in Fällen kirchlicher Arbeitgeber oft keine große Hilfe für die gegängelten Arbeitnehmer gewesen: Selbst wenn das BAG als höchste arbeitsgerichtliche Instanz für den von seiner Kirche geknebelten Arbeitnehmer entschieden hatte, dann hatte das von den Kirchen angerufene BVerfG letztlich aus Gründen der in der Verfassung verankerten Kirchenautonomie aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WV gegen den Arbeitnehmer und für die sich restriktiv verhalten habenden Kirchen entschieden. Bei den 1,3 Mill. unter kirchlichem Dach in fast allen Berufssparten Beschäftigten wäre es zu überlegen, ob nicht vielleicht nur die in der kirchlichen Verkündigung direkt und die bei ihr in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis als Kirchenbeamte Beschäftigten den für Tendenzbetriebe geltenden strengen arbeitsrechtlichen Kriterien unterliegen müssen, nicht aber darüber hinaus Beschäftigte bei z.B. der Caritas oder dem Diakonischen Werk. Soll die Kirchenautonomie soweit reichen, dass bei kirchlichen Arbeitgebern verkündigungsfern beschäftigte Angestellte den in der Bundesrepublik normalerweise geltenden Arbeitsrechtsschutz einbüßen? Das BVerfG entschied wiederholt – gegen das BAG -, dass die Kirchenautonomie das staatliche Arbeitsrecht aus den verfassungsrechtlichen Gründen der Weitergeltung des Art. 137 WV obsolet werden lasse. Genügt es aber nicht, wenn das nur für „Tendenzträger“ gelten würde? Warum soll jemand bei nach langem inneren Suchen vollzogenen Kirchenwechsel zu einer anderen christlichen Kirche als der, die ihn angestellt hat, Gefahr laufen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, wenn er z.B. als Sachbearbeiter in einem kirchlichen Krankenhaus arbeitet? Warum soll die von der MdB Würfel im Bundestag angesprochene katholische Altenpflegerin ihren Arbeitsplatz verlieren, warum ein bei der evangelischen Kirche angestellter Diakon wegen außerehelicher Beziehungen, mit denen er gegen die von seinem kirchlichen Arbeitgeber so gesehenen und eingeforderten, über das reine Arbeitsverhältnis hinausgehenden „erhöhten Loyalitätsanforderungen“ verstieß? Soll auch im Bereich informeller Loyalitätserwartungen des kirchlichen Anstellungsträgers – z.B. Druck auf in von anderen Trägern in kirchliche Trägerschaft übernommenen Sozialeinrichtungen Beschäftigte zum Kircheneintritt, was sich in Ostdeutschland als ein arbeitsrechtliches Problem herausstellte - kirchliches vor staatlichem Arbeitsrecht gelten?

Ein Beispiel dafür, dass auch in dem Geltungsbereich des Kirchenrechts nicht alle von Amtsträgern vorgenommenen Handlungen nach den eigenen Gesetzen rechtens waren, ist die folgende Zeitungsmeldung: "Ein evangelischer Pastor hat in Hamburg zwei lesbische Frauen getraut. ... Der Sprecher der nordelbischen evangelischen Kirche kündigte unterdessen an, disziplinarische Maßnahmen gegen den

398 41jährigen Pastor seien ‘voraussichtlich nicht zu umgehen'. Die Trauung entbehre jeder kirchenrechtlichen Grundlage." (FR 25.04.84) "‘Segen auch für Homosexuelle' Die Präsidentin des Kirchenparlamentes von Nordelbien, Elisabeth Lingner, hat sich dafür ausgesprochen, auch homosexuellen Paaren einen kirchlichen Segen zu erteilen. `Ich kann mir durchaus kirchliche Segensformen für Partnerschaften vorstellen, die keine Ehe sein wollen. Das gilt auch für Lebensgemeinschaften von homosexuellen Männern und Frauen.‘ ..." (HH A 28.06.94) In Dänemark konnten "Schwule" und "Lesben" seit der Geltung des mit Zweidrittelmehrheit im dänischen Parlament verabschiedeten "Gesetz über registrierte Partnerschaft" vom 01.10.89 eine eheähnliche registrierte Partnerschaft zwischen Gleichgeschlechtlichen eingehen. (Diese Möglichkeit wurde 1995 auch in Schweden eröffnet.) Sie sind dann, wie in manchen Städten und Staaten der USA, sogar erbberechtigt. Eine kirchliche Trauung ist ihnen aber bis 1997 verwehrt gewesen. In manchen deutschen evangelischen Gliedkirchen wurde seit ungefähr 1993 für Gleichgeschlechtliche - unter weiter beibehaltener Ablehnung der Möglichkeit einer kirchlichen Trauung - die Einführung eines kirchlichen Segens erwogen, seit 1996 ist er in einigen Landeskirchen möglich, andere diskutierten das Problem im Jahre 2002 noch. „Kirchlicher Segen für Homo-Ehen Berlin – In Berlin und Brandenburg können homosexuelle Paare künftig den Segen der evangelischen Kirche für eine dauerhafte Lebenspartnerschaft erhalten. Voraussetzung ist die standesamtliche Eintragung der Partnerschaft. (epd)“ (HH A 18.11.02) Die katholischen Bischöfe Deutschlands lehnen eine Gleichstellung der Ehe mit anderen partnerschaftlichen Lebensformen ab. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, sagte der Presse: „Wir werden uns wehren, wenn Bestimmungen und Rechtsinstitute, die aus Ehe und Familie stammen und für sie gelten, auf diese Lebensformen angewendet werden und den besonderen Schutz für Ehe und Familie rechtlich und faktisch aushöhlen.3“ (HH A 05.12.98) Man glaubt, man habe sich verlesen: Wie sollte der Schutz für Ehe und Familie rechtlich und faktisch ausgehöhlt werden können, wenn er in keiner Weise beschnitten wird, nur anderen – auch auf Dauer angelegten Lebensformen ein Mehr an Sicherheit gewährt wird?

2.8.20.3 Allgemeinverbindliche Rechtsetzung im Bereich des Arbeitsrechts auch durch Übernahme privatrechtlicher Vereinbarungen

Rechtsetz ung im Bereich des Arbeitsre chts auch durch privatrech tliche Vereinbar ungen

Die vorstehenden Erörterungen sollten den Wissenshorizont erweitern und erst einmal ein kleines Fundament für die (versuchsweise) Beantwortung der Frage legen: Was ist „Recht«? Zur Abrundung sei noch darauf hingewiesen, dass - so wie bei uns die rechtlichen Regelungen konzipiert sind sogar zunächst private(!) Vereinbarungen Gesetzesrang erlangen und damit zu »Recht« werden können! So gelten z.B. Tarifverträge, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern oder deren Verbänden, also zwischen Privatleuten, abgeschlossen worden sind, zunächst nur für die jeweiligen Mitglieder als unmittelbar geltendes Recht. Setzt eine Gewerkschaft in langwierigen Verhandlungen z.B. Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, Urlaubsgeld usw. durch, so sind solche vereinbarten Verbesserungen bei Nichtgewährung ausschließlich von Gewerkschaftsmitgliedern vor den Arbeitsgerichten einklagbar, nicht aber von "Trittbrettfahrern". Nur weil die Arbeitgeber kein Interesse daran haben, ihre Mitarbeiter in die (Einheits-)Gewerkschaften zu hetzen - die in Art. 9 GG garantierte Freiheit, sich einer Koalition anzuschließen („positive Koalitionsfreiheit"), beinhaltet nämlich nach bundesdeutschem Rechtsverständnis auch die so genannte "negative Koalitionsfreiheit", jedem Zusammenschluss fernbleiben zu können94 - darum gewähren sie den Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern die 94

Im Großbritannien zumindest der »Vor-Thatcher-Zeit« gab es ein weit verbreitetes "closed-shop-system", demzufolge nach Vereinbarung mit der jeweiligen teilweise kleinen aber in einem Betrieb dominierenden Gewerkschaft und dem Arbeitgeber ein Arbeitnehmer in diesem Betrieb nur dann eingestellt werden durfte, wenn er Mitglied der diesen Betrieb auf der Arbeitnehmerseite beherrscht habenden Gewerkschaft geworden war. Negative Koalitionsfreiheit konnte vom Arbeitssuchenden dort nicht geltend gemacht werden.

399

gleichen Vergünstigungen, die ihnen von den Vertretern der organisierten Arbeitnehmerschaft oft nur mehr oder weniger mühsam abgerungen worden sind, wobei in Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur gewerkschaftliche Ziele leichter durchgesetzt werden können, als in Zeiten einer lahmenden Konjunktur, wenn jeder um seinen Arbeitsplatz fürchtet. So wären die einzelnen nichtorganisierten Arbeitnehmer nie in der Lage gewesen, eine Arbeitszeitverkürzung von z.B. 50 auf 37,5, ja sogar in einzelnen Bereichen auf nur 35 Arbeitsstunden pro Woche in mehreren Teilschritten für sich allein durchzudrücken. In Zeiten der Stagnation mussten die Gewerkschaften dann ihren Mitgliedern aufgenötigte Arbeitszeitverlängerung, Urlaubs- und Gehaltsverzicht akzeptieren, um ein „Outsourcing“ in Billiglohn-Länder möglichst zu vermeiden und die Arbeitsplätze in Deutschland zu halten. 1995 erhoben wegen des ständigen und schon an die Substanz gehenden Mitgliederschwundes einzelne Gewerkschaftsorganisationen in der Öffentlichkeit erneut die alte Forderung, dass durch Tarifvertrag ausgehandelte Verbesserungen nur Gewerkschaftsmitgliedern zukommen, "Trittbrettfahrer" durch Vereinbarungen mit den Arbeitgebern von den durch die Gewerkschaften erkämpften Verbesserungen ausgeschlossen sein sollten. Das hätte sich auch als eine von den Arbeitgebern ja ständig geforderte Kostenentlastung ausgewirkt. Aber diese Art Kostenentlastung wollen die Arbeitgeber nicht, weil sie durch eine solche Vereinbarung mit Sicherheit den Organisationsgrad unter den Arbeitnehmern erhöhen und so das Gewicht der Gewerkschaften stärken würden. Es verhandelt sich besser mit einem wegen Auszehrung Kränkelnden oder gar Dahinsiechenden! Divide et impera! Außerdem verbot das BVerfG die von den Gewerkschaften gewollte Interpretation abgeschlossener Tarifverträge als nur zwischen den tarifgebundenen Arbeitgebern und den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern gültige Vereinbarungen. Das BVerfG wertete das diesbezügliche Verlangen der Gewerkschaften als Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit. 2004 ist es der IG-Metall dann doch erstmals gelungen, in einzelbetrieblichen Vereinbarungen mit zwölf wirtschaftlich angeschlagenen Betrieben in Nordrhein-Westfalen eine nur Gewerkschaftsmitglieder begünstigende „Differenzierungs-“ oder „Bonusklausel“ abzuschließen und durch sie mehr Lohn, mehr Urlaub, bessere Altersversorgung, eine höhere Weihnachtsgeldzahlung, höhere vermögenswirksame Leistungen für ihre Mitglieder und Benzingutscheine zu erzielen. "Wir sehen nicht mehr ein, dass unsere Mitglieder entscheidend zum Tariferfolg beitragen und wie andere behandelt werden, die sich raushalten", hatte der Leiter des IG-MetallBezirks Nordrhein-Westfalen gesagt. Die Betriebe hatten zur Kostenreduzierung in einem Sanierungstarifvertrag Zugeständnisse ihrer Arbeitnehmer aushandeln müssen. Es ging insbesondere um Mehrarbeit ohne Lohnausgleich. Rechtliche Grundlage der Verhandlungen war das sogenannte Pforzheimer Abkommen, das es Unternehmen im Einzelfall ermöglicht, auch nach Tarifabschluss nachzuverhandeln - zum Beispiel bei schlechter Ertragslage. Selbstverständlich bezeichneten die Arbeitgeberverbände diese „Differenzierungsklauseln“ wegen des von ihnen so gewerteten Verstoßes gegen den von ihnen bei einzel- und tarifvertraglichen Abschlüssen selbst nicht eingehaltenen Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nicht nur als Todesstoß für den Flächentarifvertrag, sondern auch als (angeblich) „verfassungswidrig“. Beispiele für die von Arbeitgeberseite zu verantwortenden Verstöße gegen diesen angeblich hehren Grundsatz der Lohngleichheit: nach einer Ende 2004 vorgelegten Untersuchung erhielten z.B. außertariflich angestellte und bezahlte Frauen (vor dem Inkrafttreten des Antidiskriminierungsgesetzes 2005) ab Mitte 30 laut der unter Gliederungspunkt 1.3.2.2.6 abgedruckten Zeitungsmeldung „Bekannter Aufreger - Frauen verdienen viel weniger“ rund ein Drittel weniger Gehalt als Männer in vergleichbarer Position und VW schloss zu dem Zeitpunkt einen neuen Haustarifvertrag ab, dass Neubeschäftigte „nur noch“ nach dem 20 % unter dem Haustarifvertrag liegenden IG-Metall-Flächentarifvertrag entlohnt werden, um so die Lohnkosten zu senken und die Produktion nicht ins Ausland zu verlagern. Kritik an Bonus-Regelungen kommt aber nicht nur von Arbeitgeberseite. Auch gewerkschaftsintern sind Differenzierungsklauseln umstritten. Die drei Hauptargumente: Gewerkschaften seien im Sinne des Allgemeinwohls tätig, damit verbiete sich aber eine tarifvertragliche Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern. Zweitens müsste bei Einstellungsgesprächen nach etwaiger gewerkschaftlicher Gebundenheit des Arbeitsuchenden gefragt werden dürfen, um angeblich die richtige tarifliche Eingruppierung ansprechen zu können – was die Einstellung eines Gewerkschaftsmitgliedes, selbstverständlich unausgesprochen, vereiteln könnte. Bislang darf kein Chef oder Personalleiter danach fragen, ob jemand gewerkschaftlich organisiert ist. Erlangte die Bonus-Klausel-Initiative aus NRW Breitenwirkung, wäre diese Frage aber künftig für die richtige Eingruppierung zwingend. Was wird dann aus dem hochrichterlich festgelegten Diskriminierungsverbot? Danach darf niemand schlechter behandelt werden, weil er Gewerkschaftsmitglied ist. Doch das gilt eben auch umgekehrt. Und drittens könnte die Durchsetzung von Bonus-Regelungen umgekehrt gewerkschaftsfeindlich eingestellte Arbeitgeber animieren, Nicht-Mitgliedern einen Bonus zu gewähren.

400

In der Arbeitsrechtsliteratur ist man sich einig, dass solch eine Differenzierung auf jeden Fall bis in Höhe des 1%-tigen Bruttomonatslohnes, den die Gewerkschaftsmitglieder an ihre Gewerkschaft zahlen müssen, zulässig sein müsse, damit die Gewerkschaftsmitglieder nicht praktisch für ihr gewerkschaftliches Engagement »bestraft« sind: ihre von den Mitgliedern demokratisch gewählten Vertreter verhandeln mit den Arbeitgebern und ringen denen Lohn-, Arbeitszeit-, Urlaubsverbesserungen und andere Zugeständnisse ab, die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer holen notfalls streikend die Kastanien aus dem Feuer – und haben dafür im Vergleich zu den nichtorganisierten Arbeitnehmern, die die Früchte des gewerkschaftlichen Engagements ohne eigenes Zutun und ohne eigene Leistung an eine Arbeitnehmerinteressenvertretung ebenfalls genießen, jeden Monat ein Minus von einem Prozent. Viele Gewerkschafter fragen sich und ihre Gewerkschaftsfunktionäre, wofür sie Beiträge zahlten, wenn sie keine Vorteile gegenüber den nicht organisierten Kollegen hätten. Darum sei es ein legitimer Anspruch von Gewerkschaftern, von ihrer Mitgliedschaft materielle Vorteile gegenüber Nicht-Mitgliedern haben zu wollen, was z.B. die Gewerkschaft Verdi durch eine Vereinbarung erreichen will, derzufolge Weihnachtsgeld nur noch an Gewerkschaftsmitglieder gezahlt werden solle. Das effektive Minus müsse darum auf jeden Fall durch eine Gewerkschaftsmitglieder begünstigende „Bonus-Regelung“ ausgeglichen werden können. In Belgien wird selbst von Arbeitgeberseite die Auffassung, dass eine Bonus-Klausel eine unzulässige Begünstigung gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer darstelle, nicht geteilt: dort sind sie schon lange geübte Praxis - und haben dort folgerichtig den gewerkschaftlichen Organisationsgrad wesentlich erhöht.

Ein solcher privatrechtlicher Tarifvertrag zwischen Gewerkschaft und dem einzelnen Arbeitgeber oder seinem Verband kann aber nicht nur dadurch allgemeine Geltung erlangen und so zum »Recht« werden, dass die Arbeitgeber ihn auf alle ihre Mitarbeiter anwenden, sondern auch dadurch, dass er vom zuständigen Bundesministerium für Arbeit unter bestimmten Voraussetzungen für „allgemeinverbindlich“ erklärt wird. Es war z.B. erwogen worden, die „Rente mit 60“ durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung einzuführen, wenn die Tarifpartner sich in dieser Hinsicht über die Finanzierung geeinigt hätten. Früher war eine solche Allgemeinverbindlichkeitserklärung nur möglich, wenn sich Arbeitgeberverband und Gewerkschaft dahingehend geeinigt hatten. Seit einer Gesetzesänderung 1998 kann der Bundesarbeitsminister seit Anfang 1999 die "Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen" auf Antrag auch nur einer Tarifpartei erklären. Das bedeutet: Die Arbeitgeber haben faktisch kein Veto-Recht mehr! Aber es bedarf noch immer eines abgeschlossenen Flächentarifvertrages, ohne den keine Allgemeinverbindlichkeitserklärung erfolgen kann. In z.B. dem Hotel- und Gaststättengewerbe gibt es aber im Mittelwert weniger als vier Beschäftigte pro Betrieb. Bei einer solchen Ausgangslage, die im Bäckereihandwerk ähnlich ist, sind die jeweiligen Gewerkschaften zu schwach, um die jeweiligen Arbeitgeber zum Abschluss von Flächentarifverträgen zwingen zu können. Bei einer solchen Konstellation scheidet also eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen aus und es bleibt als Arbeitnehmer-Schutzmaßnahme nur die Möglichkeit der Festsetzung eines gesetzlichen Mindestlohnes, wie das in 18 von 25 EU-Ländern schon seit Jahren gemacht worden ist – ohne dass dadurch der Kapitalismus abgeschafft worden oder die Wirtschaft in die Knie gegangen wäre. Und wenn kein Mindestlohn über alle Arbeitsbereiche gewollt ist oder möglich erscheint, könnte ja vielleicht »nur« ein jeweils branchenspezifischer Mindestlohn festgesetzt werden, mit dem die Tarifautonomie zum Schutz des durch die Formulierung in Art. 20 I GG „Die Bundesrepublk Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ in der Verfassung verankerten Sozialstaatsprinzips eingeschränkt würde. Die wirtschaftlich günstigen Zeiten für solche inzwischen nicht mehr finanzierbaren Wohltaten sind längst und spätestens mit der zunehmenden Globalisierung und der Erweiterung der EU um die mittel- und osteuropäischen Staaten vorbei. Es weht spätestens seit 2004 ein eisigerer Wind in der europäischen und insbesondere der deutschen Wirtschaft: durch die in die »Alt-EU« drängenden Arbeitskräfte aus den zehn neu aufgenommenen östlichen Anschlussländern der EU wird deutschen Arbeitnehmern in nicht nur »einfacheren« Tätigkeitsbereichen, aber dort besonders, von auf pure Gewinnmaximierung bedachten Arbeitgebern gekündigt und es werden dafür Arbeitskräfte aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und anderen Ländern eingestellt, die hier teilweise unter unsäglichen Bedingungen in miserabelsten Gemeinschaftsunterkünften vegetieren müssen und wegen der wirtschaftlichen Not bei ihnen zu Hause gezwungen sind, für einen DumpingStundenlohn von 3-5,- € zu arbeiten. Dafür kann kein deutscher Arbeitnehmer als „working-poor“ arbeiten und von diesem Minimallohn bei den hier zu zahlenden Mieten und Preisen auch noch seine Familie am Leben erhalten! So wurden z.B. die Mitglieder ehemals rein deutscher Arbeitskolonnen von als Entbeiner auf

401

Schlachthöfen tätigen Schlachtern arbeitslos, weil (angebliche) Schlachthofunternehmer aus den östlichen EULändern - reinen Arbeitsvermittlern ohne gleichen Betrieb in den neu hinzugekommenen EU-Ländern war eine reine Vermittlung von Billigstarbeitskräften nicht erlaubt, sie taten es aber trotzdem, denn die Kontrollen in den Entsendeländern waren so dürftig, dass die getroffenen rechtlichen Regelungen zum Missbrauch geradezu einluden -, dass also (angebliche) Schlachthofunternehmer aus den neu angegliederten EU-Ländern im Rahmen der innerhalb der EU beschlossenen Dienstleistungsfreiheit „ihre“ heimischen Arbeiter schickten, die wegen der Arbeitslosigkeit in ihren Herkunftsländern zu konkurrenzlos billigen Löhnen zu arbeiten bereit waren und es wegen des wirtschaftlichen Gefälles innerhalb der EU noch weiter sein werden. Die arbeitslos gewordenen deutschen Arbeitnehmer mussten über die Sozialhilfe/das Arbeitslosengeld-II finanziert werden, was immer schwieriger wird, je weniger auf abhängige Beschäftigung Angewiesene Arbeit haben und Abgaben entrichten können, aus denen die zur Unterstützung erforderlichen Mittel bereit gestellt werden müssen. In dieser finanziell angespannten Situation war jedem politisch Verantwortlichen bewusst, dass im Rahmen der durch EU-Recht verbliebenen Möglichkeiten für Abhilfe gesorgt werden musste. Es boten sich die zwei Möglichkeiten an, a) zur Sicherung sozialer Standards unter teilweiser Aushebelung der Tarifautonomie für sämtliche Tätigkeiten abhängig Beschäftigter branchenübergreifend gesetzlich einen Mindestlohn vorzugeben, wie das 2005 in 18 von 25 Ländern der EU95 und den USA gehandhabt wurde, ohne dass deren Wirtschaft in die Knie gegangen wäre, wie die deutschen Arbeitgeber nicht müde wurden zu warnen, falls in Deutschland ein Mindestlohn eingeführt würde – aber das Gegenteil war der Fall: das wirtschaftliche Wachstum war in allen anderen EU-Ländern höher, als in Deutschland -, oder b) branchenspezifische Lösungen zu ermöglichen, indem die Tarifautonomie voll gewahrt bleibt und der jeweils zwischen den zuständigen Arbeitgeberverbänden einerseits und den Gewerkschaften als den Vertretern der Arbeitnehmer gefundene Tarifvertrag als Grundlage dafür dient, dass die jeweils unterste Lohngruppe durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung des dafür zuständigen Ministeriums für Arbeit zum branchenspezifischen Mindestlohn erklärt wird. Und als 2004 um Mindestlöhne gerungen wurde, um den Verlust von Arbeitsplätzen oder das mit dem falschen Schlagwort „Lohndumping“96 bezeichnete Wegbrechen der Löhne für deutsche Arbeitnehmer unter der Flagge der Dienstleistungsfreiheit durch zu billig arbeitende ausländische Arbeitskräfte zu verhindern, regten die Gewerkschaften an, dass jeweils die unterste tarifliche Lohngruppen durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Ministeriums für Arbeit zum gesetzlichen Mindestlohn erklärt werden sollte. In der Baubranche hatte man das Problem, dass ausländische Unternehmen mit ihren nach hiesigen Verhältnissen schlecht bezahlten einheimischen Arbeitskräften auf den deutschen Markt gedrängt waren und durch konkurrenzlos billige Angebote die Aufträge an sich gerissen hatten, 1996 durch ein auf einer EUEntsenderichtlinie fußendes „Entsendegesetz“ zu lösen versucht. Nach dem 1996 verabschiedeten ArbeitnehmerEntsendegesetz müssen ausländische Baufirmen nunmehr die deutschen Tarifverträge einhalten und ihren Arbeitnehmern die Mindestlöhne zahlen, wenn sie ihre Mitarbeiter nach Deutschland entsenden. (Ob das auch wirklich und nicht nur zum Schein geschieht und denen nicht hinterher durch Druck auf die Familien ein Teil des Geldes wieder abgenommen wird, kann keiner kontrollieren!) Im Bauhauptgewerbe, im Dachdecker- und Elektrohandwerk gibt es Mindestlohn-Tarifverträge, die durch Verordnung des Bundesarbeitsministers verbindlich für alle Unternehmen sind. Die Mindestlöhne reichen von 7,15 Euro für ungelernte Hilfskräfte bis zu 12,47 Euro je Stunde für Facharbeiter. 2005 waren 464 der knapp 61.800 geltenden Tarifverträge in Deutschland allgemeinverbindlich. Sie müssen damit auch von denjenigen Unternehmen eingehalten werden, die nicht im Arbeitgeberverband organisiert sind. Mindestlöhne Die neue Gefahr aus dem Osten Politiker ringen um Rezept gegen Konkurrenz billigerer Arbeiter von Christian Reiermann Wieder einmal droht die Gefahr aus dem Osten. Ein Heer arbeitswütiger Billiglöhner aus Polen, Tschechien oder Ungarn, so fürchten Regierung und Opposition gleichermaßen, könnten deutsche Arbeitnehmer aus dem Job drängen. Eine Vokabel für das furchteinflößende Phänomen ist auch schon gefunden: Lohndumping. 95

96

Die Mindestlöhne in der EU reichten 2005 von 120,- € in Litauen bis 1.400,- € in Luxemburg. Der Grund ist das große Lohngefälle in der EU und zu anderen Staaten, das es für Polen attraktiv macht, in Deutschland acht Wochen lang Spargel zu stechen – eine Arbeit, die deutsche „1-Euro-Arbeitnehmer“ zu umgehen suchen -, und damit annähernd das Jahreseinkommen eines in Polen arbeitenden polnischen Ingenieurs verdienen, während in der Zeit der Spargelernte in Polen ukrainische Arbeitskräfte den dort aus den Hochbeeten schießenden Spargel für einen noch geringeren Lohn stechen, weil die wirtschaftliche Gesamtsituation in der Ukraine noch desolater ist, als in Polen. Ein „Dumpinglohn“ wäre ein Lohn unterhalb der eigenen Gestehungskosten; das trifft aber für die osteuropäischen Arbeitnehmer nicht zu, sie unterbieten „nur“ das deutsche Lohnniveau.

402

So gemeinsam die Sorge, so unterschiedlich sind die Empfehlungen, wie das Problem anzugehen ist. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) propagierte in der vergangenen Woche sogar den staatlich festgesetzten Mindestlohn. Bisher hatten SPD-Linke diese Forderung exklusiv. Die meisten Fachleute lehnen einen gesetzlichen Mindestlohn ab, weil er im besten Fall wirkungslos, im Zweifel sogar schädlich ist. Denn liegt der Mindestlohn unter dem Marktpreis für Arbeit, ist er überflüssig. Liegt er aber darüber, produziert er Arbeitslosigkeit, weil er jene aus dem Arbeitsmarkt drängt, die bereit wären, für weniger zu arbeiten. Auch Gewerkschaften und Arbeitgeber sind gleichermaßen gegen einen staatlichen Mindestlohn. Sie empfinden ihn als Eingriff in ihre Tarifautonomie, also das Recht der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, die Löhne frei auszuhandeln. Tatsächlich legen Gewerkschaften und Arbeitgeber branchenweise so etwas wie Mindestlöhne fest. Nichts anderes sind ihre Vereinbarungen über die niedrigste Tarifgruppe. Wenn Wirtschaftsminister Wolfgang Clement diese Tarifabschlüsse auch noch für allgemeinverbindlich erklärt, dann können selbst Unternehmen, die nicht Mitglied im Unternehmerverband sind, die Tarife nicht unterlaufen. Im Vergleich zum staatlich fixierten Mindestlohn hat dieses Verfahren den Vorteil, daß es wenigstens auf Eigenheiten der Branchen Rücksicht nimmt. Würde der Staat den Stundenlohn beispielsweise einheitlich auf 12,50 Euro festlegen, könnte dies für die gerade prosperierende Stahlindustrie verkraftbar, für die derzeit marode Bauindustrie aber zu hoch sein. Clement wählt deswegen eine Variante, um den Druck auf das deutsche Tarifgefüge abzufedern. Er will das Entsendegesetz auf zusätzliche Branchen ausweiten. Das Regelwerk schreibt vor, daß sich ausländische Unternehmen an deutsche Tarife halten müssen, wenn sie hier tätig werden. Bislang gilt das Entsendegesetz nur für Bauarbeiter und Innenstukkateure. Doch Clements Beamte stoßen auf Schwierigkeiten. Die pauschale Ausweitung des Gesetzes kollidiert mit europäischem Recht. Der Grund: Ausländische Unternehmen könnten im eigentlich freien Binnenmarkt diskriminiert werden. Denn das Entsendegesetz schreibt ihnen vor, deutschen Tariflohn zu bezahlen. Sind Lohnvereinbarungen wie in einer Vielzahl der Branchen nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden, müssen sich verbandsfreie Unternehmen nicht daran halten, wohl aber ihre ausländischen Konkurrenten. Diese Firmen wären also benachteiligt, was die EU selten toleriert. Immerhin, in einer weiteren Branche gibt es keine Schwierigkeiten. Für Gebäudereiniger soll das Entsendegesetz ebenfalls bald gelten. Daneben setzen Clement und sein Kollege, Finanzminister Hans Eichel, bei ihrem Kampf gegen Lohndumping auch auf mehr Druck und Kontrolle. So sollen die Gewerbeämter künftig dem Zoll "auffällige Gewerbeanmeldungen übermitteln", heißt es in einem internen Regierungspapier mit dem Titel "Konzept Task Force zur Bekämpfung des Mißbrauchs der Dienstleistungsfreiheit". Eine hohe Anzahl von Gewerbeanmeldungen unter der gleichen Adresse etwa könne Hinweise auf Scheinselbständige geben. Zusätzlich will die Bundesregierung vor allem auf die neuen Mitgliedstaaten der EU Druck ausüben. Sie sollen dafür sorgen, "daß Unternehmer dieser Staaten sich an die EU-Regelungen halten". DIE WELT 10.04.05 Nun doch Mindestlöhne? Lohndumping: Regierung will deutsche Arbeitnehmer vor der Billig-Konkurrenz aus Osteuropa schützen. Berlin - Zum Schutz deutscher Arbeitnehmer vor Lohndumping vor allem durch Arbeitnehmer aus Osteuropa erwägt die Bundesregierung jetzt gesetzliche Schutzregelungen. Mit der Union zeichnet sich ein Kompromiß bei der Festlegung von Mindestlöhnen ab. Politiker von SPD und Union sprachen sich am Wochenende dafür aus, das in der Bauwirtschaft geltende Entsendegesetz auf andere Branchen auszuweiten. Damit bliebe die Festlegung der untersten Lohngrenze den Tarifparteien und nicht dem Gesetzgeber überlassen. Das Bundeskabinett wird sich am Mittwoch mit Maßnahmen gegen illegale Beschäftigung befassen, wie das Wirtschaftsministerium gestern bestätigte. Nach dem Job-Gipfel vom 17. März war schon eine sogenannte Task-Force-Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Dienstleistungsmißbrauchs durch Arbeitnehmer aus Mittel- und Osteuropa eingerichtet worden. Die soll Vorschläge erarbeiten. Ob das Kabinett gleich eine Ausweitung des Entsendegesetzes beschließen wird, ist noch unklar. Wenn die Opposition zustimmt, könnte ein Gesetz schnell beschlossen werden. Nach Informationen der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" würde CDU-Chefin Angela Merkel einer solchen Regelung keinen Widerstand entgegensetzen. Nach dem 1996 verabschiedeten und 1999 modifizierten Arbeitnehmer-Entsendegesetz müssen

403

ausländische Baufirmen die deutschen Tarifverträge einhalten, wenn sie ihre Mitarbeiter nach Deutschland entsenden. In jüngster Zeit hatten vor allem Osteuropäer, die zu Niedrigstlöhnen auf deutschen Schlachthöfen arbeiten, Schlagzeilen gemacht. Dabei handelt es sich oft um Scheinselbständige. Bürger der neuen EU-Mitgliedsstaaten genießen als Arbeitnehmer noch keine Freizügigkeit, können sich aber als Selbständige in Deutschland niederlassen. Nachdem führende Unionspolitiker vergangene Woche eine Debatte über Mindestlöhne angestoßen hatten, sprach sich SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter für die Ausweitung des Entsendegesetzes über die Baubranche hinaus aus. Ähnlich äußerte sich der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering beim Landesparteitag der SPD Mecklenburg-Vorpommerns. Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser sagte der "Welt am Sonntag" allerdings, die unterste Tariflohngruppe sei für bestimmte Tätigkeiten häufig noch zu hoch. So würden viel mehr Jobs dauerhaft gefährdet oder in die Illegalität gedrängt als an anderer Stelle gesichert. dpa/HA (HH A 11.04.05 ) Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz galt zunächst neben dem Bauhauptgewerbe mit Mindestlöhnen zwischen 7,15 Euro und 10,36 Euro für ungelernte Hilfskräfte und 9,37 Euro bis 12,47 Euro für Facharbeiter nur noch für das Maler- und Lackiererhandwerk, für Dachdecker, das Abbruchgewerbe und für die Seeschifffahrt. Eine Ausweitung wurde erwogen für zunächst die Bereiche Gebäudereinigung, das Gaststättengewerbe und eventuell auch die fleischverarbeitende Industrie; je stationärer ein Gewerbe ist, desto leichter lässt es sich durch ein Entsendegesetz regulieren: die zu reinigenden Gebäude können nicht nach Polen ausgelagert werden, das Reinigungsgewerbe kann somit erfasst werden, die zu schlachtenden Tiere können aber per Viehtransporter in die Billiglohnländer gebracht und dort von billigst entlohnten Arbeitskräften geschlachtet werden. Die deutschen Schlachthofunternehmer pressten ihren verbliebenen deutschen Arbeitnehmern daher weitere Zugeständnisse mit der Drohung ab, im Falle der Verweigerung weiterer Zugeständnisse hinsichtlich Lohn, Arbeitszeit, Urlaub und Sondergratifikationen wie z.B. Weihnachtsgeld, das Schlachtvieh nach Osteuropa karren zu lassen und zerlegt nach Deutschland zu importieren. Nach Verlust von 26.000 Arbeitsplätzen für Deutsche im Fleischereihandwerk sind die verbliebenen dort Beschäftigten natürlich ausgesprochen »druckempfindlich« und es ist die Aufgabe des Rechts, ihnen vor dem Raubtierkapitalismus einen Mindestschutz zu gewähren! Theoretisch wäre eine Ausweitung des Entsendegesetzes auf alle Bereiche möglich. Das Problem des Lohndumping in weiteren Bereichen der Wirtschaft wäre mit einer Ausweitung des Entsendegesetzes allerdings nur etwas entschärft, nicht aber gelöst: Ausländische Arbeitnehmer, die sich durch solche Entsendegesetze an ihrem Billigstangebot gehindert sehen, gründen eine Selbständigengemeinschaft, in der jeder bisherige Arbeitnehmer nunmehr als wirklicher oder Scheinselbständiger auftritt und als wirklicher Selbständiger legal so billig arbeiten kann, wie er will. Mit dieser Billigvariante gewinnen solche Gemeinschaften jede Ausschreibung vor einem deutschen Unternehmen, dass mangels Aufträgen seine Arbeitnehmer entlassen und Konkurs anmelden muss!

2.8.21 »Vor-Rechtsnischen« Begnadigungen und Ordensverleihungen Es gibt im Rechtssystem der Bundesrepublik, in dem vom Grundsatz her gemäß Art. 19 IV 1 GG "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen." jedes staatliche Handeln von unabhängigen Gerichten überprüft werden kann, noch Rechtsnischen, in denen »Vor-Rechte« gelten, denn von vielen juristischen Grundsätzen (wie hier dem der Rechtsweggarantie) gibt es oft mindestens auch eine juristisch relevante Ausnahme. Diese Ausnahmen zu Art. 19 IV 1 GG im Bereich der »Vor-Rechte« sind Relikte aus der Zeit der Landesfürsten, deren »Vor-Rechte« nunmehr an den Bundespräsidenten oder die Chefs der Landesregierungen übergegangen sind. Es sind die Bereiche Begnadigungen und Ordensverleihungen. Auch in diesen Bereichen kann schreiendes, wehtuendes Unrecht geschehen!

404

»VorRechtsnis chen« Begnadig ungen und Ordensve rleihunge n

Warum wurde ein Raubmörder, der in der Gefangenschaft ein Buch geschrieben und mit Unterstützung publiziert hatte, für den sich daraufhin – das war damals »schick« - einige Schriftsteller interessierten und für den sie an die Öffentlichkeit traten, begnadigt, und andere, denen die Gabe des Schreibens nicht mit in die Wiege gelegt worden war, mussten ihre Strafe vollständig absitzen; teilweise l-e-b-e-n-s-l-ä-n-g-l-i-c-h. Das kann dauern! Und das alles ohne eine rechtliche Kontrollmöglichkeit! Das BVerfG verneinte trotz der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV 1 GG mit seiner Entscheidung BVerfGE 25/352 die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Ablehnung eines Gnadenerweises. Ein Gnadenerweis sei nicht Rechtsanwendung, sondern ein Akt des Wohlwollens und des nicht nachprüfbaren Ermessens. Das BVerfG bejahte aber in seiner späteren Entscheidung BVerfGE 45/187 die generelle Offenhaltung der Möglichkeit einer Begnadigung: Unter der Geltung des Grundgesetzes müsse es grundsätzlich immer einen Weg zurück in die Gesellschaft geben. Ein gemäß Art. 1 GG am Postulat der Menschenwürde ausgerichteter Strafvollzug sei nur dann sichergestellt, wenn bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe, deren Verhängung bei Verletzung der höchsten Rechtsgüter verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, grundsätzlich eine realisierbare Chance bestehe, die Freiheit wiedererlangen zu können. Seitdem hat - im Gegensatz zu früher - jeder zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe Verurteilte nach 15 Jahren Haft nunmehr einen durch Einfügung des § 57 a StGB verrechtlichten grundsätzlichen Anspruch darauf, dass wenigstens die Möglichkeit seiner Begnadigung durch Haftentlassung auf Bewährung geprüft werde - auch wenn diese Prüfung dann negativ verlaufen kann. "56 Gefangene mit `Lebenslänglich' In Hamburg verbüßen 56 Gefangene eine lebenslange Freiheitsstrafe. Eine Frau ist nicht dabei. Die zur schwersten Strafe Verurteilten sitzen im Durchschnitt 16 Jahre und vier Monate hinter Gittern. ... Der Inhaftierte mit der längsten Freiheitsstrafe ist ein Mann, der 1965 verurteilt wurde. Zwei andere Gefangene sitzen ebenfalls mehr als 20 Jahre. Alle Lebenslänglichen sind wegen Mordes verurteilt. Fünf sind in den vergangenen zehn Jahren in der Haft gestorben, zwei begingen Selbstmord." (HH A 11.06.91) Dieser grundsätzliche Überprüfungsanspruch nach 15-jähriger Haftzeit entfällt, wenn in dem Urteil eine „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt wird. Die Verleihung ausländischer Orden an Deutsche muss nach § 5 Ordensgesetz zuvor vom Bundespräsidenten genehmigt werden. Dadurch soll ein ausländisches Staatsoberhaupt davor geschützt werden, eventuell einen deutschen Verbrecher zu dekorieren. Das ist einsichtig. Als ein ausländisches Staatsoberhaupt zur Zeit unseres zweiten Bundespräsidenten Heinrich Lübke unser Land besuchte, frisierte die Friseurin der Gattin des Bundespräsidenten auch die Ehefrau des Staatsgastes. Dafür erhielt sie von deren Ehemann, dem ausländischen Staatsoberhaupt, (vielleicht statt Trinkgeld) einen Orden seines Landes, dessen Verleihung von Heinrich Lübke anstandslos genehmigt worden ist. Kurze Zeit später sollte der Professorin für die französische Sprache Clara Faßbender als Anerkennung für ihr Lebenswerk - die Übersetzung und Deutung des Werkes des französischen Dichters Paul Claudel - vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle auf Vorschlag der französischen Akademie der Wissenschaften der höchste wissenschaftliche Orden Frankreichs verliehen werden. Die "Palme d' Academique" wird nur für überragende wissenschaftliche Leistungen vergeben. Es ist kein politischer, militärischer oder »Frisier-Orden«. Frau Prof. Faßbender wurde aber die Genehmigung zum Empfang des Ordens von Heinrich Lübke verweigert. Der französische Staatspräsident fühlte sich düpiert und die Professoren der französischen Akademie der Wissenschaften fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Und das um so mehr, als der »BundesHeini«, wie er später auf Grund vieler untragbarer Äußerungen genannt wurde, auf Nachfragen von Journalisten den Grund seiner verweigernden Entscheidung kundtat (wozu er nicht verpflichtet gewesen wäre): Er habe Frau Prof. Faßbender den Orden verweigert, weil sich "Friedens-Clärchen", wie die Dame in der bundesdeutschen Presse auch genannt worden war, als überzeugte Pazifistin in der "Deutschen Friedens-Union" DFU politisch engagiert hatte. Das war damals ausgesprochen: "Pfui!" gewesen, weil diese Gruppierung (zur Zeit des kalten Krieges) von ihren politischen Gegnern - vielleicht sogar zu Recht - verdächtigt worden war, wenigstens teilweise kommunistisch unterwandert zu sein. (Sie polemisierten: DFU = "Die Freunde Ulbrichts".) Die den Journalisten gegenüber versuchte Rechtfertigung der Ordensverweigerung gipfelte in dem Satz des Bundespräsidenten: "Frau Faßbender ist eine verkappte Kommunistin. Ihr Katholizismus ist nur vorgespiegelt!" Das war eine der vielen peinlichen Reden und Ansichten unseres zweiten Bundespräsidenten gewesen. Hätte er doch bloß geschwiegen! Nicht nur, weil er mit seiner Äußerung konkludent behauptet hatte, der Professorin gottgleich ins Herz schauen zu können. Diese "Un-Rechtshandlung" gegenüber einer vielleicht irregeleiteten

405

aber engagierten Pazifistin war außerdem ein klarer Verfassungsbruch durch den ersten Mann im Staate, denn Art. 3 III GG lautet (verkürzt): "Niemand darf wegen ... seiner politischen Anschauung benachteiligt ... werden." Wegen dieses vorsätzlichen Bruches unserer obersten Rechtsnorm hätte mancher Bürger gerne den obersten Repräsentanten unseres Staates vor dem BVerfG angeklagt gesehen, denn schon die Römer hatten den Grundsatz erkannt: "Nichts erhält die Gesetze so wirksam wie ihre Anwendung gegen hochgestellte Personen." (Tacitus) Leider verhinderte die Regelung des Art. 61 I GG, dass engagierte Bürger mit sensiblem Empfinden für einen solchen Verfassungsbruch den Bundespräsidenten vor seine Richter hätten zitieren können: "Art. 61 GG (1) Der Bundestag oder der Bundesrat können den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anklagen. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einem Viertel der Stimmen des Bundesrates gestellt werden. Der Beschluß auf Erhebung der Anklage bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages oder von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. ..." Und die Parlamentarier der "Großen Koalition" aus CDU/CSU und SPD hatten es damals nicht für politisch opportun gehalten, das verletzte Grundrecht der Professorin gegen den durch sein Amt herausgehobensten Befürworter dieser "Großen Koalition", Heinrich Lübke, durchzusetzen. Sie vermochten sich über diesen Verfassungsbruch nicht zu erregen. Resignierend konnte man sich da nur auf die Spruchweisheit zurückziehen: "Wo kein Kläger, da ist kein Richter." Der Professorin geschah dann doch noch eine späte Genugtuung, denn eine der ersten Amtshandlungen des dritten Bundespräsidenten, des wieder rechtsstaatlich denkenden und handelnden Gustav Heinemann, bestand darin, die von seinem Vorgänger jahrelang zu Unrecht verweigerte Ordensverleihung doch noch zu genehmigen. Und Clärchen war zum Glück noch nicht darüber hinweg gestorben.

2.8.22 Wächteramt der Presse gegenüber der öffentlichen Gewalt als "vierte Gewalt" im Staate Wächtera mt der Presse als "vierter Gewalt" im Staate

Seien wir sensibel gegen Ungerechtigkeiten, denn manchmal vermag durch die wachsame Presse geschürte öffentliche Empörung Unrecht zu verhindern oder zu korrigieren. Auch Maßnahmen von Seiten staatlicher Repräsentanten bedürfen der Kontrolle; davon lebt ein ganzer Gerichtszweig: die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wer von dieser Maxime der Notwendigkeit einer Kontrolle auch der öffentlichen Gewalt abgeht, fordert blindes Vertrauen. Wo ist die Staatsgewalt, die blindes Vertrauen verdiente? Der Gesetzgeber, genauer: die Parlamentsmehrheit, drückt z.B. Gesetze zu Gunsten ihrer Wählerklientel oder kleinster, einem mächtigen Politiker nahe stehender Interessengruppen durch (ein Beispiel unter vielen: die auf Veranlassung des Hobbyfliegers Strauß geplante, später aber unter dem Druck der Öffentlichkeit wieder zurückgenommene Mehrwertsteuerbefreiung für von Privatpiloten zum Flugbetrieb gekauftes Benzin). Wegen dieses in einer Demokratie von ihr wahrgenommenen Wächteramtes als Organ der interessierten Öffentlichkeit wird die (freie) Presse gerne mit dem Ehrentitel „vierte Gewalt“ im Staate bezeichnet. Ohne freie, investigative Presse hätte es z.B. keine Aufdeckung des Watergate-Skandals in den USA gegeben, der den mächtigsten Mann der Welt, einen US-Präsidenten, aus dem Amt jagte oder deutsche Entsprechungen im Kleinen wie z.B. den Waterkant-Skandal, der den ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Barschel sein Amt kostete. „Journalisten müssen die Wachhunde des Bürgers sein, nicht die Schoßhunde der Mächtigen“ (Lilli Gruber). Der freie kritische Journalismus ist der zweieiige Zwilling eines frei gewählten Parlamentes. „Embedded journalists“, wie das inzwischen auf Denglish heißt, erfüllen diese Voraussetzung nicht!

406

Rechtsprec hung hat leider nicht zwangsläuf ig etwas mit Gerechtigk eit zu tun und Verwaltung erst recht nicht!

2.8.23 Rechtsprechung hat leider nicht zwangsläufig etwas mit Gerechtigkeit zu tun und Verwaltung erst recht nicht! Auch Rechtsprechung hat leider nicht zwangsläufig etwas mit Gerechtigkeit zu tun - und Verwaltung erst recht nicht! Man denke nur an den "Hamburger Kessel", in dem die Polizei der Hansestadt ihr unliebsame Demonstranten rechtswidrig 15 Stunden lang ohne Wasser und Brot (und ohne Toiletten) auf dem offenen Domgelände durch Einkesselung mit mehreren Hundertschaften von Polizisten in freiheitsberaubenden Gewahrsam genommen hatte, um die teilweise der Hafenstraßenszene zugehörigen oder mit ihr sympathisierenden Linken mal richtig Mores zu lehren! Und obwohl die Gerichte zwischenzeitlich das Unrecht dieser Maßnahme mehrfach festgestellt hatten und alle in der Bundesrepublik das wussten, machte die Münchner Polizei Jahre später anlässlich des Weltwirtschaftsgipfels ihren Hamburger Kollegen diese eindeutig rechtswidrige Maßnahme nach, die von dem damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Streibel trotz der dabei eingetretenen Verletzungen von Demonstranten mit den Worten gerechtfertigt wurde, es sei eben "bayrische Art, (bei linken Demonstranten) im Konfliktfall härter zuzupacken." "Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut!" (Lord Acton)

2.8.24 Opposition als demokratieunabdingbares »institutionalisiertes Misstrauen« und widerstehende Bürger u.a. zur Abwehr staatlichen Unrechts Opposition als »institution alisiertes Misstrauen «

"Ein stiller Bürger ist ein schlech ter Bürger! "

Um u.a. den Anfängen staatlichen Unrechts möglichst effektiv wehren zu können, ist z.B. die Opposition in den Parlamenten als demokratieunabdingbares »institutionalisiertes Misstrauen« gedacht. „Es ist die Aufgabe der Opposition, die Regierung abzuschminken, während die Vorstellung noch läuft“, umschrieb ein ehemaliger französischer Minister oder Präsident sehr schön bildhaft deren Aufgabe. Doch das reicht aber nicht. Schon der »alte Grieche« Thukydides (etwa 460 - 403 v.Chr.), der erste große kritische Geschichtsschreiber des Abendlandes, war der Meinung, der Bürger müsse selber über das Recht wachen - was immer es auch im einzelnen ist. Er schrieb: "Ein stiller Bürger ist ein schlechter Bürger!" Was für ein Verfall der politischen Kultur von Thukydides bis z.B. zu dem früheren Hamburger Bürgermeister Diederich vam Holte (ab 1595 n.Chr.) - und auch noch anderen und späteren Politikern -, dessen Rechtsverständnis in den (sogar ein wenig Selbstkritik durchschimmern lassenden) Worten zum Ausdruck kam: "Wenn schon eine Obrigkeit gottlos, tyrannisch und geizig ist, so gehört es sich dennoch von den Untertanen nicht, dass sie sich dagegen auflehnen. Sie sollen das vielmehr als eine Strafe des Allmächtigen erkennen, die die Untertanen mit ihrer Sünde verwirkt haben." So kann man sich das ungehinderte Regieren nach eigenen Vorstellungen auch schönreden! Heutzutage lässt es sich in Hamburg aber nicht mehr so bequem regieren! (Das bedauerten im Nachhinein u.a. sicherlich die von den Strafgerichten wegen Freiheitsberaubung verurteilten Verantwortlichen des "Hamburger Kessels".) Demokratie muss den widerstrebenden, den (fundiert!) widersprechenden, ja sogar den widerstehenden Bürger nicht nur dulden, sondern sogar wollen, denn: "Wir sind das Volk!". "(Berechtigt zu) Meckern lohnt sich (manchmal) - lieb sein kann jeder!"

2.8.25 Recht und Moralvorstellungen 2.8.25.1 Die Gesetze müssen den sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen und Verhältnissen in einem ständigen Rückkopplungsprozess behutsam angepasst werden, weil sich die Vorstellungen über »das Recht« ändern.

407

Die Gesetze müssen den sich ständig wandelnd en gesellsch aftlichen Vorstellungen über »das Recht« angepasst werden

Weil sich die technischen und die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit zwangsläufig unsere Vorstellungen vom "Recht" fortlaufend wandeln, muss - wie in einem sich ständig rückkoppelnden Regelkreis - das geschriebene Recht, müssen die Gesetze den sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen und den in der Gesellschaft mehrheitlich vertretenen Ansichten über »das Recht« behutsam angepasst werden, damit das »gesetzte Recht« (weiterhin) von dem sich ständig wandelnden Rechtsbewusstsein der überwiegenden Mehrheit des Volkes akzeptiert werden kann. Das dauert oft mehr als Jahrhunderte. So wurden die in Europa erträumten und erdachten Menschenrechte mit dem Grundsatz der Freiheit und Gleichheit aller Menschen als diesseitiges politisches Programm zum ersten Mal - wenn man von Jesu Lehren und möglicherweise denen anderer Religionsstifter absieht - 1776 in den USA von ausgewanderten Europäern in der Verfassung eines Staates verkündet - aber längst nicht durchgeführt! Denken wir nur an das spätere Jahrtausendgeschäft der Versklavung von mehr als 20 Millionen Afrikanern und die noch heute andauernden Bemühungen der Bürgerrechtsbewegungen um die allseitige Anerkennung der Freiheits- und Bürgerrechte im alltäglichen Leben in den USA. Auf ihrem u.a. von Martin Luther King geleiteten Protestmarsch nach Washington im Jahre 1963 durften die farbigen Bürgerrechtler - neben anderen Schikanen - keine öffentlichen Toiletten aufsuchen. Die Polizei verhinderte es. Der Ku-Klux-Klan treibt noch immer sein Unwesen. Ein ehemaliger Großmeister dieser Rassistenvereinigung versuchte 1992, Gouverneur eines US-Bundesstaates zu werden. (Der derselben Partei angehörende US-Präsident Bush senior sah sich - um seine 1992 ebenfalls anstehende Wiederwahl nicht von vornherein zu gefährden - gezwungen, öffentlich zum Boykott seines eigenen Partei»freundes« aufzurufen.) In den USA brachen 1992, wie 1963 und 1968, Rassenunruhen aus, weil eine Jury aus fast ausschließlich Weißen trotz unwiderleglicher Beweise für das Vorliegen einer Straftat in einem Akt von Rassenjustiz vier weiße Polizisten vom Anklagevorwurf der »Polizeibrutalität« (Körperverletzung im Amt) freigesprochen hatte, die einen farbigen Bürger auf offener Straße zusammengeschlagen hatten und dabei von einem Amateurfotografen von seinem Balkon herab gefilmt worden waren. Aber seit dem Jahre 1776 sind die Menschenrechte die Beschwörungsformel der neuzeitlichen Weltgeschichte geworden. Die große Welle dieser Idee schwappte zurück auf das »alte Europa«, woher sie gekommen war. In Europa wurden die Menschenrechte zuerst 1789 im Zuge der Französischen Revolution als staatliches Programm deklariert - aber längst nicht allgemeinverbindlich eingeführt. So wurde z.B. die Sklaverei in den französischen Kolonien ausdrücklich für (angeblich) rechtens erklärt, den Frauen das Stimmrecht vorenthalten, ... Die Frauenbewegung kann ein Klagelied über (aus sexistischen Gründen) vorenthaltene Menschen- und Bürgerrechte anstimmen! So wurde das Frauenstimmrecht in Frankreich trotz des im Zuge der Französischen Revolution verkündeten Gedankengutes der Gleichheit der Menschen erst 1944, in der Schweiz auf Bundesebene erst 1971 (auf Kantonatsebene teilweise noch später, zuletzt Dezember 1990 in den beiden Halbkantonen von Appenzell) und in Luxemburg erst 1984(!) eingeführt. Um den vielleicht gerade unterschwellig entstandenen Hochmut gegenüber der Handhabung des Frauenstimmrechts in der Schweiz zu dämpfen: Die deutsche Dichterin Ricarda Huch (1864-1947) hatte noch in der Schweiz studieren müssen und dort promoviert, weil zu der Zeit Frauen in Deutschland ein Universitätsstudium noch verwehrt wurde. (1754 war allerdings schon an der Universität Halle Dorothea Erxleben zur ersten Dr. med. promoviert worden, 33 Jahre später 1787 in Göttingen die von ihrem Vater, einem Göttinger Universitätsprofessor, privat unterrichtete Dorothea Schlözer zur ersten Dr. phil., die dann aber wegen ihres Frauseins nicht an der Promotionsfeier zu Ehren der anderen neu ernannten - männlichen - Doktoren teilnehmen durfte.97) Warum war den Frauen ein Studium verwehrt? Ich weiß es nicht. Aber da wir ja möglichst immer hinter juristische Regelungen schauen wollen, da wir – gutwillig, wie wir Männer heutzutage sind – annehmen wollen, dass hinter juristischen Regelungen ein zur Zeit der Entstehung der Regelung nachvollziehbarer Sinn gesteckt haben könnte: Wenn hinter diesem juristischen Verbot mehr als nur männliches Dominanzstreben und die Furcht vor der Gleichrangigkeit ausgebildeter Frauen oder die Furcht für die eigenen höheren Töchter vor dem von den männlichen Studenten oft gelebten studentischen Lotterleben stand, dann war es vermutlich die noch bis ins 19. Jahrhundert von Ärzten vertretene medizinische »Erkenntnis«, „... Gebärmutter und Gehirn stünden in einem direkten Konkurrenzkampf um eine zureichende Blutversorgung. Daraus folgte ihrer Ansicht nach, dass jeder Versuch, den eine Frau unternahm, ihren Geist durch Bildung zu nähren, zwangsläufig zu Lasten ihrer Fruchtbarkeit gehen müsse.“98 Aber wenn Männer in den angesprochenen Ländern, die Frauen zwar inzwischen das Studium erlaubten, aber immer noch das Wahlrecht verweigerten, nach Verkehrsunfällen als "Straßenmatsch" (Krankenhausjargon) in 97 98

Deutsche Kinder, hrsg. von Schmölders, C., rororo Sachbuch 60779, 1999, S. 70 und 66 Angier, N.: Frau Eine intime Geographie des weiblichen Körpers 2002, S. 131

408

Krankenhäuser eingeliefert wurden, waren sie bestimmt sehr froh, wenn Ärztinnen sie wieder zusammengeflickt haben. Es ist nicht bekannt, dass solche Männer, die den Frauen das Stimmrecht vorenthalten haben, lieber gestorben wären, als sich von einer Ärztin das Leben retten zu lassen! Der Gesetzgeber reagierte auf eine bestimmte neue medizinische Möglichkeit - wer hätte vor dem wagemutigen und ersten erfolgreichen Versuch einer Herzverpflanzung durch Prof. Barnad am 13.12.1967 an Herztransplantationen gedacht, denken können, zu denken gewagt und ein Transplantationsgesetz schaffen sollen? - schnell mit der Einführung einer gesetzlichen Regelung, als sich Anzeigen wie die folgende häuften: "Arztehepaar aus der BRD sucht junge Frau unter 30 J. als Tragemutter gegen sehr gute Belohnung." (Sächsisches Tageblatt; nach STERN 27.09.90) Er traf damit eine entgegengesetzte Entscheidung wie der Gesetzgeber der USA. Damit ersparte er sich jedenfalls rechtliche Probleme, die angelsächsische Länder auf Grund ihrer anderen Rechtsauffassung in Fragen der Embryonenverpflanzung haben: „Die Frau als `Henne´ Handel mit Eizellen in Großbritannien aufgedeckt dpa London - Einen lukrativen Handel mit menschlichen Eizellen in einer britischen Fruchtbarkeitsagentur hat der Fernsehsender BBC aufgedeckt. Die Agentur `Hope´ nimmt Ehepaaren mit Kinderwunsch umgerechnet 2400 Mark für Fortpflanzungszellen ab, bevor in einer Privatklinik der Eingriff vorgenommen wird. Die Firma habe bis zu 80 Frauen unter Vertrag, darunter viele alleinerziehende Mütter, die jährlich bis zu viermal Eizellen spenden, so die BBC. Wieviel Geld die Spenderinnen erhalten, wurde nicht bekannt. ... Eine Eizellenspende ist - im Gegensatz zur Samenspende - nach dem Embryonenschutzgesetz in Deutschland verboten.“ (HH A 02.11.95) Im Juli 01 wurde bekannt, dass private Einrichtungen in den USA Frauen Eizellen für $ 2.000 pro Stück abkaufen, um daraus embryonale Stammzellen zu gewinnen. (Als Anhalt für den diesbezüglich minderen Marktwert der Männer: Sie erhalten von diesen Instituten $ 50 pro Samenspende.) „Eizellen-Raub SAD Los Angeles - Ungewöhnlicher Diebstahl in einer Fruchtbarkeitsklinik in Santa Ana (Kalifornien). Ärzte entnahmen neun Frauen unter Narkose Eizellen und pflanzten sie anderen Frauen ein. In drei Fällen führten die gestohlenen Eizellen zu einer Schwangerschaft. Die Klinik wurde geschlossen.“ Wer hat nun »Recht« mit seiner Sicht der Dinge in Fragen der Embryonen-Technologie? Das kann nicht allein an der Möglichkeit einer Deliktsbegehung entschieden werden, denn die Biotechnologie ist eine „... Technologie, die Hölle und Verheißung gleichermaßen und untrennbar in sich birgt. Stichworte der Verheißung sind: Heilen von Erbkrankheiten, zielgenaue Medikamentierung, therapeutisches Klonen zum Zwecke der Organtransplantationen oder des Organaufbaus, Sieg über uralte Menschheitsleiden wie Krebs, Parkinson oder multiple Sklerose. Stichworte der Hölle sind: der gläserne Mensch, dechiffriert durch Gentests, die bei Arbeitgebern, Versicherungen oder Staat deponiert sind. Menschenzucht im Reagenzglas mit allen Möglichkeiten der biologischen oder ästhetischen Selektion. Klonen von Menschen“ (Die Woche 02.03.01). Wonach soll man dann aber entscheiden? Denn entschieden werden muss - so oder so! Auch auf dem geschichtlichen Hintergrund, dass es schon einmal – in Nazi-Deutschland – eine schreckliche jüngste Vergangenheit gab, in der Eugenik und die Selektion von Behinderten und „rassisch“ Verfolgten zu einem Regierungsprogramm gehörten. Die anstehende Entscheidung muss von der ganzen Gesellschaft in einem breiten Diskurs erörtert und dann gefällt werden. Sie darf nicht nur den Reproduktionsexperten vorbehalten bleiben. Die angesprochene Entscheidungsnotwendigkeit gilt nicht nur für die Extremfälle, sondern auch für die Grauzonen: „Retorten-Baby als Lebensretter Adam wurde im Labor gezüchtet, um seiner kranken Schwester zu helfen Von MICHAEL REMKE SAD New York – Darf man einen Menschen züchten, um Leben zu retten? Diese Frage hat in den

409

USA neuen Zündstoff erhalten. Auslöser ist ein in der Geschichte der Medizin einmaliger Eingriff, bei dem eine Mutter gezielt ein Retortenbaby zur Welt gebracht hat, um ihre Tochter vor dem Tod zu bewahren. ... Das Mädchen leidet von Geburt an unter Franconi, einer seltenen Erbkrankheit, die einen Mangel an Knochenmark hervorruft, zur Leukämie und anderen Fehlbildungen bei Kindern führt. [Solche] Kinder erreichen nur selten ihren siebten Geburtstag. Auch bei Molly hatten die Ärzte Anzeichen von Leukämie entdeckt. Um der Kleinen eine Überlebenschance zu geben, hatten sich Mediziner und Eltern zu einem einmaligen und ethisch umstrittenen Eingriff entschieden. Adam kam am 29. August gesund zur Welt. In der vergangenen Woche wurden dann ... seine Stammzellen in den Blutkreislauf von Molly implantiert. ‘Ein Eingriff, der völlig ungefährlich und schmerzfrei für Adam war‘, versichert Dr. Wagner. ... ‘Wir haben mit dieser Transplantation eine Grenze überschritten, die wir nie zuvor überschritten haben‘, sagt Dr. Jeffrey Kahn, Direktor des ‘Zentrums für Bioethik‘ der Universität von Minnesota. ‘Wir haben ein Baby nach Merkmalen ausgewählt, die nicht das Beste für das Kind, sondern für jemand anderen sind.‘ ...‘In diesem spezifischen Fall sehe ich grundsätzlich keine Probleme‘, erklärte Caplan. Die Zukunft könne allerdings zu neuen Diskussionen führen. ‘Vielleicht‘, so spekuliert er, ‘brauchen Eltern demnächst eine Niere oder eine Lunge für ihr krankes Kind. Wie werden wir das entscheiden?‘“ (HH A 05.10.00) Auch in Deutschland ändern sich die Vorstellungen zu dem sehr stringenten deutschen Embryonen-Schutzgesetz: „‘Embryonen-Schutzgesetz überdenken‘ Das deutsche Embryonen-Schutzgesetz, das jede Manipulation an Embryonen kategorisch verbietet, muss überdacht werden. Das forderte der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Professor Hubert Markl am Mittwochabend in Hamburg. ... Er warf die Frage auf, ob das bestehende Verbot angesichts therapeutischer Möglichkeiten, die neuere Entwicklungen der Biotechnologie eröffnen, moralisch vertretbar sei. Seit es amerikanischen Forschern Ende 1998 gelang, aus abgetriebenen menschlichen Embryonen Stammzellen zu isolieren, im Labor weiter zu züchten und zu vermehren, ist eine hitzige und schwierige Diskussion darüber entbrannt, wie diese Technik zu bewerten ist. Seitdem menschliche embryonale Stammzellen seit 1998 das erste Mal gewonnen wurden, können sie als Ausgangsmaterial für unterschiedliche Gewebe und vielleicht für Organe dienen. ‘Wenn es daher (...) nun tatsächlich möglich erscheint, für viele, vielleicht alle menschlichen Gewebe transplantierbaren Ersatz in vitro zu züchten, so eröffnet dies in der Tat geradezu unabsehbare Perspektiven für die Therapie schwerer Krankheiten‘, führte Professor Markl aus. ... Dazu könnten Menschen mit Herzkreislauferkrankungen, Zuckerkranke, Alzheimer oder Parkinson zählen.“ (HH A 24.03.00)

Am weitesten schienen zunächst - bis zu dem Erfolg der koreanischen Reproduktionsmediziner 2004 - die Vorstellungen in England zu gehen: „England befürwortet das Klonieren menschlicher Embryonen Das Klonieren menschlicher Embryonen zur Produktion von Organen, das in den meisten Ländern der Welt aus ethischen Gründen verboten ist, soll in England erlaubt werden. Für eine entsprechende Gesetzesänderung hat sich eine von der Regierung zur Prüfung des Für und Wider eingesetzte Expertenkommission ausgesprochen. ... Durch therapeutisches Klonieren könnten lebensbedrohende Erkrankungen von Herz, Nieren und Leber erfolgreich behandelt werden, meinen die Befürworter der Forschung. Das Klonieren menschlicher Embryonen würde Medizinern die Möglichkeit eröffnen, ganz gezielt ‘Ersatzteile‘ eigens für einen Patienten herzustellen. ... Das Abstoßen von Fremdgewebe, das Organtransplantationen immer noch erschwert, würde entfallen. ... Die katholische Kirche und die Organisation ‘Life‘ zum Schutz des Ungeborenen lehnen das ‘Ausschlachten‘ eigens dafür gezüchteter ‘Einweg-Embryonen‘ jedoch als unethisch strikt ab. ...“ (HH A 04.04.00) Im Gegensatz zum weiterhin abgelehnten reproduktiven Klonen ist in Großbritannien das therapeutische Klonen

410 menschlicher Embryonen aus bis zu zwei Wochen alten Stammzellen – Zellen, die u.a. bei der Vorbereitung einer künstlichen Befruchtung aus einer befruchteten Eizelle unter deren Zerstörung oder auch bei der Geburt als neonatale Stammzellen aus dem Nabelschnurblut gewonnen werden können, sich zwischen dem fünften und sechsten Tag nach der Befruchtung der Eizelle entwickeln und noch nicht in einen bestimmten der 270 möglichen Zelltypen verwandelt haben, so dass aus ihnen (jedenfalls theoretisch) jedes Gewebe, jeder Knochen, jedes Organ des menschlichen Körpers gezüchtet werden kann99 - nach der Empfehlung einer Expertenkommission mit überwältigender Mehrheit der Mitglieder des Unterhauses erlaubt worden, wenn ausschließlich die Reproduktion neuer Zellen und Organe vorgenommen werde. Das Klonen von Menschen ist weiterhin untersagt. Darum dürfen keine geklonten Embryonen in die Gebärmutter einer Frau eingesetzt werden. Die USA, Japan und Australien planen ähnliche Schritte, wie sie in Großbritannien beschlossen wurden, doch bevor die USA eine anders lautende gesetzliche Regelung getroffen hatten, ist von einem Institut im November 2001 ein menschlicher Embryo nach der Dolly-Methode geklont worden; selbstverständlich nur aus therapeutischem Interesse, zwar über das Acht-Zellen-Stadium hinaus, aber er sollte keiner Frau eingesetzt werden und wurde darum nicht als Versuch des reprodultiven Klonens gewertet. Für solche Forscher überwiegen die (angeblichen) Chancen des medizinischen Fortschritts die mit dem Klonen verbundenen Gefahren. Da war aber noch nicht bekannt, dass Dolly nach nur sechs Jahren wegen einer Lungenentzündung getötet werden musste und anschließend untersucht wurde, ob nach der Dolly-Methode geklonte Lebewesen vorzeitig altern. Das für den Einsatz im erkrankten Menschen aus embryonalen Stammzellen zu züchtende Gewebe, dessen großer medizinischer Vorteil darin besteht, dass es vom Immunsystem des Empfängers nicht abgestoßen werden wird, soll gewonnen werden, indem Erbmaterial aus gesunden Zellen eines Patienten in eine zuvor entkernte Eizelle gespritzt wird. Der für das therapeutische Klonen unter die Membrane der Eizelle gespritzte neue Zellkern mit seinen Empfänger-Genen wurde bislang durch einen Elektroschock zur Verbindung mit dem Zytoplasma der Eizelle angeregt. Diese reift dann im Labor zu einem frühen Embryo-Stadium (Blastozyste mit 64 bis 128 Zellen) heran, in dem die Stammzellen noch nicht ausdifferenziert sind und sich noch toti- oder pluripotent in die 270 Körperzell-Typen des Menschen entwickeln können. Diese Zellen würden von dem Empfängergewebe nicht mehr als körperfremd erkannt und darum auch nicht mehr abgestoßen. So wurde 1997 auch das Klon-Schaf „Dolly“ in 257 Versuchen geschaffen. Der Tierversuch hat die grundsätzliche Machbarkeit bewiesen – aber auch die Möglichkeit des nahtlosen Übergangs vom therapeutischen zum reproduktiven Klonen. Die Techniken sind die gleichen. Bisher wurde von der Zielsetzung des jeweiligen Klonierungsvorhabens her sprachlich zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen unterschieden. Aber der italienische Reproduktionsmediziner Antinori, der schon einer 62-jährigen Frau mit seinen Reproduktionskünsten zu einem Kind verholfen hatte und mit seinem österreichischen Kollegen Feichtinger 2002 das erste geklonte Baby zur Welt bringen lassen wollte, hat inzwischen auch diesen sprachlichen Unterschied verwischt, indem er das reproduktive Klonen als therapeutisches Klonen bei Unfruchtbarkeit ausgab. Das größte Problem bei diesem Vorhaben: Ohne Embryos erhält man keine embryonalen Stammzellen. Es wurde von interessierter Seite immer wieder vorgebracht, dass z.B. Frauen durch Hormonkuren zur Bildung von mehreren Eizellen angeregt und dann »gemolken« werden müssten. Aber da wird es auch genügend Bewerberinnen geben, die – vermutlich ohne Gedanken über oder das Wissen um das 98-prozentige Risiko eines Fehlschlages mit u.a. der Gefahr von schweren Missbildungen des geklonten Embryos - entsprechend dem »BigBrother-Container-Effekt« allein für den »Ruhm«, eine der ersten Eizellen-Mütter eines geklonten Kindes zu sein, einige ihrer Eizellen zur Verfügung stellen würden! Schon sind zum ersten Mal Embryonen nur für die Forschung erzeugt worden. Bislang war es Praxis gewesen, Stammzellen aus Embryonen zu verwenden, die bei künstlichen Befruchtungen übrig geblieben waren. Daraus waren dann für die Forschung weltweit zurzeit bisher schon 64 Stammzellenlinien entwickelt worden. Nun sind in den USA, weil auch Stammzellen irgendwann zu altern scheinen, 12 Frauen 162 Eizellen zur weiteren Stammzellenlinienbildung entnommen und befruchtet worden, woraus 50 Embryonen mit Eiern und Samen anonymer Spender hergestellt wurden.100 Es hatten sich ja sogar vordem auf den Aufruf des us-amerikanischen Professors Seagar hin zahlreiche Frauen gefunden, die sich Gorilla-Embryonen als Retortenbabys implantieren lassen wollen, um diese Affenart vor dem Aussterben zu retten! Da werden sich mit Sicherheit genügend Eizellen-Spenderinnen finden. Den wegen der absehbar vielen Fehlversuche notwendigerweise großen Bedarf an Embryonen hoffen die drei von ihrer eigenen Zunft als nicht 99

Zellen aus dem Nabelschnurblut konnten allerdings noch nicht ihre Rolle als ethisch korrekte Hoffnungsträger unter Beweis stellen. Sie bestanden noch nicht den elektrophysiologischen Test, dass Adrenalin diese pulsierenden Zellen schneller schlagen lässt, Acetylcholin ihren Pulsschlag verlangsamt.

100

Das ist ein sehr gutes wissenschaftliches Ergebnis, denn bis dahin kalkulierte man, dass 6-12 befruchtete und im Labor in Brutschränken einige Tage weitergereifte Eizellen nötig seinen, um eine embryonale Stammzellenlinie als Reservoir für weitere Experimente herstellen zu können.

411

sehr seriös angesehenen Reproduktionsmediziner Antinori, Zavos und Ben-Abraham dadurch decken zu können, dass sie eine sich im Acht-Zellen-Entwicklungsstadium befindliche Eizelle in ihre einzelnen Zellen auftrennen wollen, um so sieben neue embryonale Eizellen als Ausgangsmaterial für eine Stammzellengewinnung und anschließende Forschung an den so vervielfältigten embryonalen Stammzellen zu gewinnen - was von ihren Fachkollegen als nicht durchführbar eingeschätzt wird. Dieses Vorgehen werde nur im Vier-Zellen-Stadium möglich sein. Dieser wissenschaftliche Streit ist aber nur eine kleine, durch ein diesbezügliches Experiment zu verifizierende Nuance. Viel wichtiger für die Forschung und die Beurteilung der Frage, ob die embryonale Stammzellenforschung freigegeben werden solle, ist, dass gar keine Embryonen zu Forschungszwecken erst noch erzeugt werden müssen, weil aus letztlich nicht eingesetzten Embryonen – überzählige, nicht eingesetzte Embryonen wurden eingefrostet oder die künstliche Befruchtung wurde nach der Eizellenentnahme dann doch nicht mehr durchgeführt - schon genügend fast beliebig vermehrbare Stammzellen und damit bisher weltweit mindestens 60 Stammzellenlinien zur Verfügung stehen. Allein in Deutschland stehen aus künstlichen Befruchtungsversuchen bis zu 100 eingefroren aufbewahrte Embryonen zur Gewinnung von Stammzellenlinien zur Verfügung, die sonst nach der Wertung des Embryonenschutzgesetzes (sowieso) vernichtet werden müssen. Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz in seiner heute noch gültigen Form beschlossen wurde, als die neuesten Entwicklungsmöglichkeiten in diesem Bereich noch gar nicht absehbar gewesen waren! Soll das Gesetz dann trotzdem unverändert weiter gelten? Die Alternative richtig gestellt lautet also: Abschließende Vernichtung der für eine ehedem geplante Implantation durch eine Hormonkur vorbereitend bereits hergestellten, aber letztlich dann doch nicht eingesetzten und somit jetzt überzähligen Embryonen, um dem nach damaligem, inzwischen veraltetem Erkenntnisstand abgefassten Gesetz Genüge zu tun oder anderweitige »Vernichtung« der Embryonen zur Stammzellengewinnung für wissenschaftliche Forschungen, um der auch schon von Theologen religiös unterfütterten101 ärztlichen „Ethik des Helfens“ gegen bisher nicht heilbare Krankheiten bestmöglich gerecht „Ist Genforschung ein religiöses Gebot? ’Du sollst Leben retten!’ Ein Plädoyer für das therapeutische Klonen aus biblisch-theologischer Sicht“ von Manfred Oeming in: „Die Welt“ 15.02.04. Dort schreibt der christliche Alttestamentler Oeming: „Es gibt keinen Zweifel. Die Fragen der Bioethik stellen die moderne Weltgesellschaft vor außergewöhnlich schwierige Gewissensentscheidungen. Die Entwicklung der Embryonenforschung kann zu einer Art biologischer Atombombe führen, der Verzicht auf weitere Forschung kann zu einer unterlassenen Hilfeleistung gigantischen Ausmaßes werden. In einem solchen Grenzbereich, in dem sich Schuld und Segen so eng berühren, wo soll man sich da noch Rat holen? Ich möchte als Bibelwissenschaftler einige Gedanken entwickeln, da die Exegese nicht nur den Ursprungssinn der Texte zu erforschen, sondern auch ihre Bedeutung für die Gegenwart zu reflektieren hat. Als christlicher Alttestamentler habe ich dabei immer auch die jüdische Tradition mit im Bewusstsein, die ja auch auf der Basis der Bibel steht. Alttestamentlich-jüdisch-christliches Denken macht zahlreiche Grundannahmen, die sich in dem Satz zusammenfassen lassen: "Du sollst Leben retten!" und von denen ich hier acht kurz skizzieren möchte: 1. In der jüdisch-christlichen Ethik ist ein Prinzip schlechthin fundamental: Der Wert des Lebens, jedes einzelnen Lebens, ist unendlich. Der Talmud lehrt: "Die Verpflichtung, ein (menschliches) Leben zu retten, überwiegt alle anderen Gesetze der Tora." Jesus und das ganze Neue Testament haben die gleiche Stoßrichtung: Jesus "sandte sie aus, zu predigen das Reich Gottes und die Kranken zu heilen" (Lk 9,1f). Mit dem ursprünglichen Auftrag der Kirche und der Religion ist wesensmäßig der Auftrag verbunden: Heilt! Bekämpft Krankheit! 2. Die Notwendigkeit, menschliches Leben zu schützen, setzt voraus, dass klar ist, wann menschliches Leben überhaupt beginnt. Im Alten Testament gilt der erste Atemzug des Neugeborenen als Beginn des Lebens. 3. Der ungeborene Fötus hat nach dieser Logik keinen Status einer rechtsfähigen Person. Das ist für modernes Denken gewiss ungewohnt und hart. Aber vor der Geburt gehört der Embryo zur Mutter, er ist ihr Teil, ihr Eigentum. 4. Auch der Begriff der Schwangerschaft ist im Alten Testament anders gefasst als im modernen Denken: Von Schwangerschaft kann man erst dann und nur dann reden, wenn das befruchtete Ei sich im Uterus eingenistet hat und mindestens 40 Tage bei einem Jungen und 80 Tage bei einem Mädchen im Uterus war. Außerhalb dieser Umgebung und außerhalb dieser Frist gilt der Embryo nahezu als nichts. 5. Bei allen ethischen Entscheidungen muss eine umsichtige rationale Abwägung der möglichen Folgen durchgeführt werden. Ohne Zweifel hat die alttestamentlich-jüdische Ethik ein utilitaristisches Element: Wenn der zu erwartende Nutzen die zu befürchtenden Schäden bei weitem überwiegt, ist eine Handlung ethisch erlaubt, ja sogar geboten. 6. Das Weltbild des Alten Testaments ist antimythisch, antimagisch. Max Weber sprach zu Recht vom "alttestamentlichen Rationalismus" und von "Entzauberung der Welt, welche mit der altjüdischen Prophetie einsetzte". 7. Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes (Imago dei). Der Begriff ist in der gegenwärtigen Exegese durchaus umstritten: Die einen verstehen ihn als Resultat der abgeschlossenen Schöpfung. Die anderen deuten die Schöpfungsgeschichte als einen Anfang. Im Prozess einer weitergehenden Schöpfungsaktivität hat Gott den Menschen zu seinem Partner gemacht. 8. Gott erteilt seinem Partner den Auftrag: "Machet euch die Erde untertan!" Dieser Befehl beinhaltet eine atemberaubende Vollmacht, das so genannte Dominium terrae. Der Ausdruck meint den respektvollen und fürsorglichen Umgang eines Königs mit dem ihm anvertrauten Lebensraum. Aus diesen antiken Grundsätzen lassen sich in Bezug auf die Probleme des Klonens moderne Schlussfolgerungen ziehen: Zahlreiche Rabbiner in Israel und den USA sprechen sich gegenwärtig für das Klonen aus. Dies ist aus den oben beschriebenen Prinzipien heraus gut verständlich und verdient in der christlichen Welt eine ausführliche Diskussion: Das

101

412

werden zu können? Das muss in einer möglichst breit angelegten gesellschaftlichen Diskussion im Bundestag als dem dafür zuständigen Gremium politisch entschieden und dann entsprechend dem am Ende der Diskussion gefassten Beschluss rechtlich geregelt werden. Ein Patent zum therapeutischen Klonen von Menschen durch Verwendung von entkernten Schweine-Eizellen ist von der australischen Firma, die das Patent innehatte, weltweit zurückgezogen worden. Sie empfand die dadurch sich eröffnenden Möglichkeiten selber als zu weitgehend. Nachdem 1998 zum erstenmal in Wisconsin/Minnesota eine kultivierbare Stammzelllinie aus - noch ungeklonten - Blastocysten gewonnen worden war und 2003 der amerikanische Wissenschaftler Gerald Schatten vergeblich versucht hatte, Rhesusaffen zu klonen, mit allen 716 Versuchen aber schon in frühesten Stadien gescheitert war die Chromosomen in den transplantierten Eizellen hatten sich völlig desorganisiert verhalten, weil offenbar beim Kerntransfer der Spindelapparat in den Zellen beschädigt worden war - war es Anfang des Jahres 2004 koreanischen „Regenerationsmedizinern“ gelungen, erstmals bei Menschen eine Stammzelllinie aus geklonten Embryonen zu züchten. (Die geklonten Embryonen hätten auch einer Frau zur Austragung eines Klon-Babys eingesetzt werden können; es ist aber unklar, ob auch ein solches Vorhaben erfolgreich abgeschlossen worden wäre. Das war aber nicht das Ziel der koreanischen Forscher, die einen gangbaren Weg zur Herstellung von Transplantaten für das therapeutische Klonen suchten.) Der Tiermediziner Hwang hatte von 16 sehr jungen Spenderinnen nach einer künstlichen Hormonstimulation insgesamt 242 Eizellen entnehmen können. Daraus entfernten die Forscher das Erbgut und ersetzten es der Einfachheit halber statt durch den Zellkern eines fremden Patienten durch den Zellkern einer Cumuluszelle, einer Nährzelle im Eierstock, der jeweiligen Spenderin, für die aber noch kein Ersatzorgan hergestellt werden sollte. Nach der nach einer Kombination der mittels eines 3.000 Volt starken Stromstoßes arbeitenden Dolly-Methode mit einem chemischen Mix erfolgreichen Fusion von gespendeter Eizelle mit dem im Zellkern enthaltenen Genmaterial (des beim therapeutischen Klonen vorgesehenen Organempfängers) entwickelten sich aus 30 Eizellen Embryonen, von denen 20 bis zum fünften Tag überlebten. Von den daraus gewonnenen Stammzellen überlebte nur eine einzige Linie. Diese Zellen tragen das komplette genetische Material der Spenderin. Nach der Differenzierung in Körperzellen oder in ein Organ könnten sie zum Transplantat herangezüchtet werden, das bei der Zellkernspenderin keine Immunreaktion hervorrufen würde. Aus einem der 30 erzeugten Embryonen gingen sogar schon Vorstufen von Nerven, Muskeln, Bindegewebe und Knorpel hervor. Laut Hwang ist es im Zuge der Arbeit überhaupt zum ersten Mal gelungen, menschliche

rationale, wissenschaftsfreundliche Weltbild des Alten Testaments ist ein religiöser Motor des medizinisch wissenschaftlichen Fortschritts Wenn Menschen die genetische Basis eines Menschen verändern, um eine Krankheit zu bekämpfen, dann ist das nicht sündhafte Arroganz, sondern Konsequenz unserer Bevollmächtigung durch Gott, an der Schöpfung als "Ko-Kreatoren" mitzuwirken (imago dei). Dies ist nicht ein von der Religion streng verbotener Eingriff in die Sphäre Gottes, sondern Erfüllung eines göttlichen Gebots (dominium terrae). Freilich muss zwischen den unterschiedlichen Formen des Klonens - dem reproduktiven und dem therapeutischen sorgfältig unterschieden werden. Beim reproduktiven Klonen muss man zwei entschiedene Einschränkungen machen. Die Würde jedes Menschen ist unbedingt zu achten. Wenn dem geklonten Individuum nicht die gleichen Rechte auf Unversehrtheit des Körpers und Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung zugestanden werden wie dem genetischen Spender, dann wird der ganze Vorgang zum Verbrechen. Die Züchtung von Ersatzteillagern, die als Organspender ausgeschlachtet werden können, oder von willigen Soldaten in Serienproduktion darf kein Ziel und kein Nebenprodukt von Klonen sein. Auf Grund der extrem hohen Risiken von massiven Behinderungen und letalen Fehlbildungen steht diese Art des Klonens völlig außerhalb jeder Debatte. Therapeutisches Konen ist bei weitem nicht so riskant wie das reproduktive. Die Stammzellen mit ihren ungeheuren Entwicklungsmöglichkeiten sind auf möglichst risikoarmem Weg zu gewinnen, vielleicht zukünftig nicht aus embryonalen Stammzellen, sondern aus dem Fruchtwasser: Aber selbst dann, wenn man den im Reagenzglas erzeugten Zellhaufen (Zygoten) ethisch schon Personenstatus zuspricht, muss man erwägen, ob die bei der In-vitro-Fertilisation immer entstehenden überzähligen Eier, die als Krankenhausabfall entsorgt werden, nicht in Analogie zu Unfalltoten als Organspender betrachtet werden müssen und daher - wie Organtransplantate - ethisch unbedenklich zu Heilzwecken eingesetzt werden können. Auch wenn noch außerordentlich viel an Forschungsarbeit und Technikentwicklung zu leisten bleibt, so steht über allem doch die Verheißung, vielfach Leiden zu mildern und zu heilen und dadurch das jesuanische und talmudische Gebot der Lebensrettung zu erfüllen. Die realen Gefahren von Missbrauch und Fehlbildungen, die nicht verniedlicht werden dürfen, sind kein ausreichender Grund, einen weltweiten Bann über das Klonen anzustreben und die ungeheuren Heilungschancen durch religiöse Tabus zu verspielen. Im Gegenteil: Die intensive Erforschung der Möglichkeiten gentechnischer Therapien ist ein religiöses Gebot.“

413

Stammzellen zu Nervenzellen werden zu lassen. Durch diese Methode des so genannten therapeutischen Klonens hoffen Wissenschaftler in aller Welt, Gewebe mit passenden Erbmerkmalen zu gewinnen, das nicht vom Patienten abgestoßen wird. Der erste Schritt auf dem Weg zur Züchtung von Ersatztransplantaten ist also erfolgreich beschritten, auch wenn es bisher noch nicht gelungen ist, ganz gezielt für einen erkrankten Zellkernspender das von dem benötigte Transplantat heranzuzüchten. Es handelt sich also bislang um eine frühe Phase der Grundlagenforschung, die die damit verbundenen zukünftigen Gefahren verniedlichend als „Forschungsklonen“ bezeichnet wird. „Die entscheidende "Innovation" der koreanischen Wissenschaftler betrifft drei Details: Erstens wurden die entkernten Eizellen nach der Übertragung des Cumuluszellkerns mindestens zwei Stunden in Ruhe gelassen. Sie hatten somit mehr Zeit als bei anderen Experimenten zum Reprogrammieren des Erbmaterials - eine Modifikation, die sich schon bei dem vergleichsweise erfolgreichen Klonen von Kühen bewährt hat. Zweitens hat man zur "Aktivierung" der Eizelle, also zum Einleiten der Zellteilung, einen speziellen chemischen Cocktail zusammengestellt. Und drittens hat man die Zusammensetzung vor allem der Nährstoffe in den Petrischalen nach neuen "Rezepten" aus der In-vitro-Fertilisation von Mensch und Rind zusammengestellt. Erwähnt wird zum Beispiel ein "Energiesubstrat", das statt Rinderserumalbumin und Traubenzucker menschliches Serumalbumin und Fruchtzucker enthält. Auch eine schonende Entnahme und Transplantation des Zellkerns in die Eizelle sowie der Zeitpunkt, wann die jeweiligen Nährmedien gegeben werden, scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Insgesamt haben die Forscher nach einigem "Tüfteln" knapp ein Viertel der klonierten Zellen bis zum Blastozystenstadium kultivieren können. Zwanzig auf diese Weise gezüchtete Embryonen wurden für die Gewinnung von Stammzellen aus der "Inneren Zellmasse" herangezogen. Allerdings gingen die meisten davon zugrunde. Nur eine konnte als Zelllinie etabliert werden. Nicht um fertige Ersatzgewebe zu kreieren, sondern um die Pluripotenz und damit die "Echtheit" der so erzeugten embryonalen Stammzellen zu dokumentieren, hat die Gruppe in der Petrischale und durch Verpflanzen in Mäuse verschiedene Zelltypen und Gewebe daraus hergestellt: primitive Nervenzellen ebenso wie Netzhautepithel, glatte Muskelzellen, Knochen- und Knorpelzellen, Bindegewebszellen und Drüsenepithel. Noch erinnern nur das Aussehen dieser klonmedizinisch erzeugten Ersatzgewebe unter dem Mikroskop und einige molekulare Indikatoren oder "Marker" an die natürlichen Pendants. Ihre eigentliche Funktionalität müssen sie erst noch beweisen“ (FAZ 13.02.04). „Vom Embryo zum Ersatzteillager Erstmals ist es Forschern gelungen, aus einem geklonten menschlichen Embryo Stammzellen für Herstellung von neuem Gewebe zu gewinnen. Deutsche Politiker fordern internationales Klonverbot BERLIN taz Für die Stammzellforscher ist es ein Durchbruch. Südkoreanischen Wissenschaftlern an der Nationaluniversität Seoul gelang es jetzt erstmals, einen menschlichen Embryo zu klonen und daraus eine Stammzelllinie zu entwickeln. Zur Herstellung der Embryonen hätten sie die gleiche Methode genutzt, mit der schon das schottische Klonschaf Dolly geschaffen wurde, berichtete der Projektleiter Woo Suk Hwang in dem Wissenschaftsmagazin Science. Das sei zweifellos eine "wissenschaftliche Premiere", sagte der Chefredakteur des Wissenschaftsmagazins, Donald Kennedy. Um diese Methode zur Heilung von Krankheiten bei Menschen einzusetzen, müssten jedoch noch "wichtige wissenschaftliche Hürden überwunden werden". So wird unter anderem befürchtet, dass die embryonalen Stammzellen im Körper unkontrolliert weiterwachsen und sich in Tumore verwandeln. Es ist nicht das erste Mal, dass menschliche Embryonen geklont wurden. Vor vier Jahren schon will eine chinesische Forscherin nach eigenen Angaben entsprechende Experimente durchgeführt haben. Ein Jahr später entwickelten US-Forscher Klonembryonen. Sie isolierten jedoch nicht wie die Südkoreaner Stammzellen. Während von den Befürwortern der Forschung mit Embryonen die südkoreanischen Ergebnisse als Hoffnungsschimmer für die Entwicklung neuer Therapien begrüßt wurde, warnten Politiker der Grünen und der CDU vor der weiteren Entwicklung und forderten die Bundesregierung auf, sich rasch für ein internationales Verbot sowohl des therapeutischen als auch des reproduktiven Klonens einzusetzen. Es habe sich gerächt, dass die Vereinten Nationen (UN) die Verhandlungen über eine internationale Klonkonvention unterbrochen haben, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Reinhard Loske. Für Maria Böhmer, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, sind die Berichte über die südkoreanischen Experimente zwar "spektakulär, aber dennoch kein überraschendes Ergebnis". Dass dies eines Tages möglich sein würde, "war abzusehen". Auch sie mahnte ein internationales Klonverbot an.

414

Die bei den UN vorerst gescheiterten Verhandlungen sollen jedoch erst im Herbst wieder aufgenommen werden. Es ist aber fraglich, ob sich eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten auch für ein Verbot des therapeutischen Klonens aussprechen wird. WOLFGANG LÖHR taz 13.02.04“ „Die Ausbeute ist gering und doch eine Sensation: Wissenschaftler haben eine Stammzell-Linie erzeugt - erstmals aus geklonten Menschen-Embryonen. Ziel ist es, für Kranke eines Tages gezielt Gewebe heranzuzüchten, das vom Körper nicht mehr abgestoßen wird. Dafür müsste allerdings der Zellkern eines Erkrankten in die Spenderinnen-Eizelle geschleust werden. Das ist bislang noch nicht gelungen. Dolly war der Vorreiter. Das treu blickende Schaf war 1996 das erste Säugetier, das als Klon auf die Welt kam. Krank von den vielen Fehlern im Erbgut, ist Dolly inzwischen gestorben. Das, was für Schafe, Kühe oder Mäuse mehr schlecht als recht funktioniert, das schien bis diese Woche für Menschen unmöglich zu sein. Ihr Erbgut ließ sich bislang nicht klonen. Doch offenbar ist der biologische Schutzpanzer nun doch geknackt worden. Denn am Donnerstag präsentierten südkoreanische Wissenschaftler beim Jahrestreffen der US-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Seattle den Durchbruch. Professor Woo Suk Hwang von der Universität Seoul hatte mit Kollegen erfolgreich menschliche Klon-Embryonen hergestellt und aus ihnen Stammzellen gewonnen. Sie können sich zu allen Zellen, die im menschlichen Körper vorkommen, differenzieren. Mit solchen Zellen oder Geweben sollen künftig Krankheiten wie Diabetes, Herzinfarkt, Parkinson oder Multiple Sklerose behandelt werden. Hwang hatte von 16 sehr jungen Spenderinnen insgesamt 242 Eizellen entnommen. Daraus entfernten die Forscher vorsichtig das Erbgut und ersetzten es durch den Kern einer Körperzelle der jeweiligen Spenderin. Nur aus 30 Eizellen entwickelten sich Embryonen, von denen 20 bis zum fünften Tag überlebten. Von den daraus gewonnenen Stammzellen überlebte nur eine einzige Linie. Trotz der Schwierigkeiten ist das Ergebnis für Hwang ein ermutigender Beginn. "Diese Zellen tragen das komplette genetische Material der Spenderin", erläutert er, "nach der Differenzierung in Körperzellen oder in ein Organ könnten sie zum Transplantat werden, das bei ihr keine Immunreaktion hervorrufen würde." Ziel ist es, für Kranke eines Tages gezielt Gewebe heranzuzüchten, das vom Körper nicht mehr abgestoßen wird. Dafür müsste allerdings der Zellkern eines Erkrankten in die Spenderinnen-Eizelle geschleust werden, was bislang noch nicht gelungen ist. Zur Zurückhaltung mahnte deshalb Donald Kennedy, Chefredakteur des Wissenschaftsmagazins Science, das die Ergebnisse am heutigen Freitag veröffentlichen wird. "Das Potenzial für embryonale Stammzellen ist außerordentlich groß, aber die Wissenschaftler müssen noch hohe Hürden überwinden", sagte er. Auch wenn die jetzt vorgestellten Ergebnisse viel versprechend seien, müsse man doch daran denken, dass man sich noch in der Phase der frühen Grundlagenforschung befinde. Kennedy: "Es wird sicher noch viele Jahre dauern, bis Zellen oder Gewebe aus Stammzellen tatsächlich in der Transplantationsmedizin eingesetzt werden können." In Deutschland sind solche Versuche durch das Embryonenschutzgesetz von 1991 strikt verboten. Lediglich bereits vorhandene Stammzell-Linien - sie stammen aus künstlich befruchteten Embryonen - dürfen für Forschungszwecke importiert werden. Eine Initiative im Herbst vergangenen Jahres, ein komplettes Klonverbot durch die Vereinten Nationen aussprechen zu lassen, scheiterte zunächst und wurde vertagt. Die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Maria Böhmer, warf der Bundesregierung eine "Blockadehaltung" in dieser Frage vor. Die Grünen rügten, dass Frauen zu Rohstofflagern degradiert würden.“ (FR 13.02.04) KOMMENTAR: GEKLONTE EMBRYONEN Außer Kontrolle VON KARL-HEINZ KARISCH Der Schock liegt keine zwei Jahre zurück. Damals verkündeten die abstruse Sekte der Raelianer und der italienische Gynäkologe Severino Antinori die Geburt von Klonbabys. Den Beweis dafür traten sie bis heute nicht an. Ernsthafte Wissenschaftler hielten es ohnehin für völlig unmöglich. Jetzt hat sich die Lage verändert. Denn südkoreanische Forscher präsentierten zwar kein Klonbaby, aber geklonte menschliche Embryonen. Wenn einer davon in eine Gebärmutter verpflanzt würde, dann könnte daraus ein Mensch entstehen.

415

Die Raelianer werden es mit der neuen Technik wieder versuchen. Ohne Skrupel gegenüber den so entstehenden Menschenwesen, von denen viele bereits im Mutterleib oder nach der Geburt sterben würden. Die wenigen Überlebenden hätten schwere Gesundheitsprobleme. Das weiß man aus Tierversuchen. Forscher wie Antinori sind außer Kontrolle geraten. Es wäre deshalb gut gewesen, wenn die Vereinten Nationen sich im vergangenen Herbst bereits auf ein weltweites Verbot des so genannten reproduktiven Klonens verständigt hätten. Doch das gelang nicht, weil die Vereinigten Staaten, aber auch der Deutsche Bundestag in einer seltenen Einmütigkeit mit den Stimmen von Regierungskoalition und Union eine Maximalforderung auf den Weg gebracht hatten: Sie wollten das therapeutische Klonen, das Kranken helfen soll, gleich mit verbieten lassen. Da aber stellten sich Länder wie etwa Großbritannien quer. Wer zu viel will, erhält oft gar nichts.“ (FR 13.02.04) Urknall der „Klontherapie“ Von Joachim Müller-Jung Jahrelang war darüber geredet und gestritten worden, gerade so, als sei das sogenannte therapeutische Klonen schiere Routine in den Labors und Hinterzimmern einer neuen Kaste namens "Regenerationsmedizin". Die Idee, aus den geklonten Zellen eines schwer kranken Patienten über den Umweg eines nur wenige hundert Zellen großen Embryos - einer Blastocyste - neue Stammzellen zu gewinnen und diese dann zur Zucht von transplantierbarem, gewebetypisch "eigenem" Ersatzgewebe für den Patienten zu nutzen, diese Idee hatte die Debatte um embryonale Stammzellen stets begleitet, ja auf die Spitze getrieben. In der Tat ist sie bioethisch gesehen für viele Menschen so etwas wie der Gipfel des biotechnischen Bosheit. Denn sie enthält nicht nur den Plan, Embryonen im frühen, wenige Tage alten Stadium für die Gewinnung embryonaler Stammzellen zu opfern. Sie sieht auch das Klonen menschlicher Zellen vor - nach jenem Mitte der neunziger Jahre mit dem schottischen Schaf "Dolly" berühmt gewordenen Verfahren, das ursprünglich zur Vervielfältigung ertragreicher Nutztiere entwickelt worden war und schon bald die schrecklichsten Phantasien über Menschenzucht provozierte. Das Klonen menschlicher Zellen jedoch blieb ähnlich wie jahrzehntelang die Kultivierung humaner embryonaler Stammzellen alles andere als eine leichte biotechnische Fingerübung. Im Jahre 1998 wurde zum erstenmal in Wisconsin/Minnesota eine kultivierbare Stammzellinie aus - noch unklonierten - Blastocysten gewonnen. Das Klonen hingegen, das man bald bei Maus, Rind, Kaninchen, Katze, Pferd und anderen Tieren mehr oder weniger erfolgreich durchexerzierte, schien eine weitaus größere Hürde. Nicht wenige Stimmen wurden laut, die die Tauglichkeit des DollyVerfahrens bei biologisch so komplexen Organismen wie Menschen grundsätzlich in Frage stellten. Südkoreanische Wissenschaftler waren erfolgreich Geredet, phantasiert und diskutiert wurde trotzdem. Und mit Recht, wie sich jetzt herausstellte. Denn Wissenschaftlern am Hangyang-Universitätskrankenhaus in Seoul ist es nun gelungen, das "therapeutische Klonen", das viele wegen des noch längst nicht therapiereifen Stadiums lieber als "Forschungsklonen" bezeichnen, bei einer Frau bis zu einem Stadium zu verwirklichen. In der Zeitschrift "Science" von heute haben sie ihre Experimente detailliert. Interessanterweise ist in der Gruppe koreanischer Forscher um Woo Suk Hwang und Shin Yong Moon auch ein in der Szene bekannter amerikanischer Klonexperte, Jose Cibelli. Er war neben Robert Lanza und Michael West einer der führenden Köpfe der amerikanischen Biotechfirma Advanced Cell Technology, kurz ACT, die vor zwei Jahren mit den ersten Bildern von geklonten menschlichen Embryonen an die Öffentlichkeit getreten war. Allerdings entwickelten sich diese in den Labors der ACT-Forscher nicht über das Sechs- bis Achtzellstadium hinaus - ein dürftiges, fehlgeschlagenes Experiment. Viele wollten es schon als Hinweis sehen, daß es eine Art biologische Barriere beim Klonen humaner Zellen geben könnte. Einen zweiten Hinweis lieferte vor weniger als einem Jahr der amerikanische Wissenschaftler Gerald Schatten. Er hatte versucht, Rhesusaffen zu klonen, war aber mit allen 716 Versuchen schon in frühesten Stadien gescheitert. Die Chromosomen in den transplantierten Eizellen waren völlig desorganisiert, weil offenbar beim Kerntransfer der Spindelapparat in den Zellen beschädigt worden war. Technische und ethische Probleme gelöst Alle diese biologischen und technischen Malaisen hat die amerikanisch-koreanische Gruppe nun scheinbar mit einem Schlag überwunden. Die Genehmigung durch das Ethikkomitee der Seouler Klinik war offenbar ebenso leicht zu bekommen wie die Eizellspenderinnen. Sechzehn Frauen erklärten sich bereit, die künstliche Hormonstimulation über sich ergehen zu lassen. So wurden 242 Eizellen gewonnen.

416

Der Einfachheit halber hat man für das Experiment statt eines fremden Patienten die Frauen jeweils auch als Spenderinnen für den zu übertragenden Zellkern genutzt. Ihnen wurden Cumuluszellen eine Art Nährzellen im Eierstock - entnommen. Ein "Schönheitsfehler", wie Klonexperte Rudolf Jaenisch (nebenstehendes Interview) meint. Denn damit besteht zumindest theoretisch die Möglichkeit, daß man beim Kerntransfer eine Eizelle übersehen und nicht geklont hat. Diese Eizelle könnte sich in der Petrischale parthenogenetisch, also ohne Befruchtung, teilen und wachsen - ein unwahrscheinliches Szenario, das die Forscher später durch Vergleich mit Daten aus früheren parthenogenetischen Experimenten und durch Gegenüberstellung der Allelfrequenz und der Aktivität bestimmter Gene fast sicher ausschließen konnten. „Innovation“ in drei Details Die entscheidende "Innovation" der koreanischen Wissenschaftler betrifft drei Details: Erstens wurden die entkernten Eizellen nach der Übertragung des Cumuluszellkerns mindestens zwei Stunden in Ruhe gelassen. Sie hatten somit mehr Zeit als bei anderen Experimenten zum Reprogrammieren des Erbmaterials - eine Modifikation, die sich schon bei dem vergleichsweise erfolgreichen Klonen von Kühen bewährt hat. Zweitens hat man zur "Aktivierung" der Eizelle, also zum Einleiten der Zellteilung, einen speziellen chemischen Cocktail zusammengestellt. Und drittens hat man die Zusammensetzung vor allem der Nährstoffe in den Petrischalen nach neuen "Rezepten" aus der In-vitro-Fertilisation von Mensch und Rind zusammengestellt. Erwähnt wird zum Beispiel ein "Energiesubstrat", das statt Rinderserumalbumin und Traubenzucker menschliches Serumalbumin und Fruchtzucker enthält. Auch eine schonende Entnahme und Transplantation des Zellkerns in die Eizelle sowie der Zeitpunkt, wann die jeweiligen Nährmedien gegeben werden, scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Insgesamt haben die Forscher nach einigem "Tüfteln" knapp ein Viertel der klonierten Zellen bis zum Blastozystenstadium kultivieren können. Zwanzig auf diese Weise gezüchtete Embryonen wurden für die Gewinnung von Stammzellen aus der "Inneren Zellmasse" herangezogen. Allerdings gingen die meisten davon zugrunde. Nur eine konnte als Zelllinie etabliert werden. Nicht um fertige Ersatzgewebe zu kreieren, sondern um die Pluripotenz und damit die "Echtheit" der so erzeugten embryonalen Stammzellen zu dokumentieren, hat die Gruppe in der Pertrischale und durch Verpflanzen in Mäuse verschiedene Zelltypen und Gewebe daraus hergestellt: primitive Nervenzellen ebenso wie Netzhautepithel, glatte Muskelzellen, Knochen- und Knorpelzellen, Bindegewebszellen und Drüsenepithel. Noch erinnern nur das Aussehen dieser klonmedizinisch erzeugten Ersatzgewebe unter dem Mikroskop und einige molekulare Indikatoren oder "Marker" an die natürlichen Pendants. Ihre eigentliche Funktionalität müssen sie erst noch beweisen. Trotzdem spricht Robert Lanza, einer der früher gescheiterten ACT-Forscher, in einem Kommentar für diese Zeitung von einem "medizinischen Meilenstein", vergleichbar der Entwicklung der Antibiotika und Impfstoffe. Lanza warnt aber auch: "Nun, da das Verfahren öffentlich zugänglich ist, müssen wir weltweit Gesetze beschließen, um den Mißbrauch der Technik zum reproduktiven Klonen zu verhindern. Wir müssen den ganzen politischen und religiösen Zwist überwinden und das Klonen von Menschen ächten, eine Position, die fast jedes Land und jeder Wissenschaftler unterschreibt." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.02.2004 / Nr. 37) „’Sie würden Leid und Tod in die Welt setzen’ Können Mediziner schon bald unheilbare Kranke mit Gentherapien retten? Der Genforscher Hans Schöler warnt im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE vor Euphorie nach dem Klon-Durchbruch in Südkorea: Therapien seien Zukunftsmusik, und das Kopieren ganzer Menschen wäre mit tausendfachem Leid verbunden. SPIEGEL ONLINE: Herr Schöler, überrascht Sie der jetzt aus Südkorea gemeldete Erfolg, dass erstmals Stammzellen aus einem geklonten menschlichen Embryo gewonnen wurde? Hans Schöler: Nein, überhaupt nicht. Es war schon lange absehbar, dass die technischen Hürden, die das therapeutische Klonen beim Menschen bisher verhinderten, recht bald fallen würden. Was die Südkoreaner gemacht haben, ist keine Zauberei. Sie haben Verfahren angewandt, die für Säugetiere etabliert sind, sie getestet und eine optimale Konstellation gefunden. SPIEGEL ONLINE: Worin genau liegt der Fortschritt des südkoreanischen Experiments? Schöler: In dem Beweis, dass das Klonen von Menschen möglich ist. Noch vor kurzem hatten Wissenschaftler im Fachmagazin "Science" dies bezweifelt und spekuliert, dass grundsätzliche biologische Probleme existieren. Das ist jetzt Schnee von gestern. Nun steht fest, dass sich menschliche Klon-Embryos bis zu Blastozysten entwickeln können - Keimblasen aus 50 bis 150 Zellen, die natürlichen Embryos am vierten Tag nach der Befruchtung entsprechen.

417

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass durch diesen Erfolg der Druck auf die Politik steigen wird, das Verbot des therapeutischen Klonens zu lockern? Schöler: Der Druck wird jetzt gewaltig von den Patienten kommen. Die werden sagen: "Hier, schaut her, es geht ja" und fordern, unbedingt Therapien zu entwickeln. Das Problem ist, dass die embryonalen Stammzellen noch nicht gut genug verstanden sind, um Therapien für den Menschen zu entwickeln. Da gibt es noch viel Forschungsarbeit zu erledigen. Wenn wir etwa im Reagenzglas eine Stammzelle für eine gewisse Funktion differenzieren, wissen wir nicht, ob sie auch im Körper diese Funktion erfüllen oder vielleicht sogar einen Tumor entwickeln wird. SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie in einer möglichen breiten Anwendung des Klonens für therapeutische Zwecke und dem damit verbundenen Abtöten der Embryonen einen ethischen Konflikt? Schöler: Für mich persönlich stellt es keinen Konflikt dar, weil ich die Blastozysten, die durch Klonen entstanden sind, nicht für schützenswert halte. Im Gegenteil: Ich hielte es für ein Verbrechen, sie in den Uterus einer Frau zu bringen. Ich selber würde aber keine natürlichen Eizellen für Forschungszwecke einsetzen wollen und bemühe mich stattdessen, alternative Techniken zu entwickeln. SPIEGEL ONLINE: Ist die Medizin jetzt dem reproduktiven Klonen, der genetischen Kopie ganzer Menschen, einen Schritt näher gekommen? Schöler: Im Prinzip ja, denn im Grunde gibt es nur noch technische Hürden. In der Praxis aber nicht. Um wirklich den Beweis anzutreten, einen Menschen erfolgreich klonen zu können, müsste eine ganze Armee von Frauen geklonte Embryos austragen. Das Ergebnis wären zahlreiche Totgeburten und missgebildete Babys. Diejenigen, die so etwas tun wollten, würden so viel Leid und Tod in die Welt setzen, dass sie von ihrem Tun sehr schnell Abstand nehmen würden. Und es ist nicht möglich, es auf eine andere Art zu schaffen. Deshalb halte ich reproduktives Klonen für nicht machbar. SPIEGEL ONLINE: Sind in Zukunft technische Neuerungen vorstellbar, diese Probleme zu umgehen? Schöler: Wenn Sie morgens in den Spiegel schauen, sehen Sie ein gealtertes Gesicht. Unsere DNS altert ebenfalls, ihre Qualität nimmt ab. Nur die Erbinformation unserer Keimzellen, aus denen etwa die Spermien hervorgehen, unterliegt einer erstaunlichen Qualitätskontrolle des Körpers - damit Kinder und Enkelkinder nicht voller Mutationen sind. Sobald in einer Vorläuferzelle für ein Spermium ein Fehler auftritt, setzt ein gezielter Zelltod ein. Eine Reparatur findet nicht statt, und die entsprechenden Spermien werden erst gar nicht gebildet. SPIEGEL ONLINE: Könnte man nicht die DNS aus Spermien zum reproduktiven Klonen verwenden? Schöler: Nein, weil die Keimzellen, aus denen Spermien hervorgehen, nur die Markierung des Mannes besitzen. Auf diese Art geklonte Embryos würden sehr früh sterben, da sie sowohl die Markierung der weiblichen als auch der männlichen Stammzellen benötigen. Das muss zusammenpassen wie der Schlüssel und das Schloss. Verwendet man aber normale Körperzellen zum Klonen, überspringt man die Qualitätskontrolle, die für die Keimzellen gilt.“ SPIEGEL ONLINE 13.02.04 Stunde null im Reagenzglas Zu hohe Fehlerraten beim Klonen lassen auf Therapien warten - Forscher versuchen, das Erbgut sicher zu "reprogrammieren" von Silvia von der Weiden Cambridge/Seoul/Taejon - Die Aussicht klingt verlockend: Mithilfe des therapeutischen Klonens können Körperzellen wieder in den embryonalen Urzustand versetzt werden. Dabei wird der Kern mit dem Erbgut einer spezialisierten Zelle in eine zuvor entkernte Eizelle übertragen. Und die genetische Uhr lässt sich auf die Stunde null zurücksetzen. Wie im Fall des jetzt erstmals nachweislich beim Menschen gelungenen Verfahrens (die WELT berichtete am 13. Februar) kann so etwa eine Eileiterzelle zum Lieferanten für alle anderen Zell- und Gewebetypen des menschlichen Körpers werden. Auf die jetzt in Südkorea erprobte Weise könnten im Reagenzglas Ersatzgewebe und -organe gezüchtet werden. Die Realität ist jedoch noch weit von diesem Wunschtraum entfernt. Nur eine von insgesamt 242 verwendeten Eizellen mündete im vorliegenden Fall in eine Stammzellenlinie. Mit einer Erfolgsrate von durchschnittlich unter drei Prozent fallen auch die Ergebnisse beim Klonen anderer Säugetiere bescheiden aus: Damit sich ein Klon entwickelt, müssen Gene, die für den Neustart des Entwicklungsprogramms wichtig sind, eingeschaltet, und andere, die zuvor in der spezialisierten Zelle aktiv waren, ausgeschaltet werden.

418

Dass diese so genannte Reprogrammierung grundsätzlich auch bei Körperzellen möglich ist, die anders als etwa Hautzellen - ihre Teilungsfähigkeit im erwachsenen Körper eingebüßt haben, weist nun eine Forschergruppe um den deutschen Wissenschaftler Rudolf Jaenisch vom MIT in Cambridge nach. Die Gruppe benutzte für die Klonierungsexperimente den Zellkern mit der DNA aus Geruchsnervenzellen von Mäusen und setzte diesen in eine zuvor entkernte Eizelle der Maus ein. Von den 352 so hergestellten Mäuseklonen, entwickelten sich immerhin 48 zu Embryonen, die in Leihmütter eingepflanzt wurden. Diese Mäuse brachten Klon-Junge zur Welt, die sich zu gesunden, fortpflanzungsfähigen Mäusen entwickelten, schreiben die Forscher in einer Vorabveröffentlichung von "Nature": "Unsere Experimente zeigen, dass es möglich ist, Nervenzellen in einen Zustand zu überführen, in dem sie sich wieder zu teilen beginnen." Was bei der Maus gelungen ist, sollte auch beim Menschen möglich sein, so die Hoffnung. Doch das gehört zu den komplexesten Vorgängen in der Natur. Durch die Reprogrammierung beim Klonen erhalten die rund 30 000 menschlichen Gene, die zuvor eine Auswahl biochemischer Prozesse in einer spezialisierten Körperzelle steuerten, plötzlich eine Fülle neuer Befehle. Ihr genetisches Programm wird veranlasst, die eingeschlagenen Pfade zu verlassen und in den Grundzustand eines werdenden Lebewesens zurückzukehren. Bislang ist es noch nicht möglich, die radikale Umstellung fehlerfrei und vollständig zu beherrschen. Wie Studien zeigen, haben viele Tierklone, darunter auch das frühzeitig verstorbene Klonschaf "Dolly", eine verkürzte Lebenserwartung und sind häufiger krank als ihre natürlich gezeugten Artgenossen. Forscher führen das auf eine unvollkommene genetische Reprogrammierung zurück, die im Falle ihrer Anwendung auf den Menschen katastrophale Folgen, wie die Entstehung von Krebs, auslösen könnte. Wie südkoreanische Forscher am Institut für Biowissenschaften und Biotechnologie in Taejon zum Beispiel herausgefunden haben, kommt es während der Reprogrammierung zu rasanten Veränderungen im Erbmolekül, unter anderem durch so genannte Methylgruppen. Sie bewirken das Abschalten von Genen, die Erbsubstanz wird dabei in einem bestimmten Bereich dichter gepackt und kann nicht mehr abgelesen werden. So entsteht ein für jede Zelle typisches Muster, das abhängig davon ist, welche Gene gerade an- und welche ausgeschaltet sind. Normalerweise sollte der Grad der Stummschaltung von Genen bei einer sich teilenden Eizelle sehr gering sein, da noch alle Gene für die weitere Entwicklung des Embryos benötigt werden. Das bestätigen auch die Untersuchungen der Südkoreaner. Sie fanden, dass in frühen Stadien nur neun Prozent der Gene abgeschaltet sind. Anders verhält es sich aber beim Klonen. Dabei waren in dem entsprechenden Teilungsstadium über 70 Prozent der Gene abgeschaltet. Das Ergebnis entsprach damit fast genau dem Anteil stummer Gene wie bei der spezialisierten Spenderzelle. Die Klonierung hatte hier keine genetische Neuprogrammierung bewirkt. Diesen Effekt machen die Forscher für schwere gesundheitliche Schäden bei Klontieren verantwortlich. Übertragen auf das therapeutische Klonen von menschlichen Geweben, muss ebenfalls mit Abnormitäten gerechnet werden. Über die Aussichten, das Problem in den Griff zu bekommen, äußerte sich Ian Wilmut, Erzeuger von "Dolly": "Ich gehe davon aus, dass es bis zur Anwendung einer Stammzellentherapie beim Menschen noch mindestens 20 Jahre dauern kann." (DIE WELT 16.02.04) Stunde null im Reagenzglas Zu hohe Fehlerraten beim Klonen lassen auf Therapien warten - Forscher versuchen, das Erbgut sicher zu "reprogrammieren" von Silvia von der Weiden Cambridge/Seoul/Taejon - Die Aussicht klingt verlockend: Mithilfe des therapeutischen Klonens können Körperzellen wieder in den embryonalen Urzustand versetzt werden. Dabei wird der Kern mit dem Erbgut einer spezialisierten Zelle in eine zuvor entkernte Eizelle übertragen. Und die genetische Uhr lässt sich auf die Stunde null zurücksetzen. Wie im Fall des jetzt erstmals nachweislich beim Menschen gelungenen Verfahrens (die WELT berichtete am 13. Februar) kann so etwa eine Eileiterzelle zum Lieferanten für alle anderen Zell- und Gewebetypen des menschlichen Körpers werden. Auf die jetzt in Südkorea erprobte Weise könnten im Reagenzglas Ersatzgewebe und -organe gezüchtet werden. Die Realität ist jedoch noch weit von diesem Wunschtraum entfernt. Nur eine von insgesamt 242 verwendeten Eizellen mündete im vorliegenden Fall in eine Stammzellenlinie. Mit einer Erfolgsrate von durchschnittlich unter drei Prozent fallen auch die Ergebnisse beim Klonen anderer Säugetiere bescheiden aus: Damit sich ein Klon entwickelt, müssen Gene, die für den Neustart des Entwicklungsprogramms wichtig sind, eingeschaltet, und andere, die zuvor in der spezialisierten Zelle aktiv waren, ausgeschaltet werden.

419

Dass diese so genannte Reprogrammierung grundsätzlich auch bei Körperzellen möglich ist, die anders als etwa Hautzellen - ihre Teilungsfähigkeit im erwachsenen Körper eingebüßt haben, weist nun eine Forschergruppe um den deutschen Wissenschaftler Rudolf Jaenisch vom MIT in Cambridge nach. Die Gruppe benutzte für die Klonierungsexperimente den Zellkern mit der DNA aus Geruchsnervenzellen von Mäusen und setzte diesen in eine zuvor entkernte Eizelle der Maus ein. Von den 352 so hergestellten Mäuseklonen, entwickelten sich immerhin 48 zu Embryonen, die in Leihmütter eingepflanzt wurden. Diese Mäuse brachten Klon-Junge zur Welt, die sich zu gesunden, fortpflanzungsfähigen Mäusen entwickelten, schreiben die Forscher in einer Vorabveröffentlichung von "Nature": "Unsere Experimente zeigen, dass es möglich ist, Nervenzellen in einen Zustand zu überführen, in dem sie sich wieder zu teilen beginnen." Was bei der Maus gelungen ist, sollte auch beim Menschen möglich sein, so die Hoffnung. Doch das gehört zu den komplexesten Vorgängen in der Natur. Durch die Reprogrammierung beim Klonen erhalten die rund 30 000 menschlichen Gene, die zuvor eine Auswahl biochemischer Prozesse in einer spezialisierten Körperzelle steuerten, plötzlich eine Fülle neuer Befehle. Ihr genetisches Programm wird veranlasst, die eingeschlagenen Pfade zu verlassen und in den Grundzustand eines werdenden Lebewesens zurückzukehren. Bislang ist es noch nicht möglich, die radikale Umstellung fehlerfrei und vollständig zu beherrschen. Wie Studien zeigen, haben viele Tierklone, darunter auch das frühzeitig verstorbene Klonschaf "Dolly", eine verkürzte Lebenserwartung und sind häufiger krank als ihre natürlich gezeugten Artgenossen. Forscher führen das auf eine unvollkommene genetische Reprogrammierung zurück, die im Falle ihrer Anwendung auf den Menschen katastrophale Folgen, wie die Entstehung von Krebs, auslösen könnte. Wie südkoreanische Forscher am Institut für Biowissenschaften und Biotechnologie in Taejon zum Beispiel herausgefunden haben, kommt es während der Reprogrammierung zu rasanten Veränderungen im Erbmolekül, unter anderem durch so genannte Methylgruppen. Sie bewirken das Abschalten von Genen, die Erbsubstanz wird dabei in einem bestimmten Bereich dichter gepackt und kann nicht mehr abgelesen werden. So entsteht ein für jede Zelle typisches Muster, das abhängig davon ist, welche Gene gerade an- und welche ausgeschaltet sind. Normalerweise sollte der Grad der Stummschaltung von Genen bei einer sich teilenden Eizelle sehr gering sein, da noch alle Gene für die weitere Entwicklung des Embryos benötigt werden. Das bestätigen auch die Untersuchungen der Südkoreaner. Sie fanden, dass in frühen Stadien nur neun Prozent der Gene abgeschaltet sind. Anders verhält es sich aber beim Klonen. Dabei waren in dem entsprechenden Teilungsstadium über 70 Prozent der Gene abgeschaltet. Das Ergebnis entsprach damit fast genau dem Anteil stummer Gene wie bei der spezialisierten Spenderzelle. Die Klonierung hatte hier keine genetische Neuprogrammierung bewirkt. Diesen Effekt machen die Forscher für schwere gesundheitliche Schäden bei Klontieren verantwortlich. Übertragen auf das therapeutische Klonen von menschlichen Geweben, muss ebenfalls mit Abnormitäten gerechnet werden. Über die Aussichten, das Problem in den Griff zu bekommen, äußerte sich Ian Wilmut, Erzeuger von "Dolly": "Ich gehe davon aus, dass es bis zur Anwendung einer Stammzellentherapie beim Menschen noch mindestens 20 Jahre dauern kann." (DIE WELT 16.02.04)

Weil mit dem Klonen von embryonalen Stammzellen ethisch-moralische Grenzen überschritten werden, sprechen sich eine Reihe von Wissenschaftlern dafür aus, zunächst einmal zu erforschen, ob nicht aus dem Körper des jeweiligen Patienten gewonnene adulte Stammzellen ausreichen, um den angestrebten Therapieerfolg zu erzielen. Diese »erwachsenen« Stammzellen haben die Aufgabe, spezialisierte Zellen zu bilden, die dann bestimmte Funktionen wahrnehmen. Von ihnen gibt es verschiedene Typen im menschlichen Körper, die auch noch aus Leichen gewonnen werden können. Im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen waren die zunächst bekannten adulten Stammzellen schon so weit ausdifferenziert, dass sie von sich aus »nur« noch in der Lage sind, spezialisierte organspezifische Zellen zu bilden. Das könnte für eine Heilung eventuell vollkommen ausreichend sein. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu ethischen Grenzen ist die »Rückentwicklung« adulter Hautstammzellen von Rindern unter Anzüchtung schon verloren gegangener Pluripotenzfähigkeit in Herzmuskelzellen. Da tut sich eine völlig neue Qualität menschlichen Lebens auf! Wer so nah an der Entstehung des Lebens forscht, möchte gerne Gott spielen, gänzlich neues Leben schaffen und nicht »nur« Ersatzteile aus adulten Stammzellen herstellen. Soll er das dürfen? Wollen wir das? Bisher ist

420

man sich einig, dass der Mensch niemals ein Geschöpf des Menschen in Form einer chemischen Formel werden dürfe! Und die reale Gefahr bestand ja noch nicht dafür. Aber vielleicht kommt es irgendwann doch dazu, nachdem einem deutschen Forscher in den USA durch eine bloße Optimierung der Umgebung im Reagenzglas die bahnbrechende Rückumwandlung von Mäuse-Stammzellen in Eizellen gelungen ist. Diese Eizellen entwickelten sich, obwohl sie nicht befruchtet worden waren, zu dem sehr frühen Embryonalstadium der Blastozysten zurück. Es besteht theoretisch die noch nicht praktisch untersuchte Möglichkeit, dass differenzierte Körperzellen – etwa Hautzellen – in embryonale Stammzellen zurückverwandelt werden könnten, die ja bei den Labormäusen in Eizellen weiter zurückentwickelt wurden. Gelänge das auch beim Säugetier Mensch, gäbe es keinen Mangel an den bisher raren Eizellen, und Frauen bliebe der schwierige und unangenehme Prozess der Eizellengewinnung erspart. Mit solchen Zellen würde man sicher nicht nur therapeutisch klonen! Nur das »Recht« kann versuchen, Grenzen zu setzen – die von besessenen Forschern im Geheimen bestimmt irgendwann dann doch verbotenerweise überschritten werden. Bisher hat noch kein Recht dem menschlichen Forscherdrang unüberwindbar Einhalt geboten, ihn höchstens behindert und ins Dunkel abgedrängt.

"Es erben sich Gesetz' und Rechte Wie eine ew'ge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte, Und rücken sacht von Ort zu Ort.

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; Weh' dir, dass du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist leider! nie die Frage."

Und Goethe war Jurist. Er wusste, wovon er schrieb! Jean Foyer schrieb etwas bildhafter und damit einprägsamer als Goethe: „Gesetze sind wie Kleider. Eine Zeitlang sitzen sie gut. Dann sind sie abgetragen, und es wird Zeit, sie auszuwechseln.“ Kürzer und damit prägnanter fasste diese Erkenntnis Wolfram Weidner: „Gesetze sind Fesseln, die der Gesetzgeber der Nachwelt flicht.“ „Schotte darf Schwiegermutter erst heiraten, wenn seine Ehefrau tot ist Der 22-jährige George Greenhowe aus Edinburgh, Schottland, hat die Scheidung von seiner 19jährigen Ehefrau Allison eingereicht. An und für sich nichts besonderes, wenn nicht Allisons Mutter der Trennungsgrund wäre. Greenhowe hat sich bereits wenige Tage nach seiner Hochzeit in seine Schwiegermutter verliebt und möchte jetzt mit dieser eine Beziehung führen. Die Ehefrau musste mit ansehen, wie Ehemann und Mutter sich heimlich knutschten. Amüsant wird der Fall durch ein altes schottisches Gesetz, welches besagt, dass Schwiegersohn und Schwiegermutter erst heiraten dürfen, wenn die Noch-Ehefrau gestorben ist. Jetzt wollen sie sich im Ausland trauen lassen.“ Sternshortnews 08.05.03 Dieses Wissen ist im abendländischen Kulturkreis schon mindestens 2.000 Jahre alt, denn sonst hätte Tacitus nicht formulieren können: „Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen.“ Das Wissen um die zeitliche Bedingtheit dessen, was in einer Gesellschaft als rechtens angesehen wird, ist selbstverständlich auch in anderen Kulturkreisen vertreten, denn dieses juristische Allgemeinwissen ist, wie gesagt, ja schon sehr alt. Ein von mir weder in einem 25-bändigen Lexikon noch im Internet auffindbarer Hudhaifa formulierte: „Achte darauf, dass jene Dinge, die man heute für Recht hält, gestern noch als unmöglich betrachtet worden sind. Die Dinge, die heute für falsch gehalten werden, sind genau die, die morgen als richtig angesehen werden.“ Staatliche und auch im eigenen Zuständigkeitsbereich erlassene verbandsinterne nationale und internationale gesetzliche Regelungen, wie z.B. die über den zu einer Olympiateilnahme früher allein berechtigenden Amateurstatus, der damals eine Teilnahme der Sportler-Millionäre und anderer Profisportler ausschloss, müssen den sich wandelnden Vorstellungen von »Recht« und »Gerechtigkeit« ständig angepasst werden, aber sie müssen dabei »gerecht« bleiben. Die Erfahrungen der Zeit von 1933 bis 1945 haben auf jeden Fall uns Deutsche eindringlich darüber belehrt, dass mit einem teils sklavischen Respekt vor dem Gesetz ein äußerstes Maß an Rechtlosigkeit verbunden sein kann. Doch nur ein »gerechtes Gesetz« ist Teil des »Rechts« in unserem Sinne. Und um auf Olympia zurückzukommen: Wieso durften vor der Abschaffung des Amateurstatus die als Amateure kaschierten Staatsamateure des Ostblocks starten, die mit ihrem Sport ihren Lebensunterhalt

421

verdienten, und die Profi-Sportler des Westens, die das gleiche unkaschiert taten, nicht? Diese Farce wurde irgendwann nicht mehr als gerecht empfunden und darum beendet . Bei der Anpassung von »Recht« und »Gerechtigkeit« an die sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse sind insbesondere zu enge Moralvorstellungen immer eine Fessel gewesen. Bei den Puritanern Neu-Englands war z.B. im 18. Jahrhundert ein Kapitän aus Boston zu zwei Stunden "Sitzen im Stock" verurteilt worden, weil er sich unzüchtig verhalten habe: Der Kapitän hatte seine Frau, als er gerade von einer dreijährigen Seereise zurückkehrte, auf den Treppenstufen vor seiner Haustür öffentlich und zudem am Sabbat geküßt. Und diese wegen dieses verklemmt so beurteilten Delikts verhängte Ehrenstrafe des Sitzens im Stock wurde gegen einen Kapitän eines Großseglers verhängt, der zur damaligen Zeit auf seinem Schiff nächst zu Gott war, wo kein anderes menschliches Gesetz auf dem Schiff galt als allein sein Wille! Über solche Vorstellungen und Befangenheiten aus vergangenen Jahrhunderten sind wir es gewohnt zu lächeln. Wir lächeln vielleicht auch noch über das puritanische Amerika, in dem sich 1997 die einzige AirForce-Kommandantin eines B-52-Bombers, die 24-jährige Pilotin Kelly Flinn, vor einem Kriegsgericht wegen „Ehebruchs und Befehlsverweigerung“ verantworten musste, weil sich die allein stehende Frau des „Verbrechens“ schuldig gemacht hatte, sich in einen verheirateten Football-Trainer zu verlieben, diese Liebe zu leben und sich nicht von diesem Mann zu trennen - was zusätzlich als Befehlsverweigerung angeklagt wurde. Beim US-Militär wird Ehebruch seit 200 Jahren als Verbrechen geführt – in der Bundeswehr bei „Eindringen in eine Kameradenehe“ nur als Dienstvergehen - und ist bisher nicht als Delikt gestrichen worden, obwohl im zivilen Leben Untreue selbst im puritanischen Amerika schon lange kein Vergehen mehr ist. Darüber lächeln wir nachsichtig. Wir sollten aber nachdenklich werden, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie unsere Strafgesetze vor der ersten Strafrechtsreform 1969 lauteten. Jetzt lesen wir unter § 172 StGB: "(weggefallen)". Bis 1969 war an dieser Stelle die Strafbarkeit des Ehebruchs geregelt gewesen. 1961 lautete die einschlägige Bestimmung: "Der Ehebruch wird, wenn wegen desselben die Ehe geschieden ist, an dem Ehegatten sowie dessen Mitschuldigem mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein." In dem zu derselben Zeit schon in der Diskussion befindlichen Entwurf für ein neugefasstes Strafgesetzbuch lautete der Reformvorschlag: "Wer seine Ehe oder eine fremde Ehe bricht, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder Strafhaft bestraft. Die Tat wird nur auf Antrag und nur dann verfolgt, wenn die Ehe wegen des Ehebruchs geschieden worden ist." Plötzlich eine verdoppelte(!) Strafdrohung als Rachemöglichkeit des verlassenen Ehepartners. In anderen Ländern galten zu dieser Zeit hinsichtlich des Ehebruchs andere Vorstellungen: In Italien war bis 1971 eine Scheidung praktisch unmöglich. Man wertete das Küssen im Kino und auf der Straße als strafrechtlich relevante Handlung. Der Ehebruch des Mannes war aber - im Gegensatz zu der strafrechtlichen Bestimmung in der Bundesrepublik, wie sie vorstehend zitiert worden ist - nur dann strafbar, wenn der Mann eine andere Frau mit in die eheliche Wohnung brachte oder wenn er sie völlig aushielt. In Frankreich galt die gleiche Regelung. In England konnte der Ehebruch zu erheblichen Schadensersatzforderungen des »betrogenen« Partners führen. Es gab jedoch keinen Ehebruchs-Paragraphen. Unter Umständen nahm sich aber ein geistliches Gericht des Falles an. In Texas galt die Tötung des ‘in flagranti' erwischten Liebhabers einer verheirateten Frau durch den betrogenen Ehemann von 1837 bis zur Aufhebung des Gesetzes 1974 als nicht strafbar. Wohlgemerkt: die Tötung des Liebhabers durch den gehörnten Ehemann, nicht anders herum: Liebhaber einen Monat im Schrank Nashville - Tödliches Ehedrama in Nashville (Tennessee). Ein Liebhaber hat etwa einen Monat lang im Kleiderschrank in einem von vier Schlafzimmern eines Einfamilienhauses gewohnt. Als der gehörnte Ehemann ihn plötzlich schnarchen hörte und schließlich entdeckte, drängte der Freund der Frau den Ehemann ins Badezimmer und erschlug ihn. ap (HH A 14.04.05)

422

Dagegen galt bei einigen Stämmen der Eskimos der "Ehebruch" der Frau des Gastgebers mit dem Gast als Zeichen besonderer Höflichkeit und Gastfreundschaft. Es war eine schwere Beleidigung des Ehemannes, wenn der dem Gast als Zeichen seiner besonderen Wertschätzung seine Frau anbot, und der Gast diese äußerste Geste der Gastfreundschaft ausschlug. Und bei uns galt zu der Zeit die zuvor zitierte Strafvorschrift, an deren Stelle jetzt nur noch steht: "(weggefallen)". Doch wie vieler Kämpfe auf politischer Ebene bedurfte es, bis diese Änderung durchgesetzt worden war! Die evangelische Kirche hatte schon fast ein Jahrzehnt vor der Abschaffung der Strafbarkeit des Ehebruchs in der Denkschrift einer Evangelischen Akademie gefordert: "Nach christlicher Auffassung ist es nicht Sache des irdischen Strafrichters, den Ehebrecher mit einer Strafe zu belegen." Das aber im Gesetzgebungsverfahren durchzusetzen, war noch ein ziemlicher Kraftakt. Ohne eine solche gesetzliche Änderung wären wir ein Volk von »Vorbestraften« geworden – als Beleg diene u.a. der Hinweis, dass mindestens ein Zehntel aller in einer Ehe geborenen Kinder „Kuckuckskinder“ sind -, und das Gesetz hätte die Bürger von dem entfremdet, was sie als regelungsbedürftiges »Recht« betrachteten. Darum mussten und müssen überholte Teile der Gesetze ständig korrigiert und unserem sich verändernden Rechtsbewusstsein angepasst werden. Erinnert sei ebenfalls an den »Kranzgeld«-Paragraphen § 1300 BGB.

2.8.25.2 »Wilde Ehe« als Beispiel für die Notwendigkeit rechtlicher Anpassung an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse »Wilde Ehe« als Beispiel für die Notwendig keit rechtlicher Anpassung an geänderte gesellschaft liche Verhältniss e

1954 urteilte der BGH noch: Wer einem verlobten Paar Gelegenheit zu gemeinsamer Übernachtung gibt, ist wegen Kuppelei zu bestrafen. Die Richter kannten den Satz von Augustinus nicht oder sie beherzigten ihn nicht: „Daraus, dass jedes Verbrechen eine Sünde ist, folgt noch nicht, dass jede Sünde ein Verbrechen ist.“ (Wobei man für die BGH-Beurteilung gemeinsames Nächtigen eines verlobten Paares als „Sünde“ einstufen musste.) Selbst 1968 erkannte der BGH noch als »Recht«: Der geschlechtliche Verkehr zwischen unverheirateten Paaren sei grundsätzlich sittenwidrig. Auf dieser Basis entschied noch 1974, also vor nur gerade eben 27 Jahren, das LG Köln: Das Zusammenleben in einem Konkubinat stelle eine Abkehr von der geltenden Rechts- und Gesellschaftsordnung dar. Diese Auffassung wird heutzutage noch von den regierenden Kommunisten in China vertreten: "Wann Liebe strafbar ist rtr Peking - China will noch in diesem Jahr das nicht-eheliche Zusammenleben unter Strafe stellen. ... sowie Eheschließungen, die `aus medizinischen Gründen' unzulässig seien. Unverheiratet zusammenlebende Paare sollen bis zu 170 Mark (rund vier Durchschnitts-Monatsgehälter) Geldstrafe zahlen und verpflichtet werden, sich zu trennen." (HH A 20.06.91) Trotz der vorzitierten höchstrichterlichen Unwert-Urteile lebten seit Abschaffung des Kuppeleiparagraphen dann aber immer mehr Paare unverheiratet zusammen. 2000 waren es in der Bundesrepublik ca. 2,1 Mill.; Tendenz weiter steigend. Dem stehen 19,5 Mill. Ehepaare gegenüber. 1998 waren ca. 60 % aller jungen kinderlosen Paare mit gemeinsamem Haushalt unverheiratet, rund 530.000 Paare mit Kindern lebten in nichtehelicher Lebensgemeinschaft. Bereits 1996 hatte jedes sechste Neugeborene Eltern ohne Trauschein. Zwischen 1970 und 1994 war ihr Anteil im Westen von 5,5 auf 12,4 % gestiegen, im Osten sogar von 13,3 auf 41,4 %. In den Großstädten hatte das für Konservative so eingestufte Lotterleben sogar noch beängstigender um sich gegriffen. Einem SPIEGEL-Bericht zufolge hatte 1996 in Hamburg jedes vierte, in Ostberlin gar jedes zweite Kind unverheiratete Eltern. Die Sünde machte aber auch vor der Provinz nicht Halt: Sogar die evangelische Pröpstin Gross-Ricker aus dem Kirchenkreis Flensburg hatte mit ihrem Lebenspartner 1995 unverheiratet ins Pastorat einziehen wollen - was erst der Schleswiger Bischof mit der Androhung disziplinarischer Maßnahmen wegen Amtspflichtverletzung unterband. Der Lebenspartner blieb offiziell so lange ‘draußen vor der Tür‘, bis die Dame ihn drei Jahre später 1998 - auf Grund einer göttlichen Eingebung oder der ihrer Kirchenoberen? - endlich heiratete. Auch die Rechtsprechung hat diesen Wandel in den gesellschaftlichen Wertvorstellungen inzwischen anerkannt, jedenfalls dann, wenn es für den Staat günstig ist. So urteilte das Bundessozialgericht 1989: "Leben Verlobte in einem eheähnlichen Verhältnis zusammen, so ist das Arbeitsamt verpflichtet, das Einkommen des Verlobten auf den Arbeitslosenanspruch der Frau anzurechnen." Als dabei allerdings erst noch zu klärende

423 Frage bleibt: Ab wann besteht ein – vor dem Staat verdecktes – eheähnliches Verhältnis, das zur Streichung stattlicher Zuwendungen berechtigen könnte? Da werden unangemeldete Hausbesuche gemacht, die dann zu Prozessen führen. „Rasierzeug pid Salzgitter – Eine zusätzliche Zahnbürste und Rasierzeug im Badezimmer einer Frau sind keine ausreichenden Beweise für eine eheliche Gemeinschaft. Das Verwaltungsgericht Braunschweig gab der Klage einer Mutter von drei Kindern statt, der die Sozialhilfe gestrichen worden war. Ihr Freund hat eine eigene Wohnung und wäscht dort auch seine Wäsche (Az.: 3 A 3148/96) (HH A 13.01.98) Wenn es aber für den Staat ungünstig ist, weil er (mehr) zahlen müsste, sieht er die »wilde Ehe« plötzlich als zu wild an: "Getrenntes Kindergeld afp Kassel - Nichteheliche Paare können ihre Kinder nicht ‘zusammenlegen', um so ein höheres Kindergeld zu bekommen. Das Bundessozialgericht in Kassel entschied, Kindergeld könne jeder nur für das leibliche Kind erhalten (Az.: 10 RKg 7/91)." (HH A 16.01.93) Insgesamt aber ein ungeheurer Wandel selbst in den Vorstellungen der obersten Richter darüber, was bezüglich des nichtehelichen Zusammenlebens von Partnern in der Gesellschaft akzeptiert und praktiziert wird und auch rechtlich möglich sei! 1993 erkannte der BGH dem Hinterbliebenen eines "Konkubinates" bezüglich der gemeinsam bewohnten Wohnung, deren Mietvertrag vermutlich nur von dem Verstorbenen abgeschlossen worden war, das gleiche Schutzrecht der automatischen Nachfolge als Mieter zu, wie es für Eheleute durch die §§ 569 a und b BGB geregelt ist. Daraufhin brachten Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen 1999 einen dementsprechenden Gesetzentwurf im Bundesrat ein. Inzwischen begann auch der Gesetzgeber teilweise aufzuwachen und die geänderten Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, denen zu Folge 10 % aller Paare in der Bundesrepublik in einer solchen losen Verbindung leben: "Wird die ‘wilde Ehe' der Ehe gleichgesetzt? HA Bonn - Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) will nach einem Bericht der Berliner Tageszeitung `B.Z.' neben der Ehe auch anderen Formen des Zusammenlebens wie der `wilden Ehe' Verfassungsrang einräumen. In einem Interview mit der `B.Z.' sprach sich die FDP-Politikerin dafür aus, den Artikel 6 des Grundgesetzes durch die Formulierung zu ergänzen: `Die staatliche Ordnung achtet auch andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften.' Die Familie sollte zwar ihren besonderen Stellenwert in der Verfassung behalten, doch müsse auch die erheblich geänderte gesellschaftliche Entwicklung berücksichtigt werden, argumentierte die Ministerin. Man müsse sehen, daß `neben der Ehe noch andere Formen des Zusammenlebens bestehen'. ... Die CSU kritisierte unterdessen das Vorhaben der Ministerin, nichteheliche Lebensgemeinschaften im Grundgesetz mit der Ehe gleichzusetzen. Wer nicht bereit sei, sich die aus einer Ehe ergebenden Verpflichtungen zu übernehmen, dürfe auch nicht die damit verbundenen Rechte genießen, sagte die CSU-Familienpolitikerin Ursula Männle. Die CSU-Politikerin räumte in diesem Zusammenhang jedoch ein, daß die rechtliche Benachteiligung nichtehelicher Kinder beseitigt werden müsse. So könne es nicht hingenommen werden, daß ein Vater sein nichteheliches Kind nur mit Erlaubnis der Mutter sehen könnte." (HH A 03.05.93) "Union lehnt Verfassungsrang für Ehen ohne Trauschein ab BONN, 3. Mai (dpa/AP). Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat für ihren Vorschlag, `wilde Ehen' verfassungsrechtlich zu schützen, scharfe Kritik aus der Union geerntet. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion seien die Ansichten der Ministerin `langsam eine Zumutung', sagte der CDU-Obmann im Rechtsausschuß, von Stetten, am Montag in Bonn. `An jedem Wochenende' mache die FDP-Politikerin `neue unausgegorene Vorschläge' zur Änderung von Gesetzen oder des Grundgesetzes. Die Unions-Fraktion werde einer Gleichstellungsnorm für nichteheliche Lebensgemeinschaften keinesfalls zustimmen. Die Ministerin solle sich `endlich an die Absprachen der Koalition halten und nicht ständig neue Unruhe schaffen'." (FAZ 04.05.94)

424

Wie bei erforderlichen gesetzgeberischen Reaktionen auf allgemein schon längst akzeptierte geänderte gesellschaftliche Verhältnisse nicht anders zu erwarten, sitzen da immer einige im Bremserhäuschen. Und welch ein ungeheurer juristischer Regelungsbedarf wegen der sich ständig ausdehnenden, Ende 1999 auf über 5,7 Millionen Paare angewachsenen Verbreitung dieser rechtlich in vielen Punkten ungesicherten Form des Zusammenlebens tut sich da auf - insbesondere dann, wenn die beiden Partner vielleicht Jahrzehnte zusammengelebt und Kinder großgezogen haben, sich dann irgendwann trennen und die Frau wegen der hauptsächlich von ihr geleisteten Erziehungsarbeit keine irgendwie geartete Versorgung hat und nur auf "Stütze" angewiesen ist! „Urteil über ‘wilde Ehe' dpa Mainz - Partner einer ‘wilden Ehe' haben beim Tod des Lebensgefährten keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente. Das entschied das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung wurde Revision beim Bundessozialgericht zugelassen (Az.: L 5 A 62/92)." (HH A 27.05.93) "Keine Witwenrente ap Kassel - Unverheiratete Frauen können nach dem Tode ihres Lebensgefährten keine Witwenrente aus der Sozialversicherung des Mannes beanspruchen. Das hat das Bundessozialgericht entschieden (Az.: 4 RA 18/93)." (HH A 30.05.94) Damit bleibt die Gesetzeslage und Rechtsprechung in Deutschland „hinter“ der in anderen Ländern zurück: Zum Beispiel in Mexiko erhält eine jahrelange Lebenspartnerin, wenn sie durch Zeugen ihr jahrelanges Zusammenleben mit dem Verstorbenen nachweisen kann, eine Witwenrente. Bei uns wird dagegen der glasklare Standpunkt vertreten: Wer die von ihm so gesehenen Nachteile einer Ehe vermeiden will und darum bewusst nicht heiratet, soll später auch nicht deren Vorteile einheimsen können. Das ist vielleicht wieder eine Auswirkung der Tropfen- oder Rosinentheorie des BGH: Nur wer den schlechten Tropfen in Kauf nimmt – und eine Ehe zu führen ist wahrlich nicht nur Zuckerschlecken(!) - , erhält auch den guten; oder: man soll sich nicht nur nach eigenem Gusto irgendwo die Rosinen herauspicken können! Dieser Standpunkt hat aber nach meiner Auffassung nur dann seine Berechtigung, wenn beide Partner einer ‘wilden Ehe‘ nicht heiraten und ihre relative Bindungslosigkeit als „Dinks“ (double income, no kids) genießen wollen. Was ist aber, wenn nur z.B. der Mann nicht heiraten will, die Frau aber, vor die Wahl gestellt: ‘wilde Ehe‘ oder Aufgabe der Beziehung, sich nicht von dem dickfelligen Partner trennen möchte und lieber mit dem trotz allem geliebten Scheusal weiterhin zusammenlebt, Kinder bekommt und sie großzieht, als sich von dem »Mistkerl« zu trennen? Sie leistet dann trotzdem die ganze häusliche und Erziehungsarbeit wie eine Ehefrau, ist nur hinterher in einen hoffentlich immer noch hübschen Körperteil gekniffen. Wollen wir nicht wenigstens diese gesamtgesellschaftliche Leistung auch einer unverheirateten Mutter finanziell angemessen würdigen? Untersuchen wir es exemplarisch, um die Notwendigkeit rechtlicher Anpassungen an gesellschaftliche Veränderungen an diesem Beispiel einmal tiefer gehend durchdacht zu haben: Wie ist die gesellschaftliche Interessenlage? Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich dann aus dieser Analyse? Deutschland braucht nach einer von der UNO für alle bedeutenden Industrieländer der Welt angestellten und Anfang des Jahres 2000 von deren Abteilung für Bevölkerungsfragen unter dem Titel: „Migration als Ersatz: Eine Lösung für zurückgehende und alternde Gesellschaften?“ publizierten Berechnung pro Jahr einen Einwanderungsüberschuss von mindestens 458.000 Menschen, um die Zahl der Erwerbstätigen langfristig auf dem Niveau von 1995 halten und so seine uns alle absichernden Sozialsysteme überhaupt aufrecht erhalten zu können, da es in der Bundesrepublik auf Grund der langfristigen Bevölkerungsentwicklung - wie in den anderen untersuchten Industriestaaten - zu wenige im Arbeitsprozess Stehende geben wird, die zu viele Rentner versorgen müssen! Nach einer pessimistischen Berechnung würde, wenn der heutige Trend weitergerechnet wird, die Bevölkerung der Bundesrepublik unter zwischenzeitlicher erschreckender Überalterung der Gesellschaft von zurzeit 82 Mill. bis zum Ende dieses jetzt begonnenen Jahrhunderts auf 25 Mill. zurückgehen, ach was: zurück galoppieren! Dabei wird nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes um das Jahr 2040 die Zahl der Rentner die Zahl der Arbeitsfähigen übersteigen: Wie soll dann noch die Renten finanziert werden? Eine andere der neuesten Berechnungen lautet: Wenn vom Jahre 2000 an bis zum Jahre 2050 pro Jahr nur 200.000 Ausländer mehr in die Bundesrepublik neu zuziehen würden, als Deutsche aus- und Ausländer wieder abwandern, nähme die Bevölkerung in diesem Zeitraum trotzdem um 10 Mill. ab! Das wäre an sich nichts Schlimmes. Die Bundesrepublik ist ein Industrieland mit einer sehr hohen Bevölkerungsdichte, eine der

425

höchsten in Europa. Man vergleiche z.B. Größe und Bevölkerung von Frankreich mit der der Bundesrepublik, deren Bevölkerungsdichte mit ca. 231 Einwohnern/km2 in etwa gleich groß ist wie die von Großbritannien (239 Einwohnern/km2), aber mehr als doppelt so groß wie die von Frankreich mit ca. 107 Einwohnern/km2. Da wären dann in der Bundesrepublik 10 Mill. Einwohner weniger mit ihrem geringeren Wasser- und Energiebedarf, ihrer geringeren Schadstoffemission usw. eine spürbare Entlastung für die Umwelt! Das Herz des Umweltpolitikers finge an zu jubeln – wenn es nicht zu alt würde. Denn die Sozialpolitiker sehen die Vergreisung der Bevölkerung in der Bundesrepublik, in ganz Europa und in allen anderen bedeutenden Industriestaaten, wie z.B. in den USA, Kanada, Japan und Australien, die wie die Staaten Europas ebenfalls in die UNO-Berechnung der Bevölkerungsentwicklung mit aufgenommen worden waren. Und aus solchen Berechnungen ergeben sich erschreckende Zahlen, die schon seit der Mitte der 60er Jahre in ihrer Tendenz bekannt sind und die seit der Mitte der 80er Jahre zu wirken beginnen – auch wenn die konservative Regierung der CDU sie bis zu ihrer Ablösung 1998 nicht hatte zur Kenntnis nehmen und nicht in aktive Politik hatte umsetzen wollen. „Eins ist sicher: Die Renten sind sicher“ und „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland!“, hieß es von »rechts«. Man wollte keinen weiteren Zuzug von Ausländern, und Bayerns jetziger Ministerpräsident Stoiber fürchtete als Innenminister seines Landes eine „Durchrassung der Gesellschaft“. Mit dieser sehr stark an NS-Jargon unseligen Angedenkens – „Erst werden Bücher verbrannt, dann Menschen“ - anmutenden Äußerung belegt er einen Spitzenplatz auf der nach unten offenen Peinlichkeitsskala demokratischer Politiker! Die UNO-Zahlen besagen dagegen, dass auf Grund der ungünstigen Struktur der kopflastigen deutschen Bevölkerungspyramide mit sehr schmaler Basis ohne einen Zuwanderungsgewinn von 458.000 Ausländern jährlich(!) in der Bundesrepublik der arbeitende Teil der Bevölkerung in den nächsten dreißig Jahren erst mit frühestens 73 Jahren in die Rente gehen könnte, wenn nicht unsere sozialen Sicherungssysteme zusammenbrechen sollen. (Man nehme die größte Berufsgruppe derjenigen, deren Nervenkostüm - durch den psychischen Stress der Massierung unerzogener Kinder - beruflich am ehesten zerschlissen wird, wo folglich Frühpensionierungen aus diesem Grund unabweisbar am dringlichsten sind: diejenige der Lehrer, und stelle sich 72-jährige Sportlehrer vor, die ihren 13-18-jährigen Schülern Sportunterricht erteilen und ihnen vielleicht auch noch etwas vormachend demonstrieren sollen!) Bei einem geringeren Einwanderungsüberschuss als von 458.000(!) Ausländern jährlich(!) - der z.B. wegen der fast gleich hohen Abwanderung von Ausländern zurück nach Bosnien oder in die USA gegenüber dem Zuzug im Jahre 1999 nur ca. 28.000 Personen betrug - müsste die Renten- oder Pensionsgrenze sogar auf 77 Jahre angehoben werden! Diese Zahlen 73 oder 77 errechnen sich u.a. dadurch, dass die Menschen immer länger leben und daher immer länger versorgt werden müssten, wenn sie weiterhin mit spätestens 65 Jahren Altersruhegeld beziehen würden. (Der Mittelwert des Beginns des Rentenbezuges liegt aber z.Zt. bei nur noch ca. 59 Jahren und nicht mehr bei 65 für Männer und früher 60, dann 63 für Frauen!) 1960 nahm ein Rentner seine Alterssicherung im Mittelwert 10 Jahre lang in Anspruch, heute sind es - wieder im Mittelwert – schon 16 Jahre. Die Rentenbezugsdauer ist somit in den letzten 40 Jahren um 60 % angestiegen! Tendenz weiterhin steigend! Eine anschauliche Zahl, die die Dramatik der Altersentwicklung verdeutlicht, wurde von einer MdB der Grünen in einem Rundfunkinterview des Deutschlandfunks genannt: Die Hälfte der Mädchen, die ab dem Jahr 2000 geboren werden, werde über 100 Jahre alt werden. Der Mittelwert der Lebenserwartung des weiblichen Teils der bundesrepublikanischen Bevölkerung stieg innerhalb eines Jahrhunderts um 14 Jahre; der männliche Teil hat eine nicht ganz so hohe Zuwachsrate aufzuweisen. Auch hier also: Tendenz weiterhin steigend! Und die „Grufties“ kann man ja nicht um ein „sozialverträgliches Frühableben“ (so der ehemalige Ärztekammerpräsident Vilmar mit seinem Unwort des Jahres 1998) bitten, obwohl jetzt schon zwei Drittel aller mehr als 11.000 Selbsttötungen pro Jahr1 von verzweifelten Älteren vorgenommen werden, denen ihr Alter und ihre damit oft verbundenen Krankheiten und die Einsamkeit so unerträglich werden, dass sie sich mit eigener Hand von diesem Leidensdruck erlösen. Obwohl die Suizidrate seit 1982 bis 2004 um rund 40 % gefallen war, wird sie mit der prozentualen Zunahme der Älteren und damit der Suizidgefährdeten in einer vergreisenden Gesellschaft wieder ansteigen. Wegen der explodierenden Kosten im Gesundheitswesen, eine Entwicklung, die durch die Überalterung der Gesellschaft weiter verschärft werden wird, schlagen Wissenschaftler wie der Wirtschaftsprofessor Breyer und der katholischen Theologe Wiemeyer, Berater der Deutschen Bischofskonferenz, vor, bei teuren Therapien wie Dialysebehandlungen, Herz- und Krebserkrankungen und der Versorgung mit künstlichen Gelenken die Einführung einer Altersbegrenzung von 1

2001 haben sich mindestens 11.156 Menschen aus – meist reaktiver - Depression wegen auswegloser Lage, Einsamkeit, ..., oder aus anderen psychischen Erkrankungen, aus Suchtmittelabhängigkeit, Alter und weiteren Gründen das Leben genommen: 8.188 Männer und 2.968 Frauen. Die Zahl liegt vermutlich noch höher, denn die wahre Todesursache Suizid wird auf Bitten der Angehörigen auch manchmal vertuscht. Somit stirbt in der Bundesrepublik statistisch mindestens alle 47 Minuten ein Mensch durch Suizid. Die Zahl der Suizidversuche ist sieben- bis achtmal so hoch.

426 75 Jahren vorzunehmen. Es müssten in Zeiten knapper werdender Ressourcen „vor allen Dingen medizinische Leistungen für Jüngere bereitgestellt werden, aber nicht jede lebensverlängernde Maßnahme für sehr alte Leute“ durchgeführt werden (HH A 02.06.03). Das wäre kein Verstoß gegen das in Art. 2 II 1 GG postulierte Recht auf körperliche Unversehrtheit, denn körperliche Unversehrtheit im Sinne des Art. 2 II GG bedeute laut einer Entscheidung des OLG Saarbrücken von 1964 „Freisein von Unfruchtbarkeit, Freisein von Schmerzen, Freisein von Verunstaltungen und Freisein von Verletzungen der körperlichen Gesundheit“, aber das Recht auf körperliche Unversehrtheit bedeutet kein Recht auf Gesundheit: Wie sollte der Staat die auch garantieren? Man kann der Problemlage der sich zwangsläufig einstellenden Altersgebrechen jedoch nicht nach dem Motto: „Sterbehilfe statt Rente und Krankenversorgung!“ in Sterbeheimen abhelfen; selbst dann nicht, wenn die Alten, denen ihr Alter nur noch zur Last wird, krankheits- und altersverfallsbedingt selber den Wunsch äußern sollten, sterben zu wollen, was ihnen unter bestimmten Voraussetzungen, wie z.B. einem unabwendbar zum Tode hin verlaufenden Krankheitsprozess, in den Niederlanden als staatlicherseits nicht verfolgte Straftat ermöglicht wird. Das andere äußerst wichtige Faktum - neben dem in seinen gesellschaftlichen Konsequenzen dargelegten Alterungsprozess - der bundesrepublikanischen Bevölkerungsentwicklung ist das dramatische Geburtendefizit: Die »Reproduktionsrate« der Frauen betrug in Deutschland Anfang des neuen Jahrtausends 1,3 Kinder. Die BRD steht damit weltweit betrachtet bezüglich ihrer Bevölkerungsentwicklung an der 181. Stelle von 191 Staaten. So rückläufig ist die demographische Entwicklung! Die »Reproduktionsrate« müsste aber bei 2,5 Kindern pro Frau liegen, um nur den Stand der Bevölkerung zu halten! (Nicht ganz so dramatisch ausfallende Berechnungen fußen auf den Werten 1,4 zu 2,1 Kinder pro Frau. Damit würde das Problem zwar ein wenig leichter, aber trotzdem keineswegs gelöst.) Durch diese äußerst niedrige durchschnittliche Geburtenrate pro Frau verschiebt sich das Generationenverhältnis dramatisch. Es wird äußerst alterslastig: In schon weniger als 20 Jahren wird nur noch jeder Sechste in Deutschland unter 20 Jahre alt sein, aber jeder Dritte über 60; heute ist es erst jeder Fünfte! Früher hatten mehr als zwei im Arbeitsprozess Stehende einen Rentner ernährt; sehr bald müsste ein Berufstätiger ein bis zwei Rentner ernähren. Heute stehen 100 Deutschen im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 59 Jahren 40 Rentner gegenüber. In 50 Jahren werden es mindestens doppelt so viele Rentner sein. Das ist dann in der bisherigen Form gar nicht mehr zu finanzieren! Die mathematische Konsequenz: Entweder werden die Renten halbiert, oder es müssten sich die Beiträge der Jüngeren zur Rentenversicherung verdoppeln. Und wovon sollten die dann leben und Kinder großziehen? Weder das eine noch das andere ist politisch umsetzbar. Die Jungen würden den Alten den »Generationenvertrag« 2 gemäß dem KultWerbespruch: „‘Mein Junge – mein Stolz – meine Altersversicherung!‘ ‘Pffft!‘“, aufkündigen. Die einzige Chance, die Folgen der absehbaren „Renten-Lawine“ etwas abzumildern, besteht in eigener Altersvorsorge durch z.B. Zahlungen in einen privaten Rentenfonds zur Sicherung einer Zusatzzahlung aus einem Kapitalstock für die eigene Rente. Das Schneebrett hängt schon oben am Berg. Man weiß auch schon ziemlich genau, wann es losbrechen wird. Unklar ist nur, wie gewaltig die Schneemassen zu Tal donnern werden: ob sie - von einem gewissen Prozentsatz Reicher abgesehen - uns alle begraben werden, oder in welchem Umfang sich noch Lawinensperren aufbauen lassen, indem z.B. Zahlungen für Eigenvorsorge durch staatliche Prämien so attraktiv gemacht werden, dass vermehrt privat vorgesorgt wird – oder indem Migranten in ausreichender Zahl nach Deutschland geholt werden, so dass der Anteil der arbeitenden Bevölkerung gegenüber den Rentnern nicht zu ungünstig wird. Und nicht nur das Rentensystem würde ohne eine ausreichende Zahl von Zuwanderern explodieren: Mit zunehmendem Alter stellen sich vermehrt Krankheiten ein. Es muss darum ein wachsender Betreuungsaufwand in Altenheimen und Krankenhäusern betrieben werden. Ohne entlastende Beiträge von bei uns arbeitenden jüngeren Zuwanderern würde unser Gesundheitssystem durch die Überalterung der Bevölkerung zu Tode stranguliert! Wer sollte sonst die notwendigen Kosten aufbringen – die in französischen Altersheimen nur ein 2

Nach den zwei von den Deutschen angezettelten und verlorenen Weltkriegen waren alle Rücklagenwerte der Rentenversicherungen vernichtet. Weil man nicht mehr auf Rücklagen zurückgreifen konnte, um nur überhaupt die Renten der gerade lebenden Rentner bezahlen zu können, wurde auf der Grundlage des Solidaritätsprinzips das Finanzierungsmodell des »Generationenvertrages« geschaffen: Die im Arbeitsprozess befindlichen Arbeitnehmer sparen durch Geldzahlungen an die Rentenkassen nicht ihre eigene Rente an, sondern sie finanzieren mit ihren monatlichen Beiträgen im Umlageverfahren den Unterhalt der zur Zeit ihrer Berufstätigkeit lebenden Rentner, sollten aber im Gegenzug darauf vertrauen dürfen, dass später dann, wenn sie ins Rentenalter kommen, die dann im Erwerbsleben Stehenden, ihre eigene Kinder-Generation also, die Beiträge für ihre Renten aufbringen werden. Das hörte sich im Ansatz gerecht an, denn die Kinder können ja auch die von den Steuern der Älteren geschaffenen Einrichtungen und Infrastrukturen wie Krankenkassen, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Straßen usw. nutzen. Nicht vorhergesehen wurde dabei aber in den ersten Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg das allmähliche, konstante Anwachsen des durchschnittlichen Lebensalters um bald zwei Monate pro Jahr und der dramatische Geburtenrückgang und damit der Ausfall künftiger Beitragszahler, der diese Rechnung zu einer »Milchmädchenrechnung« werden ließ!

427

Drittel betragen, bei uns aber dreifach so hoch sind und darum für die vielen Kleinrentenbezieher von der Sozialhilfe getragen werden müssen? Von welchem Geld sollen die von ausreichenden Steuereinnahmen abhängigen Sozialhilfen bezahlt werden, wenn nur noch so wenige Junge im Arbeitsprozess stehen? Weiterhin verbrauchen die Rentner als altersbedingten finanziellen Krankheitsbedarf wesentlich mehr Geld als ihrem Kassenbeitrag entspricht. (Darum wird bei Privatversicherungen schon in den jungen Jahren eines Mitglieds von einem Teil seiner Beiträge eine Altersrücklage gebildet, um den in späteren Jahren auftretenden finanziellen Mehrbedarf vorausschauend ansparen zu können. Aber die gesetzlichen Krankenkassen können nicht so kalkulieren. Die verließen sich auf eine gesunde Mischung der Altersgruppen innerhalb ihrer Mitgliederschaft und werden darum durch die Überalterung der Gesellschaft vor eine dramatische Herausforderung gestellt.) Wer soll den Fehlbetrag aufbringen? Er kann nur von den im Erwerbsleben stehenden gesunden jungen Menschen kommen. Darum brauchen wir jährlich bis zu 500.000 möglichst gut ausgebildete gesunde junge Menschen als Zuwanderer aus dem Ausland, um unseren Lebensstandard überhaupt halten zu können! Es würden ja nicht Rentner zuziehen, sondern Personen, die hier in den Arbeitsprozess eintreten wollen, die hier dann ihre Steuern zahlen und ihre Sozialbeiträge leisten, mit denen die Zahlungen an die deutschen Rentner finanziert und die Krankenkassenbeiträge im Lot gehalten werden müssen! Es war schon gesagt worden: Die bundesdeutsche Bevölkerung ist eine »sterbende Gesellschaft«. Die »Reproduktionsrate« unserer Frauen liegt nur noch bei 1,3 Kindern pro Frau; sie müsste aber bei 2,5 Kindern liegen, um den gegenwärtigen Stand auch nur zu halten. Die Deutschen sterben folglich aus. Vorher aber brechen unsere sozialen Sicherungssysteme der Kranken- und Rentenkassen zusammen, weil es nicht mehr genügend arbeitende Beitragszahler gibt, die Zahl der auf Leistungen aus diesen Kassen angewiesenen Alten aber zunimmt! Das ist das Fazit. Diese Zahlen und Fakten sind auch an Stammtischen nicht wegzudiskutieren; daher ja auch der Aufruf des bayrischen Ministerpräsidenten an die Deutschen, mehr Kinder zu zeugen; Fensterln als nicht nur süddeutsche Turnübung. „Privatradio will 1000 Babys Schwerin – Der Privatsender Antenne Mecklenburg-Vorpommern und ein Hotel wollen dem Bevölkerungsschwund im Land entgegenwirken: Sie luden junge Paare zur ’größten Liebesnacht aller Zeiten’ ein. Ziel: 1000 Babys. (ddp)“ (HH A 11.10.03) Statistisch führt aber nur ca. jede 500. Insemination zu einer Befruchtung3, und jede dritte Schwangerschaft zeitigt nicht das gewollte – oder nach bibbernder individueller gegenteiliger Sichtweise: befürchtete - Ergebnis. Die Veranstalter haben keine Ahnung von Biologie - aber wohl sehr viel von Marketing! Das hilft also auch nicht unbedingt. Nicht nur, dass sich solche auf Jahrzehnte angelegten langfristigen demographischen Trends nicht durch ein paar Kinder mehr in einem Jahr nach einem schönen Vorjahr mit vielen lauen Sommernächten oder einem goldenen Herbst umdrehen lassen würden. Es müssten ja zusätzlich zur jetzigen negativen Geburtenrate 50 Jahre lang pro Jahr 500.000 Kinder mehr als zurzeit geboren werden! Und das ist schon rein biologisch gar nicht möglich: Deutsche Urologen beklagen die in den letzten dreißig Jahren durch schädliche Umwelt- und andere Einflüsse dramatisch abgesunkene Spermiendichte in der Samenflüssigkeit deutscher Männer, die trotz durchaus lustvoll betriebenen Geschlechtsverkehrs eine Zeugung auf natürlichem Wege immer schwieriger und unwahrscheinlicher mache. Mühe allein genügt eben nicht! Es müsste verstärkt künstlich gezeugt werden. Schon jetzt ist mehr als jedes zehnte, manche Mediziner sprechen sogar schon von fast jedem fünften Paar, auf medizinische Hilfe angewiesen, um sich seinen Kinderwunsch überhaupt einmal erfüllen zu können. Daher die Cassandrarufe der deutschen Urologen: Die Deutschen – ein „sterbendes Volk“! Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnete 1999, dass selbst bei einem Zuwanderungsgewinn von 13,8 Mill. Ausländern bis zum Jahr 2050 die Zahl der Gesamtbevölkerung von zurzeit 82,3 Mill. auf 67,1 Mill. absacken werde, bei einem Zuzug von nur 7 Mill. in demselben Zeitraum auf dramatische 60,1 Mill. Wir hätten dann ein Viertel der Bevölkerung verloren, insbesondere das Viertel, das im Erwerbsleben stehen müsste, um das Überleben der Grufties zu finanzieren. Und daher der Zwang zu verstärkter Aufnahme von bis zu 500.000 Immigranten pro Jahr im ureigensten Interesse der Deutschen – auch der ausländerfeindlich gesinnten, denn auch die werden älter und wollen in ihrem Alter sozial abgesichert sein!

3

Baker, Robin: Sex im 21. Jahrhundert, 2000, S. 264

428 Der ehemalige Bundespostminister Schwarz-Schilling forderte am 14.03.01 in der SZ sogar: „Wir brauchen 800.000 Einwanderer jährlich“, und plädiert für ein neues Einwanderer- oder Ausländergesetz, das die Aufnahme von Einwanderern zur Grundtendenz erkläre und dann im Einzelfall regle, wer nicht aufgenommen werden soll. Also die völlige Umkehrung der bisher mit dem Ausländerrecht angestrebten Abschottungstendenzen! Wie er das den CDU- und insbesondere den CSU-Wählern an deren Stammtischen klarmachen will, hat er aber nicht erläutert. Und wo sollen die Neuankömmlinge alle wohnen? So viel preiswerten Wohnraum – die Zuwanderer erhalten ja meist nicht so gut bezahlte Jobs, dass sie davon teure Wohnungen anmieten könnten - in der Nähe von Arbeitsplätzen gibt es ja gar nicht! Von der (bisher kaum bis nicht ausreichend vorhandenen) Akzeptanz in der Bevölkerung abgesehen, kommt da noch ein ungeheuer vielschichtiges logistisches Problem auf uns zu: Die zuziehenden Ausländer im erwerbsfähigen Alter werden hier Familien gründen und Kinder zeugen. Das bedeutet z.B. Schulbauten »noch und nöcher« und zu besorgende Lehrer, die jetzt schon Mangelware geworden sind, weil die »Pensionierungswelle« anrollt; die sich die Bundesländer jetzt schon gegenseitig abjagen, um den Unterrichtsausfall in ihrem jeweiligen Land möglichst gering zu halten. Es gab schon einmal eine solche Lehrer-Mangelsituation um 1970, da wurden Lehrer im Ausland angeworben, um den Fehlbedarf hier zu mildern. Das wird dann zwangsläufig wieder so kommen! In dieser wegen ihrer uns alle betreffenden zukünftigen Dramatik etwas ausführlicher dargestellten gesamtgesellschaftlichen Problemsituation wollen wir es uns leisten, Frauen, die Kinder in „wilden Ehen“ großziehen und so den gesamtgesellschaftlichen Druck vermindern, nicht angemessen zu versorgen? Ist das fair? Können wir uns das überhaupt leisten, insbesondere wenn wir den Zustrom von Ausländern möglichst gering halten wollen, um gesellschaftliches Konfliktpotential möglichst niedrig zu halten - oder von denen gar nicht genügend kommen? Sollten dann nicht wenigstens Frauen aus »wilden Ehen« mit Erziehungsleistung in ihrer Altersversorgung für ihren gesamtgesellschaftlichen Beitrag von der Gesellschaft für diesen Beitrag angemessen versorgt werden, indem ihnen notfalls eine Witwenrente wie einer verwitweten Ehefrau gezahlt wird? Von dem Problem einer angemessenen Altersabsicherung losgelöst sind die rechtlichen Probleme zu lösen, die sich aus dem Zerbrechen einer »wilden Ehe« ergeben. "Wem gehört was, wenn die ‘wilde Ehe' zerbricht? Aus der Traum! Krachend fliegt die Tür ins Schloß. Nach sechs Jahren `wilder Ehe' der große Knall. Neben seelischen Blessuren bleiben für sie und ihn finanzielle und rechtliche Probleme. Nicht von ungefähr spielt das Thema `nichteheliche Lebensgemeinschaften' in der Rechtsprechung eine große Rolle. Bei den beiden in unserem Beispiel ist der Fall besonders kompliziert. Die Frau hatte auf dem Grundstück des Mannes mit ihrem Geld ein Haus errichtet. Im rechtlichen Sinne heißt das: Als wesentlicher Bestandteil des Grund und Bodens gehört das Haus ihm. Sie hat nach der Trennung keine Anrechte. Partner, die ohne Trauschein zusammenleben, sollten von vornherein Regelungen treffen, um bei Streitfällen gewappnet zu sein. Bevor Investitionen in Haus oder Grundstück des Lebensgefährten fließen, sollte rechtlich eindeutig festgelegt werden, wie diese Kosten im Fall des Auseinandergehens auszugleichen sind. `Sonst riskiert derjenige, der Geld und Arbeitskraft in das Hausgrundstück des anderen steckt, daß er leer ausgeht', ... . Das Landgericht Aachen zum Beispiel fand trotz intensiver Suche in einem solchen Trennungsfall keine Rechtsgrundlage für einen Ausgleich. Deshalb sollten unverheiratete Partner vor einer Bau- oder Renovierungsmaßnahme für die Sicherstellung eines eventuell auftretenden Ausgleichs sorgen. Möglichkeiten seien ein Schuldanerkenntnis oder ein Erbvertrag. Weiteres Beispiel: Eine Frau und ein Mann, nicht miteinander verheiratet, wollen ein Haus kaufen. Er verfügt über angespartes Geld, sie nicht. Sie ist jedoch ebenfalls berufstätig und hat ein festes Einkommen. Beide wollen Steuern sparen und beabsichtigen deshalb, die Immobilie je zur Hälfte zu erwerben. Die Darlehensverpflichtung unterschreiben beide gemeinsam bei der Bank. Was aber passiert im Fall einer Trennung? Dann wäre denkbar, daß sie in Zukunft helfen muß, den Schuldenberg abzutragen - ohne Zugriff auf Haus und Grundstück. Die ... empfiehlt deshalb in einem solchen Fall die Eintragung einer Eigentümer-Grundschuld, notarielle Festlegung eines Wohnrechts oder einen Partnerschaftsvertrag. Dieser sollte beim Notar getätigt werden, denn: Stillschweigend geschlossene Kooperationsverträge werden bei späteren gerichtlichen Auseinandersetzungen nur unter besonderen Umständen anerkannt." (HH A Pfingsten 1992)

429

Noch schlimmer für den zahlenden Partner wird es, wenn das Haus auf einem Grundstück der »NichtSchwiegereltern« gebaut wird, die das Grundstück dafür nur zur Verfügung gestellt haben, ohne es übertragen zu haben! Dann geht das Haus in das Eigentum des Grundstücksinhabers über. Bei einer Trennung der Lebenspartner besteht dann kein Anspruch gegen den nunmehrigen „Feind im eigenen Bett“. Die in dem Artikel angesprochenen Rechtsfragen lassen sich alle im Vornherein durch einen eventuell notariell abzuschließenden Vertrag klären, nur: man muss es aber auch wirklich vorher tun! Die rechtliche Anerkennung der neuen partnerschaftlichen Verbindung »wilde Ehe«/nichteheliche Lebensgemeinschaft und ihre (zum Teil erst angestrebte) ziemliche rechtliche Gleichstellung mit der herkömmlichen Ehe müsste dann auch noch weitere, sich auf die »nichtehelichen Familienangehörigen« erstreckende Konsequenzen haben, wie folgender Fall deutlich macht: "Mieturteil ddp Winsen - Die Tochter der Lebensgefährtin eines Vermieters ist keine Familienangehörige, zu deren Gunsten Eigenbedarf geltend gemacht werden kann. So ist eine entsprechende Kündigung eines Mietvertrages nicht statthaft (Amtsgericht Winsen/Luhe, Az.: 4 cC 14693). (HH A 10.11.94) Aber es tut sich etwas im neuen Nichtehelichen- und Kindschaftsrecht. Zum Beispiel erhalten jetzt auch unverheiratete Paare auf Antrag das gemeinsame Sorgerecht. Das ist zur Bewältigung vieler täglicher Situationen, aber u.a. auch für den Fall der Fälle notwendig, dass die Mutter stirbt und der Lebenspartner und Kindsvater die kleinen Kinder als »Restfamilie« weiterhin bei sich behalten will – ohne dass ihm ein Amtsvormund in alles rein redet; oder gar die kleinen Würmer in ein Heim steckt - so grausam haben sich bürokratische Amtsverwalter auch schon verhalten -, anstatt sie in ihrem Leid wenigstens beim Vater zu lassen. Früher war dieses Problem nur mit viel Schwierigkeiten über eine Adoption zu lösen, denn bis 1970 galt die dann ersatzlos gestrichene kuriose Fiktion4 in § 1589 II BGB a.F.: „1589 BGB (1) Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in grader Linie verwandt. ... (2) Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt.“ Nichteheliche »Seitensprung-Kinder« galten damit nach dem Tod ihrer »gefallenen Mutter« als Vollwaisen. Diese Fiktion war gegen jede erbbiologische Realität ins Gesetz aufgenommene worden, um dann, wenn sich schon der hinterbliebene Elternteil und die ehelichen Kinder in oft genug ausbrechenden Erbstreitigkeiten zerfleischten5 – „Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Kindern, oder haben Sie schon geerbt?“ -, die »Kegel« oder »Bastarde« als weitere Belastung aus den familiären Streitigkeiten heraus zu zwingen, oder diese »Früchte der unkeuschen Liebe«“ aus einer nach dem Tod des Erblassers möglicherweise entstehenden Erbengemeinschaft herauszuhalten. Nichteheliche Kinder wurden nach 1970 den ehelichen vom Grundsatz her gleichgestellt, erhielten aber dann doch nur einen (einschränkenden) Erbersatzanspruch, eine Geldforderung als Erbschaftsgläubiger an das hinterlassene Vermögen des Dahingeschiedenen, und (noch) kein dingliches Zugriffsrecht auf einen konkreten Erbgegenstand, z.B. ein schön gelegenes Haus, bis auch der Erbersatzanspruch weitere Jahre später zu Gunsten eines vollen, uneingeschränkten Erbanspruchs abgeschafft wurde.

4

Die Juristen kennen die Dreistufung: "Widerlegliche Vermutung", z.B. der im Strafprozess zunächst generell bestehenden, aber durch den Prozessablauf jederzeit widerlegbaren Unschuldsvermutung zu Gunsten jedes Angeklagten, oder § 4 II Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz: „Ein Kind, das in dem Gebiet eines Bundesstaates aufgefunden wird (Findelkind), gilt bis zum Beweis des Gegenteils als Kind eines Angehörigen dieses Bundesstaates.“ "unwiderlegliche Vermutung", z.B. der Schuldunfähigkeit der unlieben Kleinen, wie der Autocrash-Kinder unter 14 Jahren, und als Höchstleistung des Ignorierens von Realitäten die "Fiktion", bei der der Gesetzgeber weiß, dass er sich - teilweise gegen alle Naturgesetze - bewusst ins eigene Hemd lügt, er es aber aus ihm zum Zeitpunkt der Gesetzgebung übergeordnet erscheinenden Gesichtspunkten so will, um ein bestimmtes juristisch gewolltes Ergebnis zu erzielen. So hieß es bis 1970 in § 1589 BGB: „(1) Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in grader Linie verwandt. ... (2) Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt.“ 5 Spruch aus dem Alten Land: „So richtig hundsgemein können nur Verwandte (in Erbstreitigkeiten) sein!“ -

430

2.8.25.3 Rechtlich umkämpfte »Schwulen- und Lesben-Ehen« Rechtlich umkämpfte »Schwulenund LesbenEhen«

Ein weiterer Problemkreis, der wegen geänderten Wertebewusstseins zum Zwecke der Änderung des bisher gültigen Rechts bis zum BVerfG hochgetrieben worden ist, ist der Bereich der bis zum Spruch des BVerfGs rechtlich umkämpft gewesenen »Schwulen- und Lesben-Ehen«. Der Kandidat der CDU/CSU für die Position des Bundeskanzlers im Bundestagswahlkampf 2002, der bayrische Ministerpräsident Stoiber, ließ dazu einmal verlauten: „Wenn ich über die steuer- und erbrechtliche Anerkennung von homosexuellen Paaren diskutiere, dann kann ich gleich über Teufelsanbetung diskutieren!“ Doch machen wir uns zunächst mit der Vorgeschichte vertraut, bevor wir dem über Herrn Stoiber kolportierten Ausspruch unsere abschließende Aufmerksamkeit zuwenden: "Lebensbund besiegelt Kommt die amtlich registrierte Schwulen-Ehe? Länder wie Dänemark und die Niederlande gehen voran. ... Ivan Larsen, 43, Pfarrer der SanktStefan-Gemeinde in Kopenhagen, gehörte mit seinem Partner Ove Carlsen, 43 und Kinderpsychologe, zu den ersten, die sich an jenem historischen Sonntag im Hochzeitssaal des Kopenhagener Rathauses trauen ließen, zusammen mit den schon gemeinsam ergrauten Axel und Eigil Axgil und fünf weiteren Schwulenpaaren. `Wir hatten die gleichen Gründe wie jedes heterosexuelle Paar', erinnert sich Pfarrer Larsen an den gewichtigen Schritt, `wir wollten Sicherheit'. Registrierte Paare sind, so sieht es das Gesetz in Dänemark vor, im Erb- und Steuerrecht sowie im Falle einer Trennung traditionellen Ehepaaren gleichgestellt. Von Kritikern wird Dänemarks Homo-Ehe noch als `Ehe zweiter Klasse' eingestuft, denn nicht erlaubt ist die kirchliche Trauung, verwehrt bleibt es dem Paar auch, Kinder zu adoptieren6 und gemeinsam das Sorgerecht auszuüben. Aber Ivan Larsen ist optimistisch: `Wir werden diese Rechte auch noch bekommen, da bin ich absolut sicher.' Er wird weiterhin dafür eintreten: Sein Freund hat zwei Kinder aus erster Ehe, und im Falle des Todes der Mutter wollen sie die beiden zu sich nehmen. Eine erste Bilanz der dänischen Pioniere: Rund 700 gleichgeschlechtliche Paare - die meisten von ihnen Männer - haben sich im ersten Jahr registrieren lassen, erst zwei Paare ließen sich wieder scheiden. ... In den Parlamenten Schwedens und Norwegens werden entsprechende Vorlagen schon diskutiert. Auch der niederländische Justizminister ... versicherte unlängst im Parlament in Den Haag, daß seine Regierung die Möglichkeiten für eine `registrierte Partnerschaft' prüfen werde. ... Die Aussichten in Deutschland bleiben derweil mager. ... Schwulenpolitische Vorstöße der Grünen in der abgelaufenen Legislaturperiode hatte die Bundesregierung mit Arroganz gekontert. Da man `eine Akzeptanz auf diesem Gebiet verneint', so die Abfuhr, habe man `gar keine Veranlassung, hier im Deutschen Bundestag Anträge auf diesem Gebiet einzubringen'." (DER SPIEGEL 6/91) Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist in den Niederlanden dann 1998 – ab 2001 als „gleichgeschlechtliche Ehe“ sogar mit der Möglichkeit der Adoption von Kindern(!) - eingeführt worden. (Am 28.05.03 ist sogar eine Frau mit sich selbst getraut worden! Was das soll, weiß kein Mensch. Juristische Fragen, die sich dabei auftun sind u.a.: Was passiert, wen Meisje Hoes sich später einmal scheiden lassen will? 6

Die so eingeschränkte »Homo- und Lesbenehe« war am 01.10.89 in Dänemark als erstem Staat der Welt eingeführt worden. Seit Mai 99 sind auch die bis dahin verwehrten Adoptionen möglich. In Schweden sind eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaften seit 1995 erlaubt. Nicht erlaubt waren diesen Partnerschaften bis zum Jahr 2000 die Adoption von Kindern. Lesben dürfen sich – im Gegensatz zu allein stehenden Frauen?– nicht künstlich befruchten lassen, kirchliche Hochzeiten sind nicht erlaubt und gleichgeschlechtliche Partnerschaften können kein gemeinsames Sorgerecht für Kinder erhalten. In Frankreich können seit 1999 homo- wie heterosexuelle Paare durch den vor einem Richter zu schließenden Zivilpakt „Pacs“ eine Art „Ehe ohne Trauschein“ schließen In den Niederlanden sind seit September 00 homosexuelle Paare mit Aufenthaltserlaubnis den heterosexuellen vollkommen gleichgestellt. Bis 31.03.01 war ihnen nur eine „registrierte Partnerschaft“ gesetzlich ermöglicht worden. Ab 01.04.01 können sie eine „Ehe“ eingehen, kirchlich heiraten und Kinder adoptieren.

431

Wenn sie einen Mann kennen lernt und den heiratet: Ist das dann Bigamie? In solche juristischen Schwierigkeiten kommt man, wenn man von staatlicher Seite jeden noch so großen Quatsch mitmacht.) Ähnliche Statusverbesserungen für homosexuelle Partnerschaften wie zuvor in Dänemark und jetzt in Schweden brachte die damalige Bundestagspräsidentin Süssmuth auch bei uns in die Diskussion - und bezog dafür von ihren Partei-Christen ziemliche Prügel. Das Verhältnis zwischen ihren scharfen Kritikern und der damaligen Parlamentspräsidentin näherte sich dem, wie es sonst nur zwischen Dobermann und Einbrecher üblich ist! Es bewahrheitete sich wieder die Steigerungsformel aus dem politischen Bereich: "Feind Intimfeind - Parteifreund!", deren mildere Ausprägungen sich zunächst »nur« in persönlichen Abqualifizierungen ausleben, wie z.B. von einer FDP-Ministerin vor der Presse über einen FDP-Minister: „Der M. ist ein intrigantes Schwein“, oder zwischen CDU-Granden: „Der ist ein kleiner Geist und ein großes Arschloch!“, ohne dass vom »Parteifreund« gleich die Aufgabe des Amtes gefordert wird. Aber dafür hatte sich die Inhaberin eines der höchsten in der bundesrepublikanischen Demokratie zu vergebenden Staatsämter nach Meinung der CSU mit ihren Anfang der 90-er Jahre für die katholischen Konservativen zu weitgehenden Ansichten hinsichtlich zu tolerierender Homosexualität bei Politikern zu weit vorgewagt: "Heftige Kritik der CSU an Frau Süssmuth Bonn (ap). Der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Bötsch, hat Parlamentspräsidentin Rita Süssmuth vorgehalten, sie verprelle mit Äußerungen über Homosexuelle und das Asylrecht die Stammwähler der Union. ... Die Bundestagspräsidentin hatte ... dafür plädiert, homosexuellen Paaren Steuervorteile und beim Tod eines Partners Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung einzuräumen." (Allgäuer Zeitung 10.07.91) "Klaus Kirchleitner, oberbayrischer Bezirksvorsitzender der Jungen Union, hat den Rücktritt von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth gefordert. Als Begründung nannte er ihre `geschmacklosen Aussagen', auch homosexuellen Paaren Steuervorteile einräumen zu wollen." (Allgäuer Zeitung 12.07.91) "CSU-Gruppen laden Rita Süssmuth aus Streit um Homosexuelle München (lb). Aus Verärgerung über die jüngsten Äußerungen von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die sich für steuerliche Vorteile und den Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung für homosexuelle Paare ausgesprochen hatte, haben die Junge Union (JU) und die Frauen-Union München eine geplante Diskussionsveranstaltung mit der CDU-Politikerin abgesagt. JUBezirksvorsitzender Aribert Wolf erklärte, die Äußerungen lägen weit abseits von den Grundpositionen der CSU-Nachwuchsorganisationen. Die JU und die Frauen-Union wollen mit ihren Veranstaltungen Wähler gewinnen und nicht potentielle Unionswähler abschrecken. Süssmuth sei `in einem erschreckenden Maße' das Gespür für die Erwartungen breiter Wählerschichten an die Union abhanden gekommen, sagte Wolf." (Allgäuer Zeitung 23.07.91) "Stoiber verteidigt Ausladung Süssmuths Einladung von Jungen Liberalen München (dpa). Bayerns Innenminister Stoiber (CSU) hat die Ausladung der Bundestagspräsidentin Süssmuth (CDU) durch die oberbayrische Junge Union verteidigt. Ziel von Parteiveranstaltungen müsse die Werbung für die CSU und ihre politischen Konzepte sein, sagte der stellvertretende CSU-Chef Stoiber. Mit ihren Forderungen nach einer rechtlichen Gleichstellung homosexueller Verbindungen mit der Ehe von Mann und Frau habe Frau Süssmuth dafür gesorgt, daß die Einladung der CSU an sie `geradezu kontraproduktiv wirken müßte'. Die FDP-Nachwuchsorganisation Junge Liberale (Juli) hat demonstrativ Partei für die CDUPolitikerin ergriffen und Frau Süssmuth nach München eingeladen. Weiter will der FDP-Nachwuchs erreichen, daß der Arbeitskreis Homosexualität der Juli zu einer eigenständigen Gruppe innerhalb der Mutterpartei wird. Diese `wichtige Gesellschaftsgruppe in unserer Partei' könnte `Schwulis' genannt werden, schlug der oberbayrische Juli-Bezirksvorsitzende Schmidt vor." (Allgäuer Zeitung 25.07.91) Gleichzeitig ist die politisch-rechtlichen Entwicklung für Lesben und Schwule, auch in Deutschland eine irgendwie geartete Partnerschaft mit erhöhtem rechtlichen Status eingehen zu können, weitergegangen. Das Schutzbedürfnis dieser Personengruppen wurde – bis auf konservativ-katholische Kreise - anerkannt. Nach

432

Abschluss des diesbezüglichen langwierigen Reformvorhabens können nun auch bei uns ab dem 01.08.01 gleichgeschlechtliche Partnerschaften geschlossen werden, die in vielen – aber nicht allen – Punkten einer Ehe gleichgestellt wurden. Die CDU-geführten Länder Bayern, Sachsen und Thüringen hatten das Inkrafttreten des im Bundesrat nicht zustimmungspflichtigen Teiles des Reformvorhabens vor der Entscheidung in der Hauptsache durch einen Eilantrag an das BVerfG zu verhindern versucht, unterlagen aber dort mit diesem Antrag. Aus der Ablehnung des Eilantrages folgerten beobachtende Juristen messerscharf, dass das BVerfG letztlich – wenigstens mehrheitlich – ein irgendwie geartetes Schutzinteresse für die Verantwortungsgemeinschaft gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft akzeptieren werde, denn das BVerfG konnte nicht das Gesetz bis zur Verkündung in der Hauptsache in Kraft treten lassen, seine Auswirkungen hinsichtlich z.B. von zwischenzeitlichen Namensänderungen, Einbürgerungen, Erbfällen, Unterhaltsansprüchen usw. sehenden Auges in Kauf nehmen – und es dann nach eineinhalb Jahren mit seinem Spruch in der Hauptsache verwerfen. Richter, insbesondere Verfassungsrichter, haben die Folgen ihres Tuns zu bedenken, und dieser Verantwortung werden sie auch gerecht. Die bis zum Urteil in der Hauptsache, zu zwei Dritteln von Männern geschlossenen rund 4.000 (davon rund 500 binationalen) legalisierten Partnerschaften, ca. rund 1 % der Ehen, konnten darauf vertrauen, dass das BVerfG sie nicht im Regen stehen lassen werde. Doch bis zu diesem Zwischenergebnis im Vorverfahren und dem abschließenden Urteil in der Hauptsache war es ein langer Weg von der ehemals bestehenden Strafbarkeit des § 175 StGB Strafbarkeit der Homosexualität für Männer – aber keine Strafbarkeit für Homosexualität zwischen Frauen(!) - bis zur am 17.07.02 mit fünf gegen drei Richterstimmen entschiedenen rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, die – anders als im ersten Anlauf - keine „Ehen“ mehr sein sollen! Wenn man als Zweck einer heterosexuellen Ehe die Gründung einer Familie und die Aufzucht von späteren Rentenzahlern zur Einlösung des Generationenvertrages ansieht, dann ist kein Grund ersichtlich, warum homosexuelle Lebensgemeinschaften in allen Punkten den gleichen rechtlichen Status erhalten sollten wie die »Normal-Ehen«. Und so hat das BVerfG z.B. in BVerfGE 10/59(66) bisher Ehe und Familie verstanden: "Ehe ist auch für das Grundgesetz die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft, und Familie ist die umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen. Dieser Ordnungskern der Institute ist für das allgemeine Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein unantastbar." An diesen Überlegungen brauchte das BVerfG keine Korrektur anzubringen, da in dem Lebenspartnerschaftsgesetz für die in der öffentlichen Diskussion verkürzt so genannten "Lesben- und Schwulen-Ehen" der Ausdruck "Ehen" vermieden und statt dessen - wie z.B. in Dänemark - bei einer gleichgeschlechtlichen Verbindung von einer "registrierten Partnerschaft" gesprochen wird. Drei konservative Richter des BVerfGs verweigerten sich dem Reformgesetz. Die Richter aber, die über Wahlvorschläge von SPD, FDP und den Grünen in das Kollegialgericht gekommen waren, sahen das Lebenspartnerschaftsgesetz als verfassungskonform an. Wieder ein Beleg dafür, wie eminent wichtig die Zusammensetzung eines Richterkollegiums für ein Urteil sein kann! Die drei das Gesetz ablehnenden Richter der Ersten Kammer brachten in ihren Minderheitsvoten als Argumente vor: Der Wertevorrang, das (nicht näher definierte und willkürlich konstruierte) „Abstandsgebot“ zwischen Ehe und auf Kinder angelegten heterosexuellen Beziehungen einerseits und einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft andererseits sei nicht ausreichend gewahrt. Es seien keinerlei Grenzen mehr für eine substanzielle Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit der Ehe zu erkennen. Und außerdem sei eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft nicht auf Kinder hin angelegt und leiste daher keinen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft. Dieses letztere Argument zeigt aber nur die Realitätsblindheit der Berichterstatterin in diesem Verfahren, denn erstens kämpfen die Schwulen- und Lesbenverbände ja für die Möglichkeit einer Adoption, die – sehr zum Ärger der CSU(!), die mit einer Klage vor dem BVerfG verhindern will, dass es Adoptiveltern gibt, deren Lebensumstände „mit dem Leitbild des Grundgesetzes und der Rolle von Mutter und Vater nicht übereinstimmt“7 - homosexuellen Paaren seit 2005 unter der einschränkenden Bedingung der biologischen Teilelternschaft des homosexuellen Partners und der Zustimmung des anderen biologischen Elternteils als „Stiefkind-Adoption“ erlaubt ist, und zweitens haben in einer lesbischen Beziehung lebende Frauen – wie jede bewusst alleinstehende Frau auch, die sich zwar ihren Kinderwunsch erfüllen, sich aber keinen Mann dazu 7 SPIEGEL

25.04.05

433

zumuten möchte - die im Vergleich zu Schwulen relativ einfache Möglichkeit, sich mit der freundlich gespendeten Samenhilfe eines Mannes künstlich befruchten zu lassen. Das so gezeugte Kind hat dann eben eine „Mama“ und eine „Mami“. Des Weiteren gibt es schon längst lesbische Partnerschaften mit bis zu vier Kindern: Wenn Frauen aus für sie unerträglich gewordenen Ehen fliehen und sich nach der herben Enttäuschung wegen der rohen Männernatur nun in den weicheren Armen einer Partnerin wohlfühlen wollen: Sollen denen dann ihre aus der Ehehölle mitgenommenen Kinder weggenommen und in ein Heim gesteckt werden? Das realitätsblinde Argument der Richterin trägt also nicht! Weitere Kontrollüberlegung: Wie ist es, wenn heterosexuelle Partner heiraten, ohne - ungewollt - Kinder zu haben? Sollten sie dann nach Ablauf einer gewissen Frist des Zuwartens wegen Erfolglosigkeit zwangsweise in eine ungünstigere Steuerklasse eingeordnet und wieder Unverheirateten gleichgestellt werden? (Solche Überlegungen werden derart erwogen, dass für Ehepaare Steuererleichterungen erst dann wirksam werden sollen, wenn und nur so lange sie Kinder großziehen.) Und wenn man solchen Paaren mit ungewollter Kinderlosigkeit noch keine Statusverschlechterung zumuten will, wie soll es dann aber bei Paaren sein, die heiraten, ohne je Kinder haben zu wollen - wonach zu fragen bisher kein Standesbeamter angehalten ist und was sicher auch nie geschehen wird -, oder wenn heterosexuelle Partner heiraten, bei denen von vornherein feststeht, dass sie nie Kinder werden haben können, weil einer der Partner zeugungsunfähig ist - wonach bei Eingehung der Ehe wegen Art. 1 GG auch nie gefragt werden wird? Denen wird nicht die Möglichkeit einer Eheschließung versagt. Deren Heirat wird als rechtens angesehen – weil sie in ihrer sexuellen Präferenz heterosexuell ausgerichtet sind. Der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln. Aber mit dieser generellen Feststellung haben wir Steine statt Brot. Waren homosexuelle Lebensgemeinschaften nun den heterosexuellen gleichzusetzen und wenn ja: bis zu welchem Rahmen? In Teilen der USA hatte sich die Vorstellung darüber, was für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften rechtens sein solle, schon früh sehr weit fortentwickelt: "Gleiches Recht für homosexuelle Paare SAD San Francisco - Homosexuelle Paare sollen die gleichen Rechte haben wie heterosexuelle Ehepaare. Das sieht eine Verordnung San Franciscos für alle Angestellten der kalifornischen Stadt vor. ... Drei andere kalifornische Städte - Berkeley, Santa Cruz und West Hollywood - haben bereits noch weiterreichende Gleichstellungen für homosexuelle Verwaltungsangestellte beschlossen. Dort gelten auch die Krankengeld- und Pensionsregelungen für deren hinterbliebene Lebenspartner." (HH A 28.04.89) Die meisten amerikanischen gesellschaftlichen Entwicklungen kommen mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch auf den »alten« Kontinent und damit auch zu uns. Wir sind meistens schon vorgewarnt und hätten Zeit, uns über die absehbare Entwicklung rechtzeitig Gedanken zu machen, sie eventuell schon durch gesetzliche Regelungen frühzeitig zu kanalisieren. Diese Chance wird jedoch meistens nicht genutzt. Zwischenzeitlich wurde, ohne dass der Gesetzgeber bei uns zu einer umfassenden eigenen Meinungsbildung hinsichtlich einer besseren rechtlichen Absicherung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften gekommen war, der Teilbereich »Ehe« dieses Problemkreises von der Seite der Justiz her abschlägig geklärt, weil - neben anderen - die schrille Fernsehmoderatorin Hella von Sinnen - gleichgültig ob als PR-Gag und/oder als Ausdruck eines inneren Bedürfnisses - in dieser Richtung vorgeprescht war: "Heiraten erlaubt? Hella von Sinnen und Cornelia Scheel haben das Aufgebot bestellt HA Köln - Jetzt wollen sie allen Ernstes heiraten. Die Fernsehmoderatorin Hella von Sinnen (33) und Cornelia Scheel (28), Tochter des Altbundespräsidenten, haben das Aufgebot bestellt. `Wir beantragen die Bestellung des Aufgebotes und Festlegung eines Termins für die Trauung. Bitte teilen Sie uns mit, welche Unterlagen Sie benötigen', schrieb die Anwältin Maria Sabine Augstein (42), Tochter des `Spiegel'-Herausgebers, aus Tutzing am Starnberger See an das Standesamt Köln-Mitte. Ihre Mandantinnen sind seit eineinhalb Jahren befreundet. Frau Augstein sagte, daß sie das Eheschließungsrecht für Schwule und Lesben erstreiten wolle. `Es besteht eine klare Absprache, daß wir notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.' Es gehe um ein Nach- und

434

Umdenken. Vorbild ist das dänische Modell, nach dem gleichgeschlechtliche Paare eine `registrierte Partnerschaft' eingehen können. Der Schwulenverband Deutschland (SVB) in Frankfurt nahm die Heiratspläne des prominenten Paares zum Anlaß, den Bundestag zur `Öffnung der Ehe für homosexuelle Lebensgemeinschaften' aufzufordern: `Eine demokratische Gesellschaft muß das schwule und das lesbische U-Boot in den Ehehafen einlaufen lassen.' Dr. Peter Kusch (59), Leiter des Kölner Amtes für Personenstandswesen, sagte gestern: `Auf Grund der Rechtslage in Deutschland kann die Ehe nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden. Wir werden den Bescheid erteilen, daß die verlangte Amtshandlung abgelehnt wird. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles werden wir von Amts wegen eine etwaige Entscheidung des Amtsgerichts zugunsten der Antragstellerinnen mit allen Rechtsmitteln anfechten.' Hella und Cornelia müssen sich also auf einen langen Wege gefaßt machen. Sie träumen von einer romantischen Hochzeit mit kirchlichem Segen. Schützenhilfe erhalten sie von den SPD-Frauen, die auf ihrem Bundeskongreß in Berlin ... ein `uneingeschränktes Eherecht für gleichgeschlechtliche Paare' fordern wollen." (HH A 27.05.92) Interview mit der Rechtsanwältin Augstein im STERN vom 04.06.92: STERN: Ist Hella voll bei Sinnen oder will sie durch eine Ehe nur Steuern sparen? AUGSTEIN: Viele Heteropaare heiraten, um Steuern zu sparen. Hella von Sinnen und Cornelia Scheel wollen ihre Liebe besiegeln und heiraten - wie viele andere Liebespaare auch. STERN: Feministinnen lehnten die Ehe lange Zeit als patriarchalisches Machtinstrument ab. AUGSTEIN: Es ist eine Sache, sich bewußt gegen die Ehe zu entscheiden, und eine andere, mit einem Eheverbot konfrontiert zu sein. Die Lesben und Schwulen, die heiraten wollen, möchten dies selbst ausprobieren und ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie haben eine gute Chance, die einseitige Rollen- und Aufgabenverteilung der klassischen heterosexuellen Ehe zu vermeiden. STERN: Ehe und Familie stehen aber nur als gemischtes Doppel unter dem Schutz des Staates... AUGSTEIN: ... es gibt keinen vernünftigen Grund, Lesben und Schwule davon auszunehmen. Der Ehezweck Fortpflanzung ist in den Hintergrund getreten. Es gibt genügend Ehen ohne Kinder und Kinder ohne Ehen. STERN: Sie wollen notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Nun ist Heirat aber kein Grundrecht. Wieso eine Verfassungsbeschwerde? AUGSTEIN: Falsch! Heirat ist ein Grundrecht. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt Artikel 6, Absatz 1 des Grundgesetzes in ständiger Rechtsprechung ein Grundrecht auf Eheschließungsfreiheit, auf freien Zugang zur Ehe, auf freie Wahl der Ehepartnerin beziehungsweise des Partners. Ich habe also die Möglichkeit, wegen Verletzung des Grundrechtes aus Artikel 6 Verfassungsbeschwerde zu erheben. STERN: Sie selbst, Frau Augstein, sind lesbisch und leben mit einer Frau zusammen. Kämpfen Sie auch in eigener Sache? AUGSTEIN: Ich möchte ja ganz gerne heiraten, aber meine Frau möchte das nicht vor 50. Das wäre 1996, und wir wären dann 18 Jahre zusammen. Keine schlechte Probezeit vorm Heiraten oder?" "Heiratsverbot dpa Köln - Die Fernsehmoderatorin Hella von Sinnen (33) und ihre Freundin Cornelia Scheel (28) dürfen nicht heiraten. Köln hat den Antrag auf Bestellung des Aufgebotes abgelehnt. Das Paar will jetzt klagen." (HH A 17.06.92) "Abgeblitzt! Gericht: Sie dürfen nicht heiraten afp Köln - Im Mai hatten RTL-Moderatorin Hella von Sinnen (33) und Cornelia Scheel (29) das Aufgebot bestellt. Gestern ließ das Amtsgericht Köln die Hochzeitspläne von Deutschlands berühmtestem Lesbenpaar platzen. Begründung: Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern seien mit geltendem Recht nicht vereinbar. Rechtsanwältin Maria Augstein kündigte Beschwerde an, `notfalls ziehen wir bis vor das Bundesverfassungsgericht'. Es gebe zwar keine gesetzliche Definition der Ehe, räumte das Amtsgericht ein, jedoch habe der

435

Gesetzgeber mehrfach klargestellt, daß die Ehe nur als Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau verstanden werden könne. So habe auch das Bundesverfassungsgericht in einem früheren Fall entschieden. Die Showmasterin (`Alles Nichts, oder?') und die Tochter des früheren Bundespräsidenten Walter Scheel klagten, weil sich das Kölner Standesamt weigert, ihren ‘Heiratsantrag' zu bearbeiten." (HH A 17.11.92) In den angesprochenen Entscheidungen des BVerfGs 10/66 und 49/300 war die Ehe als "Vereinigung zwischen Mann und Frau zu einer grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft" angesehen worden. Es war abzuwarten gewesen, ob das BVerfG im Zuge der neuesten gesellschaftlichen Entwicklung zur Ermöglichung gleichgeschlechtlicher Partnerschaft seinen Ehebegriff erweitern oder beibehalten und dann bei »Lesben- und Schwulen-Ehen« nur von gleichgeschlechtlicher eheähnlicher »Partnerschaft« sprechen werde; das schien der wahrscheinlichere Fall zu sein. Selbst wenn das BVerfG »nur« eine »Ehe minderen Ranges« bejaht haben würde, so hätte es, an ausländischen Vorbildern orientiert, den Gesetzgeber darauf hinweisen können, den Schutz der Partner in einer auch rechtlich auf Dauer angelegten gleichgeschlechtlichen »Ehe« zumindest in Teilbereichen wie dem Erb- und eventuell sogar dem Versorgungsrecht - dem von Eheleuten anzugleichen. "Hella/Cornelia: Heirat abgelehnt ap Köln - Deutschlands prominentestes Liebespaar verlor auch in dritter Instanz: TV-Moderatorin Hella von Sinnen (34) und Cornelia Scheel (30), Tochter des früheren Bundespräsidenten Walter Scheel, dürfen nicht heiraten. Das Oberlandesgericht Köln entschied gestern: `Der Begriff Ehe meint die auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau.' Das Paar will jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht klagen." (HH A 25.08.93) Die Rechtsanwältin Sabine Augstein soll im Zuge des mit diesem für ihre Mandantinnen vorgebrachten "Heiratsbegehrens" erklärt haben, dass sie nicht nur lesbisch, sondern eine »Vom-Mann-zur-FrauTranssexuelle« sei. Sollte diese Meldung zutreffen, dann verbirgt sich dahinter ein schweres Schicksal mit vielen persönlichen Konflikten. Hätte sie ihr Geschlecht, wie es bisher ca. 7.000 andere in der Bundesrepublik auch getan haben, nicht nach den Möglichkeiten des »Transsexuellengesetzes« von 1981 (in ihrem Fall in das einer Frau) umwandeln lassen, so hätte sie ihre Freundin von den gesetzlichen Möglichkeiten her gesehen problemlos heiraten können. Nun muss sie für sich selber auf den Spruch des Bundesverfassungsgerichts warten, der eine eheähnliche Verbindung zweier Gleichgeschlechtlicher unter Beachtung des von interessierter Seite aus Art. 6 I GG interpretierten „Abstandsgebotes“ ermöglichen soll. Diese konservativ orientierten, meist katholischen Leute, die am liebsten keine rechtliche Regelung für andere Formen des Zusammenlebens neben der »Normal-Ehe« geregelt haben wollten, haben das „Abstandsgebot“ erfunden(!) und konstruieren ihr Argument folgendermaßen: Da Ehe (und Familie) nach dieser Verfassungsbestimmung getreu dem Wortlaut von Art. 6 I GG unter dem besonderen Schutz des Staates zu stehen habe, dürfe - angeblich - anderen Partnerbeziehungen nicht der gleiche Schutz gewährt werden. Es dürfe sich bei den anderen Partnerbeziehungen nur um Partnerschaften minderen Rechts handeln, deren rechtlicher Schutz nur mit substantiellem rechtlichen Abstand dem Schutz von Ehe und Familie angeglichen werden dürfe. Darum wird von den Gegnern dieser Regelung z.B. für die gesetzlich bisher so geregelte gleichgeschlechtliche Partnerschaft im Erbfall wenn überhaupt, dann nur der Pflichtteil zugestanden. (Nicht unbedingt zwingend ist für mich das für eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft so vorgesehene Recht - nicht die Pflicht - auf denselben Nachnamen, da ja auch Eheleute verschiedene Namen führen können!) Solche Argumentation, hier mit einem nachträglich erfundenen „Abstandsgebot“, mit den sich daraus ergebenden schwerwiegenden rechtlichen Konsequenzen, das ist Juristerei: „Und legt ihr nichts aus, so legt was unter ...“ Rabulistik, ideologiegesteuerte Rechtsverdrehung und ergebnisbemühte Haarspalterei, ist ein Teil des juristischen Handwerks. Aber wer könnte zwingend beweisen, dass aus der Formulierung „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“ eine rechtliche Besserstellung der »Normal-Ehe« gegenüber anderen partnerschaftlichen Lebensformen abgeleitet werden müsste? Die Formulierung könnte auch (bloß) dem Staat ein besonderes Wächteramt bezüglich des Wohlergehens von Ehe und Familie „Heidemörder klagt Das Hamburger Landgericht muss sich erneut mit Thomas Holst (38) auseinandersetzen. Der als Heidemörder bekannt gewordene Mann, einer der als nichttherapierbar geltenden Patienten des Maßregelvollzugs, klagt gegen das Klinikum Nord auf Vollzug seiner Ehe. Der dreifache Mörder will sich ohne Beobachtung mit seiner Ehefrau und damaligen Fluchthelferin treffen. Die Klinik

436 lehnte aus Sicherheitsgründen ab. Dagegen legte Holst Widerspruch ein. …“ (HH A 11.02.04) als „Keimzelle des Staates“ zur Aufzucht von Kindern auferlegen, ohne dass dabei andere Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens rechtlich diskriminiert werden müssten! Das aus religiöser Überzeugung vieler deutscher Katholiken (in insbesondere der CSU) gespeiste, willkürlich geschaffene „Abstandsgebot“, dass in Deutschland vertreten wird, ist aber für Katholiken anderer Länder nicht so zwingend. Dafür steht als Beispiel das (viel) katholisch(ere) Spanien: „Spanien stärkt Homosexuelle Madrid - Homosexuelle Paare sollen in Spanien künftig heiraten und Kinder adoptieren dürfen. Nach dem Gesetzentwurf der sozialistischen Regierung sollen sie heterosexuellen Paaren völlig gleichgestellt werden. Dpa“ (HH A. 01.10.04) Am 21.04.05 beschloss das spanische Parlament eine entsprechende gesetzliche Regelung, die homosexuellen Partnerschaften die Möglichkeit zur Fremd- oder „Volladoption“ eröffnet. Man könnte die unterschiedlichen partnerschaftlichen Lebensformen so weit rechtlich angleichen, wie es die Sache erfordert, ohne für die »Normal-Ehe« aus ideologischen Gründen eine Besserstellung zu verlangen. Für diese Sicht der Dinge spricht z.B. das historische Argument, dass 1948/49, als um die Formulierungen des GG gerungen wurde, der Parlamentarische Rat als Grundgesetzgeber u.a. wegen der Strafbarkeit homosexueller Betätigung unter Männern noch gar nicht an auf Dauer angelegte gleichgeschlechtliche Partnerschaften dachte, nun aber das BVerfG auf Grund der in der Gesellschaft gewandelten Rechtsauffassung vor der Frage stand, solche Partnerschaften zuzulassen. Bis 1973 war Homosexualität zwischen Männern – trotz des Gleichheitsgrundsatzes nicht aber zwischen Frauen – durch § 175 StGB mit erheblicher Strafe bedroht. Da hatte der Grundgesetzgeber gleichgeschlechtliche Partnerschaften noch gar nicht mitregeln wollen! Das ging über sein (damaliges) Vorstellungsvermögen hinaus! Das »Igitt-Gefühl« der Politiker ließ keine Überlegung in dieser Richtung aufkommen. Der Grundgesetzgeber kannte nur die »Onkel-Ehen«: Trotz der grundsätzlichen gesellschaftlichen Ablehnung solcher Lebensgemeinschaften gebildete und wegen der dahinter stehenden wirtschaftlichen Zwänge meist unter der Hand geduldete „wilde Ehen“, weil nach dem Krieg zwei Heteros, die sich liebten, bewusst dann nicht heirateten, wenn bei Heirat auf die Kriegerwitwenrente und den eigenen Versorgungsanspruch der Partnerin hätte verzichtet werden müssen. Solche Beziehungen sollten nicht unter dem besonderen Schutz des Staates stehen. Nach der zur Regelung verschiedener Rechtsfragen gebildeten, letztlich auf Billigkeitsgesichtspunkten beruhenden »Rosinen-Theorie« des BGH solle man sich nicht aus einzelnen Bereichen nur die Rosinen herauspicken dürfen. Kriegerwitwenrente plus besonderer Schutz des Staates sollte nicht sein, auch dann nicht, wenn aus der neuen Beziehung Kinder hervorgingen. Ähnlich die »Gute-Tropfen-Theorie«: Wer den guten Tropfen will, muss auch den damit verbundenen bitteren Tropfen akzeptieren. Alles Gute ist eben nicht beieinander. Nach diesem Gesichtspunkt wird auch heute noch entschieden, jedenfalls in niederrangigem Recht – und teilweise unter Berufung auf das Grundgesetz: „Pressemitteilung des Bundesfinanzhofs Nr. 16 vom 27. November 1997 Kosten für eine künstliche Befruchtung bei Empfängnisunfähigkeit der Ehefrau können steuerlich abziehbar sein Kosten für medizinische Maßnahmen, durch die eine Krankheit geheilt oder ihre Folgen gelindert werden sollen, sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) als außergewöhnliche Belastung nach § 33 des Einkommensteuergesetzes steuermindernd zu berücksichtigen. Dabei wird die Notwendigkeit und Angemessenheit der Behandlung, die von einem Arzt oder von einer sonstigen zur Ausübung der Heilkunde befugten Person vorgenommen oder verordnet wird, grundsätzlich unterstellt. Der BFH hatte jetzt die Frage zu entscheiden, ob auch Kosten einer homologen künstlichen Befruchtung, also eines ärztlichen Eingriffs, durch den bei einer Frau unter Verwendung von Sperma ihres Ehemannes mittels ärztlicher Kunst eine Schwangerschaft eingeleitet wird, eine außergewöhnliche Belastung darstellen können. Der BFH hat diese Frage in dem Urteil vom 18. Juni 1997 - III R 84/96 - bei einer aus biologischen Gründen empfängnisunfähigen Frau bejaht. Deren Aufwendungen seien steuerlich zu berücksichtigen, soweit die Kosten nicht von der Krankenkasse zu tragen sind. Denn die Empfängnisunfähigkeit einer verheirateten Frau stelle eine

437

Krankheit dar mit der Folge, auf natürlichem Wege nicht schwanger werden zu können. Diese Folge werde überwunden, indem eine Schwangerschaft durch künstliche Befruchtung eingeleitet wird. Eine solche künstliche Befruchtung, die einem Ehepaar zu einem gemeinsamen Kind verhelfen solle, erfülle daher die Merkmale einer Heilbehandlung im Sinne der Rechtsprechung des BFH zu § 33 Einkommensteuergesetz. Der BFH betont, dass diese steuerrechtliche Bewertung auch aufgrund des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (Schutz der Ehe) geboten sei. Der BFH hat die im Streitfall nicht entscheidungserhebliche Frage offen gelassen, ob auch die Kosten einer sog. heterologen Befruchtung (künstliche Befruchtung einer nicht verheirateten Frau oder Befruchtung unter Verwendung von Sperma eines anderen als des Ehemannes) als außergewöhnliche Belastung anzusehen wären.“ (Internet 2003) Soweit, so gut. Die Brisanz der vom BFH (zunächst) offen gelassenen Entscheidung bezüglich der steuerlichen Geltendmachung der Kosten einer künstlichen Befruchtung bei einer in nichtehelicher Partnerschaft lebenden Frau ergibt sich aus der untergerichtlichen Entscheidung des Finanzgerichts im »schwarzen« Münster: „Empfängnisunfähigkeit für unverheiratete Frau keine außergewöhnliche Belastung Eine unverheiratete empfängnisunfähige Frau kann die Kosten einer In-vitro-Fertilisation im Gegensatz zur verheirateten Frau in derselben Lage nicht steuerlich geltend machen 12 K 6611/01 E FINANZGERICHT MÜNSTER IM NAMEN DES VOLKES URTEIL vom 12. Senat In dem Rechtsstreit der Frau H, ... - Klägerin Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte ... gegen Finanzamt ... - vertreten durch den Vorsteher - Beklagter wegen Einkommensteuer 2000 hat der 12. Senat des Finanzgerichts Münster in der Sitzung vom 17. April 2003, an der teilgenommen haben: 1. Vizepräsident des Finanzgerichts ... 2. Richter am Finanzgericht ... 3. Richter am Finanzgericht ... 4. Ehrenamtliche Richterin ... 5. Ehrenamtlicher Richter ... auf Grund mündlicher Verhandlung für Recht erkannt: Die Klage wird abgewiesen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin. Die Revision wird zugelassen. Rechtsmittelbelehrung:

438

... G r ü n d e: Zu entscheiden ist, ob Aufwendungen für eine heterologe Befruchtung als außergewöhnliche Belastungen gem. § 33 Einkommensteuergesetz (EStG) bei der Einkommensteuerveranlagung zu berücksichtigen sind. Nach Angaben der Klägerin (Klin.) kennt sie ihren jetzigen Lebenspartner, mit dem sie nicht verheiratet ist, seit dem Jahr 1995. Seit dem Jahr 1996 wünschten sich beide ein gemeinsames Kind. Ab März 1997 lebten sie in einer eheähnlichen Gemeinschaft. Im November 1999 wurde die bisherige Ehe der Klin. geschieden. In den Jahren 1999 und 2000 unterzog sich die Klin. mehrerer ärztlicher Behandlungen, da sie auf natürlichem Wege kein Kind erlangen konnte. Diese Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung machte sie mit ihrer Einkommensteuererklärung für das Kalenderjahr 2000 als außergewöhnliche Belastungen gem. § 33 EstG geltend. Diesem Antrag entsprach das Finanzamt bei der Einkommensteuerveranlagung für das Kalenderjahr 2000 durch Bescheid vom 31.01.2001 nicht. Der hiergegen eingelegte Einspruch der Klin. blieb erfolglos. In der Einspruchsentscheidung des Finanzamtes vom 26.10.2001 ist im Wesentlichen ausgeführt, gem. § 33 Abs. 1 EStG werde die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwüchsen. Krankheitsbedingte Maßnahmen und die dadurch veranlassten Aufwendungen seien regelmäßig aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig, soweit sie entweder der Heilung dienten oder den Zweck verfolgten, die Krankheit erträglich zu machen und ihre Folgen zu lindern. Die Empfängnisunfähigkeit einer unverheirateten Frau sei keine Krankheit in diesem Sinne. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs setze eine Krankheit einen anormalen, regelwidrigen (körperlichen, geistigen oder seelischen) Zustand voraus. Der Begriff der Krankheit erschöpfe sich darin jedoch nicht. Ob eine Krankheit in diesem Sinne vorliege, hänge auch von der Auffassung der Gesellschaft und der jeweiligen Rechtskultur ab, die regelwidrige körperliche Zustände oder Erscheinungen in einer dem geschichtlichen Wandel unterworfenen Weise unterschiedlich bewerte. Die Empfängnisunfähigkeit einer verheirateten Frau sei nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Krankheit anzusehen, da sie diese an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit in der Ehe in erheblichem Umfang hindere. Die Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung einer unverheirateten empfängnisunfähigen Frau entstünden dagegen nicht zwangsläufig. Der Bundesfinanzhof stütze seine steuerrechtliche Bewertung der Empfängnisunfähigkeit einer verheirateten Frau auf Artikel 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Das Recht, Nachkommen zu gebären, gehöre zum Kernbereich des Grundrechtes der freien Entfaltung der Persönlichkeit und werde in erster Linie im Rahmen der Ehe verwirklicht, die durch Artikel 6 Abs. 1 GG dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung unterstellt sei. Während sich die verheiratete empfängnisunfähige Frau in einer durch die Ehe begründeten tatsächlichen Zwangslage befinde, sei dies bei einer unverheirateten Frau nicht der Fall, die freiwillig auf die unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes stehende Ehe verzichtet habe. Die Kinderlosigkeit unverheirateter Paare führe daher nicht zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit im steuerrechtlichen Sinne. Diese Auffassung werde gestützt durch die Tatsache, dass Maßnahmen einer künstlichen Befruchtung von den gesetzlichen Krankenkassen nur dann getragen würden, wenn die Personen, die diese Maßnahmen in Anspruch nehmen wollten, miteinander verheiratet seien. Da die Empfängnisunfähigkeit einer unverheirateten Frau steuerrechtlich nicht als Krankheit anzusehen sei, stellt die Maßnahme einer künstlichen Befruchtung keine Heilbehandlung dar. Die Aufwendungen seien der Klin. auch nicht aus anderen - psychischen Krankheitsgründen zwangsläufig erwachsen. Die Klin. habe ihre Behauptung, die konkrete psychische Erkrankung habe schon während der Sterilitätstherapie vorgelegen, nicht nachgewiesen. Gegen diese Einspruchsentscheidung hat die Klin. Klage erhoben. Hiermit macht sie weiterhin die Aufwendungen für die künstliche Befruchtung als außergewöhnliche Belastung gem. § 33 EStG geltend. Zur Begründung trägt sie vor, der Bundesfinanzhof habe in seiner bisherigen Rechtsprechung ausdrücklich offen gelassen, ob die Kosten einer heterologen Befruchtung als Krankheitskosten gem. § 33 EStG anzuerkennen seien. Dies hänge wesentlich davon ab, ob es sich bei der Klin. um eine medizinische Heilbehandlung gehandelt habe. Aus der dem Finanzamt vorgelegten ärztlichen Bescheinigung vom 13.03.2001 sei zu entnehmen, dass die Klin.

439

psychoorganische Probleme gehabt habe. Aus der weiteren ärztlichen Bescheinigung vom 15.11.2001 ergebe sich, dass die Klin. sich schon vor den Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung wegen einer psychovegetativen Dysregulation in ärztlicher Behandlung befunden habe. Deswegen sei ihr eine Behandlung im Wege einer künstlichen Befruchtung empfohlen worden. Die Kinderlosigkeit der Klin. habe zwar organische Ursachen. Mit den organischen Ursachen sei allerdings auch eine psychische behandlungsbedürftige Beeinträchtigung verbunden gewesen. Wegen dieser psychischen Beeinträchtigung habe keine andere Behandlungsmethode als die in InVitro-Fertilisation zur Verfügung gestanden. Die Ärztekammer Westfalen-Lippe habe dem entsprechenden Antrag der Klin. stattgegeben. Danach sei die medizinische Behandlung auch rechtlich zulässig gewesen. Die Klin. beantragt, die mit Bescheid vom 31.01.2001 festgesetzte Einkommensteuer 2000 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 26.10.2001 unter Berücksichtigung einer außergewöhnlichen Belastung für Kosten für eine In-Vitro-Fertilisation in Höhe von 14.132 DM neu festzusetzen, die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären, das Urteil hinsichtlich der Kostenentscheidung für vorläufig vollstreckbar zu erklären, hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.

Das Finanzamt beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen. Es ist der Auffassung, die Aufwendungen für eine künstliche Befruchtung stellten im Streitfall keine außergewöhnliche Belastung im Sinne des § 33 EStG dar. Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen seien nicht geeignet nachzuweisen, dass die erfolgte künstliche Befruchtung nicht der Erfüllung eines Kinderwunsches, sondern primär der Heilung einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung gedient habe. Darüber hinaus seien die geltend gemachten Aufwendungen teilweise im Streitjahr nicht abzugsfähig, da die Kosten der Klin. erst im Folgejahr 2001 entstanden seien. Dies betreffe die Rechnungen vom 08.05.2001 und 13.07.2001. Wegen der Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Einspruchsentscheidung und die Steuerakte verwiesen. Auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 17.04.2003 wird Bezug genommen. Die Klage ist nicht begründet. Bei den Aufwendungen der Klin. für eine heterologe Befruchtung handelt es sich nicht um außergewöhnliche Belastungen gem. § 33 EStG. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann, soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sind krankheitsbedingte Maßnahmen und die dadurch veranlassten Aufwendungen regelmäßig aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig, soweit sie entweder der Heilung dienen oder den Zweck verfolgen, die Krankheit erträglich zu machen und ihre Folgen zu lindern (vgl. BFH-Urteil vom 18.05.1999 III R 46/97, BStBl II 1999, 761 mit weiteren Hinweisen). Der Senat ist der Auffassung, dass die Klin. nach der zu § 33 EStG ergangenen Rechtsprechung krank ist, da sie auf natürlichem Wege kein Kind erlangen kann. Die Beantwortung der Frage, ob eine Person krank ist, kann nicht davon abhängen, welchen Familienstand sie hat. Nicht alle zur Beseitigung einer Krankheit entstandenen finanziellen Belastungen sind jedoch im Rahmen des § 33 EStG steuermindernd zu berücksichtigen. Dies ist vielmehr nur der Fall, wenn sie

440

dem Steuerpflichtigen aus einer Zwangslage heraus erwachsen sind, nicht jedoch, wenn sie auf einer freien Entschließung beruhen. Die Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit durch Kosten der Lebensführung darf nach dem Sinn und Zweck des § 33 EStG nur dann zu Lasten der Allgemeinheit steuermindernd berücksichtigt werden, wenn die Aufwendungen für den Steuerpflichtigen eine unabweisliche finanzielle Belastung darstellen (vgl. BFH-Urteil vom 18.05.1999 III R 46/97). In einer derartigen Zwangslage befindet sich nach Auffassung des Senates nur eine verheiratete Frau. Mit der Eheschließung hat sie sich auch für die Geburt von Kindern entschieden. In einer vergleichbaren Lage ist die unverheiratete Frau dagegen nicht. Sie hat bewusst auf den besonderen Schutz verzichtet, der Art. 6 Abs. 1 GG der Ehe gewährt. Dieses Ergebnis entspricht auch den Wertungen, die der Gesetzgeber auf anderen Rechtsgebieten getroffen hat. Nach § 27 a Sozialgesetzbuch V gehören Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nur bei Eheleuten zu den von den gesetzlichen Krankenkassen übernommenen Leistungen der Krankenbehandlung. Diese Regelung verletzt kein Verfassungs- und europäisches Gemeinschaftsrecht (vgl. BSG-Urteil vom 09.10.2001 B 1 KR 33/00 R, NJW 2002, 1517). Die Beihilfevorschriften NRW gewähren einer unverheirateten Beamtin keinen Anspruch auf Beihilfe zu den Aufwendungen für eine heterologe Befruchtung (vgl. OVG Münster, Urteil vom 13.01.1998 6 A 6006/96, NJW 1998, 3438). Gleiches gilt für die Beihilfevorschriften des Bundes. Die Aufwendungen der Klin. sind auch nicht als Krankheitskosten zur Behandlung einer anderenpsychischen - Erkrankung abzugsfähig. Die Klin. hat nicht nachgewiesen, dass ihre Ausgaben nicht der Erfüllung eines Kinderwunsches, sondern primär der Heilung einer seelischen Erkrankung dienten. Darüber hinaus stellt eine künstliche Befruchtung keine Heilbehandlung zu einer psychischen Erkrankung dar (vgl. BFH-Urteil vom 20.03.1987 III R 150/86, BStBl II 1987, 596 zur Adoption). Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 FGO zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Der BFH hat die hier zu entscheidende Frage in seinem Urteil vom 18.06.1997 III R 84/96, BStBl II 1997, 805 ausdrücklich offen gelassen. Vizepräsident des Finanzgerichts ... ist durch Urlaub an der Beifügung seiner Unterschrift gehindert ... ... ....“ (Internet 2003) Eine Entscheidung, die so nicht bleiben kann, wohl auch nicht bleiben wird: Das Finanzgericht Münster hat eine verheiratete Frau in einer Zwangslage gesehen: sie hätte sich durch die Heirat für Kinder entschieden; wenn sie auf normal-freudvollem Wege keine bekomme, dann müsse auf Kosten der Allgemeinheit nachgeholfen werden. Doch viele Paare heiraten allein aus steuerlichen, erbrechtlichen und sozialen (Angst vor Einsamkeit) Gründen, ohne Kinder haben zu wollen oder als ältere Ehepaare überhaupt noch haben zu können! Das Finanzgericht Münster hat aber nicht einmal den Ansatz einer Begründung für seine zum Ausdruck gebrachte Ideologie versucht, eine unverheiratete Frau hätte im Jahre 2003 kein Anrecht auf ein Kind, weil sie keinen Trauschein vorweisen könne. Eine solche Entscheidung entspricht nicht mehr dem allgemeinen heutigen Rechtsverständnis – höchstens konservativ-katholischem Rechtsverständnis im »schwarzen« Münster. Eine solche Entscheidung dürfte darum keinen Bestand haben! Sie ist auch gesamtgesellschaftlich kontraproduktiv! Und Richter müssten immer auch einen Blick auf die Folgen ihrer Entscheidung richten: Deutschland ist eine »sterbende Gesellschaft«, viele sich zukünftig noch verstärkenden Probleme unserer sozialen Sicherungssysteme sind durch die mangelnde Bereitschaft junger Paare - gleich welchen rechtlichen Status’ - zu Kindern entstanden. Die »Generationenvertrag« ist auch deswegen brüchig geworden, weil die mittlere Generation ihrer gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsverpflichtung aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in ausreichendem Maße nachgekommen ist, die Frauen im Mittelwert statt 2,6 Kindern nur noch 1,3 zur Welt bringen.

Wenden wir uns wieder dem Problemkreis der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und deren mehr oder minder weitgehenden rechtlichen Angleichung an die für die Ehe geltenden Regelungen zu, der Problemkreis,

441

der eingangs dieses Kapitels angesprochen worden war: Seit 1992 versuchten rund 250 gleichgeschlechtliche Paare an verschiedensten Orten der Bundesrepublik, im Rahmen einer "Aktion Standesamt" eine Eheerlaubnis zu erwirken. Bei der im juristischen Bereich oft herrschenden Uneinigkeit der Gerichte kein aussichtsloses Unterfangen. Fast überall wurde das Begehren aber abgelehnt. "Gericht bleibt bei Eheverbot für Männer Celle (lni). Menschen gleichen Geschlechts können in Deutschland keine Ehe eingehen. Daran ändern auch die Vorschriften des Ehegesetzes und des Personenstandsgesetzes nichts, die die Eheschließungsfreiheit garantieren. Das haben sich zwei Männer aus Hannover vom Oberlandesgericht Celle sagen lassen. Damit hat sich auch die dritte Gerichtsinstanz geweigert, einen Standesbeamten in Hannover anzuweisen, das Aufgebot der beiden Männer entgegenzunehmen (Aktenzeichen 18 W 11/93). Das Fehlen einer ausdrücklichen Mann-Frau-Regelung im Gesetz sei historisch zu erklären: Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner war stets selbstverständlich. Dieses Verständnis des Ehebegriffs liege auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde." (HH A 26.06.93) Anhand der Zeitungsmeldung "Bordell muß ausbilden" war gezeigt worden, dass nicht zweifelsfrei formulierte Gesetze interpretiert werden müssen, um zu einer sinnvollen Gesetzesanwendung zu gelangen. Diese Interpretationsnotwendigkeit kann z.B. dann eintreten, wenn der Gesetzgeber bei der Schaffung eines Gesetzes ein in diesem Zusammenhang regelungsbedürftiges Problem unbewusst übersehen hat. Dann gibt es zuvor auch immer noch den dem jeweiligen Problem vorgelagerten Streit, ob vielleicht ein so genanntes »beredtes Schweigen« des Gesetzgebers vorliege, er also das zu regelnde Problem als solches zwar erkannt habe, er aber ganz bewusst keine Regelung habe treffen, eben »beredt« habe schweigen wollen. Doch auch dann wären die Richter aufgerufen, eine sinnvolle Lösung zu finden. Ist das aber nicht der Fall, hat der Gesetzgeber nicht (eventuell durch Protokolle der Sitzungen des Rechtsausschusses des Bundestages nachweisbar) »beredt« geschwiegen, sondern das Problem ganz einfach übersehen, so muss interpretiert werden, welche Lösung als der Problemlage angemessen erachtet werden solle. Eine Interpretationsnotwendigkeit kann z.B. aber auch eintreten, wenn der Gesetzgeber ein Gesetz aus einem gewissen (undiskutierten weil für ihn fraglosen) Vorverständnis heraus formuliert hat. Das läuft dann meistens auf die schwächste Interpretationsmethode hinaus, die historische, die sich oft jeder Weiterentwicklung von vornherein verschließt und dann nach dem Muster abläuft: "1.) Das war schon immer so. 2.) Da könnte ja jeder kommen. 3.) Wenn das alle wollten." So, nämlich rein historisch, hat nicht nur der Gesetzgeber von vor 1896, als das BGB konzipiert und dann verkündet worden war, den Begriff »Ehe« verstanden, sondern auch der spätere Gesetzgeber, der das BGB diesbezüglich nicht geändert und mit dem gleichen Vorverständnis 1946 das Ehegesetz geschaffen hat. Diesem Vorverständnis hatte sich das BVerfG dann in seinen angesprochenen Entscheidungen offensichtlich angeschlossen. Nicht so - vielleicht mit Blick auf neuere gesellschaftliche Entwicklungen im Ausland - zwei Amtsrichterinnen und zwei Amtsrichter aus Frankfurt. Sie wiesen das Standesamt an, zwölf Männer und zwei Frauen zu trauen, weil diese Richter die Meinung vertreten, dass die »Ehe« gleichgeschlechtlicher Partner durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar und das traditionelle Verständnis von Ehe überholt sei. An dem »Kranzgeld-Paragraphen« § 1300 BGB hatten wir gesehen, wie das gehen kann, wenn ein als überholt angesehener Paragraph des einfachen Gesetzgebers durch von Richtern gesetztes Recht unter Berufung auf das im Grundgesetz kodifizierte höherrangige Verfassungsrecht abgeschafft wird, und wie das BVerfG auch entgegen der eindeutigen Gesetzeslage und der über 90 Jahre lang geübten Rechtspraxis bereit ist, so etwas mitzumachen: Der § 1300 BGB stand ja zunächst bis zur Neukonzipierung des Familienrechts noch weiter dort und gewährte für eine unbefangene, sich verlassen und (nachträglich!) nicht allein an der Seele geschädigt fühlende Gesetzbuch-Leserin, die nicht einen entsprechenden Aufsatz in einer anderen Zeitung/Zeitschrift oder einer juristischen Fachzeitschrift gelesen hatte, scheinbar immer noch einen Anspruch auf finanziellen Ausgleich für das im Vertrauen auf ein Heiratsversprechen lustvoll »geopferte« Jungfernhäutchen. Ein Blick ins Gesetz behebt eben nur manchen Zweifel - oder lässt einen manchmal verzweifeln. Genau so wie in dem Fall des für obsolet erklärten »Kranzgeld-Paragraphen« des BGB hätte das BVerfG in dem anstehenden Problem der »Schwulen- und Lesbenehe«, wenn es, wie von vornherein absehbar, in dieser

442

Sache angerufen werden würde, den bisherigen Ehebegriff revidieren oder die Klage wegen Unvereinbarkeit mit dem zurzeit gültigen Ehebegriff zwar abweisen, gleichwohl aber in einem »obiter dictum« (einer für die anstehende Entscheidung unerheblichen, aber gleichwohl für die zukünftige Rechtsentwicklung als richtungweisend gemeinten Nebenbemerkung) den Gesetzgeber auffordern können, den tradierten Ehebegriff um den einer als ebenfalls für schützenswert erklärten gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zu ergänzen, wenn diese durch rechtliche Absicherung auf Dauer angelegt würde. Doch beim BVerfG war die in Frankfurt angefangene Sache ja noch lange nicht. Das fing ja auch hier alles erst einmal ganz klein beim Amtsgericht an. Dort nahm auf der Ebene der Eingangsinstanz die Rechtssache dann aber gleich zu Anfang einen zunächst anderen Verlauf, als er aus den vorstehenden Zeitungsmeldungen der anderen Gerichtsbezirke ersichtlich geworden war. Die nachfolgend wiedergegebene Auffassung der Frankfurter Amtsrichterinnen und -richter muss man nicht, sollte man wohl auch nicht teilen - warum kann man nicht unter "Ehe" den tradierten Begriff einer Geschlechtsgemeinschaft von allein Mann und Frau verstehen und eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft unter "registrierte Partnerschaft" oder einem ähnlichen Begriff fassen? Aber eine andere Frage ist, inwieweit diese beiden Institutionen rechtlich gleichgestellt sein sollten. Wenn man berücksichtigt, dass Wissenschaftler nach intensiven Forschungen ein von ihnen lokalisiertes andersgeartetes Gen, das ausschließlich über die mütterliche Linie vererbt wird, für die Homosexualität verantwortlich machen, das bei den Schwestern Homosexueller zu überdurchschnittlicher Fruchtbarkeit führt8, dann muss man den betroffenen Homosexuellen – nach Schätzungen bis zu 5 % der Bevölkerung - wohl auch eine ihren biologischen Gegebenheiten angemessen Rechnung tragende Form einer legalisierten Partnerschaft mit besonderem rechtlichen Schutz zugestehen; gleichgültig, wie das »Kind« dann heißen soll. Wenn wir darum von dem Streit um die zu wählenden Begriffe einmal absehen, dann ist die juristische Argumentation der vier Frankfurter Amtsrichterinnen und -richter interessant, die sich an der damaligen Rechtslage mit ihrem Aufgebotserfordernis orientierte. Vermutlich wollten sie den Klagenden helfen, hatten keine Möglichkeit, den Gesetzgeber in die dementsprechende Spur zu setzen und drehten darum im Widerspruch zu den zu diesem Zeitpunkt schon vorliegenden höhergerichtlichen und höchstrichterlichen Entscheidungen am Begriff und Wortverständnis von »Ehe«. Leider sind juristische Ergebnisse (zu) oft beliebig. Darum sind sie für den Nichtbetroffenen meist zweitrangig. Interessant ist dann zunächst einmal allein die juristische Argumentation. Und nur sie interessiert hier unter der großen Fragestellung nach »Gesetz« und »Recht«. Mit dieser Argumentation hatten sich dann auch die nächsthöheren Instanzen in dieser Sache auseinander zu setzen: "In der Personenstandssache XX wird der Standesbeamte des Standesamtes Frankfurt am Main angewiesen, das Aufgebot mit dem Zwecke der Eheschließung zu erlassen. Gründe: Die Beteiligten sind Deutsche Staatsbürger. Sie wünschen, miteinander die Ehe zu schließen, und beantragten deshalb bei dem Standesbeamten in Frankfurt am Main am 26.08.1992 die Bestellung des Aufgebots. Der Standesbeamte lehnte den Erlaß des Aufgebots mit Bescheid vom 27.08.1992 ab. Mit Schriftsatz vom 02.09.1992 beantragten die Beteiligten beim Amtsgericht Frankfurt am Main, den Standesbeamten anzuweisen, für sie das Aufgebot zu erlassen und sie zu trauen. Der Standesbeamte wurde gehört. Er wendet sich unter Hinweis auf die Gleichgeschlechtlichkeit der Beteiligten gegen den Antrag. Die Beteiligten sind am 21.12.1992 persönlich gehört worden. Der Antrag ist zulässig. Das Amtsgericht Frankfurt am Main ist zur Entscheidung über die Sache berufen. Der Antrag ist auch begründet. Die verfassungskonforme Auslegung des Ehe/Personenstandsgesetzes gibt den Beteiligten einen Anspruch auf Aufgebotserlaß. Denn die Gleichgeschlechtlichkeit der Beteiligten steht dem begehrten Erlaß des Aufgebots und der beabsichtigten Eheschließung nicht entgegen. Eine Definition dessen, was unter einer Ehe zu verstehen ist, findet sich weder im Grundgesetz noch im Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Ehegesetz. Auch die von dem Standesbeamten geforderte Geschlechtsverschiedenheit ist im Rahmen der ehegesetzlichen Regelungen nicht als materielle Ehevoraussetzung aufgeführt. Das gleiche gilt für die gesetzlich geregelten Ehehindernisse, bzw. die Nichtigkeitsgründe. Auch hier findet sich kein Hinweis darauf, daß eine 8

SPIEGEL ONLINE 14.10.04 unter Verweis auf "Proceedings of the Royal Society: Biological Sciences"

443

Ehe von Partnern gleichen Geschlechts nicht eingegangen werden kann. Zwar wird bislang stets darauf verwiesen, dem Ehegesetz läge der Grundsatz der geschlechtsverschiedenen Ehe zugrunde. Auch wenn sich aus Art. 6 I Grundgesetz eine ausdrückliche Bestimmung des Begriffes der "Ehe" nicht entnehmen lasse, sei eine "Ehe" im Rechtssinne (nur) eine auf Herstellung der vollen Lebensgemeinschaft gerichtete Verbindung eines Mannes und einer Frau. Ohne weitere Begründung wird bei dieser Auslegung des Rechtsbegriffes "Ehe" an vorgefundene, überkommene Lebensformen angeknüpft. Diese durch Anknüpfung an die Tradition gewonnene Auslegung des Begriffes "Ehe" ist aber nicht haltbar, da sie gegen Artikel 2 I Grundgesetz (freie Entfaltung der Persönlichkeit), Artikel 3 III Grundgesetz (Gleichheitsgrundsatz) und Artikel 6 I Grundgesetz (Eheschließungsfreiheit) verstößt. Artikel 6 I Grundgesetz gewährleistet jedermann die Freiheit, eine Ehe mit einem selbstgewählten Partner einzugehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt die Eheschließungsfreiheit den innersten Bereich der Lebensgestaltung; `der Staat darf die Verwirklichung einer Lebensgemeinschaft nicht scheitern lassen, ohne daß dies durch ein anerkennenswert höheres Interesse gerechtfertigt ist. Gerade in diesem Bereich muß die Rechtsanwendung die Leitidee des Grundgesetzes im Auge behalten, daß der Mensch im Mittelpunkt der Wertordnung steht und die gesetzlichen Regeln nicht Selbstzweck sind.' Ein höherrangiges Interesse, welches es rechtfertigt, Partner einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft davon auszuschließen, diesen innersten Bereich ihres Lebens entsprechend ihren Wünschen und ihrer Veranlagung zu gestalten, ist jedoch - zumindest in der bisherigen Rechtsprechung und Literatur - nicht erkennbar. Die Bejahung eines Ehehindernisses "Gleichgeschlechtlichkeit" würde gleichgeschlechtlichen Menschen vielmehr ganz die Ehe verbieten, da sie auf Grund ihrer sexuellen Identität nicht fähig sind, eine solche mit einem Partner des anderen Geschlechts einzugehen. Der selbstgewählte Partner würde ihnen gerade verwehrt. Die traditionelle Auslegung des Begriffes "Ehe" verstößt zudem gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Artikel 3 III Grundgesetz, der eine Ungleichbehandlung unter Anknüpfung allein an das Geschlecht des Betroffenen verbietet. Hieraus entstehen für die Betroffenen eine Vielzahl von nicht hinnehmbaren Nachteilen (zum Beispiel im Unterhalts-, Erbund Zeugnisverweigerungsrecht). Daß dies von den Betroffenen auch als erhebliche Belastung und Benachteiligung empfunden wird, zeigt sich in dem Bemühen, eine familiäre Bindung über Umwege (Volljährigen-Adoptionsanträge) zu erreichen. Eine Ungleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen und ungleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften ist aber jedenfalls dann unzulässig, wenn sich ein `... sachlich einleuchtender Grund nicht finden läßt, wenn also für eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise die Regelung als willkürlich bezeichnet werden muß'. Allein der Rückgriff auf überkommene, anerkannte und von der Mehrheit der Gesellschaft moralisch gebilligte Lebensformen darf nicht zu einer Beschränkung der Eheschließungsfreiheit führen, da dies für sich genommen keinen sachlichen Grund darstellt. Eine Beschränkung der Eheschließungsfreiheit ist nur dann zulässig, wenn sachliche, verstandesmäßig faßbare Gründe das Eheverbot zu rechtfertigen vermögen. Sachliche Gründe sind hier nicht erkennbar; soweit die Rechtsprechung die Eheschließung von gleichgeschlechtlichen Partnern ablehnt, wird bislang ausschließlich auf das herkömmliche Verständnis der Ehe abgestellt. Gleichfalls verstößt die traditionelle Auslegung des Begriffs der Ehe gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Artikel 1 I, 2 I und II Grundgesetz), welches auch das Recht umfaßt, mit einem gleichgeschlechtlichen Partner in einer Lebensgemeinschaft zusammenzuleben. Dieses Grundrecht wäre sinnentleert, wenn ihm - außer im Bereich des Mietrechts - der rechtliche Schutz versagt bliebe. Im Gegensatz zu verschiedengeschlechtlich-unehelichen Lebensgemeinschaften obläge es bei Bejahung eines Ehehindernisses "Gleichgeschlechtlichkeit" eben nicht der Entscheidung gleichgeschlechtlicher Paare, ob sie in den Schutzbereich der Ehe eintreten oder nicht. Da die herkömmliche Auslegung des Begriffs der Ehe unter Anknüpfung an die christlichabendländische Tradition der Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau gegen Artikel 6 I, 3 III und 2 I Grundgesetz verstößt, ist dieser verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß das Recht der Eheschließung auch gleichgeschlechtlichen Partnern offensteht. Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Würzburg und des Landgerichts Osnabrück steht Artikel 20 III Grundgesetz dieser verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. Zwar ist zutreffend, daß gemäß Artikel 20 III Grundgesetz in Verbindung mit dem allgemeinen Demokratieprinzip aus Artikel 20 I Grundgesetz die grundlegenden Entscheidungen in grundrechtsrelevanten Bereichen dem

444

Parlamentsvorbehalt unterfallen, mithin vom Gesetzgeber selbst zu treffen [sind]. Auch ist zu beachten, daß die verfassungskonforme Auslegung eines Gesetzes nicht dazu führen darf, den Willen des Gesetzgebers zu verfälschen, der im Bereich des Ehegesetzes mit Bestimmtheit angesichts des damals noch existierenden Verbotes der homosexuellen Betätigung (§ 175 Strafgesetzbuch) nicht das Zusammenleben homosexueller Partner regeln wollte. Demgegenüber muß aber festgestellt werden, daß die Rechtspraxis in Wirklichkeit längst über die christlichabendländische Ehevorstellung hinausgegangen ist. So hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, daß auch eine Eheschließung zwischen einem Mann und einem männlichen Transsexuellen jedenfalls dann zulässig ist, wenn eine geschlechtsumwandelnde Operation durchgeführt wurde. Eine Ehe zwischen Mann und Frau in dem angeführten traditionellen Verständnis ist in diesen Fällen sicherlich nicht gegeben. So spricht auch das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung von einer "Eheschließung eines männlichen Transsexuellen mit einem Mann". Darf ein Mann eine Ehe mit einem männlichen Transsexuellen eingehen, so kann es aber unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Partner, die homosexuell veranlagt sind, nicht verwehrt werden, die Ehe miteinander einzugehen, da andernfalls allein der `normale' Geschlechtsverkehr, worauf das Bundesverfassungsgericht als Hilfsabwägung abstellt, das entscheidende Abgrenzungskriterium wäre. Es ist auch unerheblich, daß möglicherweise ein großer Teil der Bevölkerung die Eheschließung unter gleichgeschlechtlichen Partnern aus der Vorstellung heraus, dies sei sittlich zu mißbilligen, ablehnt. Solche rational nicht begründbaren Einstellungen können dem Abschluß einer Ehe nicht entgegenstehen. Der Standesbeamte war daher anzuweisen, das Aufgebot mit dem Zweck der Eheschließung zu erlassen. Frankfurt, 21.12.1992 Aktenzeichen 40 UR III E 166/92" Eine mit viel Fleiß und Akribie erstellte, "handwerklich" starke Begründung! Und ein schönes Beispiel für von Richtern vorzunehmende Auslegungen und Abwägungen. Das Urteil ist aber auch ein schönes Beispiel für ein gewollt herbeigezaubertes Fehlurteil, denn fraglich bleibt, ob mit solchen Auslegungskunststückchen der (bisherige) Begriff der "Ehe" ausgehebelt werden kann. Ich glaube nicht. Die in dem amtsgerichtlichen Urteil akribisch aufgeführten und unter Zitat höchstrichterlicher Entscheidungen »handwerklich« gut dargestellten Gründe gehen haarscharf an der Sache vorbei. Sie wären höchstens ein respektables, gutes Plädoyer an den Gesetzgeber, die Voraussetzungen für eine Verrechtlichung der Möglichkeit zur Schließung von »Homo- und Lesben-Ehen« zu schaffen. Besonders der Hinweis auf die Ungerechtigkeiten im Bereich des Zeugnisverweigerungsrechts ist, wenn man auf die Motivationslage des Gesetzgebers für diese Regelung abstellt, die in einer Lebensgemeinschaft zusammenlebenden Menschen nicht unzumutbaren Konflikten auszusetzen, eines der durchschlagenden Argumente! Doch um den »Ehewunsch« Gleichgeschlechtlicher bei der bis Erlass des Lebenspartnerschaftsgesetzes geltenden Gesetzeslage und letztlich bis zum Urteil des BVerfGs abzuschmettern, brauchte dem amtsgerichtlichen Urteil von den Richtern der höheren Instanzen praktisch nur das in der Gesellschaft fast ausschließlich vorhandene traditionelle Verständnis von "Ehe" entgegengestellt zu werden. Eine völlige Umdeutung eines feststehenden Begriffes, nur um dem als zu säumig empfundenen Gesetzgeber ein Schnippchen zu schlagen, ist nicht die Aufgabe eines Richters! Das hätten die Richter auch daran erkennen können, dass in den gesellschaftlich weit progressiveren Staaten Skandinaviens und den Niederlanden auch nicht Auslegungskunststückchen mit dem Begriff der "Ehe" vorgenommen worden sind, die Wortbedeutung nicht über ihr traditionelles Verständnis hinaus überdehnt worden ist, sondern dass für die gegenüber einer Ehe ungleiche Zweierbeziehung Gleichgeschlechtlicher der neue Begriff der "registrierten Partnerschaft" gewählt wurde. Darum konnte diese Entscheidung keinen Bestand haben. Der Fortgang der rechtlichen Auseinandersetzung um das Problem der »Homo- und Lesben-Ehen«, soweit er sich aus Zeitungsmeldungen erschließen ließ: "Keine Homo-Ehe dpa München - Jetzt hat auch ein höchstes Gericht die gleichgeschlechtliche Ehe verboten. Die Zugehörigkeit von zwei Lebenspartnern zum gleichen Geschlecht `widerspricht dem Wesen der Ehe', begründete das Bayerische Oberste Landesgericht ein Urteil, das zwei Männern aus Mittelfranken die Heirat untersagt (Az.: 3 Z BR 2/93)." (HH A 27.03.93)

445

"Aus für Männerehe ap Frankfurt - Niederlage für Deutschlands Homosexuelle. Das Frankfurter Landgericht verweigerte zwei Männern in zweiter Instanz den Ehebund. Es verwarf damit das Urteil des Amtsgerichts, das im Dezember 1992 die Männer-Heirat für rechtmäßig erklärt hatte (Aktenzeichen: 2/9 T 18/93)." (HH A 24.04.93) Zur Abrundung ein angebrachter Kommentar des ehemaligen Präsidenten des Oberlandesgerichts Braunschweig: "Wenn eine Amtsrichterin eine ‘mutige' Entscheidung fällt Die ‘Homosexuellen-Ehe' und die Verwirrung unter Juristen über die Grundlagen unserer Rechtskultur / Von RUDOLF WASSERMANN Eine mutige Entscheidung nannte die Bundesjustizministerin die vom zuständigen Landgericht aufgehobene Anweisung des Amtsgerichts Frankfurt am Main an ein Standesamt, das Aufgebot für die Eheschließung zweier Homosexueller zu erlassen. Zum Glück hat sich das Landgericht von dem Lob, das Sabine Leutheusser-Schnarrenberger der Richterin spendete, nicht beirren lassen. Die Entscheidung des Amtsgerichts widersprach in grotesker Weise dem Recht. Sie ist allerdings für die Verwirrung symptomatisch, die über die Grundlagen unserer Rechtskultur besteht. Denn die Ansicht, Männer könnten miteinander die Ehe eingehen, stieß keineswegs einhellig auf Kritik. Eine angesehene Hamburger Juristin wie Eva Marie [v.] Münch zum Beispiel stimmte ihr öffentlich mit der Begründung zu, Homosexualität sei kein Ehehindernis, weil nirgendwo stehe, daß eine Ehe notwendigerweise zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden müsse. Natürlich ist in keinem Gesetz ausdrücklich normiert, daß das Rechtsinstitut Ehe Personen ungleichen Geschlechts vorbehalten ist. Auch im Grundgesetz (Artikel 6) heißt es lediglich, daß Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen. Aber das Fehlen einer ausdrücklichen Vorschrift bedeutet nicht, daß die Mütter und Väter des Grundgesetzes das Institut Ehe Gleichgeschlechtlichen offenhalten wollten. Es ist vielmehr so, daß das, was sich als Grundlage unserer Kultur von selbst versteht, nicht normiert zu werden braucht, um anerkannt zu sein. Ein Zeichen von Kulturvergessenheit ist es, wenn man glaubt, nur das sogenannte positive Recht also die Normen, die der Gesetzgeber in der von der Verfassung vorgeschriebenen Form gesetzt hat - sei verbindliches Recht. Gerade bei der Ehe als einer auf Dauer angelegten Ordnung des Zusammenlebens von Mann und Frau, die als eine grundsätzlich unauflösliche Lebensgemeinschaft verstanden wird, trifft dies zu. Sie ist kein Erzeugnis der staatlichen Gesetzgebung, sondern eine kulturelle Lebensordnung, die der Gesetzgeber vorgefunden hat, und zwar als Verbindung von Mann und Frau. Ein solches Institut kann der Staat nur anerkennen und gewährleisten, wie dies in Artikel 6 des Grundgesetzes geschehen ist, nicht aber umdefinieren, wie es den Protagonisten der `Homosexuellen-Ehe' vorschwebt. Weder das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit noch der Gleichheitssatz der Verfassung werden dadurch verletzt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß die Ehe eine Lebensgemeinschaft von Mann und Frau ist. Diese Auffassung entspricht dem Wesen der Ehe. Wer mit einer Person gleichen Geschlechts zusammenleben will, mag das tun. Wenn dieses Zusammenleben rechtlich geordnet werden soll, kann der Gesetzgeber der Verbindung einen Namen geben, vorausgesetzt, daß sich dafür eine Mehrheit findet. Die Bezeichnung Ehe aber ist für die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau reserviert. Es berührt merkwürdig, daß ein Gericht gemeint hat, sich über diese einfache Wahrheit hinwegsetzen zu können, und daß es dafür noch Beifall erhält. Als bloße Skurrilität kann man die amtsrichterliche Entscheidung nicht betrachten. Sie ist vielmehr ein Zeichen dafür, wie sich in einem Teil der Gesellschaft die Werte verschoben haben, und zwar in Richtung Permissivität. Die Offenheit wird so weit getrieben, daß man nichts dabei findet, selbst Institutionen, die einem bestimmten Zweck dienen, des ihnen eigenen Sinnes zu entkleiden. Daß dabei gegen Recht und Gesetz verstoßen wird, kümmert nicht. So verblüfft es ungemein, daß eine abw[e]gige Entscheidung dieses Zuschnitts von autoritativer Seite als `mutig' bezeichnet wurde. Offenbar liegt hier ein Mißverständnis über die Aufgabe der Rechtsprechung vor. Diese ist nicht dazu da, ... `mutig' bestimmte Minderheitsanliegen gegen Recht und Gesetz durchzusetzen, sondern gerade umgekehrt, Recht und Gesetz zu wahren. Richter, die die ihnen anvertraute Macht mißbrauchen, zerstören das Vertrauen in eine unparteiische Justiz. Es ist gut, daß das Frankfurter Landgericht das gekränkte Recht wiederhergestellt und damit - hoffentlich! - der Verwirrung ein

446

Ende bereitet hat. Nun ist hoffentlich klar, daß die Ehe keine jeder Art von Zusammenleben offenstehende Verbindung ist, sondern ein Lebensbund von Mann und Frau, und als solcher zu den Grundlagen unserer Kultur gehört." (Die Welt 29.04.93)

Wer auf dem vorgesehenen Instanzenweg am Ende der Fahnenstange angekommen ist, kann höchstens noch bis zum Knauf gelangen. Weniger prosaisch: Nach Ausschöpfung des üblicherweise vorgesehenen Rechtsweges konnten die Interessenten an einer Schwulen- oder Lesbenehe, deren Gerichtsinstanzen am schnellsten gearbeitet hatten, mit der Behauptung, durch das gegen sie ergangene letztinstanzliche Urteil in einem ihrer Grundrechte verletzt worden zu sein, das Bundesverfassungsgericht anrufen. Doch nicht jeder Ruf wird dort gehört. Klagen, die dem Bundesverfassungsgericht als zu unsinnig erscheinen, um sich darüber erst umfangreiche, vielleicht dann auch nur zur Klagabweisung führende Gedanken zu machen, werden von ihm gemäß § 24 BVerfGG gleich "a limine" ("von der Schwelle des Gerichts weg") abgewiesen. "Kein Trauschein für Homosexuelle ap Karlsruhe - Homosexuelle haben kein Recht auf eine Ehe. Mit dieser Entscheidung erteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe der Verfassungsbeschwerde zweier Männer eine Absage. Das Standesamt Nürnberg hatte dem Paar die Trauung verweigert. Es war vergeblich bis zum Bayerischen Obersten Landesgericht gegangen. Das Verfassungsgericht verweigerte die Annahme der Beschwerde, weil ihr keine verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme. Die Kammer verweist auf die ständige Rechtsprechung, wonach die Geschlechtsverschiedenheit zu den prägenden Merkmalen der Ehe gehöre. Es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, daß sich dieses Eheverständnis gewandelt habe. Für klärungsbedürftig hält die Kammer aber die Frage, ob Behinderungen gleichgeschlechtlicher Partner in ihrer privaten Lebensgestaltung und Benachteiligungen gegenüber Ehepaaren mit dem Grundgesetz vereinbar sind. So könnte sich die Frage stellen, ob der Gesetzgeber verpflichtet sei, Homosexuellen eine rechtliche Absicherung ihrer Lebensgemeinschaft zu ermöglichen (Az.: 1 BvR 640/93)." (HH A 14.10.93)

Mit dem Spruch des BVerfGs fand die Angelegenheit um die »Schwulen- und Lesbenehe« nur ein vorläufiges Ende. Der Kampf um die nähere Ausgestaltung einer rechtlichen Absicherung registrierter gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ging weiter. Zunächst startete der rot-grüne Senat des Bundeslandes Hamburg 1998 eine entsprechende Initiative9 unter der - wie zuvor begründet - unglücklichen Bezeichnung: „Hamburger Ehe“ und befand sich damit in einer Vorreiterrolle. Arbeitsgruppen der Regierungsfraktionen im Bundestag formulierten auf der Basis eines von den Grünen schon 1995 in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurfes Eckpunkte für ein „Rechtsinstitut der Eingetragenen Lebenspartnerschaft“, damit schwule und lesbische Partner vor dem Standesamt eine amtlich registrierte „Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft“ eingehen könnten. Diese Gemeinschaften haben nun gegen massiven Widerstand insbesondere der katholischen Kirche einen seit dem 01.08.01 auch in der Bundesrepublik geltenden, dem Status einer Ehe angenäherten erhöhten rechtlichen Schutz erhalten, so weit die neuen Regelungen vom Bundestag ohne Einspruchsmöglichkeit des Bundesrates beschlossen werden konnten. Ca. 100 Gesetze hätten geändert werden müssen, wenn das Vorhaben in seiner von der Regierung beabsichtigten Form umgesetzt worden wäre. Der Gesetzentwurf sah u.a. vor: - Schwule und lesbische Paare werden beim Standesamt als Lebensgemeinschaft eingetragen - Diese Eintragung begründet gegenseitige Fürsorge- und Unterhaltspflichten, gegebenenfalls über den Bestand der Partnerschaft hinaus - Homosexuelle dürfen einen Doppelnamen oder den Namen des Partners annehmen - Die Verwandten eines Lebenspartners gelten als verschwägert mit dem anderen Lebenspartner - Gleiches Schenkungs- und Erbrecht wie für heterosexuelle Paare in Ehe und Familie - Hinterbliebenenversorgung ohne Pensionsleistungen an den gleichgeschlechtlichen Partner eines Staatsdieners - Bei der Einkommenssteuer „Realsplitting“ mit einer Obergrenze von DM 40.000,- (statt vollem Ehegattensplitting) - Einbeziehung des Gehalts des Partners in Bedürftigkeitsprüfungen für Sozial- und Arbeitslosenhilfe 9

von den Betroffenen als „Mogelpackung“ empfundene bloße Deklaration mit Partnerschaftsurkunde, aber ohne Rechtsfolgen

447

-

-

„Kleines Sorgerecht“ eines Lebenspartners als Mitentscheidungsmöglichkeit bezüglich der Erziehung eventueller Kinder des anderen Partners in alltäglichen Angelegenheiten, aber das Adoptionsrecht ist ausgeklammert Volle Angleichung bei Kranken- und Pflegeversicherung (beitragsfreie Mitversicherung) Binationale Partnerschaften werden wie beim Familiennachzug behandelt

Aber weil die CDU-geführten Landesregierungen im Bundesrat teilweise zustimmungspflichtig sind, in den Fällen nämlich, in denen ihre Landesinteressen berührt sind, und sie in diesem Gremium die Mehrheit der Stimmen auf ihre Couleur vereinen, wurde das Gesetzesvorhaben in einen Teil aufgespalten, dessen Regelungen nicht der Zustimmungspflicht der Länder im Bundesrat unterliegen, und in einen anderen Teil, der wegen der Zustimmungspflicht der Länder dann wie vorhersehbar im Bundesrat scheiterte. Vielen CDU-Mitgliedern und -Regierungen sowie evangelischen und katholischen Kirchenvertretern geht die faktische Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft mit dem Rechtsinstitut der Ehe zu weit. Da kommt religiöse Ideologie ins Spiel! Die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften würden durch die als Gesetz in den Deutschen Bundestag eingebrachte Regelung der Ehe „zum Verwechseln ähnlich“, wurde argumentiert. Durch die faktische Gleichstellung würden Ehe und Familie ihre Leitbildfunktion verlieren. Das werde für die Gesellschaft schädigende Auswirkungen haben. „Bischöfe fürchten Entwertung der Ehe ap/rtr Fulda – Die katholische Bischofskonferenz hat sich strikt gegen vereinfachte Ehescheidungen sowie eine Gleichstellung von Ehe und nichtehelicher Partnerschaft ausgesprochen. Beides laufe auf eine ‘Entwertung der Ehe‘ hinaus, hieß es.“ (HH A 26.01.98) Unter Verweis auf den Schutz der Ehe im Grundgesetz sahen CDU und CSU die neu geschaffenen Regelungen als verfassungswidrig an und kündigten gegen den nicht zustimmungspflichtigen Teil, dessen Inkraftsetzung von ihnen nicht hatte verhindert werden können, eine Verfassungsklage an. Damit bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht schon Partnerschaften mit allen in dem Gesetz vorgesehenen Konsequenzen geschlossen werden könnten, brachten drei CDU-geführte Bundesländer beim BVerfG einen Eilantrag ein, um das Inkrafttreten der neuen gesetzlichen Regelung ab 01.08.01 zu verhindern – und unterlagen damit. Das Gesetz, das für eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften im Unterhalts-, Miet- und Erbrecht sowie in der Kranken- und Pflegeversicherung - wegen der CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat aber nicht im Steuerrecht - gleiche Rechte und Pflichten wie bei Ehepaaren vorsieht, wurde von den Konservativen als im Widerspruch zum Grundgesetz stehend angesehen, weil nach ihrer Lesart des Grundgesetzes in Artikel 6 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates gestellt sind. Daraus wurde in Überpointierung (fast) eine Alleinberechtigung der Ehe auf staatlichen Schutz konstruiert. Die Regierungskoalition betont den Satz etwas anders und liest den Artikel 6 GG so, dass Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates gestellt seien. Den wollen sie diesen Institutionen überhaupt nicht absprechen, sehen die Nennung von Ehe und Familie aber nicht als durch den Verfassungsgeber abschließend aufgezählt an, so dass für eine weitere Institution (angeblich) kein besonderer rechtlicher Schutz mehr möglich wäre: Warum sollten im Laufe der sich in ihren Lebensformen weiterentwickelnden Gesellschaft nicht weitere auf Dauer angelegte Institutionen zu Ehe und Familie hinzu kommen, die gegenüber unverbindlichen, über einen One-night-stand zwar zeitlich hinausgehende aber trotzdem nur sehr kurzfristige Beziehungen ebenfalls einem besonderen Schutz des Staates unterstellt werden sollten? Die Position der Konservativen ist insbesondere hinsichtlich ihres Familienbegriffs brüchig, denn was ist z.B. mit den „wilden Ehen“? Die sind zwar nicht Ehe, aber ganz konkret und bewusst gelebte Familie! Darüber hinaus gab es z.B. auch schon eine gelebte homosexuelle Partnerschaft, in der einer der Partner, der Sänger und Entertainer Patrick Lindner, (vielleicht wegen seines Promi-Status‘) als bisher einzige Ausnahme ein Kind adoptieren durfte; wohlgemerkt: nur Lindner war Adoptiv-Elternteil des Kindes, nicht auch sein damaliger Partner im privaten und geschäftlichen Bereich. Und wer ein Kind hat und großzieht, ist in gewisser Weise „Familie“. Oder sind das allein erziehende Mütter oder Väter mit den bei ihnen gebliebenen Kindern nicht? Früher wurde immer von „Rest-Familie“ gesprochen, aber nachdem sich immer mehr Frauen entschließen, Kinder großziehen zu wollen, ohne den Lebenspartner mit erziehen zu müssen, befindet sich wohl auch der Familienbegriff im Wandel. Die Konservativen lassen ihre schwarze Katze aus dem schwarzen Sack, wenn sie gleichgeschlechtliche Partnerschaften als einen „Verstoß gegen die religiösen Grundsätze unserer Gemeinschaft“ apostrophieren und darum als „Verstoß gegen unsere Kultur“ und sie als den „schlimmsten Angriff auf Familie und Gesellschaft“

448

ausgeben. Am weitesten ging der Kettenhund des vormaligen Papstes Johannes Paul II.: Der damalige Kardinal Ratzinger qualifizierte das - seit dem 01.08.01 geltende - Lebenspartnerschaftsgesetz der Bundesrepublik mit der darin festgelegten weitgehenden rechtlichen Gleichstellungen dieser Partnerschaften mit der Ehe während der Gesetzgebungsphase mit den Worten ab, damit trete man „aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit“ heraus (HH A 30.11.00) – was von nur eingeschränktem historischen Wissen zeugt: Nicht nur der Kirchenvater Augustinus vertrat die Ansicht, man brauche die Frauen zwar zum Kinderkriegen, „ansonsten seien die Männer vorzuziehen“; auch die »alten Griechen« waren für ihre Pädophilie/Päderastie bekannt: Man hielt sich Lustknaben, denen dafür von ihren »väterlichen Freunden« eine möglichst gute Ausbildung ermöglicht wurde. Deswegen sind solche kirchlicherseits gemachten Äußerungen wie die zitierte weit überzogen. Ideologie füllt das weihrauchvernebelte Hirn! Denn wenn man noch ernst genommen werden will, kann man doch wohl nicht mehr ernsthaft behaupten, dass unsere Gesellschaft noch mehrheitlich religiös geprägt sei und sich den Kirchen und ihren - teilweise kleinkarierten - Glaubenswerten verbunden fühle: die Kirchenaustritte, die sonntags gähnend leeren Kirchen und die verschwindend geringe Zahl von bekennenden Christen sprechen eine gegenteilige Sprache! Da können die Normen der katholischen Kirche, die ihre Institution Ende 2000 nach den Jahrzehnten der Ökumene mit einem schon nicht mehr für möglich gehaltenen rigoristischen Absolutheitsanspruch gegenüber sowohl den nichtchristlichen als auch den anderen christlichen Religionen als die allein richtige, allein selig machende Religion der Welt bezeichnete was dann auch die alleinige Geltung ihres Kirchenrechts nach sich zieht(!) -, keine Verbindlichkeit mehr für die Ausgestaltung unseres staatlichen Zusammenlebens beanspruchen. Der frühere Jesuitenschüler und 2002 aus dem Bundestag ausscheidende (u.a.) ehemalige Familienminister der CDU Heiner Geißler, Querdenker aus Berufung, entgegnete auf die weit überzogenen Angriffe des Kölner Kardinals Meisner kühl und sehr souverän: Wer eine Partei wählen wolle, die den Vorstellungen katholischer Fundamentalisten nahe kommt, sei bei der Partei Bibeltreuer Christen am besten aufgehoben! Über die Normenkontrollklage bezüglich der Geltung des Lebenspartnerschaftsgesetzes wurde schließlich 2002 vor dem BVerfG verhandelt. Sechs CDU-geführte Länder hatten dort geklagt, weil sie, wie schon angesprochen, den grundgesetzlich garantierten besonderen Schutz von Ehe und Familie durch das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft verletzt wähnen. (Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSUFraktion kartete sogar nach dem ergangenen Urteil des BVerfGs nach und bezeichnete gleichgeschlechtliche Partnerschaften in einer Urteilskritik weiterhin als Angriff gegen die Institution Ehe.) Mit der (fast völligen) Gleichstellung „eingetragener Lebenspartnerschaften“ mit dem Rechtsinstitut der Ehe sind dann im Falle einer Trennung Urteile möglich wie in dem nachfolgend mitgeteilten Beispiel aus Australien: „Lesben-Urteil dpa Sidney - In Australien wurde eine lesbische Frau dazu verurteilt, ihrer Ex-Partnerin 170.000 Mark Unterhalt für zwei Kinder (3/5) zu zahlen. Die Kinder wurden durch künstliche Befruchtung gezeugt.“ Das hätte der schrillen TV-Moderatorin Hella von Sinnen ebenfalls drohen können, als sie und ihre lesbische Lebensgefährtin Cornelia Scheel sich 10 Jahre nach den (erfolglos) angestrengten Prozessen zur Durchsetzung der 1992 geplanten Heirat trennten.

Nicht vorgesehen ist (momentan) bei Vorliegen eines Kinderwunsches eine volle, freie gemeinsame Adoptionsmöglichkeit von fremden Kindern durch Partner einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft, denn dem steht bislang ein auch von Deutschland ratifiziertes "Übereinkommen über die Adoption von Kindern" des Europarates entgegen – obwohl die EU-Länder Dänemark, Norwegen und Schweden eine freie Adoption auch fremder Kinder durch Partner einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zulassen. Aber es wurde in Deutschland durch ein Ergänzungsgesetz zu den Eingetragenen Lebenspartnerschaften (außer u.a. der Möglichkeit zur Bildung einer Zugewinngemeinschaft, die im Falle einer späteren Trennung der Partner einen Versorgungsausgleich schafft und während der Partnerschaft hinzugewonnenes Vermögen und erworbene Rentenansprüche aufteilt, sowie einer Gleichstellung der rund 5.000 schwulen und lesbischen Paare in eingetragenen Partnerschaften gegenüber Ehepartnern bei der Hinterbliebenenversorgung und im Beamtenrecht und etwa einem Anspruch auf Sonderurlaub, Trennungs- und Umzugsgeld) eine eingeschränkte Adoptionsmöglichkeit von Stiefkindern gleichgeschlechtlicher Lebenspartner beschlossen, die zum 01.01.05 in Kraft gesetzt wurde: der/die mit dem Kind leiblich nicht verwandte Partner/in einer gleichgeschlechtlichen

449

Partnerschaft adoptiert das leibliche Kind seines Partners/seiner Partnerin bei dessen Einverständnis und dem des anderen, außerhalb dieser Partnerschaft lebenden leiblichen Elternteils des Kindes. So wird ausgeschlossen, dass bei einem in einer traditionell-heterosexuellen Beziehung gezeugten und teilweise aufgewachsenen Kind die inzwischen lesbische Mutter dem (möglicherweise bislang an seinem Nachwuchs wenig interessierten) leiblichen Vater den gemeinsamen Nachwuchs einfach »wegadoptieren« lassen kann: Der zweite leibliche Elternteil muss - wie auch die Familiengerichte, die gesetzlich nur dem Kindeswohl verpflichtet sind - auf jeden Fall zustimmen. Eigenmächtige Rachehandlungen gegenüber dem nunmehr ungeliebten Ex-Partner sind auf dieses Weise ausgeschlossen: „Volendi non fit iniuria!“ („Dem Wollenden geschieht kein Unrecht!“) Außerdem regelt das Gesetz eine Übernahme des ehelichen Güterrechts und eine weitgehende Angleichung des Unterhaltsrechts. Die Union hält das "Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts“ für "verfassungsrechtlich hoch problematisch und gesellschaftspolitisch falsch". Die CSU wandte sich gegen das „kleine Adoptionsrecht“. Sie findet, das Recht der Kinder auf Vater und Mutter sei höher zu bewerten als die Rechte Homosexueller auf Selbstverwirklichung. Zudem handele es sich bei dem Recht auf Stiefkindadoption "nach ausdrücklicher Bekundung der Bundesjustizministerin nur um den ersten Schritt auf dem Weg zu einem uneingeschränkten Adoptionsrecht homosexueller Lebenspartner". Eine solche Entwicklung sei "für die Union in keiner Weise akzeptabel".

Halten wir einen kurzen Augenblick atemlos inne und vergegenwärtigen wir uns den gravierenden rechtlichen Wandel, die neue gesellschaftliche Lebensformen ermöglichende Umwertung der in unserer Gesellschaft vor einiger Zeit als verbindlich angesehenen, gelebten, gewerteten und teilweise mit den Sanktionsmöglichkeiten des Strafrechts drakonisch geschützt gewesenen entgegengesetzten Werte: Bis zur 4. Reform des Gesetzes zur Änderung des Strafrechts Ende 1973 galt die Homosexualität selbst unter erwachsenen Männern als strafwürdig und wurde mit Gefängnisstrafe, in schweren Fällen gar mit (der mit der 1. Reform des Gesetzes zur Änderung des Strafrechts Ende 1969 abgeschafften) Zuchthausstrafe geahndet. Und nun dürfen diese Männer – und ihre »Schwestern« in der einander ausschließenden sexuellen Vorliebe – nur eine Generation später Kinder adoptieren. Welch ein gesellschaftlicher Umbruch! Genaue Zahlen gibt es keine, aber das Familienministerium schätzt, dass bereits heute viele Kinder in gleichgeschlechtlichen, meist lesbischen Lebensgemeinschaften leben; die Angaben schwanken zwischen 8.300 laut Mikrozensus 2001 – eine andere kolportierte Zahl lautet auf 13.200 - und über 30.000 Kindern, von denen das Statistische Bundesamt ausgeht. Die Angaben der interessierten Verbände reichen bis 160.000. Meist sind es Kinder von (überwiegend) Frauen und (wesentlich seltener auch) Männern aus deren heterosexuellen Lebensphasen; immer häufiger aber sind es Wunschkinder lesbischer Paare, bei denen sich eine der Frauen in Ländern wie den Niederlanden, Dänemark, Israel hat künstlich befruchten lassen, ohne den biologischen Vater zu kennen. In solchen Fällen bedarf es zur Adoption durch den Partner oder die Partnerin einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft natürlich keiner Einwilligung des zweiten biologischen Partners. In solchen Fällen verstehen sich beide Partnerinnen der lesbischen Lebensgemeinschaft im psychosozialen Sinne als gemeinsame Eltern, aber erb- und unterhaltsrechtlich ist bislang nur die leibliche Mutter für »beider« Kind verantwortlich. Das will das neue Gesetz nun ändern: der »Co-Elternteil« der Lebenswirklichkeit kann das Kind der Partnerin/des Partners mit allen Rechten und Pflichten adoptieren, so dass das Kind, für das beide sich seelisch und materiell verantwortlich fühlen, nicht nur wie bereits gelebt zwei ganz enge erwachsene Bezugspersonen in einer sozialen Kerngruppe hat, sondern auch weiß, dass es auch rechtlich - allerdings in einer ungewöhnlichen und für die Freunde des Kindes möglicherweise gewöhnungsbedürftigen Konstellation - zwei Eltern hat: „Was wird aus mir, wenn Mutter oder Vater, bei der/dem ich jetzt mit deren Freundin oder dessen Freund lebe, sterben sollte? Wer sorgt dann für mich? Muss ich dann zurück zu dem anderen Elternteil, gegen das ich mich entschieden hatte?“ Die Regelung dieser für das Kind existenziellen Frage berührt sehr wohl sein rechtverstandenes Kindeswohl! Die rechtliche Möglichkeit der »Stiefkind-Adoption in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft« wäre eine logische Weiterentwicklung, denn schon das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001 (LPartG) kreierte das kleine Sorgerecht, mit dem ein/e Lebenspartner/in ohne biologische Verbindung zum Kind es beim Arzt, in der Schule oder bei Behörden vertreten kann. Wie auch in heterosexuellen Fällen hat in gravierenden Konfliktfällen immer ein Familiengericht das letzte Wort. Doch das geht den Konservativen „contrecoeur“, weil dadurch eine gemeinsame Eheverantwortung in Teilen simuliert werde. Da sehen sie das von ihnen behauptete „Abstandsgebot“ verletzt, auf das gleich noch näher eingegangen werden wird. Genau so beurteilen sie die angedachte Möglichkeit eines „Verlöbnisses“ für

450

gleichgeschlechtliche Partner und die Regelung einer Zugewinngemeinschaft wie in einer Ehe. In diesem Punkt der Möglichkeit der Erfüllung eines Kinderwunsches sind die Männer (bisher) schlechter dran als ihre »gleichgeschlechtlich orientierten Schwestern«, denn lesbische Frauen helfen sich zur Erfüllung eines Kinderwunsches mit den Mitteln künstlicher Befruchtung. Für homosexuelle Männer ist ein auf das gleiche Ziel gerichtetes Verfahren zwar in der Entwicklung, aber noch nicht abgeschlossen. Die Bastionen gegen die Verbesserung der juristischen Stellung von Partnern aus gleichgeschlechtlichen Verbindungen auf allen Gebieten kommen auch in Deutschland langsam ins Wanken: „Homosexueller erstritt sein Recht dpa Aachen – Das Sozialgericht Aachen hat in einem Urteil die homosexuelle Lebensgemeinschaft eines Thailänders mit einem Deutschen der Ehe gleichgestellt. Der Thailänder hatte geklagt, weil ihm eine unbefristete Arbeitserlaubnis verweigert worden war. Wäre er mit einer deutschen Frau verheiratet, hätte es keine Probleme gegeben. Das Gericht gab der Klage statt (AZ.: S 8 AL 66/00).“ (HH A 21.09.00)

Für »Homo- und Lesbenehen« sind mit dem vom BVerfG gebilligten Lebenspartnerschaftsgesetz ohne das im Bundesrat bisher gescheiterte Lebenspartnerschaftsgesetz-Ergänzungsgesetz nicht alle Probleme gelöst. Im niederrangigen Recht hakelt’s noch da und dort und muss gerichtlich geklärt werden. „Schwuler Soldat will Familienzuschlag Präzedenzfall Bund verweigert ihm eine Zulage für seine Lebenspartnerschaft, weil sie keine Ehe ist ... Im Oktober vergangenen Jahres hat er sich trauen lassen – mit einem Mann. Anders als seine mit einer Frau verheirateten Kameraden erhält er dennoch nicht mehr Sold von seinem Dienstherrn. ... Weil aber sein Lebenspartner ein Mann ist, gilt er für die Bundeswehr weiter als ledig. Für den Soldaten ein Grund zu klagen. ... ’Es ist nicht einzusehen, weshalb ihm der Familienzuschlag vorenthalten wird, während seine in Ehe lebenden Kameraden in den Genuss des Zuschlags kommen’, kommentiert Klaus Jetz vom Lesben- und Schwulenverband den Fall Peckruhn. ’Das ist Diskriminierung.’ Die knappe Antwort der Bundeswehr: ’Der Bundestag hat die besoldungsrechtliche Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit Ehepartnern verworfen.’ ... ’Alles läuft auf eine Klage zu’, sagt Peckruhn. Und möglicherweise auf einen interessanten Präzedenzfall. Nach Schätzungen, wonach etwas fünf Prozent aller Deutschen homosexuell sind, müssten etwa 17 000 Männer in der Bundeswehr schwul sein. ...“ (HH A 05.02.02) Da der Gesetzgeber die weitgehende rechtliche Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften mit der Ehe wollte, hat der Soldat nach meinem Dafürhalten gute Chancen, die Zahlung der z.Zt. monatlich 95,36 Euro auf dem Klageweg durchzusetzen. Letztlich geht es dabei um die richtige Anwendung des speziellen Gleichheitssatzes aus Art. 3 III 1 GG. Da hier insbesondere das Grundrecht des Diskriminierungsverbotes betroffen ist, könnte der Fall letztlich auch beim BVerfG landen. Der Kampf um die rechtliche Anerkennung und Gleichstellung einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft mit einerseits der Ehe und andererseits einer „wilden Ehe“ wird auch international geführt. Das können wir der folgenden Zeitungsmeldung entnehmen: „Kein Freiticket für Homosexuelle ap Brüssel – Gleichgeschlechtliche Partner haben in der EU keinen Anspruch auf Freifahrtscheine in öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Europäische Gerichtshof entschied, daß die britische Bahngesellschaft South West Trains der Lebensgefährtin einer ihrer Angestellten Vergünstigungen vorenthalten darf, die sie Ehepartnern oder Lebensgefährten heterosexueller Arbeitnehmer anbietet.“ (HH A 18.02.98)

Nun hat also das BVerfG am 17.07.02 in seinem Spruch zum Lebenspartnerschaftsgesetz entschieden, dass Ehe und Familie auch grundgesetzlich nicht als synonyme Begriffe zu werten seien. Die

451

Bundesverfassungsrichter vertreten damit eine kindzentrierte modernere Auffassung von »Familie« als die konservativ eingestellten Kläger: Familie sei ungeachtet der sexuellen Orientierung dort, wo Kinder sind - und nicht nur dort, wo die sexuelle Orientierung den mehrheitlich gelebten traditionellen Vorstellungen entspricht. Das BVerfG entschied mit fünf gegen drei Stimmen: Artikel 6 GG, der den Schutz von Ehe und Familie privilegiert, werde nicht angegriffen, wenn auf Dauer angelegte homosexuelle Partnerschaften mittels eines eigenen familienrechtlichen Rechtsinstituts abgesichert werden. Über den Ehe und Familie unter besonderen Schutz des Staates stellenden Artikel 6 GG hinaus könne der Gesetzgeber weitere von ihm als schützenswert eingestufte Rechtsinstitute schaffen, z.B. auch für eine Lebensgemeinschaft von Bruder und Schwester, die auf Dauer in gegenseitiger Verantwortung zusammenleben wollen. Der Gesetzgeber könne solche „Einstandsgemeinschaften“ durch eine entsprechende Regelung in das Lebenspartnerschaftsgesetz mit einbeziehen. Der Gesetzgeber könne diesen Schritt vollziehen, müsse aber nicht so handeln. Es bestehe für ihn keine derartige Rechtspflicht. Das Gericht machte darüber hinaus deutlich, dass weitere Angleichungen an das Rechtsinstitut der Ehe als die in dem Lebenspartnerschaftsgesetz getroffenen zulässig sind; ein deutlicher Wink mit den Paragraphen hinsichtlich des zunächst blockierten Ergänzungsgesetzes, dessen Abspaltung die Richter mit einer 7:1 Stimmenmehrheit als zulässig ansahen, damit die Parlamentsmehrheit ihr Reformvorhaben gegen die Blockade der Opposition in der Länderkammer durchsetzen könne. In diesem Vorgehen sei keine Verletzung von Länderrechten zu sehen. Registrierte Lebenspartner können nun mit höchstem richterlichen Segen den gleichen Namen annehmen und erhalten Schutzrechte u.a. im Sozialversicherungs-, Miet-, Erb-, Strafprozess- und Ausländerrecht. Im Einzelnen wurden folgende Regelungen getroffen: Die Partner/innen können denselben Namen annehmen. Es besteht ein gegenseitiger Unterhaltsanspruch. Es besteht ein Aufenthaltsrecht und ein Anspruch auf eine Arbeitsgenehmigung für ausländische Lebenspartner/innen. Wenn keine eigene Kranken- und Sozialversicherungsmöglichkeit durch die Aufnahme eigener Erwerbstätigkeit besteht, werden Mitversicherungsmöglichkeiten bei der Kranken- und Pflegeversicherung eingeräumt. Den Partnern stehen Auskunfts- und vor Gericht Zeugnisverweigerungsrechte zu. Hinsichtlich der Kinder eines Partners gilt ein kleines Sorgerecht für die Angelegenheiten des täglichen Lebens. Es gilt ein gesetzliches Erbrecht mit der Folge, dass sich die Pflichtteilsansprüche anderer Familienangehöriger verringern. Es besteht ein Eintrittsrecht in den Mietvertrag für die gemeinsame Wohnung. Die Auflösung einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft kann nur vor Gericht erfolgen. Gegenseitige Unterhaltspflichten bestehen grundsätzlich auch nach Auflösung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft weiter. Andere Punkte blieben noch offen, woraus sich weiterer legalistischer Handlungsbedarf in naher, fernerer oder gar erst ferner Zukunft abzeichnete. Als einen ersten weiteren Schritt zur gesetzlichen Angleichung der partnerschaftlichen Lebensformen brachte das 2004 in seiner politischen Führung prominent mit Homosexuellen besetzte Bundesland Hamburg eine Bundesratsinitiative ein, mit der die Rechte gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften weiter ausgebaut und Ehen angeglichen werden sollen, um die „noch vorhandenen Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften zu beenden“. Gedacht war dabei zunächst an Angleichungen im Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz, damit eingetragenen Lebenspartnern die gleichen sie begünstigenden Freibeträge und Steuersätze zustehen wie Eheleuten. Die angestrebte steuerliche Gleichbehandlung sollte allerdings erst zugelassen werden, wenn die Lebenspartnerschaft vor dem Erb- und Schenkungsfall bereits fünf Jahre bestanden habe. Das sollte befürchtete Missbrauchsmöglichkeiten verhindern; keine schlüssige Differenzierung gegenüber den die Auswirkungen einer Eheschließung betreffenden Regelungen: im Eherecht ist es möglich, jemanden auf dem Sterbebett zu heiraten und so dem in kürzester Zeit voraussehbar zurückbleibenden Partner die Hinterbliebenenversorgung und einen größeren steuerfreien Teil der Erbschaft zu retten. So befürchtete mein Schwager, sein weiteres Leben lang nach dem bis zum 14. Lebensjahr des jüngsten Kindes zu zahlenden Betreuungsunterhalt Ausbildungsunterhalt zum Erlernen eines neuen Berufes, bei Nichtanstellung Arbeitslosenunterhalt und wegen des Alters der Ehefrau anschließend Unterhalt wegen Alters oder Krankheit an seine längst nicht mehr „beste aller Ehefrau“ zahlen zu müssen; seine neue war wirklich besser, musste aber mit weniger als seinem Nettoeinkommen auskommen, da davon erhebliche Unterhaltszahlungen an die »Ex« abgingen, die auch ihrerseits schon jahrelang einen Freund hatte. Als der auf dem Sterbebett lag, fing die »Ex« an zu rechnen, kam zu dem Ergebnis, dass eine durch ihren sterbenden Freund »vermittelte« potentielle

452 Witwenrente einen höheren Betrag ausmachen würde als die Unterhaltszahlungen meines Schwagers – und heiratete ihren langjährigen Freund im Krankenhaus auf seinem Sterbebett; eine Woche später war sie finanziell besser gestellt! Und mein Schwager war überglücklich, dass seine »Ex« Rechnen gelernt hatte. So kann im Normalfall der Ehen kalkuliert werden. Eine einschränkende Ausnahme, um solcherart absehbare »Mitnahmeeffekte« zu unterbinden, wird nur im Beamtenrecht gemacht, wo zur Begründung von Hinterbliebenenansprüchen einer Witwe die Ehe grundsätzlich vor dem 65. Lebensjahr und mindestens drei Monate vor dem Tod des verstorbenen Beamten geschlossen worden sein muss. § 19 des Beamtenversorgungsgesetzes (BeamtVG) regelt: „§ 19 Witwengeld. (1) Die Witwe eines Beamten auf Lebenszeit oder eines Ruhestandsbeamten erhält Witwengeld. Dies gilt nicht, wenn 1. die Ehe mit dem Verstorbenen weniger als drei Monate gedauert hat, es sei denn, daß nach den bestehenden Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, daß es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, der Witwe eine Versorgung zu verschaffen, oder 2. die Ehe erst nach dem Eintritt des Beamten in den Ruhestand geschlossen worden ist und der Ruhestandsbeamte zur Zeit der Eheschließung das fünfundsechzigste Lebensjahr bereits vollendet hatte. (2) ...“ Bei einem unentschlossen »lebenspartnernden Beamten« muss eine aus eigenem Recht nicht so gut wie mit der möglicherweise in Aussicht stehenden Pension versorgte Freundin also – zur Abwendung von späterer Not notfalls nach der Lysistrata-Methode - schneller und entschlossener auf nicht unbedingt erstes, auf jeden Fall aber auf zweites Hüsteln reagieren! Und nun soll nach der Bundesratsvorlage Hamburgs bei Eingetragener Lebenspartnerschaft eine Fünfjahresfrist absehbare »Mitnahmeeffekte« unterbinden. So ein überlanger Zeitraum ist unbillig und wird auf Dauer politisch nicht durchzuhalten sein: Auch eingetragene Lebenspartner haben schutzwürdige Interessen der Hinterbliebenenversorgung, die nicht so krude negiert werden dürfen! Bayerns Staatsminister Huber bemängelte die Bundesratsinitiative Hamburgs mit den Worten: eine solche Regelung mache „Lebenspartnerschaften immer eheähnlicher, fast identisch. Da wird sich in der CSU keine Hand für heben“ ( HH A 23.09.04). Eine Angleichung der Eingetragenen Lebenspartnerschaften an die bisher ausschließlich Ehen begünstigende Regelung des Ehegatten-Splittings im Einkommenssteuerrecht hatte Hamburg aus fiskalischen Erwägungen gar nicht erst vorgeschlagen, obwohl von der rot-grünen Bundesregierung auch in diesem Punkt eine Gleichbehandlung angestrebt wird. Die Richter des BVerfGs hatten in ihrer Entscheidung zum Lebenspartnerschaftsgesetz klargestellt, dass es das von der Klägerseite behauptete und vorgetragene „Abstandsgebot“ zwischen »Heteroehe« und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft gar nicht gebe. Das GG enthalte keine Verpflichtung für den Staat, andere auf Dauer angelegte Verantwortungsformen im Zusammenleben von Menschen gegenüber der Ehe zu benachteiligen. Allein rechtlich entscheidend sei, dass der Schutz der Ehe durch andere zulässige Formen des verantwortungsvollen Zusammenlebens nicht beeinträchtigt werde. Das aber sei nicht der Fall, denn sämtliche eherechtlichen Regelungen haben unverändert Bestand. Der Institution Ehe drohten keine rechtlichen Einbußen, da sich das neugeschaffene Rechtsinstitut an Personen wende, die miteinander keine Ehe eingehen könnten. Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften könnten nicht in Konkurrenz zur Ehe treten und seien „keine Ehe mit falschem Etikett“. Der Ehe werde nichts genommen, sondern dem vom Gesetzgeber neu geschaffenen Rechtsinstitut gleichgeschlechtliche Partnerschaft nur gegeben, was sie benötige, damit die Partner füreinander Verantwortung übernehmen können, da sie sich zu gegenseitiger Fürsorge verpflichteten, nötigenfalls einander Unterhalt leisten müssten. Negative Auswirkungen der neuen gesetzlichen Regelung auf die Institution Ehe beständen schon deswegen nicht, weil ein heterosexuelles Paar durch die nun geschaffene Möglichkeit zum Abschluss einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nicht von seinem Heiratswunsch abgebracht werde. Eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft sei keine Konkurrenz zur Hetero-Ehe, sondern ein „Aliud“, etwas völlig anderes, denn sie stehe nur homosexuellen Paaren offen. Eine Rechtspflicht zur Besserstellung der Ehe gegenüber anderen verantworteten Lebensgemeinschaften bestehe nicht. Die sehen die Richter – zu Recht – noch zwischen Ehe und »wilder Ehe«. Der Schutz von Ehe bestehe nicht in einer Schlechterstellung anderer

453

partnerschaftlicher Lebensformen. Es sei rechtlich auch völlig irrelevant, wo diese Lebenspartnerschaft geschlossen werde: Vor dem Standesbeamten, wie in allen anderen Ländern außer in Bayern, oder vor einem Notar, wie dort vorgesehen. Roma locuta, causa finita! Aber auch wenn unser „Rom“, unsere höchste rechtliche Autorität, gesprochen hat, so ist das Problem »Homo- und Lesbenehe« so lange noch nicht abschließend entschieden, wie die sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht in den damit im Zusammenhang stehenden Rechtsbereichen der neuen Sicht der Möglichkeiten andersgearteter Lebenspartnerschaften als in der Form einer heterosexuellen Ehe der neuen Rechtslage angeglichen sind. Doch darüber hatte Karlsruhe (noch) nicht zu entscheiden, da die CDU/CSU diese Regelungen im Bundesrat blockiert hatte und sie damit gar nicht zur rechtlichen Überprüfung anstanden. Nicht nur durch neue Gesetze, sondern auch auf dem Weg über die Gerichte will der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD) die Anpassung der Lebenspartnerschaften an die Privilegien des Rechtsinstitutes Ehe durch Entscheidungen in Musterprozessen vorantreiben. Ziel der angestrengten Musterprozesse ist es, dass entweder bereits die Fachgerichte »das Recht« "verfassungskonform" im Sinne der von dem Interessenverband angestrebten Gleichstellung auslegen oder dass diese zumindest das Bundesverfassungsgericht zu einer Prüfung veranlassen. Der Interessenverband der Lesben und Schwulen betrachtete das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom April 04 als ersten großen Erfolg: In dem Urteil hatten die Richter den Bundesangestelltentarif nicht wörtlich oder historisch (und damit nicht theologisch-konservativ und so andere neuerdings rechtlich geregelte Formen des Zusammenlebens ausschließend) angewandt, sondern die entsprechende Bestimmung des BAT so auslegt, dass Ortszuschläge für „Eheleute“ auch Partnern einer eingetragenen Lebensgemeinschaft zuständen. Die Richter hatten im Zuge der rechtlichen Angleichung neuer Lebensformen an die weiterhin dominierende Institution Ehe die bis dato im BAT fehlende Regelung für eingetragene Partnerschaften als "Lücke" angesehen, die sie "systemkonform" durch auslegende Gleichstellung der die klassische Ehe betreffenden Regelung schlossen. Ähnlich argumentierte das Sozialgericht Düsseldorf, das im Oktober 2003 dem überlebenden Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft eine Hinterbliebenenrente zusprach. Dieser Musterprozess war über den durch Urteil zuerkannten Anspruch des Klägers hinaus im Sinne des LSVD erfolgreich, denn die ab 01.01.05 in Kraft gesetzte Gesetzesnovelle zu Eingetragenen Lebenspartnerschaften hat einen Versorgungsanspruch für Hinterbliebene aus einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nunmehr allgemeinverbindlich gesetzlich geregelt. Aber die Bäume der Homo- und Lesbenehen wachsen noch nicht in den Himmel. Der LSVD muss noch weiterhin – mit durchaus wechselndem rechtlichen Erfolg – vor den entsprechenden Fachgerichten um die sich für ihn aus dem Lebenspartnerschaftsgesetz zwangsläufig ergebenden Gleichstellungsregelungen in u.a. dem Beamten-, dem Steuer- und dem Finanzrecht kämpfen, die die Opposition durch ihre Ablehnung im Bundesrat blockiert hatte: In einem vom LSVD-Vorsitzenden des Saarlandes angestrengten Musterprozess vor dem Finanzgericht Saarbrücken hatte der für seine eingetragene – das muss in diesem Fall besonders hervorgehoben werden - homosexuelle Lebenspartnerschaft das Ehegattensplittting erstreiten wollen. Doch Anfang 2004 entschieden die Richter des angerufenen Gerichts, eine Gleichstellung komme aus "bevölkerungspolitischen Aspekten" nicht in Betracht. Die Ehe sei "Vorstufe zur Familie" während Homopaare "keinen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft" leisteten - eine Argumentation, die einer lesbischen eingetragenen Lebenspartnerschaft bei den heutigen Möglichkeiten der Medizin nicht entgegengehalten werden könnte. Die in dem Zusammenhang von Homo- und Lesbenehen zuvor schon erwähnte, selber in einer lesbischen Lebensgemeinschaft lebende Anwältin Sabine Maria Augstein hat Revision zum Bundesfinanzhof eingelegt und will den Casus auf jeden Fall zur Not bis nach Karlsruhe bringen. Verfassungsrechtler gehen davon aus, dass die Chancen klagender Partner aus Homo- und Lesbenehen vor dem BVerfG immer dann positiv zu bewerten seien, wenn eine eingetragene Lebenspartnerschaft verglichen mit den für eine traditionelle Ehe geltenden Bestimmungen einseitig Belastungen zu tragen hat, da ihr angemessene sachlich gleichgelagerte Vergünstigungen durch einen trägen oder unwilligen Gesetzgeber verweigert werden: Beispiel par excellence sind die Unterhaltspflichten, die beide Partner treffen, ohne dass die zum Beispiel – wie mit dem Prozess vor dem Finanzgericht des Saarlandes angestrebt - per Ehegattensplitting Steuern sparen können. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts hatten diese Konsequenz während der Verhandlungen in dem Verfahren um das Lebenspartnerschaftsgesetz schon gesehen und darum implizit dazu aufgefordert, dies verfassungsrechtlich in einem neuen Verfahren "klären" zu lassen; der Ausgang einer solchen verfassungsrechtlichen Überprüfung wird dabei selbstverständlich nicht angedeutet. Nicht so eindeutig könnte der Ausgang einer Klage auf völlige Gleichstellung der unterschiedlichen Lebensgemeinschaften beim Adoptionsrecht ausgehen: da könnten sich (als „konservativ“ bekannte oder

454

gemutmaßte und darum von der CDU/CSU in das Amt gebrachte) Bundesverfassungsrichter ohne weiteres auf den Standpunkt stellen, dass Kinder zum bestmöglichen Aufwachsen Vater und Mutter als unterschiedliche Identifikationsmodelle für eine gedeihliche seelische Entwicklung benötigen, ein Aufwachsen in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft hingegen dem Kindeswohl abträglich sei. (Es wurde zumindest früher oft - und wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand - damit argumentiert, dass durch das Miterleben einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft die Neigung zu - unerwünschter - eigener Homosexualität geweckt oder verstärkt werden könnte.) Ob sich aber dieser angenommene Blick in die Seele der Kinder im Zuge der gesellschaftlichen Wirklichkeit weiter ansteigender Scheidungsraten – zurzeit wird in Deutschland (mit steigender Tendenz) jede dritte Ehe geschieden, in den Großstädten geht die Entwicklung in Richtung der Scheidung sogar schon jeder zweiten Ehe und nähert sich damit den Verhältnissen in Belgien (56 % Scheidungen) und Schweden (64 %), und die Partner trennen sich meist ja nicht schiedlich-friedlich, sondern nach teilweise ganz wörtlich zu nehmendem Hauen und Stechen und Fluchten in Frauen- und Männerhäuser – ob sich diese Sichtweise, dass ein Aufwachsen in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft dem Kindeswohl abträglich sei, in Anbetracht der damit verbundenen seelischen Belastungen halten lässt, wenn die Kinder erleben und erleiden, wie sich Vater und Mutter verbal oder sogar handgreiflich an die Gurgel gehen, erscheint mir durchaus fragwürdig! Die CDU/CSU und die katholische Kirche argumentieren außerdem, dass adoptionswillige Lebenspartner eine gleichberechtigte Adoptionsregelung anstrebten, um sich ihren Wunsch als Erwachsene nach Kindern zu erfüllen und dabei das (im Sinne der konservativen Kreise verstandene) Kindeswohl außer Acht ließen; eine ebenfalls fragwürdige Argumentation, da auch heterosexuelle Ehepaare weit überwiegend die Adoption eines oder mehrerer Kinder anstreben, um sich ihren Wunsch als Erwachsene nach Kindern zu erfüllen, und nicht, um in guter Josephine-Baker-Manier etwas gegen das Elend von Kindern in unseren westlichen Gesellschaften oder gar in Entwicklungsländern zu unternehmen. Und die Adoption soll ja den Kindern die Sicherheit geben, dass sie im Falle des Todes ihres in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebenden leiblichen Elternteiles weiter von dem auf jeden Fall anderen faktischen Elternteil der ihnen und ihren emotionalen Bedürfnissen Rechnung tragenden und Schutz gewährenden Restgemeinschaft bleiben können und nicht zu dem vielleicht ungeliebten verbleibenen leiblichen Elternteil müssen oder in ein Heim gesteckt werden können. Ein Blick auf die Niederlande und Schweden zeigt, dass die Paare dort sogar heiraten und dann auch Kinder adoptieren können, für die beide Partner dann Eltern sind. In Großbritannien sollen gleichgeschlechtliche Paare die gleichen Rechte und Pflichten wie Ehepartner erhalten (HH A 01.07.03). Diese Besorgnis, dass eine entsprechende Regelung auch für die Bundesrepublik geschaffen werden könnte, äußerte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, da nach Auffassung seiner Kirche gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht den Sinn von (kirchlich gesehener) „Ehe“ erfüllten. Das Abstandsgebot gehöre zu dem besonderen Schutz für die Ehe, führte er in seiner Urteilskritik weiter aus, „damit Grundwerte in der Gesellschaft nicht ins Wanken geraten“. Ganz in diesem Sinne veröffentlichte die Glaubenskongregation des Vatikans (vormals: Inquisitionsbehörde oder Heiliges Offizium) dann 2003 in Fragen der »Homo-Ehe« in ihren „Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen“ in ihrer Stellungnahme gegen diesen Fall der (von ihr auf Grund der A-tergaStellung) ebenfalls als „Sodomie“ bezeichneten Lebensgestaltung auf 12 Seiten Richtlinien für katholische Politiker, von denen die sich leiten zu lassen hätten und in denen es heißt: „Wenn alle Gläubigen verpflichtet sind, gegen die rechtliche Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften Einspruch zu erheben, dann sind es die katholischen Politiker in besonderer Weise. ... Wenn sie mit Gesetzesvorlagen zu Gunsten homosexueller Lebensgemeinschaften konfrontiert werden, sind folgende ethische Anweisungen zu beachten: Wird der gesetzgebenden Versammlung zum ersten Mal ein Gesetzentwurf zu Gunsten der rechtlichen Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften vorgelegt, hat der katholische Parlamentarier die sittliche Pflicht, klar und öffentlich seinen Widerspruch zu äußern und gegen den Gesetzentwurf zu votieren. Die eigene Stimme einem für das Gemeinwohl der Gesellschaft so schädlichen Gesetzestext zu geben, ist eine schwerwiegend unsittliche Handlung“ (Allgäuer Zeitung 01.08.03).

Aber selbst das durch und durch katholische Spanien hat sich die seelsorgerischen Ermahnungen der katholischen Kirche nicht zu Eigen gemacht: Der Cortes, das spanische Parlament, verabschiedete eine Resolution für ein Gesetz, das gleichgeschlechtlichen Paaren sogar die Ehe ermöglichen soll. Nur die Konservativen stimmten dagegen.

455 An dem Lebenspartnerschaftsgesetz muss noch ein bisschen nachgebessert werden, denn durch die „lustlose Arbeit der Ministerialbürokratie“, so die Familienrichterin und SPD-MdB von Renesse, wurde zunächst eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft durch eine Eheschließung nicht automatisch aufgehoben; und umgekehrt auch nicht.

2.8.25.4 Der Kampf um § 218 StGB als Beispiel für den Kampf um die Anpassung des Rechts an gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen Der Kampf um § 218 StGB

Ein anderes Beispiel aus Deutschland für den Wandel gesetzlicher Regelungen auf Grund geänderten Rechtsbewusstseins entweder der Bevölkerung, der Politiker, Machthaber oder der Richter - auch entgegen dem erklärten Willen der Mehrheit des Parlaments als berufene Vertretung des Volkes - ist die Geschichte der Änderung des § 218 StGB Schwangerschaftsabbruch und der anderen mit diesem Problemkreis zusammenhängenden gesetzlichen Regelungen: Im Strafgesetzbuch von 1871 war die Selbstabtreibung mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bedroht. Auch die Fremdabtreibung - gleichgültig aus welchen Gründen auch immer - war ausnahmslos unter Strafe gestellt. Das galt auch bei Zeugung durch das Verbrechen der Vergewaltigung. 1926 wurde das für eine Abtreibung vorgesehene Strafmaß herabgesetzt, und 1927 wurde vom Reichsgericht in einem damals großes Aufsehen erregenden Urteil die Abtreibung wenigstens bei Vorliegen medizinischer Gründe (Gefahr für das Leben der Mutter), einer später so genannten medizinischen Indikation also, als rechtfertigender "übergesetzlicher Notstand" - weil das Gesetz diese Möglichkeit (noch) nicht vorsah - anerkannt. "Vergewaltigungskinder" mussten aber weiterhin ausgetragen werden. Die Nationalsozialisten verschärften die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs aus Gründen der von ihnen vertretenen Blut- und Bodenideologie wieder und "weil der Führer Soldaten brauchte". Ab 1943 waren die Fremd- und die Selbstabtreibung in besonders schweren Fällen mit Zuchthausstrafe bedroht. Wenn die Fremdabtreibung von Richtern als "Angriff auf die Lebenskraft des deutschen Volkes" gewertet wurde, konnten sie sogar die Todesstrafe hierfür verhängen. Nach 1945 wurde Selbstabtreibung mit bis zu fünf und Fremdabtreibung mit bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug bedroht. Weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauungen so radikal geändert hatten, dass z.B. 1972 einer geschätzten Dunkelziffer von jährlich 75.000 - 300.000 Abtreibungen10 nur noch 172 Verurteilungen gegenüberstanden, wurde 1974 eine den in der Schweiz, Österreich, den Niederlanden und anderen Staaten geltenden gesetzlichen Regelungen entsprechende Gesetzesneufassung beschlossen: Nach der danach (nur für kurze Zeit) geltenden "Fristenregelung" war ein innerhalb der Frist der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis durch einen Arzt vorgenommener Schwangerschaftsabbruch generell erlaubt, wenn die Schwangere zuvor beraten worden war. Damit sollte einerseits der "Abtreibungstourismus" begüterterer Frauen in Länder mit großzügigeren Regelungen unterbunden werden und andererseits die oftmals das eigene 10

Nach einem nur noch leichten Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche auf 135 000 im Jahr 2001 waren die Zahlen stetig gesunken. 2002 wurden noch 130 400 Abtreibungen gemeldet, 2003 noch 128 000. 2004 war die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche auf 129.600 wieder leicht gestiegen. Die meisten der Frauen waren 2004 zum Zeitpunkt des Eingriffs im Alter zwischen 18 und 34 Jahren (71 Prozent), 16 Prozent waren zwischen 35 und 39 Jahre alt. Rund sieben Prozent der Frauen waren 40 Jahre und älter. Der Anteil der Minderjährigen an der Gesamtzahl der abtreibenden Frauen stieg gegenüber dem Vorjahr leicht um 0,1 Punkte auf 6,1 Prozent. Über die Dunkelziffer wurde nichts mitgeteilt. Dann hat aber der Bundesverband Lebensrecht, eine Vereinigung von Lebensschutzorganisationen, genauer nachgerechnet und darauf hingewiesen, dass diese Zahlen kein Sinken, sondern eine Steigerung der Abtreibungszahlen dokumentieren. Setzt man die absoluten Abtreibungszahlen nämlich mit anderen Konstanten in Bezug, entstehen spezifische Quoten und es entsteht somit ein differenzierteres Bild: die so genannte "abortion rate", welche die Zahl der dem Amt gemeldeten Abtreibungen in Relation zu den Frauen im gebärfähigen Alter setzt, und die so genannte "abortion ratio", welche die Zahl der dem Amt gemeldeten Abtreibungen in Relation zu den Geborenen (lebend und tot Geborenen) setzt. Laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter zwischen 1996 und 2001 von 17,10 Millionen auf 16,78 Millionen und die Zahl der lebend geborenen Kinder von 796 013 auf 719 250 gesunken. Hingegen stieg die "abortion rate" von 7,65 auf 8,04 Abtreibungen pro Frau im gebärfähigen Alter, eine Steigerung um gut fünf Prozent. Auch die "abortion ratio" stieg an: Kamen 1996 auf 1000 Geburten 163 gemeldete Abtreibungen, so waren es 2001 bereits 182,4 - ein Anstieg um 8,3 Prozent. Der Trend wird 2003 wohl bestätigt: Bisher liegen nur die Zahlen der lebend Geborenen bis November vor. Diese Zahl ist bereits um 1,8 Prozent niedriger als im gleichen Vorjahreszeitraum, die Zahl der Abtreibungen sank jedoch deutlich weniger stark. Während die absoluten Zahlen stagnieren, steigt die Abbruchrate je Frau und Geborenem seit Jahren Die Medizinerin Claudia Kaminski kritisiert: "Das vom Gesetzgeber mit der Reform des Paragrafen 218 verfolgte Ziel, weniger statt mehr Abtreibungen, wurde bis heute nicht erreicht."

456

Leben gefährdende Flucht in Not geratener Frauen zu Kurpfuschern und "Engelmacherinnen" oder zu Ärzten, die sich ihr erhebliches strafrechtliches Risiko u.U. eines Berufsausübungsverbotes sehr oft hoch honorieren ließen. Diese vorstehend beschriebene Fristenregelung war in der Erwartung beschlossen worden, durch die einer Abtreibung vorgeschaltete Beratung die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche senken zu können. Sie lief praktisch auf eine Freigabe der Abtreibung hinaus. Dagegen klagten die Länder Bayern und BadenWürttemberg vor dem BVerfG, das 1975 mit der Mehrheit der Richterstimmen des zuständigen Senats gegen ein Minderheitenvotum desselben Kollegiums die von der Parlamentsmehrheit beschlossene Fristenlösung für verfassungswidrig erklärte. Das durch Art. 2 II GG geschützte Recht auf Leben stehe grundsätzlich "jedem" menschlichen Leben – gedanklich ganz selbstverständlich mitgedacht und darum nicht extra ausgesprochen war damals, als es die modernen biomedizinischen Zeugungsmöglichkeiten der In-vitro-Fertilisation noch nicht gab, die Voraussetzung: jedem Leben im Mutterleib(!) - und damit auch dem Embryo zu. Ein Zellkernklumpen ist durch diese Gleichsetzung also auch schon ein »Jeder« wie jeder geborene Mensch. Eine Minderheit der Verfassungsrichter erklärte in ihrem Minderheitenvotum, dass die Mehrheit der Verfassungsrichter ihrer Meinung nach mit dieser Entscheidung die Entscheidungskompetenz des BVerfGs überschritten hätte. Es müsste stattdessen in diesem Fall der Wille der Parlamentsmehrheit ausschlaggebend sein. Aber selbst das BVerfG wollte keine Rückkehr zu einem strikten Abtreibungsverbot und legte den Rahmen für eine gesetzliche Neuregelung fest, die eine Abtreibung "grundsätzlich" - da haben wir das bedeutungsschwangere Lieblingswort der Juristen wieder - verbot, aber beim Vorliegen bestimmter Gegebenheiten ("Indikationen") dann doch ausnahmsweise zuließ. Die daraufhin seit 1976 durch gesetzliche Neuregelung geschaffene Rechtslage sah bis zum im Zuge der deutschen Einheit erforderlich gewordenen erneuten Neuregelungsversuch 1992 vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft wird. Die Schwangere selbst konnte mit maximal einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Ihre Strafbarkeit entfiel aber, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach mindestens drei Tage vorher stattgefundener Beratung von anderer(!) Stelle als dem den Abbruch vornehmenden Arzt vor Ablauf einer im Gesetz für jede Indikation gesondert genannten Frist seit der Empfängnis vorgenommen worden war. Die Fremdabtreibung durch den Arzt war auch für ihn nicht strafbar, wenn sie mit der Einwilligung der Schwangeren geschah und mindestens eine der vier Voraussetzungen ("Indikationen") vorlag: 1.) Gefahr für das Leben oder den körperlichen bzw. seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren (medizinische Indikation) 2.) Gefahr nicht behebbarer, schwerwiegender Gesundheitsschädigung des entstehenden Kindes (eugenisch kindliche Indikation bis zur 22. Woche) 3.) Verdacht, dass die Schwangerschaft durch eine rechtswidrige Tat verursacht worden sein könnte (ethisch kriminologische Indikation bis zur 12. Woche) und 4.) Gefahr einer schwerwiegenden sozialen Notlage durch die Geburt (soziale Indikation bis zur 12. Woche). Neue Nahrung erhielt die Diskussion um den § 218 StGB und die damit im Zusammenhang stehenden anderen gesetzlichen Regelungen durch die Wiedervereinigung, in deren Folge laut Einigungsvertrag ein einheitliches Abtreibungsrecht geschaffen werden musste, das auch vor dem BVerfG bestehen konnte. In der (Ex-) DDR hatte die Fristenregelung gegolten. Auf diese in ihren Augen fortschrittlichere Regelung wollten die Frauen aus den ostdeutschen Bundesländern nicht verzichten. Und die Frauen im Westen hätten überwiegend gerne diese liberalste Lösung zugestanden erhalten. Darum musste 1992 - nach verabredeter genereller Gewissensfreiheit der Abgeordneten ohne Fraktionszwang (woran sich aber nicht alle Parteien hielten, denn die CSU forderte die der Schwesterpartei CDU angehörende Parlamentspräsidentin auf, wegen ihrer von der Hauptfraktionsrichtung abweichenden Meinung zu der Frage der gesetzlichen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs von ihrem Amt zurückzutreten) - eine Neuregelung für das ganze Bundesgebiet gefunden werden, die einerseits die Errungenschaft der DDR in diesem Punkt weitestgehend wahrte und andererseits vor dem BVerfG Bestand haben konnte, denn Bayern hatte angekündigt, dass es wieder gegen eine von der Parlamentsmehrheit beschlossene Neuregelung klagen werde, die über die Indikationenregelung hinausgehe. Und auch die katholische Kirche übte im Vorfeld der gesetzlichen Neuregelungskämpfe starke Pressionen aus. So forderte der katholische Erzbischof von Köln, Kardinal Meißner, die CDU wegen der von einem Teil ihrer Abgeordneten eingenommenen positiven Einstellung zu dem eine Abtreibung zulassenden parteiübergreifenden Gruppenantrag auf, das "C" aus ihrem Namen zu streichen. Diese Pressionsversuche wurden von dem Mainzer Bischof Lehmann weiter vorangetrieben, der in einem SPIEGEL-Interview in der Woche der bevorstehenden Bundestagsabstimmung zu § 218 StGB der CDU mit der Gründung einer neuen Partei "mit einem sehr deutlichen christlichen Profil" drohte, wenn CDU-Abgeordnete der Fristenlösung zur Mehrheit verhülfen. "Diese Partei könnte ... genauso Zünglein an der Waage spielen wie andere Parteien

457

auch." In ihrer Ablehnung jedes Schwangerschaftsabbruches weiß sich die katholische Kirche - die evangelische hat bemerkenswerterweise keine einheitliche Meinung erarbeiten können - mit der Ansicht der CSU und der der REPs einig. Am 27.07.92 hatte der Bundestag dann nach mehr als 14-stündiger Beratung entschieden, dass Schwangerschaftsabbrüche künftig dann straffrei bleiben sollten, wenn sich die Schwangere drei Tage vor dem Abbruch von einem Arzt beraten lassen würde. "Fristenregelung mit Beratungspflicht" hieß das von einer parteiübergreifenden Mehrheit nach zwei Jahren heftigster Diskussionen beschlossene Modell. 94.000 Sammeleingaben im Zusammenhang mit der Neuregelung des Abtreibungsparagraphen 218 StGB waren in diesem Zeitraum an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages gerichtet worden. Die Gegner des parteiübergreifenden Gruppenantrages, 249 Abgeordnete der Unionsparteien, strengten zusammen mit der Bayerischen Staatsregierung ein Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG an, das daraufhin die Neuregelung per einstweiliger Anordnung stoppte. Am 23. Mai 1993 erklärte das höchste Gericht der Bundesrepublik das von einer überwältigenden Parlamentsmehrheit beschlossene und vom Bundespräsidenten unterzeichnete Gesetz in wesentlichen Punkten für nichtig. Auf 183 Seiten begründeten die Richter, dass Abtreibung rechtswidrig sei und bleibe, also nicht als rechtmäßig bezeichnet werden könne. Trotz der Rechtswidrigkeit aber könne der Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleiben. Dazu gehöre u.a. eine dem Lebensschutz dienende, auf ihn abzielende Beratung, die bestimmten Kriterien genügen müsse. Wegen der festgestellten grundsätzlichen Rechtswidrigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs dürfe es eine Abtreibung auf Krankenschein aus diesen grundsätzlichen Erwägungen heraus im Normalfall nicht geben. Einzig Frauen in finanzieller Not könnten die Kosten für den Abbruch ersetzt werden. Nun war der Gesetzgeber wieder gefordert, den vom BVerfG gelassenen Spielraum mit einer erneuten Neuformulierung auszufüllen. Dabei war und blieb vor allem strittig: 1.) Die Ausgestaltung des Beratungsgesprächs: ob anonym und mit welchem Spagat zugleich einerseits ergebnisoffen und andererseits nach der Vorgabe des BVerfGs auf Lebensschutz abzielend dieses Gespräch geführt werden müsse, ob die Schwangere die sie zu dem Abbruch bewegenden Gründe darlegen müsse, oder ob eine schweigende Anwesenheit ausreiche, die für eine Abtreibung erforderliche Bescheinigung über die Teilnahme an einem Beratungsgespräch zu erhalten, 2.) die Finanzierung der Abtreibung: wofür, für wen, in welcher Höhe, durch welche Kasse oder rein privat und 3.) die Frage, wie ein Drängen zum Abbruch durch Angehörige und welches Verwandtschaftsgrades sowie unterlassene Hilfeleistung bestraft werden solle, wenn sie dazu führe, dass eine Frau eine Schwangerschaft abbricht. Ungeklärt blieben auch die Ungereimtheiten der juristischen Ausgestaltung der Abtreibung innerhalb der Dreimonatsfrist einerseits und den Bestimmungen und Verfahren im Falle einer Spätabtreibung nach der 23. Schwangerschaftswoche. Letzteren Bereich neu zu regeln, wurde Ende 2004 in Angriff genommen: „Abtreibung 217 Fälle von Zweifel und Leid Spätabtreibungen sind selten. Die Debatte um sie ist emotional aufgeladen: Die Union fordert jetzt, per Gesetz die Hürden für betroffene Frauen zu erhöhen. Rot-Grün sieht die Frauen unter Druck VON ANJA MAIER UND COSIMA SCHMITT Sieben Monate sind vergangen. Ein faustgroßes Babymützchen wird in ein Schubfach geräumt. "Das Kind war tot", sagen die hinterbliebenen Eltern. Was sie nicht sagen, ist, dass sie zugestimmt haben, das Kind zu töten, bevor die Mutter es geboren hat. Denn eine solche Entscheidung ist kaum vermittelbar. 217 Fälle von Spätabtreibung zählte das Statistische Bundesamt im letzten Jahr, 128.030 Abtreibungen gab es insgesamt. Der Abbruch nach der 23. Schwangerschaftswoche ist rechtlich zulässig, seit 1995 die Parteien den Abtreibungskompromiss verabschiedeten. In einem Punkt stimmten sie damals überein: Ein Embryo sollte nicht sterben, weil er behindert ist. Deshalb schafften sie die bis dahin mögliche "embryopathische Indikation" ab. Spätabtreibung firmiert seither als "medizinische Indikation". Hier ist es das Wohl der Mutter, das für die Zulässigkeit des Eingriffs ausschlaggebend ist. Ist die Frau seelisch oder körperlich gefährdet, ist eine Abtreibung noch bis zur Geburt möglich. Anders als bei einer Abtreibung in der Drei-Monats-Frist ist hier nicht vorgeschrieben, sich vor dem Abbruch beraten zu lassen. "So kann es nicht bleiben", erläuterte gestern im Bundestag die stellvertretende

458

Fraktionsvorsitzende Maria Böhmer die Position der Union. "Vermeidung von Spätabtreibungen Hilfen für Eltern und Kinder" hieß deren Antrag. Der sieht auch für späte Schwangerschaftsabbrüche eine psychosoziale Pflichtberatung - für beide Elternteile - vor sowie eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Gespräch und Eingriff. Zudem soll ein interdisziplinär besetztes Ärztegremium die Diagnose abschließend prüfen. Eltern, die sich für ein Leben ohne ihr ursprünglich gewünschtes Kind entscheiden, haben immer eine Zeit des Leidens und Zweifels hinter sich. Im Laufe der Schwangerschaft reiht sich dank ausgefeilter vorgeburtlicher Diagnostik ein Befund an den nächsten, wechseln sich Phasen des "Wir schaffen das" mit absoluter Mutlosigkeit ab. Wo endet das Recht des Kindes, wo beginnt das der Mutter? Eine Frage, die durch "restriktive Regelungen zu keiner Zeit" beantwortet werden konnte, wie SPD und Grüne in ihrem Gegenantrag betonten. Christel Riemann-Hanewinckel (SPD), Staatssekretärin im Familienministerium, betonte in ihrer Erwiderung, die vom Parlament beschlossene Fristenregelung sei "nicht ergänzungsbedürftig". Die Union verweist in ihrem Antrag auf ein weiteres Problem. Eltern eines behindert geborenen Kindes können den Arzt auf Schadenersatz verklagen. Manche Ärzte rieten in unklaren Diagnosesituationen deshalb eher zum Abbruch der Schwangerschaft. "Viele Ärzte drängen die Frauen", so Maria Böhmer. Vor diesem Hintergrund schlug die Unionsfraktion vor, zu prüfen, ob sich die Arzthaftung - wie zum Beispiel in Frankreich - künftig auf "grobe Fahrlässigkeit" beschränken ließe. "Dieser Antrag will die Position der Ärzte stützen", lautete die Kritik der SPD am Unionsantrag. Riemann-Hanewinckel forderte stattdessen die Bundsärztekammer auf, endlich verbindliche Richtlinien zu verabschieden und vor allem die Gepflogenheit kritisch zu prüfen, jede Schwangerschaft "gezielt auf Auffälligkeiten" zu prüfen und damit Schwangere unter Druck zu setzen. "Es gibt ein Recht auf Nichtwissen", so die Staatssekretärin. Irmingard Schewe-Gerigk (Grüne) bescheinigte der Union ein grundsätzliches "Misstrauen gegenüber schwangeren Frauen". Ihre Entscheidung müsse respektiert und ihnen geholfen werden, mit der Trauer um ihr totes Kind umzugehen. Ein Kind, das sie sich gewünscht hatten. Die Anträge wurden gestern zur weiteren Beratung in die Ausschüsse verwiesen.“ (taz 12.11.2004) „Union will Paragraph 218 nachbessern Rot-Grün gegen Begrenzung von Abtreibungen nach dem 6. Schwangerschaftsmonat Berlin - SPD und Grüne haben im Bundestag eine gesetzliche Begrenzung von Spätabtreibungen – aus medizinischen Gründen zulässige Schwangerschaftsabbrüche ab der 23. Schwangerschaftswoche - abgelehnt. Die geltenden Regelungen seien "eindeutig und nicht ergänzungsbedürftig", sagte die Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium, Christel RiemannHanewinckel (SPD). Dagegen forderte die stellvertretende Vorsitzende der Unionsbundestagsfraktion, Maria Böhmer (CDU), eine Klarstellung. Das geltende Recht stehe im "krassen Gegensatz" zum Grundgesetz, nach dem niemand wegen einer Behinderung diskriminiert werden dürfe. Anträge beider Seiten wurden zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen. Die Union fordert eine gesetzliche Regelung mit dem Ziel der "wirksamen Vermeidung" von Spätabtreibungen. Die Koalitionsfraktionen plädieren in ihrem Antrag für mehr Beratungsangebote, sehen jedoch keine striktere Verpflichtung vor. Bemühungen für eine fraktionsübergreifende Initiative zur Begrenzung von Spätabtreibungen waren im Sommer gescheitert. Riemann-Hanewinckel sagte, würden die Vorstellungen der Union gesetzlich umgesetzt, käme es zu einer "starken Bevormundung und Diskriminierung schwangerer Frauen". Dies wies Böhmer zurück. Es gehe vielmehr um bessere Hilfe für Frauen in einer verzweifelten Situation. Bislang könnten Kinder ohne jegliche Beratung und ohne Bedenkzeit "praktisch bis unmittelbar vor der Geburt" abgetrieben werden, falls eine Behinderung zu erwarten sei. "Niemand bei uns hat Interesse an einer neuen Diskussion über den Paragraphen 218 Strafgesetzbuch (StGB)", betonte Böhmer. Die frauenpolitische Sprecherin der FDP, Ina Lenke, erläuterte, manches "Frühchen", das nun abgetrieben werde, wäre außerhalb des Mutterleibes lebensfähig. Sie rief dazu auf, bei den Ausschußberatungen zu einer gemeinsamen Linie zu finden. Es sei aber nicht zu bestreiten, daß vorgeburtliche Pränataldiagnostik (PND) eine wertvolle medizinische Errungenschaft und Chance sei. Die Parlamentarische Geschäftsführerin und frauenpolitische Sprecherin der Bündnisgrünen,

459

Irmingard Schewe-Gerigk, warf Teilen der Union vor, nur an einer Verschärfung des Paragraphen 218 StGB interessiert zu sein. Die Vorlage der CDU/CSU zeuge von tiefem Mißtrauen gegenüber Frauen und Ärzten und ziele auf eine "Zwangsberatung" ab. Ähnlich äußerte sich die SPDFrauenpolitikerin Christel Humme. Es gehe der Union um eine Pflichtberatung, die kontraproduktiv wäre. Die Vorsitzende der Unionsarbeitsgruppe Frauen, Maria Eichhorn (CSU), rief dazu auf, bei der Abstimmung nach Ende der Beratungen den Fraktionszwang aufzuheben. Eine Frage des Lebensschutzes sei eine Frage des Gewissens. Deshalb sei die Abstimmung freizugeben. Der Union gehe es um Beratungspflicht und verbindliche Bedenkzeit, um eine Mutter vor einer Entscheidung zu bewahren, "die sie vielleicht ihr Leben lang bereut". Eine Spätabtreibung wird häufig vorgenommen, wenn sich eine schwere Behinderung des Kindes abzeichnet. Spätabtreibungen sind daher ethisch umstritten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 2003 in Deutschland 128 030 Abtreibungen gemeldet. In 217 Fällen kam es zu einem Abbruch nach der 23. Woche. Allerdings werden nicht alle Abtreibungen statistisch erfaßt. DW“ (DIE WELT 12.11.04) „DIE HALTUNG DER UNION ZU SPÄTABTREIBUNGEN IST IM SINNE DER FRAU Zwangsberatung schadet nicht Mit ihrem Antrag im Bundestag rührt die CDU an ein meist hinter Krankenhausmauern verbanntes Tabuthema: die Spätabtreibung. Ärzte töten Föten, die schon sechs oder acht Monate alt sind, weil sie sonst schwer behindert zur Welt kämen. Die Union will die Mütter in diesen Fällen künftig zwangsberaten lassen. Eine Frau soll ihr krankes Kind nur abtreiben dürfen, wenn sie sich vorab psychisch betreuen lässt. Zudem soll ein Expertenteam abschätzen, ob das Kind bloß beeinträchtigt oder zu einem Leben voller Leid verdammt wäre. Das Konzept ist gut, weil es den Frauen hilft. Eine Mutter soll urteilen, ob sie ihr Kind als zu behindert empfindet, muss über Leben und Tod ihres Fötus richten. Bei dieser Entscheidung braucht sie allen Beistand, den die Gesellschaft ihr geben kann. Nicht nur den emotionalen des Partners, auch den sachlich-distanzierten der Fachleute. Dürfte es eine Frau nicht entlasten, wenn Experten ihr versichern: Dein Baby wäre so schwer behindert, dass es niemals das Leben genießen könnte? Oder wenn umgekehrt der Kinderarzt, der Chirurg oder der Hirnforscher verdeutlichen: Das Kind wäre zwar beeinträchtigt - aber es könnte durchaus spielen, lernen, glücklich sein? Die bisherige Regelung ist nicht konsequent. Bei einer fristgerechten Abtreibung schreibt der Gesetzgeber eine Beratung vor. Bei der Spätabtreibung tut er das nicht, obgleich sie für die Eltern psychisch viel schwieriger zu bewältigen ist. Wer ein Kind im sechsten Monat abtreibt, der trennt sich nicht von einem winzigen Embryo. Sondern von einem fast fertig entwickelten Menschen, den man vorsorglich im Mutterleib töten lässt. All diese Neuerungen sollten jedoch nur eine Unterstützung sein, nicht die Frau bedrängen, geschweige denn bevormunden. Die Entscheidung für oder gegen das Ungeborene kann nur sie selbst treffen. Keine Frau wird leichtfertig diesen wohl schlimmsten aller Beschlüsse fällen. Und keine Mutter und kein Vater haben die moralische Pflicht, sich für ein Kind aufzuopfern, das niemals selbständig sein wird. Wo eine Frau die Grenze zieht, kann nur sie selbst ermessen. Ihr dabei alle denkbare Hilfe zu leisten, ist allerdings sehr wohl eine Aufgabe des Gesetzgebers. COSIMA SCHMITT“ (taz 12.11.04)

So wurde die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs wiederholt dem gewandelten Rechtsempfinden der Bevölkerungsmehrheit anzupassen versucht. Das muss grundsätzlich mit allen gesetzlichen Bestimmungen möglich sein, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse oder Sichtweisen zu einschneidend verändern und so der Rechtsfrieden in Gefahr gerät, weil die Bürger bestimmte Gesetze nicht mehr als Ausfluss des Rechts zu akzeptieren vermögen - oder Bürger und Politiker schärfere Gesetze z.B. zur Bekämpfung von Gewalt-, Drogen- und organisierter Kriminalität fordern. Es sei als obiter dictum darauf hingewiesen, dass Art. 102 GG "Die Todesstrafe ist abgeschafft." nicht unter das in Art. 79 III GG geregelte, nicht abänderbare so genannte »verfassungsfeste Minimum« fällt. Eine Zweidrittelmehrheit könnte dieses justizielle Grundrecht somit nach geändertem Rechtsbewusstsein

460

abschaffen, weil es auch nicht zu dem Grundrechtskatalog der Artikel 1 - 19 GG gehört, die gemäß Art. 19 II GG in keinem Fall in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen. Zum Schluss und zur Abrundung des Beispiels möglicher gesetzlicher Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs noch ein Blick über den Zaun: In vielen Staaten gilt die Fristenregelung, in anderen, hauptsächlich katholischen Ländern, ist die Abtreibung noch verboten. (Im kommunistischen Rumänien war sie, wie damals auch der Gebrauch von Verhütungsmittel, nicht aus religiösen Gründen verboten, sondern nur deshalb, weil der später gestürzte und hingerichtete Diktator Ceausescu über ein immer größeres Volk hatte herrschen wollen.) Darum wurde z.B. der Frau der folgenden Meldung der Prozess gemacht: "Schuß in den Bauch ap/afp Miami - In Clearwater (Florida) muß sich eine US-Bürgerin wegen Mordes verantworten. Sie wollte ihre Schwangerschaft mit einem Schuß in den Bauch beenden. Der sechs Monate alte Fötus wurde gerettet, starb aber später an Nierenversagen." (HH A 12.09.94) Für den, der nicht in "Rechtskunde - Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten" nachschlagen will: Der Mordvorwurf, sollte die Meldung insoweit zutreffend sein, kommt nur durch das andersgeartete angelsächsische Recht zustande, das keine so ausdifferenzierten Tötungsdelikte kennt wie z.B. das deutsche Strafrecht, und wo "murder" - im Gegensatz zum deutschen Strafrecht - das Grunddelikt darstellt, "manslaughter" (Totschlag) dagegen die privilegierte und darum weniger hart bestrafte Deliktsvariante ist. Nach deutschem Recht käme nur ein Vergehen nach § 218 StGB in Betracht, da nach unserem Strafrecht ein Embryo vor Einsetzen der Austrittswehen noch keine »Mensch«-Qualität erreicht hat, Totschlag und Mord aber die Tötung eines (anderen) »Menschen« voraussetzen. Internationales Aufsehen erregte der Fall eines 14-jährigen irischen Mädchens, das von einem Freund des Vaters vergewaltigt worden und aus dieser Vergewaltigung heraus schwanger geworden war. Da in Irland die Abtreibung verboten ist, wollte das Mädchen für den Abbruch der Schwangerschaft nach Großbritannien fahren dürfen, was zunächst von gerichtlichen Unterinstanzen verboten, aber dann vom höchsten irischen Gericht erlaubt worden war. Nun ist dort die Diskussion um die Möglichkeiten einer Abtreibungsneuregelung erneut heftig entflammt, weil die Abtreibungsbefürworter nicht einsehen wollen, warum eine Jugendliche oder Frau erlaubterweise erst ins Ausland fahren muss, um eine von ihr gewollte Abtreibung nach einer Vergewaltigung vornehmen zu lassen. Wenn (nur in einem extremen Ausnahmefall?) eine Abtreibung an einer Irin im Ausland straffrei vorgenommen werden darf, warum werde der Schwangeren diese Möglichkeit dann nicht auch im eigenen Land eröffnet? Solle das bisherige, katholisch geprägte Rechtsverständnis weiterhin Geltung haben oder geändert werden? Und wenn man glaubt, durch jahrzehntelange parlamentarische Diskussion der Abtreibungsfrage eine „wasserdichte“ gesetzliche Regelung erarbeitet und erstritten zu haben, dann kommt das Leben und zeigt einem, dass man doch nicht an alle Eventualitäten gedacht hat - weil man gar nicht an alle Eventualitäten denken kann: Das Leben ist - jedenfalls im Bereich des Strafrechts - viel zu einfallsreich: „Schwanger im Koma SAD Rochester - Seit zehn Jahren liegt eine 29jährige Frau in Rochester (US-Staat New York) in einem Heim im Koma. Jetzt ist sie schwanger. Offenbar wurde die Patientin von einem Pfleger vergewaltigt. Die Familie der Frau möchte, daß sie das Kind zur Welt bringt.“ Das Beispiel des Kampfes um die jeweilige Neuregelung des Abtreibungsrechts zeigt, dass das in den Gesetzen zum Ausdruck kommende »staatliche Recht« ständig dem angepasst werden muss, was überwiegend als »Recht« angesehen wird, wenn sich die Gesetze nicht zu weit von dem entfernen sollen, was in der Bevölkerung überwiegend als »Recht« geglaubt und von ihr als solches akzeptiert wird. Das bedeutet ständigen Wandel. Einem Staat ohne die Möglichkeit zum Wandel fehlen die Möglichkeiten zu seiner Erneuerung. Eine Demokratie lebt nicht nur vom Zu-, sondern auch vom Widerspruch der Bürger und dem sich daraus ergebenden Wandel. Dadurch ist sie offener und lernfähiger als jede andere Staatsform. In ihr gibt es nicht die Herrschaft einer absolut gesetzten Idee, die wegen der dann fehlenden Möglichkeiten zum Wandel nur zur Institutionalisierung des Irrtums führt. Darum standen die kommunistischen Regime des Ostblocks all die Jahre auf tönernen Füßen. Darum sind sie letztlich zusammengebrochen.

461

2.8.26 Die Menschenrechte als Beschwörungsformel der neuzeitlichen Menschheitsgeschichte Die Menschenr echte als Beschwöru ngsformel der neuzeitliche n Menschheit sgeschichte

Vielleicht ist aber die auf den durch die Religionskriege in Europa geprägten Vorstellungen des Freiherrn von Pufendorf (1632-1694) über die Menschenwürde und die daraus abgeleitete Freiheit und Gleichheit aller Menschen, auf den so entwickelten Gedanken des Naturrechts fußende, von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.48 verabschiedete "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" ein so letztgültiges minimales Rechtsprogramm, dass es nicht mehr geändert, sondern »nur« noch durchgesetzt werden muss. Diese Deklaration wurde nach der gerechtfertigten Gegenwehr der humaneren Welt gegen die unmenschliche Nazi-Ideologie und deren menschenmordenden Auswüchse nicht geschaffen, um durch Rechtssätze den Himmel auf Erden zu verwirklichen - so illusionär war man nicht (mehr): „Wer den Himmel auf Erden sucht, hat im Erdkundeunterricht nicht aufgepasst!“, formulierte ein Kabarettist sehr eingängig -, sondern um nach den Erfahrungen mit den Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus die Hölle auf Erden möglichst zu verhindern; was auf Grund der Natur des Menschen natürlich nicht gelang: Das blutrünstige PolPoth-Regime der Roten Khmeer z.B. ließ - ohne auch nur den Versuch einer ideologischen Begründung des vorgeblich unabweislich notwendigen Vorgehens wegen einer (angeblich) bestehenden Staatsnotlage unternommen zu haben - gleich nach Erringung der Macht alle Brillenträger des Landes erschlagen, weil sie ausweislich ihrer Brille „Intellektuelle“ seien. „Um sich greift der Mensch, nicht darf man ihn der eigenen Mäßigung vertraun. Ihn hält in Schranken nur das deutliche Gesetz und der Gebräuche tiefgetretne Spur“ (Schiller). „Die Menschenrechte sind nicht Ausfluss eines idealistischen Menschenbildes, sondern notwendige Abwehr des ewig Unmenschlichen. Wir brauchen sie, um auf unserer abschüssigen Bahn Halt zu finden. Sie sind Barrikaden gegen unsere eigene Bosheit und die des anderen“, so der französische Philosoph Glucksmann in einem SPIEGEL-Interview (28.06.04). Diese minimalistischen Menschenrechte sollen für alle Menschen auf dieser Welt nur schon allein auf Grund ihres Menschseins Gültigkeit haben, auf jeden Fall aber für alle Menschen in den 191 Mitgliedsstaaten der UNO. (Meines Wissens ist nur der Vatikan nicht Mitgliedsstaat der UNO.) Das schließt aber nicht aus, dass in manchen Gesellschaften der Kanon der dort geltenden Grundrechte noch weiter gefasst werden kann, wie es z.B. die in der Entstehungsdiskussion sich befindende Grundrechtscharta der Europäischen Union mit ihren geplanten 54 Artikeln vorsieht. Wenn wir diese Deklaration der Menschenrechte, an die sich alle Mitgliedsstaaten der UNO durch ihre Unterschrift unter die Beitrittserklärung gebunden fühlen müssten, aber mit der Wirklichkeit nicht nur in dem zerfallenen Jugoslawien vergleichen, gewinnen wir die wichtige Einsicht: Recht, das keine Macht und keine Strafe hinter sich hat, zerfällt. Das ist keine neue Erkenntnis. Die wurde ähnlich schon von Philosophen früherer Jahrhunderte formuliert. So vertrat z.B. Hobbes in seinem Leviathan die Ansicht, dass Recht und Stärke einander immer begleiten müssten, weil „Worte“ (d.h.: Gesetze) ohne „Schwert“ (d.h.: die Mittel zu ihrer Durchsetzung) nicht ausreichend Kraft besitzen, um die Menschen zu binden. Und aus eigener historischer Erfahrung wissen wir Deutschen um die Umkehrung der beiden zentralen Begriffe »Recht« und »Stärke« der eben formulierten Einsicht: Macht ohne Recht führt zur oder ist Tyrannei.

Weil die inzwischen von mindestens 140 Staaten ratifizierte "Erklärung der Menschenrechte" als eine allgemeine Regel des Völkerrechts gemäß Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts ist, den (allgemeinen) Gesetzen - nicht aber der Verfassung(!) - vorgeht und darüber hinaus international auf die politische Entwicklung in der Welt, z.B. Europas im KSZE-Prozess, eine so überragende Wirkung hatte und hoffentlich auch noch andere Regionen der Welt zivilisieren wird, soll ihr Wortlaut zum Selbststudium abgedruckt werden. Diese Erklärung ist kein völkerrechtlich bindender Vertrag, sondern eine ethische und moralische Empfehlung. Wer nur die Nachrichtensendungen ein bisschen aufmerksam verfolgt, wird feststellen, wie oft noch von den Beitrittsstaaten der UNO gegen die in dieser Erklärung enthaltenen Grundsätze tagtäglich verstoßen wird. So lehnen z.B. die islamischen Fundamentalisten die Charta der Menschenrechte ab.

462

Deswegen bekämpfen sie ja auch die iranische Rechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin 2003, Schirin Ebadi, die die Meinung vertritt: „Am wichtigsten ist nicht, welche Religion, Sprache oder Kultur man hat, sondern dass man an die Menschenrechte glaubt.“ Weil die iranische Rechtsanwältin zu ihrem Auftritt anlässlich der erstmaligen Verleihung eines Nobelpreises an eine Muslimin ohne Kopftuch auftrat, handelte sie sich prompt eine durch die Medien gegangene Rüge ihres obersten Religionsführers ein.

ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE DER VEREINTEN NATIONEN vom 10.12.1948 Präambel Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet, da Verkennung und Mißachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist, da es wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird, da es wesentlich ist, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen zu fördern, da die Völker der Vereinten Nationen in der Satzung ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau erneut bekräftigt und beschlossen haben, den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit zu fördern, da die Mitgliedsstaaten sich verpflichtet haben, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen, da eine gemeinsame Auffassung über diese Rechte und Freiheiten von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtung ist, verkündet die Generalversammlung die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereiche ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung sowohl der Mitgliedstaaten wie der ihrer Oberhoheit unterstehenden Gebiete zu gewährleisten. Artikel 1 [Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit] Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Artikel 2 [Diskriminierungsverbot] 1. Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler und sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen. 2. Weiter darf keine Unterscheidung gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, ohne Rücksicht darauf, ob es unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder irgendeiner anderen Beschränkung seiner Souveränität unterworfen ist. Artikel 3 [Recht auf Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit] Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Artikel 4 [Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels] Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen Formen verboten. Artikel 5 [Folterverbot] Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe

463

unterworfen werden. Artikel 6 [Anerkennung als Rechtsperson] Jeder Mensch hat überall Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson. Artikel 7 [Gleichheit vor dem Gesetz] Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf den gleichen Schutz gegen jede unterschiedliche Behandlung, welche die vorliegende Erklärung verletzen würde, und gegen jede Aufreizung zu einer derartigen unterschiedlichen Behandlung. Artikel 8 [Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz] Jeder Mensch hat Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen alle Handlungen, die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzen. Artikel 9 [Schutz vor Verhaftung und Ausweisung] Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden. Artikel 10 [Unabhängiges und unparteiisches Gericht] Jeder Mensch hat in voller Gleichberechtigung Anspruch auf ein der Billigkeit entsprechendes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, das über seine Rechte und Verpflichtungen oder aber über irgendeine gegen ihn erhobene strafrechtliche Beschuldigung zu entscheiden hat. Artikel 11 [Unschuldsvermutung. Keine Strafe ohne Gesetz] 1. Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist. 2. Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die im Zeitpunkt, da sie erfolgte, auf Grund des nationalen oder internationalen Rechts nicht strafbar war. Desgleichen kann keine schwerere Strafe verhängt werden als die, welche im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung anwendbar war. Artikel 12 [Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen] Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Beruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Anschläge. Artikel 13 [Freizügigkeit. Recht auf Auswanderung und Heimkehr] 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates. 2. Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlasen sowie in sein Land zurückzukehren. Artikel 14 [Asylrecht] 1. Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen. 2. Dieses Recht kann jedoch im Fall seiner Verfolgung wegen nichtpolitischer Verbrechen oder wegen Handlungen, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen, nicht in Anspruch genommen werden. Artikel 15 [Anspruch auf Staatsangehörigkeit] 1. Jeder Mensch hat Anspruch auf Staatsangehörigkeit. 2. Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch ihm das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln. Artikel 16 [Freiheit der Eheschließung, Schutz der Familie] 1. Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne Beschränkung durch Rasse, Staatsbürgerschaft oder Religion das Recht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte. 2. Die Ehe darf nur auf Grund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen

464

werden. 3. Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat. Artikel 17 [Recht auf Eigentum] 1. Jeder Mensch hat allein oder in Gemeinschaft mit anderen Recht auf Eigentum. 2. Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden. Artikel 18 [Gewissens- und Religionsfreiheit] Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden. Artikel 19 [Meinungs- und Informationsfreiheit ohne Rücksicht auf Grenzen] Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten. Artikel 20 [Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit] 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu friedlichen Zwecken. 2. Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören. Artikel 21 [Recht auf politische Teilhabe und Zugang zu öffentlichen Ämtern. Allgemeines und gleiches Wahlrecht.] 1. Jeder Mensch hat das Recht, an der Leitung öffentlicher Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen. 2. Jeder Mensch hat unter gleichen Bedingungen das Recht auf Zulassung zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande. 3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch periodische und unverfälschte Wahlen mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht bei geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen. Artikel 22 [Recht auf soziale Sicherheit] Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter der Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen. Artikel 23 [Recht auf Arbeit und gleichen Lohn. Koalitionsfreiheit] 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit. 2. Alle Menschen haben ohne jede unterschiedliche Behandlung das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. 3. Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist. 4. Jeder Mensch hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Berufsvereinigungen zu bilden und solchen beizutreten. Artikel 24 [Recht auf Erholung, Freizeit und Urlaub] Jeder Mensch hat Anspruch auf Erholung und Freizeit sowie auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf periodischen, bezahlten Urlaub. Artikel 25 [Soziale Mindeststandards, Sozialhilfe. Gleicher sozialer Schutz für eheliche und uneheliche Kinder] 1. Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen

465

Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. 2. Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Hilfe und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche und uneheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz. Artikel 26 [Recht auf Bildung. Erziehung zur Achtung der Menschenrechte. Elternrecht] 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Der Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und Grundschulen unentgeltlich sein. Der Elementarunterricht ist obligatorisch. Fachlicher und beruflicher Unterricht soll allgemein zugänglich sein; die höheren Studien sollen allen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Leistungen in gleicher Weise offenstehen. 2. Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen und religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen. 3. In erster Linie haben die Eltern das Recht, die Art der ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu bestimmen. Artikel 27 [Kulturelle Teilhabe. Urheberrechtsschutz] 1. Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben. 2. Jeder Mensch hat das Recht auf Schutz der moralischen und materiellen Interessen, die sich aus jeder wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Produktion ergeben, deren Urheber er ist. Artikel 28 [Recht auf freiheitliche Ordnung mit Geltung der Menschenrechte und den ihnen entsprechenden Freiheiten] Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können. Artikel 29 [Soziale Pflichten. Schranken der Freiheit] 1. Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist. 2. Jeder Mensch ist in Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zwecke vorsieht, um die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten der anderen zu gewährleisten und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen. 3. Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden. Artikel 30 [Keine Freiheit zur Abschaffung der Freiheit] Keine Bestimmung der vorliegenden Erklärung darf so ausgelegt werden, daß sich daraus für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht ergibt, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, welche auf die Vernichtung der in dieser Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten abzielen.

Wegen dieser bedeutsamen Erklärung wird an jedem 10. Dezember in Erinnerung an ihre Verkündung weltweit der „Tag der Menschenrechte“ begangen. Während national und international darüber diskutiert wird, die bürgerlich-liberalen Menschenrechte um wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ökologische Menschenrechte zu erweitern, lassen sich mit einem bisschen historischem Wissen und Erinnern wohl zu den meisten der vorstehenden Artikel Beispiele dafür finden, wie vor und seit der Deklaration dieser Menschenrechte 1948 von den inzwischen über 190 Mitgliedsstaaten der UNO gegen die nunmehr feierlich deklarierten Grundsätze in jüngster Zeit verstoßen worden ist. Die Deklaration hat eben leider nur den empfehlenden Charakter einer Wunschzielbeschreibung, ihre Einhaltung kann grundsätzlich nicht mit Sanktionen erzwungen werden. Und wir wissen schon: Recht ohne Macht zerfällt. Die auf den Anstößen aus der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ fußenden Internationalen Menschenrechtspakte von 1966 hingegen sind völkerrechtlich verbindlich – und werden genau so missachtet. Für 1999 gab amnesty international an, dass in 47 Ländern der Welt politische Morde durch Militär und Polizei verübt wurden, in 66 Ländern Hunderttausende aus politischen Gründen ohne Anklage

466

oder Prozess in Haft seien. Die evangelische Kirche stellte für das Jahr 1998 fest, dass in 90 Staaten noch die Todesstrafe vollstreckt werde. Welche der vorstehenden Bestimmungen finden sich im später verfassten Grundgesetz wieder, welche nicht? Warum nicht? 1998 wurde der ständig tagende „Europäische Gerichtshof für Menschenrechte“ in Straßburg eingerichtet. Von Island bis Russland können sich jetzt 800 Mill. Menschen aus den inzwischen mindestens 43 Mitgliedsstaaten des Europarates - grundsätzlich erst nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges - direkt an das Straßburger Gericht wenden, um die eigene Regierung wegen Verletzung der Menschenrechte zu verklagen, indem sie einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention von 1953 behaupten, die die Mitgliedsstaaten bei ihrer Aufnahme in den Europarat unterzeichnen müssen. Damit gibt es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in einem Teil der Welt eine ständig tagende Rechtsinstanz, die über die Einhaltung der Menschenrechte wacht. Zum Schluss des Kapitels über die Menschenrechte als Beschwörungsformel der neuzeitlichen Menschheitsgeschichte einige Gedanken zu einigen der Menschenrechtsartikeln: Zu Artikel 1 [Gleiche Würde und Rechte für alle Menschen]: Wird auf die Würde der alten, gebrechlichen oder kranken Menschen bei uns genügend geachtet? Wie müssen sie in den Alters- und Pflegeheimen leben oder nur dahinvegetieren? Dürfen Pflegeheime in reinen Wohngebieten errichtet werden? Ein Verwaltungsgericht hat das abgelehnt. "Pflegenotstand `Lebendig begraben' In Deutschland sind rund 1,65 Millionen Menschen pflegebedürftig. Dieses Schicksal kann jeden treffen, Kinder ebenso wie Erwachsene; nach einem schweren Unfall oder durch eine unheilbare Krankheit, vor allem aber durch das Alter. Die Zahl der alten Menschen nimmt ständig zu. Betrug die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen 1970 noch 70 Jahre, so sind es heute 75. Im Jahr 1910 waren 5 von 100 Bürgern 65 Jahre und älter, 1988 waren es schon 15 und 2040 werden es 29 sein. ... Heute werden fast drei Viertel aller Pflegebedürftigen, rund 1,2 Millionen, von Angehörigen oder ambulanten Hilfsdiensten zu Hause versorgt. Was sich dabei in den Familien abspielt, ist der »nackte Notstand« beklagt der Sprecher des »Kuratoriums Deutsche Altershilfe« (KDA), Dr. Reinhard Dierl. »Die pflegenden Angehörigen werden dabei häufig selbst zum Pflegefall.« ... Seit dem 1. Januar 1991 haben 630.000 Schwerpflegebedürftige, die im eigenen Haushalt leben ... Anspruch auf »häusliche Pflegehilfe«: Das Gesundheitsreform-Gesetz billigt ihnen monatlich wahlweise 400 Mark in bar für private Betreuung zu, was aber teilweise auf die Hilfe des Sozialamtes angerechnet wird, oder 750 Mark für monatlich maximal 25 Pflegeeinsätze, die eine Stunde pro Tag nicht überschreiten dürfen. Drei Wissenschaftlerinnen der Universität Hohenheim untersuchten im Auftrag der Robert-BoschStiftung, wieviel Zeit dem Helfer täglich für die Grundpflege eines Patienten zur Verfügung steht, wenn er den vom Gesetzgeber vorgegebenen 25-Stunden-Rahmen einhält. Das Ergebnis ist beschämend. Im Fall eines 78jährigen Patienten, nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, sieht das so aus: für Gehübungen, Gymnastik und die Rasur jeweils knapp 4 Minuten; für die Hilfe beim Kochen sechs, beim Essen zwei und für die Toilettenbenutzung drei Minuten. Waschen im Bad elf und sechseinhalb Minuten für die Hilfe beim Ankleiden. Für die Assistenz beim Zähneputzen hat die Pflegekraft zwei Minuten und für die Handreichung bei der Hautpflege eine Minute. Kämmen muß sie den 78jährigen in 42 Sekunden, und für die Krankenüberwachung, beispielsweise Pulsfühlen oder Blutdruckmessen, verbleiben ihr 48 Sekunden. Für die Reinigung der Wohnung oder kleine Einkäufe müssen sechseinhalb Minuten reichen, und in eineinhalb Minuten muß das Krankenbett bezogen sein. Bleiben nach der Minimalversorgung noch drei Minuten für die menschliche Zuwendung: ein paar Worte zwischen Pfleger und Patient zur Begrüßung und zum Abschied. KDA-Sprecher Dr. Reinhard Dierl: »Die Hilfe, die der Staat den Schwerstbehinderten zubilligt, steht in keinem Verhältnis zur Hilflosigkeit der Patienten und zeigt, daß Sein und Schein bei der ambulanten Pflege noch weit auseinanderklaffen.« Tatsächlich muß eine Pflegekraft durchschnittlich 15 Hilfsbedürftige in acht Stunden betreuen. Mit An- und Abfahrt verbleiben für

467

den Kranken selten mehr als fünfzehn Minuten - kaum das Notwendigste. ... Ein Teufelskreis: Fehlende Rehabilitation produziert neue Pflegefälle, die wiederum den Notstand verschärfen. Dabei könnten rund 95 Prozent aller 80jährigen - richtige Rehabilitationshilfe vorausgesetzt - ihren Lebensabend zu Hause verbringen. »Wenn man ihnen dabei hilft«, so der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, Professor Christoph Lucke, »ist eine Pflegebedürftigkeit vermeidbar, die einen Heimaufenthalt nötig macht.« ... »Schon bei der Überweisung auf die Pflegestation werden die alten Menschen häufig in Windeln gelegt, weil dem Pflegepersonal die Zeit fehlt, sie zwei- bis dreimal auf die Toilette zu begleiten.« Wenn sich nicht die Angehörigen darum kümmern, bleiben sie oft wochen- und monatelang in den Betten, anstatt einmal täglich an die frische Luft zu kommen. »Es kommt auch vor, daß Heimbewohner ins Krankenhaus gefahren werden und ohne medizinische Notwendigkeit eine Magensonde bekommen, weil das Heimpersonal keine Zeit hat, sie zu füttern«, sagt Fussek. »Dadurch ist die Pflegebedürftigkeit der Alten auf Dauer programmiert. Sie verlernen, selbständig zu essen oder die Toilette zu benutzen.« Kürzlich holte Claus Fussek eine alte Dame aus dem Krankenhaus. Ihr waren die hohen Kosten für das Bett, in dem sie lag, ständig vorgehalten worden. Wenn sie nicht freiwillig die Klinik verlasse, drohte der Arzt, würde man sie ihren Angehörigen vor die Tür legen. Doch sie hatte keine. Fussek brachte sie in einer Rehabilitationsklinik unter. Aber dort war die 90jährige den Pflegern zu alt. Bei der herrschenden Personalnot hätten jüngere Patienten Vorrang, sagte die Krankengymnastin. »Das ist purer Sozialdarwinismus«, meint Fussek. »Wer alt und auch noch schwerstpflegebedürftig ist, wird ausgemustert. Das ist bei uns leider praktizierter Alltag.« ... Das »Kuratorium Deutsche Altershilfe« hat eine Liste aller bekanntgewordenen Skandale in Krankenhäusern und Pflegeheimen der letzten Jahre zusammengestellt - Geschichten aus dem Gruselkabinett. ... Auch ein Grund dafür, daß die Selbstmordrate unter den älteren Menschen steigt. In Deutschland sterben Jahr für Jahr mehr Menschen an Selbstmord als im Straßenverkehr. Die meisten Suizide werden von alten Menschen begangen, ... . Alleingelassen sah sich auch der pensionierte Ingenieur Werner Groß in München. Sechs Jahre lang hatte der alte Herr seine Frau Ilse gepflegt, die nach zwei Schlaganfällen im Koma lag. Zweimal am Tag kam ein Pfleger von der Caritas, machte das Bett, verabreichte der Frau Medizin und kontrollierte die elektrischen Geräte, die die Frau am Leben hielten. Als auch der Mann immer kränker wurde, schrieb er einen Abschiedsbrief: Wenn ihm etwas zustoße, wisse er nicht, wer seine Frau weiterhin versorgen solle. Deshalb erscheine ihm beider Tod als einzige Lösung. Dann griff der 85jährige zur Pistole, erschoß seine Frau und danach sich selbst." (STERN 21.05.92) Wird die menschliche Würde der Aussiedler, Asylanten und Gastarbeiter bei uns in ausreichendem Maße gewahrt? Wie ist das staatliche Handeln in Rostock und Hoyerswerda zu beurteilen, wo der Mob ausländische Arbeitnehmer unter Billigung und Jubel der "wohlanständigen Bürger" anfiel, an Leib und Leben bedrohte, verletzte - und der Rechtsstaat vor dem Pöbel in die Knie ging, indem er die Ausländer in einen anderen Ort verlegte, anstatt den rechtsradikalen Randalierern die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zu demonstrieren?

Zu Artikel 2 [Anspruch jedes Menschen auf alle Rechte und Freiheiten dieser Erklärung]: "Die Bürgerrechtskommission des US-Bundesstaates Michigan hat einem schwarzen Arbeiter die Rekordsumme von 1,5 Millionen Dollar als Entschädigung für Diskriminierung am Arbeitsplatz zugesprochen, weil er von seinen Kollegen immer wieder belästigt und gedemütigt worden war. In seinem Spind fand er tote Ratten, Mäuse und Fische, an seinem Arbeitsplatz hingen Henkersschlingen, Wände waren mit rassistischen Sprüchen beschmiert. Weder die Firma, noch die Gewerkschaft hatten etwas gegen die Diskriminierungen getan." (FR 25.05.84) Das türkische Militär bombardierte die eigene Bevölkerung - wenn es sich um Kurden handelte.

Zu Artikel 2 und 3

468

„Als Mädchen geboren zu werden, ist laut Unicef ein großes Risiko. Ohne gezielte Gewalt gegen das weibliche Geschlecht gäbe es 60 Millionen mehr Frauen auf der Welt. ‘Die ständige Bedrohung der Frauen und Mädchen ist die Menschenrechtsverletzung, die auf der Welt am weitesten verbreitet ist‘, so die Unicef-Geschäftsführerin Carol Bellamy.“ (HH A 23.07.97) Zu Artikel 3 [Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit]: Das Menschenrecht auf Leben müsste zwangsläufig das weltweite Verbot der Todesstrafe zur Folge haben. In den USA z.B. wurde sie aber 1994 auf 60 Delikte ausgeweitet, weil die Amerikaner dem Irrglauben anhängen, nur so die ausufernde Kriminalität in ihrer Gesellschaft mit Aussicht auf größtmöglichen Erfolg bekämpfen zu können. Irrglauben deswegen, weil dort, wo regelmäßige verlässliche Daten zur Kriminalstatistik erhoben werden, bisher nirgends ein Zusammenhang zwischen Todesstrafe und Rückgang von Gewaltverbrechen festgestellt werden konnte. Eine Reihe von Studien für US-Staaten zum Beispiel scheint eher das Gegenteil zu belegen: Dort, wo keine Todesstrafe existiert oder angewandt wurde, lag die Zahl der Morde fast immer niedriger als dort, wo im selben Zeitraum Hinrichtungen durchgeführt werden. Dies stützt Überlegungen, wonach die Todesstrafe als äußerste staatliche Gewalttat eher zu einer allgemeinen Verrohung führen und die Hemmschwelle für Gewalttaten senken könnte; was allerdings nicht als zwangsläufiger Mechanismus interpretiert werden darf, denn im Vatikan wurde die Todesstrafe erst 2001 nach einem Mord eines Schweizer Gardisten an einem Kameraden abgeschafft. Und dieses atavistische Verlangen nach Menschenblut besteht weiterhin ungebrochen, obwohl inzwischen – teilweise erst durch die Ergebnisse von bisher nicht und nur auf Betreiben von engagierten Bürgern in teilweise buchstäblich letzter Minute dann doch vorgenommenen DNA-Tests – feststeht, dass mindestens 95 der seit 1973 gefällten Todesurteile nachweislich Fehlurteile sind! (Das in den USA von engagierten Bürgerrechtlern und renommierten Anwälten gegründete „Innocence Project“ erreicht wöchentlich eine erschreckend hohe Zahl von alarmierenden Hilferufen von inzwischen nachweislich unschuldig Verurteilten und anderen, die noch Hilfe benötigen, um ihre Unschuld beweisen zu können. Sie wurden „nur“ deswegen verurteilt, weil sie als meist Randständige der Gesellschaft kein Geld haben, um sich einen mindestens brauchbaren Anwalt leisten oder eine ihre Unschuld nachweisende DNA-Analyse vornehmen lassen zu können, deren Vornahme auf Kosten des Staates in Höhe von 8.000 US-$ ihnen von vielen Richtern trotz Beteuerung ihrer Unschuld verweigert wurde! Das „Innocence Project“ hilft teilweise mit der Stellung engagierter Anwälte und der Übernahme der Kosten für eine den Verurteilten nachträglich entlastende Analyse zur Durchsetzung eines Wiederaufnahmeverfahrens – obwohl der Staat die Schuld eines gerade eines Verbrechens Angeklagten vor einer Verurteilung ausschließen müsste, wenn ihm durch die Wissenschaft die zweifelsfreie Möglichkeit dazu an die Hand gegeben ist, bevor er einen Unschuldigen für Jahre ins Gefängnis bringt. Das darf doch nicht an 8.000 US-$ scheitern! Den durch die Arbeit des „Innocence Projects“ Freigekommenen wurde zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit eine beeindruckende Photoausstellung gewidmet, die sie an den von ihnen teilweise vorher nie betretenen Orten der von ihnen nur angeblich begangenen Verbrechen zeigte, für die sie verurteilt worden waren.) "Galgenhumor? ap Seattle - Mit der Frage, ob ein Todeskandidat mit 180 Kilo zu schwer ist, um gehängt zu werden, muß sich jetzt ein Gericht in Seattle (US-Staat Washington) befassen. Todd Maybrown, Anwalt des zum Tode verurteilten Doppelmörders Mitchell Rupe, der die Giftspritze ablehnt: `Wegen seines hohen Gewichts wird ihm bei der Hinrichtung vermutlich der Kopf abgerissen. Das verstößt gegen die Menschenrechte.' Entscheidung am 11. Juli." (HH A 17.05.94) Zu Artikel 4 [Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft]: Der christliche Anführer der südsudanesischen Rebellen, der christliche General und Wirtschaftswissenschaftler Dr. John Garang, konnte 1990 vor dem Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages unter gleichzeitiger Anwesenheit von Regierungsvertretern des islamischen Nordens seines Landes unwidersprochen sagen, dass es im Sudan noch Sklaverei gäbe, unter der Teile der Bevölkerung des Süd-Sudans zu leiden hätten. Papst Johannes Paul II. verdammte auf seiner Afrikareise im Juni 1992 ausdrücklich die Sklaverei im Sudan. 1995 veröffentlichte das "Harper's Magazine" in seinem Harper's Index die Angaben: Durchschnittspreis eines Sklaven im Südwesten Sudans (in Kühen)

1

469

Durchschnittspreis eines Sklaven im zentralsudanesischen Nuba-Gebirge (in Dollar)

1

Der Papst hatte 1993 im Nord-Sudan einen Staatsbesuch gemacht und die vom Blut der südsudanesischen Christen befleckte Hand des muslimischen Militärbefehlshabers geschüttelt, der und dessen Vorgänger die sich im Süden des Landes gegen die Zwangsislamisierung der sudanesischen Gesellschaft wehrenden Christen und Animisten in einem nun schon Jahrzehnte dauernden Bürgerkrieg bis aufs Blut bekämpfen. Widerlich! Die diktatorisch regierenden islamischen Fundamentalisten des Nordens benutzten den Besuch des Papstes als einen »Persil-Schein« dafür, dass der Bürgerkrieg gegen die mehrheitlich im Süden des Landes lebende und um ihre staatsbürgerrechtliche Gleichbehandlung kämpfende christliche Minderheit so schlimm gar nicht sein könne - auch wenn der Papst bei der politischen Führung des Sudans die Achtung der Menschenrechte, den Schutz der Minderheiten und die Garantie der Religionsfreiheit anmahnte. Aber ob der Papst dem muslimischfundamentalistischen Staatschef das sagt oder die Dattelpalme rauscht, das ist für die um ihre physische und psychische Existenz kämpfenden Südsudanesen von gleicher Bedeutung. Das geht aus der Erwiderung des Staatschefs hervor: Der General bezeichnete Vorwürfe, es gebe Folter sowie eine Verfolgung der Christen als "groteske Erfindungen". Der Sudan achte und schütze die Menschenrechte (HH A 11.02.93). Warum gibt es dann bloß seit Jahrzehnten diesen grausam geführten Bürgerkrieg und die Sklaverei? In einem UNO-Bericht über die südsudanesische Hungerprovinz Bahr El Ghazal hieß es laut einem kommentierenden DLF-Bericht vom 01.09.01 u.a.: Die Menschen fürchten weniger die Armee als die Sklavenjäger, die sie als tägliche Bedrohung empfinden. Die bis an die Zähne bewaffneten Sklavenjäger kommen meist nachts auf ihren Pferden und überfallen die Dörfer. Frauen und Kinder werden in die Sklaverei entführt, auf Eisenbahnwaggons verladen und in den Norden gebracht, wo an den Frauen Genitalbeschneidungen vorgenommen werden. Die Sklaverei sei ein doppelt profitables Geschäft, weil die im Süden geraubten Menschen zunächst im Norden in die Sklaverei verkauft und dann nach einigen Jahren ein gut Teil von ihnen – teilweise durch von international operierenden Organisationen zur Verfügung gestellte Spendenmittel - vom Süden aus zurückgekauft werden. Offene Sklaverei wird heutzutage noch von der Nationalen Islamischen Front, die den Sudan beherrscht, betrieben. Die Südsudanesin Mende Nazer hat über ihr Schicksal das Buch „Sklavin“ publiziert. In der Buchbesprechung im STERN (31.10.02) wird zusammengefasst: „Sie kamen in der Nacht. Eine Horde marodierender Mudschaheddin brach in das Dorf ein, bis an die Zähne bewaffnet, brennende Fackeln in der Hand. ’Allahu akbar!’, grölten sie , ’Gott ist groß’, dann setzten sie Häuser in Brand, schnitten Männern und Frauen die Kehle durch, verschleppten die Kinder, um sie später als Sklaven an reiche arabische Familien zu verkaufen. Für etwa 150 Dollar pro Kind. Unter ihnen auch Mende Nazer, ein zwölfjähriges Mädchen aus einem kleinen Dorf in den Nuba-Bergen. Mende wurde in die sudanesische Hauptstadt Khartum verfrachtet und von nun an ’yebit’ gerufen – das arabische Wort für jemanden, der es nicht wert ist, einen Namen zu tragen. Sie wurde eingesperrt, bekam keinen Pfennig Lohn, hatte bis zur Erschöpfung zu arbeiten, wurde geschlagen und sexuell belästigt. Sieben Jahre währte die Ausbeutung als schwarze Haussklavin bei ihrer wohlhabenden arabischen ’Herrin’, bis diese sie im Sommer 2000 ’weiterreicht’ an eine sudanesische Diplomatenfamilie nach London.“ Dort muss sie ohne Bezahlung, ohne Ausgang und ohne freien Tag schuften, bis ihr beim Rausbringen des Mülls die Flucht gelingt. Aber Sklaverei und ihr ähnelnde Lebensverhältnisse gibt es nicht nur im Sudan, sondern auch noch in anderen Teilen Afrikas: „Tausende Kinder verkauft BAMAKO (ap) Tausende Kinder aus den Dürregebieten Malis sind von ihren Eltern an Plantagenbesitzer in der benachbarten Elfenbeinküste in die Sklaverei verkauft worden. Dies teilte der malische Justizminister Amidou Diabate mit. Betroffen seien rund 10.000 Jungen und Mädchen im Alter zwischen acht und 16 Jahren. Der Preis habe umgerechnet rund 35 Dollar betragen. Der Handel mit Kindern habe inzwischen fast ganz die traditionellen Wanderarbeiter auf den Kakao- und Kaffeeplantagen ersetzt. (FR 23.05.98) Als in Liberia vom Direktor des Instituts „Vorkämpfer für allgemeines Recht auf Wachstum und Entwicklung“ im September 1998 ein Bericht über Kindersklaverei veröffentlicht wurde und er außerdem gegen Übergriffe der Geheimpolizei demonstrierte, wurde der Direktor dieses Instituts im Dezember 1999 eingesperrt, gefoltert, entlassen, und als er wieder verhaftet werden sollte aber nicht gefunden werden konnte, wurde auf seinen Kopf eine Prämie von 10.000 $ ausgesetzt. AI gelang es, ihn außer Landes zu schmuggeln.

470

Daneben gibt es verdeckten Sklavenhandel als Kindersklavenhandel für die Arbeit auf den Feldern, im Haushalt oder in der Prostitution. „Kinderhandel ist eines der schmutzigsten und eines der lukrativsten Geschäfte der Welt: Immer mehr Mädchen und Jungen aus armen Familien geraten in die Fänge international tätiger Schlepper. Hunderttausende müssen als Arbeitssklaven, Prostituierte oder Hausmädchen schuften. ... Jährlich werden 200.000 Jungen und Mädchen in westafrikanischen Ländern wie Waren verkauft. Arme Familien sehen oft keinen anderen Ausweg, als ihre Kinder in die Hände hilfsbereiter ’Vermittler’ zu geben. ... Aus dem Brauch, Kinder für die Ausbildung zu wohlhabenden Verwandten zu schicken, wird in Westafrika immer mehr ein kriminelles Geschäft. UNICEF schützt Kinder in Benin, Burkina Faso und der Elfenbeinküste vor Menschenhändlern.“ (UNICEF-Weihnachtsaktion 2002) „In Afrika tritt die Versklavung von Kindern auch immer häufiger an die Stelle einer pädagogischen Tradition: Arme Familien schickten früher ihre Nachkommen zu besser gestellten Stammesmitgliedern, bei denen sie zwar im Haus oder auf dem Feld helfen mussten, dafür aber versorgt und erzogen wurden. Heute haben viele Eltern ’einfach keine andere Wahl’, als Söhne und Töchter zu verkaufen, heißt es über Westafrika in einem neuen ILO-Bericht [International Labour Organisation; der Autor]. Die Kinder arbeiten und leben wie einst zur Sklavenzeit. Nur sind es heute vielfach Afrikaner selbst, die sie ausbeuten. Die meisten Minderjährigen stammen aus Togo, Benin, Burkina Faso oder Mali, wo bis zu 70 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze vegetieren und die Bevölkerung schneller wächst als der Bedarf an Arbeitskräften. Zu Fuß, in Minibustaxen oder überfüllten, kaum seetüchtigen Booten werden sie in ressourcenreichere Nachbarländer wie Gabun, Nigeria oder die Elfenbeinküste geschmuggelt. Die Jüngsten sind gerade vier Jahre alt. Ein Fünftel der kleinen Sklaven kommt nie ans Ziel. Sie gehen verloren, ertrinken, verhungern, sterben an Malaria.“11

Zu dem in Art. 4 ausgesprochenen Verbot von Sklaverei, Sklavenhandel und Leibeigenschaft seien hier außerdem die sich auf außerafrikanische Gebiete beziehenden Kurzmeldungen wiedergegeben: "Wie Sklaven dpa Neu Delhi - Etwa 55 Millionen Kinder arbeiten in Indien unter sklavenähnlichen Bedingungen." (HH A 25.01.93) „Polizei befreite 850 Sklavenarbeiter afp Rio de Janeiro – Im brasilianischen Bundesstaat Para hat die Polizei in den vergangenen zwei Jahren auf zehn großen Landgütern insgesamt 850 Sklavenarbeiter befreit. Wie die Arbeitsverwaltung des Bundesstaates mitteilte, mußten die verantwortlichen Großgrundbesitzer Bußgelder zahlen und wurden angeklagt.“ (HH A 07.04.99) „Mädchenhandel dpa Rio de Janeiro – In Goiania (Brasilien) werden minderjährige Mädchen wie Sklaven verkauft. Das berichtete eine Kommission des Provinzparlamentes. ...“ (HH A 20.08.98) Aus einem Spendenaufruf von UNICEF 04.10.02 „Allein in Asien werden jährlich eine Million Kinder verkauft und in die Prostitution gezwungen.“ „... Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen zufolge sind weltweit jährlich 1,2 Millionen Kinder Opfer von Kinderhandel. Nach Auffassung von Scharlowski ist das eine sehr konservative Schätzung. Studien von Unicef und ILO belegen, dass allein in Westafrika jährlich 200 000 bis 300 000 Kinder als Arbeitssklaven verschachert werden. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schätzt die Zahl aller gehandelten Menschen von Ost- nach Westeuropa auf 200 000 jährlich.“ (FR. 06.04.05) „...Auf jährlich 12 Milliarden US-Dollar schätzt die Internationale Arbeitsorganisation die 11

Kinder – Die Moral des Geldes in SPIEGEL 15.09.01, S. 188

471 Gewinne der Menschenhändler.“ (FR. 06.04.05) „Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass jährlich 120 000 Frauen und Kinder nach Europa verkauft werden, vor allem aus Osteuropa und dem Balkan. Fast alle Prostituierten auf dem Balkan, so berichten Unicef, UN-Menschenrechtskommissariat und OSZE, wurden von Menschenhändlern an ihre Zuhälter verkauft. Zwischen zehn und 30 Prozent von ihnen sind Minderjährige. ... Grundlegende Verbesserung wird erst möglich, wenn das regionale und weltweite Armutsgefälle abnimmt.“ (FR. 06.04.05) UNICEF gab Ende 2004 an, dass diese Unterorganisation der UNO davon ausgehe, dass jährlich vier Millionen Menschen durch Sklaverei, Menschenhandel in insbesondere der Form des Frauenhandels und durch Zwangsprostitution ihrer persönlichen Freiheit beraubt und so mehr oder minder versklavt werden.

Zu Artikel 5 [Folter und grausame, unmenschliche und/oder erniedrigende Strafen sind verboten]: "Dank an Amnesty Mißhandlungen, Folter, Vergewaltigung, willkürliche Hinrichtungen, spurlos verschwundene Menschen - das Lexikon des Schreckens füllt viele Seiten. In 138 Ländern, so der Jahresbericht 1990 von Amnesty International (ai), werden Menschenrechte verletzt, nur weil Menschen gegen ihre Regierung geredet, geschrieben oder demonstriert haben. ..." (HH A 28.05.91) „Hamburger Arzt sammelt Röntgenbilder als Belege für Folter und Verbrechen Authentische Dokumente grausamer Wahrheiten ... Er wollte die Spuren der Tropenkrankheiten erforschen und entdeckte: Gewalt prägte den Krankenhausalltag in der Dritten Welt weit mehr als jede Infektionskrankheit. Immer wieder fielen Hermann Vogel, Radiologe am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg in Hamburg, Röntgenbilder in die Hände, die schlimmste Gewaltanwendung dokumentieren. ... ‘Unbeschreiblich, was Menschen Menschen antun!‘ ... Zu schweigen wäre für ihn einem Verrat an den Opfern gleichgekommen. Auf dem Röntgenzelluloid ... sah er Menschen, denen Nägel in die Köpfe geschlagen worden waren. Er sah Bilder von Menschen mit Messern in Schädel, Rumpf, Hand. Schrotkugeln in Hals und Brustkorb, Fahrradspeichen in Bäuchen. Deformierte Glieder, Hände, denen Daumenschrauben angesetzt worden waren. (HH A 11.02.99) "Amnesty protokolliert den Schrecken: In 110 Staaten wird gefoltert ... In ihrem neuesten Bericht schreibt die Gefangenen-Hilfsorganisation Amnesty International (AI), 1992 seien in 110 Ländern Gefangene gefoltert und mißhandelt worden. In 62 Staaten seien Menschen aus politischen und ethnischen Gründen ohne Gerichtsverfahren inhaftiert worden, in 45 Staaten wurden Oppositionelle Opfer staatlicher Morde. Angeprangert werden auch Übergriffe der deutschen Polizei. ... Insgesamt werden Menschenrechtsverletzungen in 161 Ländern aufgeführt. ... In verschiedenen europäischen Ländern habe sich die Menschenrechtslage verschlechtert, fährt Amnesty fort. So gebe es einen Anstieg der Berichte über teilweise rassistisch motivierte Folterungen und Mißhandlungen durch Polizei und Sicherheitskräfte in Staaten wie Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal, Rumänien und Spanien. ...“ (Datum leider nicht notiert.) Die Situation hat sich seitdem verschlimmert: Im Jahre 2003 hat Amnesty International Folter in über 150 der 202 Staaten der Welt registriert.

Der AI-Bericht zeigt, was dabei herauskommt, wenn man nicht sauber zwischen staatlich angeordneter Verfolgung oder staatlich geduldeter und gedeckter Verfolgung einerseits und dem Fehlverhalten einzelner Uniformträger im Staatsdienst andererseits differenziert: Deutschen Polizisten, denen solche Übergriffe z.B. in Berlin gegen vietnamesische Zigarettenschmuggler oder in Hamburg gegen Ausländer nachgewiesen werden konnten, hatten ein Strafverfahren zu gewärtigen. Sie werden zusätzlich bei nachgewiesenen untragbaren Verstößen aus dem Polizeidienst entlassen. Solch unterschiedliche Fakten kann man – bei aller Sympathie für

472

die Ziele und die Arbeit von ai - doch nicht alle in einen Topf rühren mit staatlich gedeckten Übergriffen der Polizei in anderen Ländern vergleichen, ohne dass die Seriosität leidet! Andere Maßstäbe galten schon immer z.B. in der Türkei, die kein der abendländischen Kulturtradition zugehörender Staat ist, sich durch ihre Mitgliedschaft in der Nato aber denselben freiheitlichen Werten, die die Nato zu verteidigen bemüht ist, hätte verpflichtet fühlen müssen. Wegen der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1954 durch die Türkei, der Antifolterkonventionen der UN und der – nach meinem Dafürhalten systemfremden - Mitgliedschaft der zu 97 % ihres Staatsgebietes asiatischen Türkei im Europarat sowie der Überleitung der entsprechenden Konventionen durch einen Verfassungsartikel in türkisches Recht hätte in türkischen Gefängnissen schon längst nicht mehr gefoltert werden dürfen, doch es geschieht täglich, ja stündlich! „ai appelliert an die Türkei MÜNSTER dpa  Die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) hat die türkische Regierung vor dem Hintergrund des Gefangenen-Hungerstreiks zum Verzicht auf Folter aufgerufen. ... In 125 Staaten der Welt würden Menschen gefoltert, in 70 Ländern sogar systematisch, sagte er [der Vorstandssprecher der deutschen ai-Sektion]. (taz 05.06.01) Beamte, die - ganz vereinzelt - wegen Folterns als polizeiliche Verhörmethode angeklagt gewesen waren, wurden hinterher sogar befördert! Die wenigen mutigen türkischen Richter, die die Verfassung ihres Landes ernst zu nehmen gewagt und Folterer verurteilt hatten, waren wegen ihrer der Folter wehrenden Urteile strafversetzt worden. Erst Ende 1999 wagte es der Vorsitzende des obersten Berufungsgerichts der Türkei, eine komplette Überarbeitung der Verfassung der Türkei sowie Menschenrechtsreformen zu fordern, denn die zurzeit gültige Verfassung „verteidige nicht die Freiheiten des Individuums, sondern schütze den Staat vor dem Bürger“, kritisierte Sami Selcuk. Amnesty International berichtete wiederholt neben Fällen staatlich verübten Mordes „Frau Ciller und die Mordkommandos ap Ankara – Türkische Staatsorgane haben auf Anordnung oder mit Wissen der Regierung der früheren Ministerpräsidentin Ciller Oppositionelle ermorden lassen und dabei eng mit dem organisierten Verbrechen zusammengearbeitet. Das geht aus einem Regierungsbericht in Ankara hervor.“ (HH A 29.01.98) von der durchgängigen Anwendung der Folter in türkischen Gefängnissen. Eine dort praktizierte besonders widerliche Art der Folter war die Folterung von Kindern in Gefängnissen zur Erpressung von Aussagen von deren Eltern, die bei der Folterung ihrer Kinder zusehen oder sogar mit Hand anlegen mussten. (Im Irak Saddam Husseins wurden Kindern im Beisein der Eltern die Augen ausgestochen, um so deren Eltern gefügig zu machen. Das ist aus türkischen Gefängnissen aber nicht berichtet worden; eine leichte Schamgrenze scheint es bei der Folterung in türkischen Gefängnissen gegeben zu haben.) Folter ist Hölle auf Erden, die der Unmensch seinem Mitmenschen bereitet!

"Gefolterte Kinder rtr/dpa Bonn - Weltweit werden nach Angaben von `Amnesty International' Tausende Kinder von Sicherheitskräften gefoltert und ermordet. Besonders schlimm seien die Greueltaten in Brasilien, Guatemala und Peru. Auch in der Türkei gebe es Mißhandlungen von Kindern." (HH A 21.10.92) "Wer läßt foltern? Amnesty warnt türkische Regierung: Immer mehr Gewalttaten dpa/apf London/Bonn - Die Menschenrechtslage in der Türkei hat sich nach den jüngsten Berichten von Amnesty International im vergangenen Jahr `dramatisch verschlechtert'. Amnesty forderte die türkische Regierung auf, schwere Menschenrechtsverletzungen nicht länger zu leugnen und damit Folter, politische Morde und das `Verschwindenlassen' von Zivilisten durch Sicherheitskräfte zu decken. `Mit 55 Menschen hat sich 1994 die Zahl der `Verschwundenen' im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt', schreibt Amnesty. Fast 400 Menschen seien politischen Morden zum Opfer gefallen, bei denen zumindest der Verdacht auf eine Mittäterschaft der Sicherheitskräfte bestehe - 20mal mehr als 1991. 29 Menschen sollen an den Folgen von Folter gestorben sein. Sogar Kinder würden schwer mißhandelt und mit Elektroschocks gequält, hieß es.

473

Auch der Kurdischen Arbeiterpartei PKK wirft Amnesty vor, die Lage durch politische Morde an kurdischen Zivilisten zusätzlich verschärft zu haben. ..." (HH A 08.02.95) Hoffentlich ändert sich das bald, nachdem der ehemals Vorsitzende Richter am Verfassungsgericht Sezer, der für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und eine dementsprechende Verfassungsreform steht, im Jahre 2000 neuer Staatspräsident der Türkei geworden ist! Einen Dämpfer erhielten die gerade aufkeimenden Hoffnungen, als einen Monat nach dieser Wahl der türkische Parlamentspräsident anlässlich eines ihm überreichten, mit Folterwerkzeugen aus türkischen Gefängnissen als Anschauungsmaterial drapierten Berichts der Menschenrechtskommission des türkischen Parlamentes am 30.05.00 systematische Folter in türkischen Gefängnissen leugnete. Ganz mochte er aber die allseits bekannten Foltervorkommnisse nicht abstreiten. Er erklärte sie kurzerhand für individuelles Fehlverhalten. Am Beispiel der Türkei, lässt sich sehr gut verdeutlichen, dass ein Folterstaat ohne international Probleme hervorzurufen sehr wohl auf der Basis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (sogar Gründungs)Mitglied der UNO sein konnte. Politik ist oft eine Hure! Erst die Bemühungen um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU zivilisierten die Türkei, aus der noch während der Vorbereitungsphase und nach dem Beschluss zur Aufnahme von Verhandlungen mit der EU von türkischen Menschenrechtsorganisationen Berichte über inzwischen staatlich zwar offiziell verbotene, aber weiterhin verübte Folter drangen. Dabei hätte die politische Umgestaltung der Türkei aber schon aus demokratischem und rechtsstaatlichem Eigeninteresse heraus – ohne die EU als politischem Entwicklungshelfer - seit spätestens den Jahrzehnten der NATO-Mitgliedschaft durchgeführt werden müssen, da die NATO ja auch eine Gemeinschaft zur Verteidigung der Staaten mit gleichen Freiheitswerten zu sein beanspruchte – was man von dem Folterstaat Türkei wirklich nicht sagen konnte: jedes Jahrbuch von amnesty international legte jedes Jahr die systematischen Verstöße staatlicher türkischer Organe gegen die Menschenrechte bloß! Wegen der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1954, der Antifolterkonventionen der UN und der – nach meinem Dafürhalten systemfremden - Mitgliedschaft der zu 97 % ihres Staatsgebietes asiatischen Türkei im Europarat und der Überleitung der entsprechenden Konventionen durch einen Verfassungsartikel in türkisches Recht hätte in türkischen Gefängnissen seit Jahrzehnten nicht mehr gefoltert werden dürfen, doch es geschah täglich, ja stündlich – und geschieht auch heute noch, nur weniger und verdeckter! Bislang sind staatliche Folterungen in der Türkei noch immer nicht hinlänglich effektiv unterbunden! Nur sprachlich: Die türkische Regierung spricht nicht mehr von Folter, sondern nur noch von "Misshandlungen, von Einzelfällen". Erdogan: "’Es gibt keine systematische Folter in der Türkei.’ Wer dies behaupte, der lüge und sei beeinflusst von politischen Ideologien oder der PKK, der verbotenen kurdischen Partei. Menschenrechtsorganisationen in der Türkei widersprechen dem jedoch. Hüsnü Öndül, Präsident der Human Rights Association, sprach von 1391 gemeldeten Fällen von Folter im Jahr 2003; und in der ersten Hälfte des Jahres 2004, an dessen Ende zum 17.12.04 die EU über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschließen wollte, seien es auch schon wieder 692 gewesen“ (DIE WELT 05.10.04). „Ob ’unsystematisches Foltern’ in der EU wohl erlaubt sei, fragte sich daraufhin der ehemalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff – und lieferte seine Antwort gleich mit: ’Ein Land, in dem gefoltert wird – ob systematisch oder unsystematisch , gehört nicht in die EU’“ (SPIEGEL 04.10.04). Sogar noch kurz vor der Abschlussreise des Erweiterungskommissars Verheugen im September 2004 zur Erstellung des Berichts, auf dessen Grundlage die EU-Kommission über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden will, gab es Äußerungen von Yuvas Önen von der türkischen Human Rights Foundation, dass in der Türkei, vor allem aber im von Kurden bewohnten Südosten des Landes, nach wie vor "systematisch gefoltert" werde. Trotz der Reformen der Regierung von Recep Tayip Erdogan mit ihrer angeblichen „Null-Toleranz“ gegenüber Folterungen habe es "keine Veränderung zum Positiven gegeben. Die Zahlen sind die gleichen", sagte Önen dem EU-Kommissar, als der sich auf Grund der Folterberichte zu einem Blitzbesuch in der Türkei aufhielt. Human Rights Foundation mit Sitz in Ankara hat nach Angaben von Önen allein 597 Folterfälle aus der ersten Hälfte des Jahres 2004 dokumentiert. „Sollten sich die Vorwürfe Önens bewahrheiten, stünde die Kommission in der Türkei vor einem Dilemma. Sollte dort tatsächlich immer noch systematisch gefoltert werden, dann brauche man über die anderen Beitrittskriterien gar nicht weiter reden, sagte Verheugen während seines Türkei-Besuchs. Der Beginn von Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei würde in weite Ferne rücken“ (DIE WELT 09.09.04).

474

Der grundsätzliche Fehler in der von Verheugen geteilten Position ist aber der, dass eine Mitgliedschaft der asiatischen Türkei in der Europäischen Union immer noch und weiterhin für möglich erklärt wird! Eine sofort entsandte Expertengruppe der EU ging den gemeldeten Menschenrechtsverletzungen nach und verfasste einen abschwächenden Bericht, in dem man nach mehrfacher Prüfung zu dem Ergebnis gekommen war, dass in der Türkei zwar "nicht mehr systematisch", das heißt nach einer Meinung: im Auftrag der Regierung oder der Sicherheitskräfte, gefoltert werde, dass das Instrument der Folter aber "noch immer in weiten Teilen des Landes angewendet" werde. "Es besteht ein klares Implementierungsdefizit" (DIE WELT 28.09.04). Das sehen Menschenrechtsorganisationen in Deutschland auch so, die ihre Beurteilung der Situation der Menschenrechte in der Türkei nicht so sehr an der im Strafgesetzbuch vorgenommenen Erhöhung des Strafrahmens für Folterer orientieren, sondern beim Auftreten von Folter eine effektive Bestrafung nicht nur der Folterer, sondern auch ihrer duldenden Vorgesetzten in den einzelnen Polizeistationen fordern. Die Brüsseler Beamten hatten in Ankara mit sieben Menschenrechtsorganisationen gesprochen. Amnesty International und Human Rights Watch bestätigten dabei, dass man nicht mehr von "systematischer Folter" in der Türkei sprechen könne, aber Folter weiterhin praktiziert werde. Der Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsstiftung (TIHV), Önen, hält die Brüsseler Sicht auf das Foltergeschehen für eine „fatale Fehleinschätzung“ und die „Null-Toleranz-Parolen“ der Regierung Erdogan daher für blanken Hohn (SPIEGEL 27.09.04). Der Präsident der Human Rights Association Hüsnü Öndül wurde in demselben Artikel mit dem Statement zitiert: "Die Türkei hat sich in den letzten Jahren sehr gewandelt". Doch noch immer gebe es "systematische Folter". Er frage sich, wie EU-Kommissar Günter Verheugen dazu komme, das Gegenteil zu behaupten. Vermutlich hängt das daran, wie die Wortwahl "systematische Folter" definiert - oder wegdefiniert - wird: Während Erdogan bei der Verwendung des Begriffes "systematische Folter" von staatlich angeordneter oder zumindest geduldeter Folter spricht, gehen die Menschenrechtler in Ankara weiter. Für sie gilt Folter als systematisch, wenn sie "kontinuierlich, verbreitet und intentional" ist, wie der Präsident der Human Rights Association, Öndül, erklärte. Dies heiße allerdings nicht, dass in der Türkei Folter ein Teil der Regierungspolitik sei. Die von der Human Rights Association gemeldete Zahl von 692 Folterungen allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 04 wurde von dem offiziellen Menschenrechtsbeirat beim Ministerpräsidenten in seinem Bericht bestätigt: „Von ’Einzelfällen’ könne daher keine Rede sein. … UNO-Vertreter hatten … festgestellt, daß es in den Reihen der Sicherheitsbehörden Widerstand gegen diese Reformen gebe“ (HH Abendblatt 22.10.04). Und von einer Änderung der Gerichtspraxis, folternde Polizisten nach der vor Abgabe des Fortschrittgutachtens der EU-Erweiterungskommission ganz schnell und mit großem Aplomb und europäischem Medienaufwand (hoffentlich nicht nur als Nebelkerze zur Erreichung der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen) beschlossenen Strafrechtsänderung nunmehr härter zu bestrafen, kann auch nicht unbedingt und uneingeschränkt die Rede sein: Folter-Urteil abgemildert Türkisches Gericht verkürzt Haftstrafe für Polizisten ANKARA afp Ein türkisches Berufungsgericht hat am Mittwoch eine Gefängnisstrafe von vier Jahren und zwei Monaten für einen Polizisten verhängt, der zusammen mit zwei anderen Beamten einen türkischen Gewerkschafter zu Tode gefoltert hat. Der Anwalt des getöteten Süleyman Yeter kritisierte den Urteilsspruch und warf den Behörden vor, Beamte unter Foltervorwurf zu schützen. Yeter war 1999 im Istanbuler Hauptquartier der Antiterrorabteilung so stark gefoltert worden, dass er an den Folgen starb. Der Polizist war zunächst zu zehn Jahren Haft verurteilt worden; ein zweiter wurde freigesprochen, was das Berufungsgericht bestätigte; der dritte ist weiterhin flüchtig. Die türkische Regierung hatte im September eine Strafrechtsreform beschlossen, die höhere Strafen für Beamte vorsieht, die foltern. (taz 11.11.04) „… Der Pfarrer der internationalen christlichen Gemeinde in Ankara, Felix Körner, berichtete, dass vereinzelt Christen verhaftet und gefoltert worden seien. Kirchliche und diplomatische Beschwerden würden abgetan; die Polizei verweigere nicht selten Hilfe, spreche von Phantasien

475

oder gebe Folterwunden als Folgen einer angeblichen Sauftour aus. Auch andere nichtmoslemische Religionsgemeinschaften klagten über Diskriminierungen und ’Anschläge’. …“ (FR 02.12.04)

"Es wird systematisch gefoltert" (Interview mit Eren Keskin, türkische Menschenrechtsorganisation IHD) DIE WELT: Sie haben es als Erste gewagt, öffentlich über Vergewaltigung und Folter in türkischen Gefängnissen zu sprechen. Wurden Sie selbst je vergewaltigt oder gefoltert? Eren Keskin: 1995 mußte ich für sechs Monate ins Gefängnis, weil ich in einer öffentlichen Ansprache das Wort "kurdisch" verwendet hatte. Während meines ersten Verhörs im Gefängnis haben mich die Beamten betatscht, an den Beinen berührt und mir versichert, daß dies nur der Anfang sein würde. DIE WELT: Kam es zu schlimmeren Übergriffen? Keskin: Es gab Gefängniswärter, die drohten, mich nachts zu vergewaltigen. Aber ich war damals als Anwältin und Menschenrechtlerin schon zu bekannt, als daß sie es wagten, ihre Drohung wahr zu machen. Nicht alle Frauen hatten dasselbe Glück. Sexuelle Übergriffe in den Gefängnissen gehören zur Tagesordnung. Sie sind Teil der systematischen Folter, die in der Türkei praktiziert wird. DIE WELT: Systematische Folter - ein harter Vorwurf. Haben Sie Beweise dafür? Keskin: Wir sind die größte Menschenrechtsorganisation in der Türkei. 15 000 Mitglieder. Wir sind über das ganze Land verteilt. Lesen Sie unsere Rapporte, Tausende von Seiten, dann haben Sie Ihre Beweise. Sehen Sie, die Türkei will in die EU, das Land gibt sich modern, aufgeschlossen, demokratisch. Reine Täuschung. DIE WELT: Premier Erdogan hat die Kompetenzen des Nationalen Sicherheitsrates, über welchen das Militär die Politik des Landes jahrzehntelang bestimmte, stark eingegrenzt. Keskin: Offiziell ist die Türkei ein moderner Rechtsstaat, aber die Realität sieht anders aus. Das Militär bestimmt nicht nur über den Nationalen Sicherheitsrat, sondern auch dank seiner wirtschaftlichen Stärke die Politik des Landes. Das Militär besitzt nach wie vor Banken, Versicherungen, Reisegesellschaften. DIE WELT: Gleichwohl ist in jüngster Zeit eine Reihe von Gesetzen geändert worden. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Folter unter Strafe gestellt, die kurdische Sprache und Kultur zugelassen... Keskin: ...wissen Sie, was der einzige, spürbare Unterschied ist zu früher? Wenn ich heute verhaftet werde, werde ich auf dem Polizeiposten nicht mehr verprügelt. Zugegeben, das ist ein Fortschritt, aber es ändert nichts am Grundsätzlichen. Die Türkei bleibt ein Staat mit zwei Gesichtern. Erdogan und seine Emissäre mimen in Brüssel die aufgeschlossenen und vernünftigen Staatsmänner. Doch zu Hause bleibt alles beim Alten. Wie viele Folterknechte wurden aufgrund der neuen Gesetzeslage in der Türkei letztinstanzlich verurteilt? Keiner, weil es offiziell keine Folterknechte mehr gibt. Das Land ist über Nacht eine moderne westliche Demokratie geworden, hundert Prozent europakompatibel. Leider nur auf dem Papier. DIE WELT: Ist nicht schon die Tatsache, daß wir jetzt ungestört ein Interview führen können, ein Indiz dafür, daß sich vielleicht doch etwas geändert hat in diesem Land? Keskin: Der Unterschied zu früher ist, daß heute subtilere Methoden der Folter angewendet werden. Die Leute werden mit Sandsäcken geschlagen, damit keine Spuren am Körper zu sehen sind. Sie werden wach gehalten, tagelang. Die Opfer werden keine einzige Schramme am Körper haben, aber wortwörtlich todmüde sein. Eren Keskin, 46, leitet das Büro der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD in Istanbul. Sie ist Anwältin und Preisträgerin mehrerer internationaler Friedensauszeichnungen. Mit ihr sprach Walter De Gregorio, Korrespondent der Schweizer Weltwoche (DIE WELT 18. Dezember 2004)

Die Türkei scheint nicht das einzige NATO-Land gewesen zu sein, in dem gefoltert wurde: "Folter-Vorwurf

476

afp London - In Griechenland sind nach Angaben von amnesty international (ai) im vergangenen Jahr 45 Gefangene gefoltert und mißhandelt worden. Verantwortlich seien meist Polizisten oder Gefängnisbeamte, die Informationen oder ein ‘Geständnis' erzwingen wollten." (HH A 24.06.92)

Befürworter eines Beitritts der Türkei zur EU argumentieren., dass die Türkei u.a. auch deswegen in die EU aufgenommen werden müsste, damit dort die Folter wirkungsvoll unterbunden werde. Nur die Aussicht auf einen Beitritt zur EU habe die Türkei bewogen, der Folter - jedenfalls offiziell - abzuschwören. Aber die EU kann nicht jeden Folterstaat aufnehmen, um dessen innerstaatliche Foltermethoden zu unterbinden: mit diesem Argument hätte sich fast die gesamte asiatische, afrikanische und arabische Welt auf Grund ihrer Folterpraxis eine Beitrittsberechtigung erworben. Beitritt als Folterprämie! Ein abwegiges Argument! Am Fall Syrien demonstriert: Nach drei Landesberichten im DLF vom 11.12.04 über die Nachbarländer der Türkei und deren an einen EU-Beitritt der Türkei geknüpfte Erwartungen will u.a. der Nachbar Syrien letztlich die Türkei als Schlupfloch für einen eigenen EU-Beitritt nutzen. Syrien will trotz unausgeräumter Gebietsansprüche an die Türkei nach dem Abschluss eines Freihandelsabkommens mit der Türkei zollfrei in den EU-Markt und letztlich in die EU. Die Syrer empfinden es schon jetzt als Diskriminierung, wenn sie nach einer Aufnahme der Türkei nicht ebenfalls in die EU aufgenommen würden. Syrische Politiker weisen schon jetzt darauf hin, dass Syrien wie die Türkei ebenfalls ein asiatisches und islamisches Land sei. Und es scheint da noch mehr Gemeinsamkeiten in dem Vergleich beider Länder in ihrem erhobenen Anspruch auf EUMitgliedschaft zu geben, nicht nur die Eigenschaft, ein asiatisches und islamisches Land zu sein: "Die Hölle, es gibt sie" Lange wußte niemand um die Tragödie Tausender Libanesen, die nach Syrien verschleppt wurden von Boris Kalnoky Beirut - Ali Abu Dehen lebte tagsüber ein normales Leben. Fast normal, außer, daß er meist sehr leise spricht und auf Zehenspitzen geht und weder Arme noch Beine, Hände oder Füße normal bewegen kann. Nachts jedoch kommen die Alpträume, kehrt er zurück in die Welt der syrischen Gefängnisse. "Die Hölle, es gibt sie", sagt er. "Ich komme von dort." 1987, der libanesische Bürgerkrieg war in vollem Gang, reiste Ali nach Damaskus. Er hatte genug vom Elend, wollte ein Visum nach Australien beantragen. Die australische Botschaft war, wie die Beiruter Botschaften der meisten Länder, wegen des Kriegs nach Syrien verlegt worden. Statt ins australische Paradies führte Alis Wegs ins Inferno syrischer Untersuchungshaft. Er wurde verhaftet, man warf ihm Spionage für Israel vor. Offenbar, weil er als kleiner Bauunternehmer im israelisch besetzten Süden Libanons mehrfach in Israel gewesen war. Ali wurde zu einem der vielen "Verschollenen" des Libanon. Die nächsten 13 Jahre verbrachte er im Knast. "Die ersten zehn Monate wurde ich in einer Dunkelzelle", erzählt er. "90 Zentimeter breit, 1,90 Meter hoch, schwarz wie die Nacht." Die Tür wurde zweimal am Tag geöffnet, 6 Uhr morgens und 6 Uhr abends. Da hatte er zwei Minuten, sich zu waschen und seine Notdurft zu verrichten. "Wer damit nicht rechtzeitig fertig war, wurde halbnackt vom Klo in die Zelle geprügelt." Ali wurde verhört. Die Folter war jedesmal dabei, jedesmal anders. "Es gibt Menschen, die überlegen sich, wie man zum Mond fliegen kann. Die Syrer dort erfinden lieber Foltermethoden", sagt Ali. Der "Ellebogen": Zwei Mann packen den Arm und brechen ihn am Gelenk. Ali kann beide Arme nicht mehr durchbeugen. Der Reifen: "Erst kommen die Füße in den Autoreifen, dann der Kopf. Sie legen dich mit den Füßen nach oben. Dann kommen die Peitschenhiebe auf die Sohlen. 400 Hiebe, 500 Hiebe mit Peitschen aus Reifengummi." Die lange Hand: Man wird stundenlang an einem Handgelenk aufgehängt. Zwischen Alis Hand und dem Gelenk sind heute zwei Zentimeter unter der Haut ohne Knochen. "Am Ende habe ich einfach "gestanden', daß ich mit Menachem Begin (der damalige israelische Regierungschef) Kaffee getrunken habe", sagt Ali. Ali ist ein sanfter Mann. Das spürte auch die Ratte, die ihn jeden Morgen in seinem Loch besuchte. Da gab es Frühstück, mit 10 Gramm Käse, den er der Ratte gab. Sie war im Dunkeln unsichtbar, aber kuschelte sich an ihn, und er redete mit ihr: "Geh bitte zu meiner Familie, sag ihnen, daß ich sie liebe." Wachen entdeckten das Rattenloch. Es wurde zubetoniert, er steckte Prügel ein, aber schmerzhafter war der Verlust des kleinen Freundes. Nach fast einem Jahr wurde Ali ins Tadmor-Gefängnis in Palmyra verlegt. Eine Zelle, 15 Meter lang, 5,60 Meter breit, drei Meter hoch. 145 Gefangene wurden dort gehalten. "99 Mann konnten ausgestreckt am Boden liegen, mehr nicht", erzählt Ali. Das ging so vier Jahre, mit Verhören und täglichen Schlägen. Die Decke der Zelle war offen, Wachen blickten stets herab in den Raum. Wer

477

hochsah, dem wurden die Augen gepeitscht, bis sie zuquollen. "Einige haben so ihr Auge verloren." Nach viereinhalb Jahren kam er vor einen Militärrichter. Das Verfahren dauerte zwei Minuten. Er wurde der Spionage für schuldig befunden und zu lebenslänglich verurteilt. Danach wurde Ali in ein angenehmeres Gefängnis verlegt, in Saidneia. Hier nähte er mit einer Nadel aus Hühnerknochen und Faden aus geschmolzenem Plastik die vier Buchstaben "HHHH" in den Hosenbund eines Mitgefangenen, der entlassen werden sollte. Es sind die Anfangsbuchstaben für die arabischen Worte "Mache dich bereit, dein Liebhaber naht." Der Kamerad zeigte die Hose Alis Frau. Nun, nach fünf Jahren, wußte sie erstmals, daß ihr Mann noch lebte. Im Jahr 2000 starb der syrische Präsident Hafis Al Assad und sein Sohn Baschar wurde Staatschef. Der ließ 600 politische Gefangene frei, darunter auch Ali. Seine Frau erfuhr erst davon, als er an der Tür klopfte. Seither hat er sich zum Fürsprecher für all seine Leidensgenossen gemacht, denn viele sind noch in syrischer Haft. Doch Ali erhielt von niemandem Hilfe, bis vor kurzem keinen Job, statt dessen kamen Todesdrohungen. Seine Frau hätte es lieber, wenn Ali schweigt, wie alle anderen: "Die Journalisten kommen und sie gehen mit einer guten Geschichte", sagt sie. "Doch Ali bleibt zurück, mit seiner Trauer. Es versetzt ihn wieder zurück in den Horror." (DIE WELT 14.03.05)

Auch in anderen Ländern ist Folter weit verbreitet: „Viele werden jahrelang gefoltert afp London – Folter und willkürliche Festnahmen sind nach einem Bericht von Amnesty International in Saudi-Arabien eine ‘institutionalisierte Praxis‘ geworden. Vielfach würden Menschen jahrelang gefoltert, damit sie Geständnisse unterschrieben.“ (HH A 25.11.97) Vermutlich wird in der Mehrzahl der UNO-Mitgliedsländer gefoltert. Das machen sich die US-Amerikaner in ihrem oft jenseits jeglicher Rechtsstaatlichkeit geführten Kampf gegen den »internationalen Terrorismus«, wie sie ihn sehen und interpretieren, zunutze, indem sie dann, wenn sie von ihnen des Terrorismus verdächtigte Personen mit Methoden verhört wissen wollen, die anzuwenden sie sich selbst nach Guantanamo und Abu Ghureib immer noch ein wenig genieren, mit einer extra für diesen Zweck gekauften und eingesetzten CIAMaschine in »befreundete« Staaten ausfliegen, um sie dort geheimdienstlichen Folterverhören unterwerfen zu lassen. Teilweise wurden den »Luftfrachten« detaillierte Fragebögen mitgegeben, die unter Folter abgefragt werden sollten! Die diesbezüglich »befreundeten« Staaten sind die undemokratischen Regime des Nahen Ostens, und da Ägypten zu 90 % aus Wüste besteht, scheinen dort die besten Voraussetzungen dafür gegeben zu sein, letal Befragte anschließend verschwinden zu lassen.

Art. 5 verbietet aber nicht nur die Anwendung von Folter, sondern darüber hinaus jede erniedrigende Behandlung. Ein Beispiel für seit 1945 wieder verbotene erniedrigende Behandlung aus unserer deutschen Rechtsgeschichte: "Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden. Vom 1. September 1941. §1 (1) Juden ... die das sechste Lebensjahr vollendet haben, ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen. ..." Und dieses Volk der Juden, das zwei Jahrtausende so unter dem Hass anderer Völker gelitten hat: Was macht es selbst? Die der Hölle der KZs entronnene, 1966 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrte Dichterin Nelly Sachs hat es wohl hellsichtig geahnt, denn sie hat in der Überschrift einer ihrer Gedichte den Wunsch ausgesprochen: „Auf das aus Verfolgten nicht Verfolger werden“. Ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung: Eine Regierungskommission Israels, die sogenannte Landau-Kommission, hatte 1987 geheime Richtlinien für staatliche Folterung aufgestellt und offiziell entschieden, dass die jahrzehntelang praktizierte „maßvolle Folter“ palästinensischer Gegner des Staates unter Einschluss „moderater physischer Gewalt“ in den Kellern des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth rechtens sei. Und das, obwohl Landau als oberster Richter Israels in diesem Zusammenhang auch gesagt hatte: „Die Methoden der Vernehmung, die eine Regierung genehmigt, spiegeln exakt wider, um welche Art Regime es sich handelt.“

478

Welches Rechtsverständnis wurde den geheimen Folterrichtlinien zugrunde gelegt? Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sicher nicht! Wie viel Qual ist, bitte, maßvoll? Hat jeder der israelischen Folterknechte sich zuvor selber maßvoll foltern lassen, um das Maß am eigenen Leibe als maßvoll erfahren zu haben? Wer befindet über den moralischen Widerspruch des „Maßvollen“ einer Folter? Welches ist das Maß? 25 kraftvolle Stockhiebe mit einem genormten Stock auf das nackte Gesäß eines auf einen Bock Gespannten unter ärztlicher Aufsicht wie in den Nazi-KZs? Und wenn der Gemarterte dann immer noch nichts sagt: Welche Sicherung gibt es dagegen, dass die Schraube nicht noch über die angeblich „maßvolle Folter“ hinaus weitergedreht wird? ... Wie wenig zählen Folterqualen in einem Staat, der sich Killer-Spezialeinheiten hält, um missliebige Palästinenser, die auch nur in dem Verdacht stehen, an Anschlägen auf Israelis irgendwie beteiligt gewesen zu sein, ohne jedes Gerichtsverfahren durch angemaßte Selbstjustiz umbringen zu lassen - und wenn dafür ein Hubschrauber drei Stunden lang an einer Kreuzung lauern muss, bis das Auto eines Offiziers der Leibgarde von PLO-Führer Arafat dort langkommt, um das Auto dann mit allen seinen Insassen durch einen Raketenangriff aus dem Hubschrauber heraus zu vernichten. Und die mitgetöteten Insassen können selbst nach den rechtlich völlig unterentwickelten alttestamentarischen Maßstäben der Israelis vollkommen unschuldig gewesen sein! Wehret den Anfängen!!! "‘Israel foltert Gefangene' Amnesty fordert gerechte Verfahren für Palästinenser ap London/Bern - Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hat Israel vorgeworfen, Palästinenser zu foltern und zu mißhandeln. Palästinenser hätten im Westjordanland und im Gazastreifen zudem keine Aussicht auf ein faires Gerichtsverfahren. ... Inhaftierten Palästinensern werde oft systematisch Essen und Schlaf entzogen. Viele Gefangene würden durch über den Kopf gestülpte schmutzige Säcke, schmerzhafte Fesselungen und Schläge gefoltert und mißhandelt. Dunkle oder eiskalte Zellen, die als "Sarg" oder "Kühlschrank" bezeichnet würden, dienten als Verliese, berichtet die Menschenrechtsorganisation weiter. Diese Methoden hätten offensichtlich den Zweck, Gefangene zu bestrafen oder Aussagen mit Gewalt zu erzwingen. ... Als bestürzend bezeichnete AI Informationen, wonach geheime Richtlinien `begrenzte physische Gewaltanwendung' bei Verhören sanktionieren sollen. Diese Richtlinien seien von einer Kommission formuliert worden, die 1987 auf Initiative der israelischen Regierung Verhörmethoden in den besetzten Gebieten untersuchte. AI äußerte die Vermutung, daß die israelische Regierung gewaltsame Verhörmethoden stillschweigend toleriere." (HH A 30.07.91) Dass ein Volk, dessen Mitglieder im Verlauf seiner Geschichte so gemartert worden sind, sich der staatlich sanktionierten Folter bedient, ist erstaunlich - und für mich befremdlich! Erst 1999 entschied das höchste israelische Gericht, der Oberste Gerichtshof, dass diese über viele Jahrzehnte geübte und ein Jahrzehnt lang offiziell gebilligte Praxis nicht rechtens sei und nun nicht mehr pro Jahr ca. 1.000 verdächtigte Palästinenser systematisch gefoltert werden dürfen. Die Klage von sieben Menschenrechtsorganisationen war damit erfolgreich. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs führte in der Urteilsbegründung der für Israel historischen Entscheidung aus: „Es ist das Schicksal einer Demokratie, dass ihr nicht alle von ihren Feinden angewandten Methoden zur Verfügung stehen.“ Aber diese bahnbrechende Entscheidung des systematischen Folterverbots geschah nur halbherzig, denn nach Angaben des israelischen Rundfunks stellte das Gericht laut Zeitungsmeldung - HH A 07.09.99 - seine eigene Entscheidung wieder einschränkend fest, Mitarbeiter des Schin Beth seien in Fällen „sofortiger Lebensgefahr“ wie jeder andere Bürger zu „außerordentlichen Schritten“ berechtigt, ohne sich vor Gericht dafür verantworten zu müssen. Dies berechtige den Schin Beth aber nicht, systematisch zu foltern. Der systematischen staatlichen Folter werden die Hände gebunden, die individuelle Folterneigung jedes Fanatikers oder Sadisten hat weiterhin freie Hand! Das Erschreckende ist, die Meldung liest sich so glatt, aber jeden Juristen, jeden Pazifisten, jeden Menschenrechtler, ja jeden sonstigen Zeitungsleser müsste es schütteln, und man glaubt seinen Augen nicht trauen zu dürfen, wenn man liest: jeder Bürger Israels sei bei sofortiger Lebensgefahr zu außerordentlichen Schritten berechtigt, „ohne sich vor Gericht dafür verantworten zu müssen“. Man betet, dass die Meldung eine Ente wäre, aber dafür ist das Hamburger Abendblatt zu seriös. Und auf diese Stufe der Rechtsverletzer in der Türkei und in Israel wollte uns der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes stellen, als er vor der Verhandlung eines Falles von Kindesentführung und Kindesmord anregte, zu einem Zeitpunkt, wenn man noch hoffen darf, das Leben des entführten (in diesem Fall jedoch schon getöteten) Kindes noch retten zu können, auch in deutschen Gefängnissen zur Rettung eines höherwertigen Rechtsgutes – des Lebens des Kindes – zu erlauben, ein Rechtsgut (angeblich!) minderer Qualität - die

479 körperliche Integrität des Inhaftierten – zu verletzten und die Folter an inhaftierten Verdächtigen zuzulassen. Der Vize-Polizeipräsident von Frankfurt, Daschner, hat sich genau so verhalten, wie der seinerzeitige Vorsitzende des Deutschen Richterbundes es angeregt und als - seiner an dem Wertesystem des Grundgesetzes gemessen: inkompetenten Meinung nach - rechtlich zulässig gefordert hatte! Daschner hatte dem Beschuldigten mit Schmerzen drohen lassen, wie der sie bisher noch nie zu spüren bekommen habe. Wir leben nicht mehr im Mittelalter oder dem Anfang der Neuzeit und: „Das Gericht hat das Gesetz zu kennen!“ Dieser Richter muss dringend Art. 1 I GG nachlesen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“, heißt es dort glasklar. Auch die Würde eines Rechtsbrechers auf Grund seines Menschseins ist da nicht ausgenommen! Das ist die Grundlage unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates! Ein Richter, der privat oder als Repräsentant der Richterschaft Folter für zulässig erklärt, verlässt den Boden dieser rechtsstaatlichen Demokratie, die ihm sein verantwortungsvolles Amt im Vertrauen auf seine rechtsstaatliche Gesinnung anvertraut hat. Folter würde wie eine Zeitmaschine wirken, die uns ins juristische Mittelalter zurückschießt – auch wenn Folter heutigen Tages in rund einem Drittel der Staaten der Welt angewandt wird. Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident glaubte in der schlimmen Zwangslage, entgegen der eindeutigen Gesetzeslage im Grundgesetz, in § 343 StGB Aussageerpressung (1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an 1. einem Strafverfahren ... berufen ist, einen anderen körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält, um ihn zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“ und im hessischen Polizeigesetz einen übergesetzlichen Notstand reklamieren zu dürfen, als er am 01.10.02 anordnete, den Kindermörder - in Anwesenheit eines Arztes(!) – notfalls durch Zufügung von Schmerzen unzulässig unter Druck zu setzen. (Wer sich dadurch nicht an die Zeit des Mittelalter bis hin zu Friedrich dem Großen, der die Folter abschaffte, und an Nazi-Verhörmethoden erinnert fühlt, der muss als Pflichtlektüre das Buch von Eugen Kogon: „Der SS-Staat“, und dort die teilweise in Anwesenheit eines Arztes vorgenommenen Bestrafungsriten in Gestapo-Haft und in KZs lesen!) Außerdem forderte der Vizepolizeipräsident im Gespräch mit dem Magazin Focus eine Gesetzesänderung: "Die Anwendung von Gewalt als letztes Mittel, um Menschenleben zu retten, müsste auch im Verhör erlaubt sein." Sonst hätte der Polizeiführer sich, so lässt er sich in dem SPIEGEL-Interview ein, nach seiner Sicht der Dinge möglicherweise einer Tötung durch Unterlassen schuldig gemacht. Das ist ein Scheinargument, und es müsste ihm wegen daraus ersichtlicher mangelhafter Rechtskenntnis von jedem Strafrichter sofort um die Ohren gehauen werden(!), denn bei einem Garanten-Unterlassungsdelikt gegenüber dem Opfer, das allein in Betracht käme, handelt es sich darum, dass ein Garant - und das ist der Vizepolizeipräsident in dem Entführungsfall zum Zeitpunkt der Tat nicht(!) gewesen, weil er weder Obhutsgarant für den entführten Jungen, da nicht dessen Bodyguard, noch Sicherungsgarant für das Verhalten des die Entführung planenden Jurastudenten war, und nachträglich kann man nicht zum Garanten werden –, das also ein Garant einem Rechtsgut, hier dem Entführungsopfer, eine Handlung nicht zukommen lässt, obwohl ihm das Gesetz eine Pflicht zum Tätigwerden auferlegt: Der Garant kommt einer ihm vom Gesetz auferlegten Handlungspflicht nicht nach. Für einen Polizisten, der sich nach dem Zeitpunkt der Tat bei einer Vernehmung hinsichtlich des außerhalb seines Einflussbereiches befindlichen Opfers nicht in einer Garantenstellung befindet, besteht aber gerade die Rechtspflicht, nicht zu foltern! Es besteht für ihn keine Handlungspflicht – hier: zu Foltermaßnahmen -, wie sie für einen Garanten vorausgesetzt wird, sondern im Gegenteil eine Pflicht, eine begehungstäterschaftliche pflichtwidrige Handlung zu unterlassen! 12 Ein Polizist ist gegenüber einem sich im Polizeigewahrsam Befindenden Garant für dessen körperliche Unversehrtheit. Der Vizepolizeipräsident war also im Gegenteil Obhutsgarant zugunsten des zu verhörenden Täters und hatte dafür zu sorgen, dass der nicht mit unerlaubten Verhörmethoden bis hin zur Folter traktiert werde! Die Vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung: „Menschen sollen nie mehr wie bei den Nazis nur Träger von Wissen sein, das der Staat aus ihnen 12

Näheres dazu in Scharnweber, H.-U.: Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten“, Gliederungspunkt Unterlassungsdelikte

480 herauspressen kann, denn, so sagt es das Grundgesetz: ’DieWürde des Menschen ist unantastbar.’“ Staatliche Organe hätten rechtstreu zu sein! (Auch wenn ich in der Lage der um das Leben ihres Kindes bangenden Eltern sicher selber nicht frei davon wäre, die erfolterte Rettung eines eigenen Kindes zu ersehnen!) Das Folterverbot ist in unserem Staat „abwägungsfest“ geregelt. Der Rechtsstaat stößt da um seiner selbst willen an seine Grenzen! Was Juristen meinen, wenn sie etwas als „abwägungsresistent“ oder „abwägungsfest“ bezeichnen, bedeutet in die Alltagssprache übersetzt: an dem Folterverbot des Gesetzgebers darf niemand drehen noch deuteln! Das Folterverbot hat in wirklichen Demokratien den Rang eines »elften Gebots«. Es hat so unverrückbar zu sein, wie die Zugspitze es ist. Wo wäre sonst die Grenze? Wenn die Büchse der Pandorra auch nur einen Spalt geöffnet würde, gäbe es kein Halten: Dann würde Folter nicht nur eingesetzt, um möglicherweise eine entführte Person zu retten, sondern um Aussagen zu erpressen, wenn offensichtlich nichts mehr zu retten ist. „Mädchenmörder klagt: ’Polizist drohte, mich zu erschießen’ Schwerin - Im Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern herrscht derzeit große Aufregung. Der im November verurteilte Mörder eines siebenjährigen Mädchens aus Schwerin hat einen Polizisten beschuldigt, ihm bei einer Vernehmung mit Erschießung gedroht zu haben. Innenminister Gottfried Timm (SPD) hat schnelle Aufklärung zugesichert. Folter und Gewaltandrohungen seien in einem Rechtsstaat unter keinen Umständen erlaubt, sagte er. Die neuen Vorwürfe fallen mit dem Prozeß gegen den früheren Frankfurter Vize-Polizeichef Daschner zusammen. Dieser wird beschuldigt, den Mörder des Bankierssohnes Jakob von Metzler mit einer Folter-Androhung zur Aussage genötigt zu haben. Matthias Macht, der Anwalt des Schweriner Täters, bestätigte, daß sein psychisch kranker Mandant schon Mitte Oktober in seinem Prozeß vor dem Landgericht Schwerin von der Drohung berichtet hatte. Innenminister Timm will jetzt die Gerichtsprotokolle prüfen lassen. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Vorermittlungsverfahren ein. Der zu 13 Jahren Haft verurteilte Täter soll im Gefängnis angehört werden. Der 21jährige hatte sein Opfer im Treppenhaus überfallen und in seine Wohnung gezerrt. Weil das Mädchen schrie, tötete er es mit mehreren Messerstichen. Danach verging er sich sexuell an dem Leichnam. Sein Anwalt will das Urteil vom Bundesgerichtshof überprüfen lassen. dpa“ (HH A 29.11.04) „SCHWERER VORWURF Polizist soll Verdächtigem mit Erschießung gedroht haben Im Schweriner Mordfall um die siebenjährige Sarah könnte es ein brisantes Nachspiel geben: Der mittlerweile zu 13 Jahren verurteilte Täter Sebastian T. soll einen Polizisten schwer belastet haben. Der Ermittler habe ihm mit vorgehaltener Waffe mit dem Tod gedroht, so der Verurteilte. Schwerin - Die Schweriner Staatsanwaltschaft hat nach einem Bericht des NDR-Fernsehens Ermittlungen gegen einen Polizeibeamten eingeleitet, der einem 21-Jährigen, der unter dem dringenden Tatverdacht eines Gewaltverbrechens an einem Kind stand, mit Erschießung gedroht haben soll. Der inzwischen verurteilte 21-jährige Sebastian T. hatte nach der angeblichen Drohung bei seiner Vernehmung zugegeben, die siebenjährige Sarah an Ostern 2004 getötet und sich anschließend an deren Leiche vergangen zu haben. Dem Bericht des NDR-"Nordmagazins" vom Freitagabend zufolge soll der Täter den Polizisten in seinem Gerichtsverfahren beschuldigt haben. Dieser Aussage war aber in dem Prozess offenbar keine strafrechtliche Relevanz beigemessen worden. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte in dem NDR-Beitrag, seine Behörde habe erst auf Nachfrage des Senders von der Beschuldigung erfahren. Der Polizist soll dem Tatverdächtigen nach dessen Festnahme mit einem Todesschuss aus der Dienstwaffe bedroht haben, um den Aufenthaltsort des vermissten Mädchens in Erfahrung zu bringen. Die Kinderleiche fand die Polizei nach dem Geständnis des 21-jährigen Täters in dessen Schweriner Wohnung. Dem Mädchen war mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten worden. In einem spektakulären Prozess hatte das Schweriner Landgericht den laut Gutachter geistig zurückgebliebenen Mann Anfang November wegen Mordes zu 13 Jahren Haft verurteilt. Die Haftzeit muss er in einer psychiatrischen Klinik verbringen. Der Vorgesetzte des beschuldigten Beamten räumte in dem TV-Beitrag ein, sollte sich der Vorwurf bestätigen, wäre dies eine klare Rechtswidrigkeit. Er verwies jedoch auf die Ausnahmesituation, in der sich die mit dem Fall befassten Polizisten zum Zeitpunkt der Festnahme

481 des Tatverdächtigen befunden hätten.“ (SPIEGEL ONLINE 29.11.04)

Die europäische Menschenrechtskonvention, die Antifolterkonvention, das Grundgesetz in Art. 104 I 2 [Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung] „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden.“, das Strafgesetzbuch § 340 Körperverletzung im Amt „(1) Ein Amtsträger, der während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst eine Körperverletzung begeht oder begehen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.“ und § 136 a der Strafprozessordnung [Verbotene Vernehmungsmethoden] „(1) Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten.“ sind da völlig kompromisslos eindeutig: Sie verbieten Folter - gleich in welcher Form! Durch unzulässige Vernehmungsmethoden erlangte Aussagen unterliegen sogar einem absoluten Verwertungsverbot! Es hätte dahin kommen können, dass dem Kindesmörder trotz seines (abgepressten!) Geständnisses „wegen eines von Verfassungs wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses“ nicht der Prozess hätte gemacht werden können, da man nicht davon ausgehen kann, dass die Polizei von alleine die Kinderleiche gefunden und der Beschuldigte darum ohne Leiche möglicherweise nicht hätte angeklagt werden können. (Das - auf Anraten seines vernünftigen Anwaltes - in der Verhandlung wiederholte Geständnis umschiffte diese rechtliche Klippe.) Der Wille eines Beschuldigten darf nicht mit staatlichen Machtmitteln gebrochen werden. Das verbietet die in Art. 1 I GG für unverletzlich erklärte Menschenwürde. Darum bekennt sich das Deutsche Volk in Art 1 II GG „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“. Jeder Rechtsstaat muss, will er nicht seine Prinzipien und damit sich selbst aufgeben, die rechtsstaatliche Grundlage wahren, auf der er aufgebaut ist, denn jeder Bürger muss darauf vertrauen können, dass er nicht von staatlichen Instanzen gefoltert werde, wenn er – berechtigt oder unberechtigt – in die Fänge der Polizei gerät! Da ist es beunruhigend zu lesen, dass der Frankfurter Vizepolizeipräsident kurz vor seiner Strafprozessverhandlung der Staatsanwaltschaft gegenüber eine Erklärung abgegeben hat, das hessische Innenministerium sei über seinen Plan, Folter anzudrohen, um den Widerstand des Inhaftierten zu brechen – und dadurch möglicherweise das Leben des entführten Kindes zu retten - informiert gewesen. Aus der Wiesbadener Behörde habe er die Antwort erhalten: "Machen Sie das! Instrumente zeigen!" Aus dem Innenministerium verlautete daraufhin jedoch selbstverständlich, es gebe "keine Hinweise auf eine solche Rückversicherung". Dieses Vertrauen uns noch mögliche Vertrauen in das rechtsstaatliche Vorgehen der Polizei können zumindest Farbige in den USA nicht haben: ihnen gegenüber sind Polizei und Justiz oft unfair! „Es gibt eine Gerechtigkeit für die Reichen und eine Gerechtigkeit für die Armen!“, sagte einer der unschuldig Verurteilten, die einen Stafettenmarsch Betroffener nach Chicago organisiert hatten, um den Gouverneur durch die Überreichung einer Bittschrift zu bewegen, aus grundsätzlichen Erwägungen auf die Vollstreckung der Todesstrafe im Staate Illinois zu verzichten. Ich zögere sehr, mit meinem (eingeschränkten) Wissensstand, die USA als Rechtsstaat zu bezeichnen – was sie ihrem Selbstverständnis nach aber sein wollen und zu sein behaupten! Einmal abgesehen von der Guantanamoisierung des Rechts in den USA werden dort in den Gefängnissen zu viele Unschuldige in ihren Todeszellen festgehalten, die befürchten, dass jeder heraufdämmernde Tag ihr letzter sein könnte, und das jahre-, ja sogar jahrzehntelang! Aufsehen erregte der republikanische Gouverneur von Illinois und anfängliche Befürworter der Todesstrafe, Georg H. Ryan, als er nach der Aufdeckung vieler durch Polizeiwillkür und folter während der Vernehmungen verursachter, ihn alarmierender Fehlurteile in seinem Staat und nach einer

482

anschließenden gründlichen Untersuchung zu dem Ergebnis kam, dass es zu viele durch Folter erzwungene Geständnisse gegeben hat, die dann zu Todesurteilen geführt hatten. Da er nicht, wie George W. Bush Präsident der USA werden wollte, wandelte er „in the interest of justice“ pauschal alle Todes- in Haftstrafen um, „auch wenn mich manche meiner Wähler dafür hassen werden.“ Nach dem Bericht in Phönix vom 25.10.04 hatte es viele Fälle gegeben wie den von Antony Porter, Ganger, Gabriel Solache, Furman und vielen anderen: Antony Porter hatte schon 16 Jahre in einer Todeszelle gesessen. 50 Stunden vor der dann doch angesetzten Hinrichtung belegten Studenten an der Universität von Chicago einen Kurs in investigativem Journalismus. Sie fanden sofort heraus, dass Porter die ihm zur Last gelegte Tat nach den Fallumständen gar nicht begangen haben konnte und erreichten zunächst in einem dramatischen Wettlauf mit der Zeit den Aufschub der Hinrichtung und dann die Freilassung des Unschuldigen. Ganger war beschuldigt worden, seine Eltern in ihrem Motorradgeschäft ermordet zu haben. Nach 18 Stunden Verhör, die meiste Zeit an einer Wand mit einer Hand angekettet, bis auf ein Brötchen ohne etwas zu essen, ohne Pause und ohne Schlaf und nach Schlägen durch die vernehmenden Polizisten setzten die Polizisten ein angebliches Geständnis auf, von dem Ganger in dem Fernsehreport sagte, dass er es nie abgegeben habe, das dann aber doch die Grundlage für das gegen ihn ergangenen Todesurteil bildete. Grayland Johnson war mit Schlägen gefoltert worden. Polizeibeamte hatten ihm einen Sack über den Kopf gezogen und dann mit dem dicken Telefonbuch von Chicago auf seinen Kopf eingeschlagen. So vermieden sie Folterspuren und taten hinterher seine diesbezüglichen Einlassungen als Märchen ab. Und eine weiße Jury glaubt im Zweifel weißen Polizisten, wenn ein Farbiger eines Mordes beschuldigt wird. Er wurde gegen Heizkörper geworfen und es wurde ihm ein Gewehrlauf in den Mund gesteckt. An Händen und Füßen gefesselt war Johnson schließlich von den ihn vernehmenden Polizeibeamten kopfüber aus einem Fenster gehängt worden: „Wenn du nicht gestehst, kommt dir das Auto da unten ganz schnell entgegen!“ Da unterschrieb er das ihm vorgelegte angebliche Geständnis – und wurde auf Grund dieses Geständnisses zum Tode verurteilt. Gabriel Solache war aus Mexiko in die USA gekommen. Er spricht nur Spanisch. Als er eines Mordes bezichtigt wurde, wurde er ohne Anwalt und Dolmetscher 40 Stunden lang hintereinander und mit Schlägen durch Polizisten verhört. Ein vernehmender Polizist übersetzte für seine Kollegen das Gespräch; in wieweit er dabei die Aussagen manipulierte, ließ sich hinterher nicht mehr feststellen. Nach diesen 40 Stunden unterschrieb der Mexikaner das ihm vorgelegte und in ihm unverständlichem Englisch abgefasste Geständnis, obgleich er, wie gesagt, nur des Spanischen mächtig ist. „Ich konnte die Schläge nicht mehr ertragen!“ Er wurde – die Jury hatte da keinerlei Skrupel(!) - auf Grund des von ihm in ihm unverständlicher Sprache abgefassten aber gleichwohl unterschriebenen Geständnisses zum Tode verurteilt. Im Fall Furman hatte der Oberste Gerichtshof der USA die Vollstreckung der Todesstrafe verboten. Ein Staat, in dem so etwas geschieht – und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass der Bundesstaat Illinois in dieser Beziehung eine unrühmliche Ausnahme unter den us-amerikanischen Bundesstaaten wäre -, ist kein Rechtsstaat! Das Folterverbot muss um unserer Selbstachtung willen abwägungs- und abänderungsresistent bleiben, wenn wir ein Rechtsstaat bleiben wollen! Es besteht aktueller Anlass, die Worte des Präsident des Obersten Gerichtes Israels zu wiederholen, der in der Urteilsbegründung der für Israel historischen Anti-Folter-Entscheidung ausführte: „Es ist das Schicksal einer Demokratie, dass ihr nicht alle von ihren Feinden angewandten Methoden zur Verfügung stehen.“ „Wenn man das Fenster auch nur einen kleinen Spalt öffnet, wird die kalte Luft des Mittelalters die ganzen Räume füllen“, mahnte fast lyrisch der Bundestagsabgeordnete Ströbele, seines Zeichens Rechtsanwalt. Und der Strafrechtsprofessor Beulke sekundierte: „Folter und Wahrheitsserum gehören ins Arsenal der Stasi, nicht in das eines Rechtsstaates.“ Und so bedauerte der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, nachdem Forderungen nach dem Rücktritt dieses Richter-Funktionärs erhoben worden waren, dass er der Aufhebung des Folterverbotes in außergewöhnlichen Notsituationen mit Hinweis auf den Gesichtspunkt des "§ 34 StGB rechtfertigender Notstand Wer in einer anders nicht abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden." das Wort geredet hatte – worin ihn der Bund deutscher Kriminalbeamter beängstigenderweise unterstützte.

483

Doch die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde erlaubt keine Abwägungen und ist nicht einschränkbar. Sie ist eines der wenigen absoluten Grundrechte, in die auch nicht in ihrem Randbereich eingegriffen werden darf! „Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“, heißt es in Art 1 I 2 GG. Und gegen den stellvertretenden Polizeipräsidenten läuft jetzt ein Verfahren wegen des Verbrechens der Aussageerpressung! Aber das ist noch nicht alles: Da kommen noch ein paar Delikte hinzu, wie z.B. in mittelbarer Täterschaft mit Hilfe eines dolosen Werkzeugs begangene versuchte gefährliche Körperverletzung. Natürlich wird einem sich am Grundgesetz Orientierenden entgegen gehalten: „Und was ist, wenn ihr Kind entführt wird“? Da wird kaum ein Vater sagen: „So soll es notfalls sterben, aber das Grundgesetz als Grundlage unseres demokratischen Rechtsstaates geht aus übergeordneten Gesichtspunkten vor!“ Wie soll man Eltern, die um das Leben ihres Kinds bangen, achselzuckend erklären, der Täter mache halt von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch? Spätestens Betroffene stellen sich und der Polizei oder wir als potenzielle Opfer eines Gewaltverbrechens stellen uns die Frage: Sollte in den Fällen, in denen das möglicherweise unwiderbringlich nur noch innerhalb einer kurzen Zeitspanne rettbare Leben eines konkreten Verbrechensopfers gegen die abstrakte Norm des Folterverbots oder das (sich nach der Anwendung von Folter meist irgendwann wieder beruhigende) Schmerzempfinden eines mutmaßlichen – möglicherweise aber unschuldigen(!) - Täters oder auch nur eines (bloßen) Mitwissers steht, der es in der Hand hätte, das Leben des Opfers durch die Preisgabe seines Wissens zu retten, sollte in solchen und ähnlichen Fällen nicht Folter erlaubt, mehr noch: geboten sein? In einer solch verzweifelten Situation wünscht wohl jeder Vater von der Polizei eine Pistole und zwei Schuss Munition: für jede Kniescheibe oder jeden Hoden des Täters eine Patrone. Und es gibt genügend mitfühlende Polizisten, die verzweifelten Eltern gerne eine Zange zur Hodenquetschung des mutmaßlichen Täters geben würden, wenn »das Gesetz« sie ließe, wenn unser Rechtsstaat ein solches Vorgehen zur Aussageerzwingung zuließe. Doch bei dem Verbot von Folter „... geht [es] nicht um Regeln für das Verhalten Einzelner und ihr Verhalten im Einzelfall, sondern um die Verfassung des Gemeinwesens. Es geht dabei nicht um die Frage, wie jemand in dieser oder jener Situation handeln soll oder nicht, sondern darum, welche Normen gelten sollen, damit wir die sein können, die wir sein wollen.“13 Es geht ganz schlicht um den Kern unserer Kultur: den auf ihr fußenden Rechtsstaat! „Der Rechtsstaat garantiert den von seinen Maßnahmen Betroffenen ein Minimum an Resistenzfähigkeit – die Folter nicht. Der Kampf gegen die Folter, ihre De-Legitimierung bis hin zu ihrem Verbot gehört zur Entstehungsgeschichte des Rechtsstaats. Das Verbot der Folter gehört zum Kernbestand unserer modernen westlichen Zivilisation. Wann immer diese zusammenbrach, war das auch der Zusammenbruch des Rechtsstaats, und mit ihm wurde die Folter wieder eingeführt, und wo die Folter zugelassen wurde, zerbrach der Rechtsstaat.“14 Durch die Zulassung von Folter selbst nur im extremen Ausnahmefall würde die Idee des Rechtsstaates in seiner Kernsubstanz geschädigt. Darum steht das Verbot der Folter ganz generell nicht zur Disposition der Exekutive, auch nicht im Besorgnis erregenden Einzelfall. „Für eine so furchtbare moralische Zwangslage wie jene, in der die Frankfurter Polizisten steckten, kann es kein Gesetz geben. Höchstens einen gnädigen Richter, wenn sie das Gesetz brechen.“, meinte sehr menschlich der Kommentator der SZ vom 24.02.03. Und gebrochen haben sie es, ganz eindeutig: Aussageerpressung ist in jeder Form wegen der angedrohten Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe ein Verbrechen. (Strafminderungen für einen minder schweren Fall berühren und verändern laut § 12 III StGB nicht die Deliktsqualität.) Damit ist die vom SPIEGEL gestellte Frage: „Held oder Verbrecher?“ vom Gesetz her eindeutig beantwortet. Für den stellvertretenden Polizeipräsidenten spricht die verzweifelte Lage in dem Kampf um ein Menschenleben und dass er selbst bei der Staatsanwaltschaft seine Straftat anzeigte. Da wird es nur die Mindeststrafe geben, die der stellvertretende Polizeipräsident ohne Rücksicht auf sich und seine Familie sehenden Auges ganz bewusst in Kauf genommen hat, um die Chance zu haben, das Leben eines entführten Kindes retten zu können. Aus dem Staatsdienst wird er nicht entlassen werden. (Er hat ja nicht den Verdächtigen den verzweifelten Eltern zur Folter überlassen, damit die ausführen, was der Polizei verboten ist. Mit einer solchen generellen Erlaubnis für sogar privates Morden in den Fällen, in denen dem Staat vom Gesetz her auch damals schon die Hände gebunden waren, war aber noch vor nur knapp 70 Jahren das „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr. Vom 3. Juli 1934.“ erlassen worden und so hatte das oberste Gericht in der Weimarer Republik geurteilt. Der völligen Pervertierung des Rechts hatte das Reichsgericht als oberstes deutsches Gericht in jahrelanger beschämender »Rechts-Sprechung« die Bahn geebnet, als es hinter juristischen Konstruktionen wie z.B. der der rechtfertigenden "Staatsnotwehr" Partei für die Nazis in den 13 14

Reemtsma, Ph.: „Als wir endlich den Kopf hoben“ taz 22.06.04 Reemtsma, Ph.: „Als wir endlich den Kopf hoben“ taz 22.06.04. Allerdings empfinde ich in diesem Zusammenhang den Gebrauch des Wortes „Zivilisation“ als falsch: Es gibt keine - möglicherweise auch noch kurzfristigen Modetrends unterworfene - »Rechtszivilisation«, sondern nur eine - teilweise über viele Jahrhunderte gewachsene - Rechtskultur.

484

innenpolitischen Auseinandersetzungen ergriff: Die der Weimarer Republik feindlich gesonnenen, die NSDiktatur anstrebenden Täter hätten stellvertretend für den Staat in Notwehr gehandelt, weil dem Staat die Hände gebunden seien! Dieses Argument der obersten Richter muss man einmal auf der juristischen Zunge zergehen lassen: Weil der an Gesetze gebundene Staat niemanden ohne Rechtsgrund töten dürfe, müssten Rechtsradikale diese dem Staat verbotenen Morde als "Staatsnotwehr" verüben!15 Ein solches Gesetz und eine solche Rechtsprechung würde unser oberstes Gericht, das BVerfG, nicht zulassen. U.a. diese juristische Diskrepanz macht den Unterschied zwischen Weimarer Republik und Bonner/Berliner Republik schlaglichtartig deutlich, macht deutlich, dass wir in dem lebenswertesten Staat leben, den es je auf deutschem Boden gegeben hat!) Meine Strafprophezeiung ist eingetreten: Daschner wurde unter Zubilligung „massiver Milderungsumstände“ und unter Abweichung vom Regelstrafrahmen von fünf Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe äußerst milde nur wegen Anstiftung zu schwerer Nötigung (da unter Missbrauch seiner Amtsstellung begangen) – und unverständlicherweise nicht wegen Aussageerpressung(!) im Amt mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis (und damit verbundener zwangsläufiger Entlassung aus dem Beamtenverhältnis) - zu 90 Tagessätzen von insgesamt 10.800 € unter Strafvorbehalt auf Bewährung verurteilt. Deswegen gilt er – trotz der mit dem Urteil ausgesprochenen Missbilligung durch die Rechtsordnung – als nicht bestraft; ein äußerst verständnisvolles Urteil, das angesichts der Schwere des Delikts in dem konkreten Strafausspruch nicht ganz so milde hätte ausfallen müssen, denn in dem Urteil geht es nicht nur individualpräventiv um den Fall der beiden Polizisten, die sich sicher kein zweites Mal mehr so verhalten werden, sondern auch generalpräventiv gegenüber allen Polizisten um unsere staatliche Ordnung: eine ebenfalls zur Bewährung ausgesetzte geringe Gefängnisstrafe hätte die Missbilligung der Rechtsordnung gegenüber von Polizisten angedrohter Folter meines Erachtens angemessener zum Ausdruck gebracht.. "Die Verteidigung der Rechtsordnung", sagte die Vorsitzende in der mündlichen Urteilsbegründung, habe "zwar einen Schuldspruch, aber keine Verurteilung geboten", da sich die Angeklagten "subjektiv in einer Situation befunden hätten, die eine gewisse Nähe zu Rechtfertigungsgründen vermuten" lasse, da der mit der Auffindung des Lösegelds festgenommene Verdächtige den Kriminalisten den Eindruck vermittelt habe, dass er bewusst mit dem Leben des Kindes spiele". Das ist eine mehr als windelweiche Begründung für die äußerst nachsichtige Ahndung eines so schwerwiegenden Vorwurfs der Androhung von staatlicherseits zu verübender Folter, da es unter der Geltung des Grundgesetzes wegen der in Art. 1 GG normierten Unantastbarkeit der Würde des Menschen für staatlich verübte Folter keinerlei Rechtfertigung geben kann! Nach den in der NS-Zeit gesammelten Erfahrungen soll es dem Staat unmöglich gemacht werden, dass der Staat aus einem zu einem "Bündel der Angst" gemachten Bürger Informationen herauspressen dürfe - "und sei es im Dienst der Gerechtigkeit". Da kann es für staatliche Folter keine gesetzliche Grundlage in Form strafjuristischer Die Androhung von Schmerzen gegenüber dem Kindesentführer und Mörder Magnus Gäfgen sei weder vom Polizeirecht gedeckt, noch gebe es für das Verhalten Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wie Notstand, Notwehr in Form der Nothilfe, Verbotsirrtum, vermeintlich zulässige Methoden des unmittelbaren Zwanges aus dem Polizeirecht und – als schwerstes juristisches Geschütz der Verteidigung - die Vermeidung der Gefahr einer von den Polizisten (angeblich) befürchteten späteren Anklage wegen einer durch ihre Unterlassung begangenen Tötung des Entführungsopfers geben, zumal es nach Meinung der Kammer "schon objektiv gar keine Notwendigkeit" für das Erwägen derart rechtsstaatsfeindlicher Methoden gegeben habe: "Es war keine unausweichliche Konfliktlage", fasste die Vorsitzende Richterin in ihrer mündlichen Urteilsbegründung zusammen, "es war nicht einmal eine besondere Ausnahmesituation", sondern ein Kriminalfall, der "in diesem Bereich leider nicht untypisch ist. Die Möglichkeiten waren bei weitem nicht ausgeschöpft." Mitarbeiter hatten dem VizePolizeipräsidenten und dem mitangeklagten Kripobeamten wiederholt gesagt, dass sie deren geplante Vorgehensweise für ungesetzlich hielten, da außer internationalem und bundesstaatlichem Recht auch das hessische Polizeigesetz auf das Verbot der Strafprozessordnung verweist, nach der die Freiheit der "Willensentschließung oder Willensbetätigung" des Beschuldigten nicht durch Misshandlung oder "körperlichen Eingriff" beeinträchtigt werden darf. Der Gesetzgeber habe die möglichen Zwangslagen gesehen und seine Abwägung getroffen. Daran hätte sich der Vizepolizeipräsident halten müssen, zumal er von ihm Unterstellten wiederholt darauf hingewiesen worden sei. Ein Zeuge sagte, er habe nach Daschners Anordnung Entsetzen erlebt, Ungläubigkeit. Der Chef des Sondereinsatzkommandos habe wortlos den Telefonhörer auf die Gabel geknallt, als an ihn das Ansinnen herangetragen wurde, einen Mann abzustellen, der in der Lage sei, Gäfgen zu foltern (DIE WELT 21.12.04). Dass auch »alte« Demokratien – und damit ist nicht Deutschland mit den aus der Generation unserer Eltern 15

Siehe Näheres hierzu im II. Teil, „5.6 Völlige Pervertierung des Rechts durch das Reichsgericht“

485

und Großeltern begangenen Nazi-Verbrechen in insbesondere den KZs und den Folterungen in den GestapoVerliesen gemeint, da Deutschland im Vergleich zu z.B. Großbritannien, Frankreich und den USA keine langjährige demokratische staatliche Tradition aufweisen kann -, dass auch »alte« Demokratien allen Anlass haben, wachsam gegenüber von ihren Amtsträgern ausgeübte Folter zu sein, hat nicht nur Frankreich im Algerienkrieg16, das haben auch Großbritannien und besonders anschaulich die USA gerade wieder im Irak unterstrichen: Die US-Amerikaner folterten nach der „Invasion in der höchsten moralischen Tradition unseres Landes“ (so der Oberbefehlshaber der Truppen: US-Präsident George W. Bush jun.) - nach ihrer Auffassung »nur« als »verschärfte Verhörmethode« mittels einer »Folter light«, die aber bei einigen Gefangenen auch zum Tode führte - im Irak in mindestens fünf der sechzehn von ihnen geführten Gefängnissen viele willkürlich gefangen genommene Iraker in den unterirdischen Verliesen, die von Saddam Husseins Folterknechten eingerichtet und mit dem Zusammenbruch des Regimes überhastet verlassen worden waren. Sinnbild für Saddam Husseins und die us-amerikanische Schande wurde das schon unter Saddam Hussein für seine Folterungen und Exekutionen berüchtigte Gefängnis Abu Ghureib/Ghraib/Ghreib, das nach dem Willen der USA nun abgerissen werden soll; sonst könnte es wohl noch passieren, dass es wegen der Folterungen von irakischen Muslimen durch us-amerikanische Soldaten zu einem Wallfahrtsort us-amerikafeindlicher Araber wird! Die Bilder von mit Kapuzen verhüllten, auf einem nur fußbreiten Schemel stehenden und dabei durch Elektroden an den Händen und am Penis an Stromkabel angeschlossenen Folteropfern, denen eine Soldatin erzählt hatte, dass sie einen tödlichen Stromstoß erhalten würden, wenn sie, kapuzenblind gemacht, vom Schemel fallen würden, gingen um die Welt und werden nie wieder aus dem Bewusstsein der Völker und insbesondere der arabischen Welt zu löschen sein; genauso wenig die sexuellen Erniedrigungen, die größte Beleidigung, die man (nicht nur) Muslimen zufügen kann, wenn z.B. Iraker gezwungen wurden, in den Mund eines Mitgefangenen zu masturbieren. Iraker wurden zu nackten Menschenhaufen drapiert, drangsaliert und malträtiert. Durften sie – teilweise verletzt - irgendwann wieder in ihre Zellen, waren oft die Betten herausgenommen und die Zellen geflutet(!) worden, sodass sich die Folteropfer nicht hinlegen konnten; und das alles systematisch unter der Aufsicht und Anleitung des US-Geheimdienstes und nicht durch Fehlverhalten einiger Perverser, denen zu viel Macht in die Hände gegeben worden war und die dann – laut New York Times Ende Dezember 04 – ihren Opfern u.a. auch gerne brennende Zigaretten, die ja eine Gluthitze von ungefähr 300° haben, in die Ohren gesteckt hatten! Viele der Inhaftierten hatten nichts verbrochen, sind völlig unschuldig, wurden, nur weil sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen waren, auf Verdacht weggefangen und sitzen trotzdem - nach us-amerikanischem Verständnis von einem Rechtsstaat analog zu Guantanamo - als „Sicherheitshäftlinge“ seit Monaten ohne Haftbefehl, ohne Anklage und ohne jegliche Rechte in dem berüchtigten Gefängnis, wo sie zur Brechung ihrer psychischen Widerstandsfähigkeit - und wohl auch zur Belustigung und perversen Befriedigung von Mitgliedern der Wachmannschaften – nach einem für jeden Häftling individuell erstellten Verhörplan sexuell gedemütigt und gefoltert wurden, um sie »verhörgeneigt aufzubereiten«! Diese Bilder werden die Araber und werden die US-Amerikaner und ihre Verbündeten aus der „Koalition der Willigen“ in der arabischen Welt nie wieder los! Sie versinnbildlichen den Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit auf die Verheißungen des Aufbaues eines auf der Achtung der Menschenwürde gegründeten demokratischen Rechtsstaates durch die führende Militärmacht der Welt, die sich wenigstens in ihren konservativen Führungskadern vor der Weltöffentlichkeit in ihrem missionarisch betriebenen Kampf gegen die „Achse des Bösen“ penetrant als Hort der Demokratie und des Rechts geriert: am us-amerikanischen Wesen solle die Welt genesen! 16

Reemtsma beginnt seine in der taz vom 22.06.04 abgedruckten Überlegungen zur Folter in seinem Aufsatz „Als wir endlich den Kopf hoben“ mit den Sätzen: „Im Jahre 1958 publizierte der französische Journalist Henri Alleg ein Buch über seine Inhaftierung und Folterung durch Soldaten der französischen 10. Division unter General Massu in einem Folterzentrum namens al-Biar in einem Vorort von Algier. Das Vorwort schrieb Jean-Paul Sartre, und es begann mit diesen Worten: ’1943 schrien in der Rue Lauriston Franzosen vor Angst und Schmerz; ganz Frankreich hörte sie. Der Ausgang des Kriegs war ungewiss, und wir wollten nicht an die Zukunft denken; eines jedenfalls erschien uns unmöglich: dass jemals in unserem Namen Menschen zum Schreien gebracht werden könnten. (…) 1958 wird in Algier regelmäßig und systematisch gefoltert; jeder weiß es.’ Man wusste es, doch erst nach Allegs Buch konnte das Wissen nicht mehr verleugnet werden. Sein Buch und Sartres Vorwort konfrontierte Frankreich mit sich selbst: ’Und als wir endlich den Kopf hoben, sahen wir im Spiegel ein fremdes, ein hassenswertes Gesicht: unser eigenes.’ ... . Die New York Times hatte Recht, als sie schrieb: ’Diese Fotos, das sind wir.’ Sie sprach damit nicht nur als amerikanische Zeitung, die eine gemeinsame politische Verantwortung für das, was im Irak geschieht, reklamierte, sondern verstand sie auch - zu Recht - als Dokument unserer gemeinsamen Kultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts. " Der hervorgehobene Satz gilt für alle, die foltern oder Folter zulassen. Der Abdruck in der taz ist ein Nachdruck aus Internationale Politik 06/04.

486

Das kollektive historische Bewusstsein ist in der östlichen Welt viel ausgeprägter als in der westlichen und wird dort meist sogar künstlich am Leben erhalten: Sonst könnte nicht über 1.400 Jahre zwischen Arabern und Persern ein abgrundtiefer Hass wegen der Schlacht von Kerbela 636 n. Chr. gepflegt werden: Fast eineinhalb Jahrtausende andauernde, die Menschenherzen und Sinne vergiftende Feindschaft wegen einer Schlacht vor 1.400 Jahren! Es hätte nur ein Foto nur eines Gefolterten genügt, um die gleiche Wirkung im Bewusstsein der arabischen Massen hervorzurufen. Es gibt aber tausende authentische, von einer handvoll US-Bewachungssoldaten mit KZ-Wärter-Mentalität hergestellte Fotos, die – so der geheime interne us-amerikanische TagubaReport und zwei andere Untersuchungsberichte wörtlich - "sadistische, zum Himmel schreiende, wollüstige kriminelle Misshandlungen" nicht nur sexuell Gedemütigter und Gefolterter dokumentieren. Eines der Fotos besitzt die Sprengkraft, »Foto des Jahres 2004« zu werden. Der Verstand weigert sich zu glauben, was das Auge auf den Fotos sieht! Man konnte nicht erst seit dem Haftlager auf Guantanamo Zweifel an der Rechtsstaatsqualität der sich vor der Weltöffentlichkeit als Monopolist auf Rechtsstaatlichkeit und Moral und als Schulmeister für Demokratie gerierenden USA haben. Erst nachträglich setzt sich wenigstens bei der politischen Führung die Ahnung durch, dass ein Rechtsstaat, der Folter jedweder Form zulässt, sich selbst aufgibt und aufhört, ein Rechtsstaat zu sein. Aber die sich als Hüterin rechtsstaatlicher demokratischer Prinzipien in der Welt gerierende und in dieser Richtung nicht nur missionierende, sondern andere Völker mit der Waffengewalt einer überlegenen Kriegsmaschinerie zwangsbeglückende Bush-Regierung scheint zu dämlich für die simplen Einsichten: Das Recht ist die Waffe des Schwachen; grobe Ungerechtigkeit kehrt sich letztlich gegen den Verursacher! Die USA konnten zwar mit ihrer überlegenen Waffenmaschinerie den vom UNO-Sicherheitsrat nicht gebilligten und vom UNO-Generalsekretär ein Jahr später als „illegal“ gebrandmarkten Überfall auf den Irak gewinnen, dessen Beendigung ihr Präsident auf dem Deck des zu diesem Zweck sorgsam ausgesuchten Flugzeugträgers USS Abraham Lincoln im Anklang an dessen (»spätberufenen«) Kampf gegen die Sklaverei und für Menschenrechte mit den Worten verkündete: „Wir achten unsere eigenen Bürgerrechte, deshalb treten wir auch für die Freiheit anderer ein!“, nicht aber konnten sie durch Folterungen und Verweigerung jeder minimalen Rechtsstaatlichkeit den Frieden mit dem irakischen Volk und dessen arabischen Nachbarn gewinnen. Wie kann eine politische Führung nur so unsäglich dämlich sein! Am bedrückendsten ist, dass u.a. auch eine US-Brigadegeneralin, der nicht nur als eines der 16 USGefängnisse im Irak das Bagdader Foltergefängnis unterstand, in dem auch schon zu Saddam Husseins Zeiten gefoltert worden war - mit dem Vorwurf solcher Menschenrechtsverletzungen war der Krieg der USA gegen den Irak zu begründen versucht worden, nachdem die behaupteten Massenvernichtungswaffen nicht hatten gefunden werden können - darin verwickelt war: nicht nur wegen der durch die Bilder von mit gefangen gehaltenen Irakern »Sexspielchen« treibenden Soldatinnen aufkommenden Erinnerung an das Schiller-Wort: „Da werden Weiber zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz“, sondern wegen der bangen Frage, die sich auch uns stellt, wenn es um die Umwandlung unserer Wehrpflicht- in eine Berufsarmee wie z. B. in den USA und Großbritannien geht: Wie erhält man bei der leider oft so zu beurteilenden »Negativ-Auslese« der Bewerber, die sich in Großbritannien teilweise durch eine Verpflichtung zum Militär vor (teilweise gerade aktuell abgeleisteter) Strafhaft retten können, den Bezug der ’Staatsbürger in Uniform’ zu den Werten ihrer Gesellschaft, wenn eine Armee von Berufssoldaten innerhalb einer Gesellschaft zu einer geschlossenen Gruppe mit nicht unbedingt mehr demokratisch orientiertem Ehrenkodex zu mutieren droht? »Die Wehrpflichtigen« haben das Potenzial, in einer durch Längerdienende geprägten Armee das Gewissen ihrer Zivilgesellschaft verkörpern zu können! Sie gehen als Bürger zum Militär und sollten als Bürger da wieder heraus kommen. Sie wirken - u.a. über die Institution des Wehrbeauftragten - als Hemmschwelle gegen Verrohungstendenzen von Längerdienenden, die sich – siehe u.a. die USA: als latent-immanente Gefahr der Institution einer Berufsarmee - mehr einem unguten Corpsgeist als den grundlegenden Werten der demokratischen Gesellschaft, die sie zu ihrem Schutz gegründet hat, verpflichtet fühlen können. Angehende US-Soldaten sind während ihrer Ausbildung ständig demütigenden Erniedrigungen und brutaler Gewalt ausgeliefert. Das Ausbildungsziel bei der Eliteeinheit der US-Marines geht dahin, erst den Willen der Neulinge durch Erniedrigungen zu brechen, um denen dann die Feindbilder der Armee – im Vietnam-Krieg z.B. gegen „Charlie“ - einzutrichtern. Das führt dann dazu, dass die Rekruten eigenes Denken und Handeln zugunsten des Corpsgeistes zurückstellen oder verdrängen. Es kostet die Reste der absichtsvoll abtrainierten Zivilcourage, sich gegen den Komment zu stellen und nicht in zum Ehrenkodex erhobenem absoluten Gehorsam jede befohlene oder erwartete Schweinerei mitzumachen! In Deutschland steht auch über dem Militär das Grundgesetz, und in seinem Artikel 1 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

487

Da ist die demütigende Behandlung von Untergebenen verboten. Natürlich kam sie – siehe die daraufhin aufgelöste Fallschirmjägerkompanie in Nagold - und kommt sie hin und wieder auch beim deutschen Militär vor. Aber sie gehört nicht zum System der »Menschwerdung« beim deutschen Militär und Vorgesetzte müssen sich bei angezeigtem Fehlverhalten verantworten. Anders in z.B. der Fremdenlegion und der US-Armee, wo man es vom System her zunächst darauf anlegt, durch ganz bewusst eingesetzte Erniedrigungen, durch bewusste Verstöße gegen die Menschenwürde den Willen der Rekruten zu brechen; und diese Erfahrungen werden mitgenommen, wenn man im Dienstgrad aufsteigt, und an Untergebene weitergegeben. Der spätere Leiter von Abu Ghureib und frühere Kommandant von Guantánamo, Generalmajor Geoffrey Miller, habe die Brigadegeneralin Janis Karpinski laut ihrer Aussage in Bagdad besucht und gesagt: "Die Gefangenen sind wie Hunde. Wenn du ihnen erlaubst zu denken, sie seien mehr als Hunde, verlierst du die Kontrolle über sie." Um der Verpflichtung aus Art. 1 GG gerecht zu werden, wurde in der Bundesrepublik Deutschland als segensreiche Beschwerdeinstanz die solchen Missbräuchen wehrende Institution des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages geschaffen. Sie wurde bewusst nicht der exekutiven Behörde Verteidigungsministerium unterstellt, sondern der die Exekutive kontrollierenden Legislative zugeordnet. Zurück zu dem Ausgangsfall der Folterungen im Irak und der für die Gefängnisse zuständigen Brigadegeneralin. Da erhebt sich die weiterführende Frage: Wie (zumindest politisch) dämlich darf man sein, um in der US-Armee noch General werden zu können, wenn selbst eine Generalin nicht in der Lage ist, die vernichtenden politischen Implikationen ihres die Folter zumindest unterstützenden Verhaltens im Vornherein zu bedenken und abschätzen zu können? (Die dumme Kuh ist dann auch wegen der in ihrem Verantwortungsbereich unter ihrer Dienstaufsicht geschehenen Schweinereien im Mai 2005 zum Oberst degradiert worden.) Der ranghöchste weibliche General im Irak, Brigadegeneral Karpinski, hatte Ende 2003 in einem Presseinterview geschwärmt, dass „... die Lebensbedingungen der Häftlinge im Gefängnis besser sind als bei ihnen zu Hause. Wir haben uns schon Sorgen gemacht, dass sie hier gar nicht mehr wegwollen.“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Generalin solche Sätze schon angesichts der ihrer Verantwortung unterstellten, in insgesamt sechs Haftanstalten als Sicherheitshäftlinge inhaftiert gewesenen 107 Kinder, die Unicef und das Internationale Rote Kreuz laut Bericht in Report Mainz vom 05.07.04 feststellen konnten, ehrlichen Gewissens von sich gegeben haben kann, auch wenn sie nicht »alles«gewusst hat. „Vergewaltiger in US-Uniform »New Yorker«-Journalist berichtet von neuen Hinweisen auf Verbrechen in US-Gefängnissen im Irak Der Journalist Seymour Hersh vom US-Politmagazin New Yorker, der bereits 1968 das USMassaker von My Lai, bei dem 500 Zivilisten ermordet wurden, an die Öffentlichkeit brachte, hat offensichtlich wieder einen Skandal aufgedeckt. Bei der Konferenz der »American Civil Liberties Union« berichtete er kürzlich von Zeugen und Videos, die belegten, daß irakische Kinder und Frauen im Abu-Ghraib-Gefängnis vor laufender Kamera von US-Soldaten vergewaltigt worden sind. Das Pentagon habe nun große Sorge, daß diese Bilder bekannt würden. Bereits im Mai hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die Inhaftierung von 107 Kindern in US-Lagern dokumentiert. Im Juni schickte das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF einen vertraulichen Bericht über diese skandalöse Praxis an die US-Besatzungsbehörde in Bagdad. Das Pentagon hat bisher lediglich eingestanden, etwa 60 Teenager, »hauptsächlich zwischen 16 und 17 Jahren«, gefangenzuhalten. Beweise für Mißhandlungen gäbe es nicht. Dennoch tauchen inzwischen immer mehr Details über vergewaltigte Kindergefangene auf. Schon am 21. Mai hatte die Washington Post von der Vergewaltigung eines Jungen in Abu Ghraib im Oktober 2003 durch einen »Mann in Uniform« berichtet. Zugleich verwies die Zeitung auf 14 eidesstattliche Erklärungen, die von Ermittlern der US-Army im Januar dieses Jahres aufgenommen worden waren und den Vorfall bestätigten. Aber erst am 28. Juli wurde der Name des uniformierten Kinderschänders bekannt, den die bei US-Soldaten beliebte Musikzeitung Rolling Stone in einem Artikel »Mr. Hamid« nannte. Weitere detaillierte Zeugenaussagen über die Vergewaltigung gefangener Kinder hat vergangene Woche der schottische Sunday Herald publiziert, der unter Berufung auf Quellen im Pentagon berichtete, daß sich unter den Gefangenen auch 14jährige Kinder befinden. Obwohl auch alle Kinder betreffenden Zeugenaussagen im 6000 Seiten starken offiziellen Untersuchungsbericht des

488

US-Verteidigungsministeriums zu Abu Ghraib als »glaubhaft« eingestuft werden, scheint die Regierung Bush fest entschlossen, diesen Skandal zu deckeln. Schließlich könnten diese neuen Berichte über Mißhandlungen Wählerstimmen kosten.“ (junge welt. 12.08.04) Um den ihr damals unterstehenden besonders kritischen Gefängnisblock, in dem die Folterungen vorgenommen worden waren, hatte sie einen großen Bogen gemacht, weil der us-militärische Geheimdienst sie mit der Begründung darum gebeten hatte, dass ihr Auftauchen dort für die Verhöre (mit Schlägen und Elektrofolter, in den After gerammten Besenstielen und Leuchtstäben, mit auf nackte Gefangene gehetzten Hunden und phosphorhaltigen Flüssigkeiten, die über die Körper gegossen wurden, nachdem Gefangene nackt oder in Frauenunterwäsche ohne Toilette, Wasser und Kleidung für Tage in Zellen ohne Fenster und Ventilator gesperrt worden waren, mit Scheinhinrichtungen und Schlafentzug zur Brechung der psychischen Widerstandskräfte, einige halten einen Gefangenen fest und ein anderer tritt ihm in die Hoden, mit sexuellen Demütigungen, ...) „störend“ sein könnten (Stern 06.05.04). Dieser überdeutliche Hinweis auf menschenrechts- und die Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen verletzende Sauereien in ihrem Verantwortungsbereich hatte die Brigadegeneralin aber nicht dazu veranlasst, den Augiasstall sofort auszumisten! Da muss doch aber bei einer für alle Belange der Inhaftierung zuständigen Generalin irgendwann ein Unrechtsbewusstsein einsetzen! (Nach deutschem Strafrecht müsste sie sich nach einem so deutlichen Hinweis auf Straftaten in ihrem Verantwortungsbereich, den sie bewusst ignoriert hat, wegen der dieserart begangenen Garantendelikte verantworten, da sie als Kommandierende solches Verhalten nicht hätte ignorieren dürfen, sondern hätte abstellen müssen.) Vielleicht fühlte sie sich dadurch gedeckt, dass das Weiße Haus gleich nach dem Anschlag vom 11.09.01 an seine Juristen den Auftrag gegeben hatte, Möglichkeiten zur Umgehung der Genfer Konvention zu erkunden, was ja zur Guantanamoisierung des Rechts geführt hatte. Aber bei der Brisanz der Vorwürfe hielt die USRegierung die »Deckung« nicht durch und musste die Dame nach einiger Zeit durch eine Suspendierung aus dem Verkehr ziehen. Der die - für die Öffentlichkeit monatelang unter der Decke gehaltenen - Vorfälle untersuchende USGeneralmajor Taguba hatte in seinem Untersuchungsbericht über die gewollt oder vertrauensselig ahnungslose Brigadegeneralin geschrieben: „Besonders irritierend war ihre völlige Unfähigkeit oder ihr Unwillen zu verstehen, dass viele der Probleme aus ihrer Unfähigkeit rührten, wenigstens elementare Standards unter ihren Soldaten durchzusetzen.“ Elementarer Standard wäre die Einhaltung der schon im 19. Jahrhundert zwischen den Völkern vereinbarten Genfer Konvention und ihrer Folgeabkommen und der Haager Landkriegsordnung gewesen. Ob Brigadegeneral Karpinski noch nie davon gehört, ob sie vor ihrer Abkommandierung zur Gefangenenbeaufsichtigung im besetzten Irak die Genfer Konvention und die sie ergänzende Haager Landkriegsordnung, ihre international vereinbarte Arbeitsgrundlage, nicht gelesen hat? Nach dieser Konvention sind Gefangene „jederzeit human zu behandeln“ und müssen „jederzeit geschützt werden, namentlich auch vor Einschüchterung“. In Artikel 17 der Dritten Genfer Konvention heißt es: „Zur Erlangung irgendwelcher Auskünfte dürfen die Kriegsgefangenen weder körperlichen noch seelischen Folterungen ausgesetzt, noch darf irgendein anderer Zwang auf sie ausgeübt werden.“ Wer nicht aussagt, dürfe „weder bedroht noch beleidigt noch Unannehmlichkeiten oder Nachteilen irgendwelcher Art ausgesetzt werden.“ Aber die der Aufsicht der Brigadegeneralin unterstellten folternden US-Militärpolizisten verteidigten sich mit der Begründung, sie seien nicht hinreichend auf ihren Einsatz vorbereitet worden und würden die Genfer Konvention nicht kennen. Sie hätten nur Befehle ausgeführt: Anything goes! [Die Wirksamkeit von Befehlen einer Autorität (im weißen Kittel) auf die Psyche des Einzelnen ist 1963 durch die zu Klassikern der Psychologie gewordenen Milgramschen Gehorsamsexperimente nachgewiesen worden, mit denen Milgram nachgewiesen hat, wie schnell x-beliebige gewöhnliche Menschen, wie wahllos auf der Straße angesprochene Familienväter, zu Unmenschen wie in Nazi-Deutschland zu KZ-Schergen werden können, wenn eine befehlende Autorität hinter ihnen steht und vorgibt, ihnen die moralische Verantwortung für das befohlene Tun abzunehmen. Zwei von drei Menschen waren bereit, die Regeln der Zivilisation zu vergessen und anderen Schmerzen zuzufügen, sei es aus berauschendem Machtgefühl, aus Gruppenzwang oder auf Befehl einer Autorität. Milgrams Kollege Zimbardo hatte in einem weiteren Experiment in einer Gruppe durch den Zufall bestimmen lassen, welche Gruppenmitglieder in einem auf zwei Wochen angesetzten Experiment Wärter und welche Gefangene sein sollten: das Experiment hatte nach sechs Tagen abgebrochen werden müssen, weil sich die »Wärter« gegenüber ihren »Gefangenen« zu sehr ausgemistet hatten!] Auch Inhaftierte ohne Kriegsgefangenenstatus sind geschützt, etwa durch die „UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“. Aber solche juristischen Sicherungen

489

im Völkerrecht greifen ja leider nicht immer, besonders dann nicht, wenn sie sanktionslos vereinbart werden. Foltern auf Befehl Der spätere Justizminister Alberto Gonzales ersinnt „torture memos“. Die Genfer Konvention wird in dem Krieg gegen den Terror für obsolet erklärt: internationales Recht gelte ihnen [den wirklichen und den mutmaßlichen oder auch nur angeblichen „Terroristen“; der Verf.] gegenüber nicht, da es kein Kampf gegen Staaten sei. Gefangene dürften so behandelt werden, dass Schmerz „in der Intensität im Äquivalent bis hin zu Organversagen oder Tod vertretbar ist“. „Im höheren Auftrag wurden Gefangene, in einem Fall auch Kinder, schein-exekutiert. Sie mussten aus Toiletten essen, sich mit Exkrementen beschmieren, sie wurden angepinkelt, mit lauter Musik oder Katzengejaule beschallt und von knurrenden Hunden bedroht. Ihre Hände wurden mit brennbarer Flüssigkeit übergossen und angezündet; sie bekamen Besenstiele, Polizeiknüppel, Leuchtstäbe und Bananen in den Anus geschoben. Weibliche Soldaten rieben strenggläubigen Muslimen rote Farbe ins Gesicht und erklärten, es sei Menstruationsblut. Sie wurden geschlagen, getreten, unter Strom gesetzt, fast ersäuft. Und getötet.“ (STERN 04.05.05) Die Tötungen wurden nicht geahndet, selbst nicht die vor laufender Kamera eines in das Kampfgeschehen „eingebundenen“ US-Kamerateams vorgenommene Tötung nach Erstürmung einer Moschee, als ein Soldat dem anderen zurief: „Die sind noch nicht alle tot. Hier liegt noch ein verwunderter!“ Der angesprochene Soldat lud sein Gewehr durch, erschoss den Verletzten und sagte zu seinem Kameraden: „Jetzt ist er aber tot!“ Die Filmaufnahme wurde im US-Fernsehen gezeigt, ohne dass das eine Gerichtsverhandlung gegen den Todesschützen ausgelöst hätte. „Militärstaatsanwälte der US Navy haben unterdessen in einem anderen Fall die Ermittlungen gegen einen Angehörigen der Marines eingestellt, der im November im irakischen Falludscha vor laufender Kamera einen verwundeten Iraker erschossen hatte. Der Soldat, dessen Name geheimgehalten wird, habe im Rahmen der geltenden Vorschriften und des Kriegsvölkerrechts in vermuteter Notwehr gehandelt. Nach fünf Monaten kamen die Navy-Ermittler zu dem Schluß, daß die vor dem Einsatz in Falludscha ergangene Warnung der US-Truppenführung vor Attentätern, die sich totstellten und dann Soldaten angriffen, die Reaktion des Mannes bestimmt habe. Der Marine war dabei gefilmt worden, wie er beim Eindringen in einen verwüsteten Raum zwei am Boden liegende Iraker antraf, seinen Kameraden zurief, die beiden stellten sich nur tot, und Schüsse auf die Liegenden abgab.“ DIE WELT 06.05.05

Mit der Begründung, sie hätten ja nur Befehle ausgeführt, hatten 1945 die Alliierten die in den Nürnberger Prozessen angeklagten deutschen Oberbefehlshaber und ihre Mitangeklagten nicht durchkommen lassen. Um zu deren Verurteilung zu gelangen, hatten nach den auf den in Geheimakten und persönlichen Notizen des usamerikanischen Chefanklägers Jackson fußenden und in dem Buch „Der Nürnberger Prozess“ ausgebreiteten Recherchen des britischen Historikers Irving Amerikaner und Engländer sogar durch Folter einzelne Angeklagte belastende Geständnisse Dritter zu erzwingen versucht. So lautet z.B. eine der diesbezüglichen Textstellen: „Der Chef des Stabs des Großadmirals, Admiral Eberhard Godt, wurde von einem Captain der US-Army ... vernommen. Als Godt »sich der gezielten Aufforderung, gegen Dönitz auszusagen, verweigerte«, wurde er von ihm verwarnt: ... Ihre Situation ist äußerst einfach: entweder Sie sagen gegen Dönitz aus – dann werden wir Sie in Ruhe lassen. Oder Sie sagen nicht aus – dann werden wir Sie zusammen mit Dönitz aufhängen. ... Während der Verhandlungen kam dann heraus, daß die Engländer dem [den Großadmiral Dönitz dann als Kriegsverbrecher belastenden; der Verf.] Offizier zu verstehen gegeben hatten, die Beweise gegen Dönitz seien so eindeutig, daß sein Leben nicht mehr zu retten sei; er aber könne das Leben von drei verurteilten U-Boot-Kommandanten mit seiner Aussage [gegen Dönitz; der Verf.] retten.“17 Und an anderer Buchstelle heißt es über durch Folter erpresste Aussage: „Oswald Pohl, der berüchtigte Organisator der SSKonzentrationslager, wurde erst spät, im Mai 1946, gefangen. Ihn konnte man überreden, eine eidesstattliche Erklärung abzugeben, durch die der in Nürnberg angeklagte Ex-Reichsminister Walter Funk schwer beschuldigt wurde. Kaum ein Jahr später, als Pohl selber vor Gericht stand, erfuhr die Öffentlichkeit, daß er zu seinen damaligen Anschuldigungen durch die abscheuliche Behandlung getrieben worden sei, der er nach der 17

Irving, D.: Der Nürnberger Prozess – Die letzte Schlacht, 1979, S. 78 f.

490

Gefangennahme durch die englischen und amerikanischen Soldaten ausgesetzt gewesen sei: Auf einen Stuhl gefesselt habe man ihn bewußtlos geschlagen, das Gesicht sei ihm zerschnitten und die Wunden mit Salz eingerieben worden, er sei von seinen Bewachern getreten und gezwungen worden, stundenlang auf der Stelle zu laufen; dann sei er wieder verhört worden, bis man ihn so weit gebracht hatte, daß er jede Erklärung unterschrieb, die man ihm vorlegte.“18 Solche Folterungen Deutscher zur Erpressung von belastenden Aussagen wurden als Lappalien angesehen. Sie regten damals - nach dem Bekanntwerden der von entmenschten Deutschen in den KZs begangenen Gräuel - außer den Deutschen niemanden auf. Der amerikanische Präsident Roosevelt, der die USA den Zweiten Weltkrieg hindurch geführt hatte und kurz vor dessen Ende gestorben war, wollte mit den Deutschen noch ganz anders umspringen: „Samuel Roseman, der letzte Rechtsberater des Präsidenten [Roosevelt; der Verf.], der sich auch für die Ernennung [des amerikanischen Chefanklägers; der Verf.] Jacksons durch [Roosevelts Nachfolger; der Verf.] Truman stark gemacht hatte, ... gab aber andererseits zu: »Der Präsident war sehr bewegt und sehr verbittert. In seinen Augen hatten die Deutschen eine Strafe [von – wie auf der Konferenz von Jalta vereinbart - fünf Millionen größtenteils in kz-artigen Zwangsarbeiterlagern zu haltenden Arbeitssklaven für Russland, die bei den Reparaturleistungen in Russland durch Mangelernährung großenteils umkommen sollten; der Verf.] verdient. Er hat sogar ernsthaft erwogen, ob man die Deutschen nicht auch [als Teil des Morgenthau-Planes, der Deutschland für alle Zeiten auf den Stand einer „Ziegenweide“ zurückentwickeln wollte, damit Deutschland fürderhin ohne Industrie bleibe und als reines Agrarland keine industrielle Basis mehr habe, einen dritten Weltkrieg anfangen zu können; der Verf.] sterilisieren sollte.« Als Jackson das nicht glauben wollte, schilderte Roseman, wie Roosevelt amüsiert eine Skizze von einer Maschine angefertigt habe, mit der man die Operation massenhaft durchführen könnte.“19 Die Russen hatten sich in Jalta das Einverständnis erbeten, dass die fünf Millionen in Zwangsarbeitslager zu verbringenden Deutschen einer »Spezialbehandlung« unterzogen werden dürften: Die Männer sollten sterilisiert werden, die Frauen den Russen zur Verfügung stehen.20 Die Folterung von Gefangenen hat auch in Demokratien eine lange Tradition, die vor dem Zweiten Weltkrieg begann und mit ihm nicht endete! Als Beispiel seien der algerische Befreiungskrieg gegen die Herrschaft der Franzosen, manches Vorgehen der Briten gegen katholische Nordiren, wenn sie im Verdacht standen, der IRA zugehörig zu sein, und der permanente Menschenrechtsproblemfall Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten genannt. Am 24.05.04 wurde unter Berufung auf den Rechtsanwalt eines wegen der erfolgten folternden Misshandlungen inzwischen angeklagten Hauptmannes der US-Armee eine Meldung der Washington Post verbreitet, dass der Oberkommandierende für den Irak, General Sanchez, ebenfalls bei Folterverhören anwesend gewesen sei, somit also von der Folterpraxis in dem ihm unterstellten Heeresverband gewusst und sie – zumindest stillschweigend – gebilligt habe. Das wolle der Hauptmann in dem ihm bevorstehenden Prozess aussagen, wenn ihm dafür Straffreiheit garantiert werde. Zwei Tage später wurde bekannt gegeben, der General werde von seinem Kommando abgelöst: Er hätte über ein Jahr lang einen „guten Job“ gemacht und werde nun, wie alle anderen Soldaten nach einer so langen Zeit im Feindesland, routinemäßig an seinen Heimatstandort zurückbeordert. Ein paar Monate später gab die "Kommission zur Prüfung der Internierungspolitik des Verteidigungsministeriums" unter Leitung des früheren Verteidigungsministers James Schlesinger einen Untersuchungsbericht heraus, in dem dem General Sanchez als ehemals oberstem Kommandierenden im Irak die Schuld an den Folterungen durch eingezogene Reservisten des 372. Militärpolizeibataillons, Angehörige des Militärgeheimdienstes und von dem engagierte zivile Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen gegeben wurde. Wieder ein paar Monate später wurde Sanchez zum 4-SterneGeneral befördert – während einige Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade zu Haftstrafen zwischen acht Monaten und (wegen des Geständnisses statt zu zehn zu nur) acht Jahren (plus Degradierung und unehrenhafte Entlassung aus der Armee) verurteilt wurden, die der höchstverurteilte Oberfeldwebel sicher nicht abzusitzen braucht. Kommandospitze von Vorwürfen der Folter in Abu Ghraib entlastet Kritik an Ergebnissen von Senats-Untersuchung von Torsten Krauel Washington - Der Generalinspekteur des amerikanischen Heeres hat die ranghöchsten Offiziere, in deren Kommandobereich im Winter 2003/04 das Bagdader Gefängnis Abu Ghraib fiel, von strafrechtlicher Mitschuld an den Mißhandlungen entlastet. Es handelt sich dabei um den Irving, D.: Der Nürnberger Prozess – Die letzte Schlacht, 1979, S. 80 f. Irving, D.: Der Nürnberger Prozess – Die letzte Schlacht, 1979, S. 19 20 Irving, D.: Der Nürnberger Prozess – Die letzte Schlacht, 1979, S. 21 18 19

491

seinerzeitigen Kommandeur der alliierten Streitkräfte im Irak, Ricardo Sanchez, seinen Stellvertreter Walter Wojdakowski, die Chefin der Militäraufklärung im Irak, Barbara Fast, und um Sanchez' Rechtsberater Oberst Mark Warren. Generalin Janis Karpinski, zum Zeitpunkt der Mißhandlungen für die Bewachung von insgesamt 14 irakischen Lagern verantwortlich, erhielt einen Verweis wegen Pflichtverletzung. Das geht aus einem bislang unveröffentlichten Bericht des Generalinspekteurs vor, der auf eidesstattlichen Aussagen von 37 Zeugen fußt. Die strafrechtliche Bewertung des Handelns von sieben weiteren Offizieren steht noch aus. Der Bericht wird demnächst dem Kongreß zugeleitet. Drei Mitarbeiter des Pentagons, die ungenannt blieben, informierten darüber am Wochenende US-Medien. Der republikanische Senator John Warner, Vorsitzender des für die Prüfung dieses Berichts zuständigen Streitkräfteausschusses im Senat, ließ am Wochenende erkennen, daß er die Entlastung hoher Ränge bei gleichzeitiger Bestrafung niederer Ränge mit gewisser Skepsis betrachtet. Warner nannte in seinen Äußerungen niemanden beim Namen. Er legte aber Wert auf seine Feststellung, die militärische und politische Führungsebene habe Rechenschaft über ihre Verantwortung zu geben, und kündigte an, nach Vorliegen aller Berichte zum Thema Abu Ghraib die Frage der Verantwortlichkeit noch einmal aufzuwerfen. Der Militäranwalt Karpinskis erklärte, seine Mandantin akzeptiere ihren Teil der Verantwortung, weigere sich aber, die Alleinschuld zu übernehmen. Es gebe eine Mitverantwortung entlang der Kommandokette. Die vom Dienst suspendierte Generalin tritt derzeit in den USA öffentlich auf und verweist dabei auf den Umstand, daß sie ohne zureichende Mittel in allen ihr unterstehenden 14 Internierungslagern die Ordnung habe aufrechterhalten können - bis auf die zwei Zellenblocks in Abu Ghraib, welche die Militäraufklärung kontrolliert habe. Gegen deren Vertreter im Gefängnis Abu Ghraib selbst, Oberst Thomas Pappas, wird noch immer ermittelt. Die amerikanische Organisation Human Rights Watch legte umgehend Protest gegen die Entlastung der Kommandeure ein. Sie verlangte die Einsetzung eines vom Kongreß zu benennenden Sonderermittlers gegen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den früheren CIA-Chef George Tenet wegen des Verdachts auf Billigung von Folter. ... DIE WELT 25.04.05

Man braucht für mitmenschliches Verhalten gegenüber den der eigenen Willkür ausgelieferten Menschen keine Rechtskenntnisse und keine Kenntnisse irgendwelcher internationaler Abkommen wie der Genfer Konvention. Man muss auch nicht Philosophie studiert haben und Kants „kategorischen Imperativ“ kennen: „Handle so, dass die Maxime deines Wollens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Es genügt eine einfache Spruchweisheit, von der es bestimmt auch im angelsächsischen Sprachraum eine Entsprechung geben wird: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“ Und da der nicht nur am „National Prayer Day“ im Mai jeden Jahres ostentativ betende Christ Georg W. Bush jun. jede Kabinettssitzung mit einem Gebet beginnt, an dem sich alle, und somit auch der Verteidigungsminister, beteiligen, darf in diesem Zusammenhang an das Jesus-Wort erinnert werden: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ Aber für die US-Amerikaner um Bush war alles nicht so schlimm, und der private Rechtsanwalt des gefoltert habenden US-Sergeanten Garner, der in seinem früheren Zivilberuf Gefängnisaufseher in Pennsylvania gewesen war, verglich in der Militärgerichtsverhandlung die zur perversen Belustigung der Wachsoldaten mit den Gefangenen veranstalteten sexuellen Demütigungen und deren Schaustellungen in Pyramiden Nackter mit „CheerleaderTätigkeit“: Cheerleader würden auch Pyramiden bilden! (Zugeben müsste selbst der seine Borniertheit so unverblümt und unverschämt preisgebende Verteidiger, dass das erstens freiwillig und zweitens in den prüden USA nicht nackend geschieht!) Dass (nackte) Gefangene an Hundeleinen und Würgehalsbändern auf allen Vieren durch die Gefängniskorridore gezerrt worden waren, regte den Verteidiger zur alles Geschehene verharmlosenden oder gar rechtfertigen wollenden Bemerkung an: Eltern in den USA hielten ihre Kinder in Einkaufszentren, auf Straßen und Flughäfen ja auch, wie jeder wisse, an Sicherungsleinen mit Handschellen (damit die nicht überfahren werden, verloren gehen oder entführt werden). Zusammenfassend tat er seine Überzeugung kund: Eine Schande seien nicht die Taten der acht in diesem Prozess angeklagten Reservisten des 372. Militärpolizeibataillons, sechs Männer und zwei Frauen, sondern die Veröffentlichung der Bilder, weil das die US-Regierung in Schwierigkeiten gebracht habe. (Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hatte zuvor diese Verteidigungsstrategie vorgegeben, indem er die Misshandlungen als Verirrungen einiger Mannschaftsdienstgrade – Offiziere waren nicht angeklagt worden - gewertet und ausdrücklich bedauert hatte, dass die Bilder bekannt geworden waren. Seinen Rücktritt hatte er abgelehnt.)

492

Weder der us-amerikanische Verteidigungsminister noch der Verteidiger des Army Specialist hätte sicherlich kein Verständnis dafür, dass in Nagold einmal eine Fallschirmspringer-Kompanie der Bundeswehr aus einem vergleichsweise harmlosen Schleifervorwurf der Vorgesetzten gegenüber den Untergebenen heraus aufgelöst worden war, aber in der Bundeswehr gilt das aus der in Art. 1 GG manifestierten Würde des Menschen abgeleitete Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“. Die Irakis, die Saddam Husseins Folterungen überlebt haben oder Angehörige durch Folterungen verloren haben, fragten sich nach den dokumentierten, zwischen dem 01.10.02-09.06.04 vorgenommenen Folterungen mittels Lichts, Dunkelheit, Essens- und Schlafentzugs, Krachs, Kälte und Hitze an (laut einem US-Bericht angeblich nur) 94 Personen, von denen 20 starben: Worin besteht für uns Iraker der Unterschied zwischen früheren Folterungen durch Angehörige der irakischen Geheimdienste und den Folterungen durch Angehörige des us-amerikanischen Militärgeheimdienstes und CIA-Agenten? Aus der „Coalition of the Willing“, die auf amerikanische Bitten Truppen für den Irak-Einsatz abgeordnet hatten, wurde in der arabischen Welt die „Coalition of the Killing“! (Und die Bundesrepublik Deutschland war dank der besonnen den völkerrechtswidrigen Einsatz im Irak ablehnenden Politik Bundeskanzler Schröders zum Glück nicht mit dabei, obwohl Spitzenpolitiker der CDU/CSU auf bündnistreue Gestellung eines Bundeswehr-Kontingentes gedrängt hatten.) Der Unterschied sollte doch wohl mindestens in der politischen Geste des dann aber leider doch verweigerten Rücktritts des dafür politisch verantwortlichen US-Verteidigungsministers bestehen, der - statt die politische Verantwortung für die Schweinereien nicht nur abgenötigt verbal ohne sonstige weitere Konsequenzen, sondern durch seinen Rücktritt zu übernehmen - monatelang versuchte, das Bekanntwerden der Vorkommnisse zu unterdrücken und zu verschleiern, da sie „Amerikas Ansehen schaden“ würden, und der von bedauerlichen Einzelfällen einiger weniger „irregeleiteter Individuen“ sprach, die für die begangenen „Körperverletzungen“ bestraft werden sollen. (Das Internationale Rote Kreuz hingegen verneinte bloß individuelles Fehlverhalten und sprach von durch die Organisation der Begehung vorgegebenen „systematischen“ Menschenrechtsverletzungen, was ja auch uneingestanden in den wahrheitswidrigen Behauptungen des Verteidigungsministers mitschwingt, denn „irregeleitete Individuen“ innerhalb der Kompanien der Militärpolizei werden ja von irgend jemandem geleitet.) Der Verteidigungsminister mochte noch nicht einmal von „Folter“ sprechen, sondern sprach nur von „Körperverletzungen“ und wie sein Präsident von „unamerikanischem Verhalten“, das, so der Präsident, nur „eine Hand voll Soldaten“ an den Tag gelegt habe. „Tortur isn’t part of our soul!“ Unamerikanisches Verhalten? Wenn sich der US-Präsident und sein Verteidigungsminister da mal nicht »bewusst irren«. Die USA sind, nachdem Europa nicht nur einen Teil seiner gläubigsten und unternehmungslustigsten, sondern auch seiner »unruhigsten« und pflegeligsten Söhne und Töchter dahin abgegeben hat, immer eine gewaltgeneigte Nation gewesen: Die teilweise sehr blutrünstige Ausrottung der Indianer mit allen dabei geschehenen Gräueln, die Beschaffung und Haltung der hauptsächlich in die Südstaaten verschleppten Sklaven, von denen die Feldsklaven wie Vieh und schlimmer gehalten wurden, die Kriegsgräuel im Vietnamkrieg bis hin zu dem Verbrechen von My Lai und an anderen Orten dort sprechen seit Jahrhunderten eine überdeutliche Sprache! Andrea Böhm schrieb in ihrem Artikel "Wie man den Krieg der Ideen verliert" in der taz vom 10. Mai zu den amerikanischen Reaktionen auf die Folter in Bagdad und über Folter in amerikanischen Gefängnissen: "Die Einzigen, die in den USA angesichts der Fotos aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis weder überrascht sind noch so tun, sind Anwälte, Sozialarbeiter und Geistliche, die von Berufs wegen mit dem amerikanischen Strafvollzug zu tun haben." Der für einen (angeblichen) Rechtsstaat erschreckende Grund: „Weil diese Berufsgruppen aus ihrer Alltagsarbeit kennen, was die Medien als Horrorhit der Saison um die Erde wirbeln. Gefangene zwecks Disziplinierung stundenlang nackt stehen zu lassen ist im amerikanischen Strafvollzug herrschende Praxis. In manchen Haftanstalten werden neuen Häftlingen Säcke über den Kopf gezogen. […] Ende der Neunzigerjahre war in Texas ein Trainingsvideo für Vollzugsbedienstete in Umlauf, auf dem Häftlinge bei einer Drogenrazzia nackt über den Boden kriechen mussten, von Hunden gebissen und von Wärtern an Füßen zurück in ihre Zellen geschleift wurden. Ein Bundesrichter stellte den texanischen Strafvollzug mehrere Jahre unter Bundesaufsicht, weil Wärter Gefangene systematisch misshandelten oder duldeten, dass Insassen von Mithäftlingen wiederholt vergewaltigt und als ’Sexsklaven' von Trakt zu Trakt verkauft wurden." Und dieses Bewachungspersonal kündigt seinen Job beim Staat, geht zu besser entlohnenden privaten, im Auftrag der USArmee im Irak arbeitenden Bewachungsfirmen und wendet das an, was es in den USA-Gefängnissen an „unamerikanischem Verhalten“ insbesondere gegenüber rassischen Minderheiten gelernt hat. Es waren tatsächlich nicht mehr als ca. 25 männliche und weibliche Militärpolizisten gewesen, die der

493

Aufforderung des Militärgeheimdienstes der USA und der CIA nachgekommen waren, die Gefangenen so zu behandeln, dass sie »verhörbereit« aufbereitet wurden. Hinzu kamen jedoch zahlreiche Mitarbeiter der CACI International, einer so genannten privaten Militärfirma (Private Military Company). Fest steht: Die Aufforderung zu dem vom US-Präsidenten so umschriebenen „unamerikanischen Verhalten“ kam von mächtigen staatlichen US-Organisationen, die ihr auch in Guantanamo praktiziertes Verhörsystem in den Irak übertrugen. Sie wurden teilweise von dem obersten Leiter des US-Militärgeheimdienstes im Irak persönlich angeordnet! Das Pentagon hatte im April 2003 ein geheimes Papier mit 20 aufgelisteten “zugelassenen Verhörmethoden“ erarbeitet, die nach Ansicht der Anwender noch keine Folter sein sollten, darunter stundenlanges Stehen oder Knien mit einem Plastiksack über dem Kopf, tagelanger Schlafentzug mit maximal vier Stunden Schlaf am Tag über drei Tage, extreme Hitze und Kälte, Beschallung mit lauter Musik, Befragung in nacktem Zustand in der Zelle, erzwungenes Verharren in verrenkter, schmerzhafter Körperhaltung, Bedrohung im nackten Zustand durch aufgehetzte Wachhunde: Angeblich nicht ganz Folter, damit es keinen internationalen Aufschrei gibt, aber so nahe dran, wie es geht, um das eigene Image nicht zu sehr zu ramponieren. [Wer dann noch nicht weichgekocht worden war, wurde von der Regierung Bush, deren Mitglieder als ostentative Christen jede Kabinettssitzung mit einem Gebet beginnen, unter Zuhilfenahme der „Spezialeinheit für Beseitigung“ (STERN 17.03.05) an ihnen verbundene bis befreundete Staaten wie Jordanien, Ägypten, Syrien und Marokko mit einer auf den zu Folternden ganz individuell zugeschnittenen Frageliste ausgeliefert, weil in den dortigen Gefängnissen Folter gang und gäbe ist (erinnert wird an den vorstehenden Bericht: „Die Hölle, es gibt sie“) und dort die Drecksarbeit erledigt werden sollte, mit der die USA vor der Weltöffentlichkeit nicht so gern in Verbindung gebracht werden wollten. Am 03.06.04 erklärte ein ehemaliger CIA-Agent in der Sendung Monitor: „Wollen die USA jemanden nur foltern lassen, verschleppen sie ihn nach Jordanien, wollen sie ihn verschwinden lassen, verschleppen sie ihn nach Ägypten und Syrien.“ So geschah es einem ehemals aus Syrien stammenden, seit Jahrzehnten in Kanada lebenden Geschäftsmann, als er wieder einmal die USA geschäftlich bereiste: Völlig unschuldig wurde er in einem gecharterten Privatflugzeug nach Syrien verschleppt und überlebte dort eine zehnmonatige Folterhaft nur dank des Engagements des kanadischen Parlaments. Nun verklagt er die USA.] Deshalb ist es berechtigt, dass das Internationale Rote Kreuz in Bezug auf die Verhörmethoden im Irak von „systematischen“ Menschenrechtsverletzungen spricht – auch wenn das der US-Regierung nicht passt. Die USAmerikaner mussten nach dem Völkermord an den Indianern, den Verbrechen der Sklaverei, in Vietnam, ... einmal wieder an sich erfahren, was - wie viele andere Völker auch, allerdings in unterschiedlicher Monstrosität - das »Volk der Dichter und Denker« u.a. nach Hexenverfolgungen, Pogromen, den weiteren im 30-jährigen Krieg und während der NS-Herrschaft begangenen Verbrechen in einem schmerzhaften Selbsterkennungsprozess über sich selbst hatte lernen müssen: Die Hölle, das können nicht nur die anderen uns, die Hölle, das können auch wir den anderen sein, denn der Mensch ist in dem Maße zu Gräueltaten fähig, wie es ihm seine abgrundtief ausschweifende Fantasie ermöglicht! Das wollte der Dichter Friedrich Rückert mit den Worten ausdrücken: „Der Teufel hat die Welt verlassen, weil er weiß, die Menschen machen selbst die Höll’ sich heiß.“ Allerdings bezweifle ich den ersten Teil seiner Aussage: Das Böse ist noch immer in der Welt! Die alten Römer haben den Sachverhalt mit dem Wort umschrieben: „Homo homini lupus“ – und taten damit dem vorbildlichen Sozialverhalten von Canis lupus innerhalb seines Rudels bitter Unrecht! Der Verteidigungsminister bat die us-amerikanischen Massenkommunikationsmittel sogar, von weiteren Veröffentlichungen noch schrecklicherer Folterbeweise Abstand zu nehmen, weil sie Amerikas Ansehen weiter belasten könnten! Ausschließlich den Kongressabgeordneten wurde auf deren Insistieren hin eine Auswahl der schrecklichsten Folterbilder gezeigt. Eine Untersuchungskommission der Streitkräfte hat dann Anfang Mai 2005 die Militärspitze der US-Streitkräfte im Irak von jeder Mitverantwortung an dem Skandal freigesprochen. Nur die dumme Kuh Janis Karpinski wurde vom Brigadegeneral zum Oberst degradiert. Menschenrechtsgruppen kritisierten die Ergebnisse der Untersuchung scharf und forderten eine Prüfung der möglichen Mitschuld von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Ex-CIA-Chef George Tenet. Die Glaubwürdigkeit der USA, gegenüber (meist nur linken) Diktatoren und „Schurkenstaaten“ für die Geltung der Menschenrechte einzutreten und die Welt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu lehren, ist damit erledigt. Wieder einmal! Die USA stehen, so die us-freundliche Welt am 04.05.04, weil sie sich nicht an geltendes internationales Recht hielten, „am Schandpfahl einer angewiderten Weltöffentlichkeit“. Die New York Times fragte ganz vorsichtig, was wohl passiert wäre, hätten die Bilder statt der Iraker nackte, gedemütigte Amerikaner gezeigt – und wagte nicht, eine Antwort darauf zu geben! Die im Wortsinne verheerenden politischen Implikationen aus den dokumentierten Folterungen werden noch

494 Jahrzehnte bis Jahrhunderte im arabischen Bewusstsein nachwirken – obwohl das alles trotz aller dokumentierter Grausamkeiten und Erniedrigungen kein Vergleich ist mit dem, was in arabischen Gefängnissen stündlich passiert! „Die Folter ist ein fester Bestandteil arabischer Tradition. Sie wird bis heute in arabischen Gefängnissen angewandt“, kommentierte laut SPIEGEL (10.05.04) die Beiruter Tageszeitung „al-Safir“ selbstkritisch die Vorkommnisse. Aber das ist kein Gesprächsthema in der arabischen Öffentlichkeit, und die Länder erheben auch nicht den Anspruch, rechtsstaatliche Demokratien zu sein, die sich dann an rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen messen lassen müssten. Kaum ein arabischer Führer wird es in der nächsten Zeit wagen, mit führenden us-amerikanischen Politikern öffentlich zusammenzuarbeiten und dabei von der Weltpresse fotografiert zu werden. Da bräche in den arabischen Heimatländern vermutlich ein Proteststurm los. Und die USA können die Belastung dieser Bilder nicht durchstehen: Was ihre Streitmacht im Irak errungen hat, wird ihnen durch die eigenen Bilder der folternden US-Soldaten wieder aus der Hand gerungen. Ihr Heer wird aus dem Irak heraus müssen, ohne das vorgebliche Ziel, die Ermöglichung und den Aufbau eines demokratisch organisierten Irak mit demokratischer Sogwirkung auf alle Nicht-Demokratien in der arabischen Welt, erreicht zu haben. So gewinnt man einen Krieg und verliert dann trotzdem den Frieden! Verheerende Auswirkung der eigenen Hybris und menschenverachtenden Einstellung im Zusammenprall der Kulturen. So viele Heere können die USAmerikaner gar nicht gegen undemokratische arabische Systeme aufbieten, um diese Folterungen vergessen zu machen! Das Verhalten amerikanischer Soldaten bis rauf zu der Brigadegeneralin scheint eine Auswirkung von deren »Coca-Cola-Kultur« zu sein, denn von dem Gesöff nehmen die US-Amerikaner in ihrer Mehrheit auch nur zur Kenntnis, dass es (widerlich) süß schmeckt, ohne zu bedenken, dass in jedem Liter 120 gr Zucker sind, die in den dort üblichen Massen getrunken zur gesundheitsschädigenden Verfettung beitragen. Genau so ohne Blick auf die absehbaren Folgen bewegen sich die konservativen US-Amerikaner und insbesondere die von ihnen eingesetzten Truppen im Irak wie der bewusste Elefant im Pozellanladen: Sie wollen den Menschen folternd angeblich die Segnungen der westlichen Kultur bringen und sie so für die überlegene demokratische Staatsform begeistern. Doch das kann nicht funktionieren: Mit Folter kann man kein Folteropfer für Demokratie begeistern! Die US-Amerikaner haben mit den Folterungen die Basis jeder rechtsstaatlichen Demokratie verlassen. Zur Achtung der Menschenwürde gehört unumstößlich ein uneingeschränktes Folterverbot! Das gilt auch uneingeschränkt dann, wenn man »nur« zu einem guten Zweck - im Falle des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei: zur möglichen Rettung eines Menschenlebens - foltern zu wollen vorgibt oder die Folter tatsächlich anwendet. Das Folterverbot ist zentraler Bestandteil des Schutzes der Menschenrechte. Im nationalen und internationalen Recht ist Folter geächtet, sogar ausdrücklich bei Terrorangriffen oder Krieg! Das Folterverbot ist deshalb in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, der UN-Anti-FolterKonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und über den Wortlaut von Art. 1 I GG „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ im Grundgesetz verankert, denn Menschenwürde schließt Folter aus! Das Verbot markiert die Trennlinie zwischen Rechts- und Unrechtsstaat. Ein Rechtsstaat, der mit Folter drohen ließe oder sie gar zuließe, beginge – da mit „gemeingefährlichen Mitteln“ begangen - Selbstmord! Die Folterbilder lösten im Irak verständlicherweise eine Welle von Kampfhandlungen der Untergrundmilizen aus. Es fehlen nur noch Kampfhandlungen um die beiden den Schiiten heiligen Städte Kerbela und Nadschaf, insbesondere eine Kugel- oder Schrapnellspur am höchsten Schiiten-Heiligtums, dem Imam-Ali-Schrein, und 110 Millionen Schiiten auf der ganzen Welt würden gegen die US-Amerikaner in einen Religionskrieg getrieben; das wäre so, als wenn die US-Amerikaner Mekka besetzten und in die Kaaba schössen!

Eine weitere schwärende Wunde im Weltgewissen ist Tibet. Einige Denkanstöße aus dem Buch des sich in indischem Exil befindenden tibetischen Staatsoberhauptes und Friedensnobelpreisträgers von 1989 Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama: Das Buch der Freiheit, Bergisch Gladbach 1990 (Der Dalai Lama ist das religiöse und weltliche Staatsoberhaupt der Tibeter. Vor der Verleihung des

495

Friedensnobelpreises an ihn 1989 war er unverständlicherweise von der deutschen Regierung bei Besuchen in der Bundesrepublik nie empfangen worden - wohl mit Rücksicht auf den China-Handel. Pfui Deibel! Wenn sich die europäischen Einzelstaaten dem Koloss China nicht gewachsen fühlen, dann wird es endlich Zeit für eine gesamteuropäische Außenpolitik!) S. 129: Gnadenlose Folterungen und Hinrichtungen von Frauen und Kindern, deren Männer und Väter der Widerstandsbewegung gegen die das Land besetzt haltenden Chinesen beigetreten waren. S. 130: Es geschahen unglaubliche Entwürdigungen von Mönchen und Nonnen, die in aller Öffentlichkeit ihr Keuschheitsgelübde brechen und sogar Menschen umbringen mußten, obwohl sich Buddhisten normalerweise weigern, selbst Insekten zu töten, weil das Töten im Buddhismus verboten ist [da nach nordindischer und tibetischer Lehre Menschen auch als Tiere wiedergeboren werden können; der Verf.]. Das sind auch Verstöße gegen die Artikel 12, 18 und 22. S. 146: "Erst als ich 1959 den Bericht der Internationalen Juristenkommission las, begriff ich, daß wahr war, was ich früher gehört hatte; zum Beispiel, daß es üblich war, die Opfer zu kreuzigen, sie lebendig zu sezieren und zu zerstückeln oder ihnen den Bauch aufzuschlitzen. Ebenso üblich war es, daß Menschen gehängt, geköpft, verbrannt, lebendig begraben oder zu Tode geprügelt wurden, wenn man sie nicht gar durch galoppierende Pferde zu Tode schleifen ließ, sie kopfüber aufhängte oder gefesselt in eiskaltes Wasser warf. Und damit sie auf dem Weg zur Hinrichtung nicht »Lang lebe der Dalai Lama!« rufen konnten, hatte man ihnen vorher mit Fleischhaken die Zunge herausgerissen.“ S. 306: In dem Holocaust21 der letzten drei Jahrzehnte haben fast eineinviertel Millionen Tibeter ihr Leben verloren. S. 327: "Die Wahrheit aber ist, daß mit dem Einmarsch der Chinesen mehr als eine Million Tibeter unmittelbare Opfer der chinesischen Vorgehensweise wurden. Als die Vereinten Nationen 1965 ihre Resolution über Tibet verabschiedeten hieß es darin ganz deutlich, daß China in Tibet »in großem Umfang Mord und Vergewaltigung begeht, Menschen willkürlich verhaftet, foltert und brutal, unmenschlich und erniedrigend behandelt«." Der Dalai Lama sprach später von einem „geistigen Völkermord“ und einem „ethnischen Genozid“ der Chinesen an den Tibetern! Die kommunistische Führung Chinas hatte die Massenansiedlung von Han-Chinesen in einem Umfang durchgeführt, dass die Tibeter in den Städten ihres Landes, sogar in ihrer Hauptstadt Lhasa, zu einer Minderheit geworden sind. Das ist gleichzeitig ein Verstoß gegen Artikel 9 der Erklärung der Menschenrechte. Aber die chinesische Regierung hat da ihre eigene sehr spezielle Sichtweise: "Menschenrechte: Chinas Antwort ap Bonn - Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat China aufgefordert, den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Für die Zusammenarbeit im rechtlichen Bereich sei das ‘eine zwingende Voraussetzung', sagte sie gestern ihrem chinesischen Kollegen Yang Xiao in Bonn. Xiao erwiderte ihr, jeder Staat müsse im Rahmen seiner Gesetze alle Straftaten bekämpfen, ‘einschließlich konterrevolutionärer Verbrechen'. Menschenrechte müßten im Zusammenhang mit der Gesellschaft und Kultur eines Landes gesehen werden." (HH A 29.03.94), die es China nach seinem Selbstverständnis offensichtlich zu ermöglichen scheint, so eklatant gegen die Menschenrechte zu verstoßen. Und da fuhr der (über "Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstarken der Parteien nach 21

„Holocaust“ ist ein auf dem Griechischen „holocaustos“ („völlig verbrannt“) basierender, aus der englischen Bibelsprache übernommener, falsch geprägter und dann auf Grund einer so benannten amerikanischen Fernsehserie auch bei uns so falsch eingebürgerter Begriff. Er bezeichnete ursprünglich ein gottgefälliges tierisches Brandopfer. Das ist aber als Bezeichnung für die Judenvernichtung und auch hier für den mit diesem Begriff gleichgesetzten Genocid an den Tibetern wirklich nicht gemeint. Richtiger wäre der hebräische Begriff der „Shoa/Schoa“.

496

1945" promoviert habende) Historiker Kohl zu einem Staatsbesuch nach China und machte von dort aus auf eigenen Wunsch einen Abstecher nach Tibet, womit er indirekt die Rechtmäßigkeit der chinesischen Besetzung Tibets anerkannt hatte. Die Chinesen jubelten und bauten ihn in ihre Anti-Tibetpropaganda ein. Hätte er doch nur über die Geschichte Tibets promoviert! Dann wäre ihm ein solch gravierender Fehler hoffentlich nicht unterlaufen! Der deutsche und der amerikanische Botschafter in der UdSSR hatten von ihrem Gastland aus nie(!) einen Besuch der im Zweiten Weltkrieg zwangsweise in die UdSSR eingegliederten baltischen Staaten vorgenommen, um nicht den Anschein der Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Besetzung der baltischen Staaten durch Stalin zu erwecken. Es ist also zumindest auch in deutschen Diplomatenkreisen bekannt gewesen, wie man sich in einem solchen Fall auf diplomatischem Parkett zu verhalten hat! Aber das Erkennen von Gorbatschows Jahrhundertgeschenk an die Deutschen, die deutsche Wiedervereinigung, seine beherzte Annahme und Umsetzung gegen den unverständigen oder zögerlichen Widerstand der SPD lässt solche und einige andere kleinere »Ausrutscher« wie die Vergabe von Schiffsbaukrediten 1992 kurz vor dem Jahrestag des Massakers auf dem Platz des himmlischen Friedens an die wegen dieses Massakers international geächteten Chinesen verblassen. (In meinen Augen verblasst aber nicht der von ihm verursachte Parteispendenskandal mit dem damit verbundenen Bruch unserer Gesetze!) Mit dieser Kreditvergabe sollten Arbeitsplätze in der ostdeutschen Schiffsbauindustrie gesichert werden. Damit wurde aber die eigene neue, ein halbes Jahr zuvor verkündete, u.a. an der Geltung der Menschenrechte im Empfängerland zu orientierende Entwicklungshilfepolitik konterkariert, die von der deutschen Presse so verbreitet worden war: "Geld gegen Menschenrechte Bonn will seine Entwicklungshilfe umstellen dpa Bonn - Deutsche Entwicklungshilfe soll künftig noch stärker als bisher von Eigenanstrengungen der Empfängerländer abhängig sein. Entwicklungshilfeminister Carl-Dietrich Spranger (CSU) stellte gestern im Bundestag fünf Kriterien vor, an denen die Mittelvergabe von 1992 an gemessen werden soll. Die Beachtung der Menschen- sowie der individuellen Bürgerrechte sollen dabei von ebenso zentraler Bedeutung sein wie Rechtssicherheit durch eine unabhängige Justiz und eine `marktfreundliche Wirtschaftsordnung'. Die Bevölkerung müsse am politischen Prozeß beteiligt sein. Ebenso müsse auf übermäßige Rüstung verzichtet werden. Zusammenfassend gilt: Die Regierungspolitik der Empfängerländer muß vorrangig auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerung ausgerichtet sein. Der SPD-Abgeordnete Ingomar Hauchler kritisierte Sprangers Ankündigung ... als `Mogelpackung'. Die Worte des Ministers stünden in Widerspruch zur tatsächlichen Politik der Bundesregierung, sagte Hauchler. Spranger verkünde `Prinzipien, die bis jetzt nicht umgesetzt werden'. Tatsächlich seien die Hauptempfänger deutscher Hilfe Länder, die gegen Menschenrechte verstoßen, hohe Rüstungsausgaben und Waffenexporte haben und wenig für den Umweltschutz tun. Hauchler nannte als Beispiele die Länder China, Indien, Pakistan, die Türkei und Marokko. ..." (HH A 11.10.91)

Zu den Artikeln 7 [Gleichheit aller vor dem Gesetz], 22 [Recht auf soziale Sicherheit] und 25 [desgl.]: "Weltweit werden männliche Babys den weiblichen vorgezogen UN-Bericht: Frauen-Diskriminierung beginnt vor der Geburt und reicht bis ins hohe Alter / Schwerwiegende Folgen für Gesundheit GENF 6. Mai (epd). Frauen wird fast überall auf der Welt das grundlegende Menschenrecht auf Gesundheit verweigert. Darauf verweist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen in ihrem jüngsten Bericht über die Gesundheit von Frauen. Die Diskriminierung beginne schon vor der Geburt und setze sich bis ins hohe Alter fort. Die soziale und wirtschaftliche Benachteiligung von Frauen habe für ihre Gesundheit schwerwiegende Folgen, beklagt die WHO. ... Die medizinische Versorgung von Frauen sei deutlich schlechter als von Männern, weil sie durch Kultur, Religion und finanzielle Bedingungen nach wie vor diskriminiert würden, heißt es in dem Bericht. ... Die Diskriminierung von Frauen beginnt dem WHO-Bericht zufolge bereits vor der Geburt. Fast überall auf der Welt würden männliche Babys weiblichen vorgezogen. Nach einem Bericht aus

497

dem indischen Bombay seien von insgesamt 8.000 Abtreibungen nach einer vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung 7.999 weibliche Föten gewesen. ... Bei vielen Krankheiten würden Eltern eher Jungen als Mädchen zur Behandlung in ein Krankenhaus bringen, berichtet die WHO. In Pakistan waren mit derselben Krankheit 75 % Jungen und nur 25 % Mädchen in einem Hospital. In Afrika, Lateinamerika, Asien und arabischen Staaten sterben den Statistiken zufolge mehr Mädchen als Jungen unter fünf Jahren. ... Frauen überall auf der Welt seien zusätzlich durch Gewalt der Männer betroffen, heißt es in dem Bericht. In Peru sind danach 70 % aller gemeldeten Verbrechen schwerwiegende Tätlichkeiten gegen Frauen. ... Täglich stürben vier Frauen an den Folgen der Verletzungen durch häusliche Gewalt, beklagt die WHO." (FR 07.05.92) "Junge oder Mädchen? SAD London - Der Arzt Dr. Riva Gupta eröffnet im Dezember in London eine Privatklinik, in der sich Eltern das Geschlecht ihres Babys aussuchen können. Die Entscheidung fällt im Labor, wo die X-Chromosomen im Sperma von den Y-Chromosomen getrennt werden (Männer haben XY-, Frauen XX-Chromosomen). Danach wird die Patientin künstlich befruchtet. ... Die Labour-Parlamentarierin Clare Short protestiert: `Es besteht die Gefahr, daß Eltern dann nur noch Jungen haben wollen.' Dr. John Hapgood, Erzbischof von York: `Ein Baby ist ein Geschenk Gottes und nicht irgend etwas zur Befriedigung bestimmter Gefühle.' Das Meinungsforschungsinstitut Gallup bestätigte: Die meisten Eltern würden sich für einen Sohn entscheiden." (HH A 09.11.91) Für 1996 wurden über das Leid der Frauen folgende Zahlen geschätzt: Von den ca. 920 Mio. Analphabeten auf der Welt sind 600 Mill. Frauen und 320 Mill. Männer. 130 Mill. Frauen sind die Genitalien verstümmelt worden. 60 Mill. weibliche Föten wurden bisher wegen ihres Geschlechts abgetrieben. 2 Mio. Mädchen im Alter von 5 bis 15 Jahren werden jährlich als Prostituierte verkauft. Von 175 Mill. jährlichen Schwangerschaften sind 75 Mill. ungewollt, was zu 45 Mill. Abtreibungen führt, wobei 70.000 Frauen sterben – neben den 585.000 Frauen (mindestens eine pro Minute), die jährlich durch Schwangerschaftskomplikationen sterben. Alle Menschen sollen vor dem Gesetz gleich sein. Das ist die schöne Theorie. Aber trotzdem sind – wie von George Orwell in „Animal Farm“ satirisch so schön beschrieben – manche Menschen »gleicher« als gleich, sprich: als andere. Der damalige spanische Thronfolgeraspirant Juan Carlos war nach einer langjährigen Internatszeit mit 17 Jahren zur weiteren Vorbereitung auf seine ihm vom damaligen Diktator General Franco zugedachte Aufgabe als König von Spanien in eine spanische Militärakademie gesteckt worden, wo er selbstverständlich den Umgang mit Waffen erlernt hatte. Er saß ein Jahr später am Gründonnerstagabend 1956 mit seinem 14-jährigen Bruder Alfonso in einer Villa bei Lissabon, wo die Eltern der beiden Prinzen im Exil lebten. Die Brüder warteten auf das Abendessen. „Sie spielten mit einem Revolver (Kaliber 22). Am Tag zuvor hatten sie damit auf Laternen im Garten geschossen, bis es ihnen der Vater verbot. Jetzt hantierten sie mit der Waffe, dabei löste sich ein Schuss. Er traf Alfonso in die Stirn. Es gab nie eine Untersuchung. ’Schwöre, dass du es nicht mit Absicht gemacht hast’, hatte Don Juan von seinem Sohn verlangt, bevor er den Revolver ins Meer warf.“ (Stern 30.04.03) Nun soll nicht behauptet werden, dass Juan Carlos seinen Bruder absichtlich getötet habe. Dazu gab es auch keinen (ersichtlichen) Grund, da die Brüder sich mochten und Juan Carlos ja der Thronfolgeraspirant war, er sich also nicht die Thronfolge freischießen musste. Aber was – mich in diesem Zusammenhang stört, ist die lapidare Feststellung: „Es gab nie eine Untersuchung.“ Ich bin sicher: Wenn ich meinen Zwillingsbruder erschossen hätte, dann hätte es bestimmt eine Untersuchung gegeben!

Zu Artikel 8 [Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz]

498

2005 begann Peking, das berüchtigte System „Umerziehung durch Arbeit“ zu liberalisieren. „Gefangene, die bislang ohne Verfahren und Rechtsbeistand in Haft genommen wurden, sollen nun die Möglichkeit erhalten, einen Verteidiger zu bestellen und ein Gericht anzurufen. Bislang ist es der Polizei erlaubt, mutmaßliche Dissidenten, Kleinkriminelle und Prostituierte bis zu vier Jahre in Umerziehungslager zu stecken – Einrichtungen, die Gefängnissen gleichen. Richter und Staatsanwälte sind bei der sogenannten Administrativ-Haft nicht zugelassen. ... Derzeit gibt es in China rund 300 Umerziehungslager, in denen nach offiziellen Angaben 260.000 Delinquenten festgehalten werden. Die angekündigte Reform erfüllt allerdings nicht die Erwartungen westlicher Länder, die Peking in letzter Zeit immer wieder dazu aufgefordert haben, die Verwaltungshaft völlig abzuschaffen – weil sie gegen internationale Menschenrechtskonventionen verstößt. Wichtigster Kritikpunkt: Auch weiterhin entscheiden erst einmal Polizisten und Verwaltungsbeamte, wie mit den Verhafteten zu verfahren ist.“ (SPIEGEL 26.03.05)

Zu Artikel 9 [Schutz vor willkürlicher Verhaftung oder Verweisung aus dem eigenen Land]: In der DDR waren Proteste und Solidarität mit Protestierenden jahrelang erst denunziert, dann kriminalisiert und durch parteibeflissene Richter mit hohen Strafen belegt worden, die jeder Verhältnismäßigkeit spotteten, um so 33.755 Handelsobjekte für den Freikauf durch die Bundesrepublik zu produzieren, damit die chronisch schwache Devisenkasse der DDR zusätzlich zu Straßenbenutzungsgebühren und anderem Wegelagerergeld mit mehr als 3,5 Mrd. DM aufgefüllt werden konnte. Das war kaum kaschierter Sklavenhandel der führenden ostdeutscher Kommunisten im 20. Jahrhundert! So war z.B. im März 1989 ein übersiedlungswilliges Ehepaar zu einmal 2 Jahren und einmal 2 Jahren und 8 Monaten verurteilt worden, weil es sich (nur) auf den Weg zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR gemacht hatte, es das Ziel aber gar nicht erreichen konnte, da es vorher verhaftet worden war, weil seine Absicht verraten oder ausspioniert worden war. Dabei hatte das Ehepaar - wie Millionen andere - nur ein Menschenrecht wahrnehmen wollen, dessen Geltung die DDR mit ihrer UN-Mitgliedschaft, der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.66 und ihrer Unterschrift unter die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 zugestimmt hatte. Auch dieses Ehepaar ist - wie rund knapp 34.000 andere Häftlinge zwischen 1963 und 1989 - zu einem "Stückpreis" von ca. DM 104.000,- freigekauft worden. Mancher Sklavenhändler hätte sich über einen solchen Umsatz von mehr als 3,5 Mrd. DM gefreut. Für das Unrechtsregime der DDR waren solche Menschen reine Handelsware und wurden nach Belieben und angespannter Devisenlage ohne jegliche Gestehungskosten in Massen produziert, teilweise unter Umetikettierung krimineller in politische Häftlinge! Das nenne ich Profit! „Wir wollten den Westen melken, wo es nur geht“ bekannte das ehemalige Politbüromitglied Schabowski am 10.10.04 in der Reihe „Zeitzeugen“ der „Berliner Morgenpost“.

Zu Artikel 11 [Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils in einem ordnungsgemäßen Verfahren]: Bei uns muss einem Angeklagten seine Schuld zur Überzeugung des Gerichts im Prozess nachgewiesen werden. Andernfalls gilt der Rechtsgrundsatz: "Im Zweifel für den Angeklagten!", und damit Freispruch. Laut Zeitungsberichten (von ca. 1990) gelte aber z.B. in der Türkei ein Angeklagter zunächst einmal als schuldig. Es sei seine Sache, seine Unschuld zu beweisen; sein "Pech", wenn er es nicht kann. Gegen den im letzten Satz des Artikels 11 II der Erklärung der Menschenrechte aufgestellten Rechtsgrundsatz, dass bei einer Aburteilung nur eine Strafe verhängt werden dürfe, die zum Zeitpunkt der Deliktsbegehung gesetzlich vorgesehen war, und nicht eine höhere, ist in Deutschland zur Zeit der Nazi-Herrschaft vielfach lebensvernichtend verstoßen worden.

Zu Artikel 13 [Recht auf Freizügigkeit]: Die DDR hatte am 13. August 1961 in Berlin "die Mauer" gebaut, weil ihr ihre eigene Bevölkerung in einer "Abstimmung mit den Füßen" über die auf den sowjetischen Bajonetten errichtete Zwangsherrschaft in millionenfacher Anzahl davongelaufen und dabei - im Gegensatz zu dem proklamierten Recht auf Freizügigkeit - zum Teil umgebracht worden war.

499

„Die Urteile im Prozeß um die Schüsse an der innerdeutschen Grenze ... Diese Praxis [des gezielten Schusswaffengebrauchs; der Autor] hat fast tausend Menschen, die die DDR verlassen wollten, das Leben gekostet. Nach Recherchen der ‘Arbeitsgemeinschaft 13. August‘ sind bisher 916 Todesfälle an der innerdeutschen Grenze dokumentiert. 255 Menschen wurden an der Berliner Mauer getötet; 371 der Flüchtlinge kamen an der Grenze zu Westdeutschland ums Leben. 189 Menschen starben bei Fluchtversuchen in der Ostsee, und 44 DDR-Bürger verloren ihr Leben bei dem Versuch, über Bulgarien, Polen Ungarn oder die Tschechoslowakei in den Westen zu gelangen. Weitere Todesfälle gab es bei Fluchtversuchen per Flugzeug und auf anderen Fluchtwegen. ...“ (HH A 26.08.97) „1008 Opfer an DDR-Grenze Berlin - ... nach jüngsten Recherchen der Arbeitsgemeinschaft 13. August sind zwischen 1946 und 1989 insgesamt 1008 Menschen an der innerdeutschen Grenze ums Leben gekommen. ... (dpa)“ (HH A 13.08.03)

Zu Artikel 15 [Recht auf eine Staatsangehörigkeit]: Oppositionellen ist von der DDR in jahrelanger Praxis die Staatsbürgerschaft entzogen worden, wenn sie in die Bundesrepublik abgeschoben Wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor umgehend seine Arbeit und wurde von den Behörden schikaniert. Amnesty International zog in seinem in Buchform erschienenen Erfahrungsbericht "Deutsche Demokratische Republik - Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen" (1989) über die Situation der Menschenrechte in der DDR das Fazit: "Offensichtlich führt jeder Versuch, die Behörden zur Überprüfung der Ablehnung eines Ausreisegesuches zu bewegen, zur sofortigen Anklageerhebung mit der Begründung, die Arbeit der Behörden sei beeinträchtigt worden." Einer der gravierendsten Verstöße gegen Art. 9 der UNO-Charta war 1993 die Massenausweisung und Deportation von 415 der Hamas-Anhängerschaft verdächtigter Palästinenser in das Niemandsland zwischen der von Israel beanspruchten Sicherheitszone und dem von libanesischen Truppen kontrollierten Gebiet. (Die millionenfache Ausweisung der Deutschen nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg aus den ehemals deutschen Ostgebieten geschah vor der Deklaration der UNO-Charta. Aber da Deutschland so kurz nach dem von ihm angezettelten Zweiten Weltkrieg als Feindstaat der UNO deklariert worden ist, hätten sich die Deutschen auf diese Charta sicher nicht berufen können, um ihre Vertreibung zu verhindern.)

Zu Artikel 16 [Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit]: Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Vom 15. September 1935. ... §1 (1) Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes sind verboten. ...

Wenn sich in der DDR ein Ehepartner der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen hatte und dort unangenehm „staatszersetzend“ tätig wurde, übte die DDR u.U. Druck auf den anderen Ehepartner aus, sich scheiden zu lassen. 2003 erließ das israelische Parlament ein neues Ehegesetz, dem zufolge Ehepaare, bei denen einer der Ehepartner jüdischer oder arabischer Israeli und der andere Palästinenser ist, Israel verlassen oder künftig getrennt leben müssen. Anders als bisher soll der palästinensische Partner auch keine Aufenthaltserlaubnis mehr für Israel erhalten. Israel will damit die Rückkehr von Palästinensern aus den Flüchtlingslagern nach Israel unterbinden und behauptet außerdem, dass die bisher geltende Zuzugsmöglichkeit von Palästinensern auch zur Verübung terroristischer Anschläge genutzt worden sei. Selbst wenn das vereinzelt vorgekommen sein sollte, erhebt sich die Frage, ob in diesen neuen gesetzlichen Familienrechtsregelungen nicht ein Verstoß gegen Art. 16 der

500

UNO-Menschenrechtserklärung vorliegt, dem zufolge eine Familie Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat habe.

Wegen der in mehreren Staaten und ab 2001 auch bei uns erlaubten gleichgeschlechtlichen "registrierten Partnerschaften" sei darauf verwiesen, dass der Wortlaut zwar lautet: "Männer und Frauen haben das Recht, eine Ehe zu schließen."; damit ist aber gemeint: "Männer und Frauen haben das Recht [miteinander] eine Ehe zu schließen."

Zu Artikel 17 [Recht auf Eigentum]: Das Recht auf Eigentum ist vielen ehemaligen DDR-Bürgern entzogen worden. Teilweise sind sie z.B. durch das Koko-Imperium ihrer gesammelten Kunstschätze beraubt worden, weil die DDR damit auf dem internationalen Sammlermarkt Devisen verdienen wollte. Systematisch wurden unter Verletzung des in „Art. 31 DDR-Verf (1) Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzbar. (2) Sie dürfen nur auf gesetzlicher Grundlage eingeschränkt werden, wenn es die Sicherheit des sozialistischen Staates oder eine strafrechtliche Verfolgung erfordern.“ garantierten Postgeheimnisses von den staatlichen Posträubern der DDR Pakete und Briefe aufgebrochen, wenn darin Geld, Schecks und Wertsachen vermutet wurden. Millionenbeträge sind so über die Jahre ihren rechtmäßigen Eigentümern von staatlichen Organen gestohlen worden.

Zu Artikel 18 [Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit]: wird auf die schon an anderer Stelle wiedergegebene dpa-Meldung vom 24.12.92 verwiesen, derzufolge in Saudi-Arabien zwei philippinische Priester am Weihnachtstag 1992 hingerichtet werden sollten, weil sie in dem wahhabitisch-fundamentalistischen Saudi-Arabien eine christliche Kirche hätten bauen wollen. Zur Erklärung dieser ungewöhnlich intoleranten Haltung sei das Folgende angemerkt: Im islamischen Recht der Scharia gibt es Straftaten mit absoluter Strafdrohung, die sogenannten "HududDelikte". Für die Ahndung der Hudud-Delikte sind ganz bestimmte, oft verstümmelnde Körper- und sogar auch Todesstrafen durch Steinigung, Kreuzigung oder Enthauptung mit dem Schwert auf offenem Marktplatz als absolute Strafen angedroht. An diesen Strafen entzündet sich die hauptsächliche Kritik am islamischen Strafrecht der Scharia, das nach Überzeugung der Muslime dem Propheten Mohammed von Gott persönlich so gegeben worden ist. Wegen dieses göttlichen Ursprungs der Scharia könne sie von Menschen nicht geändert oder abgeschafft werden. Zu diesen Hudud-Delikten zählt auch der Abfall vom islamischen Glauben ("ridda"). Das verstößt gegen Art. 18 der Erklärung der Menschenrechte, in dem u.a. geregelt worden ist, dass das Recht auf Religionsfreiheit auch die Freiheit umfasse, "seine Religion zu wechseln". Nach islamischem Religionsverständnis ist aber ein solches Verhalten ein todeswürdiges Verbrechen: Wer einmal - und sei es durch Übertritt von einer anderen Religion zum Islam - Muslim geworden ist, der hat wegen des dem Islam immanenten Totalitätsanspruchs das Recht verwirkt, seinen Glauben (eventuell erneut) zu ändern, denn dann wäre er ja nicht mehr rechtgläubig. Er war durch seine (eventuell nur zeitweilige) Zugehörigkeit zum Islam im Stande der Gnade und hat sich davon in einem bewussten Willensakt abgekehrt. Deswegen werde er der ewigen Verdammnis anheim fallen. Doch damit nicht genug: Weil derjenige, der sich vom Islam abkehrt, damit Allahs Existenz negiere - selbst dann, wenn er zu einer der auch an Gottes Existenz glaubenden monotheistischen Buchreligionen übertritt oder zu ihr zurückkehrt - ist es nicht nur erlaubt, sondern (nach allerdings rigoroser Schriftauslegung) sogar geboten, einen solchermaßen Allahs Existenz Negierenden zu töten. Dabei beruft man sich auf Mohammeds Wort: "Wer seine Religion [natürlich nur vom Islam weg] ändert, den tötet." Da der Islam die einzig rechtgläubige Religion sei, ist in dem sektiererischen wahhabitischfundamentalistischen Saudi-Arabien jede andere öffentliche Religionsausübung verboten – auch für ausländische Botschaftsangehörige! Der Versuch des Baues einer anderen Kirche als einer Moschee wird darum mit einem kraftvollen Schwerthieb zwischen Kopf und Schultern geahndet.

501

Zu Artikel 19 [Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit]: Informations- und Meinungsfreiheit sind Zwillingsschwestern. Ohne die eine ist die andere nicht möglich: Wer eine fundierte Meinung vertreten will, muss sich erst einmal über die jeweilige Sachlage möglichst gründlich informieren, damit seine Meinungsäußerungen nicht aus einem Rausrülpsen von Vorurteilen bestehen. Dazu bedarf es der Pressefreiheit und der Freiheit der Berichterstattung in anderen Medien, insbesondere dem Fernsehen. Zum Problem der Meinungsfreiheit wieder aus dem Buch des in indischem Exil lebenden tibetischen Staatsoberhauptes, dessen religiöser Stellvertreter, der Panschen Lama, in Tibet geblieben und so dem Zugriff der chinesischen Besatzer ausgesetzt war. S. 287: 1964 erklärte der Pantschen-Lama in einer öffentlichen Rede, "... daß der Dalai Lama das wahre Oberhaupt der Tibeter sei. ... Daraufhin wurde er verhaftet ... und in ein Hochsicherheitsgefängnis geworfen. Die Bedingungen dort waren so unmenschlich, daß er mehr als einmal einen Selbstmordversuch unternahm." Und das, obwohl die Buddhisten kein Leben vernichten dürfen; erst recht nicht ihr eigenes. Genau so wenig, wie es für mich denkbar ist, dass ein Papst je Selbsttötung beginge, weil die katholische Kirche Selbsttötungen ablehnt – die Entscheidung über Leben und Tod nicht Gott zu überlassen gilt ihr als besonders verwerfliche Sünde - und folgerichtig bis 1983 die Beerdigung von Suizidanten auf ihren Friedhöfen verboten hatte, so undenkbar war es vordem auch für Tibeter, dass ein Pantschen-Lama seinem Leben selber ein Ende bereiten würde. Die trotzdem vorgenommene Selbsttötung zeigt als Lackmuspapier seiner (wohl hauptsächlich seelischen) Folter die ihm von den chinesischen Machthabern auferlegten Qualen, denn nur ein völlig Verzweifelter flüchtet sich gegen seine tiefsten Glaubensüberzeugungen in diese subjektiv finale Problemlösung. Wie muss das zweithöchste geistliche Oberhaupt der Tibeter, der Pantschen-Lama, wegen seiner Äußerung gequält worden sein! Die von dem Dalai-Lama autorisierte Reinkarnation des Pantschen-Lama in dem kleinen Kind Gendün wurde von den Chinesen in Geiselhaft genommen und wird darum von dem Dalai-Lama als der jüngste politische Gefangene der Welt bezeichnet. Zur Abrundung: "‘Tibet ist China' dpa Peking - China lehnt einen Volksentscheid in Tibet ab. Das größte Hochland der Erde sei ‘untrennbarer Teil Chinas'." (HH A 16.03.95) Ein weiterer Fall zu Art. 19 aus einer anderen Region: "Ein Playboy im Knast Weil der Scheich Mohammed al-Fassi - in jungen Jahren für sein `sittenloses' Leben berüchtigt für sein Land demokratische Reformen forderte, warf ihn das saudische Königshaus ins Gefängnis. ... Mohammed al-Fassi war - erst als Student, dann als Geschäftsmann - wie eine lebende Karikatur eines geldstrotzenden Ölscheichs. Dabei zählte sein Name in Saudi-Arabien. Seine Schwester, Prinzessin Hind, ist mit Prinz Turki, einem Bruder König Fahds, verheiratet. Doch das Leben des Playboys endete jäh in einem Alptraum: Seit sechs Monaten sitzt der Scheich in Isolationshaft. Im dritten Untergeschoß eines Gefängnisses in der saudischen Hauptstadt Riad wird er seit Oktober festgehalten, ohne daß ein Urteil gegen ihn ergangen oder auch nur öffentlich Vorwürfe gegen ihn erhoben worden wären. Der exzentrische Milliardär - inzwischen zum frommen Moslem geläutert - hatte während des Krieges um Kuwait mit Saddam Hussein über ein friedliches Ende der Golf-Krise verhandelt. Lange genug war al-Fassis »sittenloses« Leben seinen königlichen Verwandten ein Dorn im Auge gewesen. Doch als er nun auch noch von Bagdad per Radio demokratische Reformen in dem autoritären Saudi-Arabien einforderte, Milchpulver für die Kinder in den Irak schaffen ließ und seinen Privatsekretär zu Friedensgesprächen nach Israel sandte, war das Maß für das saudische Herrscherhaus voll. ... Am 2. Oktober 1991 war al-Fassi im Intercontinental Hotel der jordanischen Hauptstadt Amman festgenommen und noch am Abend über die saudische Grenze abgeschoben worden. »amnesty

502

international« nahm sich des Falles an, weil die Menschenrechtsorganisation fürchtete, der Scheich werde in saudischer Haft gefoltert. »Dabei hat al-Fassi nichts anderes getan, als offen seine Meinung über ein Regierungssystem zu äußern, wie er es in England und Amerika kennengelernt hat und wie er es auch für seine Heimat wünscht«, sagt Bailey [sein amerikanischer Anwalt, der die Entführung publik machte]. Es bestehe die Gefahr, daß sein Klient hingerichtet werde." (STERN 23.04.92) Eine enge Verwandte von Informations- und Meinungsfreiheit ist die „Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film“, wie die Berichterstattungsfreiheit für den Bereich des Grundgesetzes in Art. 5 I 2 GG ausformuliert wurde. Sie regelt die Freiheit der Sendeanstalten, umfasst also auch die Freiheit der Fernsehsender, wobei sich bei manchen »Spaßunkultursendungen« nach dem vorstehend benutzten „also“ fast unwillkürlich ein dazwischenzuschiebendes „leider“ auf die Lippen drängt: „…umfasst also »leider« auch die Freiheit der Fernsehsender.“ Die „Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film“ wurde wegen ihrer tatsächlichen Bedeutung als unentbehrliches Massenkommunikationsmittel ins Grundgesetz mitaufgenommen und ergänzt die zuvor überragend wichtige Pressefreiheit, die sie inzwischen für die Masse der Bevölkerung vielleicht schon überflügelt hat, denn es wird zu wenig gelesen und sich in qualifizierten Printmedien zu wenig informiert. Sarkastisch wurde schon formuliert: „Selbst wer sich am Kiosk ein Comic-Heftchen kauft, gehört schon zu einer Minderheit: der Minderheit der Lesenden!“ Wie alle Menschen in ihrem Wesen eine Tag- und eine Nachtseite haben, so umfasst die „Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film“ neben der Verstärkung der Meinungsfreiheit durch Information über gesellschaftlich relevante Themen – denken Sie an den zur Verhinderung von Georg W. Bushs Wiederwahl von Michael Moore gedrehten und international prämierten Film „Fahrenheit 9/11“ - leider auch die Freiheit, fast jede »(Kuh-)Scheiße« zu senden, in die in Ekel-Camps vulgäre Semiprominente für 30.000,€ ihre Füße oder andere Körperteile stecken, wobei der erstaunlich hohe genannte Betrag einer Frau, der „Busenwitwe“, nicht als Schmerzensgeld, sondern nur deswegen gezahlt wurde, weil der sehr viel ältere Ehemann als Prominenten-Schönheitschirurg auch ihr einen schönen Busen modelliert haben soll, bevor er bei einem gemeinsam versuchten Versicherungsbetrug so schwer verletzt wurde, dass er im Krankenhaus verstarb. Gegen solche durch die Rundfunkfreiheit juristisch gedeckten Unerträglichkeiten habe ich ja schon an anderer Stelle polemisiert und werde es später an passender Stelle noch ein weiteres Mal tun; da bin ich ein Überzeugungstäter. Um die Gefahr politischer Manipulation im Rundfunk- und Fernsehbereich zu minimieren, gestattet man halt auch, solchen Mist zu verbreiten – und trägt damit zur Entpolitisierung des Fernsehens bei. Und genau da beginnt die gesellschaftliche Relevanz und damit die Frage nach juristischem Regelungsbedarf, den Jörges in seinem „Morgenthau im TV“ überschriebenen „Zwischenruf aus Berlin“ im STERN vom 07.10.04 folgendermaßen aufgezeigt hat: „Die privaten Kanäle flüchten aus der Wirklichkeit – in Abgründe von Niveau- und Geschmacklosigkeit -, um die öffentlich-rechtlichen durch Unterbieten zu übertreffen. Sie kennen kein Wertgerüst mehr und riskieren damit ihren wirtschaftlichen Erfolg. Beide Systeme rutschen in eine Legitimationskrise. … Das Versagen des Fernsehens wird zum ernsthaften Faktor der Politik. Denn Politik ohne Fernsehen muss scheitern. Finden die großen gesellschaftlichen Themen nicht mehr den notwendigen Raum in jenem Medium, das für die Verständigung der Nation unverzichtbar ist, zerreißt die Verbindung zwischen Volk und Politik. Verweigert sich das Fernsehen als solches Forum, stört oder zerstört es die politische Kommunikation. Es ist mitverantwortlich für die Vertrauenskrise der Politik, ist Teil des Problems, nicht mehr der Lösung. Die Politik selbst hat sich eine kommunikative Katastrophe beschert. … Die verwirrte, ratlose, enttäuschte Nation antwortet mit dramatisch niedriger Wahlbeteiligung. Das öffentlichrechtliche Fernsehen hat dazu seinen Teil beigetragen. Es hat seine wichtigste Aufgabe versäumt: die gründliche und didaktisch überlegte Information, das Ordnen der unüberschaubaren Reformwelt, um den Zuschauer urteilsfähig zu machen. … Die außerordentliche Lage hätte außergewöhnliche neue Sendeformate erfordert, zu attraktiver Zeit – doch dazu fehlten Mut wie Kreativität. … ARD und ZDF zogen sich auf Nachrichten und politische wie semipolitische Talkshows zurück. Doch Nachrichten erklären nicht (genug), und Talks dienen bestenfalls dem Meinungsstreit, im schlechtesten Fall parteitaktischer Vernebelung. Dazwischen fehlt der entscheidende Link: die Information. … ’Christiansen’ (ARD) als chaotischer Marktplatz für Parteigaukler ist der permanente Krisengipfel ohne Lösung. … Der Proleten-Guckkasten scheint zum Leitbild der Privaten geworden zu sein. Ganzkörpertätowierte Kretins und busenfixierte Silikonpuppen beobachtet beim suppekochenden Kampf um ihre Frau, beim erektionsfördernden Wannenbad zu zweit oder bei der egopolsternden Brustvergrößerung – das einstmals innovative Reality-TV treibt ab in die Gosse. Der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau wurde einst zum Begriff, weil er Deutschland nach dem Krieg zum Agrarstaat machen wollte. Manche Programm-Designer erwecken heute den Eindruck, als hätten

503

sie heute ein geistiges Morgenthau-Programm entworfen. Das Privat-TV steht Kopf. Als es entstand, wurde Schlimmstes vom Kommerz befürchtet. Heute sind die Werbekunden die letzten Niveaugaranten. Denn in der Werbepause nach dem Vollbad in Kuhscheiße oder Kakerlaken mag kein Appetit auf Joghurt aufkommen – also kommt der Spot in den Kühlschrank. Deutsche Werber, rettet das Fernsehen!“ So weit zur Problematik der „Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film“. Nach dem Krieg hatte der für das deutsche Rundfunkwesen zuständige spätere Leiter der BBC einmal sehr schön definiert, wie das Angebot von Rundfunk und Fernsehen ausgestaltet werden sollte: „Die Sender sollten viel von dem senden, was die Leute sehen wollen – und ein wenig von dem, was sie brauchen.“ Diese vielleicht sogar in einem Rundfunk- und Fernsehgesetz juristisch zu regelnde, auf jeden Fall aber beherzigenswerte Maxime scheint im Quotenkampf in Vergessenheit geraten zu sein.

Zu Artikel 21 [Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben]: wird auf die ständig verfälschten Wahlen in der DDR und die abgeschlossenen Wahlbetrugsverfahren gegen u.a. die ehemaligen Oberbürgermeister von Berlin und Dresden, sowie gegen den ehemaligen DDRMinisterpräsidenten, Bundestags- und nachmaligen Europaabgeordneten der PDS Modrow verwiesen.

Zu Artikel 23 [Recht auf Arbeit, freie Berufswahl und befriedigenden und gleichen Lohn]: In den meisten Entwicklungsländern gibt es keine sozialen staatlichen Auffangsysteme wie z.B. eine Renten-, Unfall- und Arbeitslosigkeitsversicherung. Weil wir das haben, betrachten viele Entwicklungsländer uns als ein sehr sozialistisches Land. Wegen des Fehlens staatlicher Daseinsvorsorgesysteme sind die Menschen dort auf viele mithelfende Kinder angewiesen - was die Bevölkerungsentwicklung immer weiter explodieren lässt, denn auch deren Kinder sind später ihrerseits wieder auf viele mithelfende Kinder angewiesen. Diese aus Armut und fehlender staatlicher Daseinsfürsorge erwachsene Bevölkerungsexplosion wirkt sich u.a. katastrophal auf die Belastung der Umwelt dort (Vergiftung der Umwelt wegen fehlender Schutzbestimmungen, die finanziell auch nur schwer zu verkraften wären; Wasserverbrauch; Abholzung des Urwaldes in unfruchtbareren Gebieten zur Gewinnung neuer, teils schlechter Böden und zur Brennmaterialgewinnung, Brandrodung großer Gebiete usw.) und bei uns aus (globale Klimaverschlechterung auf Grund der abgeholzten Urwälder). Zu diesen »Armuts-Umweltproblemen« kommen global gesehen die noch viel größeren, von uns verursachten »Wohlstands-Umweltprobleme«! (Der Norden mit einem Fünftel der Weltbevölkerung verbraucht 70 % der Weltenergie und verursacht durch seinen hohen Kohlendioxidausstoß als Hauptverantwortlicher den Treibhauseffekt auf der Welt, den die auch zu unserem Nutzen zu erhaltenden Urwälder der Entwicklungsländer dann wieder reparieren sollen. Der industrialisierte Norden verbraucht 75 % aller Metalle, 85 % des Holzes und konsumiert 60 % der Nahrungsmittel, u.a. für die Erzeugung großer Mengen ungesunden Fleisches. Er vergeudet durch Luxuskonsum viel kostbares Trinkwasser. Die Industrie verschlingt 21 % davon, von denen 87 % als Abwasser verloren gehen, weil es nicht aufbereitet wird. Ist dieser ungleiche Ressourcenverbrauch gerecht? Es kann nicht ein Wohlstandswachstumsmodell für den Norden und ein Armutswachstumsmodell für den Süden geben! Ungleiche Ressourcennutzung und -vergeudung ist das globalste Gerechtigkeitsproblem in der Welt! Würden die gleichen materiellen Standards für den Süden gelten, würden das Zehnfache der fossilen Brennstoffe und etwa das Zweihundertfache der Rohstoffe verbraucht. Überbevölkerung und Überkonsum ruinieren gemeinsam die Welt.) Schon bei uns sehen Gewerkschaften das Recht auf befriedigenden und gleichen Lohn gefährdet. Wie viel mehr gilt das für die arme Masse der Bevölkerung in den Entwicklungsländern mit den dortigen »HungerLöhnen«. So muss z.B. eine Durchschnittsarbeitnehmerin in Kenias Hauptstadt Nairobi einen halben Tageslohn dafür opfern, um einen Kanister voll dreckigen »Trink«-Wassers kaufen zu können. Bei einem solchen Missverhältnis kann mit Sicherheit nicht von einem »befriedigenden« Lohn gesprochen werden! In Europa hat zwar der Grundsatz des Artikels 23 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 mit seiner Bestimmung: „Alle Menschen haben ohne jede unterschiedliche Behandlung das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.“ in der öffentlichen Diskussion eine gewisse Rolle gespielt, als 2004 die Abgeordneten des Europa-Parlamentes (vergeblich) eine für alle (weiter erhöhte und insbesondere) einheitliche Abgeltung ihrer parlamentarischen Tätigkeit forderten. Deren Bezüge klaffen nämlich extrem weit auseinander, da sich die Bezüge der Europa-Abgeordneten an den Bezügen der Abgeordneten der jeweiligen nationalen Parlamente orientieren, weil sonst z.B. ein polnischer

504

EU-Abgeordneter bei gleicher Bezahlung ein Vielfaches der Bezüge des polnischen Premierministers bezöge! Es wurde aber nicht explizit mit dem Verweis auf die Menschenrechtserklärung argumentiert. Die reinen Diäten (ohne Reisekostenpauschalen, Entfernungskilometervergütungen zur verdeckten Subventionierung der geringer entlohnten Abgeordneten, Gehälter für als Büroangestellte fungierende Familienmitglieder, Büroausstattungsbeihilfen, 262 € tägliche Sitzungsgelder für die Unterschrift einer damit behaupteten Teilnahme am Parlamentsbetrieb während der Sitzungswochen und was es an derlei weiteren Wohltaten sonst noch gibt) differierten 2004 für die gleiche Arbeit im Umfang von: Italien 10.975 € Österreich 8.750 € Großbritannien 7.107 € Deutschland 7.009 € Niederlande6.467 € Irland 5.984 € Belgien 5.668 € Griechenland 5.600 €

Dänemark Luxemburg Frankreich Schweden Finnland Slowenien Portugal Spanien

5.565 € 5.316 € 5.206 € 4.800 € 4.541 € 4.074 € 4.024 € 3.056 €

Polen Estland Tschechien Litauen Malta Lettland Slowakei Ungarn

2.082 € 1.496 € 1.257 € 1.183 € 1.153 € 998 € 880 € 805 €

Zu Artikel 25 [Soziale Mindeststandards, Sozialhilfe. Gleicher sozialer Schutz für eheliche und uneheliche Kinder]: "Der Bezug von Sozialhilfe wird von Generation zu Generation quasi vererbt", sagt Professor Gert G. Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaft. Junge Erwachsene, die als 13- bis 16jährige in Sozialhilfehaushalten aufwachsen, haben eine fast dreimal so hohe Sozialhilfeabhängigkeit als andere. Der Hauptgrund dafür ist nicht die finanzielle Not der Eltern, sondern deren schlechte Bildung, die sie an ihre Kinder weitergeben. Das deutsche Schulsystem ist nicht in der Lage das auszugleichen. Ein anderer Grund ist die Untätigkeit der Eltern. Weil sie ständig zu Hause sitzen, statt zur Arbeit zu gehen, denken ihre Kinder, es sei ganz normal, für seinen Lebensunterhalt nicht arbeiten zu müssen. "Sie lernen, daß man auch mit der "Stütze' über die Runden kommt", sagt Wagner. Deshalb fehle ihnen der Antrieb und deshalb bekämen sie keinen Arbeitsplatz. Wagner sagt: "Der Staat tut Kindern nichts Gutes, wenn er Transfers zahlt. Die verhindern zwar die finanzielle Armut, aber auch, daß Eltern einer geregelten Arbeit nachgehen." Deutschlands Sozialhilfeempfänger bekommen also Geld statt wirklicher Hilfe, das ist schlecht für ihre Kinder und deshalb schlecht für das Land, das angesichts der niedrigen Geburtenrate auf diese Kinder angewiesen ist. (DIE WELT 14.03.95)

Zu Artikel 26 [Recht auf Bildung und Ausbildung]: "Wie war es denn `vorher'? `Wer nicht in der SED oder drei Jahre in der Armee war, wurde nicht zum Studium zugelassen, das kann man ja jetzt offen sagen.' Um einen der begehrten 12.000 Studienplätze an der Humboldt-Universität zu bekommen, mußte man sich beim zuständigen Bezirksgericht bewerben und zur Vorauswahl, zur mündlichen Prüfung, ins Ministerium. ..." (Aus einem im HH A nach der »Wende« veröffentlichten Artikel) Als ein mehrfach bestätigtes Ergebnis der Pisa-Vergleichsstudien wurde festgestellt, dass kein Schulsystem aller weltweit untersuchten Länder sich sozial so verheerend selektiv auswirkt wie das deutsche dreigliedrige Schulsystem!

Zu Artikel 27 [Recht auf kulturelle Teilhabe, Urheberrecht]: Raubkopien von Computerprogrammen fallen auch darunter. Art. 27 ist aber keine innerstaatliche Strafnorm. Die musste erst von den Gesetzgebungsorganen der einzelnen Länder geschaffen werden.

505

Wir sehen durch den Vergleich zwischen Anspruch und Realität, dass nicht so sehr die Verkündung der Menschenrechte und der Rückgriff auf sie in offiziellen Reden darüber entscheiden, ob in einem Staat lebenswerte Verhältnisse herrschen, sondern allein ihre praktische Anwendung. Leo Tolstoi hatte gefunden: "Niemand weiß, unter welcher Regierung er lebt, solange er nicht einmal in ihren Gefängnissen gesessen hat." Das ist gewiss richtig. Ganz so weit brauchen wir aber nicht zu gehen. Als Maß für unsere Nagelprobe kann gelten: Die Menschlichkeit eines Systems kann man daran ablesen, wie es mit seinen Minderheiten, Schwachen und Oppositionellen umgeht. Wer wir sind, wird deutlich aus dem, was wir mit anderen machen – oder gemacht haben. Die Menschenrechte erweisen sich immer mehr als die entscheidende Schlüsselfrage für die innere Ordnung einer Gesellschaft, für das Verständnis eines Staates und der Stellung des einzelnen in ihm, für das Zusammenleben der Völker und für die Überwindung jeglicher Diskriminierung von Rassen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Die Menschenrechte im engeren Sinne - zu unterscheiden von den politisch-sozialen Bürgerrechten, die nur den jeweiligen Staatsbürgern zustehen - können nur universell und unteilbar sein; oder sie sind keine Menschenrechte. "Jagd auf `Barmanu' Forscher suchen in Pakistan den `Großen Haarigen' afp Islamabad - Seltener als der Schneeleopard, so geheimnisvoll wie der Yeti - die Bewohner der Bergregion Chitrali im Norden Pakistans nennen ihn `Barmanu', den `Großen Haarigen'. Für drei Forscher - zwei Franzosen, ein Spanier - gibt es keinen Zweifel: Das menschenähnliche Wesen existiert. Sie haben seinen Schrei gehört und seine Fußspuren gesehen. Seit zwei Jahren jagt Zoologe Jordi Magraner mit Infrarotkameras und Betäubungsspritzen (für alle Fälle) den letzten Neandertaler. ... Sollte Magraner ihn wirklich finden, will er ihn nur beobachten, nicht fangen. `Anders als der Yeti ist das Wesen kein Affe', sagt er. Auch für ihn hätten die Menschenrechte Gültigkeit." (HH A 10.05.94) Anm.: Eine Reihe von Wissenschaftlern fordern seit Jahren, die Menschenrechte auf Menschenaffen auszudehnen und so u.a. die Tierversuche an Primaten zu verhindern, da der Mensch mit seinen nächsten Verwandten 98,4 % aller Gene gemeinsam hat. Nur 1,4 % seien verschieden und machen den kleinen Unterschied zwischen den „dritten Schimpansen“ (Jared Diamond) und seinen überwiegend auf den Bäumen lebenden Verwandten aus. Nur wenn die Menschenrechte dem einzelnen Menschen wegen seines Menschseins ungeschmälert zustehen und somit vorstaatlichen Charakter haben, gewähren sie hinreichenden Schutz auch vor staatlichem Zugriff und jeder Gewährung oder Limitierung durch jederzeit veränderbare staatliche Ordnung und Gesetzgebung. Fazit: In jedem Staat kann man sterben, aber nicht in jedem kann man menschenwürdig leben! Und das hat etwas mit (Menschen-)Recht zu tun. Die moralische Macht der politisch Ohnmächtigen, die, wenn die Zeit gekommen ist, ganze Zwangssysteme einstürzen lassen kann, beruht auf den vorenthaltenen (Menschen-) Rechten. Zu weitgehend erscheint allerdings die Aufforderung auf einer Mahntafel an dem Ort einer in der Reichspogromnacht 09./10.11.38 von den Nazis verbrannten Synagoge: "Wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wird Widerstand zur Pflicht." Zur Pflicht? Nicht jeder ist ein Gandhi oder ein Nelson Mandela und ließe sich wie letzterer für seinen Kampf zur Durchsetzung der Menschenrechte mehr als 27 Jahre einsperren - oder sogar hinrichten, wie die großenteils aus dem "Kreisauer Kreis" hervorgegangenen Männer des 20. Juli 1944, der "Weißen Rose" und anderer Widerstandskreise gegen das NS-Unrechtsregime. Aber in einem solchen Falle staatlichen Terrors wird Widerstand zu einem Recht. So sieht es auch Art. 20 IV GG vor - was im Ernstfall keinem Widerständler sein Leben oder seine Freiheit retten würde, solange sich das

506

staatliche Unrecht an der Macht hält, denn wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur reinen Rechtsfrage. Spätestens nach einigen Gesetzesänderungen - wenn Wert darauf gelegt werden sollte, den Rechtsschein zu wahren - wird sie von Diktatoren meist mit staatlichem Mord beantwortet. Moral musste und muss, besonders in Diktaturen, oft mit dem Leben bezahlt werden. Das wusste auch der Bundestag, als er im Zuge der Notstandsgesetzgebung ein (unsere demokratische Grundordnung erhaltendes, kein revolutionäres) Widerstandsrecht als "eine verlegene Zugabe für den verschärft in die Pflicht genommenen Bürger" normierte. Auch ein Gandhi ist - sogar von einem eigenen Parteigänger - erschossen worden. Ebenfalls erschossen wurde Martin Luther King.

2.9 »Gesetz« und »Recht« »Gesetz« und »Recht«

Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen soll festgehalten werden: "Gesetz" ist etwas auf Grund einer politischen Willensentscheidung Gesetztes, das für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen gleichermaßen Geltung haben soll und seinen Anspruch auf Gehorsam gegen jedermann richtet. Notfalls kann die Geltung eines Gesetzes staatlicherseits erzwungen werden. Gesetze sind immer auch wertsetzend. Aber man sollte trotzdem immer im Blick haben und behalten, dass die Gesetze für die Menschen und nicht die Menschen für die Gesetze da sind. Das hat Jesus schon vor 2.000 Jahren an der Frage der Sabbatheiligung durch seine Heilungen an jüdischen Feiertagen klargestellt, obwohl die Schriftgelehrten und die Pharisäer nur darauf lauerten, ob er auch am Sabbat heilen würde, damit sie einen Grund zur Anklage gegen ihn fänden (Lukas 6/6 ff). Trotz des Wissens um diese Gefahr tat er es. „Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Markus 2/27). „Die Pharisäer aber gingen hinaus und hielten sogleich mit den Leuten des Herodes eine Beratung über ihn ab, wie sie ihn umbringen könnten.“ Gesetze können in Gesetzesform gefasstes Unrecht sein. In einer Demokratie sind Gesetze meistens Ergebnisse von politischen Kompromissen. Sie sind grundsätzlich künftig wandelbar. Ein staatliches Gesetz kann niemanden zwingen, seinen Nächsten zu lieben; das ist nur ein christlich-religiöses Gebot. Es kann es aber für jeden schwieriger machen, seinen Nächsten zu strapazieren oder gar seinem Hass auf ihn nachzugeben. Es hat Herrschafts- und Schutzfunktion. „... das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“ (Goethe). »Recht« ist der Idee nach das Richtige, Billigenswerte, dem jeder beipflichten können sollte. Es ist manchmal das, von dem ein Betroffener spätestens dann wünscht, dass es Geltung habe, wenn er sich als Betroffener benachteiligt glaubt. Dann wird es an der - persönlich ganz unterschiedlich empfundenen und oft ideologiegeprägten - Idee der »Gerechtigkeit« gemessen und mit ihr gleichgesetzt. Niemals empört etwas mehr als selbst erlittene Ungerechtigkeit. Die meisten anderen Übel (außer dem Verlust von einem sehr nahe stehenden Menschen und eigener tödlicher Krankheit), die wir ausstehen müssen, verwinden wir leichter. Die Sichtweise auf einen bestimmten gesetzlich »gerecht« zu regelnden Lebenssachverhalt kann sich mit einerseits an der Idee des »Rechts« gemessener objektiver Erfahrung verändern, weil z.B. der Gesetzgeber sieht, dass die gesetzliche Regelung so nicht das bewirkt, was sie vom angestrebten Ziel her hätte erreichen sollen – das Gesetz »greift nicht« -, andererseits mit (neuer) subjektiver Erfahrung: Was »man« früher anderen zugemutet hatte und als gerecht empfand, sieht auf einmal ganz anders aus, wenn »man« plötzlich und völlig unerwartet selber Betroffener einer gesetzlichen Regelung wird. Persönliche Betroffenheit schärft das Rechtsempfinden! Aktuelles Beispiel ist der Fall des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl: Nach dem Anschluss der ostdeutschen Länder hat er die »Gauck-Behörde« selber ins Leben gerufen, das deren Tätigkeit regelnde Stasiunterlagen-Gesetz als Regierungschef selbst unterschrieben, jahrelang die politischen Gegner mit den Ergebnissen der Nachforschungen über deren mögliche IM-Tätigkeit in den archivierten StasiUnterlagen (zu Recht) bekämpfen lassen – und dann dagegen geklagt, als im Zuge des von ihm zu verantwortenden Parteispenden-Skandals der CDU um die von ihm eingesammelten und ausgegebenen Schwarzgelder auf die ihn als Regierungschef betreffenden, aus abgehörten Telefongesprächen stammenden Stasi-Unterlagen zur Aufklärung seines ungesetzlichen Handelns zurückgegriffen werden sollte. In erster Instanz gewann er den Prozess, was von einer Reihe Ostdeutscher als Skandal empfunden wurde: Ihre Leute seien jahrelang mit diesem Gesetz traktiert worden, aber wenn es gegen einen westdeutschen Politiker angewandt werden solle, dann habe es plötzlich keine Geltung mehr; es werde einfach uminterpretiert. Ein völlig falsches »Bauch-Argument« von Leuten, die die ganze Entwicklung vom Sozialismus nach SED-Lesart zur bürgerlichen Demokratie hin ablehnen, oder nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen, was ein

507

Rechtsstaat leisten soll und maximal leisten kann, und ihre Vorurteile gegen die nunmehr bürgerlichdemokratische Ausrichtung des deutschen Staates rausrülpsen. Der Vorsitzende Richter der mit der Rechtsfrage befassten Kammer des Verwaltungsgerichts sah dieses »Bauch-Argument« und hielt dem vor Verkündung der von seiner Kammer zu fällenden Grundsatzentscheidung entgegen: Nicht die bisherige jahrelange (der Meinung der Kammer nach: rechtswidrige) Praxis entscheide, sondern allein die Rechtslage, wie der Gesetzgeber sie vorgegeben habe; und das Gericht sie versteht, müssen wir ergänzen. Wenn der Gesetzgeber eine andere Interpretation des Gesetzeswortlauts als die von seiner Kammer gesehene wolle, dann müsse er das Gesetz anders formulieren. Er aber sei gemäß Art. 20 III 2. HS GG an „Gesetz und Recht“ gebunden, wie er sie als Richter verstehe. Letztlich wird vermutlich das BVerfG „für Recht erkennen“ und entscheiden müssen, wie das Stasiunterlagen-Gesetz in seiner aktuellen Form auszulegen sei - was aber nicht ausschließt, dass der Gesetzgeber es von sich aus zur Klarstellung seiner Intention abändern könnte. "Recht ist Wille zur Gerechtigkeit" (Gustav Radbruch). Ein so konzipiertes Recht zielt auf fairen Interessenausgleich und dient damit dem inneren Frieden der politischen Gemeinschaft. Nur was möglichst »gerecht« geregelt wurde, kann hoffen, für längere Zeit Gültigkeit beanspruchen zu können. Soll das Recht Dauer haben, muss sein Fundament die Humanität sein. Bürger sind dem Terror ausgesetzt, wenn es keine unabhängige, dem Recht verpflichtete Rechtsprechung (Judikative) gibt, die einer übermütigen Verwaltung (Exekutive) in den Arm fallen kann, besonders dann, wenn sich die Exekutive der gesetzgebenden Gewalt, des Parlamentes (Legislative), bedient und ihre Untaten mit dem Mäntelchen des Gesetzes verbrämt. Die Kriege der Warlords in vielen Saaten Afrikas, wie z.B. in Somalia, mit dem Zusammenbruch jeglicher übergeordneter staatlicher Organisation haben uns in jüngster Vergangenheit gezeigt, dass ein gesetzloser Staat u.U. kein Staat mehr ist. „Staaten ohne Gerechtigkeit sind nichts anderes als große Räuberbanden“ (Augustinus). Allen unterschiedlichen Ausprägungen des »Rechts« ist gemeinsam, dass durch eine meist staatlich garantierte und zumeist gesetzlich fixierte kulturell und sozialgeschichtlich bedingte Ordnung des sozialen Zusammenlebens eine bestimmte Form des (friedlichen) gesellschaftlichen Lebens und Interessensausgleichs angestrebt wird. Rechtsfrieden und Rechtsreform stehen dabei in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis, weil sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten ständig wandeln. Auch Recht ist wandelbar und hat seine Geschichte, bleibt aber immer das ethische Minimum der jeweiligen Gesellschaft. Das »Recht«, was immer auch im einzelnen in der jeweiligen Gesellschaft darunter verstanden werden mag, ist eine jahrtausendealte Kulturleistung. Es ist (leider?) kein mathematisches System, sondern eher ein lebender Organismus, ein soziales Phänomen. In einem Unrechtsstaat ist das (verletzte) Recht die moralische Macht der politisch Ohnmächtigen. So schmerzlich es für die einem Unrechtsregime Unterworfenen, nach Freiheit und Recht Dürstenden auch ist, scheint ihr Kampf und scheinen ihre zahlreichen Opfer auf lange Sicht gesehen für die Gesellschaft, in der sie leben, nie vergeblich gewesen zu sein, denn bisher hat »das Recht« das Unrecht immer wieder überwunden, gleichgültig, wie viele Häupter die Hydra verschlungen hat und wie viele ihr selber bisher abgeschlagen werden mussten und wie viele immer wieder nachwuchsen: Kein Terrorregime hat sich auf die Dauer halten können. Dieser Gedanke kann selbst dann ein bisschen tröstlich stimmen, wenn man sich als Deutscher mit den gegenwärtigen Lebenschancen schamvoll vergegenwärtigt, wie viel Leid durch die Deutschen der NS-Zeit und ihr Unrechtsregime über die Welt gebracht worden war: „Jedwedes blutgefügte Reich Sinkt ein, dem Maulwurfshügel gleich.

Jedwedes lichtgeborne Wort Wirkt durch das Dunkel fort und fort.“

dichtete Oskar Loerke im November 1940 als „Leitspruch“. „Dem Schlechten mag der Tag gehören, dem Wahren und Guten gehört die Ewigkeit“ (Friedrich von Schiller).

2.10 Recht und Rechtssicherheit Recht und Rechtssic herheit

»Recht« hat aber nicht nur etwas mit gesetzlichen Regelungen oder der sozialen Angemessenheit von Wertvorstellungen zu tun. Zum Rechtsstaatsprinzip gehört neben der wie auch immer gearteten Gerechtigkeit die »Rechtssicherheit«. Sie hat ebenfalls die Aufgabe, innerhalb einer Gesellschaft für Rechtsfrieden zu sorgen. Der einzelne muss irgendwann wissen, »was Sache ist«. Welche Folgen hätte es denn sonst, wenn ein Urteil immer wieder mit Rechtsmitteln angegriffen werden könnte? Oder das andere Extrem: Welche Folgen hätte es, wenn kein Urteil überprüft werden könnte?

508

Irgendwann muss man wissen, woran man sich halten kann, was Geltung haben soll. Willkür und Rechtsunsicherheit sollen ausgeschlossen sein. Das gilt sowohl für vom Parlament erlassene Gesetze, die (grundsätzlich) eine unbestimmte Vielzahl von Fällen regeln wollen, als auch für von Richtern verkündete Urteile, die immer Einzelfallentscheidungen sind. Irgendwann muss jedes gerichtliche Verfahren einmal beendet sein, eventuell schon nach der Eingangsinstanz oder erst nach sich eventuell daran anschließender Berufung, manchmal aber auch erst nach zusätzlicher Revision und manchmal sogar erst nach einer auf Grund dieser Entscheidung erfolgten Verfassungsbeschwerde. Danach erlangt ein Urteil unabhängig vom Grad seiner »Richtigkeit« endlich »Rechtskraft«. So entsteht «Rechtssicherheit« – hoffentlich auch »Rechtsfrieden«! Der langjährige bayerische Kultusminister H. Maier sagte über ihm ungenehme Urteile: "Die obersten Gerichte entscheiden zwar manches falsch, aber bindend!" 1 Er ist sich in dieser Lagebeurteilung einig mit dem damaligen Bundesjustizminister H. J. Vogel, der einmal das Resümee gezogen hatte: "Jedermann ist verpflichtet, richterliche Urteile zu respektieren, nicht aber dazu, sie für richtig zu halten." Mit der unter Demokraten unbezweifelbar richtigen, unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten einzig zulässigen Ansicht, Urteile der obersten Gerichte seien zu respektieren, war Vogel dem bayrischen Ministerpräsidenten Stoiber um Jahrzehnte voraus. Stoiber hatte Jahrzehnte später wegen des ihm nicht passenden Kruzifix-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, mit dem die in Bayern für die staatlichen Schulen angeordnete Zwangsdekoration eines jeden Klassenraumes durch ein Kruzifix 1995 als Verstoß gegen die negative Religionsfreiheit Andersdenkender2, mit aufgedrängten Glaubensfragen nicht belästigt zu werden, erkannt und für verfassungswidrig erklärt worden war, "seinen inneren Pitbull von der Kette gelassen" (STERN) und in seiner ersten Wut geschäumt, er werde das Urteil des höchsten deutschen Gerichts bekämpfen, wozu er auch alle aufrechten Bayern aufforderte. Erst nach der Verbreitung von Ungehorsamsparolen zwang er sich nachträglich die Erklärung ab, das Urteil zwar zu respektieren, es aber trotzdem mit allen verbliebenen rechtlichen Mitteln zu bekämpfen. Ein bayerischer juristischer Spagat, der dadurch gelöst wurde, dass in dem bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz nunmehr bestimmt wurde, dass überall ein Kruzifix zu hängen habe, bis Eltern unter Hinweis auf ihr Elternrecht (vielleicht auch auf die volle Religionsmündigkeit ihres den christlichen Glauben ablehnenden Kindes) verlangen, dass es abgehängt werde. Eine Art „Widerspruchslösung“ für Eltern also; und wohl auch für volljährige Schüler. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Lehrer zunächst nicht erfolgreich gegen die Zwangsdekoration »ihres« Klassenzimmers klagen konnten, obwohl das Landesschulgesetz sowohl Eltern wie Lehrern erlaubt, gegen die grundsätzlich bestehende Anordnung vorzugehen, wenn sie sich von dem Kruzifix aus „ernsthaften und einsehbaren Gründen der Weltanschauung“ gestört fühlen. Begründung: Einem (bayerischen) beamteten Lehrer sei als Ausfluss des das Beamtenrecht kennzeichnenden besonderen Dienstverhältnisses zuzumuten, dass er die (pointiert christliche) Auffassung seines Dienstherrn mittrage! Das erinnert sehr stark an den Rechtsgrundsatz, auf dessen Basis der Dreißigjährige Krieg zwischen Katholiken und Protestanten nach der völligen Verwüstung Deutschlands 1648 beendet worden war: „Cuius regio, eius religio.“ („Wem das Land gehört, der bestimmt, was seine Untertanen zu glauben haben!“) Klagen bayerischer Lehrer auf die Entfernung des Kreuzes in »ihrem« Klassenzimmer wurden - im Gegensatz 1

Nach dem Kruzifix-Urteil vom 10.08.95 scheint er aber diese richtige Haltung revidiert zu haben, denn an dem darauf folgenden Wochenende 14./15.08.95 ließ er in der SZ verlauten: „Gegen den puren Unsinn und Übermut, auch der höchsten Gerichte, ist Widerstand geboten.“ 2 Zunächst wurde diese negative Religionsfreiheit vom bayrischen Landtag nur als ein Freiheitsrecht der Schüler und ihrer sie erziehenden Eltern gesehen, dass die Kinder nicht zwangsweise unter christlichen Symbolen unterrichtet und erzogen werden. Er erließ nach dem Kruzifix-Urteil des BVerfGs ein Kruzifix-Gesetz, das zwar Kruzifixe für Klassenräume vorschrieb, aber auch eine Konfliktregelung für den Fall vorsah, dass Eltern dem widersprächen. Dann müsste das Kruzifix abgenommen werden. Gegen diese einschränkende Interpretation wandte sich ein bayrischer Lehrer, Mitglied im aus Atheisten und Konfessionslosen bestehenden „Bund für Geistesfreiheit“. Um dem von ihm so empfundenen Gewissensdruck nicht länger ausgeliefert zu sein und nicht weiterhin unter dem Zeichen des Kreuzes unterrichten zu müssen, hatte er sich sogar drei Jahre lang vom Dienst beurlauben lassen. Ende 2001 erhielt der Lehrer, der für sich geltend machte, dass für ihn bei seiner Berufsausübung die gleichen Grundsätze gelten müssten wie für die von ihm unterrichteten Schüler, Recht. Entgegen der Vorinstanz urteilte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in Ansehung von Gewissens-, (auch negativer) Religionsfreiheit und staatlicher Neutralitätspflicht, dass die Gewissensgründe des Lehrers schwerer wögen als seine Loyalitätspflicht als Beamter.

509 zu den erfolgreichen Klagen von Eltern – fast ausnahmslos abgeschmettert: Damit wurde beamteten Lehrern nicht die (gleiche) Religionsfreiheit zugestanden wie Schülern und Eltern! Beamte sind in dienstlichen Belangen eben keine gleichberechtigten Staatsbürger. Erst 2001 erkannte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die vorgebrachten Gewissensgründe/Gewissensqualen eines Lehrers an und bewertete sie - ausdrücklich als „Einzelfall“ bezeichnet - höher als seine Pflicht als bayerischer beamteter Lehrer, der in einem Klassenzimmer mit Kreuz zu unterrichten habe. 2004 versuchte vor dem VG Augsburg ein zweiter Lehrer unter Berufung auf das zuvor genannte und von ihm so angesehene Grundsatzurteil des obersten bayerischen Verwaltungsgerichts per Gerichtsbeschluss zu erreichen, dass auch in »seinem« Klassenzimmer das Kruzifix abgehängt werden könne. Er hatte das Kruzifix eigenmächtig abgehängt, was ihm aber sein Schulleiter unter Berufung auf eine nach Aufforderung der Regierung von Schwaben ergangene Anweisung des für die Neu-Ulmer Zentralschule zuständigen staatlichen Schulamtes untersagte. Hiergegen klagte er und wollte als nach eigener Sicht „kämpferischer Mensch“ den Instanzenweg ausschöpfen. Diesem Lehrer ging es aber ausdrücklich nicht um etwaige Gewissensqualen. Er verlangte als seit seiner Jugend bekennender Atheist, dass ihm nach dem Gleichbehandlungsgebot „die gleichen Rechte zugestanden werden wie Christen“; vermutlich eine verquere Formulierung in dem Zeitungsartikel aus der Allgäuer Zeitung vom 14.07.04, denn der Atheist dürfte nicht nur, nach dem Willen des Freistaates Bayern soll er ja auch mit dem gleichen Recht wie seine christlich orientierten Kollegen unterrichten: nach dem Willen seines Dienstherrn mit Jesus zu aller Häupten. Aber genau das ist gegen seine Intention. Es ist juristisch spannend, wie dieser Rechtsstreit letztlich entschieden werden wird. Ein alter Soldat weiß: Nur die letzte Schlacht zählt! Das erste Scharmützel verlor er erwartungsgemäß: Er habe nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass er unter „unzumutbarem Gewissensdruck“ leide. Diese Anforderung steht nicht im Landesschulgesetz. Und es hätte dem VG Augsburg einsichtig sein können, dass sich ein bekennender Atheist von dem Kruzifix aus „ernsthaften und einsehbaren Gründen der Weltanschauung“ gestört fühle. Damit wäre nach dem Wortlaut des Gesetzes der Fall gegeben, dass eine Entfernung des Kruzifixes verlangt werden könnte. Nur als Denkanstoß, wie verbissen der Freistaat Bayern als staatliche Instanz die Frage eines Kruzifixes in jedem Klassenzimmer mit Brachialgewalt zu lösen versucht: Ich unterrichtete als „Studienrat an Volks- und Realschulen in Hamburg im Dienste der Evangelischen Kirche im Hamburgischen Staate“ jahrelang als Kirchenbeamter an einer Schule einer christlichen Kirche. Obwohl es sich bei dieser Schule nicht um eine staatliche Schule, sondern um eine Schule der Evangelischen Landeskirche handelte, hing dort in keinem Klassenzimmer ein Kruzifix, hätte aber sicher rechtlich unbeanstandet dort hängen dürfen! Dafür sind kirchliche Einrichtungen ja von unserem Rechtssystem her so bewertete „Tendenzbetriebe“, deren Anschauungen sich ein dort Beschäftigter zu Eigen zu machen und zu vertreten habe. Aber der Staat ist kein Tendenzbetrieb und unterliegt deshalb der Neutralitätspflicht, die im Freistaat Bayern bisweilen sehr eigenwillig ausgelegt wird! Es ist richtig, dass Urteile immer "Im Namen des Volkes" und damit auch seines bayrischen Teils ergehen. Das ist aber keine Formel zur Einführung der Volksbefragung oder Demagogie in die Rechtsprechung! Mit dieser Formel wird nur rhetorisch klargestellt, woher das Gericht seine Macht zur Rechtsetzung bezieht: Von dem Volk als dem obersten Souverän des Staates. Eine andere Sache ist es, dass Urteile zwar in unser aller Namen, aber nicht unbedingt in unserem individuellen Sinne ergehen. Doch das haben alle zu respektieren, auch ein bayrischer Ministerpräsident - der sich im Falle Stoiber erst Wochen später zu dieser Haltung durchzuringen vermochte! Respektiert man den demokratiefundamentalen Grundsatz der die Verwaltung durch Gerichtsurteile bindenden Gewaltenteilung nicht, fehlt da ein Stück demokratischer Grundkonsens. Ein abschreckendes Beispiel hierfür konnte die restliche Bundesrepublik erstaunt zur Kenntnis nehmen, als im Lande der Bayern im Zuge des Kruzifix-Urteils kollektive und höchstderoselbe Ablehnung und Auflehnung gegen das Urteil unseres obersten Gerichts um sich griff. Dem irrenden Plebs darf so etwas passieren, einem (in diesem speziellen Fall sogar juristisch gebildeten) öffentlichen Amtsträger aber nicht, auf jeden Fall nicht einem so herausgehobenen Mandatsträger, wie es ein Bayerischer Ministerpräsident nun einmal ist. Widerspruch ja, Aufruf zum Ungehorsam nein! Wie wollte sonst die Politik oder die Verwaltung vom Bürger Rechtstreue bei der Erfüllung unangenehmer Gesetzespflichten einfordern können? Der OLG-Präsident Wassermann fasste seine Erfahrungen mit Urteilen als Richter in dem Satz zusammen: "Vor Gericht erhält der Bürger nicht Recht, sondern ein Urteil."

510

Diese Erkenntnis ist schon längst Allgemeingut, denn der Volksmund sagt: "Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei!"

Wenn ein normalerweise nicht mehr angreifbares Urteil verkündet worden ist, wird grundsätzlich nach dem Luther-Wort verfahren: "Das Wort sie sollen lassen stahn!" Irgendwann einmal muss Schluss sein. Es soll Rechtsfrieden einkehren – so schmerzlich das in jedem Einzelfall für den Unterlegenen auch immer sein kann! Rechtssic 2.10.1 Rechtssicherheit will durch die damit bezweckte rechtliche Stabilität der herheit Zukunftsplanung und der Gerechtigkeit dienen will der Gerechtig keit Rechtssicherheit will durch die damit bezweckte rechtliche Stabilität sowohl der Zukunftsplanung wie auch der dienen Gerechtigkeit dienen. Rechtsunsicherheiten sollen für künftige Fälle beseitigt werden. Das kann durch ein von

der Legislative erlassenes Gesetz geschehen, das von seiner Intention her eine unbestimmte Vielzahl künftiger Einzelfälle regelt. In Ermangelung eines – noch nicht geschaffenen - Gesetzes kann Rechtssicherheit aber auch durch ein höher- oder höchstgerichtliches Urteil der Spitze der Judikative geschaffen werden, das zwar der Veranlassung nach „nur“ einen bestimmten einzelnen Rechtsfall zum Abschluss bringt, aber mit seiner Entscheidung, insbesondere den im Urteil verkündeten Leitsätzen, die Untergerichte so bindet, dass in Zukunft davon auszugehen ist, dass ähnlich gelagerte Einzelfälle nach den im höchstrichterlichen Urteil entwickelten Grundsätzen entschieden werden: Nachdem das Inlineskaten zum Volkssport geworden war, beanspruchten die Skater immer mehr Flächen für sich. Auf ihren Rollen waren sie zu schnell für die Fußgänger, die sich auf den Fußwegen von rücksichtslosen Skatern im Geschwindigkeitsrausch bedrängt fühlten, auf den von ihnen beanspruchten Fahrbahnen waren sie ohne Bremsen den anderen Verkehrsteilnehmern unterlegen und gefährdeten sich und den Fahrzeugverkehr. Wem sollten die Skater gleichgestellt werden? Eine entsprechende Regelung gab es in der StVO nicht, als es zum vorhersehbaren Crash mit einem stärkeren Verkehrsteilnehmer kam. Bei Crashs mit Fußgängern waren die Skater zu schnell wieder weg, so dass niemand haftbar gemacht werden konnte und es bis dahin von dieser Seite zu keiner rechtlichen Klärung gekommen war. „Was wollen die denn machen? Wenn die mir ’n Strafzettel verpassen wollen, flitz ich einfach ab“, sagten Skater rücksichtslos frank und frei. Bei einem Crash mit einer Motorroller-Fahrerin zog eine Skaterin den Kürzeren und klagte. Als sie die ihr vom OLG Oldenburg zuerkannte 60-prozentige Mitschuld nicht akzeptieren wollte, klagte sie bis zum BGH. Der entschied nun mehr rechtskräftig, dass „Schuhe mit Rollen keine Fahrzeuge, sondern besondere Fortbewegungsmittel“ seien, die den Fußgängern gleichgestellt werden müssen und innerörtlich weder auf Radwegen, noch auf Fahrbahnen etwas zu suchen hätten. Außerhalb von Ortschaften hätten sie, wie Fußgänger, die linke Fahrbahn zu benutzen. In diesem Punkte besteht jetzt Klarheit. Jeder Skater kann sein zukünftiges Handeln danach ausrichten, nachdem diese Rechtsunsicherheit durch ein höchstgerichtliches Urteil geklärt worden ist. Der andere durch Rechtssicherheit angestrebte Zweck, der Gerechtigkeit zu dienen, ist schon schwieriger zu verwirklichen. Letztlich wird das in einem demokratischen Rechtsstaat durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ebenfalls versucht – auch wenn man bei manchen Urteilen vom Glauben abfallen könnte! Geht das aber bei ungerechten Urteilen, z.B. wenn Zeugen das Verbrechen eines Meineides gemäß § 154 StGB begangen haben und daraufhin jemand unschuldig seinen Prozess verloren hat? "Unschuldig im Gefängnis Zwei Männer nach 17 Jahren Haft entlassen SAD New York - Siebzehn lange Jahre saßen Clarence Chance (42) und Benjamin Powell (44) im Gefängnis - unschuldig! Jetzt bat Richterin Florence Cooper im Namen des Volkes von Kalifornien um Verzeihung für ‘diese große Ungerechtigkeit'. Beide Männer konnten den Gerichtssaal als freie Menschen verlassen. ‘Ich hoffe, Sie sind für den Rest ihres Lebens nicht ärgerlich und bitter', gab die Richterin ihnen mit auf den Weg. Chance und Powell war vorgeworfen worden, am 12. Dezember 1972 den stellvertretenden Polizeichef von Los Angeles, David Andrews, erschossen zu haben. 1975 befand sie ein Gericht für schuldig: lebenslange Haft, so das Urteil. Doch die Beweise waren gefälscht. Staatsanwaltschaft und Verteidigung hatten jetzt gemeinsam die Freilassung der beiden Schwarzen

511

gefordert. Es war herausgekommen, daß die Zeugen seinerzeit von der Polizei zu Falschaussagen gezwungen worden waren. Drei Frauen, die 1975 gegen Chance und Powell ausgesagt hatten, haben inzwischen in eidesstattlichen Erklärungen die Beamten belastet. ..."

2.10.2 Rechtssicherheit und ungerechte Urteile Rechtssiche rheit und ungerechte Urteile

Ungerechte Urteile können sowohl in Zivil-, als auch in Straf- und Verwaltungsprozessen gefällt werden; auch in Zivilprozessen können (wirtschaftliche) Existenzen vernichtet werden. Da stehen dann Rechtssicherheit und materielle Einzelfallgerechtigkeit in einem brisanten Spannungsverhältnis. Es lässt sich schon ahnen: So verstandene »Rechtsstaatlichkeit« ist nicht immer identisch mit »Gerechtigkeit«! Und wie soll das in Strafprozessen sein, wenn die Angeklagten das gleiche oder sogar dasselbe Delikt verwirklicht haben und einmal verurteilt und das andere Mal freigesprochen werden? Fall (STERN 40/87): "Russisches Roulett vor dem Amtsgericht Vier junge Leute aus Bremen stoppten bei Oldenburg gemeinsam einen amerikanischen Munitionszug für 5 Minuten durch ein über die Gleise gespanntes Transparent. Alle vier wurden angeklagt. Weil aber der zuständige Staatsanwalt aus nicht mitgeteilten Gründen nur jeweils zwei Personen in einem Verfahren zusammengefaßt hatte, waren zwei verschiedene Richter mit den Strafverhandlungen befaßt; der eine verurteilte seine zwei Angeklagten, der andere sprach seine beiden Beschuldigten frei, weil die Demonstration nicht verwerflich gewesen sei." Wenn keine Rechtsmittel eingelegt und die Urteile somit in der ersten Instanz nach der Verstreichung der in der Strafprozessordnung so geregelten siebentägigen Berufungsfrist jeweils Rechtskraft erlangt haben sollten, ist allein auf Grund der unterschiedlichen persönlich-juristischen Wertung der damit befasst gewesenen Amtsrichter auf ein und dieselbe Handlung einmal mit einem Strafausspruch und einmal mit einem Freispruch reagiert worden.

2.10.3 Rechtssicherheit durch Urteil vor Gerechtigkeit?

Rechtssiche rheit durch Urteil vor Gerechtigk eit?

Und wie soll es sein, wenn ein Fehlurteil auf Grund - (teilweise) nicht vermeidbaren - richterlichen Irrtums ergangen ist? Soll dann auch Rechtssicherheit vor Gerechtigkeit gehen? Verurteilte haben im Normalfall ("grundsätzlich") die Möglichkeit, ein gegen sie ergangenes Urteil von einer Berufungsinstanz überprüfen zu lassen - aber nur dann, wenn sie (oder ihr jeweiliger Rechtsanwalt) die Berufungsfrist peinlichst genau eingehalten haben! Als Beispiel zur Warnung: Ein Rechtsanwalt legte um 23.58 Uhr des letzten für eine fristgerechte Berufung zur Verfügung stehenden Tages per Fax bei dem dafür zuständigen Gericht eine mehrseitige Berufung mit Berufungsbegründung ein. Durch die Übertragungsdauer war die Übermittlung des Schriftsatzes um 24.00 Uhr aber noch nicht vollständig abgeschlossen. Die letzte Seite mit der Unterschrift fehlte noch. Das wurde auf dem ungehindert weiter ablaufenden Fax durch die gleichzeitig mitabgedruckte Uhrzeit dokumentiert. Ein Kleingeist zog sich daran hoch, machte es zu einem Fall und es wurde für (angeblich) Recht erkannt: Die Berufung sei nicht rechtsgültig eingelegt, da bis Mitternacht nur ein Berufungsschriftsatz ohne die dazu erforderliche Unterschrift eingereicht worden war - obwohl bei Kenntnisnahme des Faxes durch eine Gerichtsperson der Schriftsatz mit Unterschrift vollständig vorgelegen hatte und damit sofort vollständig hatte zur Kenntnis genommen werden können. Im Falle einer fristgerecht eingelegten rechtsgültigen Berufung wird nach bundesdeutschem Recht alles noch einmal ganz von vorne aufgerollt. Da wird im Strafrecht notfalls noch einmal der Spaten rausgeholt, noch einmal der Leichenfundort umgegraben, noch einmal an der Leiche geschnuppert usw.. Die grundsätzliche Möglichkeit der Berufung gilt aber nicht für den vor einer Großen Strafkammer eines Landgerichts als Eingangsinstanz zu verhandelnden Bereich der Schwerstkriminalität - obwohl in diesen Verfahren wegen der zu verhandelnden Schwere des erhobenen deliktischen Vorwurfs die härtesten Strafen zu erwarten sind. Haben sich die Richter einer solchen Großen Strafkammer oder - für Tötungsdelikte - des Schwurgerichts bei der Ermittlung der Tatumstände geirrt und auf Grund dieses Irrtums einen Angeklagten

512

verurteilt, so muss der in Wahrheit Unschuldige seine ihm zu Unrecht auferlegte Strafe absitzen - teilweise lebenslang -, weil er das Urteil nicht in einer Berufungsinstanz überprüfen lassen kann. In manchen amerikanischen Staaten geht man einen Mittelweg: In z.B. Virginia ist zwar eine Berufung zulässig, in diesem Verfahren darf aber bei Überschreitung der Berufungsfrist ein Beweismittel, dessen Einbringung im Eingangsverfahren möglich gewesen aber schlichtweg vergessen worden ist, grundsätzlich nicht mehr in das Prozessverfahren eingeführt werden - auch wenn es noch so berechtigte Zweifel am Schuldspruch der ersten Instanz wecken könnte. So zustande gekommene Todesurteile werden trotzdem vollstreckt! Bei 26.000 Morden pro Jahr (die Anzahl der anderen Tötungsdelikte wurde nicht genannt) glaubt sich die amerikanische Gesellschaft gegen die Welle der Tötungsdelikte nicht anders helfen zu können obwohl nach äußerst vorsichtigen konservativen Schätzungen (andere gehen mit gutem Grund wesentlich höher!) in 87 Jahren 420 zum Tode verurteilte Todeskandidaten unschuldig gewesen sind; allein 95 der seit 1973 gefällten Todesurteile haben sich nachweislich u.a. auf Grund von damals noch nicht möglichen DNAAnalysen als Fehlurteile herausgestellt. Für mindestens 23 der 420 unschuldig zum Tode Verurteilten kam diese Erkenntnis aber zu spät! 400 durchaus mögliche "Justizmorde" sind durch Begnadigungen verhindert worden. Wie viele aber in Wirklichkeit nicht, u.a. weil ein für den Beweis der Unschuld notwendiger zeitlicher Aufschub der Hinrichtung unterblieb? „Papst empfängt Witwe von Joseph O’Dell afp Rom – Papst Johannes Paul II. hat gestern die Witwe des US-Bürgers Joseph O’Dell (55) empfangen, der am vergangenen Mittwoch in Greensville (Virginia) hingerichtet worden war. ... Der Leichnam ihres Mannes soll heute in Palermo auf Sizilien beigesetzt werden. O’Dell hat nach Überzeugung des Gerichts im März 1985 eine Frau vergewaltigt und ermordet. Der Kronzeuge der Anklage zog seine Aussage zurück. Die Anwälte verlangten einen neuen Prozeß, um per genetischem Fingerabdruck beweisen zu können, daß ihr Mandant unschuldig war. Italiens Ministerpräsident Romani Prodi hatte sich beim Gouverneur von Virginia persönlich für eine Begnadigung eingesetzt, Papst Johannes Paul II. einen Aufschub der Hinrichtung gefordert.“ (HH A 31.07.97) Ein vom Staat seines Lebens beraubter Schuldiger ist schon zu viel, erst recht aber ein Unschuldiger! Die 23 in den USA bekannt gewordenen tödlich ausgegangenen Justizirrtümer werden nur die Spitze des Eisberges sein! Da scheint der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit zu Lasten Unschuldiger zu stark betont zu werden! Nach unserer Strafprozessordnung können Urteile einer Großen Strafkammer nicht mit einer Berufung, sondern höchstens mit dem Rechtsmittel der Revision angegriffen werden. Eine Revision hat aber selbst bei offensichtlich fehlerhafter Tatsachenentscheidung nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Richter bei der reinen Gesetzesinterpretation und -anwendung einen Fehler gemacht haben - wenn z.B. ein Angeklagter wegen eines Diebstahls verurteilt worden war, es sich in der neuerlichen rechtlichen Wertung aber herausstellt, dass er eine Hehlerei begangen hatte. "Mord und Totschlag dpa Lübeck - Weil Taxifahrer Volker Meerpahl nur wegen Totschlags verurteilt wurde, hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf. Er hatte 1991 in Lübeck einen Stadtstreicher erschossen. Jetzt bekam er vom Landgericht elf Jahre Haft - wegen Mordes." (HH A 25.02.93) Urteile einer Großen Strafkammer können aber nicht schon dann mit dem Mittel der Revision erfolgreich angegriffen werden, wenn den Richtern (»nur«) ein Fehler bei der Tatsachenfeststellung unterlaufen war. Normale Irrtümer einer Großen Strafkammer bezüglich der abzuurteilenden Tatumstände hat ein Angeklagter dem Gesetz nach klaglos hinzunehmen! WIESO EIGENTLICH? Man könnte schon als Unbeteiligter heulen vor Wut! Wie viele Tränen wird aber erst der zu Unrecht Verurteilte geweint, wie viel Verzweiflung wird er in den Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren einer unschuldig verbüßten Einkerkerung durchlitten haben!!!3 Hingegen können bei einer Revision festgestellte Gesetzesanwendungsirrtümer zu einer neuen Hauptverhandlung führen. Doch bevor ein Richter Vorsitzender einer Großen Strafkammer wird, hat er schon 3

Einfühlen in die Situation einer/s unschuldig Inhaftierten kann man sich bei der Lektüre des Buches Turan, Sara Gül: Freiwild – Meine Zeit in einem deutschen Gefängnis 1992

513

viele Berufsjahre Praxis gesammelt. So leicht begeht er dann keinen gravierenden Gesetzesanwendungsfehler mehr. 90 % der Revisionsanträge werden deshalb ohne Verhandlung durch Beschluss des damit befassten Senates abgeschmettert.

2.10.4 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchbrechung der durch Urteil geschaffenen Rechtssicherheit für die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit Für einen zu Unrecht Verurteilten gibt es nach Abschluss seines Strafverfahrens nur noch die Hoffnung auf ein Wiederaufnahmeverfahren, das bei uns in ganz engen und - wie sich herausgestellt hat - oft zu engen Grenzen möglich ist, wenn später ein Fehler bei der Tatsachenermittlung nachgewiesen werden kann, von dem außerdem glaubhaft gemacht werden kann und muss, dass er für die Urteilsfindung erheblich gewesen sei. Dann siegt bei uns das Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit gegenüber dem Prinzip der durch Urteilsverfahren zum Abschluss gebrachten Rechtssicherheit. Ein (erneuter) spektakulärer Fall ereignete sich 1987 in Hamburg. In dem sechsten Wiederaufnahmeverfahren in einer Mordsache seit dem Bestehen der Bundesrepublik konnten dem zuständigen Gericht die hierfür erforderlichen neuen(!) Gesichtspunkte vorgetragen werden, mit denen das Urteil der ersten und einzigen(!) Tatsacheninstanz in Frage gestellt werden konnte. Alle sechs dieser Verfahren endeten mit einem Freispruch für die teilweise langjährigen Opfer der Justizirrtümer - und es gibt noch mehr Verurteilte, die behaupten, unschuldig zu sein, es vielleicht teilweise auch sind, aber ihre entgegen der Meinung ihrer Richter (teilweise) tatsächlich bestehende Unschuld nicht beweisen können. Die Wiederaufnahmeanträge werden meistens "abgebügelt", weil die vorgebrachten neuen Gesichtspunkte nicht erheblich genug seien. Wiederaufna hmeverfahre n zur Durchbrechu ng der durch Urteil geschaffenen Rechtssicher heit für die Herstellung von Einzelfallger echtigkeit

Fall (1987) 1971 war der damals 28-jährige Holger G. von einem Schwurgericht wegen eines von ihm angeblich begangenen Mordes an einem 5-jährigen Mädchen nach zuvor verübtem Sexualverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der Beschuldigte hatte in den polizeilichen Vernehmungen nach langem Sträuben und dann auch vor Gericht die ihm zur Last gelegte Tat zunächst gestanden - und anschließend widerrufen. Nach 14 Jahren Strafhaft gelang es dem auf Revisionen spezialisierten Hamburger Rechtsanwalt Strate in mühevoller Recherche, aus der dem Gericht damals nicht unbedingt vorzulegenden und unerklärlicherweise darum auch nicht vorgelegten polizeilichen Spurenmappe ein Protokoll auszugraben, in dem die vernehmenden Kriminalbeamten nach Überprüfung des ihnen offerierten Alibis durch Zeugenbefragungen (Zahnarzttermin laut Bestellbuch nachgewiesen und anschließender Friseurbesuch) aktenkundig gemacht hatten: "Die Ermittlungen haben keinen Anhaltspunkt ergeben, die einen Tatverdacht gegen G. rechtfertigen." Die Kripobeamten hielten G trotz dieses eigenen Aktenvermerks in für mich nicht nachvollziehbarer Schizophrenie weiterhin für den gesuchten Mörder - sie hatten keinen anderen hinreichend Tatverdächtigen. Nach insgesamt 16 Jahren Haft führte das zu Tage geförderte Protokoll zu dem angestrebten Wiederaufnahmeverfahren. In der neuerlichen Vernehmung berichtete der damalige Angeklagte, dass er 1970 den ihn vernehmenden Beamten nach längeren, ihn aufgerieben habenden Verhören gesagt hatte: "Schreiben Sie, was Sie wollen, ich unterschreibe alles. Ich will nur endlich meine Ruhe haben." Daraufhin hatten die Kripobeamten, wie sie in ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung im Dezember 1987 nunmehr zugaben, den Geständnistext selber formuliert. Der Kripo-Zeuge: "Wir waren uns sicher, den Mann zu haben, den wir suchten." Das Gericht stützte sich nunmehr in dem wieder aufgenommenen Verfahren auf das AlibiProtokoll und die Vernehmung der auch damals schon gehörten Zeugen und kam jetzt zu dem Ergebnis: "Der Angeklagte kann nach dem rekonstruierten Zeitablauf nicht der Täter sein. Er hatte sein damaliges Geständnis nur abgelegt, weil er dem Druck der überlegen vernehmenden Beamten nicht hatte standhalten können." Eine Entschädigung für die erlittene Haftzeit erkannte das Gericht dem unschuldig Inhaftierten gleichwohl nicht zu, weil sein damaliges Geständnis eine wesentliche Grundlage für die Verurteilung gewesen war. Das soll rechtens sein, obwohl die Polizeibeamten schon damals das Alibi ermittelt, protokolliert und zu dritt unterschrieben hatten? Der Verteidiger will mit einem Einspruch gegen die Verweigerung der Entschädigung

514

kämpfen. Unbehagen beschleicht den Leser der vorstehend zusammengefassten mitgeteilten Zeitungsmeldungen zu diesem Wiederaufnahmeverfahren hoffentlich bei der sich unweigerlich aufdrängenden Frage, warum nicht wenigstens einer der drei Kripobeamten - spätestens nach der Verurteilung - auf das in der polizeilichen Spurenmappe abgeheftete, dem Gericht und der Staatsanwaltschaft nicht vorgelegte Alibi-Protokoll hingewiesen hat, das die Unschuld des Angeklagten schon vor 16 Jahren erwiesen hätte! 1993 kündigte sich in der Mordsache Weimar das nächste Wiederaufnahmeverfahren an, das von demselben Hamburger Rechtsanwalt betrieben wird. In diesem Fall von zweifacher Kindstötung soll nur entweder die Mutter oder der Vater die beiden gemeinsamen Kinder umgebracht haben können. Andere Täter würden ausscheiden. Das (v?)erkennende Schwurgericht hatte die Mutter in einem Aufsehen erregenden Indizienprozess zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 1995 lehnte das LG Gießen die Eröffnung des Revisionsverfahrens aber ab, woraufhin der Rechtsanwalt der seit mehr als achteinhalb Jahren einsitzenden Verurteilten erfolgreich Beschwerde bei dem Frankfurter OLG einlegte. 1996 hat ein Berliner Gericht die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens, in dem ein Angeklagter wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und davon schon sechs Jahre abgesessen hatte, für zulässig erklärt, als der wahre Täter, ein Serienkiller, ein Geständnis abgelegt hatte. Der unschuldig Verurteilte rechtfertigte sich gegenüber dem ihm gemachten Vorwurf, er habe den Mord doch aber gestanden, mit den Worten: „Ich weiß. Mir wuchs das alles über den Kopf. Die langen Verhöre, die immer gleichen Fragen. Irgendwann habe ich das nicht mehr ausgehalten und zu allem Amen gesagt.“ Und wo war sein Anwalt gewesen? Bei solchen „effektiven“ Vernehmungsmethoden werden ungute Erinnerungen an den französischen König wach, der über seine Justiz gesagt hatte: „Wenn ich von französischen Staatsanwälten und Richtern beschuldigt würde, die beiden Türme von Sacre Coeur gestohlen zu haben, würde ich fliehen.“ Da kann man nur froh sein, dass wir in unserem Grundgesetz die Artikel 102 und 31 haben. Art. 102 GG bestimmt kurz und bündig: "Die Todesstrafe ist abgeschafft." Wegen Mordes verurteilte Bundesbürger können darüber hinaus froh sein, dass der kürzeste Artikel unserer Verfassung, Artikel 31 GG, lautet: "Bundesrecht bricht Landesrecht." Warum diese Bestimmung für manche deutschen Mörder ein Grund zur Freude ist? Zeitungsmeldungen öffnen einem oftmals die Augen für juristische Kuriositäten. Ihnen kann auch entnommen werden, dass das Grundgesetz als Bundesverfassung unsere oberste Rechtsnorm ist und damit ihr entgegenstehende Bestimmungen der niederrangigeren Landesverfassungen außer Kraft setzt: "Landesverfassung geändert Rheinland-Pfalz schafft die Todesstrafe ab Mainz (AP) - Der rheinland-pfälzische Landtag hat die aus dem Jahre 1947 stammenden Vorschriften über die Todesstrafe aus der Verfassung gestrichen und damit dem höherrangigen Verbot im Grundgesetz aus dem Jahre 1948 angepaßt. Die Regelung tritt mit anderen Verfassungsänderungen am 1. April in Kraft. Nach Angaben des Mainzer Justizministeriums ist die Todesstrafe jetzt noch in den Verfassungen Bayerns, Bremens und Hessens vorgesehen." (SZ 23.02.91) Aus der bayrischen Verfassung ist sie Ende 1996 gestrichen worden, über die Länder Bremen und Hessen wurde zunächst keine entsprechende Verfassungsänderung in der Presse mitgeteilt. In der hessischen Verfassung ist sie - laut Wikipedia: als einziges Bundesland - trotz der letzten Verfassungsänderung 2002 weiterhin in Art. 21 I 2 erwähnt: vermutlich, weil Verfassungsänderungen in Hessen neben der Zustimmung des Parlaments einer Volksabstimmung bedürfen und eine Zustimmung der hessischen Bevölkerung als möglicherweise nicht sicher angesehen wird.

515

2.10.5 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchsetzung der Gerechtigkeit gegenüber der durch Urteil geschaffenen Rechtssicherheit in Strafsachen auch nach dem Tode eines Verurteilten durchführbar Wiederauf nahmeverf ahren auch nach dem Tode eines Verurteilt en durchführ bar

Wiederaufnahmeverfahren sind in unserem Strafprozessrecht sogar noch nach dem Tode eines Verurteilten durchführbar. So beantragte 1982 der Bruder des 1933 von den Nationalsozialisten als Reichstagsbrandstifter abgeurteilten und 1934 hingerichteten Marius van der Lubbe die rechtlich zulässige Wiederaufnahme des Verfahrens gegen seinen Bruder. Der Reichstagsbrand hatte am 27.02.33 stattgefunden. Zum Zeitpunkt der Tat galt selbstverständlich die Strafbarkeit der Brandstiftung, aber es gab nicht die Strafdrohung der Todesstrafe für dieses Delikt, sondern nur Zuchthaus. Die Nazis handelten sofort. Durch die am 28.02.33 verkündete "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat" (»Reichstagsbrandverordnung«) wurden die wichtigsten der in der Weimarer Verfassung festgelegten Grundrechte und die in der juristischen Diskussion hierzu gefundenen Ausprägungen und Konkretisierungen (und damit das Verbot rückwirkender Straffestsetzung) aufgehoben und die Todesstrafe für u.a. Hochverrat und Brandstiftung nachträglich rückwirkend eingeführt. Mit dieser Verordnung erhielt Unrecht Gesetzeskraft, zumal Hitler persönlich sie durch eine „Führeräußerung“ in der Weise auslegte: „Es gibt jetzt kein Erbarmen mehr; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht.“ In § 5 der angesprochenen „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933“ hieß es u.a.: "Mit dem Tode sind die Verbrechen zu bestrafen, die das Strafgesetzbuch in den §§ 81 (Hochverrat) ..., 307 (Brandstiftung), ...mit lebenslangem Zuchthaus bedroht." Außerdem wurde auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 24.03.33, der »Verfassungsurkunde des Dritten Reiches«, welches der Reichsregierung die Befugnis einräumte, auch von der Verfassung abzuweichen, das allgemein formulierte aber für diesen Einzelfall gedachte und geschaffene Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29.03.33 erlassen. Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe Vom 29. März 1933 Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: §1 § 5 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 ... gilt auch für Taten, die in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen sind. §2 Ist jemand wegen eines gegen die öffentliche Sicherheit gerichteten Verbrechens zum Tode verurteilt, so kann die Regierung des Reichs oder des Landes, durch deren Behörden das Urteil zu vollstrecken ist, anordnen, daß die Vollstreckung durch Erhängen erfolgt. Berlin, den 29. März 1933. Mit diesem Gesetz vom 29.03.33 konnte die erst am 28.02.33 erlassene Todesstrafe für Hochverrat und Brandstiftung auch rückwirkend(!) für den schon mehr als einen Monat zuvor am 27.02.33 erfolgten Reichstagsbrand gegen van der Lubbe scheinlegal verhängt und vollstreckt werden, obwohl schon unter der Weimarer Verfassung das Prinzip, dass niemand auf Grund eines zur Tatzeit noch gar nicht geltenden weil noch gar nicht geschaffenen Gesetzes verurteilt werden dürfe, und die bis dahin geltende Auslegung dieses Prinzips als Grundrecht ersten Ranges galt. Aber leider war "Art. 116 WV Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde." nicht ganz eindeutig gefasst gewesen. Die Richter des Reichsgerichts ignorierten die bis dahin geltende Ausprägung des Art. 116 WV und argumentierten zu Lasten des Angeklagten in extrem enger Anlehnung an den Wortlaut der Verfassung: Art. 116 WV verbiete nur, nachträglich etwas für strafbar zu erklären, was vorher nicht strafbewehrt gewesen war. Art. 116 WV sage aber nicht ausdrücklich etwas über die Geltung von Strafdrohungen für ein schon bestehendes Delikt, die zwischen Begehung einer Tat und ihrer Aburteilung

516

geändert werden, insbesondere verwehre sein Wortlaut nicht, nachträglich eine schärfere Strafdrohung für ein schon begangenes strafbewehrtes Delikt in Anwendung zu bringen. Eine schärfere als die ursprünglich angeordnete Strafe könne nachträglich verhängt werden, wenn der Gesetzgeber durch Änderung der Gesetzeslage die Möglichkeit hierzu eröffne. Die Richter des Reichsgerichts setzten als oberste deutsche Richter mit diesem Verstoß gegen bis dahin geltende fundamentalste Rechtsgrundsätze das erste Zeichen der Kapitulation des Reichsgerichts vor der 28 Tage vor dem Reichstagsbrand am 30.01.33 installierten NaziHerrschaft. Es wurde das Kainsmal ihrer "Straf-(Un-)Rechtsprechung" im Dienste des Nationalsozialismus. Van der Lubbe wurde am 10.01.34 wegen Hochverrats und Brandstiftung hingerichtet, obwohl wegen der für diese Brandgröße unabdingbaren Vorbereitungshandlungen starke Zweifel an seiner (alleinigen) Täterschaft bestanden und die Nazis den Brand des Reichstages aus Propagandagründen auch mitgestaltet haben könnten. (Die historische Forschung ist da zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen - und wird es wohl auch nie mehr erreichen. Bertolt Brecht hat alle schon gleich nach dem Tatzeitpunkt diesbezüglich geäußerten Zweifel gesammelt und in seiner „Moritat vom Reichstagsbrand“4 verarbeitet.) Die Nazis wollten mit der "Verordnung zum Schutze von Volk und Staat" und den anderen in diesem Zusammenhang in die Wege geleiteten gesetzlichen Maßnahmen ihre innenpolitischen Gegner vor der letzten relativ freien Reichstagswahl vom 05.03.33 scheinlegal verfolgen können, um sich einen größtmöglichen Wahlerfolg zu sichern. Trotz dieses strafjuristischen Kainsmals des Todesurteils aus dem Reichstagsbrandprozess und Art. 11 Nr. 2, 2. Satz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist "Art. 103 II GG Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." und der auf diesem justiziellen Grundrecht fußende, gleich lautende § 1 StGB noch immer nicht in der wünschenswerten Deutlichkeit abgefasst worden. Beide enthalten nur ein Rückwirkungsverbot hinsichtlich anwendbarer Straftatbestände, nicht aber ein ausdrückliches Rückwirkungsverbot von nachträglich erhöhten Strafdrohungen. Das juristische Problem: Kann, wenn eine sanktionierende Strafnorm zum Zeitpunkt der Tat bestand, der Strafrahmen dieser Norm zwischenzeitlich bis zur Hauptverhandlung zu Ungunsten des Täters erhöht werden? Nun aber bestimmt als nähere Konkretisierung des - (nur) laut Auslegung des BVerfGs - schon in Art. 103 II GG und § 1 StGB enthaltenen (grundsätzlichen, nicht aber bei schwerstem kriminellen Unrecht und einer damit verbundenen Verletzung der Menschenrechte wie z.B. Erschießung von Flüchtlingen an der DDRGrenze geltenden) Rückwirkungsverbotes: "§ 2 I StGB Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt." Die theoretisch mögliche Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den damals schon fast 50 Jahre toten van der Lubbe wurde 1982 nicht zugelassen. Die durch die Abschließung des Verfahrens erreichte Rechtssicherheit ist in diesem Falle höher bewertet worden. Als obiter dictum: Das eben angesprochene Rückwirkungsverbot ist ein grundsätzliches Rechtsprinzip, das nicht nur im Strafrecht gilt. Es gilt genau so im Zivilrecht: EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE In guten wie in schlechten Zeiten Von Gregor Waschinski Wie eine Britin erfuhr, dass ihr Mann ein Vergewaltiger ist Im Leben von Irene Hoare, 55, aus dem englischen Middlesbrough, hatte sich nicht viel Aufregendes zugetragen bis zu jenem Tag, an dem dieser Fremde bei ihr klingelte. Es war ein Reporter der Boulevardzeitung "The Sun". Der Journalist fragte, ob sie mit Iorworth Hoare verheiratet sei, dem Vergewaltiger Iorworth Hoare. Dem Monster. Jenem Monster, das gerade mehr als sieben Millionen Pfund in der britischen Lotterie gewonnen habe. 4

in z.B.: Das große deutsche Balladenbuch, Hrsg. von B. Pinkerneil, Athenäum Verlag, Königstein 1978 S. 664 f ISBN 3-7610-8030-1

517

Jetzt war Irene Hoare aufgeregt, sehr sogar. Irene Hoare, 55, die so gern Krimis las, "true crime stories", Geschichten von Ganoven, von Abenteurern. Die früher Fabrikarbeiterin gewesen war und jetzt von 95 Pfund Stütze in der Woche lebte, in ihrer Sozialwohnung im Arbeiterviertel Salters Gill. Sie lebte allein, und sie hatte einen Hund, einen Jack Russell, den führte sie spazieren. Zum Heiraten gab es niemand, bis 1992 jedenfalls nicht. Bis Irene Harrison, so hieß sie damals, beschloss, etwas in ihrem Leben zu ändern. Sie meldete sich bei einem Programm an, das Brieffreundschaften mit Häftlingen vermittelte. Iorworth Hoare war ein echter Ganove, er saß im Wakefield-Gefängnis bei Middlesbrough, nicht weit von ihrem Wohnort entfernt. Irene schrieb ihm jede Woche, ab und zu besuchte sie ihn auch. Beim ersten Treffen erzählte Iorworth, er habe eine Bank überfallen. Er war drei Jahre jünger als Irene, sie mochte ihn, sie fand ihn lustig. Aufregend. Dass er in Wahrheit nicht Bankräuber war, sondern Vergewaltiger, hatte ihr niemand gesagt. Iorworth fing an, Irene Liebesbriefe zu schreiben. Er machte ihr einen Heiratsantrag. Er schickte 200 Pfund für einen Verlobungsring, doch Irene lehnte ab, vorerst. 1993 gab sie nach. Irgendwann mal müsste Iorworth ja freigelassen werden, dachte sie, also warum nicht, war doch ein ganz netter Kerl. Bei der Hochzeit in der Gefängniskapelle trug Irene einen zitronenfarbenen Pullover, einen weißen Hut und weiße Schuhe. An ihren Hals schmiegte sich eine Perlenkette. Ihr großer Tag. Die Zeremonie war nach zehn Minuten vorbei, ein Wärter und ein Besucher sprangen als Trauzeugen ein. Danach stießen Irene und Iorworth mit Tee und Eier-Sandwiches auf ihre Ehe an. Die Hochzeitsnacht dauerte fünf Minuten, ein kleiner Kuss, eine Umarmung, mehr war nicht drin. Draußen vor der Tür warteten der Pastor und die Wärter. Irene Hoare traf ihren Mann noch acht- oder neunmal, dann wurde er in ein anderes Gefängnis verlegt, auf die Isle of Wight. Er war jetzt weit weg von Irene und Salters Gill. Und er war nicht der Mann ihrer Träume. Er schrieb, aber sie schmiss die Briefe und Fotos, die jetzt noch kamen, in den Müll. Wenn er anrief, legte sie den Hörer wortlos auf. Sie ging zum Krankenhaus, um sich den Ehering absägen zu lassen, der Finger war zu dick geworden. Scheiden ließ Irene sich nie. Sie begnügte sich damit, ihre Ehe aus dem Gedächtnis zu streichen. Sie führte ihren Hund spazieren, und ihr Wohnzimmer dekorierte sie mit Fotos ihrer verstorbenen Hunde, alles Jack Russell. Wenn ein Hund dahinschied, kam ein neuer; so verlief das Leben von Irene. Mehr als zehn Jahre später tauchte Iorworth wieder in ihrem Leben auf. Er schaute sie an von einem Foto auf der "Sun"-Titelseite, die ihr der Journalist vor die Augen hielt. Daneben die Schlagzeile: "Vergewaltiger gewinnt sieben Millionen Pfund im Lotto." Auf einem Freigang hatte Iorworth einen Lottoschein ausgefüllt - jetzt war er reich. Irene Hoare erfuhr noch mehr über ihren Ehemann, sie erfuhr, dass er zu "lebenslänglich" verurteilt worden war und dass ein Richter zu ihm gesagt habe, jeden Moment, den er in Freiheit verbringe, sei eine Frau in Gefahr. Sie sagte dem "Sun"-Journalisten Empörtes über Vergewaltiger im Allgemeinen und ihren Mann im Besonderen, dann sagte sie, sie wolle die Scheidung, und ihren Mann, der sie belogen habe, wolle sie verklagen. Das Geld würde sie seinen Opfern spenden. Politiker meldeten sich zu Wort, versprachen, dass Häftlinge zukünftig nicht mehr von solchen Gewinnen profitieren würden. Iorworth Hoare stellte einen Finanzberater ein, der die Millionen auf Offshore-Konten verstecken sollte. Vor Irene Hoares rotgeziegeltem Mietshaus standen plötzlich Fernsehteams, am Tag nach dem Bericht in der "Sun". Im Nachthemd, darüber einen Mantel gestreift, gab Irene ihre erste Pressekonferenz, unsicher, aber nicht ohne Stolz. Für wenige Tage war sie die Rächerin aller Opfer des Lotto-Vergewaltigers, sie war wichtig, man hörte ihr zu. Es kamen immer mehr Journalisten, klingelten, stellten die gleichen Fragen. Der Rummel nervte Irene Hoare, sie gab keine Pressekonferenzen mehr. Ihr Gatte teilte währenddessen mit, wie er sein Vermögen zu verprassen gedenke. Zuletzt träumte er von einer Villa in Thailand. In zwei Wochen, so wird jetzt gemeldet, soll Hoare entlassen werden, als reicher, freier Mann. Ein Gesetz, das einem Häftling seinen Lottogewinn verbieten würde, ist nicht in Arbeit, es käme auch zu spät für seinen Fall, rückwirkend würde es nicht gelten. Und die Opfer können ihn nicht mehr verklagen. Ihre Ansprüche sind verjährt. Seiner Frau hat Hoare eine Abfindung vorgeschlagen, doch das Angebot genügt ihr nicht. Sie will ihn verklagen, sie will mehr Geld, für sich und die Opfer, wie sie sagt. Hauptsächlich aber will sie mit ihrem Hund spazieren gehen und keine Fragen mehr beantworten. Vor allem keine über Iorworth Hoare.

518

(SPIEGEL ONLINE 14.02.05)

Ein weiterer prominenter Fall eines ebenfalls nicht zugelassenen Wiederaufnahmeverfahrens: "Keine neue Chance für Carl v. Ossietzky Reichsgerichtsurteil bleibt bestehen ap Berlin - Das Reichsgerichtsverfahren wegen Verrats militärischer Geheimnisse gegen den ehemaligen Chefredakteur der `Weltbühne' und Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky wird nicht wiederaufgenommen. Wie die Berliner Justiz gestern mitteilte, wies das Kammergericht den Antrag der Tochter Ossietzkys als unzulässig zurück, das Strafverfahren vom November 1931 wiederaufzunehmen. Der nach dem Ersten Weltkrieg zum Pazifisten gewordene Publizist Ossietzky hatte in der `Weltbühne' im März 1929 einen Artikel über [dem Deutschen Reich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag verbotene militärische Aktivitäten wie] den Flugplatz JohannistalAdlerhorst, die Erprobungsabteilung Albatros sowie über die Küstenflugabteilung der Lufthansa veröffentlicht. Das Reichsgericht wertete dies als Verrat militärischer Geheimnisse und verurteilte ihn 1931 zu 18 Monaten Gefängnis. Er wurde 1932 begnadigt. Das Kammergericht wies in seiner Entscheidung darauf hin, daß es das Urteil des Reichsgerichts nicht nach Art eines Revisionsverfahrens auf Rechtsfehler hin überprüfen könne, sondern an die strengen Wiederaufnahmevorschriften der Strafprozeßordnung gebunden sei. Die Antragstellerin habe aber `keine neuen Tatsachen oder Beweismittel' beigebracht, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten zu begründen geeignet seien. Das Kammergericht erklärte, Ossietzkys Tochter habe ihre Darstellung nicht ausreichend belegen können, daß die im Artikel beschriebenen Vorgänge weder geheim gewesen seien, noch die `Sicherheit des Reichs gefährdet' hätten. `Eine pauschale historische Rückschau auf die Sicherheitsinteressen der Weimarer Republik kann die im Einzelfall notwendigen bestimmten Angaben über das militärische Sicherheitsbedürfnis nicht ersetzen'. Ossietzky war nach dem Reichstagsbrand 1933 in Gestapo-Haft5 genommen worden. 1935 erhielt Ossietzky [in der KZ-Haft] den Friedensnobelpreis [zuerkannt], worauf Hitler für `Reichsdeutsche' ein Verbot der Annahme von Nobelpreisen anordnete. Ossietzky starb am 4. Mai 1938 an den Folgen seiner Haft." (HH A 06.08.91) "Friedensnobelpreisträger wird nicht rehabilitiert BGH: Kein neues Verfahren für Carl von Ossietzky rtr/adn Karlsruhe - Der 1931 wegen Verrats von militärischen Geheimnissen verurteilte Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky wird nicht rehabilitiert. Das entschied gestern der Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Er bestätigte damit die Entscheidung des Berliner Kammergerichts, das bereits im vergangenen Jahr die von Ossietzkys Tochter geforderte Wiederaufnahme des Verfahrens als unzulässig verworfen hatte. Der Publizist Carl von Ossietzky war vom Berliner Reichsgericht zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden, nachdem er 1929 in der Zeitschrift `Die Weltbühne' über die geheime Aufrüstung der deutschen Luftstreitkräfte berichtet hatte. Dies war dem Deutschen Reich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag verboten worden. Ossietzkys Artikel wurde daher als militärischer Geheimnisverrat gewertet. Seine Tochter hatte mittels Gutachten zu belegen versucht, daß ihr 1938 an den Folgen der Gestapo-Haft gestorbener Vater nur jene dem Ausland ohnehin bekannten Details veröffentlicht habe. Der BGH entschied jedoch: Bei der Wiederaufnahme eines Verfahrens haben allein strafprozessuale Vorschriften zu entscheiden. Weder fehlerhafte Rechtsanwendung noch der Wandel der Rechtsprechung sei für sich allein ein Wiederaufnahmegrund. `Die Frage, ob die Sicherheit des Reiches durch die Veröffentlichung gefährdet wurde', könne `nicht unter Berücksichtigung der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung entschieden werden'." (HH A 22.12.92) 5

Geheime Staatspolizei = politische Polizei, die keinerlei rechtsstaatlichen Beschränkungen, insbesondere nicht der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterlag, was das Preußische Verwaltungsgericht am 02.05.35 – für uns Heutige: unfassbarer Weise - so entschieden hatte.

519

Ein anderes Verfahren zur Rehabilitierung Toter verlief erfolgreicher: "`Blutsonntag' wieder aufgerollt? Die SPD-Bundestags-Abgeordnete Dr. Marlies Dobberthien will die Geschichte des `Altonaer Blutsonntags' neu aufrollen, in dessen Verlauf am 17. Juli 1932 18 Menschen getötet worden waren. In einem Brief an Justizsenatorin Dr. Lore-Maria Peschel-Gutzeit (SPD) setzt sich Dobberthien für die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen vier Kommunisten ein, die 1933 von einem nationalsozialistischen Sondergericht zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren. `Es gilt als gesichert, daß die Urteile auf gefälschten Beweisen beruhen'." (HH A 09.07.92) "Gericht rollt `Altonaer Blutsonntag' wieder auf Spätes Recht für die Nazi-Opfer Von GEORG PAKSCHIES Die Große Strafkammer 21 als Schwurgericht des Landgerichts Hamburg soll Bruno Tesch, August Lütgens, Karl Wolff und Walter Möller, die von den Nazis am 1. August 1933 in Altona mit dem Handbeil getötet worden waren, posthum von vermeintlicher Schuld freisprechen und (in einer Wiederaufnahme der Sondergerichtsverfahren) die verhängten Todesurteile (juristisch) aufheben. Diesen Antrag hat die Staatsanwaltschaft am Freitag (auf den Tag genau 60 Jahre nach dem `Altonaer Blutsonntag') beim Hanseatischen Oberlandesgericht gestellt. Die Nazis hatten den vier Antifaschisten `gemeinschaftlichen Mord', Tesch, Wolff und Möller außerdem `schweren Landfriedensbruch' und `schweren Aufruhr' vorgeworfen. Darauf stand die Todesstrafe. Jetzt - 60 Jahre später - sollen die Unrechtsurteile korrigiert werden, bekommt der berüchtigte `Altonaer Blutsonntag' eine politisch-juristisch neue Bedeutung. Das war geschehen: Am 17. Juli 1932 formierten sich etwa 7.000 aus Schleswig-Holstein angereiste SA-Männer mit ihren Hamburger `Sturmabteilungen' zu einem provozierenden Marsch durch das damals `rote Altona', Hochburg von Sozialdemokraten und Kommunisten. Verhängnisvoll war, daß der Polizeipräsident von Altona, Otto Eggerstedt (SPD), trotzt eindringlicher Warnungen den provozierenden Marsch der SA erlaubt hatte. Die KPD hatte nämlich angekündigt, sie werde einen Massen-Selbstschutz organisieren. An der Schauenburger Straße wurde der braune Zug der SA gestoppt. Schüsse fielen, Blut floß. 18 Tote lagen auf der Straße, darunter zwei SA Männer, drei Kommunisten und 13 Unbeteiligte. Mehr als 60 Verletzte mußten ärztlich versorgt werden. Die politischen Folgen für die Weimarer Regierung waren katastrophal. Reichskanzler Franz von Papen nutzte den `Altonaer Blutsonntag' als Vorwand, um am 20. Juli 1932 die geschäftsführende preußische Regierung aus Sozialdemokraten und Zentrum abzusetzen. Wer in Altona zuerst geschossen hatte, die SA, wie die Kommunisten behaupteten, oder die Kommunisten, wie die Nationalsozialisten sagten, ist bis heute bei Historikern umstritten. Doch etwas anderes wurde nach jahrelangen Recherchen der Staatsanwaltschaft und des `Vereins der Verfolgten des Nazi-Regimes' (VVN) nachgewiesen: Das damalige Sondergericht beim Landgericht Altona hatte die `Beweismittel' gegen die vier angeklagten Antifaschisten Bruno Tesch, August Lütgens, Karl Wolff und Walter Möller manipuliert. Auch Zeugenaussagen seien von den Richtern `verbogen' worden. Kriminaltechnische Untersuchungen kamen des weiteren zum Ergebnis, daß Schriftstücke gefälscht worden waren. Die Staatsanwaltschaft beabsichtigt daher jetzt nach gerichtlichem Abschluß dieses Verfahrens, weitere Aufhebungsanträge zu stellen, so daß der Entscheidung des Landgerichts im vorliegenden Fall erhebliche Bedeutung zukommt. Darüber hinaus werden von der Staatsanwaltschaft bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht zurzeit 520 Vorgänge geführt, die unter dem Gesichtspunkt des von Hamburg initiierten und 1990 in Kraft getretenen Gesetzes zur `Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile oder einer Wiederaufnahme' zu prüfen sind. Mit rund 120 weiteren Verfahren ist zu rechnen, wie eine Sichtung von Akten im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv ergab. Von den inzwischen eingeleiteten Verfahren sind 70 abgeschlossen. In 43 Fällen folgten die Gerichte den Anträgen der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Urteile nach dem Beseitigungsgesetz." (HH A 18.07.92) Die Urteile gegen die von einem jungen Wandsbeker Schlachtermeister der NSDAP mit dem Handbeil auf einem Haublock Geköpften wurden noch 1992 aufgehoben.

520

Ganz sicher bin ich mir, dass auch das Nazi-Urteil gegen Bonhoeffer aufgehoben worden sein wird, auch wenn ich darüber bisher keine bestätigende Nachricht gelesen habe. Im Gegensatz zu z.B. von Ossietzky galt er nicht als »links« und gehörte darum in der alten Bundesrepublik zum »offiziellen« Widerstand. „Bonhoeffer-Prozeß dpa Berlin - Das Landgericht Berlin hat zugestimmt, das Nazi-Todesurteil gegen den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer zu überprüfen. Er war 1945 von einem Standgericht der SS zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die Staatsanwaltschaft fordert seine Rehabilitierung.“ (HH A 16.03.96)

2.10.6 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im englischen »Fall-Recht« in Strafsachen

Im englischen "FallRecht" in Strafsachen verstärkte Rechtssiche rheit

In Großbritannien, wo im Gegensatz zu unserem rein auf Gesetzen beruhenden Recht ("Continental Law") hauptsächlich ein auf vorangegangenen richterlichen Urteilen fußendes Rechtssystem ("Case Law" = »Fallrecht«) herrscht, wird dem durch das Rechtsinstitut der »Rechtssicherheit« angestrebten Rechtsfrieden eine noch wesentlich größere Bedeutung beigemessen als bei uns: Wer in einem Verfahren zu Unrecht freigesprochen worden ist, kann wegen dieser ihm schon einmal vorgeworfenen Tat selbst dann nicht wieder vor Gericht gestellt werden, wenn hinterher seine Schuld erwiesen ist. Einer Illustriertenmeldung zufolge war ein Frauenmörder in seinem Prozess freigesprochen worden, weil ihm seine Untaten nicht hatten nachgewiesen, insbesondere die Leichen nicht hatten gefunden werden können. Nach seinem Freispruch hatte er dann seine Geschichte einer Illustrierten gegen ein sehr hohes Informationshonorar verkauft und in den Berichten mitgeteilt, wie er die Leichen der von ihm getöteten Frauen zerstückelt und dann die Leichenteile über der Irischen See aus einem Flugzeug geworfen hatte. Ein englischer Gangster hat drei Morde gleich nach seinem Freispruch auf der Treppe des Gerichts für die Fernsehkameras und in seinen mit einer Auflage von 100.000 Stück verkauften Gangstermemoiren zugegeben (STERN 28.11.02). Bei uns wäre nach einem solchen Geständnis das durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossene Verfahren gemäß § 362 Nr. 4 StPO zuungunsten des Angeklagten wieder aufgenommen worden. Materielle Gerechtigkeit wird höher veranschlagt als ein fragwürdiger Rechtsfrieden. In Großbritannien und den anderen Ländern des angelsächsischen Rechtskreises dagegen müssen sich die Strafverfolgungsbehörden mit der Hoffnung beruhigen, dass »Rechtsfrieden« längst nicht »Gewissensfrieden« bedeutet! Die Griechen wussten um die Macht der Erinnyen, die schon allein jeden Frevel gegen das ungeschriebene Sittengesetz, wie z.B. die Verletzung der Gastfreundschaft, ahndeten. Bei gewichtigeren Straftaten waren Alekto, die unversöhnlich Grollende, Megaira, die Neidische, und insbesondere Tisiphone, die Rächerin des Mordes, die in Dramen insbesondere für die Rächung des Verwandtenmordes zuständig war, erst richtig in ihrem Element. Aischylos beschreibt in der „Orestie/Die Eumeniden“ deren Aufgabe so: „Es ist unser Ruhm, nur das Rechte zu üben! Die rein ihre Hände vor allen erheben, sie sind nicht getroffen von unserem Zorn; in sicherem Frieden verrinnen die Tage. Wenn Frevler wie dieser die blutigen Hände vor Menschen verbergen, da sind wir am Ort, und wahren in Treue die Rechte der Toten, wir finden den Täter und fordern sein Blut.“ Wohl auf dieser Passage von Aischylos fußend hat uns Schiller diese Vorstellung der Griechen in einer seiner populärsten Balladen schauerlich-schön anschaulich gemacht (so dass mir beim nachdenkenden Lesen kleine Schauer von den Haarspitzen den Rücken und die Beine runterlaufen). In „Die Kraniche des Ibykus“ heißt es: „... Wer zählt die Völker, nennt die Namen die gastlich hier zusammen kamen? ... Und horchen von dem Schaugerüste Des Chores grauser Melodie – Der streng und ernst nach alter Sitte, Mit langsam abgemessnem Schritte,

Hervortritt aus dem Hintergrund, Umwandelnd des Theaters Rund.

521 So schreiten keine ird’schen Weiber, Die zeugete kein sterblich Haus! Es steigt das Riesenmaß der Leiber Hoch über menschliches hinaus. Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden, Sie schwingen in entfleischten Händen Der Fackel düsterrote Glut, In ihren Wangen fließt kein Blut. Und wo die Haare lieblich flattern, Um Menschenstirnen freundlich wehn, Da sieht man Schlangen hier und Nattern Die giftgeschwollnen Bäuche blähn. Und schauerlich gedreht im Kreise, Beginnen sie des Hymnus Weise, Der durch das Herz zerreißend dringt, Die Bande um den Sünder schlingt. Besinnungsraubend, herzbetörend Schallt der Erinnyen Gesang, Er schallt, des Hörers Mark verzehrend, Und duldet nicht der Leier Klang. »Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle Bewahrt die kindlich reine Seele! Ihm dürfen wir nicht rächend nahn, Er wandelt frei des Lebens Bahn. Doch wehe, wehe, wer verstohlen Des Mordes schwere Tat vollbracht, Wir heften uns an seine Sohlen, Das furchtbare Geschlecht der Nacht! Und glaubt er fliehend zu entspringen, Geflügelt sind wir da, die Schlingen Ihm werfend um den flüchtgen Fuß,

Dass er zu Boden fallen muss. So jagen wir ihn ohn Ermatten, Versöhnen kann uns keine Reu, Ihn fort und fort bis zu den Schatten, Und geben ihn auch dort nicht frei.« So singend tanzen sie den Reigen, Und Stille wie des Todes Schweigen Liegt überm ganzen Hause schwer, Als ob die Gottheit nahe wär. Und feierlich nach alter Sitte Umwandelnd des Theaters Rund, Mit langsam abgemessnem Schritte, Verschwinden sie im Hintergrund. Und zwischen Trug und Wahrheit schwebet Noch zweifelnd jede Brust und bebet, Und huldiget der furchtbarn Macht, Die richtend im Verborgnen wacht, Die unerforschlich, unergründet, Des Schicksals dunklen Knäuel flicht, Dem tiefen Herzen sich verkündet, Doch fliehet vor dem Sonnenlicht. Da hört man auf den höchsten Stufen Auf einmal eine Stimme rufen: »Sieh da! Sieh da, Timotheus, Die Kraniche des Ibykus!« »Des Ibykus!« ... »Das ist der Eumeniden Macht! Der fromme Dichter wird gerochen, der Mörder bietet selbst sich dar! Ergreift ihn, der das Wort gesprochen, Und ihn, an den’s gerichtet war.«

Auch beim angelsächsischen »Fall-Recht« gibt es zur Schaffung von Rechtssicherheit über den Einzelfall hinaus eine Bindungswirkung, wie sie bei uns durch die Schaffung von Gesetzen angestrebt wird. Die einem Urteilsspruch zu Grunde liegenden grundsätzlichen Erwägungen haben im anglo-amerikanischen Rechtskreis (Großbritannien und die meisten Gebiete seiner früheren Kolonien) für alle weiteren neuen Verfahren so lange Bestand, bis sie in einem neuen Urteilsspruch eines Obergerichtes aufgehoben werden. Die höchste Rechtsmacht hierzu haben die Richter des "House of Lords". Beim »Fall-Recht« schließt man von einem früheren (oft nur ähnlichen) Beispielsfall auf den nun zur Entscheidung anstehenden. Wollen Richter von den Entscheidungsprinzipien eines schon entschiedenen Präzedenzfalles abweichen, weil sie das sich sonst aufdrängende Ergebnis für den anstehenden Fall als unbillig empfinden, so brauchen sie nur "an der »Sachverhalts-Schraube« zu drehen" und zu erklären, dass die Fälle nicht deckungsgleich seien. Dann sind sie in ihrer neuen Entscheidung nicht mehr an die vorausgegangenen Entscheidungserwägungen gebunden. Das schafft eine sehr große Flexibilität! "Freispruch SAD London - Am Weihnachtstag hatte er einen Fasan ‘erlegt' - mit seinem Ford Escort. Deshalb mußte sich Jason Cooper (19) in der Grafschaft Hampshire vor Gericht verantworten. Der Richter ließ Gnade vor Recht walten. Begründung: ‘Das Gesetz, das die Fasanenjagd zu Weihnachten verbietet, bezieht sich auf Waffen, die es 1831 gab.'" (HH A 17.02.94) Dadurch kann eine sehr pragmatische Rechtsanwendung ermöglicht werden, sogar "contra legem" ("gegen das Gesetz"). So wohl auch in dem der vorstehenden Zeitungsmeldung zugrunde liegenden Fall, denn das Gesetz

522

wollte nach teleologischer (auf das Ziel der Strafnorm) gerichteter Auslegung sicher als Bestandsschutzmaßnahme die Jagd auf Fasane als kostenlosen Weihnachtsbraten verbieten, nicht aber den Einsatz (nur) bestimmter Waffen an einem der höchsten christlichen Feiertage. Zur Rechtssicherheit gehört also in diesem Rechtskreis, dass getroffene Einzelfallentscheidungen für gleiche oder ähnliche Fälle Geltung haben, bis sie durch einen neuen Einzelfall-Rechtsakt außer Kraft gesetzt werden. Mit diesem Hintergrundwissen versteht man, dass ein Student einer britischen Universität in den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts, vor rund 25 Jahren also, von seiner Hochschule für den Tag vor seinem Examen einen Liter Bier kostenlos verlangte und auch erhielt, weil er auf eine diesbezügliche Entscheidung aus dem 17. Jahrhundert verweisen konnte. Allerdings wurde ihm gleichzeitig eine Geldbuße von umgerechnet € 20,auferlegt, weil er - entgegen einer (als »Re-Break« wohl schnell ausgegrabenen) Bestimmung aus dem 13. Jahrhundert - zu einer Universitätsfestlichkeit ohne Schwert erschienen war. Seitdem beruft sich kein Student mehr auf die »Bier-Vorschrift«. 20,- € für einen Liter Bier braucht man bisher ja noch nicht einmal bei den happigen Preisen des Oktoberfestes auf der Wies'n für eine Maß zu berappen. Da verging den englischen Studenten der (inzwischen rechtsmissbräuchlich gewordene) Verweis auf die längst obsolet gewordene und vergessene, aber bisher nicht revidierte und damit nach angelsächsischem Rechtsverständnis weiterhin Gültigkeit beanspruchende ca. 300 Jahre alte Entscheidung. Andere Entscheidungen haben aber noch Gültigkeit: "Sark - eine Insel ist gegen Europa afp Sark - Ganz Großbritannien gehört zur Europäischen Union (EU). Ganz Großbritannien? Nein. Ein kleines Volk unbeugsamer Inselbewohner im Ärmelkanal leistet Widerstand. ... `Wir wollen auf unsere Weise weiterleben.' ... Auch sonst ist auf Sark, dieser winzigen Insel 20 Kilometer vor den Küsten der Normandie die Zeit stehengeblieben. Es gibt weder Autos noch Steuern oder Ehescheidungen. Das Amt des Polizisten nehmen die Einwohner abwechselnd wahr. Gesetze, vor Jahrhunderten erlassen, sind noch in Kraft. So ist es verboten, auf Möwen zu schießen, da deren Schreie den vorbeifahrenden Schiffen signalisieren, wo sich ein Riff im Meer befindet. Und seit 1689 ist es den Insulanern untersagt, eine Hündin zu halten. In jenem Jahr hatte nämlich eine solche dem Enkelkind des Gutsherren von Sark in die Hand gebissen." (HH A 21.02.95) Eine jahrhundertealte Entscheidung, an die oder ein jahrhundertealtes Gesetz, an das in England niemand mehr gedacht hatte, kann in unserer Zeit wieder hochbrisant werden. Das bezieht sich auf einen der Lover von Prinzessin Di. Der hatte entgegen der Lebensregel: "Ein Kavalier genießt und schweigt!" seine Schnauze nicht halten können, weil er eben kein Kavalier war. Er hatte seine Erlebnisse für geschätzte 3,8 Millionen Euro an einen Verlag verkauft – und wird seitdem von seinen früheren Regimentskollegen, die ihn ob dieser niveaulosen Plauderei aus dem Regiment warfen, nur noch „die Ratte“ genannt. Dazu heißt es in einer Zeitungsmeldung: "Dianas Doppelleben Reitlehrer enthüllt: Ich war drei Jahre ihr Geliebter ... Seinen neuen Reichtum wird James Hewitt außer Landes genießen müssen. Denn in England könnte ihm die Todesstrafe drohen - so steht es in einem im Jahre 1315 erlassenen Gesetz über Hochverrat, das nach wie vor gültig ist. `Wer sich an der Frau des ältesten Sohnes und Erben des Königs (oder der Queen) vergeht', wird als Hochverräter bestraft. Zwar wurde der letzte Henker in England 1985 in Pension geschickt, doch für zwei Ausnahmen blieb die Todesstrafe bestehen Piraterie und Hochverrat. Ein Verfassungsexperte: `Sex mit der Frau des Thronfolgers gilt als staatsgefährdend, weil die Thronfolge dabei unmittelbar berührt wird.' ... (HH A 04.10.94) Und auch der Thronfolger hat unter so einem altertümlichen Gesetz zu leiden, denn in einer Zeitungsmeldung hieß es: „Morgen wird die Scheidung der 15jährigen Ehe mit Diana (35) rechtskräftig. Nach einem 224 Jahre alten Gesetz bedürfte eine Wiederverheiratung allerdings der Zustimmung des Kabinetts. Der ‘Times‘ zufolge ist es ‘durchaus möglich‘, daß die Regierung ihre Zustimmung verweigern würde.“ (HH A 27.08.96)

523

Beim »Case-Law« kann man ohne Gesetzesänderung eine Zeitgemäßheit der Rechtsprechung auch dadurch erreichen, dass man unzeitgemäße Entscheidungen einfach nicht mehr anwendet und hofft, dass sie in Vergessenheit geraten. Zur Veranschaulichung für die gleiche vorrangige Wertschätzung des Rechtsfriedens vor der materiellen Gerechtigkeit analog zum britischen Strafrecht im us-amerikanischen Recht diene der nachfolgende Fall: „US-JUSTIZ Lynchmord kommt nach 50 Jahren vor Gericht Von Roman Heflik Der Junge hatte etwas getan, was man nicht tun durfte. Zumindest nicht als Schwarzer: Er hatte einer weißen Frau hinterhergepfiffen. Der Junge wurde gelyncht. Seine Mörder wurden freigesprochen. Doch jetzt rollen FBI und Staatsanwälte das Verbrechen an Emmett Till wieder auf. Die Männer kamen in der Nacht. Sie kamen, um sich zu rächen. Um diesem Schwarzen eine Lektion zu erteilen. Um ihn zu töten. Es war der August des Jahres 1955. Ihr Opfer hieß Emmett Till, ein 14-jähriger Junge. Till war aus dem fernen Chicago nach Money, Mississippi, angereist, um seinen Onkel und dessen Familie zu besuchen. Dass hier im tiefen Süden der USA noch andere Gesetze herrschten, dass hier Schwarze vielerorts noch als vogelfreie SklavenNachfahren betrachtet wurden, wusste der Besucher nicht. Was für Konsequenzen es in dieser Gegend haben konnte, aus der Rolle des demütigen Schwarzen zu fallen, davon hatte der Junge keine Vorstellung. Und so hatte sich Emmett Till an diesem Tag wie immer verhalten, so, wie es viele Halbwüchsige seiner Heimatstadt und seines Alters eben taten: fröhlich und ein bisschen respektlos. Als er zum Einkaufen den Laden der Bryants betrat, stieß er beim Anblick der attraktiven weißen Ladeninhaberin, Mistress Bryant, einen bewundernden Pfiff aus. Bryants Ehemann Roy schäumte vor Wut. Till hatte einen jahrhundertealten Verhaltenskodex gebrochen. Vermutlich in der darauf folgenden Nacht drang Roy Bryant zusammen mit seinem Halbbruder J.W. Millam in das Haus der Familie Till ein und schleppten Emmett aus seinem Bett. Draußen schlugen die Männer solange auf den Jungen ein, bis sein Gesicht nur noch ein blutiger Klumpen war. Als die Leiche drei Tage später gefunden wurde, glaubten viele, der Junge habe einen Schuss mit einer Schrotflinte ins Gesicht bekommen. Später berichtete Millam, er habe dem Jungen mit einer Pistole in den Kopf geschossen. In ihrem Blutrausch wickelten die Männer dem sterbenden Kind Stacheldraht um den Hals, befestigten ein Metallgewicht daran und warfen das blutende Bündel in den Tallahatchie River. Drei Tage später fanden Fischer den verstümmelten Körper Die beiden Täter wurden zwar von der Polizei verhaftet; ihnen wurde der Prozess gemacht. Doch bereits während der Verhandlung wurde deutlich, dass der Fall die weißen Zuschauer und den weißen Richter eher amüsierte: Im Zuschauerraum wurde geplaudert und gelacht, auf den für die Weißen bestimmten Plätzen wurden wahre Picknicks veranstaltet. Nach fünf Verhandlungstagen und einstündiger Urteilsberatung kam die rein weiße, männliche Jury zu einem Urteil: unschuldig in beiden Fällen. Dabei hatten die Verteidiger der beiden Mörder die Tat gar nicht abgestritten. Sie hatten erklärt, der Schwarze sei noch nicht tot gewesen, als die Angeklagten ihn in den Fluss geworfen hätten. Grinsend verließen Bryant und Millam das Justizgebäude als freie Männer. Das offensichtliche Versagen der Justiz, selbst grausamste Verbrechen an Schwarzen zu ahnden, löste massive Proteste im Süden der USA aus. So wird der Prozess um Emmett Till oft als die eigentliche Geburtsstunde der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bezeichnet, die sich für die Gleichberechtigung der afroamerikanischen Bevölkerung einsetzte. Drei Monate nach dem Mord machte die Schwarze Rosa Parks Schlagzeilen, als sie sich weigerte, von ihrem für Weiße reservierten Bus-Sitz aufzustehen. Trotz mehrerer Anträge von Tills Mutter sah das US-Justizministerium jahrelang keinen Grund, den Fall oder das Verfahren zu überprüfen. Nach dem Urteilsspruch galten die beiden Halbbrüder als unschuldig und konnten nach dem Gesetz von Mississippi nicht mehr belangt werden - selbst, als Millam sich nach der Verhandlung vor einem Reporter mit seiner Tat brüstete. "Chicago-Boy", habe er dem Kind gesagt, "ich werde an dir ein Exempel statuieren, damit jeder weiß, wo ich und meine Leute stehen." Nun wird die Akte Emmett Till wieder geöffnet - nach fast fünfzig Jahren. Anlass waren Aussagen

524

des Dokumentarfilmers Keith Beauchamp, er habe Hinweise auf weitere Tatbeteiligte. Bei der Recherche für seinen Film "Die nicht erzählte Geschichte von Emmett Louis Till" habe er zahlreiche Augenzeugen befragt. Von ihnen habe er erfahren, dass sich in jener Augustnacht noch sieben andere Männer an der Tat beteiligt hätten. Einige von ihnen sind immer noch am Leben. Daher müsse das Verfahren neu eröffnet werden. Unterstützt wurde Beauchamp bei dieser Forderung von dem Senator Charles Schumer und dem Kongressabgeordneten Charles Rangel aus New York - mit Erfolg. Am Montag gab das Justizministerium bekannt, FBI-Agenten und Bundesanwälte würden in Zusammenarbeit mit den örtlichen Ermittlungsbehörden den Fall neu untersuchen. "Wir schulden es Emmett Till und uns selbst, zu sehen, ob nach all den Jahren zusätzliche Justizmaßnahmen möglich sind", verkündete Alexander Costa, Staatsanwalt der Bürgerrechtsabteilung des Justizministeriums. Die Behörden von Mississippi sind darum bemüht, die Scharte von damals wieder auszuwetzen: "Wir freuen uns, dass dieser ewige Alptraum dank der Zusammenarbeit von Bundes- und Landesbehörden untersucht werden kann", antworte Joyce Chiles, zuständiger Staatsanwalt des Bezirks Mississippi, auf die Anfrage aus Washington. Diese Kooperation war es, die die Strafverfolgung überhaupt erst möglich gemacht hat: Denn nach US-Bundesrecht sind die Taten längst verjährt - nicht jedoch nach den Gesetzen des Staates Mississippi. Anders als ihre mutmaßlichen Kumpane müssen die beiden Haupttäter indessen keine Strafe mehr fürchten: Millam starb 1980, sein Halbbruder Roy zehn Jahre später.“ (Spiegel online Mai 04; ?)

2.10.7 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im Kirchenrecht der katholischen Kirche am Beispiel des Falles Kurie gegen Galilei Verstärkte Rechtssicherheit zu Lasten der Wahrheit im katholische n Kirchenrec ht

Nach diesem Prinzip der verstärkten Rechtssicherheit verfährt auch die katholische Kirche gerne, die z.B. das jahrhundertelang nicht aufgehobene Urteil gegen Galilei mit der Verdammung des von dem (katholischen) ostpreußischen Domherrn Kopernikus (wieder-)begründeten heliozentrischen Weltbildes zu gerne hätte in Vergessenheit geraten lassen. Ihr religiös gewollter Irrtum (der Mensch sei die Krone von Gottes Schöpfung und müsse darum auch im Mittelpunkt des Weltalls stehen) war aber zu schwerwiegend und wurde ihr immer wieder vorgehalten. Darum bot sie 1968 auf der Tagung der Nobelpreisträger auf der Insel Mainau der dort versammelten wissenschaftlichen Elite der Welt an, sich nach über 300 Jahren zunächst des Irrens und dann des Zögerns nunmehr auch zu der richtigen Weltsicht zu bekennen, dass die Erde keine flache Scheibe im Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern eine ein bisschen birnenförmige Kugelgestalt hat und in einem nur am Rande unseres riesigen Milchstraßensystems gelegenen Teil des unendlich(?), aber auf jeden Fall unvorstellbar großen Weltalls mit vielen anderen Milchstraßensystemen, die an einigen Punkten ähnliche Lebensbedingungen wie auf unserer Erde aufweisen könnten, als kleiner Planet um eine der vielen Milliarden Sonnen kreist. Die Nobelpreisträger hielten sich mit der an sie ergangenen Offerte des offiziellen Nachvollziehens von inzwischen zu Binsenweisheiten gewordenen wissenschaftlichen Erkenntnisses durch die katholische Kirche aber nicht auf. Erledigt war die Angelegenheit damit jedoch nicht. Der Papst machte 1980 den Vorschlag, das gegen Galilei ergangene Urteil überprüfen zu lassen. Die katholische Kirche überraschte dann ausgerechnet am Reformationstag des Jahres 1992 die Weltöffentlichkeit mit der von ca. 1979 an 13 Jahre lang betriebenen Aufhebung des gegen Galilei am 22.06.1633 gefällten Urteils und der Rehabilitierung des von Kopernikus' Überlegungen beeinflussten italienischen Gelehrten. So endete dieser Versuch, eine dem mittelalterlichen katholischen Glaubensverständnis als entgegenstehend empfundene Grundwahrheit der Physik mit den Mitteln des Kirchenrechts in Kirchenprozessen zu unterdrücken. Weil dieser 359 Jahre dauernde Prozess des Umdenkens für das katholische Verständnis von Kirchenrecht sehr aufschlussreich ist und er darüber hinaus als Beispiel für religionsunterfütterte Juristerei gelten kann, die es auch in unserer Zeit noch gibt, wenn es – wie insbesondere beim therapeutischen Klonen, der Abtreibung oder der Beendigung des Lebens durch „aktive Sterbehilfe“ – um »letzte«, religionsbasierende oder philosophische

525

Wertentscheidungen geht, sei er hier in seinen wesentlichen Punkten nachgezeichnet1: Galilei war vor dem Urteil von 1633 schon 1615/16 in dem ersten gegen ihn gerichteten Inquisitionsprozess zum Schweigen verurteilt worden, nachdem die Geistlichen von allen Kanzeln Italiens gegen den „Mathematiker“ und das von ihm vertretene Weltbild gewettert hatten. Der entscheidende Kardinal des Inquisitionsgerichts hatte sich sowohl gegen Galileis in seinen Ansichten über den „Atomismus“2 zum Ausdruck kommende, von dem Kardinal so verurteilte „Blasphemie“ wie auch gegen das von Galilei als Naturwissenschaftler aber eben theologischer Laie beanspruchte Mitspracherecht in Fragen der Auslegung der Bibel verwahrt. Das besser in das katholische Lehrgebäude passende geozentrische Weltbild – leider trotz der 1522 beendeten ersten Weltumsegelung sogar noch mit dem weiteren Irrtum der Vorstellung von einer Scheibenform der Erde behaftet - sollte weiter ungestört Bestand haben! Die von zunächst Kopernikus und dann Galilei vertretene Lehre von der kreisförmigen(!) Umlaufbahn der Erde um die Sonne dürfe höchstens den Rang eines mathematischen Modells einnehmen, das aber keineswegs mit der Wirklichkeit übereinstimmen müsse – und wegen der angenommenen kreisförmigen Bewegung auch nicht übereinstimmte, das hatten die Jesuiten schnell festgestellt. Die kontrollierenden Berechnungen zeigten, dass in dem Modell irgendwo ein Fehler stecken müsse, weil die Planeten an anderen Stellen auftauchten, als es nach der angenommenen Kreisbahn hätte sein müssen. So musste Kopernikus trichterförmige »Strudel« in die Bahnen der Planeten denken, um sein System irgendwie zu retten. Als Arbeitshypothese wurde das heliozentrische System zugelassen, nicht aber als bewiesene Wahrheit, da weder Kopernikus noch Galilei einen die Kirche überzeugenden, unwiderleglichen Beweis beigebracht hatten: Insbesondere die Berechnungen der von Kopernikus als kreisförmig angenommenen Bahnen der Planeten um die Sonne deckten sich wie gesagt nicht mit den Beobachtungen – weil erst Keppler auf die richtige Idee kam, elliptische Umlaufbahnen anzunehmen. Nach Meinung der katholischen Kirche konnten die kopernikanischen Theorien von Galilei höchstens als mathematisches Modell betrachtet werden. Galilei fügte sich der Meinung der Mutterkirche, obwohl er der Auffassung war, „die Bibel zeige den Weg zum Himmel, nicht die Wege des Himmels“3 und er sich als neuen, geistigen Kolumbus sah, der der Welt eine neue Weltsicht vermitteln müsste. Kopernikus’ Werk „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ wurde 1616 auf den Index gesetzt – aus dem es laut Prause4 nach einigen Korrekturen schon 1620, laut Strathern erst 1835 wieder gestrichen wurde -, und das kopernikanische System wurde in einem Dekret des Heiligen Offiziums aus ebenfalls dem Jahre 1616 als „falsch und in allen Punkten der Heiligen Schrift widersprechend“, als „töricht und absurd“ verurteilt. Das dann 1633 gegenüber Galilei ausgesprochene Verbot lautete dahingehend, die als „ketzerisch“ bezeichneten kopernikanischen Theorien fernerhin weder mündlich noch schriftlich zu diskutieren, da sie im Widerspruch zu der von der damaligen Auslegung der Bibel durch die katholische Kirche vermittelten Weltsicht standen, der zufolge die Erde – selbst nach der mehr als hundert Jahre zuvor durch den in spanischen Diensten stehenden Portugiesen Magellan begonnenen und nach dessen Tod auf den Philippinen von einem seiner Offiziere vollendeten Weltumrundung - eine von Ozeanen umflossene Scheibe sei, um die sich alle Himmelskörper drehten. „Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen“ (Friedrich Nietzsche). Die katholische Kirche behauptete mit diesem Prozess für die europäische Gelehrtenwelt ein letztes Mal ihr Monopol auf Wissen, wie sie es das gesamte Mittelalter über innegehabt hatte: Im Mittelalter hatte es in Europa ausschließlich eine auf den – teilweise sehr verqueren5 - Ansichten des Aristoteles fußende kirchliche Wissenschaftslehre gegeben! Wer auf Grund von genauen naturwissenschaftlichen Beobachtungen damit nicht übereinstimmte und dabei kirchliche Dogmen streifte, wurde mit kirchenrechtlichen Mitteln verfolgt, zur Rettung des kirchlichen Wissenschaftsmonopols notfalls auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

1

Vgl. hierzu u.a. Strathern, P.: Galilei & das Sonnensystem, woraus einige der nachfolgenden Zitate entnommen sind, und Prause, G.: Niemand hat Kolumbus ausgelacht. 2 Die nach dieser Lehre behauptete Zusammensetzung von Brot und Wein aus Atomen wurde kirchlicherseits rundweg abgelehnt, weil bei einer solchen Sicht der Dinge sich beim Abendmahl nicht Brot und Wein zu Fleisch und Blut Jesu verwandeln könnten und somit ein Verstoß gegen das Dogma der Eucharistie (= heilige Abendmahlslehre als Sakrament und Zentrum der katholischen Lehre und Frömmigkeit) vorläge. 3 Strathern, Paul: Galileo & das Sonnensystem, S. 79 4 Prause, G.: Niemand hat Kolumbus ausgelacht, 1988, S. 177 5 Aristoteles lehrte u.a. auch, dass die tropische Zone wegen ihrer Hitze nicht bewohnbar sein könne: die Erde sei dort schwarz und verbrannt und das Meer sirupartig verdickt, so dass die Schiffe stecken bleiben und die Menschen verbrennen müssten (Prause: Niemand hat Kolumbus ausgelacht, S. 61).

526

Zur Prozessvorgeschichte: Circa 70 Jahre vor diesem ersten Prozess gegen Galilei von 1615/16 hatte der Allensteiner Domherr Kopernikus6 (1473-1543) 30 Jahre lang gezögert, sich mit seiner völlig anders lautenden, auf den Beobachtungen und Schlussfolgerungen des Pythagoras (ca. 580-500 v.Chr.), der die Erde als im Raum schwebende Kugel gesehen hatte, des Aristarch von Samos (ca. 310-230 v.Chr.) und des Eratosthenes7 (ca. 275214 oder 195 v.Chr.) fußenden heliozentrischen philosophischen Theorie über den Aufbau des Weltalls und die Beziehung der Gestirne zueinander als Teil von Gottes Schöpfung vor der wissenschaftlichen Elite seiner Zeit eventuell lächerlich zu machen. Zu fest hing die geistige Elite Europas dem 1.500 Jahre zuvor in Ptolemäus’ Hauptwerk „Almagest“ begründeten geozentrischen Weltbild an, das auf den Ansichten Platons und seines für die Geistesgeschichte des Mittelalters überragenden Schülers Aristoteles, des so empfundenen Vaters der Logik, und dessen in einem geschlossenen Lehrgebäude zusammengefassten Lehren fußte. Nach Aristoteles befand sich die Erde im Zentrum des Universums und um sie kreisten 56 kristallene Sphären, auf denen die Sonne, Mond und Sterne und die Planeten ihre Kreisbahnen zogen, weil Kreisbahnen von ihm als vollkommenste aller Bewegungen angesehen wurden. Weil Aristoteles’ Lehren als unbezweifelbar wahr angenommen wurden, musste alles so erklärt werden, dass es zu seinen Lehren keinen Widerspruch gab. (Allerdings wurde von der 6

Nikolaus Kopernikus (geb. 19.02.1473 in Thorn, gest. 24.05.1543 in Frauenburg) studierte in Krakau, Bologna und Padua Rechtswissenschaften, alte Sprachen, Medizin und Astronomie. Nach seiner Ausbildung kehrte er nach Frauenburg/Ostpreußen zurück. Sein Onkel, Lukas Watzenrode, der nach dem frühen Tod von Kopernikus’ Vater die Ausbildung seines Neffen in die Hand genommen hatte, war der Bischof vom Ermland (1488-1512), einem der drei selbstständigen kirchlichen Gebiete im Ordensland Preußen, das nicht dem Hochmeister des Ritterordens, sondern der Kirche als ihr Anteil an der Eroberung des Prußenlandes durch den Deutschritterorden dafür vom Hochmeister zugestanden worden war, dass der Papst – neben dem deutschen Kaiser - die Selbstständigkeit der geplanten Eroberung und Christianisierung des Landes abgesegnet hatte. Kopernikus selbst war Domherr in Frauenburg (ab 1510) und Allenstein, und nach den Regeln des jeweiligen Konvents durften ausschließlich Deutsche diese Positionen einnehmen. Als die deutschen Bürger des Ordenslandes Preußen 200 Jahre nach der Gründung des Ordensstaates gegen den Hochmeister des Ritterordens und seine Ritter rebellierten, riefen sie landesverräterisch den polnischen König gegen ihren eigenen Landesherrn zu Hilfe. Der Orden unterlag. In den beiden Thorner Frieden von 1410 und 1466 erzwang das polnische Königtum die Oberhoheit über den Ordensstaat Ostpreußen. Damit waren die Deutschen des Ordenslandes aber keine Polen, Kopernikus kein Pole, wie in vielen insbesondere ausländischen Lexika ungenau geschrieben steht. Die Deutschen waren 194 Jahre (bis 1660) vom polnischen Königtum lehensabhängige Deutsche. Beanspruchten die Polen, Kopernikus als einen Polen ausgeben zu dürfen, so gleicht das einem Schuss in die eigene Pulverkammer, mit dem nationaler Selbstmord begangen wird: Nach der Dritten polnischen Teilung 1795 – in J. Hartmann „Das Geschichtsbuch“ steht: „Ende des alten polnischen Reiches, nicht ohne Schuld seiner herrschenden Kreise“ – hörte Polen bis nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 auf, als Staat überhaupt zu existieren. Nach ahistorischer, nationalistischer Betrachtung kann es dann nach 123 Jahren rein biologisch keine Polen mehr gegeben haben, so dass es heute keine Polen gäbe, die Kopernikus für sich – unberechtigt – als Polen vereinnahmen könnten. Es ist also ein juristisches Problem, sauber zu definieren, wer zu welchem Volk gehört. Entscheiden sollte, wem sich jemand zugehörig fühlt(e), in welcher Sprache er gesprochen, in welcher kulturellen Tradition jemand denkt, oder gedacht hat. Und das war bei Kopernikus ganz eindeutig: Kopernikus war Deutscher, der sich in Selbstzeugnissen nie als Pole bezeichnet hat! 7 Nach einer Quelle („Vom Faustkeil zum Laserstrahl – Die Erfindungen der Menschheit von A-Z“) hörte der Universalgelehrte Eratosthenes, Leiter der bedeutendsten Bibliothek des Altertums in Alexandria, eines Tages, dass es in Syene (Assuan) eine Säule gebe, die um die Mittagszeit keinen Schatten werfe. Das deckte sich nicht mit seinen Beobachtungen in Alexandria. Und das brachte ihn zum Nachdenken, da beide Städte genau in Nord-Süd-Richtung (und damit auf dem gleichen Längengrad) lagen. Für ihn war aus der Beobachtung von auf dem Meer im Gesichtsfeld auftauchenden Schiffen, von denen man zunächst die Segel und dann erst den Rumpf sah, von Mondfinsternissen, die immer einen durch den Erdschatten hervorgerufenen Kreis auf dem Mond abbildeten und weil der Polarstern im Süden am Himmel niedriger steht als in den nördlichen Breiten, klar, dass die Erde eine Kugel sei. Aus der unterschiedlichen Stellung des Polarsterns am Himmel in Ägypten und Griechenland hatte er schon versucht, den Erdumfang zu berechnen. Nun kam die Beobachtung der unterschiedlichen Schatten der Säulen in Assuan und Alexandria wie gerufen: Da die Sonne unendlich weit weg war, mussten ihre Lichtstrahlen an beiden Orten parallel auf die Erde treffen. Wäre die Erde eine Scheibe, müssten beide Säulen zur gleichen Mittagszeit gemessen keinen Schatten werfen. Im 890 km entfernten Alexandria maß er aber einen Winkel zwischen den Sonnenstrahlen und der Säule von 7,2°, also ein Fünfzigstel eines Vollkreises. Weil er um die Gesetzmäßigkeit von Wechselwinkeln wusste, mussten die Verlängerungen der beiden Säulen zum Erdmittelpunkt hin dort ebenfalls einen Winkel von 7,2° bilden, und das bei einer Entfernung der beiden Säulen von in griechischen „Stadien“ gemessenen 890 km. Wenn 7,2° ein Fünfzigstel des Kreisumfanges von 360° ausmachen und das auf der Erdoberfläche 890 km entsprach, dann musste der gesamte Erdumfang 890 km x 50 sein. So errechnete Eratosthenes den Erdumfang als erster auf 44.500 km – und lag damit um nur 11% neben dem richtigen Wert. [Prause gibt in „Niemand hat Kolumbus ausgelacht“ den von Eratosthenes berechneten Erdumfang sogar mit 39.690 km an.] Alle diese Beobachtungen, die sich daraus ergebenden Berechnungen und deren Ergebnisse konnten von jedem Wissenschaftler nachvollzogen werden. Das sich daraus ergebende heliozentrische Weltbild mit einer sich in Kugelgestalt um die Sonne drehenden Erde passte aber der katholischen Kirche nicht in ihre Glaubensüberzeugungen und wurde darum notfalls mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bekämpft!

527

katholischen Kirche nicht übernommen, dass sowohl Aristoteles wie auch Ptolemäus auf Grund ihrer Beobachtung von Mondfinsternissen wegen des kreisrunden Erdschattens von einer Kugelgestalt der Erde ausgingen!) Ptolemäus ( ca. 100-170 n.Chr.) schaffte – trotz der schon von Aristoteles auf Grund der Beobachtung des runden Erdschattens bei Mondfinsternissen und des Auftauchens von Segelschiffen auf dem Meer mit zuerst den Segeln angenommenen und in seiner Schrift „Vom Himmel“ publizierten Kugelgestalt der Erde - mit seinem von ihm kreierten geozentrischen Weltbild annähernd eine Übereinstimmung mit Aristoteles’ Lehre, und darum wurde wegen der notfalls mit der Drohung mit dem Fegefeuer durchgesetzten Deutungshoheit der katholischen Kirche bis in die beginnende Neuzeit von der Allgemeinheit geglaubt, wie die katholische Kirche die Erde und ihre Stellung im Universum gesehen haben wollte: Die von den Menschen als der Krone von Gottes Schöpfung bewohnte Erde, eine flache Scheibe, sei der Mittelpunkt eines, wie von Aristoteles beschrieben, unveränderlich anzunehmenden Planetensystems, das um diesen Mittelpunkt kreise. Zu den auf dem Mittelpunkt des Universums wohnenden Menschen als der Krone der Schöpfung habe Gott seinen Sohn geschickt, damit die Menschen durch seinen Kreuzestod von der Ewigen Verdammnis erlöst würden. Um diesen Mittelpunkt wären Sphären gebildet, in denen die einzelnen Planeten um die Erde laufen würden. Es wurden fünf Sphären für je einen der damals bekannten weil mit dem bloßen Auge wahrnehmbaren fünf Planeten - die Planetoiden sowie die Planeten Uranus (1781), Neptun (1846) und Pluto (1930), waren ohne Fernrohr nicht zu entdecken und deshalb nicht mit eigenen Sphären zu berücksichtigen gewesen, wobei manche Astronomen den Pluto schon nicht mehr zu den Planeten, sondern wegen seiner anders geneigten Umlaufbahn und wegen seines im Gegensatz zu den anderen gasförmigen äußeren Planeten festen Aufbaus zu einem Teil des Kuiper-Gürtels zählen, und noch unsicherer ist man sich bei dem oder der 2004 entdeckten Sedna, der/die vielleicht weder zu den Planeten oder dem Kuiper-Gürtel, sondern schon zu der Oortschen Wolke gehört, die hohlkugelförmig unser Sonnensystem umschließt - angenommen, dann weitere Sphären für die Sonne und den Mond, die ebenfalls als Planeten gewertet wurden. Die entfernteste Sphäre sei für die Umlaufbahn der immer in der gleichen Position zueinander bleibenden, aber ihre Stellung im Laufe der Nacht am Himmel verändernden Fixsternen. Aristoteles empfand die Sterne als „goldene Nägel am Himmelsgewölbe“. Und über allem war der Himmel als der Platz Gottes, darunter die Hölle als das Reich Satans. Als Galilei von der Entwicklung eines Fernrohres hörte, setzte er die ihm mitgeteilte Grundidee des »holländischen Fernrohrs« in eine eigene Entwicklung um, die am häufigsten noch immer Grundlage unserer Operngläser ist. Mit diesem von ihm „Teleskop“ genannten verbesserten Fernrohr beobachtete er den Nachthimmel – und sah die ersten vier der bis jetzt 61 entdeckten Jupitermonde. Ihre frühere Entdeckung hätte das apodiktisch für unveränderlich gehaltene, auf Aristoteles’ Ansichten basierende ptolemäische Planetensystem gesprengt. Die (angebliche, geradezu ins Auge springende) »Richtigkeit« dieses ptolemäischen Planetensystems mit der Erde (bei Ptolemäus allerdings in Kugelform!) im Mittelpunkt, um die alles kreist, konnte doch jeder in Ebenen oder am Meer sehen: dass die Erde vom Prinzip her »gerade« war, auch wenn sich hier und dort Berge erhoben, und dass die Sonne morgens am östlichen Horizont aufstieg und abends am westlichen Horizont unter die Erdscheibe rutschte. Durch seine »heliozentrische Theorie« befreite Kopernikus den Geist der Menschen in Europa auf dem Gebiet der Astronomie und der damals als Schwesterwissenschaft angesehenen Pseudowissenschaft, der Stiefschwester Astrologie, aus dem Kerker des von Dämonen(irr)glauben, Hexenwahn und dem (Irr-)Glauben an die Mittel der Inquisition zur Rettung der menschlichen Seele vor der ewigen Verdammnis geprägten dämonisch-mittelalterlichen Denkens, mit dem z.B. bei einer Sonnenfinsternis während Kopernikus’ Studienaufenthalt in Italien auf den ganz offensichtlich angebrochenen Weltuntergang geschlossen worden war. Diese »kopernikanische Wende« im Bereich der Astronomie mit ihren Auswirkungen auf insbesondere die Theologie, Philosophie Physik und Mathematik im europäischen Denken eingeleitet zu haben, ist sein immer währendes Verdienst in der Geistesgeschichte der Menschheit. Dass andere Griechen scharfsichtig beobachtet hatten, dass von sich aus größerer Entfernung nähernden Schiffen zunächst nur der Mast zu sehen ist, dann die Aufbauten und zum Schluss der Rumpf, was einige von ihnen, insbesondere den Inselbewohner und somit Meeresanrainer Aristarch von Samos, scharfsinnig auf eine Kugelgestalt der Erde schließen ließ, störte die Kirche Jahrtausende und die Gelehrten Europas nicht: Aristoteles habe es anders gesagt (eine glatte Verfälschung der Lehre des Aristoteles, da der ja auch von einer Kugelgestalt der Erde ausgegangen war!). Und eine größere geistige Autorität als Aristoteles gab es in der Geisteswelt des europäischen Mittelalters nicht. Doch jetzt hatte Galilei die Jupitermonde entdeckt, die außer ihm zunächst kein anderer sehen konnte, da nur er über ein so leistungsstarkes Teleskop verfügte, dass er sie beobachten konnte. Und er stellte fest, dass sich die Monde des Jupiter genau so um diesen Planten drehten, wie der Erdtrabant Mond die Erde umkreist. Diese Entdeckung hatte weitreichende Konsequenzen, denn damit hatten sich die das ganze Geistesleben des Mittelalters prägenden Ideen des Aristoteles als falsch erwiesen, der ja behauptet hatte, dass es keine anderen

528

Himmelskörper gebe, als die von ihm beschriebenen, und dass sich alles, wirklich alles um die Erde drehe. Doch die Jupitermonde drehten sich ganz eindeutig nicht um die Erde, sondern um den Jupiter! Also musste das auf den Ansichten des Aristoteles fußende ptolemäische Weltbild falsch und das des Kopernikus, von dem Galilei als Wissenschaftler gehört hatte, richtig sein! Als Galilei dann noch feststellte, dass die Venus - wie der Mond von der Erde betrachtet ein sich phasenweise veränderndes Erscheinungsbild aufwies, das sich nur dadurch erklären ließ, dass die Umlaufbahn der Venus als um die Sonne gehend angenommen wurde, war er von der Richtigkeit der kopernikanischen Überlegungen überzeugt – und völlig unduldsam denjenigen gegenüber, die seine Meinung nicht zu teilen bereit waren, obwohl Beobachtungen und Berechnungen das System des Kopernikus’ mit der für die Planeten angenommenen Kreisbahn als auch nicht stimmig erwiesen. Dabei waren die Lehren des Aristoteles über die Unveränderbarkeit der Gestirne in den Himmelssphären schon 1572 dadurch erschüttert worden, dass im Sternbild der Cassiopeia als Supernova ein stark leuchtender Stern aufgetaucht war, der die Theorie vom unveränderlichen Fixstern-Himmel für jeden sichtbar widerlegt hatte; 1576 hatte Tycho Brahe nachgewiesen, dass Kometen Geschosse sind, die durch das ganze Planetensystem fliegen und 1577 war dann ein bis dahin unbekannter Komet beobachtet worden: Aristoteles war damit für jeden Fachmann, der sich seinen Geist und sein kritisches Denken nicht von der katholischen Kirche hatte vernebeln lassen, widerlegt. Erst auf Aufforderung der in solchen Dingen stets hellhörigen, über Kopernikus’ Forschungsvorhaben im Grundsätzlichen wohlinformierten und an deren genauen Ergebnissen interessierten Kurie – der Papst-Vertraute Kardinal Schönberg hatte ihn aufgefordert, „der gelehrten Welt“ seine Entdeckungen „mitzuteilen und mir sobald wie möglich deine Theorien über das Universum zu senden“8 - hatte Kopernikus damals begonnen, die Verbreitung seiner heliozentrischen Theorie unter den Wissenschaftlern durch deren Publikation in Angriff zu nehmen. Den - mit einer Widmung für Papst Paul III. versehenen - fertigen Druck seiner (bezüglich der von ihm wegen Aristoteles Lehre noch als kreisförmig angenommenen und 1609 in „Astronomia nova“ veröffentlichten Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne nur grundsätzlich richtigen, erst von Kepler als elliptisch richtig berechneten) astronomischen Entdeckungen und Erkenntnisse hielt Kopernikus erst auf seinem Sterbebett 1543 in seinen Händen. So lange hatte er die Veröffentlichung seiner ihn zur Theorie eines heliozentrischen Weltbildes führenden Beobachtungen und Erkenntnisse hinausgezögert, weil er seine Theorie auf Grund seines Irrtums über die angenommenen Kreisbahnen der Planeten letztlich nicht beweisen konnte; die beobachteten Planetenbahnen widersprachen seiner (Kreisbahn-)Theorie, und er konnte diesen Widerspruch nicht auflösen. Die darauf folgenden 70 Jahre bis zu dem ersten Prozess gegen Galilei unternahm die Kirche nichts gegen die neue Lehre, da sie ja nur unter Wissenschaftlern, u.a. bei den hochgebildeten Jesuiten, diskutiert, nicht aber unter »das Volk« gebracht wurde. Außerdem hatte Kopernikus sein Werk dem Papst gewidmet: das schützte sein Buch zunächst davor, auf den Index gesetzt zu werden. So lange »das Volk« die alte, der Kirche sehr zusagende ptolemäische Lehre von der Erde als Mittelpunkt der Schöpfung Gottes, um die sich alles drehe, glaubte und in diesem Glauben nicht irritiert oder gar gestört wurde, hatte die Kurie keinen Grund zum Einschreiten gesehen. Als diskussionswürdige Arbeitsgrundlage für weitere wissenschaftliche Erörterungen zur zu suchenden Erklärung der Diskrepanz zwischen dem offiziellen, auf Ptolemäus’ Annahmen basierenden Lehrgebäude und damit nicht übereinstimmenden astronomischen Beobachtungen und Berechnungen wurde die neue Theorie hingenommen, nicht aber als endgültige, nach dem Selbstverständnis der allumfassenden katholischen Kirche nur von ihr autorisiert verkündbare Wahrheit. Papst Urban VIII. war Galilei als dem berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit so weit entgegengekommen, dass er das von Galilei mit Vehemenz vertretene heliozentrische System als unter einem bestimmten Aspekt für wahr annehmen zu lassen bereit war, wenn es nur als Hypothese erörtert, alles Theologische weggelassen und nicht für absolut wahr erklärt werde, da ja halt noch ein schlüssiger Beweis fehlte und die durch die angenommene Kreisbahn der Planeten sich ergebenden Unstimmigkeiten nicht erklärt werden konnten. Das schaffte erst Kepler dadurch, dass er für die Planeten deren elliptischen Umlaufbahnen um die Sonne entdeckte und berechnete. Die schon von dem Griechen Aristarchos von Samos im 3. Jahrhundert v. Chr. geäußerte Ansicht, dass die Erde, wie die anderen Planeten auch, um die eigene Achse kreise und sich dabei auf einer Kreisbahn um die Sonne bewege, diese erneute Beobachtung des Kopernikus veränderte die Sicht auf die Stellung der Erde im Universum und damit die Stellung des Menschen im Kosmos der alttestamentarisch im Buch Genesis geschilderten Weltschöpfung. Die christliche Kirche fühlte sich herausgefordert, weil nach ihrem Selbstverständnis das Heilsgeschehen der die Menschen von ihrer Erbsünde erlösenden Geburt Jesu nur im Zentrum der Welt sich ereignet haben könne! 8

Vgl. zu den Ausführungen über „Kopernikus“ und „Galilei“ Lauer, Pat: Das Ei des Kolumbus und andere Irrtümer 350 populäre Halbwahrheiten richtiggestellt, München 2000

529

Als Galilei mit seinem Teleskop die Jupitermonde entdeckt hatte und so an dem Beispiel ihrer Bahnen um den Planten Jupiter die Grundannahme des von Kopernikus begründeten heliozentrischen Planetensystems bestätigt fand und darüber auch für die Öffentlichkeit(!) publizierte, waren im Zuge des ersten Galilei-Prozesses, u.a. auch auf Betreiben seiner wissenschaftlichen Neider an den Universitäten von Bologna, Pisa und Padua und der Jesuiten, die – trotz der zwischenzeitlich 1609 veröffentlichten ersten beiden Keplerschen Gesetze über die (im Gegensatz von Aristoteles und auch noch Kopernikus als kreisförmig angenommene) elliptischen Planetenbewegungen - weiterhin der alten ptolemäischen Lehrmeinung anhingen, die in sechs Büchern zusammengefassten „De revolutionibus orbium coelestium libri VI“ des Kopernikus 1616 indiziert worden. Sie kamen so in den dem einfachen gläubigen Volk verschlossenen geistigen Giftschrank, der - unter Androhung von bis zur ewigen Verdammnis reichender Kirchenstrafe für einen Katholiken bei Zuwiderhandlung - nur mit Erlaubnis der obersten kirchlichen Autorität geöffnet werden darf. Erst 1757 wurde Kopernikus’ Werk wieder aus dem „Index“ (der „librorum prohibitum“, der Bücher, die zu lesen einem Katholiken bis heute verbindlich verboten sind, wobei ein Verstoß hiergegen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts schwere Kirchenstrafe für einen unbotmäßigen Gläubigen nach sich zog) gestrichen. Erstaunlich ist, dass die Kirche so vehement die neue Weltsicht bekämpfte, denn die Kugelgestalt der Erde war Mitte des 15. Jahrhunderts unter den führenden Kartographen Europas und den Wissenschaftlern, die Berührung mit den maurischen Universitäten auf der iberischen Halbinsel hatten und so die erhalten gebliebenen, ins Arabische übertragenen antiken Quellen mit den Ansichten des Aristarch von Samos und des Eratosthenes kannten, schon keine Frage mehr: man war sich nur nicht einig, wie groß der Kugelumfang sei, ob die küstenfern zurückzulegenden Distanzen bei der schlechten Speicherungsmöglichkeit und eventuell nur notdürftigen Versorgung mit Trinkwasser und Verpflegung logistisch überbrückbar seien. Aber nur auf Grund der angenommenen Kugelgestalt der Erde waren die Entdeckungsfahrten der Portugiesen und der Spanier in die Wege geleitet worden, um auf einer Westroute über den Atlantik an die Schätze Indiens, Chinas und Japans und an die teilweise mit Gold aufgewogenen Gewürze zu gelangen, nachdem der in dänischen Diensten stehende Hildesheimer Pining 1473 Nord-Amerika (folgenlos) neu entdeckt hatte: Vom Gedanken der Kugelgestalt der Erde ausgehend war der in spanischen Diensten stehende Italiener Kolumbus 1492 nach Mittelamerika gelangt – was noch kein endgültiger Beweis für die Kugelgestalt der Erde war, denn (Mittel-)Amerika konnte ja auch auf einer »Scheibe« erreichbar sein – und der Portugiese Magalhaes/Magellan 1519 in spanischen Diensten zu der ersten Weltumseglung gestartet, die 1522 von einem seiner drei Schiffe beendet worden war; ohne vom »Scheibenrand« heruntergefallen zu sein! Der Kapitän des zurückgekommenen Schiffes trug später als ehrenden Schmuck ein Abbild der Erdkugel mit den Worten: „Ich habe sie umrundet.“ Kopernikus löste das Problem des einen Tages, den man gewinnt, wenn man die Erde in östlicher Richtung umrundet. Alles das war nur auf der Basis des anderen als des kirchlichen Weltbildes möglich gewesen. Und nun wurde Galilei 93 Jahre nach der 1522 gelungenen ersten Weltumsegelung von der katholischen Kirche 1615 der erste und dann 111 Jahre nach der ersten Weltumsegelung zum zweiten Mal 1633 ein Prozess vor dem Inquisitionsgericht gemacht, damit die katholische Kirche mit der von ihr weiterhin beanspruchten Definitionsmacht mit den Mitteln des bis zur Verbrennung bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen reichenden Kirchenrechts ihr falsches Weltbild als von allen Gläubigen anzuerkennendes Recht durchsetze: Die in Scheibenform zu denkende Erde stelle das Zentrum des Weltalls dar, um das sich alle Planeten – auch die als Planeten geglaubten Gestirne Sonne und Mond - und Fixsterne drehen. Punktum. „Roma locuta, causa finita.“ („Rom hat gesprochen, und damit ist die Sache letztgültig entschieden!“) Nun im zweiten Inquisitionsprozess 1633 wurde Galilei wegen der Veröffentlichung seines ersten Hauptwerkes "Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme" und dem darin gegen die damalige europäische Geisteselite unternommenen Versuch, die alleinige Richtigkeit des heliozentrischen Weltbildes gegenüber dem von ihm als „grundfalsch“ bezeichneten geozentrischen zu verteidigen, und wegen des 1632 veröffentlichten Buches „Saggiatore“ („Prüfer mit der Goldwaage“) wegen Ungehorsams und Ketzerei auf der Grundlage des Kirchenrechts angeklagt. Der Ungehorsam bestand darin, dass er gegen die 1616 im ersten Prozess ergangene Auflage, sich jeglicher Äußerung über das kopernikanische System zu enthalten, mit seinen publizierten Büchern verstoßen hatte. Sein letztes Buch war in der Form eines Streitgespräches geschrieben und legte seine philosophischen Ansichten über die Materie in einer Art und Weise dar, dass es noch 300 Jahre später Einstein beeindruckte. Galilei widmete es dem Papst Urban VIII. und erhielt die Druckerlaubnis. Auch für den "Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische", wieder ein Streitgespräch, lag in der Form des Imprimatur (lat.: „Es möge gedruckt werden“) der päpstlichen Zensurbehörde eine Druckerlaubnis der Kurie vor. Den Jesuiten behagte das Buch aber nicht, weil darin die Ansichten ihres geistigen Vaters Aristoteles durch die Einwendungen eines von Galileos anderen Personen lächerlich gemachten Simplicio angegriffen wurden. Und Lächerlichkeit kann gesellschaftlich töten.

530 Die Jesuiten äußerten gegenüber dem für die Wissenschaften aufgeschlossenen Papst, „Galileis »Dialog« schade der Kirche mehr und leiste mehr für die Protestanten als Luther und Calvin zusammen“9. Und dabei hatte Galilei seine Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, die die Bedeutung der Erde im Universum weiter schrumpfen ließ. Galilei war noch von nur einem Sonnensystem ausgegangen. Erst der Freigeist Kant, der das europäische Denken wesentlich erweiterte und insbesondere eine Moral ohne Religion begründete, erklärte 1755, dass sich alle Sternensysteme ständig um einen unbekannten Mittelpunkt drehen, unser Milchstraßensystem nur eines der unzähligen Sonnensysteme sei. Als die Jesuiten in dem Prozess gegen Galilei auch noch nachwiesen, dass der es sich nicht hatte verkneifen können, dem in seinem Buch als Figur eingesetzten Simpel Simplicio sehr unfein - und sehr ungeschickt - eine Äußerung des Papstes Urban VIII. wörtlich in den Mund zu legen, war die Angelegenheit trotz bis dahin bestehenden päpstlichen Wohlwollens entschieden: Galilei wurde wegen „schweren Verdachts der Häresie“ angeklagt. „Öffentlicher Watschenmann numero uno zu sein, war keine besonders beneidenswerte Rolle, besonders wenn die Inquisition hinter den Kulissen lauerte. Es war erst fünfunddreißig Jahre her, dass der Philosoph und Wissenschaftler Giordano Bruno, der ebenfalls europaweit berühmt war, vor der Inquisition in Rom erscheinen musste. Er hatte nach siebenjähriger Haft [1600 wegen Häresie; d. Verf.] ein Ende auf einem [auf dem Campo die Fiori in Rom errichteten; d. Verf.] Scheiterhaufen gefunden, einen Knebel im Mund, damit er seine ketzerischen Überzeugungen selbst im Angesicht des Todes nicht verkünden konnte.10 ... [Die Einladung [in Rom vor der päpstlichen Anklagebehörde zu erscheinen; der Autor], die man Galilei geschickt hatte, gehörte zu der Sorte, die man nicht ausschlagen kann. ... Es gab [im jesuitischen Lager; der Autor] auch solche, die an Galilei ein Exempel statuieren wollten, damit die Kirche nicht der Lächerlichkeit anheimfiel. Papst Urban VIII. hatte bereits das Gefühl, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten. Immerhin glaubten einige der besten Köpfe Europas, was Galilei behauptete. (Vielleicht hatte sogar er selbst es einmal geglaubt, obwohl er sich dessen nicht ganz sicher war.) Urban schwankte. Doch die Jesuiten wussten, wie sie die Entscheidung herbeiführen konnten. Sie flüsterten Urban ein, dass Simplicio niemand anderen als ihn porträtiere! Galilei wurde prompt verurteilt: zu einer zeitlich unbegrenzten Gefängnisstrafe. Zuvor sollte er jedoch seinem Kopernikanismus abschwören. Im Verhör brach Galilei nach kurzer Zeit zusammen. (In Brechts Stück wird er nur zur Tür der Folterkammer geführt, wo man ihm die Werkzeuge zeigt. Die Szene hat keine Entsprechung in der Wirklichkeit, drückt aber eine gewisse poetische Wahrheit aus.) Galilei schwor 1633 seiner ketzerischen Wissenschaft ab, „dass die Erde sich bewegt und nicht Mittelpunkt der Welt“ sei, was falsch sei und „im Widerspruch zur Heiligen und Göttlichen Schrift“ stehe: »Daher schwöre ich mit aufrichtigem Sinn und ohne Heuchelei ab, verwünsche und verfluche jene Irrtümer und Ketzereien und darüber hinaus ganz allgemein jeden irgendwie gearteten Irrtum, Ketzerei oder Sektiererei, die der Heiligen Kirche entgegen ist.«11 Sie sehen, sophistisch geschulte Kirchenjuristen wussten, wie man einen Schwur so zu formulieren habe, dass es hinterher kein Ausweichen mehr gab! „Galilei wußte,“ heißt es weiter bei Strathern, „daß das, was er geschworen hatte, nicht zutraf. Er wußte ebenfalls, daß seine Bewunderer denken mußten, er habe sie und die Wissenschaft verraten. Er war ein gebrochener Mann. War er ein Feigling oder schlicht klug? Die Frage ist bis auf den heutigen Tag nicht beantwortet.“ Fazit der Würdigung der historischen Geschehnisse um Galilei: Keine weltliche Macht bekämpfte die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber die Kurie tat es, denn Galilei hatte mit dieser Veröffentlichung die von der römischen Kirche über eineinhalb Jahrtausende lang unangefochten beanspruchte Interpretationshoheit in der abendländisch geprägten Welt über wissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere wenn sie Glaubensfragen berührten, angegriffen. Die Jesuiten erkannten die Gefahr, dass die katholische Kirche ihr – trotz der von Luther eingeleiteten religiösen Revolution weiter innegehabtes – kulturelles Monopol verlieren könnte. Das konnte die Kurie nach ihrem Selbstverständnis nicht hinnehmen. Wissenschaftler und deren Erkenntnisse, und damit die Wissenschaften insgesamt, hätten sich nach der »göttlichen« Lehre und dem darauf gründenden Kirchenrecht zu richten! (Wie es die den Koran nach ihren Ansichten interpretierenden islamischen Fundamentalisten mangels bisher ausgebliebener Säkularisierung des Islam von allen Muslimen noch heute verlangen.) 9

Strathern, Paul: Galileo & das Sonnensystem, S. 84 STERN 26.08.04: „Als 1889 in Rom ein Monument für Bruno auf dem Campo errichtet werden sollte, versuchte die katholische Kirche, dies mit allen Mitteln zu verhindern – vergeblich. Anlässlich der Enthüllung des Bruno Standbildes hatte Leo XIII. ein Sendschreiben an die gläubige Welt gerichtet: ’Seine (Brunos) Handlungsweise war unaufrichtig, verlogen und vollkommen selbstsüchtig, intolerant gegen jede gegenteilige Meinung, ausgesprochen bösartig und voll von einer die Wahrheit verzerrenden Lobhudelei.’ Bis 1965 standen die Schriften Giordano Brunos auf dem Index der verbotenen Bücher.“ 11 Strathern, Paul: Galileo & das Sonnensystem, S. 84 ff 10

531

Es ging der katholischen Kirche also nicht um Wahrheit, sondern um die Macht über Wissenschaftlerhirne und letztlich die Beherrschung der Seelen! Unter Androhung von vorheriger Folter und anschließender Verbrennung auf dem Scheiterhaufen ist Galilei in diesem zweiten Prozess zum Widerruf der kopernikanischen Lehren gezwungen worden. Er wurde zu einem lebenslänglichen Gefangenen der Inquisition erklärt. Zusätzlich wurde ihm auferlegt, in den anschließenden drei Jahren jede Woche sieben Bußpsalmen zu beten. Sein Buch wurde verboten. Natürlich war das Verbot des Buches völlig witzlos: Galileis Buch war unter den Gelehrten des alten Europa ein europäischer Bestseller geworden, und seine früheren Studenten aus allen europäischen Ländern, die inzwischen in ihren Ländern zum Teil selber Professoren geworden waren, lasen es mit Begeisterung und unterrichteten nun ihrerseits ihre Studenten in den Lehren des Galilei. Galilei hatte, wie auch Kopernikus vor ihm, nach der These gehandelt: „Kühner, als das Unbekannte zu erforschen, kann es sein, das Bekannte zu bezweifeln!“ Er gehörte jedoch nicht zu den Menschen, die sich für ihre Lebensprinzipien totschlagen lassen und widerrief darum, als es für ihn Spitz auf Knopf stand. Weil aber die Kirche seinem Widerruf nicht traute - doch nur angeblich murmelte er nach Verkündung des Urteils: "Und sie dreht sich doch!"; diesen ihn »unsterblich« machenden angeblichen Ausspruch hat ein Historiker nachträglich erdichtet -, blieb Galilei bis zu seinem Tode 1642 lebenslanger Gefangener des Heiligen Offiziums, der Inquisition, was später vom Papst, der den originellen Kopf weiterhin bewunderte, in lebenslangen Hausarrest auf dem luxuriösen Anwesen des Großherzogs der Toskana unter Gewährung einer großzügigen Rente und mit der Möglichkeit, seine Forschungen in aller Stille, aber mit Publikationsverbot – um nicht die der Mutterkirche anvertraute Herde der (leicht-)gläubigen Schafe durch anders lautende Erkenntnisse zu irritieren - weiter zu betreiben, abgemildert wurde. Galilei blieb zu der Strafe verurteilt, seine von ihm durch »sanften Druck« in dem Prozess nunmehr als falsch anerkannten Lehren nicht mehr weiter zu verbreiten. Die Kirche hatte zu dieser Vorsichtsmaßnahme allen Anlass, denn vor und während des Prozesses ganz gewiss angestellte Nachberechnungen von Galileis Ergebnissen – wie gerne hätte man dem Angeklagten Fehler in seinen Berechnungen vorgehalten(!) - durch zuvörderst glaubensgebundene und darum weiterhin kirchentreue Astronomen, insbesondere aus den Reihen der Jesuiten, mussten zwangsläufig zu den gleichen Ergebnissen gekommen sein. Für die Jesuiten war ein solches Ergebnis der Nachprüfungen aber kein Problem, denn sie waren nicht zuvörderst auf Wahrheit aus: ihr Gründer hatte von ihnen gefordert und als für den Orden unveränderliche Maxime festgelegt: „Wenn ihr etwas für schwarz erkennt, und der Papst sagt, es sei weiß, dann hat es für euch weiß zu sein!“ Die anderen »Kirchenwissenschaftler« hatten aber – spätestens in Ansehung des Schicksals ihres Wissenschaftskollegen – nicht den Mut, aus den gleichen Ergebnissen die sich mathematisch-zwangsläufig aufdrängenden gleichen Schlussfolgerungen zu ziehen wie Galilei: Wer nicht von einem Mächtigen geschützt wurde, musste zu damaliger Zeit mit gutem Grund um sein Leben fürchten, wenn er mit seinen An- und Einsichten bezüglich zentraler katholischer Kirchenlehren auf Kollisionskurs mit der Mutterkirche lag! Das Kirchenrecht wurde zur Verfolgung und nötigenfalls auch zur Vernichtung derjenigen eingesetzt, die ihre den kirchlichen Lehren widersprechenden Erkenntnisse weitergaben. Auch Keppler, der die elliptischen Umlaufbahnen der Gestirne um die Sonne berechnete und in den Keppler’schen Gesetzen zusammenfasste, fürchtete die Macht der Inquisition und ihren möglicherweise vernichtenden Einfluss auf sein Leben. Außerdem waren Galileis Gegner ja allesamt Aristoteliker und wollten gar nicht zu neuen, sie zutiefst verunsichernden Erkenntnissen kommen, weil sie dann ihr ganzes, seit 2000 Jahren für gültig erachtetes Lehrgebäude hätten preisgeben müssen, wodurch ihnen die Grundlage ihrer Wissenschaftlerlaufbahn weggebrochen wäre: „Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom“ (Albert Einstein). Nur durch das Ableugnen der von ihm zuvor als richtig erkannten und deshalb so publizierten grundlegenden kopernikanischen heliozentrischen These, der Grundlage unseres heutigen Weltbildes, entging Galilei dem ihm für den Fall der Weigerung angedrohten Todesurteil, durch das mit den Mitteln des zwingenden Kirchenrechts Glaubensgehorsam gegen dem (Aber-)Glauben entgegenstehende unbezweifelbare wissenschaftliche Erkenntnis erzwungen werden sollte. Man kann Hans Habe darin zustimmen, dass das Recht immer auch als eine „Hure der Mächtigen“ missbraucht wurde. Nun wurde Galilei nach 360 Jahren am Reformationstag des Jahres 1992 rehabilitiert, die Kugelgestalt des sich um die Sonne drehenden Planeten Erde von der katholischen Kirche durch die Aufhebung des am 22.06.1633 gegen ihn ergangenen Urteils offiziell anerkannt. Und dieses Kapitel der Befreiung des menschlichen Geistes und Erkenntnisdranges von kirchlicher Bevormundung durch die Trennung der Aufgabengebiete von Staat und Kirche abgeschlossen.

532

Gottes Mühlen mahlen auch in der katholischen Kirche langsam, aber (leider nur manchmal) sicher. Die hinter diesem Sprichwort stehende Vorstellung einer der Idee nach sich letztlich immer durchsetzenden, unüberwindlichen göttlichen Gerechtigkeit hat etwas mit unserer nie erlöschenden Sehnsucht nach »Recht« und »Gerechtigkeit« zu tun. Fazit aus diesem Kapitel: Seien wir wachsam gegen religiöse Einflussnahmen auf »das Recht«. Eine zu starke Betonung des Wertes der Rechtssicherheit auf der Basis geglaubter Wahrheit zu Lasten der im Einzelfall feststellbaren Wahrheit kann die Einzelfallgerechtigkeit verhindern. Es muss zwischen den beiden Prinzipien Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit ein gangbarer Kompromiss gefunden werden.

2.10.8 Rechtssicherheit durch Fristablauf im deutschen Strafrecht Rechtssic herheit und Verjähru ng im Strafrecht

Im Strafrecht ist das Rechtsinstitut der „Verjährung“ der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs eine Wohltat für den Missetäter. Die „Verjährung“ wird im Strafrecht unterteilt in Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung. Bei der Verfolgungsverjährung kann eine zu spät entdeckte Tat nicht mehr geahndet, einem zu spät entdeckten Täter nicht mehr der Prozess gemacht werden; selbst dann nicht, wenn der Täter durch eigenhändiges Verwischen von Spuren ("Verdunkelungshandlungen"; vgl. dazu § 112 II 3. StPO) seine Nichtentdeckung geflissentlich zu fördern trachtete oder sich durch Flucht seiner Verhaftung entzogen hat. Doch auf den Fristablauf, der nicht unbedingt mehr – wie in manchen früheren Rechten geregelt – nach „Jahr und Tag“ eintritt, sondern unterschiedlich lang bemessene Fristen umfassen kann, kann sich nicht jeder Täter verlassen: "Mordanklage nach 25 Jahren dpa Leipzig - Es geschah vor 25 Jahren: Die junge Frau würgte ihre neugeborene Tochter so lange, bis sie erstickte. Doch erst jetzt wurde gegen die inzwischen 50jährige Sekretärin Anklage erhoben. Hintergrund: Die Frau aus Leipzig war damals nach Frankfurt geflohen. Die Fahndung kam im Westen jedoch nie an. Erst jetzt, nach der deutsch-deutschen Vereinigung, konnte sie gefaßt werden. Unklar ist allerdings noch, ob die Tat verjährt ist." (HH A 27.04.91) "Verjährung ruht von 1949 bis 1990 Nach dem auf eine Bundesratsinitiative zurückgehenden Gesetz wird das Ruhen der Verjährung für Straftaten, die während der Herrschaft des SED-Regimes begangen, jedoch aus politischen oder sonst rechtsstaatlich nicht hinnehmbaren Gründen nicht verfolgt wurden, für die Zeit vom 11. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 angeordnet. Das Gesetz zieht die Konsequenz aus unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Entscheidungen der Gerichte zur Frage der Verjährung und leistet so einen Beitrag zu einer rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Aufarbeitung der ihm unterliegenden Verbrechen und Vergehen." (Das Parlament 19.02.93) „Geständnis ap Paris – Nach fast 15 Jahren hat ein Franzose den Raubmord an einem Taxifahrer gestanden – in der Annahme, die Tat sei inzwischen verjährt. Was der Kellner nicht wußte: Die Ermittlungsfrist ist verlängert worden. Der Mann wurde verhaftet.“ (HH A 17.04.98) Verfolgungsverjährung ist deliktstypisch unterschiedlich lang geregelt - sie tritt z.B. bei Diebstahl nach 5, bei Totschlag nach 20 Jahren ein - und durch § 78 StGB nach dem Höchstmaß der für ein Delikt verhängbaren Freiheitsstrafe in 6 Kategorien geordnet. Mord und Völkermord verjähren nach unserem Recht inzwischen nie. (Diese Regelung wurde durch eine Gesetzesänderung geschaffen, damit Mord an Juden über die bis dahin auch für Mord geltende Verjährungsfrist hinaus verfolgbar gehalten werden konnte. Man glaubte, die zu erwartenden außenpolitischen Angriffe nicht durchstehen zu können, wenn die bis dahin geltende Verjährung von Mord und Völkermord beibehalten und dann ein KZ-Scherge entdeckt worden wäre, der nicht mehr hätte verfolgt werden können.)

2.10.9 Deliktbezogener Verjährungsbeginn bei sexuellem Missbrauch von Kindern

533

Eine deliktbezogene Neuerung soll jetzt bei sexuellem Missbrauch von Kindern eingeführt werden: Der Beginn der Verjährung soll zunächst einmal bis zum 14. Lebensjahr des Opfers generell ruhen und dann erst mit 10jähriger Frist zu laufen beginnen. Diese Regelung ist in den Fällen nicht so erforderlich, in denen der Täter - wie in den nachfolgend wiedergegebenen drei Fällen - entweder nicht zum engsten Familienkreis gehört oder von Nicht-Familienmitgliedern bei seinem deliktischen Handeln erwischt und darum leichter angezeigt wird. "Dreijährige mißbraucht SAD Washington - Ein dreizehnjähriger Junge ist in Richland (US-Staat Washington) zu sechs Jahren und zwei Monaten Jugendhaft verurteilt worden. Er hatte ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt und fast getötet. Die Kleine sitzt seitdem im Rollstuhl. Der Junge war der Babysitter des Kindes gewesen." (HH A 18.03.91) "Dreijährige vergewaltigt SAD London - Entsetzen bei den Briten: Der Arbeiter Peter Mc Neil (26) hat ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt. Es ist das jüngste Opfer in der englischen Kriminalgeschichte. Für diese Tat verurteilte ihn ein Londoner Gericht zu fünfzehn Jahren Haft." (HH A 11.10.91) "Dreijährige vergewaltigt 20 Autofahrer sahen zu New York (ap). Rund 20 Autofahrer haben in Manhattan der Vergewaltigung eines dreijährigen Mädchens nahe einer Straße tatenlos zugesehen. Dies berichtete laut Polizei der Fahrer eines Abschleppwagens, der den Täter schließlich verfolgte und stellte. Er sei an den haltenden Wagen vorbeigefahren, weil er einen Unfall vermutet habe. Als er gesehen habe, was passierte, habe er den Mann verfolgt. Über Funk alarmierte der Mann die Polizei. Nicht weit vom Tatort entfernt stellte er den Mann. Der 29jährige mutmaßliche Täter wurde festgenommen. Er soll der Onkel der Dreijährigen sein. Die Polizei teilte mit, er habe mit der Mutter des Kindes etwas getrunken, die ihn dann gebeten habe, das Kind ins Bad zu bringen. Statt dessen brachte der Mann das Mädchen zum Tatort, wo er es vergewaltigte." (Allgäuer Zeitung 18.07.91) Aber bei Tätern aus dem engsten Familienkreis will man den Opfern die Chance geben, die Strafverfolgung nach Lösung der Opfer aus dem Elternhaus noch in Gang setzen zu können.

Deliktbez ogener Verjähru ngsbeginn bei sexuelle m Missbrau ch von Kindern

Die in der letzten Zeitungsmeldung geschilderte Handlungsweise ist schon deliktstypischer, weil es sich bei dem Täter um einen nahen Verwandten handelt. Sie ist außerdem noch unter dem Gesichtspunkt typisch für die Begehung einer Straftat, weil leider sehr oft viele Unbeteiligte "wegsehen" (obwohl sie im letzteren Falle genau hinsahen und sich daran aufgeilten; anders ist das tatenlose Zusehen nicht erklärbar!) und das hilflose Opfer in der Gewalt des Täters belassen, anstatt notfalls mit anderen gemeinsam einzuschreiten. Aber solche Fälle sind noch nicht typisch für die nur rund 10.000 pro Jahr angezeigten Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern in Deutschland mit seiner sehr hohen Dunkelziffer von (geschätzten) 80.000-300.000 Deliktsbegehungen. Ihnen sollen jedes vierte Mädchen und jeder siebte Junge zum Opfer fallen. Sexueller Missbrauch von Kindern mit eventuell tateinheitlich damit verbundener Vergewaltigung ist kein Ausnahme-, sondern ein Massendelikt, dessen Täter weit überwiegend aus dem Verwandtschafts- und Bekanntschaftskreis des Opfers kommen. Darum startete der Deutsche Kinderschutzbund eine aufrüttelnde Anzeigenkampagne mit eindringlichen Kinderbildern und Texten wie: "Papis Liebe tut ihr weh." "Vati war ihr erster Mann." "Onkel Pauls Bonbons sind süß, seine Liebe ist bitter." "Er hält die ganze Nacht die Augen offen, weil andere sie verschließen." In solchen Fällen, bei denen die Täter oft durch die Familien geschützt werden, besteht nur eine sehr geringe Gefahr der Bestrafung, weil sich die Kinder zunächst nicht aus der familiären Abhängigkeit lösen können und die an ihnen begangenen Straftaten zu dem Zeitpunkt, wo sie sich haben lösen können und anzeigebereit gewesen wären, im für die Täter günstigsten Fall dann schon verjährt sind. Um die Gnade der Verjährungsregelung für diese Delikte nicht zu leicht zu einem Täterschutz verkommen zu lassen, soll nunmehr die Verjährung bis zum 14. Lebensjahr des jeweiligen Opfers generell ruhen und dann erst mit der normalen Dauer zu laufen beginnen. So könnte ein in sehr frühen Jahren missbrauchtes Kind wegen des "Mordes an seiner Seele" den Täter aus seinem persönlichen Nahbereich (darum handelt es sich fast ausschließlich: was zu viele Papis, Onkels und Mamis tun, oder was die Mamis aus Liebe zum Mann, Existenzangst bei dann meist unausweichlicher Scheidung oder Rücksicht auf das verwandte Familienmitglied oft nicht wissen wollen) später immer noch belangen lassen, wenn es sich der Einflusssphäre des oft mehrjährigen Kinderschänders entziehen

534

konnte. Deliktstypischer sind die in der Fernsehreportage "Die gestohlene Kindheit" angesprochenen Fälle, die in einer Rundfunkzeitschrift folgendermaßen angekündigt worden waren: "Opfer: Erschütternde Berichte im ZDF In der `Reportage' stellt das ZDF drei Frauen und einen Mann vor - sie alle wurden als Kinder sexuell mißbraucht. Miriam, Renate, Gerlinde und Peter schildern vor der Kamera, wie es zu diesen schrecklichen Erlebnissen gekommen ist. Beispiel Miriam, heute 19; ihr Vater - ein hoher EGBeamter - vergewaltigte sie erstmals im Alter von vier Jahren. Später gab der Mann sie an Bekannte weiter, zwang sie zu pornographischen Fotos. Wenn Miriam sich weigerte, wurde sie verprügelt. Magersucht, eine Abtreibung, Drogenabhängigkeit und schließlich ein Selbstmordversuch waren furchtbare Folgen für sie. Erst im Krankenhaus offenbarte sich Miriam einem Arzt. ..." Solche Fälle sollen durch die beabsichtigte Gesetzesänderung des Ruhens der Verjährung für eine längere Zeit als bisher verfolgbar bleiben. Und auch in diesem Bereich geschehen die unglaublichsten Fälle: "Vier gemeinsame Kinder Blutschande zwischen Vater und Tochter Nürnberg (dpa) - Aus einer 15jährigen Inzest-Beziehung zwischen einem Automechaniker aus Nürnberg und seiner leiblichen Tochter sind vier Kinder hervorgegangen. Wegen Beischlafs zwischen Verwandten, Vergewaltigung, Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung und drei Diebstählen verurteilte eine große Strafkammer beim Landgericht Nürnberg-Fürth den 60jährigen Mann am Dienstag zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und elf Monaten. Der `herausragende Fall von Blutschande', so das Gericht, war nach einer Strafanzeige durch die jetzt 29jährige Tochter offenbar geworden. Der ledige Mann hatte seine uneheliche Tochter seit ihrem 13. Lebensjahr regelmäßig mißbraucht und sie seit der Geburt ihres ersten Kindes wie eine Ehefrau behandelt. Durchschnittlich zwei- bis dreimal wöchentlich hatte er mit ihr Geschlechtsverkehr und dabei keine Verhütungsmittel benutzt. Die innerhalb von sieben Jahren geborenen vier Kinder wuchsen im gemeinsamen Haushalt auf. Auf die Frage nach dem Vater der Kinder hatte die junge Frau stets die Antwort verweigert." (SZ 04.09.91) Schon der Gerichtsort und die nicht verhütende Art der Deliktsbegehung legen als widerlegliche Vermutung nahe, dass Täter und Opfer katholisch erzogen worden sein könnten - ohne dass dieses Delikt auf Katholiken beschränkt wäre, das wäre ein völliges Missverständnis -, denn sonst hätte schon allein die "Verbrecherlogik" in einem solchen Fall spätestens nach dem ersten Kind geboten, Verhütungsmittel zu verwenden, um nicht weitere Inzest-Kinder zu zeugen und so das Risiko des Entdecktwerdens möglichst gering zu halten! Ein herausragender Fall, gewiss, aber kein einmaliger. Es gibt kaum etwas Scheußliches, das nicht irgendwann durch etwas noch Scheußlicheres überboten würde. "Sechs Kinder vom eigenen Vater Jahrelang immer wieder vergewaltigt - Junge Frau schwieg aus Angst Über Jahre hinweg hat ein 51jähriger Arbeiter aus Lüneburg immer wieder seine mittlerweile 28jährige Tochter vergewaltigt. Sie bekam sechs Kinder von ihm! Die Tochter schwieg - aus Angst. Auch ihre Mutter wurde mit Drohungen zum Schweigen gezwungen. Erst im Januar dieses Jahres vertraute sich die 28jährige dem Jugendamt an, da kam alles heraus. Ihr Vater wurde gestern von der Jugendstrafkammer des Lüneburger Landgerichts zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Seine Tochter habe ihn verführt, versuchte der Angeklagte sich zu rechtfertigen. Sie habe sogar mit einer Anzeige wegen Vergewaltigung gedroht, falls er nicht weiter mit ihr schlafe. Das Gericht glaubte dem seit 28 Jahren verheirateten Arbeiter nicht,... Der Vater befahl ihr, niemandem etwas zu erzählen, da er dann ins Gefängnis müßte und sie ins Heim. Weiter erklärte der Mann seiner Tochter, daß er mit der Mutter nicht mehr schlafen könne, da sie eine Unterleibsoperation gehabt habe. Sie habe mitmachen müssen, weil der Vater sonst der Mutter Schmerzen zugefügt hätte, sagte sie vor Gericht. Bei den folgenden Vergewaltigungen mußte der Masseur keine körperliche Gewalt mehr anwenden,

535

`da die Tochter sich seinen Anweisungen unterordnete'. Er habe sie schon früh mit Schlägen zum Gehorsam erzogen und sie auch während ihrer Lehrzeit als Verkäuferin mit viel Arbeit von anderen isoliert. Für Verhütungsmittel habe er nicht gesorgt. Licht kam erst 1986 in die Tragödie, als ein damals dreijähriger Sohn schwer erkrankte. Anhand von Blutproben der ganzen Familie stellte ein Arzt fest, daß nur der Vater der jungen Frau auch der Vater ihrer ersten drei Kinder sein könnte. Doch sie blieb in jedem Fall bei der Aussage, ein Unbekannter habe sie vergewaltigt, als sie betrunken war. So schwieg die Frau 13 Jahre lang - auch aus Angst, die Zuneigung ihrer Mutter und ihrer Kinder zu verlieren." Unverständlich, dass sich die Töchter nach ihrem jeweils ersten Kind von ihrem jeweiligen Frauenarzt nicht wenigstens hatten die Pille verschreiben oder eine Uterusspirale einsetzen lassen, um wenigstens die Gefahr weiterer Inzest-Schwangerschaften zu bannen! 3 Jahre und 11 Monate für ein 15-jähriges Martyrium und 4 Kinder, 6 Jahre und 9 Monate für ein 13-jähriges Martyrium und 6 Kinder. Sind die Strafen »gerecht«? Sind die Untaten damit »gerächt«? "Die Rache ist mein, spricht der Herr!" Was ist »Recht«, was »Gerechtigkeit«, was eine tat- und schuldangemessen »gerechte« Strafe? Eine Frage, die letztlich nicht beantwortbar ist - der sich aber jeder Strafrichter in jeder Verhandlung mit seinem Gewissen stellen muss! Die Ferkel werden uns im Buch "Rechtskunde - Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten" noch einmal begegnen, nicht wegen des erstaunlichen Strafrabatts für die recht happige Deliktsverwirklichung, sondern wegen der juristischen Figur der rechtlichen Handlungseinheit als fortgesetzte Tat. Vollstreckungsverjährung bedeutet, dass nach Fristablauf die rechtskräftig verhängte Strafe oder Geldbuße nicht mehr vollstreckt werden darf. Im Verwaltungsrecht verjähren i.d.R. nur vermögensrechtliche Ansprüche, auf die die BGB-Vorschriften "analog" ("entsprechend") anzuwenden sind. So hatte die Verwaltung z.B. beim Autor vergessen, die Prüfungsgebühren für die Abnahme des zweiten Lehrerexamens einzufordern. Als der Staat mit diesem verspäteten Ansinnen an den Autor herantrat, war der schon lange Jahre vorher als Lehrer an einer evangelischen Privatschule Kirchenbeamter geworden und musste darum nicht um seinen Ruf als ehrbarer Kaufmann bangen. Er konnte - fünf Jahre vor Aufnahme seines juristischen Zweitstudiums - die Einrede der Verjährung erheben und die nachträgliche Zahlung der Prüfungsgebühr verweigern. (Was soll das auch: Der Staat bildet zur Wahrnehmung seines Bildungsauftrages Lehrer aus und verlangt dafür auch noch Gebühren.)

2.10.10 Rechtssicherheit durch Fristablauf im Zivilrecht Rechtssich erheit und Verjährung im Zivilrecht

Hat man im Privatrecht gegen jemanden eine berechtigte, nicht gestundete Forderung und macht sie nicht rechtzeitig gerichtlich(!) geltend - (eventuell vorgenommenes mehrfaches) außergerichtliches Mahnen unterbricht den Lauf der Verjährung nicht - so kann der zu einer Leistung Verpflichtete, der Schuldner, nach Ablauf der (unterschiedlich lang geregelten) Verjährungsfrist gemäß § 194 BGB die "Einrede der Verjährung" erheben, was bei einer (allerdings beweispflichtigen!) Stundung nicht der Fall ist. Der so geltend gemachte Ablauf der Verjährungsfrist lässt den Anspruch zwar als solchen bestehen, gibt aber dem Schuldner gegenüber dem Gläubiger ein Leistungsverweigerungsrecht. Die Einrede der Verjährung ist also nicht rechtsvernichtend, sondern nur die Durchsetzung des Rechts hemmend, was aber für den Schuldner bei erhobener Einrede wirtschaftlich auf das gleiche hinausläuft: Er braucht nicht mehr zu löhnen. Bei z.B. Schadensersatzforderungen aus nicht oder schlecht erfülltem Reisevertrag bei Pauschalreisen ist das - abgesehen von der vorausgehenden Verpflichtung der Aufforderung vor Ort zur Behebung des Schadens und der vierwöchigen Anmeldefrist nach Rückkehr von der Reise - nach einem halben Jahr der Fall, bei Schadensersatzansprüchen aus unerlaubter Handlung, typisch für z.B. Verkehrsunfallschäden, dagegen erst nach drei Jahren. Rückstände von Zinsen, Mietund Pachtzinsen verjähren nach vier Jahren usw.. Die grundsätzliche Verjährungsfrist außerhalb der Ansprüche des täglichen Lebens beträgt aber 30 Jahre. Nach Ablauf der jeweiligen Verjährungsfrist ist dann eine noch so berechtigte Forderung gegen den Willen des Schuldners nicht mehr durchsetzbar, wenn der Schuldner keine Sicherheiten gestellt hatte und sich mit der Einrede der Verjährung auf den inzwischen eingetretenen Ablauf der Verjährungsfrist beruft. Dann wird dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit eingeräumt. Beruft sich ein Schuldner nicht auf eine zwischenzeitlich eingetretene Verjährung, um z.B. seinen Ruf als

536

"ehrbarer Kaufmann" aufrechtzuerhalten oder weil er es im Verlauf des Prozesses schlicht vergessen hat, so kann er trotz Ablaufes der Verjährungsfrist zur Leistung verurteilt und das Urteil notfalls durch staatliche Zwangsmaßnahmen vollstreckt werden. Zur Klarstellung und gebotenen Differenzierung muss darauf hingewiesen werden, dass der Eintritt von Rechtssicherheit auch noch anders als durch Fristablauf erreicht werden kann, z.B. durch eine bestimmte Handlung eines in einem seiner Rechte Verletzten, die die Geltendmachung eines ihm zunächst zustehenden Rechts hinfällig werden lässt. Ein Beispiel im Familienrecht war die „Verzeihung“: Hatte ein Ehepartner durch einen Seitensprung – mit oder ohne »Samenraub«12 – einen Scheidungsgrund geliefert und nahm der hintergangene Ehepartner trotzdem wieder mit ihm Geschlechtsverkehr auf, so wurde das im früheren SchuldScheidungsrecht als „Verzeihung“ gewertet, mit der Folge, dass eine Scheidung dann nicht mehr durchsetzbar war. In einem solchen Fall also: Rechtssicherheit durch Geschlechtsverkehr. Beim Scheidungstermin wurde von den Richtern folgerichtig immer gefragt: „Wann haben Sie das letzte Mal miteinander geschlechtlich verkehrt?“, und es ist bestimmt nicht erfunden, dass ein sexuell ausgehungertes, aber ansonsten scheidungswilliges Ehepaar, das wegen einer Terminverschiebung längere Zeit auf dem Gerichtsflur auf den Aufruf der eigenen Scheidungssache hatte warten müssen, bei dieser Frage rot geworden war und – weil man vor Gericht ja die Wahrheit sagen muss – bekannte: „Eben gerade, auf der Gerichtstoilette“, woraufhin sie nicht geschieden wurden. Aber sexuelle Bedürfnisse sind doch völlig losgelöst vom Ehewunsch! Sex und Ehe sind nicht zwangsläufig miteinander verbunden. Die rechtlichen Bahnen, in die Gesellschaften das Ausleben dieses biologisch determinierten Grundbedürfnisses kanalisieren, sind den evolutionsbedingten Bedürfnissen doch völlig gleichgültig! Mir war nicht bekannt, dass nach der Abschaffung des Schuldprinzips und dem Übergang zu dem Zerrüttungsprinzip als Voraussetzung für die Annahme des Scheiterns einer Ehe mit der Folge der Möglichkeit, die gescheiterte Ehe rechtsgültig scheiden zu lassen, immer noch auf die »GV-Frage« abgehoben zu werden scheint. Aber diese Frage scheint auch heute noch rechtserheblich zu sein – anders ist die nachfolgende Zeitungsmeldung nicht zu verstehen -, auch wenn man bei Gericht inzwischen nicht mehr so kleinlich ist, dass der hintergangene Ehepartner sein Scheidungsrecht durch einen einmalig manifest gewordenen Hormonausbruch verliere. Das wird jetzt – im Gegensatz zu früher – als letztlich doch wieder gescheiterter Versöhnungsversuch gewertet: ein einmaliges Intermezzo wird inzwischen nur noch als fehlgeschlagener Rettungsversuch, nicht aber mehr als Eheauflösungshindernis gewertet. Aber die Wiederholung kann auch heute noch rechtsschädlich sein: „Sex nach Trennung: Keine Scheidung dpa Schleswig – Wenn Eheleute nach der Trennung weiter regelmäßig Geschlechtsverkehr miteinander haben, gilt ihre Ehe als nicht gescheitert. Das geht aus einem Urteil des (Az.: 8 UF4/00) des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht (OLG) hervor. Der Scheidungsantrag eines Mannes, der auch nach der Trennung sexuellen Kontakt mit seiner Frau hatte, sei ‘derzeit unbegründet‘, so das OLG.“ (HH A 21.02.01)

Nun ergibt sich auf Grund des Urteils nach deutschem Recht folgende, nach meinem Dafürhalten rechtlich nicht ganz stimmige Situation: Häufiger Sex ohne Eheschließung begründet rechtlich keine Ehe oder einen eheähnlichen Zustand, häufiger Sex mit der/dem Ex nach dem Scheitern einer Ehe aber ohne deren rechtsgültige Scheidung lässt eine gescheiterte Ehe auch gegen den gerichtlich geltend gemachten Scheidungswillen rechtlich weiterbestehen, wohingegen häufiger Sex der ehemaligen Ehepartner nach einer rechtskräftigen Scheidung nach dem Motto: „Sie können nicht miteinander leben, aber auch nicht ohne einander“ nicht mehr als ehestiftend oder eheerhaltend gewertet wird. So etwas hat ja erhebliche rechtliche Konsequenzen. In Mexiko z.B. wird dem hinterbliebenen Partner einer 12

Eine völlig falsche Begriffsbildung unseres größten männlichen Tennisstars, denn zum Raub gehört Gewalt gegen eine Person oder Androhung von gegenwärtiger Gewalt für Leib und Leben des Opfers, unter der er in dem Londoner Hotel von der farbigen Russin in die Besenkammer hätte gezerrt und zur Enteignung wider Willen hätte gezwungen worden sein müssen, damit sie sich seinen Samen hätte zueignen können. Er ist eher ein Opfer einer Frau geworden, die von sich ahnt, dass sie empfängnisfähig sein könnte und nun versucht, sich von einem nicht nur finanziell potenten Mann ein Kind zu erluchsen, um von dessen dann einsetzenden finanziellen Zuwendungen sorgenfrei leben zu können und sich nicht mehr krumm legen zu müssen!

537

Dauerbeziehung, wenn er nach dem Tod des Partners durch Zeugenaussage wenigstens das Bestehen eines eheähnlichen Verhältnisses beweisen kann, auch ohne ausdrückliche Eheschließung eine Hinterbliebenenrente gewährt! Dieses eben angesprochene ein Recht vernichtende Instrument der »Verzeihung« ist jetzt noch im Erbrecht in § 2337 BGB geregelt. Nach dieser Regelung erlischt das Recht des Erblassers zur Entziehung sogar des Pflichtteils von Ehegatte (§ 2335) und Abkömmling (§ 2333), eventuell auch der Eltern (§ 2334), wenn der Erblasser durch Verzeihung zum Ausdruck gebracht hat, dass er die ihm zugefügte schwere Verfehlung oder Kränkung als inzwischen nicht mehr so gewichtig ansieht. „Vergeben, aber nicht vergessen“, reicht aus. Einen Zwitter zwischen dem Gedanken der Verjährung und dem der Verzeihung – und zu dessen Erklärung musste auch das letztere Rechtsinstitut angesprochen werden - gibt es im Arbeitsrecht: Wenn ein Arbeitgeber einen Angestellten nach einem besonders schwerwiegenden, ihn möglicherweise zu einer fristlosen Kündigung berechtigenden Vorfall nicht binnen vierzehn Tagen rauswirft, hat er sein ihm auf Grund des empörenden Verhaltens des Angestellten möglicherweise zustehendes Recht verwirkt – ohne dass das Verzeihung genannt wird. Aber dessen Grundgedanke steht dahinter: Wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer weiterhin erträgt - und sei es auch nur aus wirtschaftlichem Zwang heraus, weil er nicht so schnell so qualifizierten Ersatz beschaffen kann -, so gilt der Verstoß nach arbeitsrechtlicher Wertung infolge Fristablaufs nicht mehr als so gravierend, dass nicht eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Zwei-Wochen-Zeitraum hinaus zumutbar erscheint. Es handelt sich nach meinem Dafürhalten also vom rechtlichen Grundgedanken her um eine nach Fristablauf gesetzlich angeordnete (analoge) »Verzeihung«, um Rechtssicherheit über das Bestehen des Arbeitsverhältnisses zu schaffen.

2.10.11 Rechtssicherheit durch Fristablauf allgemein

Rechtssic herheit durch Fristabla uf

Rechtssicherheit durch Fristablauf ist in allen Rechtsgebieten – nicht nur des materiellen, sondern auch des formellen Rechts - eine der möglichen Formen der Schaffung von Rechtssicherheit. Wiederholend sei in diesem Zusammenhang noch einmal warnend an die andere, schon besprochene Form der Rechtssicherheit durch normalen Ablauf einer gesetzlich bestimmten Äußerungsfrist erinnert: Es kann nicht dringlich genug gemahnt werden, gesetzliche und gerichtliche Fristen peinlichst genau einzuhalten, damit man nicht aus Nachlässigkeit ein Urteil oder einen anderen Rechtstitel gegen sich verschuldet, der dann wegen der durch bloßen Fristablauf eingetretenen Rechtskraft und der damit bezweckten Rechtssicherheit grundsätzlich nicht mehr beseitigt werden kann: Bei z.B. verspätet eingegangener Berufung gegen ein ergangenes Urteil, gleichgültig in welchem der Gerichtszweige, wird auch ein unrichtiges Urteil rechts- und damit bestandskräftig. (Ausnahme: Man hat die Frist unverschuldet versäumt, z.B. durch Krankenhausaufenthalt. Dann kann man bis 14 Tage nach Wegfall des Hinderungsgrundes eine so genannte "Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand" beantragen. Überschreitet man auch diese Frist, hilft einem die vorherige Krankheit auch nicht mehr!) Durch Rechtskraftwirkung soll Rechtssicherheit entstehen - nicht aber Gerechtigkeit! Fall (STERN 2/84) Ein 9-jähriger Schüler wird mit zwei Freunden anonym bei der Polizei beschuldigt, an einem geparkten Auto die Antenne abgebrochen, Scheiben zertrümmert und schließlich die Seitenspiegel und das Radio geklaut zu haben. Dem Jungen kann die angeblich begangene Straftat nicht nachgewiesen werden. Er beteuert seine Unschuld. Nach einiger Zeit stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Die Versicherung des Geschädigten verlangte von den Eltern der drei Kinder gleichwohl den zum Ersatz des Schadens aufgewandten Geldbetrag erstattet. Der Vater des Hauptbeschuldigten holte sich bei einem "Rechtsbeistand" (gemäß § 4 der Zweiten Verordnung zur Ausführung des Rechtsberatungsgesetzes) und leider nicht bei einem Rechtsanwalt Rat. Der kam nach Durchsicht der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte zu dem richtigen Ergebnis, dass diese Unterlagen nicht den geringsten Beweis für die Täterschaft der beschuldigten Kinder enthielten. Der Rechtsbeistand gab dem Vater abschließend den fatalen Rat, sich nicht weiter um die Zahlungsaufforderung der Versicherung zu kümmern. Vor Gericht habe die Nürnberger Allgemeine Versicherungs-AG keine Chance. Die Versicherung sah das wohl auch so, denn sie verzichtete darauf, eine formelle Klage zu erheben, gab aber trotzdem die Hoffnung nicht auf, doch noch zu dem von ihr unrechtmäßigerweise beanspruchten Geld zu kommen. Im Vertrauen auf die Rechtsunbeholfenheit von Kindern und nicht

538

juristisch vorgebildeten Eltern schickte sie dem Neunjährigen einen Mahnbescheid ins Haus. (Das gerichtliche Mahnbescheidsverfahren ist nach der Intention des Gesetzgebers für die Fälle vorgesehen, in denen ein Gläubiger seine Forderung zwar ohne gerichtliche Hilfe nicht einziehen kann, in denen ein länger dauerndes gerichtliches Klageverfahren aber nicht zweckmäßig erscheint, weil nach Meinung des Gläubigers mit einer ernsthaften Gegenwehr des Schuldners wegen der klaren Sach- und Rechtslage nicht zu rechnen ist. Im Normalfall endet ein Mahnverfahren mit einem Vollstreckungsbescheid als Rechtstitel, mit dem dann der zuständige Gerichtsvollzieher zur zwangsweisen Eintreibung des geltend gemachten Betrages beauftragt werden kann.) Innerhalb von 14 Tagen ab Zustellung hätte der erziehungsberechtigte gesetzliche Vertreter des (nur im Rahmen seines Taschengeldes gemäß § 110 BGB frei, aber ansonsten) gemäß § 106 BGB beschränkt geschäftsfähigen Minderjährigen gegen den Mahnbescheid Widerspruch erheben müssen. Als juristischer Laie wusste der Vater nicht, dass durch das Mahnbescheidsverfahren ein verkürztes gerichtliches Klageverfahren eingeleitet wird und - bei ausbleibender Gegenwehr durch Einlegung eines Widerspruchs - mit einem Vollstreckungsbescheid abgeschlossen werden kann. Er befolgte den Rat des von ihm so verstandenen Rechtsbeistandes - ein Rechtsanwalt wäre bei einem solchen Rat wohl schadenersatzpflichtig geworden und hätte seine Berufshaftpflicht in Anspruch nehmen müssen - und kümmerte sich nicht mehr um die ganze Angelegenheit, weil die Versicherung bei einem ordentlichen zivilgerichtlichen Verfahren mangels des Nachweises der Täterschaft des von ihr in Anspruch genommenen Minderjährigen den Prozess ja nicht gewinnen könnte. (Wenn der Vater sich auch gegen eine ordnungsgemäße Klage nicht wehren würde, hätte die Versicherung ein Versäumnisurteil erstreiten und nach Fristablauf daraus 30 Jahre lang vollstrecken können.) Von der Unschuld seines Sohnes und auch davon überzeugt, dass niemand für ein Delikt belangt werden könne, das ihm nicht durch ein ordentliches Gericht nachgewiesen wurde, ließ der Vater die Sache auf sich beruhen, denn er wusste ja nicht, dass die auf ein und demselben Lebenssachverhalt beruhenden möglichen Zivil- und Strafverfahren getrennt voneinander ablaufen. Folge: Die Nürnberger Allgemeine Versicherung beantragte und erhielt nach widerspruchslosem Ablauf der im Mahnbescheid genannten Widerspruchsfrist von 14 Tagen einen Vollstreckungsbescheid, der dann rechtskräftig geworden war. Das bedeutet: Ohne dass in einem Strafverfahren die Schuld des Jungen je festgestellt worden wäre, kann die Versicherung ihm, sobald er innerhalb der allgemeinen Verjährungsfrist der nächsten 30 Jahre eigenes Geld verdient oder geerbt hat, den Gerichtsvollzieher ins Haus schicken, um die volle Schadenssumme einschließlich der Kosten und der bis dahin aufgelaufenen Zinsen und Zinseszinsen (was den Betrag vervielfachen kann!) pfänden zu lassen. Merke: Das Recht ist für den Wachen! Fazit: Sich regen bringt Segen! Nach Einschaltung der Presse lenkte die wegen der drohenden Veröffentlichung um ihr Image besorgte Versicherung ein. Ein Sprecher erklärte dem STERN: "Ein solches Verfahren ist zwar in der Versicherungsbranche üblich(!) und stimmt auch mit den Gesetzen überein. Aber wir wollen in diesem(!) Fall großzügig sein und aus diesem Titel gegen den Jungen nicht mehr vorgehen." Und wie ist das in anderen gleichgelagerten Fällen bei einem solchen, in der Versicherungsbranche als angeblich "üblich" behaupteten Vorgehen? Mit dem Gesetz stimmt es überein, und der Vater hätte sich durch rechtzeitigen Widerspruch gegen das Ansinnen der Versicherung wehren können. Aber stimmt das Verhalten der "Nürnberger Allgemeinen Versicherungs-AG" auch mit der Gerechtigkeit überein? Hätte sich ein solches Verhalten nicht von vornherein verboten? Die Frage stellen, heißt, sie zu bejahen. Rechtssicherheit kann, wie wir sahen, Ungerechtigkeit zementieren. Sie bedeutet aber auch u.a.: - Bindung der staatlichen Gewalt, vor allem der Gerichte und der Verwaltung, an Gesetz und Recht und damit Freiheit vor unrechtmäßigen Eingriffen, - gerichtlicher Rechtsschutz gegen rechtswidrige Eingriffe des Staates in die hauptsächlich durch die Grundrechte geschützte Freiheitssphäre des Bürgers, - das Verbot willkürlicher Verhaftung und - das Verbot der Anwendung von Strafgesetzen, die erst nach Begehung einer Tat erlassen wurden. Wie die meisten sozialen Phänomene ist Rechtssicherheit eben "janusköpfig": Sie hat Vor- und Nachteile.

539

Eben war als ein Element von Rechtssicherheit u.a. die Bindung auch von Gerichten genannt worden. Dazu ein Fall: „Urteil kam genau 107 Minuten zu spät: Drogenprozeß geplatzt 250 000 Mark verschwendet – Gericht muß völlig neu verhandeln Es war ein Mammutverfahren: 118 Verhandlungstage dauerte der Prozeß, 103 Zeugen wurden vernommen, rund 30 Leitzordner Akten waren zu bewältigen. Doch jetzt muß das Verfahren, das eindreiviertel Jahre lang eine Strafkammer des Hamburger Landgerichts beschäftigt hat und den Steuerzahler rund eine viertel Million Mark kostete, völlig neu aufgerollt werden. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Der Grund, der den Prozeß platzen ließ: Das schriftliche Urteil wurde zu spät fertiggestellt – um exakt eine Stunde und 47 Minuten. ... Daß ein [am Ende der Hauptverhandlung mündlich ergangenes; d. Verf.] Urteil erst nach Ablauf einer exakt festgelegten Frist [schriftlich] abgesetzt wird, ist ein sogenannter ‘absoluter Revisionsgrund‘. Ein Urteil sei ‘unverzüglich zur Akte zu bringen‘, heißt es im Gesetz [in § 275 I StPO Frist und Form der Urteilsniederschrift]. Wie lange die Frist maximal dauert, richtet sich nach der Anzahl der Verhandlungstage. ...“ (HH A 29.01.98) Nachtrag: Nachdem die Angeklagten gesehen hatten, dass sie mit ihrem beharrlichen Schweigen – was ihr gutes Recht war – keinen Freispruch mangels ausreichender Beweise hatten erreichen können, waren sie geständig. Das zweite Verfahren wurde so in eineinhalb Tagen abgeschlossen. Dafür erhielten alle einen großen Strafrabatt: Statt Strafen zwischen dreieinhalb und zehn Jahren wie in dem ersten Verfahren wurden im zweiten Durchgang in Anbetracht der überlangen Verfahrensdauer Strafen zwischen zwei Jahren auf Bewährung und sechseinhalb Jahren verhängt. Alle waren es zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sitzen einige noch heute.

2.11 Abschließende Betrachtungen zum Wesen des Rechts 2.11.1 »Recht an sich« gibt es nicht »Recht an sich« gibt es nicht

Es wurde schon herausgearbeitet, dass es »Recht an sich« nicht gibt. In der einen Gesellschaft ist Polygamie (Vielehe), meist in der Form der Polygymie (Vielweiberei), erlaubt, in dem manchmal nicht einmal durch einen Grenzfluss getrennten Nachbarstaat aber nicht und als Bigamie (= Doppelehe; in Deutschland durch § 171 StGB) unter Strafe gestellt. Recht ist aber meist nicht nur von Land zu Land verschieden, es ist sogar innerhalb ein und derselben Gesellschaft wandelbar und von den sich im Laufe der Jahre verändernden Grundüberzeugungen innerhalb einer Gesellschaft - insbesondere denen ihrer Richter - abhängig. Ein Beispiel hierfür war die Abschaffung der Strafbarkeit des Ehebruchs in der Bundesrepublik Deutschland. Sehr nüchtern und pragmatisch betrachtet ist »Recht« in der Form eines Gesetzes - gesetztes Recht also - das, was die politische Mehrheit eines Gesetzgebungsorgans will und das zur Kontrolle der Gesetzgebung berufene oberste Gericht nicht verhindert! Kant formuliert so etwas selbstverständlich etwas allgemeingültiger als ich. (Darum ist er auch meist etwas unverständlicher zu lesen als meine Ausführungen.) Seine Definition von »Recht«: „Das Recht ist Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit in Einklang gebracht werden kann.“

»Das Recht« überfordert ständig nicht nur die Rechtsunkundigen, sondern oft auch Verwaltung, Rechtsanwälte und Richter bis hoch zum Bundesverfassungsgericht. "Kein Gericht und kein Mensch ist unfehlbar. Auch das Verfassungsgericht irrt. ... Die Vorstellung, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Ewigkeitswert hätte, würde ich für ganz schlimm halten. Sie würde zu einer totalen Verkrustung des politischen und sozialen Lebens führen." Das sagte dessen ehemaliger Präsident Prof. Zeidler kurz vor seinem Ausscheiden aus diesem Amt. Recht statt Doch ohne eine » das Recht« verkündende Rechtsprechung der Gerichte geht es erst recht nicht. Die unerträglichen Auswüchse wären das Faust-»Recht« oder staatlicher Terror. Diese Stadien der FaustRechtsentwicklung abzuschaffen, bedurfte es der Kulturleistung vieler Jahrhunderte - bis die Kulturnation »Recht« oder Deutschland im 20. Jahrhundert während der NS-Zeit wieder in ein nicht mehr für möglich gehaltenes Stadium staatlichem der Barbarei zurückgefallen war. Was hätten die Deutschen zu der Zeit in ihrer damaligen Hybris bei dem Terror

540

Aufbau ihres auf ihren Führer hin ausgerichteten (Un-)Rechts von der einfachen sprichwörtlichen Weisheit der Sudanesen lernen können: „Wo man das Recht hinauswirft, kommt der Schrecken zur Tür herein.“ Aber von Schwarzen lernen? Als Weißer, als Arier? Nie! Dem mehrfachen Olympiasieger Jessie Owens wurde von Hitler der Handschlag verweigert: nur weil er schwarz war! Der als Deutscher jüdischen Glaubens von den Nazis verfolgte Franz Werfel formulierte (wohl in Anlehnung an die von dem amerikanischen Präsidenten Lincoln 1863 auf dem Schlachtfeld von Gettysburg gegebene, in ihrer Schlichtheit klassische Definition von Demokratie: „Government of the people, by the people, for the people.“) als Dichter seine Definition von »Recht« mit dem Wort: „Recht ist der Schutz des Menschen vor dem Menschen durch den Menschen um Gottes Willen.“ Man kann »Recht« mit Pannwitz auch mehr technisch sehen: „Das Recht ist die Form der Macht. Es begrenzt die Macht, wie die Form ihren Inhalt.“ Daraus ergibt sich schlüssig: Wo die Macht nicht durch die Form des Rechts begrenzt wird, herrscht ein rechtloser Zustand und damit gnadenlose Willkür.

2.11.2 »Recht« ist oft nur eine Antwort einer Machtelite auf eine historische Situation Dabei darf man aber nicht vergessen, dass »Recht« oft nur eine Antwort einer Machtelite auf eine historische Situation ist; auf jeden Fall verhält es sich so mit den von ihr zur Absicherung ihres Herrschaftssystems erlassenen Gesetzen. Blaise Pascal (1623-1662) machte sich dazu im 17. Jahrhundert die folgenden, noch immer gültigen recht bitteren "Gedanken": „Recht« ist oft nur eine Antwort einer Machtelit e auf eine historisch e Situation

"Es gibt kein Recht und kein Unrecht, das nicht mit dem Klima das Wesen ändert. Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit. Nach wenigen Jahren der Gültigkeit ändern sich grundlegende Gesetze. Das Recht hat seine Epochen. Die Gewohnheit allein macht das ganze Recht; dass es überliefert ist, ist sein einziger Grund. Wie die Mode bestimmt, was uns gefällt, so bestimmt sie auch das Recht. Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt. Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum."13 Dieser Grundgedanke gefiel Voltaire (1694-1778) so gut, dass er ihn im 18. Jahrhundert wiederholte: „Was man Gerechtigkeit nennt, ist ebenso willkürlich wie die Mode.“ Und erinnernd wird noch einmal Hudhaifa zitiert: „Achte darauf, dass jene Dinge, die man heute für recht hält, gestern noch als unmöglich betrachtet worden sind. Die Dinge, die heute für falsch gehalten werden, sind genau die, die morgen als richtig angesehen werden.“ Ein zeitlich noch sehr nah liegendes Beispiel aus Deutschland gefällig? Vor 1933 spielte die mosaische Religionszugehörigkeit kaum eine Rolle, danach entschied sie über Leben oder Tod! Ein Beispiel aus dem gerade begonnenen 21. Jahrhundert: Eine bloße Erwähnung des von den Türken an den Armeniern nach den ersten großen Verfolgungen 1895/96 dann 20 Jahre später 1914/15 durch das mit Deutschland im Ersten Weltkrieg verbündete jungtürkische Regime verübten Völkermordes, dem mit 1-1,5 Mill. Toten zwei Drittel des armenischen Volkes – für die offizielle türkische Regierungspolitik bis heute: in „normalen Kriegshandlungen“ - zum Opfer fielen, wird in der Türkei 90 Jahre nach dem Geschehen noch immer als (in Analogie zu dem Begriff der »Auschwitz-Lüge« hier so genannte) »Armenien-Lüge« strafrechtlich verfolgt. In Frankreich hingegen ist die Leugnung dieses Völkermordes unter Strafe gestellt. Die 13

Das ist noch immer so, trotz der Bestrebungen zur Rechtsvereinheitlichung in der EU: Ende 2004 wurden im katholischen Spanien Embryonen zur Adoption freigegeben, in Deutschland sind Eizellenspenden weiterhin verboten. Nach der Adoptionsfreigabe in Spanien versuchte ein katholischer Pfarrer in Italien, Frauen dafür zu gewinnen, in Spanien Embryonen zu adoptieren (HH A 08.03.05).

541

Menschenrechtskommission der UNO hatte das Vorgehen der Türkei gegenüber den Armeniern am 29.08.85 als Genozid verurteilt. Und das Europaparlament hat am 17.06.87, am 19.06.85 und am 15.11.00 eine Resolution gefasst, dass einer möglichen Aufnahme der Türkei in die EU auf jeden Fall die Anerkennung des Völkermordes der Türken entsprechend der UNO-Völkermordkonvention an den Armeniern durch die Türkei vorausgehen müsse! Der Europarat beschloss am 24.04.01 eine gleichgerichtete Resolution. Am 28.02.02 bekräftigte das Europaparlament mit 391:96 Stimmen seine Haltung in dieser Angelegenheit: Anerkennung des Völkermordes als ein solches Verbrechen der Türken an den Armeniern vor einem eventuellen Beitritt der Türkei zur EU. Als »obiter dictum«: Hitler war von der gewollten »Vergesslichkeit« der Welt, die das Massaker an den Armeniern nicht weiter zur Kenntnis nahm, fasziniert und spekulierte darauf, dass der von ihm geplante (und dann umgesetzte) Genozid an den Juden ebenso problemlos von der Weltöffentlichkeit ignoriert werde.

2.11.3 Historische Bedingtheit des »Rechts« Historische Die Richtigkeit dieser Überlegungen und damit die historische Bedingtheit des Rechts lässt sich sehr gut an der Bedingtheit Geschichte Deutschlands im 20 Jahrhundert nachweisen. Dafür braucht man sich nur überschlägig die tief des Rechts greifenden Umbrüche zu vergegenwärtigen, die durch die Umwertung der gesellschaftlichen Verhältnisse von

Auf eine bestimmt e historisc he Situation und ihr »Recht« gibt es nicht nur eine Antwort

den Normen des Kaiserreiches über den Versuch einer Demokratie in der Zeit der Weimarer Republik bis hin zu der "braunen Diktatur" entstanden sind. Doch damit hört zu unserem Glück die Entwicklung nicht auf. In Verfolgung dieser Entwicklungslinie lässt sich sehr gut zeigen, dass es auf eine bestimmte historische Situation und ihr »Recht« nicht nur eine Antwort gibt: Auf die Fragen nach der (Nicht-)Geltung der Menschenrechte zur Zeit des Nationalsozialismus und welche Lehren daraus zu ziehen seien, wurde im Nachkriegsdeutschland in der Bundesrepublik eine demokratische Antwort mit Geltung der Menschenrechte gemäß der Charta der Vereinten Nationen gegeben. In der DDR dagegen gab es (nur) eine »volksdemokratische Antwort« mit faktischer Vorenthaltung elementarer Menschenrechte trotz ihrer verbal-deklaratorischen Gewährung in der Verfassung dieses zweiten deutschen Staates. Aber auch bei Sportlern entscheidet nicht die Papierform. Der Unterschied der beiden Rechtssysteme war wie der zwischen Jacke und Zwangsjacke; und für einige Opfer wie der zwischen Beil und Fallbeil. In der DDR wurde - wie bei den Nazis - auch mit dem Schafott Politik betrieben, und mindestens 150 der bis 1981 verhängten 230 Todesurteile gegen politisch Missliebige wurden vollstreckt. Dazu wurde sogar u.a. ein von den Nazis gebautes und eingesetztes Fallbeil weiterverwandt. An der Missachtung der Menschenrechte zerbrach dann schließlich das kommunistische Herrschaftssystem nicht nur in der DDR. Da brach auseinander, was – wie jedes diktatorische Regime – zerbrochen gehört! Diese Entwicklung des Rechts in Deutschland soll im Folgenden anhand einiger Beispiele näher dargestellt werden. Dafür wird mit der Darstellung des »Rechts« in der dunkelsten Phase der neueren deutschen Geschichte, während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, begonnen, denn man muss die Vergangenheit begreifen, um die Zukunft bewältigen zu können. „Das Leben kann nur rückwärts verstanden werden, es muss aber vorwärts gelebt werden“ (Kierkegaard). Eine Gegenwart, die sich der Vergangenheit nicht bewusst ist, ist kein tragfähiges Fundament für die Zukunft. Schweigen oder Verschweigen bewältigt keine Vergangenheit - und Vergessen oder Verdrängen erst recht nicht. Wer seine Vergangenheit vergisst, läuft Gefahr, sie zu wiederholen. Die 2285 rechtsradikalen, nationalsozialistisch angehauchten Gewalttaten des Jahres 1992 mit ihren 17 Ermordeten, die inzwischen 16.000 nationalsozialistisch angehauchten Straftaten allein des Jahres 2000, die inzwischen wenigstens 93 aus Rassenhass auf unseren Straßen Erschlagenen und in ihren Häusern Verbrannten sind zumindest in der ausländischen Presse als ein Menetekel gewertet worden! Wer die Vergangenheit nicht bewältigt, der wird von ihr überwältigt! "Ein Volk, das vor seiner Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“, hatte Bundespräsident von Weizsäcker in seiner Rede vom 08. Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestages der Kapitulation Nazi-Deutschlands gemahnt. Das gilt wegen ihrer historischen Bedingtheit besonders für soziale Phänomene wie z.B. das des Rechts.

542

II. TEIL DIE FUNKTION DES RECHTS IM NS-HERRSCHAFTSSYSTEM Soll man sich »mit so etwas« überhaupt noch befassen? Die nationalsozialistische Epoche ist doch über ein halbes Jahrhundert her. Das ist doch Geschichte und damit – bis auf einige von den staatstragenden Kräften pflichtschuldigst zelebrierte Gedenktage – eigentlich abgehakt. Das ist doch nur noch etwas für Historiker, von denen einer der angesehensten, Mommsen, urteilte: Die Kirchen hätten während der Nazi-Diktatur als „moralische Instanz weitgehend versagt“ (HH A 25.06.01). Die katholische Kirche hätte durchaus etwas gegen den Holocaust tun können, denn der Papst sei gut informiert gewesen. Auch von einem Großteil der protestantischen Kirche sei die Verfolgung der Juden öffentlich „zumindest nicht abgelehnt“ worden. Der NSTerror also nur noch ein Forschungsobjekt der Historiker? Das soll’s gewesen sein? Für uns heute Lebende seien die während der Zeit der NS-Diktatur gemachten Erfahrungen nicht mehr von größerem Interesse? Ist das wirklich so? Darf es so sein? Schön wär’s, wenn das Gedankengut der Nazis ein für alle Mal in einem historischen Castor-Behälter für tausende von Jahren für nachfolgende Generationen endgelagert wäre! Ein Blick auf die in den Tageszeitungen fast täglich mitgeteilten Meldungen über Untaten von Neonazis, die dumpf aber lautstark letztlich die Wiedererrichtung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems propagieren und von ihrem sich in verbrecherischen Untaten manifestierenden Hass auf alles „Andersartige“, von ihren Vorstellungen Abweichende, auf alles „Undeutsche“ (so, wie sie es verstehen), und insbesondere von ihrem Hass auf „die Juden“ oder „das Weltjudentum“ getrieben werden, macht deutlich, dass es sich um heute immer noch oder schon wieder virulente Geschichte handelt. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das Unheil kroch“ (Brecht). Leider ist für die meisten Schüler in ihrem oft weniger als rudimentären Geschichtswissen und -bewusstsein Adolf Hitler fast genau so weit »entfernt« wie Napoleon oder Karl der Große - wenn sie nicht gerade in der Abschlussklasse etwas über den Nationalsozialismus gehört haben. (Das Glück hatte ich leider nicht. Mein eigener Geschichtsunterricht, zuletzt 1962, reichte nur bis zum „Panther-Sprung“ nach Agadir 1911. Und so wird es vielen Lehrern meines inzwischen schon fortgeschrittenen Alters gegangen sein, die heute noch über den Nationalsozialismus unterrichten sollen.) Den Schülern ist nicht klar, dass unsere Vergangenheit die Gestaltung unserer Gegenwart und damit auch unsere Zukunft beeinflusst. In der Geschichte gibt es ja nie eine »Stunde Null«. Immer wirkt die Vergangenheit in irgendeinem Sinne mindestens in die Gegenwart und oft sogar in die Zukunft fort: Gute Traditionen beeinflussen die Entwicklung positiv, von den Dämonen der Vergangenheit wird die zukünftige Entwicklung bedroht. Es besteht die von dem amerikanischen Philosophen Santayana so formulierte Gefahr: „Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben“. Hoffentlich nicht! Und lieber mahnend erinnern! Man braucht nur an die in ihren von rechtsradikalen Jugendlichen, insbesondere den Skinheads, angezündeten Häusern verbrannten, an die bis in das Jahr 2001 hinein auf öffentlichen deutschen Straßen und Plätzen in den letzten 15 Jahren erschlagenen mindestens 93 Ausländer und Deutschen zu denken – neuere Zahlen liegen mir nicht vor -, um von der Wahrheit dieser die Erinnerung an die während der Reichspogromnacht verübten Verbrechen wachrufenden Einsicht umgetrieben zu werden! Die Gegenwart steht immer zwischen Vergangenheit und Zukunft; sie fußt auf Ersterer und zielt auf Letztere. „Die Vergangenheit ist niemals tot; sie ist nicht einmal vergangen“ (William Faulkner). Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Zukunft. „Geschichte ohne Wahrheit ist wie ein Gesicht ohne Augen“ (Polykrates). Man muss die Vergangenheit kennen, das in ihr angelegte Zukunftspotential richtig deuten, um die Gegenwart zeitangemessen richtig beurteilen und sich in ihr gesellschaftskonform verhalten zu können. So kann man den Sinn vieler Regelungen im Grundgesetz nur aus der leidvollen Geschichte der NS-Zeit verstehen, deren Wiederholung für die Zukunft durch institutionelle Sicherungen verhindert werden soll. Außerdem: Schweigen bewältigt keine Vergangenheit und Vergessen erst recht nicht. Nur das Erinnern, die für manche vielleicht sogar erst durch das Verhalten von rechtsradikale Parolen grölenden Skinheads oder durch das Auftreten rechtsradikaler Organisationen und die in diesem Zusammenhang geführten Verbotsdiskussionen aufgenötigte ständige Auseinandersetzung mit dem Unrechtsregime der Nazis - und dem der SED - wahrt das Vermächtnis der Opfer und könnte (hoffentlich) einen Immunisierungseffekt bewirken. Der erscheint um so dringlicher, wenn man die Ergebnisse der Wahlen analysiert und so feststellt, wie hoch der seit Jahren ständig gestiegene Prozentsatz derjenigen Jugendlichen ist, die zu rechtsradikalen Parteien tendieren – anlässlich der Landtagwahlen 2004 im Saarland, in Sachsen und in Brandenburg wählte jeder fünfte(!) Jugendliche (und damit 20 %!) die rechtsradikalen Parteien NPD und DVU, die sich für die Bundestagswahl 2006 zu Wahlbündnissen

543

zusammenschließen wollen, um mit vereinter Schlagkraft die 5-%-Hürde zu überwinden und in den Deutschen Bundestag zu kommen -, auch wenn sie wissen oder nur ahnen, dass dort das Gedankengut der Nazis, wie z.B. das dem Demokratieprinzip diametral entgegengesetzte Führerprinzip, die Verachtung und Verfolgung aller Andersdenkender und die Vernichtung alles Andersgearteten oder auch nur als anders geartet Geglaubten, aufgegriffen wird. Was aber bedeutete der Nationalsozialismus nicht nur für die Juden, Roma, Sinti, Polen u.a., „’Gebt sie mir! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder!’ Als die Nazis die Deportation der Kinder aus dem ersten von der Wehrmacht in Polen errichteten Ghetto von Lodz verlangten, hielt der Chef des dortigen Ghetto-Judenrates, Chaim Rumkowski, an die Bewohner des Ghettos am 04. September 1942 eine erschütternde Rede14: ’Niemals habe ich mir vorgestellt, dass meine eigenen Hände das Opfer zum Altar bringen müssten. Nun, im Alter, muss ich meine Hände ausstrecken und betteln: Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Väter und Mütter, gebt mir eure Kinder! (...) Gestern gab man mir den Befehl, etliche 20.000 Juden aus dem Ghetto zu deportieren. Tun wir es nicht, so tun es andere. Es stellt sich die Frage: Hätten wir es übernehmen und ausführen sollen, oder hätten wir es anderen überlassen sollen, es durchzuführen? Da wir aber nicht von dem Gedanken beherrscht sind: ’Wie viel werden verloren gehen?’, sondern von dem Gedanken: ’Wie viele wird man retten können?’, sind wir, das heißt ich und meine engsten Mitarbeiter, zu dem Schluss gekommen, dass wir die Ausführung dieses Verhängnisses in unsere Hände nehmen müssen, wie schwer uns dies auch fallen sollte. Tun wir es nicht, tun es andere. Ich muss diese schwere und blutige Operation durchführen, ich muss Glieder amputieren, um den Körper zu retten. (...) Ich bin heute nicht gekommen, um euch zu trösten, ich bin nicht gekommen, um euch zu beruhigen, sondern um euer ganzes Leid und Weh aufzudecken. Wie ein Räuber bin ich gekommen, um euch das Beste aus euren Herzen herauszureißen! Ich muss Kinder nehmen, denn andernfalls könnten – Gott behüte – andere genommen werden. Mit all meinen Kräften habe ich versucht, das Verhängnis abzuwenden und - nachdem abwenden unmöglich war - es zu mildern. Heute habe ich die Registrierung aller neunjährigen Kinder angeordnet. Wenigstens die neun- bis zehnjährigen Kinder wollte ich retten. Doch hat man nicht nachgegeben. Eines ist mir gelungen: die zehnjährigen Kinder zu retten, möge euch das in eurem großen Leid zum Trost sein. (...) Wir haben im Ghetto zahlreiche Tuberkulose-Kranke, deren Lebensende nach Tagen, vielleicht nach Wochen zählt. Ich weiß nicht, vielleicht ist es teuflisch, vielleicht nicht. Doch kann ich mich nicht dazu bringen, es nicht auszusprechen: „Gebt mir eure Kranken, und an ihrer Stelle wird man Gesunde retten können. (...) Man verlangte von mir 24.000 Kinder ... Doch gelang es mir, die Zahl auf 20.000 zu drücken ..., allerdings unter der Bedingung, dass es Kinder bis zehn Jahre sind. Kinder über zehn Jahre sind sicher. Da die Kinder zusammen mit den Alten nur eine Zahl von ca. 13.000 ergeben, wird man die Menge erreichen müssen mit Kranken. (...) Vor euch steht ein vernichteter Jude. Beneidet mich nicht! Es ist dies die schwerste Anordnung, die ich je ausführen musste. Ich strecke meine zerschlagenen, zitternden Hände zu euch und bettele: Legt eure Opfer in meine Hände, damit ich weitere Opfer verhindern kann, damit ich eine Gruppe von 100.000 Juden retten kann.’ „Als Rumkowski endete“, schreibt die 1925 in Hamburg geborene Cecilie Landau (nach dem Überleben von Lodz ab 1941, Auschwitz, Neuengamme und Bergen-Belsen in den USA verheiratete Lucille Eichengrenn) als Augenzeugin und Verfasserin des autobiographischen Berichts, „wurde er mit Steinen beworfen, als er in seiner Pferdekutsche vorbeifuhr – aber was sollte das bewirken? ... Am Ende sollten fünfundzwanzigtausend Menschen deportiert werden, da die Deutschen solche Zahlen nach Lust und Laune erhöhten oder herabsetzten. Rumkowski warb bei jeder sich bietenden Gelegenheit um Verständnis, aber was gab es da zu verstehen? Er hatte uns gebeten, mit den 14

Original der deutschen Übersetzung im Staatsarchiv Lodz (Sig. APL, PSZ 1091), Abdruck des Originals mit Genehmigung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, Universität Gießen im STERN 28.10.04; das dort abgedruckte Dokument wurde ergänzt durch bei Eichengreen, L.: „Rumkowski, der Judenälteste von Lodz“, S, 52 ff gefundene Zitatstellen.

544 Deutschen zusammenzuarbeiten, und er hatte uns gebeten, die Alten und Jungen auszuliefern – aber diese »Bitten« entzogen sich jedem Verständnis. ...“ Innerhalb weniger Tage nach dieser Rede wurden fast alle Kinder, Alten und Kranken - also die, die für die Nazis nicht nützlich waren - in die Vernichtungslager deportiert. Bewaffnete deutsche Einsatzkräfte durchkämmten nach der Verhängung von Hausarrest für alle weit über 100.000 Juden des Lodzer Ghettos alle Häuser mit bissigen Hunden und selektierten die Bewohner zum Abtransport: insgesamt mehr als 15.000 Menschen. sondern auch für die Deutschen: für die Deutschen, die das Gewaltregime bejubelten und für diejenigen, die es aus ihrer tieferen Einsicht in die Gewaltzusammenhänge heraus bekämpften und dabei in einem perfekt ausgebauten System von Staatsterrorismus ihr Leben riskierten? „Das Schlimmste, was Hitler uns angetan hat und er hat uns viel angetan -, ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen gemeinsam den Namen Deutsche zu tragen.“ So kommentierte unser erster Bundespräsident Theodor Heuss die Katastrophe der deutschen Kultur durch das NS-Regime. „... das, was früher war, fällt uns zur Last. Wir sind die kleinen Erben großer Übeltäter. Sie laden uns bei ihrer Schuld zu Gast.“ Erich Kästner). Grillparzers düstere Voraussage, dass der Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität führen werde, hatte sich schrecklich erfüllt. Die Nazis haben mit den Ausflüssen ihres arischen Herrenmenschentums Schande über das deutsche Volk gebracht – und die Neonazis tun es wieder. Angesichts solcher Fakten fällt es mir als Historiker, Fachlehrer für Politik und Volljurist schwer, nach meinem Dafürhalten zutiefst ahistorische Menschen zu verstehen, die bedenkenlos die Phrase im Munde führen: „Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein!“ Stolz vermag ich nur auf das zu sein, was ich selbst geleistet habe, nicht aber auf eine solche Zufälligkeit wie das Geburtsland. Ich bin meinem Schicksal unendlich dankbar dafür, dass ich rein zufällig, ohne jede eigene Leistung und ohne jegliches eigenes Verdienst als Kind meiner Eltern in dieser Gesellschaft mit ihren Sozialchancen leben konnte und (von den ersten vier Lebensjahren abgesehen) nicht im Nationalsozialismus groß werden musste, nicht dort kindlicher oder jugendlicher Mitläufer – was ohne weiteres möglich gewesen wäre – oder gar schuldig wurde, dass ich nicht in z.B. einen indischen Slum hineingeboren wurde, wo Kinder teilweise verstümmelt wurden oder auch noch werden, um so mitleidheischend ertragreicher betteln zu können. Ich bin nicht geistig »schlicht« genug, auf eine solche Zufälligkeit »stolz« sein zu können. Nach meinem Dafürhalten können nur völlig ahistorisch denkende Menschen, die unsere jüngere Geschichte völlig verdrängen, angesichts dieser schrecklichen, mir in stillen Momenten geschichtlicher Besinnung die Schamröte ins Gesicht treibenden Vergangenheit einen solchen - in meinem Augen: dümmlichen - Spruch von sich geben. Und das auch noch schon fast als Wettbewerb im Bundestag, denn nach dem CDUBundesgeschäftsführer Meyer versuchte der schon nominierte FDP-Vorsitzende Westerwelle seinen Kollegen in dem vom Zaun gebrochenen Patriotismus-Wettstreit durch Wiederholen genau des gleichen geistlosen Satzes im Plenum des Bundestages an öffentlicher Aufmerksamkeit möglichst noch zu übertreffen! In diesem Buch gibt es wenig Anlass, die Papstkirche und ihren obersten Vertreter zu loben. Darum sei die seltene Gelegenheit beim Schopfe gepackt und den beiden Patriotismus-Schreihälsen das auf einem interreligiösen Treffen in Kiew gesprochene Papstwort entgegengehalten: „Wer könnte das Blutopfer vergessen, das die Juden für den Fanatismus einer Ideologie bezahlen mussten, die die Herrschaft einer Rasse über die andere propagierte“, sagte Johannes Paul II. (HH A 25.06.01). Und darauf sollte ich stolz sein? Mir gelingt das nicht! Dafür bin ich in meinen historischen Denkbezügen einfach nicht »schlicht« genug. „Weiter sah ich unter der Sonne: An der Stätte des Rechts war Gottlosigkeit, und an der Stätte der Gerechtigkeit war Frevel. Da sprach ich in meinem Herzen: Gott wird richten den Gerechten und den Gottlosen; denn alles Vorhaben und alles Tun hat seine Zeit“, heißt es in dem Jahrtausende alten Text Prediger Salomo 3/16-17 und kann gut als zum Nachdenken anregende Einleitung zur Rechtsprechung zur Zeit des Nationalsozialismus und zur »Recht«sprechung des Volksgerichtshofes stehen. Auf welchem juristischen Hintergrund entwickelte sich diese schauerliche NS-Diktatur, die uns zu reflektierter Scham, aber nicht zu Stolz Anlass geben sollte?

545

1 Rechtsprechung als Terrorinstrument Rechts prechu ng als Terrorinstrum ent

Der frühere Berliner Regierende Bürgermeister Diepgen erklärte am 50. Jahrestag der Gründung dieses in Berlin ansässig gewesenen Schein-Gerichts anlässlich des unrühmlichen historischen Datums: Die schreckliche Bilanz des Volksgerichtshofes, der zur bedingungslosen Verfolgung ("Ausmerzung") politisch Andersdenkender eingerichtet und als rechtlich getarntes Vernichtungsinstrument in die deutsche Geschichte eingegangen ist, verpflichte dazu, "... Recht nie wieder als bloße Rechtstechnik zu begreifen, sondern immer die Würde des Menschen als höchstes Rechtsgut voranzustellen." Diese Erkenntnis leitete auch den Parlamentarischen Rat als Verfasser des Grundgesetzes, als er Artikel 1 I GG in die Worten fasste: "Die Würde des Menschen ist unantastbar.",

Die Würde des Mensche n als höchstes Rechtsgu t im GG

"Wenn man keine Demokra ten zu Richtern macht, muss man sich nicht wundern, wenn sie Unrecht statt Recht sprechen ."

und ihn allen anderen Grundrechten als Maßstab voranstellte. Auch wenn dieser Fundamentalsatz unserer Verfassung nicht zu den Leitwerten derjenigen in Deutschland gehört, die aus dem Brett vor ihrem Kopf eine Waffe machen, gilt er eingängig als Sponti-Spruch abgewandelt: „Keiner ist niemand!“ Jeder ist Mensch mit der ihm allein schon aus diesem Menschsein originär zustehenden Menschenwürde, die in unserer Rechtsordnung nicht angetastet werden darf, ohne die jedem Staatsbürger von Staats wegen geschuldete Schutzfunktion hervorzurufen! (Manchmal fällt es allerdings schwer und bedarf einer erheblichen geistigen Anstrengung und einer Besinnung auf die Grundlage unseres Staates, auf Art. 1 I GG, um z.B. auch »aus Spaß« kindermordenden Sexualstraftätern oder anderen deliktisch ähnlich schwerwiegend auffällig gewordenen, dabei aber voll schuldfähigen Tätern, die z.B. andere umbringen, um sich an deren Todeskampf zu weiden, zu erregen, diesen Todeskampf zu filmen und dann in der entsprechenden »Fangemeinde« für sehr viel Geld zu verkaufen, denen ihre Menschenwürde zu belassen!) Artikel 1 GG ist kein »Deutschen-Recht«, sondern ein Menschenrecht! Das ist die in Artikel 1 GG formulierte Lehre aus unserer schrecklichen nationalsozialistischen Vergangenheit, in der das erschreckend anders gesehen wurde: „Es ist wohl nur recht und billig, die Welt von einer minderwertigen Rasse zu befreien, die sich wie Ungeziefer vermehrt“ (Hitler). Aus solchen Bemerkungen wurde dann die Berechtigung hergeleitet, Juden als unter der Tierstufe stehend anzusiedeln. Selbst Ärzte betrachteten Juden als „wurzelloses Parasitentum“ und behandelten sie dementsprechend. Von Artikel 1 I GG aus sind alle anderen Grundrechte und alle staatlichen Maßnahmen zu interpretieren, u.a. auch die Angemessenheit staatlichen Strafens. (Davon profitierte dann auch Honecker, der sich nie um die Würde der seinem Regime unterworfenen Deutschen gekümmert hatte, als er an der Spitze des SEDUnrechtsregimes gestanden hatte, in dem Millionen Andersdenkender gequält und vereinzelt durch Urteil oder MfS-Machenschaften auch umgebracht worden waren.) Und der ehemalige Bundeskanzler Schmidt sagte mit einem Seitenblick auf die bundesrepublikanische Richterschaft, die sich zumindest in den bestimmenden höheren Positionen aus zum Teil erheblich »belasteten« NS-Richtern rekrutiert hatte: "Wenn man keine Demokraten zu Richtern macht, muss man sich nicht wundern, wenn sie Unrecht statt Recht sprechen." Lange vor ihm hatten angesichts dieser Tatsache Sozialdemokraten 1950 im Bundestag - folgenlos - gemahnt, dass die Richter, "... die heute tätig sind und die wir als Nachlaß der Vergangenheit übernommen haben, ... nach ihrer politischen Substanz nicht die geeigneten Garanten für die Anwendung des Rechts in einem demokratischen Staate ..." sein könnten. So fielen denn auch ihre Urteile in politischen Nachkriegsprozessen aus! "Die Rechtsprechung zu dem ... Staatsschutzgesetz übertraf dann alle Befürchtungen. ... der »politische« Strafsenat des Bundesgerichtshofes [stellte] immer geringere Anforderungen an die »staatsgefährdende Absicht« und bestrafte sogar Bürger wegen »Staatsgefährdung«, die lediglich gegen die Wiederaufrüstung protestiert hatten oder für eine »Wiedervereinigung Deutschlands in freien Wahlen« eingetreten waren, nur weil die Regierung der DDR ähnliche Forderungen erhoben hatte.“15 “Der Eifer, mit dem die Gerichte sich der Kommunistenverfolgung widmeten, drängte 1961 selbst dem obersten Ankläger in politischen Strafsachen, Generalbundesanwalt Max Güde, historische Vergleiche auf: ‘Die heutige politische Justiz judiziert aus dem gleichen gebrochenen Rückgrat heraus, aus dem das Sondergerichtswesen [des Dritten Reiches, der Verf.] zu erklären ist.'" 16

15

16

Müller, Ingo: Furchtbare Juristen, München 1989 S. 235 Müller, Ingo: Furchtbare Juristen S. 236

546

1.1 Der Volksgerichtshof als Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft Fall Der Widerstandskämpfer Dr. Theodor Haubach war nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 verhaftet, vor dem Volksgerichtshof angeklagt und zunächst zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Seine Äußerungen nach(!) der Urteilsverkündung erzürnten den jähzornigen und unberechenbaren Gerichtspräsidenten Roland Freisler so sehr, dass die an sich schon abgeschlossene Verhandlung unrechtmäßigerweise wieder aufgenommen und mit der Verkündung der Todesstrafe beendet wurde. Die Hinrichtung erfolgte am 23.01.45.

Der Volksger ichtshof als Terrorins trument

Fall Elfriede Scholz, eine von rund 1.100 getöteten Frauen des Widerstandes (nach einer Zeitungsmeldung aus einem – wohl in Anlehnung an das von Heinrich Heine in seiner Tragödie „Almansor“ gedichtete Wort: „Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“, so überschriebenen - Referat des Schriftstellers Rolf Hochhuth: "Verbrannte Bücher: Verbrannte Menschen" Die Zeit 13.05.83): "Eine Frau war in Dresden ihrer Bemerkung wegen denunziert worden, Hitler werde `seinen' Krieg verlieren. Man brachte sie nach Berlin vor das Sondergericht des sogenannten Volksgerichtshofes. Der Präsident Freisler - was auf mittelhochdeutsch: `Der Schreckliche' heißt - verurteilte zusammen mit den ihm beigeordneten Richtern die Frau in einem seiner berüchtigten Schnellverfahren wegen dieser `defätistischen' Vermutung zu einigen Jahren Zuchthaus. Dann blätterte er noch ein wenig in ihrer Akte. `Geborene Kramer?' fiel ihm auf, `aus Osnabrück?' Die schon Verurteilte bejahte. Freisler: `Sind Sie etwa verwandt mit jenem Osnabrücker Kramer, der sich Remarque nennt und `Im Westen nichts Neues' geschrieben hat?' Die Frau antwortete: `Das ist mein Bruder.' Daraufhin brachte Freisler sie nicht ins Zuchthaus, wozu sie schon von ihm verurteilt worden war, sondern unter die Guillotine. Heute spricht niemand mehr von dieser Enthaupteten."

»Recht«sprechung des Volksgeric htshofes

Insbesondere auf solche Richter trifft das von dem Dichter Hochhuth im Zusammenhang mit dem früheren NSMarinerichter und späteren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Filbinger, geprägte Wort von den "furchtbaren Juristen" zu. Dieser Fall, dass jemand für die Äußerung seiner Meinung, "Großdeutschland" werde nicht den von den Nazis mit Durchhalteparolen bis zum Schluss propagierten "Endsieg" erringen, sondern militärisch geschlagen werden, zum Tode verurteilt worden ist, ist kein Einzelfall. Beispielhaft werden Auszüge aus dem Urteil gegen einen Hamburger Arbeiter wiedergegeben17. Dieses Mitglied der KPD hatte am Tag nach der alliierten Invasion in der Normandie vom 06.06.1944 in einem Gespräch mit einem Frontsoldaten in einer Bedürfnisanstalt, das von einem verdeckt ermittelnden Angehörigen der Gestapo mitgehört worden war, seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden könne. Die Verhandlung mit der Verkündung des Todesurteils fand am 16.01.1945 statt, als die in dem Gespräch geäußerten Prognosen eingetroffen waren: Die Westalliierten standen am Rhein und die Rote Armee an der Oder. Gleichwohl verurteilte das Hanseatische Oberlandesgericht den der KPD angehörenden Arbeiter zum Tode. Das Urteil wurde mit dem Fallbeil am 23.03.1945 vollstreckt, als der »Endkampf« um Berlin schon begonnen hatte. „Hanseatisches Oberlandesgericht IM NAMEN DES DEUTSCHEN VOLKES! O.JS.245/1944 In der Strafsache gegen den Kohlenarbeiter Max Gustav Adolf S c h l i c h t i n g geboren am 8. Februar 1907 in Bergedorf,

17

zitiert nach: „»Von Gewohnheitsverbrechern, Volksschädlingen und Asozialen ... « Hamburger Strafurteile im Nationalsozialismus“, Justizbehörde Hamburg (Hg.), 1955, S. 404-419

547

wegen Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung, hat der 1. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Hamburg in der Sitzung vom 16. Januar 1945, an welcher teilgenommen haben ... für Recht erkannt: Der Angeklagte, ein gemeinschaftsfeindlicher Kommunist, hat sich am 7. Juni 1944 in ein Straßengespräch eines Zivilisten und eines Soldaten eingemischt und trotz verständiger und zuversichtlicher Aufklärung der Gesprächspartner unbelehrbar und eigensinnig die Auffassung vertreten, wir bekämen eine Wucht, es werde höchste Zeit, wir würden zu großschnauzig, der Krieg könne nicht gewonnen werden, die Amerikaner könnten wir nicht besiegen, sie würden auch wie nach 1918 für uns sorgen. Der Angeklagte wird deshalb wegen Feindbegünstigung und öffentlicher Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Die Ehrenrechte werden ihm auf Lebenszeit aberkannt. Er hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gründe ... An dem genannten Tage suchte der Angeklagte infolge Regens Schutz im Gange einer Bedürfnisanstalt auf dem Großen Neumarkt, in dem sich bereits ca. 10 andere Personen zu dem gleichen Zweck aufhielten, darunter auch mehrere Soldaten. ... [Es folgt die Darstellung des Tatgeschehens aus der Sicht des Gerichts.] ... Der Angeklagte ist somit schuldig, den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen und zu zersetzen gesucht zu haben, durch dieselbe Handlung zugleich es unternommen zu haben, im Inlande während eines Krieges gegen das Reich der feindlichen Macht Vorschub oder der Kriegsmacht des Reiches einen Nachteil zugefügt zu haben (...). ... Eine solche Existenz ist aber für die Volksgemeinschaft in Zeiten wie den jetzigen untragbar und muß aus derselben ausgeschieden werden. Dies erfordert nicht nur die Sicherheit der inneren Front, sondern in gleicher Weise der Kämpfer vor dem Feinde, der ständig sein Leben für die Allgemeinheit einsetzt und gegebenenfalls zum Opfer bringt. Da demnach ein minder schwerer Fall im Sinne des Gesetzes nicht in Frage kommt, bleibt als Strafmaß nur die Verhängung der Todesstrafe, auf die das Gericht hiermit erkannt hat. ...“ Genau so erging es der ostelbisch-pommerschen Adligen Elisabeth von Thadden. Sie war überzeugte Protestantin, hatte ein christlich geprägtes Landerziehungsheim für Mädchen in Heidelberg gegründet, gehörte der Bekennenden Kirche an und geriet durch ihr gelebtes Christentum in scharfen Gegensatz zu den Nazis. Als Mitglied eines Teekreises, des Solf-Kreises, versuchte sie, Opfer von Nazi-Verfolgung zu unterstützen. Ein mit ihr befreundeter Arzt, den sie in den Kreis mitgebracht hatte, stellte sich als Gestapo-Spitzel heraus und verriet sie und die Mitglieder des Teekreises. Elisabeth von Thadden wurde am 01.07.1944 vom Volksgerichtshof wegen u.a. Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und mit einem weiteren Angehörigen ihres privaten Kreises, dem Gesandten Otto Kiep, am 08.09.44 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Nach Auskunft des Gefängnisgeistlichen Pfarrer Ohm sollen die letzten Worte der glaubensstarken Frau eine Zeile aus einem PaulGerhardt-Lied gewesen sein: „Mach’ End’, oh Herr, mach’ Ende mit all unsrer Not.“ Mit diesem Vers meinte sie sicher nicht ihr Leben, sondern die von ihr als so drückend empfundene Not der Deutschen unter der Nazi-Diktatur! Unfassbar ist, dass - wie einem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) aus dem Jahre 1952 zu entnehmen ist ein Mann von seinem Bruder bei der "Gestapo" denunziert worden war, weil er sich während des Krieges wiederholt abfällig über die Staatsführung und ungünstig über die Kriegsaussichten geäußert hatte. Auch er ist wegen seiner defätistischen Äußerungen vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet worden. Darum war es in Berlin ein geflügeltes Wort: "Eh det ick mir hängen lasse, jloob ick liba an'n Endsiech."

548

Das in diesem Zusammenhang schrecklichste Gericht, der Volksgerichtshof, war von Hitler schon 1924 in seinem Buch "Mein Kampf" mit der Aufgabe der Aburteilung zur Hinrichtung "der verantwortlichen Verbrecher des Novemberverrats", die am Ende des Ersten Weltkrieges die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Kaiserreiches im "Versailler Diktat" hatten unterschreiben müssen, angekündigt und dann von den Nazis nach ihrer Machtergreifung als Sondergericht aus Enttäuschung über den Ausgang des Reichstagsbrand-Verfahrens ins Leben gerufen worden, weil ihnen nicht genügend Verurteilungen ausgesprochen worden waren. „Seine Aufgabe ist nicht die, Recht zu sprechen, sondern die, die Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten.“ Der BGH urteilte in dem vorstehend angesprochenen Gerichtsverfahren über den am 24.04.1934 (einer der schwärzesten Tage in der deutschen Justizgeschichte) gegründeten Volksgerichtshof: "Diese Rechtsprechung hatte mit Recht nichts mehr zu tun und enthüllte ihr wahres Wesen als Terrorinstrument. Es handelte sich um die Ausnutzung gerichtlicher Formen zur widerrechtlichen Tötung." Und die Auswirkungen zeigten, dass die Bibel mit ihrer Weisheit wieder einmal Recht hatte: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben!“ (Sprüche Salomos 14/34) 5.243 Todesurteile sind allein vom Volksgerichtshof verhängt worden; rund 40.000 von allen anderen Sondergerichten. Dazu kommen in die Tausende gehende Todesurteile von normalen Strafgerichten. Totalitäre Macht geht immer über Leichen. Am 25.01.1985 erst erklärte der Bundestag – leider nicht in Gesetzesform, sondern in einem schlichten Parlamentsbeschluss - die Urteile des Volksgerichtshofes fast 40 Jahre nach dem Ende des NS-Terrorregimes für nichtig: Diese Institution sei kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinne, sondern ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft gewesen. "Den Opfern und ihren Familien bezeugt der Deutsche Bundestag Achtung und Mitgefühl. Mit ihrem Widerstand gegen das Naziregime haben sie ein bleibendes Beispiel gesetzt. ..." Erst am 28.05.98 sind die rund 500.000 Nazi-Unrechtsurteile, die aus „politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen“ ergangen sind, aufgehoben worden, nachdem auch die konservativen Kreise sich endlich zu der Einsicht durchgerungen hatten, dass es nicht menschlich verwerflich war, wenn Soldaten aus Gewissensgründen desertiert waren, um nicht an Hitlers Angriffskrieg mitschuldig zu werden, dass sie keine Vaterlandsverräter waren, die ihre für Deutschland kämpfenden Kameraden feige im Stich gelassen hätten. Weitere 350.000 auf Grund eines Unrechtsurteils gegen Zwangssterilisierte und Homosexuelle ergangene Urteile unterfielen ebenfalls dieser Regelung, die allerdings eine Einzelfallprüfung voraussetzte. Mit einer Gesetzesänderung vom 17.05.02 zur Aufarbeitung von Nazi-Urteilen entfiel dann die bis dahin erforderliche Einzelfallprüfung für die Rehabilitierung der meist längst hingerichteten oder verstorbenen Homosexuellen und Deserteure. Bis dahin war die rechtliche Aufhebung der Unrechtsurteile blockiert worden, weil konservative Kreise insbesondere in der CSU Erschießungen von wieder eingefangenen Deserteuren als rechtmäßig bewertet wissen wollten, Homosexuelle nicht rehabilitiert werden sollten. Nun wurden überlebende Opfer der Wehrmachtsjustiz wie die 300 noch lebenden Deserteure und die Kriegsdienstverweigerer rehabilitiert – aber nicht entschädigt. Ideologie der Staatspartei als allgemein verbindlich es Sittengesetz

Wie in allen autoritären Gesellschaften die jeweilige Führung als Grundvoraussetzung ihrer Herrschaft gegenüber den ihrer Herrschaftsgewalt Unterworfenen kritiklos hinzunehmende moralische Unfehlbarkeit beansprucht, so erhoben auch die Nazis - wie später wieder die Kommunisten der SED - die Ideologie ihrer Staatspartei ungeniert zum allgemein verbindlichen Sittengesetz. Die Gesellschaft wurde mit juristischen Bestimmungen und mit Anweisungen so durchorganisiert, dass jeder Schritt mit gedankenlosem Gehorsam nachvollziehbar war und überwiegend auch so vollzogen wurde - auch von den Richtern, die in maßlosem Gesetzespositivismus die einzelnen getroffenen juristischen Regelungen vollzogen, ohne sich noch zu fragen, was Recht und was Unrecht sei. „Vor allem, was in der Gestalt eines Gesetzesparagraphen einherwandelte, warfen sie sich in den Staub“ (Ostermeyer). Was an Bestimmungen erlassen worden war, wurde in einem im Nachhinein in seinen dämonischen Ausmaßen nicht mehr nachvollziehbaren Kultur- und Zivilisationsbruch fast ohne Ausnahme hemmungslos und ohne moralischen Blick auf die Folgen vollzogen, und teilweise wurde noch darüber hinaus richterliches Unrecht gesprochen. Aber dann lag in "Hitlers Volksstaat" kein gedankenloser Gehorsam mehr vor, sondern nationalsozialistischer Fanatismus. Das von den Nazis proklamierte und durchgesetzte Führerprinzip war ein mit einem Firnis aus Kultur, Moral

549

und Rechtsnormen überzogenes reines Unterwerfungs- und moralisches Entmündigungsprinzip mit Gehorsamsanspruch gegenüber der eigenen Bevölkerung. „Mein Gewissen heißt Adolf Hitler“ („Reichsarbeitsführer“ Robert Ley). Das Gewissen wurde enteignet und bei denen, die keine Mitläufer waren, wurde Gewissensangst durch Straf- oder gar Todesangst ausgelöscht. So wurden die Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrzahl zumindest anpassungsbereit gemacht. Das ist aber etwas anderes, als „Hitlers willige Vollstrecker“ gewesen zu sein, wie es der amerikanische Soziologe Daniel Goldhagen 1996 von den Deutschen in Bausch und Bogen behauptete. Natürlich hat es die – zu unserer Schande als Angehörige des deutschen Volkes – viel zu zahlreich unter den Deutschen gegeben: die einschüchternd laut schreienden, die fanatisch laut jubelnden - und die leise fanatisch mordenden. Doch »die Deutschen« in Bausch und Bogen als „Hitlers willige Vollstrecker“ zu sehen, ist nur die unrühmliche, hässliche Seite der Wahrheit, eine Teilwahrheit. Nicht berücksichtigt wurde von Goldhagen die totalitäre Kontrolle der Deutschen: „Jeder, der eine Familie hat, für die er sorgen muß, und es sich nicht leisten kann, seine Arbeit zu verlieren, ist in der einen oder anderen nationalsozialistischen Organisation. Und hat er das Pech, einen Beruf auszuüben, in dem die Mitgliedschaft in der NSDAP gefordert wird, tritt er ihr bei.“ Und: „ Wer in Deutschland lebt und arbeitet, ist heute zu einem Rädchen in einer Maschine geworden, die ihn unwiderstehlich zwingt, sich denen anzupassen, welche am Ruder sind, und die ihn, falls er Widerstand leistet, einfach in Stücke reißt.“ Das schrieb der 1938 ins britische Exil gegangene Publizist Sebastian Haffner 1940 dort in seinem Buch: „Germany: Jekyll & Hyde“18, weil die allgemeine politische Situation in Deutschland so war. Erläuterndes Beispiel aus dem Bekanntenkreis, damit die Aussage von Haffner nicht so im Abstrakten stehen bleibt: Der Vater eines Freundes kommt nach Hause und erfährt, dass ein Nachbar wegen eines (gestohlenen?) Brotes von der Gestapo abgeholt worden sei. Alle Nachbarn befürchten die Ermordung des Gestapo-Gefangenen. Der Vater des Freundes fand es empörend, dass jemandem wegen eines Brotes das Leben genommen werden solle und ging deswegen als Fürsprecher für den Verhafteten zu der Gestapo-Dienststelle - wo er „in Stücke gerissen“ wurde, denn von dort ist er nicht mehr zurückgekehrt. Mein Freund aus Bundeswehrzeiten musste ohne Vater aufwachsen, weil Friedrich Kesting bei der untersten ihm erreichbaren Stelle ein wenig Menschlichkeit eingefordert hatte; die Mutter musste, weil ihr Mann ohne jeden Aktenvorgang einfach namenlos verschwunden blieb, als nicht amtlich deklarierte Witwe eines von der Gestapo Ermordeten ihre beiden Söhne durch den Alltag in Nazi-Deutschland durchbringen! Was das heißt, kann keiner ermessen, der nicht einmal andeutungsweise in einer solchen Situation gelebt hat! Und das hat Goldhagen nicht. Damit soll jedoch nicht das zahlreiche Mitläufertum aus Fanatismus bis hin zu nonchalanter Unbekümmertheit – „der Führer wird schon das tun, was für das deutsche Volk gut ist“ -, allgemeinem Desinteresse an politischer Teilhabe – „Politik ist ein schmutziges Geschäft und hat mich noch nie interessiert, das können die ... (Männer) machen, wie sie wollen“ - oder kollektiver Lethargie - „gegen diese reißende Flut der kollektiven nationalen Besoffenheit lässt sich sowieso nichts ausrichten“ - geleugnet werden, ein nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wegen der wirtschaftlichen und politischen Depression der Weimarer Republik existenziell verunsichertes zahlreiches Mitläufertum der Unter-die Räder-Gekommenen, das Hitler als Messias einer Wende zum Besseren erst seinen Aufstieg ermöglicht hat. Und das war einerseits die Schuld der »kleinen« Deutschen, denn: „Nicht die Diktatoren schaffen Diktaturen, sondern die Herden“ (Georges Bernanos). Andererseits war es aber auch die Schuld der Intellektuellen, die nicht früh genug und nicht laut genug vor dem aufkommenden braunen Spuk gewarnt, sondern sich weggeduckt oder dem sich etablierenden totalitären System anfangs sogar noch freudigergeben gedient hatten, wie es einer von ihnen in einem Gedicht schuldbewusst formuliert hat: SCHULD19 Ich trage leicht an dem, was das Gericht mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen. Verbrecher wär‘ ich, hätt‘ ich für das Morgen des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht. Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt, ich mußte früher meine Pflicht erkennen, ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen – mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt ...

18 19

Ich klage mich in meinem Herzen an: ich habe mein Gewissen lang betrogen, ich hab mich selbst und andere belogen – ich kannte früh des Jammers ganze Bahn – ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar! und heute weiß ich, was ich schuldig war ... Albrecht Haushofer

In Deutsch nachgedruckt erschienen unter dem Titel: „1939 – Deutschland von innen betrachtet“, S. 72 und 232 Zitiert nach: „Gedichte fürs Gedächtnis“, sehr kenntnisreich kommentiert hrsg. von Ulla Hahn

Der UNO-Generalsekretär Annan drückte das 2005 anlässlich der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27.01.05 mit den Worten aus: „Es ist daher richtig, wenn behauptet wird, dass alles, was passieren muss, damit das Böse gewinnt, ist, dass gute Menschen nichts unternehmen. … Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.“ Nur: die Mehrheit muss wissend sein! Der amerikanische Soziologe Goldhagen wollte aus dem damaligen deutschen Volk „Hitlers willige Vollstrecker“ machen, aber dann müssten »die Deutschen« um all die von den Nazis begangenen Schweinereien gewusst - und sie gebilligt - haben. Doch dem war nicht so, wie aus dem SPIEGEL-Interview vom 06.03.05 mit unserem Altbundespräsidenten von Weizsäcker hervorgeht, denn der im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gekämpft habende Offizier versicherte auf die Frage: Was haben Sie mitbekommen als Offizier mit ihren Verbindungen über das, was an Gräueltaten im Osten passiert ist? Wieweit wussten Sie über Konzentrationslager und Massenvernichtungslager Bescheid? Von Weizsäcker: Das ist ganz eindeutig, wenig bis nichts. Wir haben keine englischen Sender gehört, und wir saßen nicht in gemütlichen Büroräumen und konnten uns über die Welt informieren. Wir waren halt als Infanteristen irgendwo an der Front eingesetzt. Der Krieg ist selbstverständlich nicht nur im rückwärtigen Heeresgebiet grausam. Aber das, was nun mit Recht das ganze Bild bestimmt, die Tätigkeit der Einsatzgruppen und die Konzentrationslager bis hin zum Stichwort Auschwitz, war nicht bekannt bei uns. Ich weiß nicht, wann ich das Wort Auschwitz zum ersten Mal gehört habe, aber sicher nicht vor dem Frühjahr 1945.

Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sagte auf derselben Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27.01.05, es sei (für ihn) bis heute unfassbar, wie so viele gebildete Deutsche sich schuldig machen konnten. "Wie konnten intelligente und gebildete Menschen tagsüber mit Maschinengewehren auf Hunderte Kinder schießen und sich am Abend an den Versen Schillers oder einer Partitur von Bach erfreuen?" Herausragende, überwiegende Schuld an dem Elend, das der NS-Staat über zunächst das deutsche Volk und dann die anderen Völker gebracht hat, trifft nach meinem Dafürhalten aber die damals überwiegend nationalistisch-konservativ eingefärbte deutsche Richterschaft insbesondere der höheren und obersten Gerichte, die dem braunen Spuk aus geistiger Kumpanei nicht Einhalt geboten hatte, als es noch leicht und völlig gefahrlos möglich gewesen wäre. Als Historiker, der sich manchmal fragt, ob Geschichte »einen Sinn« ergibt, ob hinter noch so schrecklichem Geschehen ein »göttlicher Wille« walten könnte, der die Geschicke der Menschen lenkt, wie ihn bedeutendere Historiker als ich, insbesondere des 19. Jahrhunderts, oder Staatsmänner wie Bismarck trotz der ihnen wohlbekannten Schrecken des 30-jährigen Krieges erkennen zu können glaubten, reicht es mir nicht, dass als Auswirkung des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges – neben dem bald darauf eingetretenen Ende des Kolonialismus - nach 2.000 Jahren der Diaspora und der erlittenen Pogrome die Rückkehr der Juden ins »Gelobte Land« ermöglicht wurde. Das soll ein den Menschen unbegreiflicher göttlicher Wille verursacht haben, dass »sein Volk« unter solchen ungeheuren Opfern für das eigene Volk und die Menschheit in das Land seines Stammvaters Abraham zurückkehren durfte? Hitler als Verkörperung der Selbstverfluchung der dem Todesurteil gegen Jesus zujubelnden Juden: „Dein Blut komme über uns und unsere Kinder!“, als letztlich göttliches Werkzeug zum Wohle des jüdischen Volkes? Ein kaum erträglicher Gedanke! Wäre das nicht unter weniger verheerenden Umständen möglich gewesen?

1.2 Durchsetzung des Naziterrors u.a. durch Juristenterror Durchset zung des Naziterro rs u.a. durch Juristente rror

Der Terror des NS-Regimes bestand nicht nur aus offen ausgeübtem Terror durch die NS-Schlägerbanden SA und SS, der schon vor der Machtübernahme dazu führte, dass die NSDAP anfangs eine Zeit lang in den meisten Ländern des Deutschen Reiches verboten war. Die Diktatur des NS-Regimes bestand über den auf den Straßen Deutschlands ausgeübten Terror hinaus nicht nur aus halboffenem oder verdecktem Terror durch Gestapo und Konzentrationslager, sondern zusätzlich aus dem durch Scheinlegalität verbreiteten ganz alltäglichen Gesetzesund Justizterror: Weil jede Diktatur sich um den Schein der Legalität müht, schufen ihre Verwaltungsjuristen die Unrechtsgesetze, an die sich dann die zur Judikative gehörenden Juristen in „gewissenhafter Gewissenslosigkeit“

551

(Schlink) hielten und sie teilweise noch darüber hinaus zum Nachteil der Betroffenen überinterpretierten. Montesquieu hatte in seinen Betrachtungen über die Ursachen der Größe des römischen Imperiums und seinen Verfall eben diese Einsicht formuliert: „Es gibt keine grausamere Tyrannei als die, welche unter dem Deckmantel der Gesetze und mit dem Scheine der Gerechtigkeit ausgeübt wird; denn das heißt sozusagen Unglückliche auf der Planke ertränken, auf die sie sich gerettet haben.“ Und es gibt leider keine staatlicherseits begangene Schandtat und kein staatlicherseits begangenes Verbrechen, das nicht von willfährigen Juristen im Dienste der jeweiligen Machthaber zumindest gebilligt, ja sogar meistens mit einem Mäntelchen der Scheinrechtfertigung umhüllt und als angebliches Recht ausgegeben worden wäre! In der deutschen Geschichte finden sich dafür leider zu viele Beispiele, insbesondere in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Nur das monströseste Verbrechen, die millionenfachen, fabrikmäßig organisierten Ermordungen in den KZs, hat man nicht durch Juristen regeln lassen, um nicht durch ein dafür notwendigerweise im Reichsgesetzblatt zu veröffentlichendes Gesetz dieses Verbrechen für die Weltöffentlichkeit sichtbar zu machen. Aber gebilligt haben die obersten staatlichen Richter und Staatsanwälte das monströseste NS-Verbrechen in einer dafür extra einberufenen Sonderkonferenz, damit kein untergeordneter Richter aus der Reihe tanze und kein weisungsabhängiger Staatsanwalt auf die Idee komme, seines Amtes zu walten und Morde an Regimegegnern in KZs zu verfolgen und zur Anklage zu bringen. Die Mehrzahl der Richter in der Weimarer Republik standen dem Staat, der sie mit der Wahrnehmung eines der verantwortlichsten Ämter, die ein Staat zu vergeben hat, betraut hatte und sie besoldete, feindlich gegenüber. Insbesondere galt das von den Obergerichten - nicht nur der Strafgerichtsbarkeit -, an deren Spitze das Reichsgericht stand. Ihrer Herkunft, Einstellung und sozialen Stellung nach fühlten sich die meisten Richter, besonders die der Obergerichte, den deutsch-nationalen Rechtsparteien verbunden, die die Weimarer Republik offen ablehnten. Ihre weit überwiegende Mehrzahl begrüßte und förderte den gesellschaftlichen Umschwung, der sich mit dem Aufkommen der Nazis ankündigte und stellte sich der an die Macht strebenden „Bewegung“ aus ideologischer Sympathie freudig zur Verfügung. Gleiche Brüder, gleiche Kappen. Die rechtskonservativen Richter überantworteten die Weimarer Republik damit deren Gegnern. Die überwältigende Mehrheit der Richter der Jahre 1933 bis 1945 hat durch Unrechtsurteile auf Grund von Unrechtsgesetzen den Nazi-Terror gegen die deutsche Bevölkerung mit ausgeübt und Widerstandsbereite nicht nur mut-, sondern als Strafrichter nötigenfalls in letzter Konsequenz auch kopflos gemacht. Durch die Juristen wurde der Wandel vom Rechts- zum Unrechtsstaat juristisch abgesichert und vollzogen. Darum sollte die Erinnerung an die Justizverbrechen im nationalsozialistischen Deutschland - wovon das erst 1951 gegründete BVerfG Dank der Gnade seiner späteren Geburt ausgenommen ist - und - als Mahnung und Warnung - das Gedenken an die Justizopfer zu unserem kritisch-loyalen Justizverständnis gegenüber den Gerichten der Bundesrepublik und deren NS-Vergangenheit gehören. Verwaltungsjuristen und Richter haben durch ihren Rechts- und Justizterror den Naziterror erst ermöglicht und ihn dann sogar noch verstärkt, weil ihnen ein an den Gedanken der Humanität orientiertes moralisches Rückgrat als Verbrechen galt. Dabei hätten sie es in der Hand gehabt, das heraufziehende Inferno, das die Welt zum zweiten Mal im letzten Jahrhundert in Brand stecken sollte, zu verhindern, wenn sie den Anfängen gewehrt hätten. Durch ihre tatkräftige Mithilfe stieg der Nationalsozialismus nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wie eine Faulblase im revanchistischen Sumpf der Nachkriegszeit an die Oberfläche und verpestete die dünne Luft des demokratischen Neubeginns. Die NS-Diktatur ist kein Betriebsunfall der deutschen Geschichte allgemein, sondern schon eher - wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Betriebsunfall sprechen will - ein Betriebsunfall der deutschen Juristen, insbesondere der Justizjuristen und da besonders der Strafrichter: Warum hatten die obersten deutschen Richter des Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik in Leipzig nicht den Anfängen gewehrt und nachgegeben, als die bayerische Regierung – unter Federführung des bayerischen Justizministers Gürtner, der später unter der Reichskanzlerschaft von Hitler acht Jahre lang Reichsjustizminister wurde - sich weigerte, die Putschisten des Hitler-Ludendorff-Putsches vom 08./09. November 1923 zur Umbildung der ihn bis dahin schützenden bayerischen Staatsregierung und zur Absetzung der Reichsregierung dem für die Aburteilung der Putschisten wegen der geplanten Absetzung der Reichsregierung nach dem Gesetz zuständigen Reichsgericht zu überstellen; Begründung der Bayern: dem Staatsgerichtshofes gehören Sozialdemokraten an! Die Putschisten kamen stattdessen vor ein bayrisches Volksgericht in München. Dieses Gericht ermöglichte Hitler „eine Propagandaschau, mit der die Niederlage des 9. Novembers in einen Triumph umgemünzt“ wurde. „Selbst die ständigen Beschimpfungen der Republik und ihrer Repräsentanten nimmt das Gericht rügelos hin: z.B. Novemberverbrecher und Judenregierung.“1 Dieses Volksgericht in München wandte 1924 die an sich 1

Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus / Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, 1989, S.50

552

zwingende Bestimmung nicht an, der zufolge wegen Hochverrats verurteilte Ausländer auszuweisen seien. Es wies als Ergebnis des Hochverratsprozesses den österreichischen Ausländer wegen seines Putsches nicht aus, obwohl Hitler in der Hauptverhandlung bekannt hatte, seine hochverräterischen Unternehmungen fortsetzen zu wollen! Dafür gaben die bayrischen Richter als Begründung an: „Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler, ... kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift ... des Republikschutzgesetzes ... keine Anwendung finden.“ Das Volksgericht honorierte so Hitlers „vaterländischen Geist und edelsten Willen“. Auch Hitlers Äußerungen sechs Jahre später vor dem damals höchsten deutschen Gericht, dem Reichsgericht in Leipzig, im „Reichswehr-Prozess“ oder „Ulmer Hochverratsprozess“ von 1930, in dem er als Zeuge für drei Ulmer Offiziere auftrat, die eine „nationale Volkserhebung“ zu Gunsten der NSDAP angestrebt hatten, und wo Hitler unbeanstandet eine zweistündige Propagandarede hielt, die in der Ankündigung gipfelte, wenn er (als Österreicher) erst einmal (in Deutschland) auf verfassungsmäßigem Wege an die Macht gekommen sein werde, dann werden „Köpfe rollen“, führten nicht zu seiner Ausweisung! Und leider gab und gibt es in unserer Verfassung keine analoge Bestimmung wie in der Verfassung der USA, derzufolge nur ein in den USA Geborener Präsident dieses Landes werden kann. Die Österreicher sind angeblich nicht gut auf uns deutsche „Piefkes“ zu sprechen - wobei das eine Frage der (mangelnden) Bildung sein mag -, aber soviel, wie die uns angetan haben, haben wir denen wirklich nicht angetan. Gut, der habsburgische Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Franz II. hatte 1806 die deutsche Kaiserkrone niedergelegt, weil die deutschen Territorialfürsten - zusätzlich zu dieser Zeit ermuntert von Napoleon - seit der Stauferzeit machten, was sie wollten und nun durch Beitritt zum napoleonischen Rheinbund ihre Souveränität erklärt hatten, ohne sich dabei um die Belange des Reiches zu kümmern, aber im Gegenzug einen Hitler als Danaergeschenk der Österreicher hatten wir nicht verdient! Und Hitler war ein waschechter Österreicher, der auch seine mangelhafte intellektuelle und seine antisemitische rassenideologische Ausbildung von Österreichern in Österreich bei den „Alldeutschen“ um Schönerer und den Christlichsozialen um Lueger – nomen ist wieder mal omen! - erfahren hat. Es war allerdings die Schuld der damaligen Deutschen, dass sie ihn in Deutschland als Majestix auf den Schild gehoben haben; und die der Richter des damals obersten deutschen Gerichts, des Reichsgerichts, dass sie Hitler nicht von dort heruntergerissen und des Landes verwiesen haben, wozu sie nach dem Wortlaut des Gesetzes bei Hochverrat durch Ausländer verpflichtet gewesen wären!

1.3 Die Richter machten das Volk wehrlos Die Richter machten das Volk wehrlos

Wohin sollte sich der einzelne denn wenden, wenn nach der Machtübernahme der Nazis die Richter das von der Staatsführung begangene Unrecht im Sinne der neuen Ideologie sanktionierten? Was sollte z.B. ein Angestellter des öffentlichen Dienstes in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit tun, dem fristlos gekündigt worden war, weil seine Familienangehörigen in einem jüdischen Warenhaus eingekauft hatten, wenn das Reichsarbeitsgericht als höchste Instanz dieses rechtswidrige Vorgehen des Staates spätestens ab 1937 für rechtens erklärte, da dem Kläger das Verständnis für die Idee des Nationalsozialismus fehle? Was die Eltern, denen von Gerichten das Personensorgerecht für ihre Kinder entzogen, ihre Kinder der Fürsorgeerziehung unterstellt und in einem Heim untergebracht worden waren, weil der Vater seine Kinder nicht zur Hitlerjugend geschickt hatte? Was Millionen Deutsche jüdischen Glaubens, die allein wegen ihrer religiösen Überzeugung völlig rechtlos gestellt wurden und nach rechtswidriger Kündigung ihrer Arbeits- und Mietverhältnisse und anderer Schikanen und Diskriminierungen bar jedes gerichtlichen Schutzes waren und zuletzt umgebracht wurden? Die Richter machten das Volk wehrlos - durften aber in der jungen Demokratie der Bundesrepublik dann wirklich fast ausnahmslos wieder Richter sein! Die Zivilgerichte brachten Missliebigen, insbesondere Juden, den bürgerlichen Tod, die Strafgerichte vernichteten darüber hinaus die physische Existenz der ihrer Un-Rechtsprechung Unterworfenen durch die von ihnen dazu bestellten Henker. Das gesamte Rechtssystem entartete tumorartig. Wer solche Richter hatte, brauchte zur Erledigung der Dreckarbeit an sich kein durch Legalitätstaktik und Terror geschaffenes Ermächtigungsgesetz und keine Gestapo mehr. Doch „ihr Gewissen war rein, denn sie benutzten es nie“, könnte man mit einem polnischen Philosophen sagen. Das galt bis hinauf zu den obersten Richtern des Reichsgerichts in Leipzig - weshalb sich nach der Wiedervereinigung eine Anknüpfung an die Reichsgerichtstradition durch die Verlegung des BGH nach Leipzig verbot! Der alltägliche Justizterror der Richter reichte zur Durchsetzung der Nazi-Ideologie völlig aus. Wer konnte es sich z.B. in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit leisten, selbst außerhalb des öffentlichen Dienstes als in der Privatwirtschaft Tätiger wegen Verstoßes seiner Ehefrau gegen die Forderungen der Nazis, nicht bei Juden zu kaufen, aber ohne eigenen Gesetzesverstoß seinen Arbeitsplatz

553

fristlos zu verlieren, wenn dieses Unrecht durch die Richterschaft des Reichsarbeitsgerichtes gedeckt wurde? Wer nach der "Machtergreifung" gegen die Nazis Stellung bezog, wurde mit der Konsolidierung der NSHerrschaft zunehmend ein Justizopfer, wenn er nicht schon vorher durch die SS oder ihren Sicherheitsdienst ohne Gerichtsurteil "aus der Volksgemeinschaft ausgemerzt" worden war.

1.4 Charakterlose Juristen als Blutrichter

Charakte rlose Juristen als Blutricht er

In der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus schufen dienstbeflissene, willfährige, rückgratlos karrieregeile Juristen die zur alltäglichen Unterdrückung und zur "legalen Tötung" notwendigen Gesetze und Verordnungen, mit denen z.B. Deutsche jüdischen Glaubens pauschal zu "Volksschädlingen" erklärt, "Rassenschande" und andere erst durch die NS-Ideologie dazu gemachte Delikte unter die Drohung der Todesstrafe gestellt und dann später – allerdings ohne diesbezügliche gesetzliche Grundlage - zu Millionen vernichtet wurden. Ähnlich charakterlos strukturierte Juristen setzten diese Gesetze dann als Blutrichter um und nahmen - obwohl man mit Blick auf diese uns Heutigen als entmenschlicht vorkommenden Juristen in Bezug auf sie gar nicht von Mit»menschen« reden mag - ihren Mitmenschen das Leben. Die Juristen hatten einen wesentlichen Anteil daran, dass Deutschland für die unverschuldeten Feinde der NS-Ideologie und die Gegner der Nazis zum Schlachthaus wurde. Wer während des Krieges seiner Ehefrau in der eigenen Wohnung einen Witz über Hitler erzählt und dabei von einem seiner fanatisierten Kinder belauscht und angezeigt worden war, wurde zum Schafott geführt. Teilweise zeigten auch langjährige, aber durch die NS-Ideologie fanatisierte Ehepartner die/den Angetraute/n bei der Gestapo an, was dann – wie z.B. im Fall der damals 70-jährigen Wienerin Hermine Lunacek 1944 nach der nach dem Tod ihres Sohnes an der Ostfront gemachten Bemerkung: „Hitler hat uns in das Verderben geführt!“ - zu deren Tod durch das Fallbeil oder sonst in einem der KZs führte. Es genügten schon Bemerkungen wie: "Der Krieg ist verloren“, "Der Führer ist krank." usw. im engsten Freundes- und Familienkreise, tröstende Worte im religiösen Gespräch. Es gab immer Leute mit fanatisierter "Blockwart-Mentalität", die trotz bestehender familiärer oder bisheriger anderer Beziehungen den Vertrauensbruch begingen, Anzeige zu erstatten! Die Juristen walteten dann ihres (Partei-)Amtes. So wurden vom Volksgerichtshof z.B. zum Tode verurteilt2: - Am 28.07.1944 der Pfarrer Josef Müller, weil er bei einem Krankenbesuch zwei Gemeindemitgliedern folgenden politischen Witz erzählt hatte: Ein Verwundeter habe als Sterbender gebeten, noch einmal die zu sehen, für die er sterben müsse. Da habe man das Bild Hitlers und das Görings links und rechts neben ihn gestellt. Darauf habe er gesagt, jetzt sterbe er wie Christus. (Mit dem Witz war gemeint: zwischen zwei Verbrechern). Das war nach Meinung der Nazis Galgen-Humor. - Am 12.08.1944 der Pater Alois Grimm und am 14.08.1944 der Pater Johann Steinmayr, weil sie sich - jeder unabhängig vom anderen - mit zwei von ihnen nicht durchschauten Gestapospitzeln, von denen sie als Geistliche in vorgetäuschter seelischer Not aufgesucht worden waren, in eine politische Unterhaltung eingelassen und wohl ihre Ansichten hatten durchblicken lassen. Und wo der Justizterror nicht opportun erschien, waltete der nackte Terror der Partei-Maschinerie, gegen den es keine Abhilfe durch eine intakte Justiz gab: Einfachste mitmenschliche Regungen genügten, um einem Mitleidigen, einem Mitleidenden, das Leben zu nehmen. So wurde z.B. als "todeswürdig" erachtet, wer einem Kriegsgefangenen ein Stück Brot zugesteckt hatte. Der Terror kannte weder Recht, noch Gesetz, noch moralische Skrupel, sondern nur inhumane nackte Gewalt zur Durchsetzung der NS-Ideologie. Wer vor Entsetzen erstarrt, ist zu keiner Gegenwehr mehr fähig. Man muss folglich nur die Schraube des Terrors fest genug anziehen, um die Mehrzahl der Beherrschten aus Angst ums eigene Überleben willfährig zu machen.

1.5 Die "Polenstrafrechtsverordnung" als Beispiel gesetzlichen Unrechts und ein Beispiel ihrer darüber hinausgehend exzessiv gnadenlosen Anwendung Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges formulierte Heydrich für die der Wehrmacht folgenden Einsatzgruppen des Staatssicherheitsdienstes SD am 07.09.39 nachstehenden Auftrag: 2

Hirsch, M. u.a.: Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus Köln 1984 S. 475

554

„Die führende Bevölkerungsschicht in Polen soll so gut wie möglich unschädlich gemacht werden. ... Die kleinen Leute wollen wir schonen, der Adel, die Popen und die Juden aber müssen umgebracht werden.“ Aber selbst die „kleinen Leute“ wurden dann doch nicht geschont. Als Beispiel für gesetzliches Unrecht sei in diesem Zusammenhang ein Auszug aus der berüchtigten "Polenstrafrechtsverordnung" angeführt: Die "Polestrafrechtsverordnung" als Beispiel gesetzlich en Unrechts

Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten Vom 4. Dezember 1941 Der Ministerrat für die Reichsverteidigung verordnet mit Gesetzeskraft: 1. Sachliches Strafrecht (1) Polen und Juden haben sich in den eingegliederten Ostgebieten entsprechend den deutschen Gesetzen und den für sie ergangenen Anordnungen der deutschen Behörden zu verhalten. Sie haben alles zu unterlassen, was der Hoheit des Deutschen Reiches und dem Ansehen des deutschen Volkes abträglich ist. (2) Sie werden mit dem Tode bestraft, wenn sie gegen einen Deutschen wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum eine Gewalttat begehen. (3) Sie werden mit dem Tode, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bestraft, wenn sie durch gehässige oder hetzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekunden, insbesondere deutschfeindliche Äußerungen machen oder öffentliche Anschläge deutscher Behörden oder Dienststellen abreißen oder beschädigen, oder wenn sie durch ihr sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen. (4) Sie werden mit dem Tode, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bestraft, ... 3. wenn sie zum Ungehorsam gegen eine von den deutschen Behörden erlassene Verordnung oder Anordnung auffordern oder anreizen; ... III. ... (2) Auf Todesstrafe wird erkannt, wo das Gesetz sie androht. Auch da, wo das Gesetz Todesstrafe nicht vorsieht, wird sie verhängt, wenn die Tat von besonders niedriger Gesinnung zeugt oder aus anderen Gründen besonders schwer ist; in diesen Fällen ist Todesstrafe auch gegen jugendliche Schwerverbrecher zulässig. ... VI. (1) Jedes Urteil ist sofort vollstreckbar; jedoch kann der Staatsanwalt gegen Urteile des Amtsrichters Berufung an das Oberlandesgericht einlegen. ... (2) Auch die Beschwerde steht allein dem Staatsanwalt zu; über die Beschwerde entscheidet das Oberlandesgericht. VII. Polen und Juden können deutsche Richter nicht als befangen ablehnen. ...

Verordnung zur Ergänzung der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten Vom 31. Januar 1942 ... Artikel I. Die Ziffern I bis III der Verordnung vom 4.Dezember 1941 (...) können mit Zustimmung des Staatsanwaltes auch auf Taten angewendet werden, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung begangen sind. ...

555

[Nur interessehalber die Nachfrage: Klappte dieses Mal fast automatisch der geistige Rückbezug zu dem zuvor Gelernten? Es hätten als erinnernde Stichworte für einen der fundamentalen Rechtsgrundsätze Wendungen in den Sinn kommen müssen wie: "Keine »Verböserung« durch nach der Tat angeordnete Strafbarkeit oder Strafschärfung", "Verbot rückwirkender Strafgesetze" oder die Formulierung des § 2 I StGB: "Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt."] Auf Grund dieser Verordnung war die Verhängung der Todesstrafe gegenüber den in den "eingegliederten" Ostgebieten lebenden Polen und Juden für nahezu jede beliebige - auch vor(!) Verkündung begangene - Tat oder Unterlassung als Regelstrafe vorgesehen. Die Zielrichtung der Verordnung war schon unmenschlich. Noch atemberaubend schlimmer selbst nach über einem halben Jahrhundert historischer Distanz ist aber, wie menschenvernichtend diese an sich schon ungeheuerliche Rechtsnorm durch fanatisierte Nazi-Richter ausufernd ausgelegt und angewandt worden ist. In zahllosen Fällen ist diese Verordnung exzessiv angewandt worden, weil sie die Verhängung der Todesstrafe auch in solchen Fällen scheinlegal ermöglichen sollte, in denen das Gesetz sie nicht(!) vorsah, wie z.B. für das Tragen eines Abzeichens oder sonstigen Zeichens, das die deutsche Volkszugehörigkeit vortäuschen sollte. Zur Illustration der todbringenden Anwendungspraxis der Polenstrafrechtsverordnung wird der Fall der polnischen Hausangestellten Rosali Kulesa aufgegriffen: Fall: Eine 25-jährige einfache Polin, als Wirtschafterin bei einem deutschen Forstwart tätig, war am 08.10.1942 zum Einkaufen in die nächstgelegene Stadt geschickt worden. In einem von Reichsdeutschen geführten Handarbeitsgeschäft kam es zu einem Streit, weil die Ladeninhaberin an diesem Tag wegen umzugsbedingter Aufräumungsarbeiten nichts verkaufen wollte, sie dieses der des Deutschen unkundigen Polin aber nicht schnell genug sprachlich klarmachen konnte und sie darum die Bescheinigung des deutschen Forstwartes, dass er darum bäte, die Polin möglichst schnell zu bedienen, weil sie in seinem Haushalt arbeite, ignorierend - kurzerhand zum Ausgang schob. Den Henkelkorb der Polin stellte die Geschäftsinhaberin vor die Ladentür, trat zurück, behielt die Türflügel in der Hand, wies nach draußen und sagte in deutscher Sprache: "Schnell, schnell!" Die Polin trug an einem Band in ihrer linken Hand die ganze Zeit über eine knapp mittelgroße Handtasche aus gepresstem, pappeähnlichem Material. Als sie an der deutschen Ladeninhaberin vorbei durch die Tür ging, habe sie dieser mit der Handtasche ins Gesicht geschlagen und dabei deren rechte Schläfe getroffen. Die Deutsche gab an, noch während der nächsten drei Tage ein Reißen oder Spannen in der Haut gespürt zu haben. Die Angeklagte bestritt die behauptete Handgreiflichkeit und behauptete, ihrerseits von der Ladeninhaberin Schläge auf den Hinterkopf erhalten zu haben. Zum Schutz hätte sie die linke Hand nach hinten genommen. Es sei möglich, daß durch diese Bewegung die Tasche nach hinten geschleudert worden sei und die Ladeninhaberin getroffen habe. Die Richter gingen davon aus, dass die Deutsche, die ihre Aussage beeidete, den Geschehensablauf wahrheitsgemäß dargestellt habe. Konnten sie dann auf Grund der zuvor im Wortlaut wiedergegebenen Polenstrafrechtsverordnung zu einem Strafausspruch gelangen? Von allen Beweisproblemen einmal abgesehen, ob die Polin absichtlich mit ihrer Papphandtasche nach der deutschen Ladenbesitzerin geschlagen habe oder ihrerseits von der Deutschen geschlagen worden sei und deswegen zu ihrem eigenen Schutz die Hand hochgerissen habe, an dem die Handtasche baumelte, so dass die dergestalt herumfliegende Tasche die Deutsche unabsichtlich getroffen haben könnte – schon hier hätte man sagen können: in dubio pro reo - hätte die Polin, um nach der Polenstrafrechtsverordnung verurteilt werden zu können als rechtliche Würdigung des abzuurteilenden Sachverhaltes u.a. gegen eine Deutsche wegen deren Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum eine Gewalttat begangen haben müssen; ein (unterstellter) Schlag aus Verärgerung wegen des Vorenthaltens der Ware, oder weil sich die hinausgeschobene Polin zu unsanft behandelt oder selber angegriffen gefühlt hatte, wäre nach dem Gesetzeswortlaut nicht ausreichend gewesen. Außerdem hätte ein Schlag maximal eine Straf-, nicht aber eine »Gewalttat« dargestellt. Ein Vergehen ist kein Verbrechen. (Zur Not hätten sich die Richter wahrscheinlich aber nicht mit Auslegungskunststückchen aufgehalten, um zur von ihnen angestrebten Todesstrafe zu gelangen. Dafür hatten sie ja die bewusst ganz unbestimmt gehaltene, nicht näher eingegrenzte »Gummi-Formulierung« "Schädigung des Ansehens oder des Wohles des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes" zu ihrer Verfügung, um für nicht genehmes Verhalten - aus welchem nichtigsten Anlass auch immer - die Todesstrafe verhängen zu können.) Die Richter des Sondergerichtes beim Landgericht in Zichenau begründeten das von ihnen verhängte Todesurteil

556

mit den Worten: "Der Schutz und die Autorität eines jeden Deutschen in dem hiesigen Gebiet erfordern, daß Gewalttätigkeiten von Polen gegen Deutsche mit den härtesten Strafen geahndet werden. Auch die Tatsache, daß es sich bei der Angeklagten um eine 25jährige einfache Polin handelt, kann nicht dazu führen, den Fall als milde anzusehen. Denn die Angeklagte hat eine deutsche Frau, die für ihren im Felde stehenden Ehemann die Leitung des Geschäftes übernommen hat, tätlich angegriffen. Die Zeugin ... bedarf daher des erhöhten Schutzes. Die Annahme eines minderschweren Falles ist daher nicht zulässig. Gegen die Angeklagte mußte daher auf die Todesstrafe, die einzige vom Gesetz zugelassene Strafe, erkannt werden." Gemäß 1., VI, Absatz 1, Satz 1 der "Polenstrafrechtsverordnung": "Jedes Urteil ist sofort vollstreckbar; ..." wird die Polin nicht mehr nach der Urteilsverkündung "... noch während der nächsten drei Tage ein Reißen oder Spannen in der Haut gespürt" haben, wie es die von ihr vorgeblich angegriffene Deutsche als Auswirkung der als todeswürdig gewerteten Tat verspürt haben will.

1.6 Sondergerichte als "Standgerichte der inneren Front" Sonderge richte als "Standger ichte der inneren Front"

Die seit März 1933 eingerichteten Sondergerichte mit der Aufgabe der Aburteilung der ihrer ständig erweiterten (zunächst politischen) Gerichtsbarkeit vorbehaltenen Straftaten wurden im offiziellen Sprachgebrauch als "Standgerichte der inneren Front" bezeichnet. Der Präsident des Volksgerichtshofes nannte sie martialisch "Panzertruppe der Rechtspflege". Sie hatten in erster Linie die Aufgabe der psychologischen Terrorisierung und Abschreckung der "inneren Feinde", der "pflichtvergessenen Volksgenossen" und des weiteren die der Stabilisierung der deutschen Herrschaft in den besetzten Gebieten durch Ausschaltung des nationalen Widerstandes der überfallenen Völker. Durch Beschneidung der Angeklagtenrechte, z.B. Rechtsmittel nur für die Staatsanwaltschaft, ansonsten sofortige Vollziehung, sprich: Hinrichtung, konnte den in diese Justizmaschinerie Geratenen jenseits aller zum Schutz von Angeklagten bisher gültigen strafprozessualen Formalien ein kurzer Prozess gemacht werden, weil es in diesem Verfahren weder Eröffnungsbeschluss, noch gerichtliche Voruntersuchung, Beweisanträge der Verteidigung oder Rechtsmittel gegen das ergangene Urteil zu Gunsten des Angeklagten mehr gab. Von diesen Sondergerichten sollten zunächst Verstöße gegen die Reichstagsbrand- und die Heimtückeverordnung abgeurteilt werden. Später gehörten dazu auch Straftatbestände wie "Beschimpfung der NSDAP", das "Verbrechen des absichtlichen Abhörens ausländischer Sender", "Gangster-Verbrechen" und etliche Wirtschaftsstraftaten, selbst wenn nur ein geringer Unrechtsgehalt den Strafvorwurf begründete. So galt z.B. das von Bauern vorgenommene Schwarzschlachten wie auch das Horten von Waren in der Zeit der kriegsbedingten Lebensmittelknappheit als todeswürdiges Verbrechen. Die Richter machten exzessiven Gebrauch von den ihnen seit 1939 mit der Volksschädlingsverordnung eingeräumten juristischen Möglichkeiten der Zuchthaus- und insbesondere der Todesstrafe gegen "Volksschädlinge" auch bei nichtigsten Anlässen. Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 Der Ministerrat für die Reichsverteidigung verordnet mit Gesetzeskraft: §1 Plünderung im freigemachten Gebiet ... §2 Verbrechen bei Fliegergefahr ... §3 Gemeingefährliche Verbrechen Wer eine Brandstiftung oder ein sonstiges gemeingefährliches Verbrechen begeht und dadurch die Widerstandskraft des deutschen Volkes schädigt, wird mit dem Tode bestraft §4 Ausnutzung des Kriegszustandes als Strafschärfung Wer vorsätzlich unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen

557

Verhältnisse eine sonstige Straftat begeht, wird unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode bestraft, wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat erfordert. ...

Focke/Reimer3 schildern in ihrem Buch den Fall des Krakauer Arztes Dr. Walcynski, dem auf der Grundlage der Volksschädlingsverordnung sein Leben genommen werden sollte, weil er bei einer deutschen Luftwaffenhelferin auf deren inständiges Flehen hin - entsprechend der polnischen Gesetzeslage nach Konsultation eines zweiten polnischen Arztes, der das Vorliegen einer medizinischen Indikation bestätigte – deren Schwangerschaft abgebrochen hatte. Dieser Arzt hatte im Ersten Weltkrieg als Offizier im deutschen Heer gedient und war auf Grund seiner Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden. Das alles nützte ihm aber nichts, als die Vornahme des Eingriffs durchsickerte: Das Sondergericht Krakau verurteilte den Arzt zu zwei Jahren Gefängnis. Ein SS-Sturmbannführer, der in diesem Prozess als medizinischer Sachverständiger auftrat und dem diese an sich schon unverhältnismäßig hohe Strafe trotzdem noch zu gering war, erstattete dem Höheren SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement Polen Bericht. Der machte aus dieser Abtreibung eine politische Affäre, indem er verbreiten ließ, der verurteilte Arzt hätten durch die Abtreibung das deutsche Volkstum schädigen wollen. Deshalb sei die Strafe zu niedrig. Der Arzt wurde nach § 3 Volksschädlingsverordnung „...ein sonstiges gemeingefährliches Verbrechen begeht und dadurch die Widerstandskraft des deutschen Volkes schädigt, ...“ zum Tode verurteilt. Nur weil einige Leute dieses neuerliche Urteil als geplanten Justizmord empfanden und von dem couragierten deutschen Strafverteidiger ein Begnadigungsverfahren initiiert wurde, das aber nicht abgeschlossen wurde, überlebte der Arzt im Gefängnis die Herrschaft der Nazis in Polen bis zur Befreiung des Landes durch die Rote Armee.

1.7 Offene Rechtsbegriffe als Henkersstricke Offene Rechtsb egriffe als Henkers stricke

"Das gesunde Volksempfinden" war als offener Rechtsbegriff das Einfallstor für die fanatisierten nationalsozialistischen Sitten-, Moral- und Rechtsvorstellungen der Richter, mit denen jedem missliebigen Angeklagten aus nichtigstem Anlass der Henkersstrick gedreht worden ist, da ja eine nicht näher genannte "sonstige Straftat" hierfür genügte. Jeder politisch Andersdenkende konnte so straflos terrorisiert und in seiner bürgerlichen und physischen Existenz vernichtet werden. Diese offenen Rechtsbegriffe waren notwendig, um auch in den Fällen zu einer Verurteilung gelangen zu können, in denen keine Strafnorm verletzt worden war, die ideologisch fanatisierten Richter aber gleichwohl nach dem schon 1935 getätigten Ausspruch des Reichsjustizministers Gürtner: "Unrecht ist also in Deutschland künftig auch da möglich, wo es kein Gesetz mit Strafe bedroht!", zu einer Verurteilung gelangen wollten. „Recht ist, was dem Volke nutzt!“ - wobei letztlich Hitler den »Nutzen« definierte.

3

Vgl. Focke, Harald/Reimer, Uwe: Alltag der Entrechteten rororo 1980 S. 224 f

558

1.8 Die Deutschen: "Volk der Dichter und Denker" wie auch der NS-Richter und Henker Die Deutschen : "Volk der Dichter und Denker" wie auch der NSRichter und Henker

Ermordungen durch Richter der NS-Zeit in diesem Ausmaß auf der Grundlage legalisierten Unrechts war in Deutschland im 20. Jahrhundert nicht mehr denkbar erschienen. Die Deutschen: Sowohl das "Volk der Dichter und Denker" wie auch das der NS-Richter und Henker. In beiden Bereichen haben die Deutschen Herausragendes geleistet! Wir dürfen uns in unserem Selbstverständnis als Deutsche zwar nicht auf die Tragödie der Tyrannei von 12 Jahren grausamster Inhumanität verengen, und als Historiker, der schon von seiner Berufung her ab und zu Jahrtausende in den Blick nehmen musste, fallen mir durchaus auch andere Völker ein, in deren Geschichte Humanität nichts galt und die andere Völkerschaften und Gruppen nahezu oder vollständig auszurotten versuchten oder ausgerottet haben - selbst dann, wenn sie das Ideal des Gentleman oder ähnliche Konstrukte als Erziehungsziel für ihre Führungseliten propagierten.4 Aber solches Wissen relativiert nicht die Inhumanität, die im Namen des eigenen Volkes begangen wurde, für die wir Nachgeborenen auch gar nicht in persönliche Haftung genommen werden können, weil wir ganz persönlich der Inhumanität nicht genügend widerstanden hätten: Kollektivschuld: nein, Kollektivscham: ja. Kollektivscham dabei verstanden als ständige Mahnung, in dem von uns beeinflussbaren Lebensbereich keine gravierenden Verletzungen der Menschenwürde zuzulassen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Dahinter steht u.a. die Einsicht, die der UNO-Generalsekretär Kofi Annan bei der Verleihung des Friedensnobelpreises 2001 - je zur Hälfte an die von ihm repräsentierte Weltorganisation und ihn - in die Worte fasste: „Was mit dem mangelnden Schutz der Würde jedes einzelnen Menschenlebens beginnt, endet nur allzu oft im Unglück ganzer Nationen.“ Das sollte zu den Leitwerten von uns allen gehören, tut es aber nicht! Schon wieder werden in Deutschland Randständige und Ausländer von deutschem Pack angepöbelt, geschlagen, durch die Straßen gehetzt, getötet (32 Ausländer und 61 randständige Deutsche), insbesondere in und mit ihren Häusern verbrannt. Sie morden wieder: mit gemeingefährlichen Mitteln oder stahlkappenbewehrtem „festen Tritt“. „In die Leiber der Verachteten paukt der Marschtritt der Braunen.“ Im Jahre 2000 sollen Rechtsradikale in Deutschland rund 14.000 Mal zugeschlagen haben, zog die Thüringer Allgemeine am (zur Erinnerung an die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee eingerichteten) „Holocaust-Gedenktag“ 27.01.01 (jedenfalls mich) erschreckende Bilanz. Das rechtsradikale Verbrechen ist schon wieder alltäglich! (16.000 „rechtsradikale“ Straftaten im Jahr durch 365 Tage geteilt ergibt als Mittelwert 43,83 mehr oder minder bedeutende Straftaten pro Tag, von „Heil-Hitler“Rufen und Hakenkreuz-Schmierereien bis hin zu Morden.) Und das teilweise unter stillschweigender oder sogar lautstarker Billigung oder Anstiftung der 13 % „anständiger“ Bürger - gegen die die Staatsanwaltschaften bisher selbst dann nicht wegen Beihilfe/Anstiftung zum (versuchten) Mord Anklage erhoben hat, wenn, wie z.B. in Rostock-Lichtenhagen, auswertbare Fernsehbilder vorlagen -, die aus der jüngsten deutschen Geschichte, der millionenfachen Ermordung Deutscher jüdischen Glaubens, dem zweiten verlorenen Weltkrieg und der anschließenden Zerstückelung und nachfolgenden Teilung Rest-Deutschlands mit allen seinen Folgen nichts gelernt, laut einer Forsa-Umfrage immer noch oder schon wieder ein rechtsextremes Weltbild pflegen und, wenn sie nicht aufhetzende, brandstiftende Ideologen rechtsextremer Parteien sind, trotz allem diesem Schrecklichen die jugendlichen Neonazis ungerührt das Brett vor dem kahlgeschorenen Schädel als Schlaginstrument gegen randständige sozial Schwache unserer Gesellschaft - nicht nur Ausländer, sondern auch obdachlose oder behinderte Deutsche – benutzen lassen, sogar noch dazu anfeuern. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das (braune) Unheil kroch (Brecht)! Das hatten wir schon mehrfach, und immer dann am exzessivsten, wenn sich die Justiz in den Dienst der Schlächter stellte: Inquisition, Dreißigjähriger Krieg, Judenpogrome als Stichworte aus der jüngeren europäischen Geschichte. Die Justiz ist im Laufe der Weltgeschichte unzählige Male eine "opportunistische Hure" (Hans Habe) gewesen. Dass Gesetzgeber Verbrecher und Gesetze verbrecherisch sein können, schien aber allmählich in Vergessenheit geraten zu sein. Das änderte sich sofort mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. "Doch das Gesetz ist nicht das Recht: Im Unrechtsstaat ist es ein Werkzeug in der Hand einer Verbrecherclique, es ist ein Moloch aus

4

Wer Anschauungsunterricht hierzu benötigt, kann sich bis zum geistigen Ekel und Erbrechen in u.a. Dollinger, Hans: Schwarzbuch der Weltgeschichte 5000 Jahre der Mensch des Menschen Feind, Pawlack Verlagsgesellschaft oder Südwestverlag München 1973 und Komet-Verlag 2002, ISBN 3-89836-238-8 und andere anklagende Bücher vertiefen. Die modernen Ausrottungsversuche auf dem 5. Kontinent, die in regelrechten Treibjagden bis 1877 zur vollständigen Ausrottung der Tasmanier führten und die Verfolgung der Aborigines betreffend, ist darin aber leider nichts berichtet. Der 5. Kontinent ist dem Autor leider nicht in den Blick gekommen.

559

Papier, der Tinte in Blut verwandelt." 5 Und wer sich solchen staatlichen Verhältnissen durch Emigration entzog und vom Ausland aus das Terrorregime bekämpfte, ist kein vaterlandsloser Geselle gewesen! Er handelte im Sinne von August von Platen: „Doch wer aus voller Seele haßt das Schlechte, Auch aus der Heimat wird es ihn verjagen, Wenn dort verehrt es wird vom Volk der Knechte. Weit klüger ist’s dem Vaterland entsagen, Als unter einem kindischen Geschlechte Das Joch des blinden Pöbelhasses tragen.“

1.9 Erschießungen ohne Gerichtsverfahren Der Vollständigkeit halber muss noch erwähnt werden, dass in Polen nicht nur durch Scheingerichtsverhandlungen von Sondergerichten Todesurteile gefällt wurden. Es wurden daneben „Standgerichte der Sicherheitspolizei“ eingerichtet. Vor diese Gerichte kamen Polen, die in der Widerstandsbewegung tätig gewesen waren oder ‘Kriegswirtschaftsverbrechen‘ begangen hatten: Wer nicht genügend Ernteerträge ablieferte oder etwa „schwarz“ (unerlaubt) schlachtete, verlor sein Leben durch den Spruch dieses Feme»gerichtes« ohne ordentlich berufene Richter. Focke/Reimer6 berichten in ihrem Buch, dass diese »Gerichte« geheim tagten, bei ihnen kein Verteidiger zugelassen war und die Angeklagten, die ebenfalls nicht zur Verhandlung zugelassen waren, erst bei der Vollstreckung erfuhren, dass in einem ihnen verheimlichten Verfahren ein Todesurteil gegen sie ergangen sei. Selbstverständlich wurden von den »Herrenmenschen« in diesen geheimen Verhandlungen die Restbestände des Rechts noch bedenkenloswillkürlicher gebrochen als von den anderen Gerichten, die sich teilweise noch pingelig um den Anschein eines gerichtlichen Verfahrens mühten.

2 Grundrechte zur Disposition der Staatsmacht Und dabei hatte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges alles fast harmlos und sogar hoffnungsvoll angefangen: Nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches 1918, dessen von Bismarck geschaffene Verfassung in bewusster Ablehnung demokratischer Vorstellungen den Deutschen trotz der in der Paulskirchenverfassung 1848 geleisteten Vorarbeit keine Grundrechte zuerkannt hatte, wurde unter der Führung der Sozialdemokraten und gegen den Widerstand der Großkirchen, insbesondere der evangelischen, ein Neuanfang versucht. Als Ausdruck dieses Neubeginns wurden aus der 1848 in der Frankfurter Paulskirche verkündeten, aber nie in Kraft gesetzten Verfassung die Grundrechte in die Weimarer Verfassung von 1919 übernommen. Diese Vorläufer der heutigen Grundrechte hatten aber einen entscheidenden Nachteil gegenüber der nunmehr in der Bundesrepublik geltenden Rechtslage: Es handelte sich bei den 1919 verkündeten Grundrechten mehr oder weniger nur um deklarierte Programmsätze (wie in jüngster Zeit die Staatsziele Arbeit, Wohnung und gesunde Umwelt in der Brandenburgischen Verfassung oder der in inzwischen elf Länderverfassungen und seit 2002 auch im GG als Staatsziel verankerte Tierschutz), mit denen die staatliche Gewalt sich schminkte, nicht aber um "subjektivöffentliche Rechte", d.h., einklagbare Individualrechte des einzelnen gegen den Staat. Wenn die Schminke abplatzte, wurde sichtbar, wie hässlich die Fratze staatlicher Gewalt sein konnte! Es gab zwar schon (Landes)Verwaltungsgerichte "zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden" (Art. 107 WV).7 Aber Gesichtschirurgie an der Fratze staatlicher, die Gesetze

5

Ostermeyer, H.: Strafunrecht München 1971 S. 38 Vgl. Focke, Harald/Reimer, Uwe: Alltag der Entrechteten rororo 1980 S. 224 f 7 Ein Reichsverwaltungsgericht war zwar schon in der WV vorgesehen, wurde aber erst 1941 unter den Nazis durch Führererlass eingeführt, als es gar nichts mehr zu sagen haben konnte, die Exekutive des Führerstaates gar nicht mehr hätte in ihre Schranken verwiesen werden können. Folgerichtig wurde dann auch 1944 die Verwaltungsrechtsprechung aufgehoben, wurden sämtliche Verwaltungsgerichte abgeschafft. 6

560

missachtender Gewalt durch hierzu berufene Verfassungsrichter, die die Einhaltung der Grundrechte überwacht hätten, war noch unbekannt. Die Durchsetzbarkeit von postulierten Grundrechten beruhte mehr oder weniger auf dem guten Willen des Staates selbst. Sie war nicht durch eine Rechtsweggarantie abgesichert, wie sie nun in Art. 19 IV GG vorliegt, der lautet: "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. ..." Mit den "Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen" in der Weimarer Verfassung von 1919 war dem Staat noch nicht eine unübertretbare und unaufhebbare Grenze seiner Gewalt gesetzt worden, und die Nationalsozialisten wollten laut eines vielzitierten Wortes ihres Propagandaministers Göbbels "das Jahr 1789 aus der deutschen Geschichte auslöschen", was dann erst recht für die Umsetzung der 1789 in Frankreich proklamierten neuen Freiheiten auf Deutschland durch die Paulskirchenverfassung von 1848 und deren Übernahme in die Weimarer Verfassung galt. Führende deutsche Rechtswissenschaftler halfen den Nazis bei der Tilgung jeglichen zivilisatorischen Fortschritts aus dem deutschen Recht, indem sie in ihren Schriften und bei der Ausbildung der angehenden Juristen gegen die Geltung der Menschenrechte und die Beschränkung staatlicher Machtbefugnisse durch Rechtsgarantien für das Individuum Stellung bezogen. Der führende Staatsrechtler des Nazi-Reiches, Carl Schmitt8 ("Menschenrechte sind Eselsrechte!"), forderte: "Das gesamte heutige deutsche Recht ... muß ausschließlich und allein vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht sein ... . Jede Auslegung muß eine Auslegung im nationalsozialistischen Sinn sein."

Grundrec hte zur Dispositi on der Staatsmac ht

Daran hielten sich die Richter aller Instanzen. Die für die Staatsbürger in der Weimarer Verfassung proklamierten Grundrechte standen schon nach dem Willen dieser Verfassung - erst recht aber nach dem Willen der die verfassungsrechtlich gegebenen Möglichkeiten zur Verfolgung ihres Zieles der Errichtung eines autoritären Führerstaates bedenkenlos ausschöpfenden oder in bewusster Ablehnung demokratischer Ideen darüber hinausgehenden Nazis - zur Disposition der Staatsmacht, die doch ihrerseits durch die Verkündung der Grundrechte in ihrem tatsächlichen und rechtlichen Wollen, Können und Dürfen hätte beschränkt sein sollen. Nach der Weimarer Verfassung gab es Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze.

2.1 Art. 48 II WV als trojanisches Pferd der braunen Diktatur Art. 48 II WV als trojanisches Pferd der braunen Diktatur

Das Einfallstor für staatliche Grundrechtseinschränkungen war Art. 48 II WV. Er lautete: "Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört und gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zweck darf er vorübergehend die ... festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen."

8

Davor gab es nur Verwaltungsgerichtsbarkeiten in den einzelnen Ländern, die oft aber nur angerufen werden durften, wenn die Verwaltung das zuvor zugelassen hatte. Verwaltungsgerichtsrechtspflege konnte danach also nur stattfinden, wenn die zu Kontrollierende die Kontrolle zuließ, der Rechtsstreit der zu verklagenden Exekutive in den Kram passte. Ich war erstaunt darüber, im Zusammenhang mit dem islamischen Fundamentalismus in der Neuen Züricher Zeitung vom 20.05.2000 einen Aufsatz des Züricher Islamwissenschaftlers Prof. Rudolph zu lesen, der auf Ähnlichkeiten in den Lehren des 1966 durch Nasser gehenkten Islamisten Qutb und Schmitts hinweist. Als Gemeinsamkeiten stellt er heraus, daß Schmitt schon 1922 in dem Buch „Politische Theologie“ der Religion den Primat in einem menschlichen Gemeinwesen zuspreche: GOTT allein stehe im Mittelpunkt aller Dinge, und damit nicht nur im Mittelpunkt der Religion, sondern auch des Staates. Als Konsequenz daraus fordere Schmitt a) den absoluten Gehorsam gegenüber Gott, b) die Anerkennung seiner Souveränität über alle Bereiche des Lebens, c) die Entschlossenheit, sich hier und jetzt in diesem Sinne zu entscheiden und d) das klare Bewusstsein darüber, dass mit dieser Entscheidung eine definitive Trennung zwischen Gut und Böse, Wahr und Falsch, Freund und Feind verbunden sei. Und jemand mit einer solchen „Denke“ wird Steigbügelhalter der Nazis und rechtfertigt all deren Untaten?!? Mit solchen Äußerungen wie den zitierten würde man ihn ja eher in der geistigen Nähe der „Bekennenden Kirche“ vermutet haben!

561

Damit war das für das Funktionieren einer Demokratie unabdingbare Rechtsstaatsprinzip der nicht immer lupenrein durchgehaltenen Gewaltenteilung, demzufolge nur das Parlament als Legislative Gesetze erlassen und in qualifizierter Mehrheit die Verfassung ändern kann, die Regierung als oberste Repräsentanz der Exekutive die von der Legislative erlassenen Gesetze ausführt und die Judikative über die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen wacht, abgeschafft.9 Diese Bestimmung des Art. 48 II WV ermöglichte den Nationalsozialisten das scheinlegale Hinübergleiten von der von ihnen verachteten, abwehrschwachen Demokratie in den Führerstaat, und Hitler triumphierte: "Ich habe die Demokraten mit ihrem eigenen Wahnsinn erschlagen!" Die Nazis nutzten den Art. 48 II WV als trojanisches Pferd der braunen Diktatur! So und ähnlich entstanden die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts in Europa als entartete Kinder der Demokratie, nachdem die Büchse der Pandora mit einem juristischen Trick geöffnet worden war: Man musste nur "legal" die Grundrechte außer Kraft setzen.

2.2 "Verfassungsfestes Minimum" des Art. 79 GG als Antwort des Verfassungsgesetzgebers auf diese historische Erfahrung Die frischen historischen Erfahrungen mit der Verletzung der Menschenrechte durch das nationalsozialistische Gewaltregime Hitlers und das kommunistische Stalins und seiner Satrapen in der DDR ließen die Mütter und Väter unserer Verfassung nunmehr eine von Verfassungsrechtlern so genannte "Ewigkeitsgarantie" in das Grundgesetz einbauen. Art. 79 GG regelt, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher qualifizierten Mehrheit des Bundestages und des Bundesrates (2/3) das Grundgesetz geändert werden kann, bestimmt aber gleichzeitig in seinem dritten Absatz: "Verfassu ngsfestes Minimu m" des Art.79 GG

"Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Ein erneutes scheinlegales Hinübergleiten in eine Diktatur ist damit unmöglich gemacht worden. Aber gegen nackte Gewalt hülfe auch eine solche Formulierung natürlich nicht. Mit der in der kommentierenden Literatur als "verfassungsfestes Minimum" bezeichneten "Ewigkeitsgarantie" ist selbst dem Bundesparlament (als dem obersten Repräsentanten der Legislative) und der Länderkammer, die sonst gemeinsam die Verfassung ändern können, die legale Möglichkeit genommen, den Kernbereich unserer Verfassungsgrundsätze, zu dem auch der Wesensgehalt der jeweiligen Grundrechte gehört, außer Kraft zu setzen. Jetzt gilt nicht mehr das in der Formel „Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze“ zusammengefasste Grundrechtsverständnis der Weimarer Verfassung. Unter der Geltung des Grundgesetzes gilt jetzt vielmehr: „Gesetze nur nach Maßgabe der Grundrechte“ Doch Grundrechte können auch miteinander in einem konkurrierenden Spannungsverhältnis stehen. In einem solchen Fall verhindert die "Wesensgehaltssperre", dass irgendein Grundrecht mehr als nur in seinem Randbereich eingeschränkt wird, um einem anderen Grundrecht in einem Grundrechtskonflikt zur weiter bestehenden Geltung zu verhelfen. Jedes Grundrecht muss selbst bei notwendigerweise vorzunehmender Einschränkung seines Randbereiches in seinem Kernbereich weiter gelten, keines darf in seinem Wesensgehalt angegriffen oder aufgehoben sein! Außerdem sollen die Grundzüge unseres Staatsaufbaues gewahrt bleiben. Die Bundesrepublik kann z.B. kein Kaiserreich mehr werden, denn die Staatsform der Republik ist mit ihrer Nennung in Artikel 20 GG festgeschrieben. (Außerdem sind Präsidentengehälter billiger als Zahlungen an ein 9

Dieses reine Bild der Gewaltenteilung wird aber nur dann durchgehalten, wenn, wie in der Hamburger Verfassung vorgeschrieben, ein aus den Reihen der Parlamentarier gewähltes Regierungsmitglied mit seiner Ernennung zum Senator automatisch seinen Sitz im Parlament verliert, der dann für die Dauer seiner Beteiligung an der Regierung durch einen Nachrücker eingenommen wird. Ähnlich ist es in den USA geregelt, wo Minister ebenfalls nicht dem Parlament angehören dürfen. Im Deutschen Bundestag aber sind Regierungsmitglieder fast ausnahmslos auch Abgeordnete – beziehen auch (inzwischen abgesenkte weil teilweise angerechnete) Abgeordnetenbezüge und ihr Ministergehalt - und wechseln dann, wenn sie sich als Abgeordnete äußern wollen, demonstrativ von der Regierungsbank auf einem Abgeordnetenplatz. Eine Vereinigung aller drei staatlichen Gewalten in einem Amt gibt es in Großbritannien (bis zu der von Blair angestrebten Reform) im 1.400 Jahre alten Amt des Lord Chancellors: Er ist als Mitglied des Parlaments teil der Legislative, als Mitglied der Regierung Teil der Exekutive und als Lord Richter im Oberhaus Teil der Judikative.

562

gekröntes Staatsoberhaupt und dessen meist zahlreiche Familienmitglieder. Dafür kann aber ein Bundespräsident nicht so oft »vor Ort« sein und gelebte Demokratie symbolisieren, wie es z.B. eine parlamentarische Monarchie mit ihren zahlreichen Mitgliedern kann, und was durchaus etwas mit der Verankerung demokratischer Traditionen im Bewusstsein der Bevölkerung zu tun haben kann. Vielleicht sind Apanagen letztlich doch gut angelegtes Geld? Die stabilsten Demokratien Europas scheinen jedenfalls ihre parlamentarischen Monarchien zu sein!) Aber ehe es auf Grund leidvoller historischer Erfahrungen zu solchen rechtlichen Regelungen wie in dem "verfassungsfesten Minimum der Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 III GG oder wie in Art. 19 II GG: "In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.", kam, wurden im deutschen Namen ungeheure Verbrechen an Millionen von Menschen begangen.

3 "Furchtbare Juristen" als Steigbügelhalter der braunen Diktatur "Furchtba re Juristen" als Steigbüge lhalter der braunen Diktatur

Als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen konnten, weil die Mehrheit der in demokratischen Tugenden ungeübten Bevölkerung, ihrer Repräsentanten und ihrer Richter ihre Seele dem Teufel überschrieben, um die Schmach der Niederlage im Ersten Weltkrieg möglichst rückgängig zu machen und weil auf Grund der zu erbringenden Reparationsleistungen und der Weltwirtschaftskrise die wirtschaftlichen Probleme so drückend waren, da darüber hinaus die Nazis auf Grund ihrer Aggressionspolitik außenpolitische Anfangserfolge vorweisen und die Massenarbeitslosigkeit (durch den Aufbau einer auf der Basis ungedeckter Kredite finanzierten Kriegsindustrie, die durch das zu plündernde Vermögen der Juden und der zu überfallenden Länder getilgt werden sollten) beseitigen konnten, schien zunächst alles ganz rechtsstaatlich in einwandfreien gesetzlichen Bahnen zu verlaufen. Doch bedenkenlose Spitzenjuristen nutzten nach fast vollständigem Verlust an humaner Orientierung ihr Paragraphen-Handwerkszeug und stellten getreu dem Motto: „Haben wir das Gesetz, haben wir die Macht.“ (Oskar Schellbach), als Steigbügelhalter der braunen Diktatur die erforderlichen Gesetze und die teilweise darauf fußenden Verwaltungsverordnungen10 nebst den hierfür eventuell erforderlichen Rechtfertigungstheorien auf, um scheinlegal einem antidemokratischen, autoritären Terrorregime in den Sattel zu helfen. Als am Abend des 27. Februar 1933 das Reichstagsgebäude in Berlin in Flammen aufging, wurden von den Nazis alle Kommunisten zu Brandstiftern gestempelt und verfolgt. Einen Tag später, am 28. Februar 1933, wurde daraufhin auf Veranlassung der Nationalsozialisten vom Reichspräsidenten Hindenburg eine Notverordnung („Reichtstagbrandverordnung“) erlassen: Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat 28. Februar 1933 (Reichsgesetzblatt I 1933 S. 83) Auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte folgendes verordnet: 10

Gesetze werden von dem zuständigen Organ der Legislative (Bundes- oder Landesparlament) erlassen. Rechtsverordnungen - die sind hier im Gegensatz zu Verwaltungsverordnungen, mit denen die Verwaltung ihren jeweiligen Geschäftsbereich regelt, gemeint - kommen gemäß Art. 80 GG dadurch zustande, dass die Legislative in einer Art Blankoscheck der Exekutive nach dem »Näher-dran-Prinzip« die Vollmacht erteilt, in ihrem Namen in einem nicht förmlichen Gesetzgebungsverfahren für einen genau umgrenzten, den Verwaltungserfahrungen nahen Teilbereich sachgerechte Regelungen zu treffen, die aber eine Allgemeingültigkeit wie Gesetze erlangen. Die Rechtsverordnungen sind damit als Rechtsnormen zwar Gesetze im materiellen Sinn, weil sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen alle daran halten müssen, nicht aber im formellen Sinn, da sie nicht von der Legislative in einem formellen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 76 ff und 82 GG mit 1., 2. und 3. Lesung beschlossen, und nicht vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt als Parlamentsgesetz verkündet worden sind. Der wichtigste Fall einer solchen Rechtsverordnung (VO) ist die auf Grund der gesetzlichen Ermächtigung des § 6 I Straßenverkehrsgesetz (StVG) vom Bundesgesetzgeber dem Bundesminister für Verkehr zur näheren Ausgestaltung übertragene Befugnis, eine Straßenverkehrsordnung (StVO) zu erlassen. Bei notwendigen Änderungen braucht dann auch nicht der Gesetzgeber in einem schleppenden förmlichen Gesetzgebungsverfahren zu reagieren, sondern das macht dann die Verwaltung ohne die formellen Gesetzgebungsfesseln viel schneller.

563

§1 Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reiches werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig. §2 Werden in einem Lande die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen nicht getroffen, so kann die Reichsregierung insoweit die Befugnisse der obersten Landesbehörde vorübergehend wahrnehmen. §3 Die Behörden der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) haben den auf Grund des § 2 erlassenen Anordnungen der Reichsregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit Folge zu leisten. §4 (1) Wer den von den obersten Landesbehörden oder den ihnen nachgeordneten Behörden zur Durchführung dieser Verordnung erlassenen Anordnungen oder den von der Reichsregierung gemäß § 2 erlassenen Anordnungen zuwiderhandelt oder wer zu solcher Zuwiderhandlung auffordert oder anreizt, wird, soweit nicht die Tat nach anderen Vorschriften mit einer schwereren Strafe bedroht ist, mit Gefängnis nicht unter einem Monat oder mit Geldstrafe von 150 bis zu 15000 Reichsmark bestraft. (2) Wer durch Zuwiderhandlung nach Abs. 1 eine gemeine Gefahr für Menschenleben herbeiführt, wird mit Zuchthaus, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten und, wenn die Zuwiderhandlung den Tod eines Menschen verursacht, mit dem Tode, bei mildernden Umständen mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft. Daneben kann auf Vermögenseinziehung erkannt werden. (3) Wer zu einer gemeingefährlichen Zuwiderhandlung (Abs. 2) auffordert oder anreizt, wird mit Zuchthaus, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. §5 (1) Mit dem Tode sind die Verbrechen zu bestrafen, die das Strafgesetzbuch in den §§ 81 (Hochverrat), 229 (Giftbeibringung), 307 (Brandstiftung), 311 (Explosion), 312 (Überschwemmung), 315 Abs. 2 (Beschädigung von Eisenbahnanlagen), 324 (gemeingefährliche Vergiftung) mit lebenslangem Zuchthaus bedroht. (2) Mit dem Tode oder soweit nicht bisher eine schwerere Strafe angedroht ist, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren wird bestraft: 1. Wer es unternimmt, den Reichspräsidenten oder ein Mitglied oder einen Kommissar der Reichsregierung oder einer Landesregierung zu töten oder wer zu einer solchen Tötung auffordert, sich erbietet, ein solches Erbieten annimmt oder eine solche Tötung mit einem anderen verabredet; 2. wer in den Fällen des § 115 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs (schwerer Aufruhr) oder des § 125 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs (schwerer Landfriedensbruch) die Tat mit Waffen oder in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit einem Bewaffneten begeht; 3. wer eine Freiheitsberaubung (§ 239 des Strafgesetzbuchs) in der Absicht begeht, sich des der Freiheit Beraubten als Geisel im politischen Kampfe zu bedienen. §6 Diese Verordnung tritt mit dem Tage der Verkündung¹ in Kraft. Der Reichspräsident: von Hindenburg Der Reichskanzler: Adolf Hitler Der Reichsminister des Innern: Frick Der Reichsminister der Justiz: Dr. Gürtner

564

Die "Reichstagsbrandverordnung" hob somit die wesentlichsten Grundrechte auf. So ist der Reichstagsbrand von den Nazis als Vorwand dafür benutzt worden, die Rechtlosigkeit des einzelnen Individuums zu verordnen und durchzusetzen und noch schnell vor der für den 05.03.1933 anstehenden entscheidenden Reichstagswahl quasi den Ausnahmezustand über die Bevölkerung zu verhängen. Hermann Göring hatte als der seit dem 30.01.33 für die Polizei zuständige Innenminister Preußens Ende Februar 1933 nach der Bewaffnung der SA und SS und ihrer Ernennung zur Hilfspolizei dieses Landes vor der Reichstagswahl vom 05.03.33 gesagt: "Jede Kugel, die jetzt aus dem Lauf einer Polizeipistole geht, ist meine Kugel. Wenn man das Mord nennt, dann habe ich gemordet, das alles habe ich befohlen, ich decke das. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts." 11 Und dass die Nazis das auch meinten, was sie sagten, machten sie genau so auch der Weltöffentlichkeit klar: Sie setzten auf die Ermordung(!) des Jahrtausend-Genies, Nobelpreisträgers und weltweit anerkanntesten Wissenschaftlers seiner Zeit, Einstein, der die alte, von Newton begründete Physik überwunden und die uns physikalischen Laien nicht mehr zu vermittelnde heutige Physik und heute gültige Sicht auf das Universum begründet hat – „Der Mann, der mit seinen theoretischen Überlegungen das vorher für unspaltbar gehaltene Atom spalten half und den Raum krümmte“, eine geistige Leistung, die nur mit denen Kopernikus’, Galileis und Newtons auf eine Stufe gestellt werden kann -, eine Belohnung von 50.000,- Reichsmark aus.12 Dass der 1879 in Ulm geborene deutsche Jude Einstein seit 1901 (um dem deutschen Militärdienst zu entgehen) Schweizer Staatsbürger geworden war, sie also öffentlich zur Ermordung eines Ausländers aufriefen, diese Petitesse störte die Nazis dabei überhaupt nicht. Wie Göring gesagt hatte: „Hier ... habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts." Einstein – seit 1914 Direktor des Physikalischen Instituts des angesehenen Berliner Kaiser-Wilhelm Instituts der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften -, der sich auf Vortragsreise in den USA befand, als ihm das auf seine Ermordung ausgesetzte Kopfgeld und der Reichstagsbrand mitgeteilt wurden, soll sehr gelassen reagiert haben: „Ich wusste gar nicht, dass ich so wertvoll bin.“, wird als sein Kommentar überliefert. Er blieb aber vorsichtshalber in den USA. Für mich ist am Erstaunlichsten, wie knechtisch sich die Welt den Nazis trotz dieses internationalen Affronts gegen jedes Recht und dieser Demaskierung des NS-Systems als mörderisches Unrechtssystems hemmungslos zu Füßen warf und die Olympischen Spiele 1936 nach Berlin vergab (wo z.B. die französische Olympiamannschaft mit „Hitler-Gruß“ ein- und an Hitler vorbeimarschierte)! Vielleicht gilt ja für die Seele der Völkergemeinschaft, was der Historiker und Meister der Psychologischen Novelle Stefan Zweig in seiner Novelle „Die Weltminute von Waterloo“ als sich ihm aufdrängende Konsequenz aus seinen historischen Studien dichterisch so umschrieb: „Das Schicksal drängt zu den Gewaltigen und Gewalttätigen. Jahrelang macht es sich knechtisch gehorsam einem einzelnen hörig: Cäsar, Alexander, Napoleon.; denn es liebt den elementaren Menschen, der ihm selbst ähnlich wird, dem unfaßbaren Element.“13 Nach meinem Rechtsverständnis hätte Nazi-Deutschland sofort als internationaler Paria gebrandmarkt werden müssen, dem nach dieser sofortigen Demaskierung ab Machtübernahme nie die Ehre hätte zuteil werden dürfen, drei Jahre später mit der Sommerolympiade 1936 in Berlin für die Weltgemeinschaft ihr wichtigstes sportliches Treffen auszurichten. Die Reichstagsbrandverordnung diente als Grundlage für eine Verhaftungswelle im politischen Machtkampf gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, oppositionelle Mitglieder der Kirchen und gegen alle anderen Personen, die Widerstand leisteten, dessen verdächtig waren oder auch nur "politisch verdächtig" erschienen. Sie richtete sich selbst gegen Parlamentsmitglieder, obwohl Art. 37 WV bezüglich ihrer Immunität bestimmte: "Kein Mitglied des Reichstages oder eines Landtages kann ohne Genehmigung des Hauses, dem der Abgeordnete angehört, während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß das Mitglied bei der Ausübung der Tat oder spätestens im Laufe des folgenden Tages festgenommen ist. Die gleiche Genehmigung ist bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit erforderlich, 11

zitiert nach Focke, H./ Hohlbein, H.: Stationen auf dem Weg zur Macht Hamburg 2. Aufl. 1983 S. 76 Strathern, P.: Einstein & die Relativität, S. 70 13 Zweig, Stefan: Sternstunden der Menschheit, S. 79 12

565

die die Ausübung des Abgeordnetenberufes beeinträchtigt. Jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied des Reichstages oder eines Landtages und jede Haft oder sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit wird auf Verlangen des Hauses, dem der Abgeordnete angehört, für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben." Wie zynisch trotz der zitierten verfassungsrechtlichen Immunitätsgarantie verfassungswidrige Verhaftungen von Reichstagsabgeordneten im Parlament von der NSDAP »gerechtfertigt« wurden, geht aus der Antwort des Abgeordneten Stöhr (NSDAP) in seiner Reichstagsrede vom 23.03.33 hervor 14: "Stöhr (NSDAP), Abgeordneter, Berichterstatter: Meine Damen! Meine Herren! Der 3. Ausschuß hat sich in seiner gestrigen Sitzung mit den Anträgen Nr. 5 und 7 der Drucksachen des Hauses beschäftigt. Der Antrag Nr. 7 stammt von den Abgeordneten Dr. Breitscheid und Gen. und verlangt die Aufhebung der Haft, die über eine Anzahl von Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion verhängt worden ist. Der Ausschuß empfiehlt Ihnen, den Antrag abzulehnen, weil die Mehrheit, die diesen Beschluß gefaßt hat, der Meinung ist, daß es unzweckmäßig wäre, die Herren des Schutzes zu berauben, der ihnen durch die Verhängung dieser Haft zu Teil geworden ist." Ein rascher Blick zurück klärt darüber auf, dass die auf Veranlassung der Nationalsozialisten erlassene "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" zwar viele Grundrechte einschränkte, nicht aber die Abgeordnetenrechte aus Art. 37 WV! Die Reichstagsbrandverordnung war außerdem eine völlig überzogene Maßnahme und hätte bei funktionierenden Gerichten schon allein wegen der fehlenden Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Grundrechte und dann wegen deren Abschaffung scheitern müssen. Aber das damalige Grundrechtsverständnis war noch nicht so weit entwickelt, wie es nunmehr durch die Bestimmungen der Art. 19 II und 79 III GG dokumentiert wird. Überzogen war die Maßnahme ganz offensichtlich deswegen, weil mit dem Brand des Parlamentsgebäudes in Berlin auf keinen Fall ein Notstand für den Bestand des Reiches eingetreten war. Mit dieser Notverordnung bezweckte und erreichte man eine völlige Rechtlosstellung der politischen Gegner - denn auf die "Jubelperser" mussten diese Bestimmungen ja nicht angewendet werden: Wer das Terrorregime unterstützte, war grundsätzlich nicht gefährdet. (Das dachte jedenfalls auch Röhm.) Da keine einen Machtmissbrauch verbietenden Ausführungsbestimmungen erlassen worden waren, standen damit einer willkürlichen Anwendung Tür und Tor offen. Die Errungenschaften liberaler Rechtsstaatlichkeit insbesondere die Garantie unantastbarer Bereiche individueller Freiheit, die Gleichheit aller vor dem Gesetz, das Demokratiegebot auf Grund der Anerkennung des Pluralismus der Weltanschauungen, die Gesetzesgebundenheit staatlicher Machtausübung und die Unabhängigkeit der nur Gesetz und Recht verpflichteten Richter gegenüber staatlicher Einflussnahme auf die Rechtsprechung - waren durch diese Reichstagsbrand-Notverordnung des Reichspräsidenten unter Umgehung der Legislative wie Müll über Bord gekippt worden. Das blieb die ganze Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft über so, denn diese "bis auf weiteres" erlassene Verordnung wurde erst am Tage der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai 1945 von der Alliierten Militärregierung außer Kraft gesetzt. Mit der Hilfe skrupelloser Juristen ließ sich durch eine solche Verordnung scheinlegal eine Diktatur aufbauen. Diese Verordnung reichte aber nicht dazu aus, um auf gesetzlicher Grundlage die bei der Machtergreifung durch "alte Kämpfer" der Nazis verübten Verbrechen bis hin zum Mord an politischen Gegnern außer Verfolgung zu setzen. Das galt u.a. für den Mord von Potempa, bei dem in Oberschlesien der polnische Kommunist Pietzuch von fünf Nationalsozialisten ermordet worden war - zwei Stunden nachdem eine vom damaligen Reichskanzler von Papen beim Reichspräsidenten von Hindenburg am 09.08.1932 erwirkte Notverordnung in Kraft getreten war, derzufolge die Tötung eines Menschen in der Leidenschaft des politischen Kampfes aus Zorn oder Hass mit der Todesstrafe geahndet werden sollte. Zunächst hatten die Nazis diese Notverordnung begrüßt, weil sie sie zum Kampf "gegen die Rollkommandos und Dachschützen der marxistischen Parteien" einzusetzen gedachten.

14

Nach "Im Namen des Deutschen Volkes/ Justiz und Nationalsozialismus/ Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, Köln 1989, S. 61

566

4 Wiederholte Straffreistellung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte Als aber ihre fünf mörderischen Gesinnungsgenossen auf Grund dieser Notverordnung vom Sondergericht beim Landgericht Beuthen zum Tode verurteilt worden waren, schäumten die Nazis, und Hitler telegrafierte den Verurteilten: "Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils fühle ich mich mit Euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre, der Kampf gegen eine Regierung, unter der dieses möglich war, unsere Pflicht." Er hat Wort gehalten. Hitler, der am 30. Januar 1933 ("Tag der Machtergreifung") zum Reichskanzler ernannt worden war, erwirkte bei Hindenburg die Wiederholt e Straffreiste llung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte

"Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit. Vom 21. März 1933. Auf Grund des Artikels 48 Abs. 2 der Reichsverfassung wird folgendes verordnet: §1 Für Straftaten, die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle begangen sind, wird Straffreiheit nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen gewährt. §2 Strafen, die beim Inkrafttreten dieser Verordnung rechtskräftig erkannt und noch nicht verbüßt sind, werden erlassen. ... §3 Anhängige Verfahren werden eingestellt, wenn die Tat vor dem 21. März 1933 begangen ist; neue Verfahren werden nicht eingeleitet. ..." Mit dieser Verordnung wurde natürlich nicht jeder politische Mord straffrei gestellt, sondern nur der, der von Nazis "im Kampf für die nationale Erhebung des deutschen Volkes begangen" worden war. Der 21. März war der "Tag von Potsdam" gewesen, an dem sich der greise kaiserliche Generalfeldmarschall von Hindenburg und der von ihm zumindest scheel angesehene "böhmische Gefreite" (des Ersten Weltkrieges) Hitler über dem Sarg des wohl bedeutendsten preußischen Königs, Friedrichs II., des Großen, in der Garnisonskirche von Potsdam in einem von Hitler so gewollten symbolischen Akt die Hände gereicht hatten, um eine Verknüpfung preußischer Tradition mit dem Nationalsozialismus vorspiegeln zu können - worauf nicht nur Hindenburg hereingefallen ist, sondern auch die Alliierten und darum das Land Preußen nach dem Krieg als angeblichen Hort des Militarismus aufgelöst hatten. Aber der Preuße Friedrich II. war von wesentlich liberalerer Art gewesen als der Österreicher Hitler. Von dem "Alten Fritz", der wahrlich kein Demokrat gewesen war und der z.B. die Leibeigenschaft beibehalten hatte, stammen solche Aussprüche wie: "In meinem Land soll jeder nach seiner Facon selig werden können." "Gazetten, wenn sie interessant sein sollen, dürfen nicht genieret werden. Höher hängen!" Und sein Nachbar, der Müller von Sanssouci, dessen klappernde Mühle – einer Anekdote(!) zu Folge - den König in seinem Schloss gestört und der darum dem Müller den Abbruch der Mühle angedroht haben solle, dieser Müller hatte (der Anekdote zu Folge) dem aufgeklärt absolutistisch regierenden König im Vertrauen auf die Durchsetzbarkeit seines Rechts vor dem Königlichen Hofgericht, dem Kammergericht, das drohende Wort entgegenschleudern können: "Es gibt noch Richter in Berlin!" und: „Eure Ew. Majestät könnten mir die Mühle wegnehmen - wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!“ Das an der Gerechtigkeit orientierte Recht hatte bei diesem Preußenkönig einen wesentlich höheren Stellenwert gehabt als fast 200 Jahre später bei den Nazis. Das war eher preußische Tradition! In Wahrheit hat sich, wie der Historiker Prause in seiner Aufarbeitung von Geschichtsirrtümern „Niemand hat Kolumbus ausgelacht“ herausgearbeitet hat, Friedrich II. nicht als dem Gesetz unterworfen gesehen! Er war für

567

Gerechtigkeit, wie er sie verstand, und hat ohne zu zögern Urteile revidiert und Richter seines Kammergerichts in Festungshaft festsetzen lassen, als ein anderer Müller, der Müller Arnold aus dem Kreis Züllichau, wegen einer von ihm angestrebten Pachtzinsminderung unberechtigt einen Prozess gegen seinen adligen Grundherrn angestrengt, in mehreren Instanzen, zuletzt sogar vor dem vom König mit der Erledigung des Falles betrauten Kammergericht, verloren und sich als Prozesshansel zum Schluss noch einmal an den König gewandt hatte. Der König hatte dann in die Justiz eingegriffen, um - in Verkennung der Realitäten - dem Müller gegen die Richter zu dessen behauptetem Recht zu verhelfen, weil er argwöhnte, dass seine Richter den adligen Grundherrn des Müllers unberechtigt begünstigt hätten. Dieser Eingriff in die Justiz zur von ihm in diesem Fall falsch gesehenen Durchsetzung der Gerechtigkeit zu Gunsten eines einfachen Müllers gegen einen Adligen weckte bei den Leuten „... die Vorstellung vom immer gerechten König, der darüber wacht, daß vor dem Richter alle gleich sind – er selber nicht ausgenommen.“15 Sie wurde anekdotisch mit dem Müller von Sanssouci und seiner Mühle verwoben, die der Preußenkönig aus landschaftsgestalterischen Gründen zur Abrundung seiner englischen Gartenanlage unbedingt behalten wollte und darum dem Müller zur Erleichterung der Aufrechterhaltung des Mühlenbetriebes Steuerfreiheit gewährt hatte. Die Anekdote vom „Müller von Sanssouci“ wurde so gerne weitererzählt, weil ihre »innere Wahrhaftigkeit« die Unterwerfung des Königs unter das Gesetz bezeugen sollte. Und der König hatte im tatsächlichen Mühlenfall des Müllers Arnold ja eingegriffen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen – auch wenn er dabei die Sachlage falsch gesehen hatte und dann von seinem Irrtum nicht mehr abzubringen gewesen war. Von einem solchen Bemühen um Gerechtigkeit waren die Nazis Lichtjahrtausende entfernt, und es lässt sich keine Verbindungslinie zwischen dem wahren Preußentum und dem Banditentum der Nazis konstruieren, auch wenn die Nazis sich den konservativen deutschen Kreisen gegenüber zur Erhöhung ihrer (angeblichen) geschichtlichen Legitimität darauf zu berufen suchten! Als Gesinnungsgenosse der Nazis konnte man ruhig ein Mörder sein und - wie außer dem vorstehend beschriebenen und anderen Morden - z.B. gewählte aber unliebsame Landesparlamentarier ermordet haben. "Ein Beispiel für die hemmungslose und gewalttätige, rechtsstaatlichen Grundsätzen hohnsprechende Verfolgung kommunistischer Mandatsträger ist die Reaktion der nationalsozialistischen Regierung Oldenburgs auf die Ermordung des KP-Landtagsabgeordneten Joh. Gerdes. Gerdes war am 3. März 1933 überfallen und durch fünf Schüsse getroffen worden. Er erlag seinen Verletzungen am 5. März. Die `Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land' meldeten am 18. März: `Die Pressestelle des Staatsministeriums schreibt uns: Vor der Reichstagswahl vom 5. März d. J. ist in Oldenburg der kommunistische Landtagsabgeordnete Gerdes getötet worden. Das Staatsministerium kann dieses Tat keineswegs billigen. Es hat aber trotzdem das Verfahren gegen die in Haft genommenen Personen niedergeschlagen, da die Tat im Kampfe für die nationale Erhebung und in der Erregung über die niederträchtigen Terrorakte und Terrorpläne der KPD begangen ist. Das Staatsministerium ersucht die Bevölkerung fürderhin, von jeder Gewalttat Abstand zu nehmen. Mit weiteren Gnadenerweisen kann nicht gerechnet werden.'"16 Insgesamt sind im Dritten Reich 186 Reichstags- und Landtagsabgeordnete umgebracht worden - weitere 311 kamen in meist jahrelange KZ-Haft, 113 mussten auswandern -, ohne dass deswegen auch nur ein einziges Strafverfahren durchgeführt worden wäre; auch später nicht. Das machte alles nichts, Hauptsache, man hatte bei seinen politischen Morden ein braunes Hemd getragen! Dann gab es eventuell sogar noch einen Orden, auf jeden Fall aber Straffreistellung. "Ein Orden und der Galgen werden auf die gleiche Weise verdient." (Juvenal, ca. 60 - 140 n.Chr.) Auf Grund der Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit sind die Mörder von Potempa und andere "braune Verbrecher" freigelassen worden. Sie galten fürderhin als "Vorkämpfer der nationalen Erhebung", ihre Morde als herausragende politische Taten für die "Bewegung". "Normale" politische Taten von Nazi-Kämpfern werden aus einem Bericht einer Assistenzärztin am Krankenhaus einer sächsischen Industriestadt und aus einem Brief eines SA-Mannes an den auf Hitlers Geheiß im Zuge des nur behaupteten "Röhm-Putsches" vom 30.06.1934 mit mehreren Hundert NS-Gegnern und unliebsam gewordenen Nationalsozialisten ohne gerichtliche Untersuchung und Gerichtsurteil umgebrachten SA-Stabschef Röhm deutlich: 15

16

Prause, G.: Niemand hat Kolumbus ausgelacht, dtv Geschichte, S. 149 ff Focke, H./ Hohlbein, H.: a.a.O. S. 87 f

568

"Wenn wir am Abend nach den Versammlungen die Verletzten hereinbekamen, dann wußte ich sofort, welcher Partei jeder angehörte, auch wenn er schon ausgekleidet im Bett lag. Die mit der Kopfwunde vom Bierseidel oder Stuhlbein waren Nazis und die mit dem Stilettstich in der Lunge waren Kommunisten."17 Die handgreiflichen Wahlkampfauseinandersetzungen blieben aber nicht so einseitig: "Ich habe in meiner Arbeit für die N.S.D.A.P. mehr als dreißigmal vor Gericht gestanden und bin achtmal wegen Körperverletzung, Widerstandsleistung und ähnlicher für einen Nazi selbstverständlicher Delikte vorbestraft. An der Abzahlung der Geldstrafen trage ich heute noch und habe zudem noch weitere Verfahren laufen. Ich bin ferner mindestens zwanzigmal mehr oder weniger schwer verletzt worden. Ich trage Messerstiche am Hinterkopf, an der linken Schulter, an der Unterlippe und am rechten Oberarm. Ich habe ferner noch nie einen Pfennig Parteigeld beansprucht oder bekommen, habe aber auf Kosten meines mir von meinem Vater hinterlassenen guten Geschäfts meine Zeit unserer Bewegung geopfert. Ich stehe heute vor dem wirtschaftlichen Ruin.“18 Die Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit vom 21.03.33 ordnete eine bloß rückwirkende Straffreiheit an. Sie war vom Wortlaut her kein Freibrief für die Zukunft. Gleichwohl wurde sie als Startsignal für künftige, bald darauf verstärkt einsetzende, teilweise durch weitere Gesetze »abgesicherte« Mordtaten von den Nazi-Parteigängern aufgefasst. „Im verdorbensten Staat gibt es die meisten Gesetze“ (Tacitus), um die dem Unrechtsregime Unterworfenen in die Zwangsjacke der Staatsideologie und des Staatsunrechts einschnüren zu können. Und die Nazi-Parteigänger dachten oder erwarteten sogar von ihrer im Zuge der „völkischen Revolution“ an die Staatsmacht gelangten Parteiführung: Was einmal möglich gewesen war, müsste doch auch später wiederholbar sein! Die vergangenen Untaten der Nazis waren nachträglich juristisch zumindest entschuldigt und damit gebilligt worden. Warum sollte das dann für die Zukunft anders sein, wenn die Reichsregierung alle bisher in einem SA-braunen „Braunhemd“ verübten Morde gedeckt hatte? Die staatlicherseits angeordneten oder geduldeten Morde erreichten am 30.06.34, der „Bartholomäusnacht“ der Nazis, in denen sich die Nazi-Führung selbstverständlich ohne die SA-Größen - im Zusammenspiel mit der SS der Führung der mit der SS um die Macht konkurrierenden SA entledigte, einen ersten Höhepunkt in der Niederschlagung des gar nicht geplant gewesenen und nicht stattgefundenen, aber gleichwohl behaupteten so genannten "Röhm-Putsches". Im Verlauf dieses nur behaupteten Putsches ließ Hitler unter Mithilfe des Reichsführers-SS Himmler und des Gestapo-Chefs und Leiters des Sicherheitsdienstes SD Heydrich Hunderte ihnen unbequemer Gegner von links und rechts - wie u.a. den ehemaligen Reichskanzler General von Schleicher und dessen über die Ermordung in Schleichers Haus hinzukommende Ehefrau als lästige Zeugin gleich mit, des Weiteren den General von Bredow - und sogar alte, ihm inzwischen aber lästig gewordene Parteigänger - wie den (schwulen, den Nazis schon allein deswegen „verdächtigen“) Organisator und Stabschef der SA und Reichsminister ohne Geschäftsbereich Röhm an prominentester Stelle und 17 höhere Befehlshaber dieser mächtigsten Massenorganisation der Nazis, den Reichsorganisationsleiter der NSDAP Strasser und dessen Bruder, die einen revolutionäreren, mehr sozialistisch angehauchten Nationalsozialismus angestrebt hatten – verhaften und 83 oder 89 von ihnen, u.a. Schleicher und Röhm, umbringen, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihnen eine Schuld nachzuweisen. Die Leichen konnte man nicht alle klammheimlich im Gully verschwinden lassen oder in der Einöde verscharren. Dafür waren die ermordeten Gegner zum großen Teil zu prominent gewesen. Zumindest die obersten Führer der SA, die glaubten, dass eine Eigenmächtigkeit von Himmler und Heydrich vorliege und nicht ahnten, dass auch Hitler hinter ihrer Ermordung stecke und darum, von der SS in der Haftanstalt Stadelheim ohne Gerichtsverfahren an die Wand gestellt und erschossen, mit einem „Heil Hitler“ auf den Lippen starben, zumindest die waren reichsbekannt! Einen Tag später wurde der amtierende Reichsminister Röhm, den Hitler als einen seiner wenigen Duzfreunde an der Spitze eines kleinen Trupps der Leibstandarte SS eigenhändig festgenommen hatte, ebenfalls von zwei SS-Führern ermordet. Damit hatte Hitler ein juristisches Problem am Hals, denn auch damals bestand der Legalitätszwang, demzufolge jede bekannt gewordene Straftat von Staatsanwaltschaft und Polizei verfolgt werden musste. Und einen amtierenden Reichsminister der gerade im Amt befindlichen Reichsregierung umzubringen, musste die zuständige Staatsanwaltschaft nicht nur alarmieren, sondern zu äußerster Strafverfolgung veranlassen! Das 17 18

zitiert nach Focke, H./ Hohlbein, H.: a.a.O. S. 36 f. zitiert nach Focke, H./ Hohlbein, H.: a.a.O. S. 56 f.

569

konnte man nicht einfach als Petitesse übergehen. Und der Schuldige war auch bekannt: Am 13.07.34 übernahm Hitler vor dem Reichstag die persönliche Verantwortung für die - angeblich nur 71 - Ermordungen. Nun muss es in einer demokratischen Staatsordnung, die diesen Namen verdient, Gewaltenteilung derart geben, dass unabhängig voneinander das Parlament als Legislative die als notwendig erachteten Gesetze erlässt, die Regierung als Exekutive sie ausführt oder in ihrem Handeln an sie gebunden ist, und die Gerichte als dazu berufene Judikative über die Rechtmäßigkeit all dessen wachen. Nie aber darf es sein, dass es der Regierung als "Regierungsgesetzgeber" gestattet wäre, die Gesetze zu erlassen, die sie gerade braucht, um ihrem rechtswidrigen Handeln das zerschlissene Scheinmäntelchen »Regierungsgesetz« der angeblichen Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens als des Führers neue juristische Kleider umhängen zu können. Hitler aber löste dem äußeren Anschein nach sein juristisches Problem der Ermordung seiner innenpolitischen Gegner und der ihm lästig gewordenen Parteigänger dadurch, dass er am 03.07.34 nachträglich folgendes rückwirkende Gesetz erließ: „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr Vom 3. Juli 1934. Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: Einziger Artikel Die zur Niederschlagung hoch= und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr Rechtens. Berlin, den 3. Juli 1934. Der Reichskanzler: Adolf Hitler Der Reichsminister des Inneren: Frick Der Reichsminister der Justiz: Dr. Gürtner“ In dem Erlass nachträglicher oder rückwirkender Gesetze hatten die Nazis ja schon hinreichende Übung! In einer zweistündigen Rede am 13.07.34 vor dem Reichstag rechtfertigte Hitler die Mordaktion mit seiner Rolle als über den Gesetzen stehender „oberster Gerichtsherr“ Deutschlands. In ihr führte er u.a. aus: „Meutereien bricht man nach ewig gleichen Gesetzen. Wenn mir jemand den Vorwurf entgegenhält, weswegen wir nicht die ordentlichen Gerichte zur Aburteilung herangezogen hätten, dann kann ich ihm nur sagen: in dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des Deutschen Volkes oberster Gerichtsherr! ... Ich habe den Befehl gegeben, die Hauptschuldigen an diesem Verrat zu erschießen, und ich gab weiter den Befehl, die Geschwüre unserer inneren Brunnenvergiftung und der Vergiftung des Auslandes auszubrennen bis auf das rohe Fleisch.“19 Und wenn es ein Gesetz gab, das Morde für rechtens erklärte und darüber hinaus Hitler in seiner Funktion als oberster Gerichtsherr gesprochen hatte, dann konnte kein Staatsanwalt mehr ermitteln, um die Ermordungen „vor Gericht“ anzuklagen. Da war ja schon von der höchsten Rechtsinstanz, dem obersten Gerichtsherrn, über sie befunden worden. Damit war die Aufgabe der Staatsanwaltschaft erledigt: „Roma locuta, causa finita!“

5 Das Ermächtigungsgesetz vom 24.03.33 als "Verfassungsurkunde des Dritten Reiches" und seine Auswirkungen Die juristische Grundlage für den (losgelöst von den hierfür einschlägig gewesenen Bestimmungen der Weimarer Verfassung) nicht durch das Parlament, sondern durch die Reichsregierung vorgenommenen Erlass des vorstehenden Gesetzes war das im folgenden noch näher anzusprechende Ermächtigungsgesetz vom 24.03.33, die dann von Juristen so genannte "Verfassungsurkunde des Dritten Reiches", gewesen. In dessen Artikel 1 hieß es:

19

Zitiert nach dem sehr schön illustrierten Buch: Benz, Wolfgang: Geschichte des Dritten Reiches München 2000 S. 56

570

Das Ermächtigu ngsgesetz vom 24.03.33 als "Verfassun gsurkunde des Dritten Reiches"

"Reichsgesetze können außer in den in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden." Von dieser undemokratischen legalistischen Möglichkeit machte das Nazi-Regime zur Verdeckung seiner außerhalb der Massenvernichtungsaktionen in den KZs begangenen Mordtaten exzessiven Gebrauch. Der Tag des angeblichen Röhmputsches war durch die geschilderte juristische Aufarbeitung der von der unter Hitlers Führung stehenden Reichsregierung veranlassten Morde zum nunmehr offen sichtbaren Ende des Rechtsstaates geworden. Rechtsstaat und Rechtssicherheit hatten in Deutschland aufgehört zu existieren! Der bedeutendste Staatsrechtsprofessor der Weimarer Republik, Carl Schmitt, scheute und schämte sich nicht, die Abschaffung des Rechtsstaates in dem Aufsatz "Der Führer schützt das Recht" »wissenschaftlich« zu rechtfertigen: "... Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. ... Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. ... In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. ... Das Richtertum des Führers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt. In der höchsten Not bewährt sich das höchste Recht und erscheint der höchste Grad richterlich rächender Verwirklichung des Rechts. ..." 20 Weil mit der Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit vom 21.03.33 nur über die vor dem 21.03.33 begangenen Untaten und mit dem Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 03.07.34 nur über die vom 30.06. - 02.07.34 begangenen Straftaten das braune Hemd des Entschuldigens und Vergessens gebreitet worden ist, die fanatisierten Parteischläger aber ihr mörderisches Treiben nicht eingestellt hatten, war es später noch einmal erforderlich geworden, ca. 2 Jahre nach dem Verbot aller anderen Parteien außer der NSDAP und nach dem Tode Hindenburgs ungehindert - weil wieder nur durch die Exekutive vorgenommen - nachfolgendes Gesetz zu erlassen: Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit Vom 23. April 1936. Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: §1 (1) Straffreiheit wird gewährt für Straftaten, zu denen sich der Täter durch Übereifer im Kampfe für den nationalsozialistischen Gedanken hat hinreißen lassen. Ausgenommen sind vorsätzliche Zuwiderhandlungen, durch die der Tod eines Menschen herbeigeführt worden ist, sowie Handlungen, bei denen die Art der Ausführung oder die Beweggründe eine gemeine Gesinnung des Täters erkennen lassen. (2) Strafen, die wegen der im Abs. 1 bezeichneten Straftaten beim Inkrafttreten dieses Gesetzes rechtskräftig erkannt und noch nicht vollstreckt sind, werden erlassen. Anhängige Verfahren werden eingestellt, wenn die Tat vor dem 20. April begangen ist; neue Verfahren werden nicht eingeleitet. ... Straftaten aus Übereifer für den nationalsozialistischen Gedanken wurden freigestellt, waren also nicht aus „gemeiner Gesinnung“ heraus geschehen! Auch die Erschlagung von Gegnern wurde darunter subsumiert. Sie wurden halt nicht als „vorsätzliche Zuwiderhandlungen“ gewertet. Vor dem Inkrafttreten dieser NS-Täter selbst für Mordtaten straffrei stellenden Gesetze und Verordnungen ist von der (auf Grund der Nachwirkungen bismarckscher Richterernennungspolitik in ihrer politischen Grundhaltung) stark »rechtslastigen«, weiterhin monarchistisch geprägt und antidemokratisch eingestellt gewesenen deutschen Richterschaft des ehemaligen Kaiserreiches schon jahrelang, wenn es galt, politisch bedingte Körperverletzungs- und Totschlagsdelikte abzuurteilen, nach dem Motto »Recht« gesprochen worden: "Ein Schuss von »rechts«: ein Monat - ein Schuss von »links«: ein Jahr." So verurteilte das LG Hildesheim nach einem Überfall der SA auf Mitglieder der die Weimarer Republik schützenden "Eisernen Front" einige SA-Leute zu Gefängnis zwischen 6-8 Monaten, die angegriffenen Sozialdemokraten aber, die sich nur in Notwehr zur Wehr gesetzt hatten, zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen zwischen 12-24 Monaten. Die Anführer und 20

Der Nationalsozialismus Dokumente 1933-1945, Frankfurt 1957

"Ein Schuss von rechts: 571 ein Monat ein Schuss von Links: ein Jahr." Mitkämpfer der Münchener Räterepublik von 1919 wurden mit einem Todesurteil und 2.209 Freiheitsstrafen

von insgesamt über 6.000 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, von denen zwei Drittel abgesessen werden mussten. Aber der Kapp-Putsch von 1920, der die Reichsregierung zur Flucht aus Berlin gezwungen hatte und in dessen Verlauf von den Aufständischen über 200 Personen rechtswidrigerweise standrechtlich erschossen worden waren, wurde mit nur einer Verurteilung von 5 Jahren Festungshaft juristisch aufgearbeitet. Diese die nationalistischen Verbrecher wegen ihrer gleichgerichteten politischen Ziele der Beseitigung der verhassten Republik, Wiederherstellung der Monarchie oder Errichtung einer rechtsgerichteten autoritären Staatsordnung verständnisvoll schützende (Un-)Rechtsprechungspraxis stellte geradezu eine Aufforderung der Justiz an alle konservativen Gewalttäter dar, die so gemeint gewesen und auch so verstanden worden war. Die Richter in der Weimarer Republik hätten sich zu einem neuen Geist bekennen müssen - stattdessen zogen sie einen dicken, weithin sichtbaren Bindestrich, konstatierte Carl von Ossietzky. Auch bei schlimmsten Verbrechen wurde nicht nach der Tat, sondern nach der politischen Gesinnung des Täters und seines Opfers geurteilt. Ein »linkes« Opfer war den Richtern weniger wert als ein »rechtes«! So wurden die ergriffenen rechtsgerichteten Fememörder des ehemaligen Reichsfinanzministers Erzberger für dieses Verbrechen, das an ihm begangen wurde, weil er als von den rechtsradikalen Republikfeinden so geschimpfter „Erfüllungspolitiker“ zur Beendigung des Ersten Weltkrieges das Waffenstillstandsabkommen im Compiégne und den „Versailler Diktatfrieden“ mitunterzeichnet hatte, nur mit 18 Monaten Gefängnis - noch nicht einmal, wie damals für Mord vorgesehen, mit Zuchthaus(!) bestraft. Bei solchen geringen Strafen verwundert es nicht, dass ein Jahr später, 1922, zwei andere Rechtsextremisten aus der Geheimorganisation Consul den „Erfüllungspolitiker“21 und Reichsaußenminister Rathenau ermordeten. Es wurde damals - trotz der offensichtlichen Gesinnungsjustiz - aber wenigstens noch ein Schuldausspruch als Ausdruck der rechtlichen Missbilligung solcher Verbrechen gefällt. Später wurde, wie wir schon gesehen haben, ein NS-Verbrecher generalamnestiert! Sühnung politischer Morde in der Weimarer Republik: Politische Morde begangen von Linksvon Rechtsstehenden stehenden Gesamtzahl der Morde davon ungesühnt teilweise gesühnt gesühnt Zahl der Verurteilungen Geständige Täter freigesprochen Dauer der Einsperrung je Mord Zahl der Hinrichtungen Geldstrafe je Mord

Politische Morde von links: Gesamtzahl: Gesamtsühne:

Politische Morde von rechts: Gesamtzahl: Gesamtsühne:

22 4 1 17 38 -15 Jahre 10 --

Gesamtzahl

354 326 27 1 24 23 4 Monate -2 Papiermark

376 330 28 18 62

10

22 10 Erschießungen, 248 Jahre, 9 Monate Einsperrung, 3 lebenslängliche Zuchthausstrafen

354 Keine Erschießungen, 90 Jahre, 2 Monate Einsperrung, 1 lebenslängliche Haft, 730 Mark Geldstrafe

Von den im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch begangenen Verbrechen sind:

21

So wurde Rathenau von einem deutschnationalen Reichstagabgeordneten als „Gerichtsvollzieher und Gendarm der unergründlichen Raubgier, Zutreiber und Fronvogt der unersättlichen Herrschsucht unserer Feinde“ diffamiert, als das Deutsche Reich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg unter den ihm in Versailler Vertrag auferlegten Reparationszahlungen ächzte.

572

Amtlich bekannt geworden Davon amnestiert

705 412

Verfahren eingestellt Bestraft

176 1

Offener, als aus diesen Zahlen22 ersichtlich ist, kann keine (oft fälschlich Klassenjustiz genannte) Gesinnungsjustiz betrieben werden. Das war die Rechtspraxis der obersten deutschen Gerichte! Und selbstverständlich waren solche rechtskonservativen, republik- und demokratiefeindlichen Richter im NS-Staat bruchlos einsetzbar. Aber immerhin hatte es anfangs noch (allerdings nicht ernst zu nehmende) Strafverfahren gegen die Täter von "rechts" gegeben. Der Schein war zunächst noch gewahrt worden. Mit der Verordnung und den Gesetzen über die Gewährung von Straffreiheit gegenüber NS-Tätern aber hatte der totalitäre Staat die bis dahin wenigstens dem Gesetzeswortlaut nach noch bestehende Gleichheit vor dem Gesetz nunmehr beseitigt. Nicht mehr die Tat, sondern allein die Gesinnung des Täters wurde bestraft oder belohnt. Es herrschte nackte Gesinnungsjustiz gegen politische Gegner. Mord war nicht mehr gleich Mord. Und an unruhigen Wochenenden wurden viele Gegner bei Straßenkämpfen und Saalschlachten erschlagen! In den Monaten Juli und August 1932 z.B. waren über 300 Menschen durch politischen Terror getötet und rund 1.200 zum Teil erheblich verletzt worden. Am 17.07.32 hatte der "Altonaer Blutsonntag" 17 Tote gefordert, am 31.07.1932, dem Tag der Reichstagswahl, hatte es 9 Tote als Opfer politischer Auseinandersetzungen gegeben.

5.1 Das »Ermächtigungsgesetz« als Schlussstein in der gesetzlichen Pervertierung der Weimarer Verfassung Der Schlussstein in der gesetzlichen Pervertierung der im Ansatz demokratischen Weimarer Verfassung wurde am 24. März 1933 durch den Erlass des "Gesetz(es) zur Behebung der Not von Volk und Reich" in das juristische Paragraphenwerk zur Unterdrückung anders denkender Deutscher eingesetzt. Schon der NaziStaatsrechtler Carl Schmitt bezeichnete dieses so genannte "Ermächtigungsgesetz" als die "Verfassungsurkunde des Dritten Reiches".

Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich Vom 24. März 1933

Das »Ermächt igungsges etz« als Schlussstein in der gesetzlich en Pervertier ung der Weimarer Verfassun g

Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen, das mit Zustimmung des Reichsrats hiermit verkündet wird, nachdem festgestellt ist, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt sind: Artikel 1 Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. Dies gilt auch für die in den Artikeln 85 Abs. 2 und 87 der Reichsverfassung bezeichneten Gesetze. Artikel 2 Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtungen des Reichstages und des Reichsrates als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt. ... Artikel 5 Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 1937 außer Kraft; es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst wird.

22

vgl. Gumbel: Vier Jahre politischer Mord nach Im Namen des Deutschen Volkes Justiz und Nationalsozialismus / Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, Köln 1989, S. 31ff, 35

573

Berlin, den 24. März 1933 Das Gesetz, das während der Nazi-Herrschaft entgegen der in ihm enthaltenen zeitlich begrenzten Gültigkeitsdauer nie außer Kraft gesetzt worden ist, behauptet in seinem Wortlaut, „dass die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt“ gewesen seien. Dafür war gemäß Art. 76 WV die Anwesenheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Reichstages erforderlich, von denen wiederum zwei Drittel der Abänderung der Verfassung zustimmen mussten. Wenn es darauf ankam, konnten die Nazis rechnen. Daher wussten sie, dass sie dieses Verfahrenserfordernis unter normalen Umständen nicht hätten erfüllen können. Um dennoch das angestrebte Ziel zu erreichen, wurde folgendermaßen manipuliert: Die KPD-Mandate wurden für ungültig erklärt, die 81 KPD-Abgeordneten zusammen mit 8 SPD-Abgeordneten am Betreten des Reichstages - teilweise durch Überstellung in ein KZ - gehindert, vor und im Plenarsaal wurde bewaffnete SA und SS postiert, die Zustimmung des Zentrums wurde mit der falschen Zusage erlistet, dass - als Gegenleistung - die "Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat" ("Reichstagsbrandverordnung") vom 28.02.33, mit der die Grundrechte annulliert worden waren, aufgehoben werden würde - was aber niemals geschah -, und eine Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages legte fest, dass "unentschuldigt Fehlende" als anwesend zu zählen seien. Wessen Fehlen als "unentschuldigt" gewertet werden solle, habe der (der NSDAP angehörende) Reichstagspräsident (Göring) zu entscheiden - und Göring wusste ja, wen seine Banden auf den Stufen des Reichstages wegfingen und wen er darum als "unentschuldigt fehlend" und damit angeblich anwesend registrieren konnte! Für uns ist heute ist unvorstellbar, dass der auf die Verfassung vereidigte damalige Reichspräsident (das entspricht jetzt in der staatlichen Hierarchie der Position des Bundespräsidenten; der Reichspräsident hatte aber wesentlich mehr Machtbefugnisse als das jetzt nur noch repräsentative Amt des Bundespräsidenten seinem Inhaber ermöglicht) von Hindenburg alle diese Verordnungen und Gesetze unterschrieben und damit ihr Inkrafttreten ermöglicht hatte. Hatte er doch den in Artikel 42 WV festgelegten Amtseid geleistet: "Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die Verfassung und die Gesetze des Reiches wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde." "Flaggenve rordnung" als erster Verfassung s-bruch des Reichspräsidenten

Aber Hindenburg hatte schon vorher im Falle der "Flaggenverordnung" die Verfassung gebrochen und damit gezeigt, wie gering er sie achtete. Artikel 3 WV hatte in bewusster Anknüpfung an freiheitlich-republikanische Traditionen zweifelsfrei bestimmt: "Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold." (So ähnlich lautet jetzt auch wieder „Art. 22 GG Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.") Mit der Festlegung auf diese Farben als Reichsflagge sollte bewusst die Tradition der Freiheitskämpfer gegen die napoleonische Gewaltherrschaft und die der demokratiehungrigen Studentenschaft des 19. Jahrhunderts, der Lützowschen Jäger und der Burschenschaften, gegen die polizeistaatliche Obrigkeit aufgenommen werden, wie sie u.a. in dem Hambacher Festlied (27.05.1832) über „Die Farben der Deutschen“ oder dem nachfolgend wiedergegebenen Gedicht Karl Heinrich Schnauffers (1823-1854) zum Ausdruck kam:

Schwarz-Rot-Gold Schwarz, Rot und Gold, das sind die Farben, Die Stolz der deutsche Bürger trägt; Schwarz, Rot und Gold, das sind die Farben, Für die er sich im Kampfe schlägt. Das Schwarz, das ist die Warnung denen,

die Deutschlands Freiheit noch bedrohn. Das Rot, das ist das Blut von jenen, Die für die Freiheit fielen schon. Das Gold, das ist der Freiheit Segen, Wenn Männer ihre Pflicht getan,

574

Drum schlagt auf Wegen und auf Stegen Die heiligen drei Farben an.

Drauf stolz das deutsche Auge sieht; Schwarz, Rot und Gold - das sind die Garben, Darin die Ernte Deutschlands blüht!

Schwarz, Rot und Gold, das sind die Farben, Jeder Staat, jede große Organisation braucht mindestens ein Symbol, das die in einem Staat oder einer Organisation verkörperten nationalen Werte und Wertvorstellungen in dieser Flagge und den darin verwandten Farben und möglicherweise auch Symbolen repräsentiert. Flaggen sind keine historischen Zufälligkeiten! Man denke zurück an z.B. Hammer und Sichel in der Flagge der (Ex-)DDR1 und den Flaggen anderer sozialistischer Staaten. Oder was wäre die Schweiz ohne ihr weißes Kreuz auf rotem Grund, was wäre das aus der Umkehrung dieses Symbols entstandene „Rote Kreuz“ ohne seine Hilfe in existenziellster Not signalisierende Flagge, was die Blauhelm-Missionen der UNO ohne die UNO-Flagge? Man muss ja nicht vor jedem Haus an jedem Tag der Woche eine Flaggenparade abhalten und beim Ertönen der Nationalhymne die rechte Hand aufs Herz legen, wie es amerikanische Präsidenten mit Vorliebe tun. Ich gebe gerne zu, dass mir nicht das Wasser in die Augen tritt, wenn ich die deutsche Flagge irgendwo sehe. Etwas anderes ist es für mich, wenn bei olympischen Siegerehrungen die deutsche Flagge am mittleren Mast hochgezogen wird. Und was eine Flagge symbolisieren kann, hat man zuletzt eindrucksvoll am Fernseher miterleben können, als bei den von Salt Lake City als Veranstaltungsort durch Bestechung von IOC-Mitgliedern erkauften olympischen Winterspielen das Sternenbanner in das Olympiastadium der Mormonenhauptstadt hereingetragen wurde, das zwischen den Millionen Tonnen Schutt des durch den verbrecherischen Anschlag der Dschihad-Terroristen vom 11. September 2001 zusammengebrochenen World-Trade-Centers vom „Ground-Zero“ in New York zerfetzt als phönixhaftes Zeichen für den trotz des bombastischen Anschlags ungebrochenen Behauptungswillen der USAmerikaner aufgepflanzt worden war. Da laufen auch mir Tränen über die Wangen. Und nun hatte sich nach dem Ende des auch Deutschland verheerenden Ersten Weltkrieges die erste freiheitliche Republik auf deutschem Boden durch ganz bewussten Rückgriff auf die Farben der Freiheitskämpfer gegen Despotismus, Fürstenwillkür und napoleonische Fremdherrschaft eine den demokratischen Neuanfang symbolisierende Flagge gegeben. Diese nach demokratischen Freiheiten schreienden, mit dem Blut der Besten teuer bezahlten Tendenzen waren bei der Schaffung des (zweiten) Deutschen Reiches durch Bismarck wegen ihres Freiheitsstrebens unterdrückt worden. Bismarck hatte in Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Bestrebungen unter der Verwendung der Farben Preußens und der Hansestädte schwarz-weiß-rot als Farben für das von Preußen geführte Kaiserreich bestimmt. Dem wurde vom neuen Verfassungsgesetzgeber durch Art. 3 WV entgegengetreten: "Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold." Hindenburg aber, der greise ehemalige kaiserliche Feldmarschall des Ersten Weltkrieges, in seinem Herzen immer noch glühender Monarchist und erzkonservativ bis in die Knochen, der nach seiner Wahl zum zweiten deutschen Reichspräsidenten (nach Ebert) bei dem inzwischen in niederländischem Exil lebenden ehemaligen deutschen Kaiser zunächst nachgefragt hatte, ob der (Asylant) es genehmige, dass Hindenburg die Wahl des deutschen Volkes annehme, Hindenburg hatte knapp eineinhalb Monate nach der „Machtergreifung“ der Nazis vom 30.01.1933 am 12.03.1933 eine Flaggenverordnung erlassen, die entgegen der eindeutigen Regelung in Art. 3 WV bestimmte, dass die ihm vertrautere schwarz-weiß-rote des ehemaligen Kaiserreiches und – als politisches Dankeschön und Gegenleistung an die Nazis – die Hakenkreuz-Flagge als gleichberechtigte Reichsflaggen verwendet werden dürften. Dabei hatte Art. 3 WV in Würdigung der hauptsächlich durch die zur Zeit ihrer Gründung fortschrittlichen Burschenschaften getragene erste landesweite Demokratiebestrebung in Deutschland, die die im Freiheitskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft zu Ehren gekommenen Farben der Lützowschen Jäger zu ihrem Panier erhoben hatten, in bewusster Abkehr vom scharz-weiß-rot beflaggten restaurativen deutschen Kaiserreich als alleinige Farben der Reichsflagge „schwarz-rot-gold“ angeordnet; allerdings in dessen zweitem Satz als halbherzige Konzessionsentscheidung festgelegt: „Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke.“ 1

Mit dem Untergang der DDR ist ihre Flagge historisch geworden. Bei dem Marken- und Patentamt in München kann jedermann historische Kennzeichen, die nicht mehr aktiv verwendet werden, als geschütztes Markenzeichen eintragen lassen. Ein Karlsruher hat das mit der ehemaligen Staatsflagge der Ex-DDR machen lassen. Die 300 € waren für ihn gut angelegtes Geld, dann jedes Mal, wenn das Symbol jetzt genutzt wird, erhält der Markenzeicheninhaber eine Lizenzgebühr (HH A 21.04.04). Für mich ist diese Möglichkeit des Markenzeichenschutzes ein juristischer Fehler im Markenzeichenrecht! Inzwischen historisch gewordene Zeichen, die von vielen benutzt wurden, dürften nach meinem Dafürhalten nicht für eine privatrechtliche Nutzung geschützt werden. Sie müssten »frei« sein; sonst muss vielleicht noch ein Opfer des DDRUnrechtsstaates, wenn es auf das Symbol des Staates, der ihm in seinen Gefängnissen viel Unrecht getan hat, spucken will, eine Gebühr bezahlen!

575

Mit der Flaggenverordnung war ein Verfassungsartikel ohne die in Art. 76 WV für die Änderung der Verfassung vorgesehene qualifizierte Zwei-Drittel-Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der für eine gültige Abstimmung als anwesend erforderlichen Mitglieder des Deutschen Reichstages nicht einmal durch ein Gesetz, sondern durch eine bloße Verordnung praktisch abgeschafft worden. So leicht hatte sich die Weimarer Verfassung als höchste das Zusammenleben der Deutschen ihn ihrem Staatsverband regelnde staatliche Norm auf Grund ihrer Fehlkonstruktionen aushebeln lassen! Hindenburgs Vorgehen war ein kalkulierter, klarer Verfassungsbruch! Damit hatte er die Verfassung, auf die er extra vereidigt worden war, genauso folgenlos gebrochen wie später der zweite deutsche Bundespräsident Lücke das Grundgesetz, als er der Professorin Faßbender die Aushändigung des von dem französischen Staatspräsidenten de Gaulle verliehenen Ordens verweigert und dafür eine vor dem Grundgesetz unhaltbare Begründung gegeben hatte. Mit der Ausfertigung des Ermächtigungsgesetzes hatte Hindenburg "nur" unterzeichnet, was der Reichstag nach den Manipulationen der Nazis durch Legalitätstaktik und offenen Terror - "mehrheitlich" beschlossen hatte. Von den im Reichstag verbliebenen Abgeordneten verweigerten nur die Sozialdemokraten ihre Zustimmung. Alle anderen lieferten den Staat an die braunen Verbrecher aus, da damit eine der Systemvoraussetzungen jeder Demokratie, die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, aufgehoben worden war. Die parlamentarische Willensbildung war damit so gut wie ausgeschaltet. Auch der Abgeordnete Theodor Heuss, später (1949 - 1959) als Prof. Heuss unser erster und allseits geachteter Bundespräsident, stimmte dem Ermächtigungsgesetz zu. (Seine persönlichen Erfahrungen mit der Änderung der Weimarer Verfassung durch u.a. seine durch Täuschung der Nazis erschlichene Zustimmung zu dem Ermächtigungsgesetz - Hitler hatte die schriftliche Zurücknahme von Grundrechtseinschränkungen und die Achtung der Verfassung als Voraussetzung für die Zustimmung der im Zentrum organisierten zögernden Liberalen zugesagt und vor der Abstimmung behauptet, der dementsprechende Brief sei schon unterwegs, ist aber in Wirklichkeit nie geschrieben worden - brachten ihn dazu, die neue, von ihm mitgeschaffene Verfassung des Grundgesetzes so zu respektieren, dass er eine von den Parteien kurz vor Ablauf seiner zweiten Amtsperiode erwogene Grundgesetzänderung des Art. 54 II GG: "Das Amt des Bundespräsidenten dauert fünf Jahre. Anschließende Wiederwahl ist nur einmal möglich.", mit der ihm eine dritte Amtsperiode ermöglicht werden sollte, im Vorwege ablehnte.)

5.2 Die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes Die Bedeutun g des Ermächti gungsges etzes

Die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes lag darin, dass durch dieses Gesetz die Legislative Reichstag der Exekutive Reichsregierung das Recht übertrug, Gesetze auf dem vom Parlament nicht kontrollierbaren Verordnungswege zu erlassen. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, das Grunderfordernis einer demokratischen Verfassung, in der sich die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative in einer "balance of power" gegenseitig in Schach halten, wurde damit (zunächst angeblich nur vorübergehend) aufgehoben. Das Parlament schaltete sich damit für die Dauer der Gültigkeit des Ermächtigungsgesetzes vom 24.03.33 bis zum 08.05.45 zu Gunsten des "Regierungsgesetzgebers“ selbst aus. Die Weimarer Verfassung wurde so außer Kraft gesetzt. Der Staatsrechtler Carl Schmitt als juristischer Wegbereiter der Nationalsozialisten kommentierte die Annahme des Ermächtigungsgesetzes mit den Worten: "Es ist auch nicht ohne Wert, daß ein System sich in aller Form gemäß seiner eigenen Legalität selber aufgibt und sein Siegel unter sein eigenes Ende setzt. Aber das ist dann doch nur die Abdankung und Todeserklärung des alten, nicht aber die Wesensbestimmung des neuen Rechts. Weder die Grundlage, noch die Grenze, noch irgendein wesentlicher Auslegungsgesichtspunkt, der den heutigen Staat binden könnte, läßt sich aus der alten, abgedankten Epoche ableiten." Die im Ermächtigungsgesetz zunächst genannte zeitliche Befristung ist immer wieder verlängert und zuletzt auf unbestimmte Zeit ausgedehnt worden. Auf der Grundlage dieses Gesetzes sind dann scheinlegal, weil formal richtig, weitere Gesetze erlassen worden. Im Zusammenhang mit dem von dem Bruder des als

576

Reichstagsbrandstifter verurteilten und hingerichteten Marius van der Lubbe 1982 angestrebten Wiederaufnahmeverfahren war das Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe angesprochen worden, das am 29.03.33 ebenfalls von der Reichsregierung erlassen worden war und als weiteren Verstoß gegen fundamentalste Rechtsgrundsätze rückwirkend die Verhängung der Todesstrafe scheinlegal für Taten ermöglichte, die zu einem Zeitpunkt begangen worden waren, als es dieses Gesetz noch gar nicht gegeben hatte. Nur auf der Grundlage dieses am 29.03.33 verkündeten Gesetzes war dann van der Lubbe für den von ihm einen Monat zuvor am 27.02.33 begangenen Reichstagsbrand hingerichtet worden.

5.3 Der "Führer" als oberster Gerichtsherr Der "Führer" als oberster Gerichtshe rr

Die durch dieses Gesetz auf Hitler übertragene unumschränkte Gesetzgebungsvollmacht blieb bis 1945 die Grundlage der nationalsozialistischen Diktatur mit ihren verheerenden Auswirkungen, von der alle Deutschen auch die nationalsozialistisch verblendeten - erst am 08. Mai 1945 durch die Kapitulation Nazi-Deutschlands vor den Alliierten von diesen von dem NS-Unrechtsregime befreit worden sind, das aus eigener innerer Kraft abzuschütteln die wenigen einflussreichen Gegner des NS-Regimes als Anführer eines nationalen Widerstandes nicht in der Lage gewesen waren; und für mehr als 17 Millionen Deutsche des damaligen Mittel- und Ostdeutschlands begann statt des braunen dann der rote Terror, nachdem den nationalsozialistischen Anfängen nicht rechtzeitig durch die Richterschaft gewehrt worden war. Die NS-Diktatur ermöglichte Hitler willkürliches, von jeglicher Kontrolle befreites Handeln zu Lasten der Grundrechte der Deutschen und der Grundlagen der bürgerlich-demokratischen Rechtsordnung, dessen Willkürlichkeit nach vorangegangener Aufhebung der Presse- und Informationsfreiheit durch die Notverordnung vom 28.02.33 auch nicht mehr der Öffentlichkeit bewusst gemacht werden konnte. Der "Führer" Adolf Hitler hatte diktatorische Vollmachten. Am 26.04.42 ließ er sich durch Reichstagsbeschluss auch zum obersten Gerichtsherrn ausrufen - eine Position, die er schon seit dem Röhm-Putsch 1934 für sich reklamiert hatte - und kontrollierte damit auch offiziell die dritte Gewalt, die Rechtsprechung. Zu dem Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt gehörte z.B. auch, dass Hitler als "oberster Gerichtsherr" schon rechtskräftig gewordene, ihm zu milde erscheinende Gerichtsurteile, wenn er von ihnen aus der Zeitung oder durch Zufall erfahren hatte, nach eigenem Gutdünken abänderte. Teilweise wurden die verurteilten Delinquenten ohne Einschaltung der Justiz auf ergangenen Führerbefehl hin von der Polizei erschossen. Ab 1942 wurde Hitler mit solchen "Nebensächlichkeiten" gar nicht mehr behelligt, nachdem Himmler mit dem Justizministerium ein "Abkommen über die Korrektur bei nicht genügenden Justizurteilen durch polizeiliche Sonderbehandlung" getroffen hatte. Die SS korrigierte auf diese Weise die durch die sowieso schon mit den Nazis sympathisierende abhängige Justiz ergangenen Urteile! Der von Hitler ernannte "Reichsrechtsführer" (Reichsminister der Justiz) Frank proklamierte am 14.01.1936 Leitsätze für das Justiz(un)wesen und insbesondere die Richterschaft, deren auszugsweise Wiedergabe das Rechtsverständnis der führenden Nationalsozialisten widerspiegeln: „1. Der Richter ist nicht als Hoheitsträger des Staates über den Staatsbürger gesetzt, sondern er steht als Glied in der lebendigen Gemeinschaft des deutschen Volkes. Es ist nicht seine Aufgabe, einer über der Volksgemeinschaft stehenden Rechtsordnung zur Anwendung zu verhelfen oder allgemeine Wertvorstellungen durchzusetzen, vielmehr hat er die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter Gemeinschaftsgliedern zu schlichten. 2. Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere in dem Parteiprogramm und den Äußerungen unseres Führers ihren Ausdruck findet. 3. Gegenüber Führerentscheidungen, die in die Form eines Gesetzes oder einer Verordnung gekleidet sind, steht dem Richter kein Prüfungsrecht zu. Auch an sonstige Entscheidungen des Führers ist der Richter gebunden, sofern in ihnen der Wille, Recht zu setzen, unzweideutig zum Ausdruck kommt. 4. Gesetzliche Bestimmungen, die vor der nationalsozialistischen Revolution erlassen worden sind, dürfen nicht angewendet werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volksempfinden ins Gesicht schlagen würde. ... 6. Zur Erfüllung seiner Aufgaben in der Volksgemeinschaft muß der Richter unabhängig sein. Er ist

577

nicht an Weisungen gebunden. Unabhängigkeit und Würde des Richters machen geeignete Sicherungen gegen Beeinflussungsversuche und ungerechtfertigte Angriffe erforderlich.“2 Kontrollfrage: Ist der letzte Punkt ernst zu nehmen, wenn man ihn mit den zuvor aufgestellten Forderungen an die Richter vergleicht? Die Frage stellen, heißt sie verneinen, denn wenn es den Richtern zur Aufgabe gemacht wurde, „Schädlinge auszumerzen“, dann konnten sie ja nur noch über die Art der Tötung befinden: durch Erschießen oder Erhängen. Diese Richtlinien fassten nur zusammen und verdeutlichten nur die zu der Zeit schon längst gängige Praxis, dass "Führerbefehle" ohne die Einschaltung des Parlaments Gesetzeskraft erlangten, weil der "Führer" die nationalsozialistische Weltanschauung am besten verstanden habe. "Ihm gegenüber bedarf es keiner Garantie für die Wahrung der Gerechtigkeit, da er kraft seines Führertums Hüter der Verfassung und das heißt hier: der ungeschriebenen Rechtsidee seines Volkes ist.", speichelte z.B. der Jurist Larenz. (Das die ‘68er gegen solche damals immer noch lehrenden Professoren rebellierten, müsste allgemein nachvollziehbar sein!) Die NS-Propaganda machte aus solcher Ansicht den Schlachtruf: "Führer befiehl - wir folgen!" Die Geschichte machte daraus die bittere Einsicht: "Führer befiehl - wir tragen die Folgen!"

5.4 »Recht« als Mittel zur Ausrottung weltanschaulicher Gegner „Recht« als Mittel zur Ausrottung weltanscha ulicher Gegner

Zu viele Richter aller Gerichtszweige unterwarfen sich zu Anfang ohne Zwang in maßloser Rechtsblindheit einer verbrecherischen Staatsräson, übten alltäglichen Terror bis in den privatesten Bereich durch im nationalsozialistischen Geist erlassene Unrechtsurteile - so wurden z.B. Kinder, die in der Schule nicht den Arm zum "deutschen Gruß" hochrecken wollten, zum Teil sogar ihren Eltern wegen deren "Versagen" in der Erziehung dieser Kinder weggenommen und in Heime gesteckt - und "ließen sich vom Richter zum Henker degradieren" (Rasenhorn). Wenn etwas „im Gewande eines Gesetzesparagraphen einherwandelte, warfen sie sich davor in den Staub“ (Ostermeyer). So wurde "Recht zur Chiffre für die Ausrottung beliebiger weltanschaulich definierter Gegnergruppen“ (Rüthers), weil die Richterschaft nicht den zum überwiegenden Teil von ihr begrüßten Anfängen wehren wollte, als sie es noch gefahrlos hätte tun können. Es entstand mit der Zeit auf allen Rechtsgebieten ein Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien, wie z.B. das Verbot einer Bestrafung bei fehlender strafgesetzlicher Anordnung, eingeschränkt war. Die Handhabe hierzu bot im Strafrecht der im Juni 1935 neu formulierte § 2 des StGB: "Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient." Auch wer sich keinen Verstoß gegen irgendein Strafgesetz hatte zu schulden kommen lassen, konnte so bei von den nationalsozialistischen Ideen abweichenden Vorstellungen, wenn sie manifest oder unterstellt wurden, mit Strafe überzogen werden!

5.5 § 2 StGB von 1935 als archimedischer Punkt für die Bestrafung jedes Missliebigen durch Beseitigung der Garantiefunktion der Straftatbestände

2

zitiert nach: Hofer, W. a.a.O., S. 101 f

578

Beseitigung der Garantiefun ktion der Straftatbest ände

Damit war die für jeden Rechtsstaat unabdingbare Garantiefunktion der Straftatbestände, dass nur bestraft werden kann, wer gegen ein vor der Begehung einer Tat erlassenes Gesetz verstoßen hat, ausgehebelt worden. § 2 StGB von 1935 war der archimedische Punkt für die Bestrafung jedes Missliebigen. Wenn es kein Spezialgesetz gab, gegen das ein Missliebiger verstoßen hatte, man aber trotzdem seine Bestrafung erreichen wollte, dann wurde mit einer im Strafrecht vor und nach der NS-Herrschaft verbotenen Rechtsanalogie zuungunsten eines Angeklagten ein auf den abzuurteilenden Lebenssachverhalt an sich nicht passender Straftatbestand von furchtbaren Juristen in das juristische Prokrustesbett gepackt, dort überdehnt, bis die um den Schein der Rechtswahrung penibel bemühten Nazi-Juristen glaubten, in willkürlicher Anlehnung an einen an sich nicht einschlägigen Straftatbestand nach dessen Vergewaltigung durch Rechtsbeugung eine Straftat konstruieren und ihretwegen eine Verurteilung aussprechen zu können. Oft wurden von Gerichten Freigesprochene mit blanker Willkür von der Geheimen Staatspolizei noch im Gerichtssaal erneut verhaftet und ohne Verfahren in Konzentrationslager abtransportiert - wo sie dann zum Teil, und mit der Dauer der NS-Diktatur zunehmend, "auf der Flucht erschossen" worden sind3, wenn man sie nicht gerade an angeblichem "Herzversagen" gestorben sein sollten. Teilweise informierten Staatsanwälte schon im Vornherein die Gestapo, wenn sie einen Freispruch des von ihnen Angeklagten auch nur befürchteten und sie ihn trotz dieses erwarteten Freispruchs einer nach ihren nationalsozialistischen Maßstäben "gerechten Bestrafung" überantworten wollten, zu der das in ihren Augen den Zeitgeist verpennt habende zu schlappe Gericht (noch) nicht fähig war. Die Gestapo erhielt zum Zwecke der nationalsozialistischen Herrschaftsfestigung die Möglichkeit, von sich aus und ohne jegliche rechtliche, insbesondere richterliche Kontrollmöglichkeit im bisherigen ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Gerichte zu agieren und damit zu terrorisieren. Die von Gerichten Freigesprochenen kamen so auf Grund der informellen Mitteilung durch die Staatsanwaltschaft an die Gestapo ohne jede rechtliche Garantie in KZ-Haft willkürlicher Dauer. Die durch das „Gesetz über die Geheime Staatspolizei“ vom 10.02.36 - es musste ja alles seinen ihm gebührenden formaljuristisch einwandfreien Rahmen haben - in dessen § 7 „Verfügungen und Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unterliegen nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte. ...“ aus jeder rechtlichen Beschränkung entlassene Gestapo wurde als "zweite Justiz" angesehen und eingesetzt, wenn die normale (erste) - aus der Sicht eines NS-Fanatikers - wieder einmal ärgerlicherweise versagt hatte was um das Wohl ihrer Mandanten besorgte Verteidiger veranlasste, entgegen ihrem Rechtsempfinden aber im wohlverstandenen Interesse der Angeklagten möglichst hohe Freiheitsstrafen zu fordern, um so ihre Mandanten vor den unkontrollierbaren ungesetzlichen Maßnahmen der Gestapo durch Einweisung in KZs auf unbestimmte Dauer oder deren Tötung dort im rechtsfreien Raum zu bewahren. Und das Volk spürte selbstverständlich diese ständige Bedrohung durch die Machtorgane des Unrechtsstaates. Um mit dieser täglichen Angst fertig zu werden, flüchtete sich der Untergrundhumor in den Witz: Zehn kleine Meckerlein4 Zehn kleine Meckerlein, Die tranken einmal Wein. Der eine machte Goebbels nach, Da waren’s nur noch neun. Neun kleine Meckerlein, Die haben was gedacht. Dem einen hat man’s angemerkt, Da waren’s nur noch acht. Acht kleine Meckerlein, Die haben was geschrieben, Und bei einem fand man’s, 3

Da waren’s nur noch sieben. Sieben kleine Meckerlein, Die fragte man: na schmeckt’s? Der eine sagte: „Schweinefraß!“ Da waren’s nur noch sechs. Sechs kleine Meckerlein, Die trafen einen Pimpf. Der eine sagte: „Lausebalg!“ Da waren’s nur noch fünf. Fünf kleine Meckerlein,

Beispiel aus Focke/Reimer: Alltag der Entrechteten rororo 1980: Jeder Häftling musste eine Mütze tragen. Sollte ein Häftling »auf der Flucht erschossen« werden, nahm man ihm seine Mütze weg, warf sie – als »rechtlichen« Vorwand? - hinter eine Demarkationslinie, die nicht überschritten werden durfte, zwang ihn, sie zu holen – und erschoss ihn beim Überqueren dieser Linie. 4 Zitiert aus: Rühmkorf, Peter: Über das Volksvermögen / rororo 1180 / Reinbek 1969 / S. 167 f

579

Die spielten mal Klavier. Der eine spielte Mendelssohn, Da waren’s nur noch vier. Vier kleine Meckerlein, Die sprachen mal von Ley, Der eine sagte „Immerblau“, Da waren’s nur noch drei. Drei kleine Meckerlein, Die hörten Radio. Der eine stellte England ein,

Da waren’s nur noch zwei. Zwei kleine Meckerlein, Die traten mal in Dreck. Der eine sagte: „Nazibraun“, Da war er auch schon weg. Der letzte der ließ dies Gedicht Am falschen Orte sehn. Da brachte man ihn nach Dachau hin, Da waren’s wieder zehn.

Wenn man über eine Sache trotzdem irgendwie noch gequält lächeln kann, dann erscheint sie nicht mehr ganz so bedrohlich! In einem Rechtsstaat könnte Volkes Stimme nicht in dieser Art durch einen begnadeten Satiriker oder Zyniker Ausdruck finden. Rechtsstaatlichkeit ist in einem Rechtsstaat kein Thema für den Volkswitz.

5.6 Völlige Pervertierung des Rechts durch das Reichsgericht Völlige Pervertieru ng des Rechts durch das Reichsgeric ht

Der völligen Pervertierung des Rechts hatte das Reichsgericht als oberstes deutsches Gericht in jahrelanger beschämender "Rechts-Sprechung" die Bahn geebnet, als es hinter juristischen Konstruktionen wie z.B. der der rechtfertigenden "Staatsnotwehr" Partei für die Nazis in den innenpolitischen Auseinandersetzungen ergriff: Die der Weimarer Republik feindlich gesonnenen, die NS-Diktatur anstrebenden Täter hätten stellvertretend für den Staat in Notwehr gehandelt, weil dem Staat durch das Gesetz die Hände gebunden seien! Dieses Argument der obersten Richter muss man einmal auf der juristischen Zunge zergehen lassen: Weil der an Gesetze gebundene Staat niemanden ohne Rechtsgrund töten dürfe, müssten Rechtsradikale diese dem Staat verbotenen Morde als "Staatsnotwehr" verüben! Was für ein Rechtsverständnis der obersten Richter offenbart sich in dieser Argumentation! Bei einer solchen Rechtsauffassung unseres obersten Gerichtes könnten sich Rechtsradikale auch heute noch in ihren Handlungen gerechtfertigt sehen, wenn sie Ausländer und andere ihnen Missliebige durch die Straßen jagen, niederstiefeln, aus fahrenden Zügen werfen, sie in ihren Häusern verbrennen. Der nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches eingetretene Wandel der Rechtsprechung von damals zu heute macht den Wandel von einer (zu Anfang noch verschleierten) Diktatur zum Rechtsstaat aus! Es wurde von den Richtern also zunächst zwischen Staat, (nationalsozialistischem) »Recht« und der verhassten republikanisch-demokratischen Staatsform unterschieden. Das von den Richtern so gesehene und darum so ausgelegte (vermeintliche) Interesse des Staates stehe über dem Recht. Die Justiz könne nicht verneinen, was der Staat in Form der Exekutive oder verbrecherische Totschläger oder Mörder "der Bewegung" an Handlungen vornehmen. Was die NSDAP als Gewissen der deutschen Nation ablehne und bekämpfe, könne nicht durch das Recht geschützt werden. Recht war, was den Zielen der Partei frommte. Die von der Partei verfolgten Ziele wurden mit denen des Staates gleichgesetzt. Daher seien selbst schwerste Verbrechen wie Fememorde nicht strafbar, wenn sie im (von den Richtern so interpretierten) Interesse des Staates begangen worden waren. Dagegen wurden republiktreue Staatsbürger und Pazifisten wie der während seiner KZ-Haft für seinen Mut mit dem Friedensnobelpreis geehrte Carl von Ossietzky von eben diesen Richtern bestraft, wenn sie aufdeckten, wie die Reichswehr - durch Behörden gedeckt - die Bestimmungen über die Begrenzung der Reichswehrstärke unterlief und verbotenerweise die "Schwarze Reichswehr" aufbaute. Solches gesetzmäßige Verhalten engagierter Bürger wurde bestraft, weil es den Staatsinteressen, wie die obersten Richter sie aus ihrer rechts-konservativen oder nationalsozialistischen Gesinnung heraus interpretiert wissen wollten und sie darum in ihren Urteilen auch selber so interpretierten, zuwiderlief. Die obersten Richter und viele Juristen in der Verwaltung lieferten den jungen republikanischen Staat wegen seiner ihnen verhassten, von den »Sozis« geführten republikanischdemokratischen Ordnung an die braunen Horden aus, obwohl Hitler in einem Hochverratsprozess als Zeuge geladen vor dem Reichsgericht zum Schluss einer unbeanstandet gebliebenen zweistündigen letztlich reinen Propagandarede unverhüllt angedroht hatte: "Wenn unsere Bewegung siegt, dann wird ein neuer Staatsgerichtshof zusammentreten, und vor diesem soll dann das Novemberverbrechen [der Kapitulation zur Beendigung des Ersten Weltkrieges; der Verf.] von 1918 seine Sühne finden, dann allerdings werden auch Köpfe in den Sand rollen." Folgerichtig wurde einer der ins Ausland geflüchteten Mörder des

580

Reichsfinanzministers Erzberger am 21.03.33 wegen seiner Tat "im Kampf für die nationale Erhebung des deutschen Volkes" amnestiert. Nach dem Krieg verursachte das LG Offenburg, vor dem dieser Mörder wegen dieses Mordes angeklagt worden war, einen Justizskandal, weil es die Nazi-Amnestie für rechtsgültig erklärt und das Verfahren u.a. mit der Begründung eingestellt hatte, dass dieser Verbrecher von vaterländischen Motiven geleitet gewesen war, und er aus übereifriger Vaterlandsliebe gemeint habe, Deutschland retten zu müssen. Diese unverfroren-verständnisvoll rechtfertigende Begründung aus den frühen Jahren der Bundesrepublik verwundert nicht, wenn man in Rechnung stellt, dass bereits 1948 wieder rund 30 Prozent der Gerichtspräsidenten und 80 bis 90 Prozent der Landgerichtsdirektoren und Landgerichtsräte an Gerichten der Bundesrepublik ehemalige Parteigenossen waren, die ihr inneres Wertesystem nicht unbedingt geläutert hatten! Sie urteilten weiter aus ihrer früheren Geisteshaltung heraus, die unübertroffen uneinsichtig, selbstgerecht und schamlos naiv von dem ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger als versuchte Rechtfertigung für seine Urteile als Marinerichter vorgebracht worden war: "Was damals Recht war, kann heute doch kein Unrecht sein!" Doch es kann! Gegen eine solche Geisteshaltung rebellierten u.a. die ‘68er - und Filbinger musste gehen.

5.7 Die Fallbeiljustiz der "Mörder in den Roben" blieb in der Bundesrepublik durch gewollte Versäumnisse ungeahndet Was wurde von bundesrepublikanischer Seite nach dem Krieg zur juristischen Aufarbeitung der Unrechtsurteile und zur Verfolgung der "Mörder in der Robe" unternommen? (So gut wie) Nichts! Der US-Militärgerichtshof hatte zwei Jahre nach Kriegsende 1947 im so genannten »Nürnberger Juristenprozess« das Unrecht der NS-Rechtsprechung zu sühnen gesucht: „Die Angeklagten sind solch unermeßlicher Verbrechen beschuldigt, daß bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewußten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts und unter der Autorität des Justizministeriums mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.“1 Zwölf Juristen wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt.2 Die "Richter mit dem Dolch unter dem Talar" (Nürnberger Chefankläger Taylor) wurden aber wenige Jahre später begnadigt, darunter auch jener Nürnberger Landgerichtsdirektor Oswald Rothaug, der nach dem Krieg süffisant bemerkt hatte: "Sollten wir in Rechtsfragen daneben gegriffen haben - na und? Das kommt doch jeden Tag vor." Sicher kommt das jeden Tag vor, aber nicht so willkürlich und mörderisch, wie dieser Rothaug mit seinen Beisitzern den Vorsteher der "Jüdischen Kultusgemeinde Nürnberg", den jüdischen Schuhfabrikanten Leo Katzenberger, auf Grund einer Denunziation wegen angeblich begangener "Rassenschande" in einem selbst zu damaliger Zeit Aufsehen erregenden Verfahren zum Tode verurteilt hatte. (2002 kam der nach dem Schicksal der Hauptpersonen gedrehte Film „Leo und Claire“ in die Kinos.3) Dieses - im nationalsozialistischen Hetzblatt „Der Stürmer“ für solche „Delikte“ seit 1938 geforderte - Todesurteil erging 1942, obwohl das Gesetz zur Reinhaltung des deutschen Blutes für "Rassenschande" keine Todesstrafe vorsah, der Angeklagte und die 30 Jahre jüngere Tochter seines (arischen) Freundes, die Fotografin Irene Scheffler, die gegen sie erhobenen Vorwürfe bestritten hatten und durch Zeugenaussagen nur festgestellt worden war, dass der Angeklagte der Frau einmal in einem Café einen Blumenstrauß überreicht hatte, beide die gleiche Zigarettenmarke rauchten und sie angeblich wiederholt erschrocken reagiert haben solle, wenn einer beim Verlassen der Wohnung des anderen beobachtet worden war. Außerdem wurde gegen diese Frau, die in einem der Häuser des Angeklagten von diesem Freund ihres Vaters einen Laden gemietet hatte, als Schuldeingeständnis gewertet, nichts dagegen unternommen zu haben, dass sie von anderen Hausbewohnern als "Judenmensch" beschimpft worden war. Die Angeklagte gab an, dass sie dem Angeklagten „... gelegentlich mal einen Kuß gegeben und zugelassen habe, daß Katzenberger sie küßte. Hierbei habe sie sich auch öfters dem Katzenberger auf den Schoß gesetzt; das sei so ihre Art, da denke sie sich nichts dabei. Keineswegs sei etwa in geschlechtlichen Beweggründen der 1

Zitiert nach Ostendorf; Heribert: Politische Strafjustiz vor und nach 1945 in: Informationen für die politische Bildung Nr. 248 Kriminalität und Strafrecht S. 20 2 Der 1961 mit Spencer Tracy, Burt Lancaster und Richard Widmark gedrehte Film „Das Urteil von Nürnberg“ stellt diesen Prozess auch für uns Heutige immer noch packend dar. 3 Eine Buchdokumentation zu dem Fall wurde herausgegeben von: Kohl, Christine: Der Jude und das Mädchen

581

Ausgangspunkt für ihr Handeln zu suchen. Sie habe stets auch angenommen, daß Katzenberger keine anderen als nur fürsorglich väterliche Gefühle zu ihr beherrschten.“ Diese in der Urteilsbegründung festgehaltenen und wiedergegebenen Einlassungen reichten dem Gericht als Schuldnachweis für die - unzulässige - Verhängung der Todesstrafe wegen begangener „Rassenschande“ aus: „Das Gericht ist auf Grund des wiederholt charakterisierten Verhaltens der Angeklagten zueinander davon überzeugt, daß es sich bei dem 10 Jahre lang gepflogenen Verhältnis des Katzenberger zur Seiler um Beziehungen ausschließlich geschlechtlicher Natur handelte. Nur so kann deren vertrauter Umgang erklärt werden. Bei der Unmenge von verführerischen Gelegenheiten kann kein Zweifel bestehen, daß der Angeklagte Katzenberger mit der Seiler in fortgesetzter Geschlechtsverbindung stand. Die gegenteiligen Behauptungen des Katzenberger, er habe kein geschlechtliches Interesse an der Seiler gehabt, hält das Gericht für unwahr; ... Das Gericht ist deshalb überzeugt, daß Katzenberger mit der Seiler nach Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze bis zum März 1940 an nicht mehr feststellbaren Tagen und in nicht bestimmter Zahl wiederholt Geschlechtsverkehr hatte. Unter außerehelichem Geschlechtsverkehr im Sinne des Blutschutzgesetzes ist neben dem Beischlaf jede Art geschlechtlicher Betätigung mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts zu verstehen, die nach der Art ihrer Vornahme bestimmt ist, an Stelle des Beischlafs der Befriedigung des Geschlechtstriebes mindestens des einen Teiles zu dienen. ... Hätte der Jude an der Seiler nur diese sogenannten »Ersatzhandlungen« vorgenommen, so hätte er schon dadurch den vollen gesetzlichen Tatbestand der Rassenschande erfüllt. Die nationalsozialistische politische Lebensform des deutschen Volkes hat ihre Grundlage im Gemeinschaftsleben. Eine Grundfrage dieses völkischen Gemeinschaftslebens ist die Rassenfrage. Die Rassenschande im Verkehr des Juden mit einer deutschen Frau schändet die deutsche Rasse, stellt einen schweren Angriff auf die Reinheit des deutschen Blutes im rassenschänderischen Angriff auf die deutsche Frau dar. Das Schutzbedürfnis ist ein besonders großes. Das Gericht erachtet es für geboten, als einzig mögliche Antwort auf die Frivolität des Angeklagten gegen ihn die in Anwendung des § 4 der VO gegen Volksschädlinge vorgesehene schwerste Strafe, die Todesstrafe, auszusprechen.“ Das in München-Stadelheim mittels eines Fallbeils vollstreckte Todesurteil war das erste in der NSZeit verhängte Todesurteil in Fällen von „Rassenschande“. Wer solche Richter hatte, der brauchte wahrlich keine Gestapo mehr! Die Fallbeiljusti z der "Mörder in den Roben" blieb in der BRD durch gewollte Versäumnis se ungeahndet

Trotz der dokumentierten Fallbeiljustiz des Volksgerichtshofes (mit seinen 5.243 Todesurteilen) und der anderen Gerichte, die insgesamt mehr als 37.000 Todesurteile verkündet haben und fast ausnahmslos vollstrecken ließen, ist nach dem Kriege letztlich keiner der "Mörder in der Robe" von einem bundesdeutschen Gericht für seine Untaten rechtskräftig verurteilt worden. Die großenteils von ehemaligen NS-Richtern beherrschte nunmehr bundesdeutsche Justiz war nicht bereit gewesen, ihre Rolle in der NS-Zeit in kritischer Aufarbeitung der »NS-(Un-)Rechtsprechung« zu erörtern und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Eine Selbstreinigung der Justiz hat nach 1945 nicht einmal in Ansätzen stattgefunden. Eine kleine Bronzetafel vor z.B. dem Hanseatischen OLG in Hamburg, mehr als 55 Jahre nach den auch und gerade von der Hamburger Justiz verübten Justizuntaten angebracht, mit dem teilweise etwas schamhaft anmutenden Wortlaut: "Die deutsche Justiz wurde in der Zeit nach 1933 zum willfährigen Instrument der nationalsozialistischen Diktatur. Richter und Staatsanwälte vollstreckten vom Rassenwahn geprägte Gesetze gegen Juden, Polen, Russen und andere Gruppen. Sie exekutierten den Vernichtungswillen des totalitären Staates gegen Menschen, die politisch oder weltanschaulich anders dachten oder die aus anderen Gründen ausgestoßen werden sollten. Richter und Staatsanwälte beteiligten sich an der Entrechtung und ermöglichten die Liquidierung. Fast alle beschwiegen das Unrecht. Widerstand gegen den staatlichen Terror leisteten nur wenige. In dem Bestreben, nicht durch Verschweigen des Unrechts und Vergessen der Opfer eine zweite Schuld auf uns Heutige zu laden, treten wir dafür ein, den Opfern der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz ... ein Erinnerungsmal zu setzen. Juni 1990 Die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Staatsanwaltschaften Die Justizbehörde

582

Die Organisationen und Verbände für den Justizbereich" ist eine sehr dürftige, zu späte, aber durchaus typische Form der unverbindlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit! Die Hamburger Staatsanwaltschaft hätte da einen besonders großen Nachholbedarf gehabt, denn nach einer vom zuständigen Landgerichtspräsidenten schon damals öffentlich geäußerten Vermutung arbeitete sie "offensichtlich" so eng mit der Gestapo zusammen, dass sie die Gestapo in Fällen, in denen ihr ein zu mildes Urteil des Gerichts nicht passte, dazu veranlasste, den Angeklagten nach seinem Freispruch auf den Stufen des Gerichts in Empfang zu nehmen und ihn - trotz oder eher: wegen des Freispruchs auf unbestimmte Zeit oder als Reise ohne Wiederkehr in einem Konzentrationslager verschwinden zu lassen. Inzwischen ist diese Bronzetafel mit dem vorstehend zitierten Text durch eine andere Tafel ersetzt worden: „Wir gedenken der Opfer, die von 1933 bis 1945 durch Richter und Staatsanwälte der Hamburger Justiz entrechtet, mißachtet, gequält, ihrer Freiheit beraubt und zu Tode gebracht worden sind. Ihr Leiden ist uns Mahnung.“ Es macht durchaus Sinn, dass auf der Erinnerungstafel „Richter und Staatsanwälte“ nur durch eine verbindende Konjunktion getrennt nebeneinander stehend angesprochen werden, denn sie handelten nicht als voneinander unabhängige Justizorgane, sondern im kungelnden Zusammenwirken so schamlos, dass das Reichsministerium sich gezwungen sah, in einem Erlass vom 15.01.45 mehr Diskretion nach außen zu verordnen: „Anordnung des Reichsjustizministeriums In der Öffentlichkeit dürfen keine Mißverständnisse entstehen. Staatsanwaltschaft und Gericht dürfen nicht vor den Augen des Publikums gemeinsam in das Beratungszimmer gehen. Nach Berichten finden immer noch Beratungen zwischen Staatsanwalt und Gericht in einer Form statt, die dem Ansehen der Rechtspflege abträglich sind. In einem Falle hat der Angeklagte vom Flur durch eine offenstehende Tür die Beratung des Gerichts in Anwesenheit seines Staatsanwaltes mitverfolgen können. 15.01.45“ (DIE WELT 15.01.05)

Nur einmal war 1967 ein Richter des Volksgerichtshofes, Rehse, zur Sühnung der unter seiner Beteiligung gefällten 231 Todesurteile vor einem bundesdeutschen Gericht angeklagt und erstinstanzlich wegen Beihilfe zum Mord und zum Mordversuch zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Im Revisionsverfahren wurde dieses Urteil vom BGH aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an eine andere Instanz zurückverwiesen: Eine für eine Verurteilung erforderliche vorsätzliche(!) Rechtsbeugung könne ihm nicht nachgewiesen werden. Rehse wurde in diesem erneuten Verfahren nach der Vorgabe des BGH freigesprochen. Ein erneuter Revisionsantrag der StA erledigte sich biologisch durch den zwischenzeitlichen Tod des Angeklagten. Nach diesem Urteil blieben alle anderen NS-Richter strafrechtlich unbehelligt. Man fühlte sich lange Jahre an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden. Es setzte das ein, was als „kalte Amnestie“ oder „Resozialisierung für NS-Richter“ bezeichnet wurde. Bei einem erneuten Anlauf 1984 wollte man einen Richter des Volksgerichtshofes im Alter von 82 Jahren vor ein bundesdeutsches Gericht stellen. Der entzog sich aber den irdischen Richtern durch Selbsttötung und stellte sich gleich der allerletzten Instanz. Wegen der gewollten Versäumnisse der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz bei der verweigerten juristischen Bewältigung der durch Richter begangenen nationalsozialistischen Unrechtstaten resümierte der langjährige Bundesverfassungsrichter Hirsch: "Es ist die große Schande der Nachkriegsjustiz, daß sie es nicht fertig gebracht hat, einen einzigen Mörder in der Richterrobe zur Rechenschaft zu ziehen." Sie verließ sich lieber auf die "biologische Amnestie" durch mehr als vier Jahrzehnte des Verdrängens und Vergessenwollens und ließ die Mörder in der Richterrobe unbehelligt wegsterben. Deshalb warf Bonns ehemaliger Botschafter in Bukarest, M. Jovy, zur Zeit des verstärkten RAF-Terrors die Frage auf: "Woher nehmen wir die moralische Rechtfertigung, Terroristen zu verurteilen, wenn die gnadenlosen Mordmaschinisten des Volksgerichtshofes und anderer NS-Gerichte bei uns in Ruhe ihre Pensionen verzehren können?" - womit er sicher nicht für eine Straflosigkeit terroristischer Gewalttaten plädieren wollte! Trotz dieses Wissens um die untilgbare Schuld der deutschen Justiz in der schwärzesten Phase der neueren deutschen Geschichte weigerte sich bis 1984 jede Bundesregierung, ein Gesetz zur Annullierung der

583

Volksgerichtshof-Urteile im Bundestag einzubringen. Sie können doch nicht mehrheitlich insgeheim mit der Meinung des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger konform gegangen sein, der wegen eines von ihm als Marinerichter buchstäblich in den letzten Kriegstagen gefällten Todesurteils in der Öffentlichkeit angegriffen - ohne Gespür und Unrechtsbewusstsein in beschämender sowohl menschlicher wie auch juristischer Inkompetenz gebarmt hatte: "Was damals Recht war, kann heute doch kein Unrecht sein." Doch, es kann! Und Filbinger musste zurücktreten.

5.8 Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist, dass Juristen zu allem fähig sein können Juristen können zu allem fähig sein

Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist, dass selbst in moderner Zeit Juristen zu allem fähig sein können. Sie müssen nur die Fallstricke der Legalität durch teilweise absurde juristische Hilfskonstruktionen zu umgehen wissen. Aber dafür sind sie ja Juristen, die ihr Handwerk verstehen! Es bestätigte sich wieder einmal das böse Wort des Juristen Kurt Tucholsky: "Justiz hat nicht unbedingt etwas mit Gerechtigkeit zu tun!" Nur die Kenntnis unserer Geschichte, und das ist immer auch Justizgeschichte, hilft uns, dass sich annähernd Gleiches möglichst nicht wiederholen sollte - wie dann dennoch in Teilbereichen in der DDR, wo nur die Farbe von braun auf rot umgefärbt worden ist, ansonsten aber der Justizterror gegenüber der eigenen nicht systemkonformen Bevölkerung gleich geblieben war. Auch unter der SED-Diktatur wurde das Strafrecht zur Disziplinierung und sogar Tötung politischer Gegner eingesetzt: In Dresden teilweise mit einem schon von den Nazis verwandten Fallbeil, in Leipzig durch einen Nahschuss in den Hinterkopf.4 Für viele PDS-Mitglieder und Sympathisanten der SED-Nachfolgepartei ist das von ihnen teilweise bis wenigstens 2002, bis zur Präambel des rosa-roten Berliner Koalitionsvertrages zwischen SPD und PDS geleugnete Wissen um den in seinen Unterdrückungsmechanismen gleich gearteten Justizterror der ehemaligen Staatspartei so schmerzlich, dass sie ihn nicht wahrhaben wollen. Wir müssen aber die Vergangenheit kennen und ihre Fakten akzeptieren, um die Zukunft bewältigen zu können! Diese Verpflichtung besteht für „Wessis“ wie „Ossis“ gleichermaßen, nur fällt sie für die Ostdeutschen, die das System der Diktatur des Proletariats begrüßt oder sich mit ihm wenigstens arrangiert hatten, bezüglich der letzten 50 Jahre schmerzhafter aus als für die meisten Westdeutschen.

5.9 Weder die Einhaltung des vorgeschriebenen Rechtsweges noch die Autorität der wissenschaftlichen Rechtslehre gewährleisten einen automatischen Schutz vor der moralischen Entwurzelung einer der Form nach intakten Rechtsordnung und Rechtswissenschaft

4

Näheres in Beckert, Rudi: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht 1995 Dieser Autor war bis zu seiner Entlassung 1990 selbst Oberrichter am Obersten Gericht der DDR

584

Kein automatis cher Schutz vor der moralisch en Entwurze lung einer der Form nach intakten Rechtsor dnung und Rechtswi ssenschaf t

Es ist nunmehr gesicherte historische Erfahrung, dass weder die Einhaltung des vorgeschriebenen Rechtsweges noch die Autorität der wissenschaftlichen Rechtslehre einen automatischen Schutz vor der moralischen Entwurzelung einer der Form nach intakten Rechtsordnung und Rechtswissenschaft bieten. Sokrates (469 - 399 v.Chr.) hatte schon die Frage gestellt: "Glaubst Du, dass ein Staat, in dem die Urteile der Gerichte keinen Anspruch auf Gültigkeit erheben können, vielmehr von einzelnen Personen abgeändert und außer Kraft gesetzt werden können, weiterbestehen kann oder nicht vielmehr zugrunde gehen muss?" So ist es dann auch gekommen. Hitler selbst hatte es orakelhaft prophezeit: "Deutsches Volk, gib mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen!" Damit hat er Recht behalten - nur anders, als er es aus der von ihm immer wieder bemühten "Vorsehung" erkennen zu können glaubte. Nach vier Jahren herrschten schon die Gestapomethoden. Die zwölf Jahre von 1933 - 1945 genügten, dass die Deutschen der Bundesrepublik – nach dem von den Nazi-Verbrechern völlig willkürlich vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg erst seit dem 3. Oktober 1990 wiedervereint - 45 Jahre in einem Rumpf-Deutschland leben mussten, Millionen Ost- und Sudetendeutsche aus ihrer Heimat vertrieben worden sind und 17 Millionen mitteldeutsche Landsleute in der DDR bis 1989 ein kommunistisches Gewaltregime hatten erleiden müssen, das sich in vielen Praktiken zur Unterdrückung politischer Gegner und der Gängelung und notfalls auch Drangsalierung des eigenen Volkes nicht von der NS-Diktatur unterschied - wenn man mal von den Farben der Flaggen absah. Die wesentlichen Unterdrückungsmechanismen waren Fleisch vom Fleische der Diktatur. Und wie viel mehr Leid haben die Deutschen über andere Völker gebracht! Der von Hitler aus der Pest des dann unter den Deutschen kollektiv um sich greifenden Rassenwahns mutwillig vom Zaune gebrochene Zweite Weltkrieg kostete – die Shoa an den Juden Europas und alles andere Elend einmal unberücksichtigt gelassen rund 57 Millionen Menschen das Leben. Eine ungefähre Kenntnis über die Stationen der "Machtergreifung" durch die Nazis und ihr scheinlegales Vorgehen hierbei sowie über die späteren Auswirkungen hiervon während des so propagierten „1.000-jährigen Deutschen Reiches“ - ein vom Antichristen Hitler vermutlich aus den biblischen apokalyptischen Offenbarungen des Johannes übernommener Topos - bis zur größten nationalen Katastrophe der neueren deutschen Geschichte, in die der (österreichische) Rattenfänger von Berlin5 (leider nicht mehr in einem Märchen) die sich durch die Bestimmungen des Versailler Diktatfriedens zur Beendigung des Ersten Weltkrieges gedemütigt gefühlt habenden Deutschen durch Verheißung neuer nationaler Größe gelockt hatte, sollte für Deutsche zum (rechts)historischen Minimalwissen gehören. Ohne dieses Wissen ist ein tiefer gehendes Verständnis der in bewusster Abkehr zu den rechtlichen Regelungen der Nazi-Zeit nunmehr im Grundgesetz verankerten Grundsätze, politischen Institutionen und Verfahrensregelungen nicht möglich. Nur angetippt seien z.B. Gewaltenteilung, Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte, Föderalismus, Ewigkeitsgarantie, Stellung des Kanzlers und konstruktives Misstrauensvotum, Regelung der Ministerverantwortlichkeit, Rechtsweggarantie, Bundesverfassungsgericht, 5-%-Klausel, Bundesversammlung, Stellung des Bundespräsidenten, ... . Aber auch die DDR sah ihre mehrfach neu konzipierte Verfassung als Antwort auf die geschichtlichen Erfahrungen u.a. während der NS-Zeit. Diese Erfahrungen wurden jedoch mit einer "roten Brille" betrachtet, deren linkes Augenglas zudem noch getrübt war. Die Bonzen dort waren auf dem linken Auge blind. Alle Fakten durchliefen bei der Verarbeitung der Wahrnehmung zunächst einen gedanklichen marxistisch-leninistischen Filter. Der so gewonnene Extrakt war bestenfalls eine Teilwahrheit, oft aber in seiner Verabsolutierung eine Unwahrheit bis hin zur Geschichtsklitterung: Massenverbrechen hatten im Zweiten Weltkrieg angeblich nur die Faschisten und Imperialisten begangen; kein Wort z.B. über „Katyn“6, wo im Frühjahr 1940 – nach

5

6

Wenn man den Rattenfänger von Berlin (Hitler) und die ihm begeistert in den Untergang gefolgten Massen mit der Märchenfigur des „Rattenfängers von Hameln“ vergleicht, dann scheint dieses Märchen ein sehr »deutsches« Märchen zu sein! Katyn steht für den stalinistischen Massenmord, wie z.B. Auschwitz für die KZ-Vernichtungslager der Nazis. Katyn war aber nicht der einzige Ort mit Massenermordungen polnischer Offiziere, sondern ist – u.a. durch den Nürnberger Prozess und die falsche Beschuldigung gegen deutsche Kommandeure - nur zu seinem Fanal geworden: In mindestens zwei anderen Orten wurden weitere mindestens 10.000 polnische Offiziere und Beamte als so be- und - mangels konkreten Schuldvorwurfs - wohl erst gar nicht mehr abgeurteilte „Konter-Revolutionäre“ umgebracht und damit fast das gesamte polnische Offizierskorps ausgelöscht. Irving, David: Der Nürnberger Prozess – Die letzte Schlacht 1979, S. 51:

585 unterschiedlichen Angaben – bis zu 25.7000 gefangengenommene Polen, darunter ca. 4.000 inhaftierte polnische Offiziere und Beamte, von Katyn und zwei weiteren Kriegsgefangenenlagern durch sowjetische Sicherheitskräfte von der Sowjetarmee ermordet worden waren, was die Sowjets unter Stalin nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess den Deutschen anlasten wollten. Sie ließen diesen Anklagepunkt aber noch während der Verhandlungen fallen, weil zu erdrückende Beweise gegen sie selber sprachen. Gleichwohl wurde der Massenmord als angeblich deutsche Untat noch jahrzehntelang durch die Propagandamaschinen der (Ex-)UdSSR und der DDR verbreitet. Seit 1988 forderten die Polen verstärkt die Anerkennung der historischen Wahrheit durch die Sowjets und ein Bekenntnis der Sowjets zu ihrer Schuld, was bei der gelenkten Presse dort nicht möglich war. Das war eine Frage der vorenthaltenen Menschen- und Bürgerrechte, insbesondere des Rechts auf Presse- und Informationsfreiheit und des Rechts auf die Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Erst im Frühjahr 1989 bekannte die durch den persönlichen Mut Gorbatschows aus ihrer Erstarrung gerissene Sowjetunion – noch nicht unter Gorbatschow, sondern erst unter Jelzin - ihre Schuld an dem unter Stalin vorgenommenen Massenmord, unter dessen Terrorherrschaft in der UdSSR nach neueren Presseverlautbarungen bis zu 40 Millionen Menschen umgekommen sein sollen - fast so viele wie in dem durch deutsche Schuld verursachten Zweiten Weltkrieg auf der Welt insgesamt. Sowohl der stalinistische Terror wie auch das Verschweigen von historischen Tatsachen in der (Ex-)DDR hatte etwas mit der Nicht-Geltung von Menschenrechten zu tun. Seit ihrem Bestehen hatte die DDR geradezu zwanghaft versucht, sich als Hort wahrer Demokratie und die Bundesrepublik als Alleinerbin des faschistischen Teiles der deutschen Vergangenheit darzustellen. Als Beleg hierfür konnte sie darauf verweisen, dass in der Bundesrepublik die strafrechtliche Verfolgung von NSVerbrechern teilweise durch Verzögerungstaktik verhindert worden ist - besonders wenn es sich um NS-Richter gehandelt hatte. Trotzdem war die verfassungsmäßige Antwort der "Antifaschisten" in der DDR auf die NSDiktatur nicht so ausgefallen, wie ein Demokrat den Gehalt des Begriffes »Demokratie« definiert wissen möchte und wie er von dem amerikanischen Präsidenten Lincoln in seiner berühmten Gettysburger Rede („Gettysburger Address“) am 19.11.1863 anlässlich der Einweihung des dortigen Soldatenfriedhofes am Ende des Sezessionskrieges auf dem größten Schlachtfeld dieses Krieges letztgültig formuliert worden ist: „Government of the people by the people for the people“ („Regierung über das Volk durch das Volk für das Volk“). Die Antwort der "Antifaschisten" in der DDR auf die NS-Diktatur war eine »volksdemokratische Antwort«, keine »demokratische«. Sie bemächtigten sich sofort des Justizapparates zur Ausübung von Justizterror als Mittel des Machterhaltes und zur Ausschaltung politischer Gegner. Da waren die »Faschisten in rot« gelehrige Schüler der Faschisten in braun! "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" (Matthäus 7/16). Auch wenn nach dem braunen nun zum Glück auch der rote Spuk vergangen ist, so soll im nachfolgenden Teil aus rechtshistorischen Gründen und weil daraus erneut zu lernen ist, wie Recht missbraucht werden kann, eine Schlagader des sozialistischen Staatskörpers, die des "sozialistischen Rechts", etwas näher angesehen werden. Das baut hoffentlich auch einer Legendenbildung vor. Nur die Kenntnis unserer Geschichte hilft uns, dass sich Gleiches möglichst nicht noch einmal wiederholen möge: Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart begreifen und die Zukunft sinnvoll gestalten! Dazu gehört unabdingbar die Gestaltung des Rechts, das die Grundlage jedes menschlichen Zusammenlebens in einem staatlichen Gebilde ist.

5.10 Euthanasie: Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ Wir hatten uns bisher fast ausschließlich mit der physischen Vernichtung der Gegner des NS-Herrschaftssystems „Einer der unangenehmsten Aspekte der Nürnberger Prozesse war es nach Jacksons [des amerikanischen Chefanklägers; der Verf.] Erkenntnis von Anfang an, daß nicht ein einziger Vorwurf auf der Liste der Angeklagten deutschen Kriegsverbrecher stand, den man nicht auch der einen oder anderen der vier Mächte machen konnte. Um Hitler zu besiegen, waren Zivilisten ermordet, gequält, eingeschüchtert, deportiert und [fünf Millionen deutsche Zwangsarbeiter nach Russland; der Verf.] versklavt worden; man hatte Angriffskriege [gegen Polen und Finnland; der Verf.] geführt, neutrale Länder [Estland, Lettland und Litauen; der Verf.] unter Vorwänden besetzt, die unveränderbaren Paragraphen der internationalen Konventionen über die Behandlung von Kriegsgefangenen waren flagrant verletzt worden. ... 1939 hatte England dafür gesorgt, daß Rußlands durch nichts provozierter Überfall auf Finnland weltweit mißbilligt wurde. Und das Peinlichste von allem: Stalin hatte nicht nur Hitlers Plan, in Polen einzumarschieren, zugestimmt, sondern in einem Geheimabkommen im August 1939 sich selbst auch noch den östlichen Teil Polens gesichert. Nachdem das geschehen war, hatte er dann weite Teile der polnischen Bevölkerung ins Innere der Sowjetunion deportiert und zehntausend polnische Offiziere, die den Russen heimlich in die Hände gefallen waren, heimlich liquidieren und in Massengräbern in den Wäldern von Katyn und an anderen Orten beisetzen lassen.“

586

beschäftigt. Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass die Nazis auch denjenigen das Recht zu leben absprachen und sie töteten, die auf Grund von Behinderungen nicht ihrem Bild von angehenden „Herrenmenschen“ entsprachen. Wer nicht nützlich für die Volksgemeinschaft war, hatte sein Recht auf Leben verwirkt. Das betraf Erwachsene und Kinder. Durch geheimen Runderlass vom 18.08.39 - man befürchtete Kritik u.a. von Seiten der Kirchen und aus dem Ausland - wurde allen Kliniken und Ärzten eine Meldepflicht auferlegt, derzufolge Neugeborene und Kinder bis zu drei Jahren, die an bestimmten Geisteskrankheiten oder Missbildungen litten, zur zentralen Erfassung durch den „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ zu melden waren. Wer von den Medizinprofessoren - ohne die zu begutachtende Person persönlich in Augenschein genommen zu haben - nach Aktenlage „zur Behandlung freigegeben“ wurde, kam in zentrale Tötungsanstalten, in denen Ärzte arbeiteten, die unter Bruch ihres Hippokratischen Eides die Vegetierumstände so gestalteten, dass die Kinder innerhalb weniger Wochen zwangsläufig sterben mussten: Durch allmähliche Verringerung der notwendigen Essenrationen ließ man sie sich qualvoll zu Tode hungern, sich durch das Liegen im eigenen Kot ohne Decken zwangsläufig einstellende Eiterbeulen und Krankheiten wurden nicht behandelt, weil die Kinder als eine „Belastung des Volkskörpers“ empfunden wurden. Andere Kinder des Euthanasieprogramms wurden mit Luminal derart »behandelt«, dass als scheinbar natürliche Todesursache Bronchitis oder Lungenentzündung eintrat, wieder andere wurden mit einem aus Morphium, Dionin und Skopolamin zusammengesetzten Präparat „abgespritzt“. Das wurde natürlich in der Umgebung der als Krankenanstalten getarnten Vernichtungsanstalten im wahrsten Sinne des Wortes ruchbar, wenn die Leichen verbrannt wurden. Nachdem die Kirchen von ihren Gläubigen informiert worden waren, schrieb z.B. der Bischof von Limburg an den Reichsjustizminister 7: Limburg/Lahn, den 13. August 1941 Der Bischof von Limburg An den Herrn Reichsminister der Justiz, Berlin Bezugnehmend auf die von dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Herrn Kardinal Dr. Bertram, eingereichte Denkschrift vom 16. Juli (...) halte ich mich verpflichtet, betr. Vernichtung sogenannten »lebensunwerten Lebens« das Folgende als konkrete Illustration zu unterbreiten. Etwa 8 km von Limburg entfernt ist in dem Städtchen Hadamar auf einer Anhöhe unmittelbar über dem Städtchen eine Anstalt, die früher zu verschiedenen Zwecken, zuletzt als Heil- und Pflegeanstalt gedient hat, umgebaut bzw. eingerichtet worden als eine Stätte, in der nach allgemeiner Überzeugung obengenannte Euthanasie seit Monaten - etwa seit Februar 1941 - planmäßig vollzogen wird. Über den Regierungsbezirk Wiesbaden hinaus wird die Tatsache bekannt, weil Sterbeurkunden von einem Standesamt Hadamar-Mönchberg in die betreffenden Heimatgemeinden gesandt werden. (Mönchberg wird diese Anstalt genannt, weil sie bis zur Säkularisation 1803 ein Franziskanerkloster war.) Öfter in der Woche kommen Autobusse mit einer größeren Zahl solcher Opfer in Hadamar an. Schulkinder der Umgegend kennen diese Wagen und reden: »Da kommt wieder die Mordkiste.« Nach der Ankunft solcher Wagen beobachten dann die Hadamarer Bürger den aus dem Schlot aufsteigenden Rauch und sind von dem ständigen Gedanken an die armen Opfer erschüttert, zumal wenn sie je nach der Windrichtung durch die widerlichen Düfte belästigt werden. Die Wirkung der hier getätigten Grundsätze: Kinder, einander beschimpfend, tun Äußerungen: »Du bist nicht recht gescheit, du kommst nach Hadamar in den Backofen«; solche, die nicht heiraten wollen oder keine Gelegenheit finden: »Heiraten nein! Kinder in die Welt setzen, die dann in den Rex-Apparat kommen!« Bei den alten Leuten hört man Worte: »Ja in kein staatliches Krankenhaus! Nach den Schwachsinnigen kommen die Alten an die Reihe.« Alle gottesfürchtigen Menschen empfinden diese Vernichtung hilfloser Wesen als himmelschreiendes Unrecht. Und wenn dabei angesprochen wird, Deutschland könne den Krieg nicht gewinnen, wenn es noch einen gerechten Gott gibt, so kommen diese Äußerung nicht von Mangel an Vaterlandsliebe, sondern aus einer um unser Volk tiefbesorgten Gesinnung. Es ist der Bevölkerung unfaßlich, daß planmäßige Handlungen vollzogen werden, die nach Paragraph 211 StGB mit dem Tode zu bestrafen sind! Die obrigkeitliche Autorität als sittlicher Begriff erleidet durch die Vorgänge eine furchtbare Erschütterung. Die amtlichen Mitteilungen, daß N.N. an einer ansteckenden Krankheit gestorben sei und deshalb die Leiche hätte verbrannt werden müssen, finden keinen Glauben mehr, und es wird durch solche nicht mehr geglaubte[n] amtliche[n] Mitteilungen 7

Zitiert nach: Kinder als Opfer des Nationalsozialismus Hrsg.: Beckmann, R. / Klare, Albrecht u. Koch, Rainer Materialien zu „Rosa Weiß“ von Roberto Innocenti“ S. 14 f

587

der ethische Wert des Autoritätsbegriffes noch weiter beeinträchtigt. Beamte der Geh. Staatspolizei suchen, wie man hört, das Reden über die Hadamarer Vorgänge mit strengen Drohungen zu unterdrücken. Es mag im Interesse der öffentlichen Ruhe gute Absicht sein. Das Wissen und die Überzeugung und Entrüstung der Bevölkerung werden damit nicht geändert; die Überzeugung wird um die bittere Erkenntnis vermehrt, daß das Reden mit Drohungen verboten wird, die Handlungen selbst aber nicht strafrechtlich verfolgt werden. Facta loquuntur. Ich bitte Sie ergebenst, Herr Reichsminister, im Sinne der Denkschrift des Episkopats vom 16. Juli d.J. weitere Verletzungen des fünften Gebotes Gottes verhüten zu wollen. Dr. Hilfrich“ „Diese Ermordung von geistig und körperlich Behinderten war die erste planmäßig organisierte und durchgeführte Massentötungsaktion. Sie antizipierte den Völkermord in den KZs“, heißt es dazu. 70.273 dauerhaft pflegebedürftige unheilbare Psychiatriepatienten sind unter Mithilfe von 40 „wissenschaftlichen“ Gutachtern im Rahmen des nach dem Domizil der Berliner Sonderkommission in der Tiergartenstraße 4 benannten Euthanasieprogramms „T 4“ vom Januar 1940 bis zum offiziellen Abbruch des Programms im August 1941ermordet worden. Diese Zahl war in dieser Höhe auf Grund folgender 1939 angestellter Berechnung festgelegt worden: „’Die Zahl ergibt sich aus einer Berechnung, der das Verhältnis 1000:10:5:1 zu Grunde liegt. Das bedeutet: Von 1000 Menschen bedürfen zehn psychiatrischer Betreuung; von diesen fünf in stationärer Form. Davon aber fällt einer unter die Aktion.’ Nach diesem Rechenschema ergab sich das Soll, zunächst 60.000-70.000 Kranke zu töten.“8 Das Morden ging aber trotz des offiziellen Abbruchs heimlich weiter. Bis zum Kriegsende sollen nach unterschiedlichen Expertenschätzungen zwischen 120-250.000 Menschen dem Euthanasieprogramm zum Opfer gefallen sein. Den Nazis war klar, dass eine solche Aktion in der Größenordnung trotz allen Bemühens nicht lange geheim zu halten war. Am 03.04.40 unterrichtete der in der Führerkanzlei mit der Koordinierung dieser Aufgabe betraute Brack auf dem Deutschen Gemeindetag die dort versammelten Oberbürgermeister von dem beginnenden Morden, hatten sie doch lange genug über die ihrer Meinung nach zu hohen Kosten für die Anstaltspfleglinge Klage geführt. Ihnen wurde in aller geboten erscheinenden Deutlichkeit klar gemacht, dass sie so u.a. erhebliche Kosten sparen können, die Kranken den Gesunden nicht mehr die Nahrung wegessen würden, man den frei werdenden Platz für die Einrichtung kriegswichtiger Lazarette benötige, ... . Und natürlich hätte solches Vorgehen den Argwohn der Staatsanwaltschaft wecken und sie zu Ermittlungen veranlassen müssen. Dazu war sie vom Gesetz her verpflichtet. Um von dieser Seite keine unliebsame Überraschung zu erleben, wurden auf der »Euthanasie-Konferenz« vom 23./24.04.1941 – das Morden war von Hitler ab Sommer 1939 genehmigt worden und schon einige Zeit angelaufen - alle Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten in Kenntnis gesetzt und darauf eingeschworen, dass eine strafrechtliche Verfolgung dieser Mordtaten an Behinderten und psychisch Kranken zu unterbleiben habe. Dieses Mal handelten die Nazis lieber ohne Gesetz, um Aufsehen zu vermeiden. Und so geschah es. Alle billigten oder kuschten: Kein Generalstaatsanwalt wies Ermittlungen an, die Staatsanwaltschaft verfolgte nicht die staatlichen Mordtaten, nicht einer der Oberlandesgerichtspräsidenten widersprach den angekündigten Freveltaten, die nicht nur für einen Juristen in ganz offenkundigem Widerspruch zum damals geltenden Strafgesetzbuch standen, nicht einer erstattete Anzeige wegen Mordes, nicht einer der rückgratlosen Spitzenjuristen quittierte wegen der moralischen Verwüstung der die Staatsregierung bildenden Verbrecher den Dienst! Wie pervers Juristen zu denken vermögen, kann am Beispiel des „Reichsrechtsführers“ deutlich gemacht werden. Frank hatte in seiner Funktion als Reichsminister der Justiz keinerlei Bedenken gegen die Ermordung Zehntausender! Er protestierte nicht. Das Einzige, was ihn als gelernten Juristen aufs Äußerste beunruhigte, war die Frage aller - auch der heutigen - Verwaltungsjuristen: Wo finde ich eine »Rechts«grundlage für den von mir (als Teil der Verwaltung) geplanten Eingriff in Rechte der Bürger; im Falle der Aktion „T 4“: bis hin zu deren Ermordung? Grundsätzliche Bedenken, Gewissensbisse oder gar Gewissensqualen bestanden nicht gegenüber dem geplanten sechzig- bis siebzigtausendfachen Mord. Nur eines beunruhigte den Justizminister sehr stark in seinem Selbstverständnis als Jurist: Wie konnte er als Reichsminister der Justiz die staatlich gewollten Morde nach seinem pervertierten, gleichwohl für die 8

Aly, G.: „Endlösung“, S. 53

588

meisten der damaligen Juristen typischen Verständnis der Funktion von Recht und Gesetz als rechtmäßig erscheinen lassen? Gelänge ihm das, dann wären alle juristisch gegründeten Skrupel behoben. Für ihn war klar, was manche Gerichte genau so wie von ihm in seiner Juristenseele empfunden in ihren Urteilen formuliert haben: Die Justiz könne nicht verneinen, was »der Staat«“, die Staatsführung als politisches Ziel vorgebe oder als Handlung vornehme. Daraus sprach ein für uns Heutige nicht mehr nachvollziehbares unkritisches Vertrauen der „Rechts-“ oder „Gesetzespositivisten“ in die (letztlich moralische Integrität der) Obrigkeit. Sie waren davon überzeugt, dass jedes Gesetz ungeachtet seines Inhalts »Recht« sei, weil es vom Staat geschaffen und so mit staatlicher Autorität versehen sei. Der Staat, der Führer, die Partei wurden als Gewissen der von der nationalen Erweckung berauschten Nation angesehen. Dort konnte man beruhigt sein eigenes kleines Gewissen unterstellen oder den völkischen Anforderungen gemäß neu justieren, gleichschalten lassen. Bei einem anfangs vielleicht sogar als so empfundenen moralischen oder nur als juristisch gesehenen Dilemma müsse einfach eine Rechtsgrundlage zusammengezimmert werden, die verbrecherisches Handeln rechtmäßig erscheinen lasse. Dann könnte das Gewissen wie ein unartiges kleines Kind wieder Schlafen oder Spielen geschickt werden. Ein im Reichstag als Rechtsgrundlage für die Tötung zehntausender „Ballastexistenzen“ zu beschließendes und förmlich zu erlassendes Gesetz kam bei der Brisanz der zu treffenden juristischen Regelung nicht in Betracht. Das war klar. Aber in dem juristischen „Doppelstaat“ (Fraenkel) des NSRegimes gab es neben dem auf Gesetzen und herkömmlicher Rechtsanwendung fußenden „Normenstaat“ ja auch den auf rechtsfreiem Handeln nach Führerwillen beruhenden „Maßnahmestaat“. Also musste eine Führerentscheidung her. Doch Hitler zierte sich in dieser delikaten Angelegenheit zunächst, etwas Schriftliches aus der Hand zu geben. Der Reichsrechtsführer wurde aber so insistierend drängend, dass Hitler nachträglich, nach Anlaufen der Morde, ein sehr vage formuliertes vierzeiliges Geheimschreiben verfasste. Dieser Vierzeiler einer „Führer-Anordnung“, nicht einmal eines „Führer-Befehls“, wurde vom Reichsminister der Justiz als die Mordaktion „T 4“ ausreichend bemäntelnde Rechtsgrundlage der nicht mehr nur geplanten, sondern der – nach Probetötungen von Behinderten durch u.a. Hitlers Leibarzt Brandt - seit Sommer 1939 auch schon ohne jede Rechtsgrundlage durchgeführten und weiterhin vorgenommenen Ermordungen von 60-70.000 Betroffener „zur Reinigung des deutschen Volkskörpers von allem Minderwertigen“ anerkannt. Was alles auf der obersten Parteischiene im Geheimen gelaufen war, wusste der Bischof natürlich nicht, als er den Herrn Reichsminister der Justiz in seinem gegen die Aktion T 4 protestierenden Schreiben vom 13. August 1941 „... ergebenst (bat), im Sinne der Denkschrift des Episkopats vom 16. Juli d.J. weitere Verletzungen des fünften Gebotes Gottes verhüten zu wollen.“ Es verwundert mich aber sehr, dass der Bischof seinen Brief nicht schon vorher geschrieben hat, da ja am 03.04.40 alle auf dem Deutschen Gemeindetag versammelten Oberbürgermeister Deutschlands von dem beginnenden Morden unterrichtet worden waren! Und da soll in sechzehn Monaten nichts zu ihm durchgesickert sein?!!! In der Darstellung des Bischofs konnten auch noch nicht die erst ein bisschen später im großen Stile einsetzenden Tötungen zehntausender Säuglinge von Fremdarbeiterinnen und Zwangsarbeiterinnen in den „Pflegestätten für fremdvölkische Kinder“ erwähnt werden, die nicht das Glück hatten, als „eindeutschungsfähig“ anerkannt zu werden, weil sie nicht den als (angebliche) arische Merkmale festgelegten Normen entsprachen. „Eindeutschungsfähige“ Kinder wurden zur Verbreiterung des arischen Potentials des deutschen Volkes aus ganz Europa (nicht nur aus Osteuropa von den als minderwertig eingestuften Slawen, sondern auch aus West- und Nordeuropa von Mitgliedsvölkern der „germanischen Rasse“) ihren Eltern geraubt - die Zahl der allein aus Polen geraubten Kinder schätzt man auf 200.000 - und zur Verschleierung ihrer Herkunft der Organisation „Lebensborn“, die sich mit der „Aufzucht“ arisch als besonders wertvoll anerkannter Kinder beschäftigte, übergeben, von wo sie - mit verschleiernden falschen Dokumenten ausgestattet - an deutsche Familien vermittelt wurden. Die „eindeutschungsfähigen“, für die arische Zucht als wertvoll selektierten Kinder wurden in deutsche Familien gegeben, die „rassisch wertlosen“ zur qualvollen Tötung durch Verhungern und Verwahrlosung den dafür eingerichteten Pflegestätten und Heimen überantwortet. Das bewusste Töten durch Unterlassen9 wurde durch planmäßigen 9

Es gibt Situationen, in denen ein zu einer ihm an sich möglichen »Erfolgs«abwehr trotzdem nicht tätig werdender Täter wegen seiner (teilweise umstrittenen) „Garantenstellung“ rechtlich dafür einzustehen hat, dass ein durch die jeweilige Strafnorm geschütztes Rechtsgut nicht verletzt werde. In solchen Situationen wird das zu einer Rechtsgutsverletzung führende trotz bestehender Handlungsalternative passive Verhalten durch § 13 StGB „Begehen durch Unterlassen“ zu gleichem Erfolg führendem aktiven Handeln gleichgestellt: Der nicht handelnde Unterlassungs-Täter wird wie ein mit

589

Nahrungsentzug bis zum Verhungernlassen, durch Krankheiten verursachende unhygienischste Bedingungen und das bewusste Unterbinden auch nur der geringsten Sorgehandlungen vollzogen, da es sich um Kinder von in der Nazi-Ideologie schon lange so bezeichneten und gewerteten „Untermenschen“ handelte. Unworte bereiten eben Untaten den Boden. (Darum fuhr jedem historisch auch nur ein bisschen Gebildeten ein ungeheurer Schrecken in die Glieder, als der jetzige bayrische Ministerpräsident Stoiber als damaliger Innenminister seines Landes einmal Einblick in sein »rassengeprägtes« Denken gewährte, indem er von unserer als einer durch Asylanten und Immigranten „durchrassten Gesellschaft“ in der BRD sprach, was als der Zustand des leibhaftigen „Gott-sei-bei-uns“ gemeint war! Für mich am empörendsten: Für diese Äußerung wurde er von seiner Partei nicht aus dem Amt gejagt, sondern im Gegenteil weiter als Kanzlerkandidat hochgehalten!) Der SS-Arzt Heissmeyer erklärte, nach seinen während der NS-Zeit begangenen Menschenexperimenten befragt, 1964, dass es für ihn „keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Juden und Versuchstieren“ gegeben habe.10 „Mit den Erwachsenen rotteten die Naziverschwörer unbarmherzig auch die Kinder aus. Sie töteten sie zusammen mit den Eltern, in Gruppen und einzeln. Sie töteten sie in den Kinderheimen und Krankenhäusern, sie begruben sie bei lebendigem Leib, warfen sie ins Feuer, erstachen sie mit Bajonetten, vergifteten sie, führten Experimente an ihnen aus ... warfen sie in Gefängnisse und Folterkammern der Gestapo und in Konzentrationslager, wo sie durch Hunger, Foltern und Seuchen ums Leben kamen.“11 Und durch Grausamkeiten sadistischer KZ-Schergen: „Den ganzen Winter über ließ man kleine Kinder ganz nackt und barfuß stundenlang im Freien stehen, darauf wartend, in die Gaskammern geschickt zu werden, die unter Hochdruck arbeiteten. Die Fußsohlen der Kinder froren im Eis am Boden fest. Sie standen da und weinten. Einige erfroren. Mitunter gingen Deutsche und Ukrainer die Reihe entlang und schlugen und traten die Opfer. Einer der Deutschen, ein Mann, der Sepp hieß, war eine widerliche, unmenschliche Krähe, der ein besonderes Gefallen darin fand, Kinder zu quälen. Wenn er Frauen mißhandelte und diese ihn anflehten, er möge aufhören, weil sie Kinder dabeihatten, riss er oft der Mutter das Kind vom Arm und entweder stückelte er es in zwei Teile oder hielt es am Bein und schlug dessen Kopf gegen eine Wand und warf dann de Körper weg.“12 Die Toten wurden teilweise noch „verwertet“. Dazu muss nicht auf krankhafte oder „nur“ gefühlsrohe Verirrungen wie die hier und dort geschehene Verwendung der Haut Tätowierter zu Lampenschirmen verwiesen werden. Erschreckender ist für mich die durchgeplante Nutzung auch der schon Getöteten in u.a. der „Aktion Reinhardt“: Ihnen wurden die Goldzähne ausgebrochen. Aus den Getöteten wurde teilweise Seife hergestellt. Frauenhaar wurde für Socken von U-Bootbesatzungen und für Dichtungen an U-Booten benutzt. Die Asche verbrannter Körper diente als Dünger.13 ...

seinem Handeln ein Rechtsgut in gleicher Weise verletzender Täter bestraft, da er nicht erfolgsabwehrend tätig wurde, weil die Gesellschaft meint, dass er hätte tätig werden müssen. Näheres dazu z.B. in Scharnweber, H.-U.: Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten Stichwort: „Unterlassungsdelikte“ 10 Bruchfeld, S. / Levine, S.: Erzählt es euren Kindern S. 10 München 2000 2 In der faschistischen Zeit Japans wurden im Zweiten Weltkrieg an Tausenden von Chinesen ähnliche Mediziner-Verbrechen begangen wie im faschistischen Nazi-Deutschland. Aus dem faschistischen Italien und Spanien ist mir so etwas nicth bekannt: Ob in diesen Ländern ihre katholisch geprägte Gesellschaft die Menschen davor bewahrt hat? 11 Aus der Anklageschrift des Internationalen Gerichtshofs, abgedruckt in: Frauen-KZ Ravensbrück/ Autorenkollektiv/ Frankfurt 1982, zitiert nach: Kinder als Opfer des Nationalsozialismus/ Beckmann u.a. (Hrsg.) Materialienband zu „RosaWeiß“ von Roberto Innocenti 12 So der Zeuge Wiernik im „Treblika-Prozeß“; zitiert nach: Bruchfeld, S. / Levine, S.: Erzählt es euren Kindern S. 96 München 2000 2 13 Bruchfeld, S. / Levine, S.: Erzählt es euren Kindern S. 38 München 2000 2

590

III. TEIL DIE FUNKTION DES RECHTS IM SED-HERRSCHAFTSSYSTEM DER DDR

1 "Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizieren." "Richter Mielke Ein dem STERN vorliegendes Dokument belastet den gerade aus der Haft entlassenen Ex-Stasi-Chef Erich Mielke schwer. Danach hatte das Politbüro auf Vorschlag der Justizkommission, Unterschrift Erich Mielke, ein Todesurteil beschlossen, bevor überhaupt der Prozeß stattfand. Am 7. Oktober 1961, zwei Wochen nach dem Mauerbau, war der Ofenarbeiter Walter Predel wegen des Brandes einer Scheune verhaftet worden. Am 12. Dezember fällte das SED-Gremium das Todesurteil. Am 21. Dezember wurde Predel gerichtlich verurteilt, am 25. Januar 1962 hingerichtet." (STERN 10.08.95) Der ostdeutsche Theologe und Politiker Richard Schröder hat die Aufhebung der Gewaltenteilung in der DDR mit den Worten kommentiert: „Die Stasi schreibt das Drehbuch für den Prozeß; Ulbricht verfügt noch vor dem Prozeß die Todesstrafe; jemand wird heimlich hingerichtet, und auf dem Todesschein steht Herzversagen; in den Wahllisten werden die Namen der bekannten Nichtwähler gestrichen, um die Wahlbeteiligung hochzutreiben, und über 10 Prozent der Neinstimmen werden unterschlagen; an der Mauer wird geschossen ... Das ist überhaupt keine Rechtskultur. ...“ Nach der Wiedervereinigung gab es in Obergebra einen Gedenkgottesdienst für einige der in politischen Prozessen zum Tode durch ein schon von den Nazis benutztes Fallbeil hingerichteten Opfer. In diesem Gottesdienst sagte der dort zuständige Kreisstaatsanwalt: "Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobene n Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizi eren."

"Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizieren." Mit diesem Satz ist zusammenfassend an sich schon alles Wesentliche über die Justiz des SED-Staates gesagt. Doch als weitere Mahnung nach dem von den Richtern in der Nazi-Zeit verübten Justizterror sei der in der DDR verübte näher dargestellt. Und der hat fast viermal so lange gedauert. Die Ostdeutschen haben nicht die Gnade der richtigen Geographie genießen können, wie sie den Westdeutschen unverdient zugefallen ist. Die Westdeutschen haben ohne eigenes Verdienst nach dem von unseren Vätern und Großvätern gemeinsam angefangenen und gemeinsam verlorenen Zweiten Weltkrieg vier Jahrzehnte länger in einem demokratischen Rechtsstaat leben dürfen. Sie waren nach dem braunen nicht auch noch dem roten Terror, und das heißt immer auch Justiz-Terror, ausgesetzt. Die Deutschen im Osten hingegen haben seit 1933 ohne Unterbrechung in Diktaturen gelebt. An diesen Folgen werden die Hunderttausende der Opfer noch einige Zeit kranken, denn nach einem Wort des Schriftstellers J. Fuchs, der - wie einige andere Dissidenten auch in einem MfS-Gefängnis zur Krebserzeugung heimlich mit Röntgenstrahlen verseucht worden sein könnte - ist durch diesen Terror "Auschwitz in den Seelen angerichtet" worden. „Der Untertan wurde zum zweiten Mal geboren, und in diesem Teil des Landes hat er bittere Urständ gefeiert. ... In einer Gesellschaft, in der in 12 plus 44 Jahren die Unterdrückten zu hören bekamen: ‘Beuge das Haupt, fühle Angst, passe dich an und es wird dir gut gehen‘, sind die Menschen niemals zur Autonomie trainiert worden. Das erzeugte eine Lebenshaltung, in der Ohnmacht zu einer neuen Normalität inmitten der politischen Moderne wurde. ... Wir weichen dem Heilungsprozess aus, weil wir die Schmerzen scheuen. So festigen sich die früheren Prägungen, die uns zu modernen Sklaven gemacht haben“ (Gauck laut HH A 17.05.99). Nur die kritische Auseinandersetzung mit den Strukturen und Verhaltensweisen der Fürsorgediktatur des SED-

591

Unrechtsstaates für Angepasste kann die Basis für einen Neuanfang sein, der diesen Namen verdient. Wer dazu nicht fähig ist und dem untergegangenen Regime - laut drastischem Urteil des polnischen Publizisten Krzeminski14 letztlich ein „Furz der Geschichte“; aber was für einer(!) - als z.B. PDSler nachtrauert, Mitglied der Partei vom Fleische der SED mit zu 70 % noch alten Kadern ist, die in ihren Reihen noch teilweise in einer kommunistischen Plattform den Stalinismus verherrlichen und deren Frontfrau Wagenknecht zum Schlechtesten gibt, die DDR sei „jedenfalls nicht undemokratischer gewesen als die Bundesrepublik“ (STERN 23.08.01) mit dem BVerfG als unabhängigem Hüter der Freiheitsrechte seiner Bürger, dem muss Zukunftsfähigkeit abgesprochen werden. Die Frontfrau beweist eindrucksvoll, wie blöd man/frau trotz in Angriff genommener Dissertation sein kann, wenn man/frau mit seinen/ihren ideologischen Scheuklappen die Realität ausblendet: Aus gutem Grund gibt es kein bundesrepublikanisches Gegenstück zu der „Vereinigung politisch Verfolgter und Widerständler der SED-Diktatur“, weil die Menschen in der BRD – im Gegensatz zu den Ost-Deutschen - das Glück hatten, nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands in einem Rechtsstaat leben zu können, in dem z.B. Verwaltungshandeln durch unabhängige Verwaltungsgerichte auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft werden konnte und kann und überprüft wurde und wird. Aber aus genau so gutem Grund gibt es auf Grund der in der DDR nicht vorhanden gewesenen Rechtsstaatlichkeit die „Vereinigung politisch Verfolgter und Widerständler der SED-Diktatur“ – deren Mitglieder jetzt wegen des in der DDR erlittenen Unrechts nun gegen die BRD klagen. Um die zahlenmäßige Dimension des Problems deutlich zu machen, ein paar Fakten: „Zwischen 1945 und 1968 wurden insgesamt etwa 300 000 Menschen wegen ihrer politischen Gesinnung [durch Volkskommissare der Sowjets und sowjetische Militärtribunale; der Autor] inhaftiert. 85 000 bis 95 000 von ihnen kamen in Zwangsarbeitslagern und Gefängnissen ums Leben, schätzt die Dokumentation ’Politik und Justiz in der DDR – Zur Geschichte der politischen Verfolgung von 1945 bis 1968’. ... Bis zu 20 000 von ihnen überlebten die Haft nicht. Die Justiz der 1949 gegründeten DDR schickte bis 1968 weitere 75 000 Menschen ins Gefängnis. 45 415 von ihnen wurden aus politischen Gründen verurteilt, so die Dokumentation. Mindestens 5000 von ihnen kamen in der Haft um. Noch einmal 72 000 DDR-Bürger wurden zwischen 1961 und 1989 eingesperrt, nachdem sie beim Versuch, die Mauer zu überwinden, festgenommen worden waren. 985 ließen bei Fluchtversuchen an der Mauer und auf der Ostsee ihr Leben.“ (HH A 06.11.02 mit u.a. Bezug auf das autobiographische Buch von Erika Riemann: „Die Schleife an Stalins Bart“, in der die Autorin über ihr Jahrzehnte andauerndes Verschleppungsschicksal in sowjetische Gulags berichtet, weil sie als 16-Jährige in der DDR aus einer Laune heraus - als Jugendstreich und nicht als politische Provokation gedacht - ein Plakat mit der Abbildung von Stalin durch eine Schleife »verziert« hatte. Die Zahl der bei Fluchtversuchen getöteten „Grenzverletzer“ scheint aber noch höher als in dem Zeitungsartikel angegeben gelegen zu haben. Die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ gibt die Zahl der Opfer bis 1989 mit mindestens 1008 an.) Auf der Basis des für ihre Forderung (wie mir scheint: ziemlich willkürlich) in Anspruch genommenen Gleichheitssatzes15 fordern die ehemaligen SED-Zwangsarbeiter von der Bundesrepublik Deutschland insoweit eine Gleichstellung mit den ehemaligen NS-Zwangsarbeitern, dass auch für sie nach dem Vorbild der NSZwangsarbeiterregelung eine Entschädigungsregelung geschaffen werde: Bei kürzeren Haftzeiten, so ihre Forderung, sollten € 500 ,- pro Haftmonat gezahlt werden, bei ein bis drei Jahren Haft rund € 7.700,- pro Haftjahr und bei darüber hinausgehenden Haftzeiten ca. € 13.000,- pro Haftjahr! Auch wegen des von mir gemutmaßten Geisteszustandes dieser Menschen, über die man wegen ihrer Rechtsunkenntnisse noch nachsichtig Jesu’ am Kreuz gesprochene Worte wiederholen könnte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“16, aber insbesondere wegen des von mir gemutmaßten Geisteszustandes ihrer Anwälte fasse ich mich (ohne Kenntnis der einzelnen Bestimmungen des Beitrittsvertrages) an den Kopf – und würde zerknirscht schamvoll mein Haupt verhüllen, wenn die erst einmal von sechs politischen Häftlingen der SED-Diktatur angestrebten Klagen (auf einer anderen Basis als einer mir unbekannten eventuellen Bestimmung im Beitrittsvertrag) Erfolg haben sollten! Ich verstehe in diesen Fällen die Erhebung einer »politischen« Forderung; eine rechtliche hingegen vermag ich nicht nachzuvollziehen! Natürlich bin ich für eine solche prononcierte Äußerung, mit der ich mich, anstatt den Ball flach zu halten, weit aus dem Fenster lehne, eine - hoffentlich jedermann - einleuchtende Erklärung schuldig. Ich gehe dabei davon aus, dass die BRD im Beitrittsvertrag – die rechtliche Form eines „Beitritts“ wurde bewusst gewählt, um Rechtsnachfolgen auszuschließen! - keiner Klausel zugestimmt haben wird, die Bundesrepublik Deutschland betrachte sich als Rechtsnachfolgerin der DDR und werde darum allen SED-Opfern eine Entschädigung für durch deren ehemalige Staatsmacht erlittenes Unrecht zahlen. Das vermag ich mir einfach nicht vorzustellen! (Und wenn es doch eine solche Bestimmung geben sollte, dann würde ich mich nicht nur über die bundesdeutsche Ministerialbürokratie, sondern auch darüber wundern, 14

Interview Krzeminskis in dem Interviewband von Kuczynski, R.: Ostdeutschland war nie etwas Natürliches, 2005 zurückverwiesen wird auf Gliederungspunkt 1. Teil, 1.3.2.1 (Gleichheitssatz) 16 Lukas 23/34 15

592

warum die Opfer des DDR-Unrechtsstaates, die bisher nicht entschädigt wurden, nicht schon längst geklagt haben und dieses Vorhaben erst zu einem so späten Zeitpunkt in Angriff nahmen.) Ohne eine solche vertragliche Verpflichtung würde ich als Richter den diesbezüglichen Klagen nicht - auch nicht teilweise - stattgeben, weil die BRD nicht die Rechtsnachfolgerin der DDR ist. Die BRD betrachtete sich zwar als Rechtsnachfolgerin des durch den Sieg der Alliierten mit der bedingungslosen Kapitulation untergegangenen Deutschen Reiches – und zahlte dafür bis heute Milliarden an Wiedergutmachung an Opfer des NS-Staates. Die BRD ist aber durch den Abschluss des Beitrittsvertrages nach meinem Rechtsverständnis nicht die Rechtsnachfolgerin der durch den Mehrheitsbeschluss der VolkskammerAbgeordneten dem Staatsverband der Bundesrepublik freiwillig beigetretenen DDR geworden! Das ist in meinen Augen ein gravierender rechtlicher Unterschied. Wieso sollte die Bundesrepublik Deutschland dann für Missetaten der SED-Diktatur zahlen müssen? In meiner beschränkten Gesetzeskenntnis ist mir keine derartige vertragliche Verpflichtung bekannt. Eine Rechtsanalogie nach dem Erbrecht, derzufolge der Erbe nicht nur die Rechte des Erblassers, sondern auch dessen Pflichten erbt, weil er in vollem Umfang Rechtsnachfolger des Erblassers wird – weswegen es günstiger sein kann, innerhalb von sechs Wochen das Erbe auszuschlagen –, verbietet sich. Die BRD ist nicht Erbe der DDR geworden, sondern die DDR ist dem Staatsgebilde BRD freiwillig beigetreten. Auch dass schon ein Gesetz geschaffen wurde, demzufolge Inhaftierte der durch Willkürurteile der SED-gelenkten Justiz eine nach Länge der Haftdauer gestaffelte, den Verbänden der Verfolgten des SED-Regimes allerdings zu niedrige Entschädigung erhalten haben, spricht nicht dagegen. Ich sehe dieses Gesetz als eine ohne diesbezügliche Rechtspflicht aus dem Beitrittsvertrag erbrachte und nur politisch gewollte freiwillige Leistung und großzügige Geste zur gesellschaftlichen Befriedung der zu Hunderttausenden unrechtmäßig inhaftiert gewesenen SED-Opfer an. Daraus kann man aber keine über die getroffene gesetzliche Regelung hinausgehende Entschädigungspflicht ableiten! Eine Analogie zu der nach so unsäglich vielen Jahren endlich angelaufenen Zwangsarbeiter-Entschädigungsregelung verbietet sich gleichfalls aus demselben Grund, weil die BRD eben nicht die Rechtsnachfolgerin der DDR ist. Trotz dieser allgemein bekannten Fakten sitzen - von Rechtsanwälten angefeuert - nun mindestens 150.000 noch lebende Opfer des Unrechtsstaates DDR in „Hab-Acht-Stellung“ und warten, was passiert. Jeder ehemalige Inhaftierte hätte verständlicherweise sehr gerne die mit den ersten Klagen angepeilten DM 15.000,- (ca. € 7.700,-) pro Unrechtsopfer und Haftjahr. Aber woher, bitte, sollen die zur erhofften Entschädigung notwendigen Milliarden Euro herkommen? Der Staat kann nur Gesetze im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit beschließen! Einen darüber hinausgehenden Anspruch kann es nicht geben. Die Forderung kann sich nach meinem Verständnis berechtigterweise nur gegen das PDS-Vermögen richten, weil die PDS sich als umetikettierte Rechtsnachfolgerin der SED versteht, ausgibt und wegen dieser Rechtsnachfolge deren in der Öffentlichkeit bekannt gewordenes Vermögen völlig ungeniert zunächst in Anspruch nahm, soweit sie es nicht durch Finanzmanipulationen hatte verstecken können. Ähnlich ist die Rechtslage bei der diskutierten Entschädigung für Dopingopfer des DDR-Sportsystems. Das geplante Dopingopfer-Hilfe-Gesetz sieht eine freiwillige Hilfeleistung an die früheren gedopten sozialistischen Spitzensportler vor, ohne dass dafür irgendeine Rechtspflicht der Bundesrepublik Deutschland bestände. Das Gesetz erhebt nicht den Anspruch einer Wiedergutmachung für von der Bundesrepublik Deutschland verursachte erhebliche gesundheitliche Schäden. Es sieht sich ausschließlich als mehr moralisches Zeichen einer humanitären und sozialen Hilfe. Die geplante einheitliche Einmalzahlung in Höhe von € 5.000,- ist den Geschädigten aber zu gering. (Nach Meinung der PDS sei der Gesetzentwurf keine Handlung nach „Recht und Gesetz“. Sie lehnte ihn darum ab!) Eine Entschädigungszahlung an die unschuldigen Opfer des Justizterrors in der DDR kann von dem jeweils Betroffenen ebenfalls nicht klageweise erzwungen werden! Man könnte aber darüber nachdenken, den Opfern des SED-Justizterrors für ihre von ihrem Zwangsregime zerbrochenen Biographien aus politischen Gründen und auf freiwilliger Basis einen (den Opfern immer zu geringen) Betrag zukommen zu lassen, wenn man das Geld dafür zur Verfügung hätte. Schließlich ist es den DDR-Justizopfern in deren Unrechtsregime wesentlich schlechter ergangen als den von diesem Regime gehätschelten Doping-Sportopfern! Ähnlich verhält es sich bei den Entschädigungsklagen von 71 Opfern der Boden- und Eigentumsreform im früheren Mitteldeutschland, die zwischen 1945 und 1949 in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone oder danach in der DDR ihre Ländereien, Güter oder Fabriken verloren hatten und nun von der Bundesrepublik Deutschland nicht nur einen mehr oder minder symbolischen Wert für die zwangsenteigneten Grundstücke und nach dem Beitritt der (Ex-)DDR den ostdeutschen Ländern zugefallenen Grundstücke ihrer Vorfahren erhalten wollten, sondern vor dem EuGH auf Entschädigung zum heutigen Verkehrswert geklagt hatten. Nach der Wiedervereinigung gab es drei Gruppen von Enteignungsopfern. Wer - zum Beispiel als Jude - bereits zu NS-

593

Zeiten enteignet worden war, bekam das Land zurück. Wer von den Sowjets zwischen 1945 und 1949 enteignet worden war, bekam das Land nicht zurück und erhielt nur eine relativ geringe Entschädigung. Für Enteignungen der DDR nach 1949 galt dann das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung". Vor allem diese rechtliche und damit letztlich finanzielle Schlechterstellung gegenüber den nach 1949 Enteigneten hatte die klagenden Alteigentümer(nachfolger) erregt und eine Serie von Prozessen auf Entschädigung zum heutigen Verkehrswert ausgelöst. Sie forderten vor allem eine höhere Entschädigung für die Ländereien, die zwischen 1945 und 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) enteignet worden waren. Die Rückgabe der Flächen war auf Druck der DDR-Regierung von Lothar de Maizière (CDU) und vielleicht auch der UdSSR im Einigungsvertrag ausgeschlossen worden. Stattdessen wurden 1994 in einem Gesetz nur Entschädigungen weit unter dem Verkehrswert zugesagt. Die Kläger forderten jedoch entweder den Zeitwert der Grundstücke oder die Rückgabe derjenigen Flächen, die sich um die Jahrtausendwende (noch) in Staatseigentum befanden. Mit ihren in vier Prozessen vor dem BVerfG auf eine höhere Entschädigung abzielenden Klagen waren sie gescheitert. Zuletzt hatte der zuständige Senat des BVerfGs im Dezember 2004 erklärt, es gebe angesichts der sonstigen menschlichen Opfer und Folgen von "Zweitem Weltkrieg, Besatzungsherrschaft und Nachkriegsdiktatur", die die Deutschen als "Schicksalsgemeinschaft" tragen müssten, keinen Grund, warum gerade die Enteignung von Immobilien in vollem Umfang rückgängig gemacht werden sollte. Nun suchten die Alteigentümer ihr Heil und das, was sie als ihr Recht ansahen, klageweise beim EuGH für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu erreichen. Doch die Klage der 70 Personen, eines Unternehmens, der Stiftung Allianz für den Rechtsstaat e.V. und der Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum wurde wegen der von den Richtern mehrheitlich so eingestuften Unzulässigkeit gar nicht erst zur Entscheidung angenommen: Nach Auffassung des Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die Bundesrepublik weder für die Handlungen der sowjetischen Besatzungsmacht noch für die der DDR verantwortlich gemacht werden. Auch nach der Wiedervereinigung hätten die Kläger keine berechtigte Erwartung auf Rückgabe oder auf Ausgleichsleistungen in Höhe des heutigen Verkehrswertes gehabt oder auch nur haben dürfen. Weil keine berechtigte Erwartung auf Entschädigung durch das deutsche Recht bestanden habe, konnte diese Erwartung auch nicht verletzt werden. "Der Gerichtshof besitzt keine Zuständigkeit, um die Umstände der Enteignung oder ihre bis heute fortwirkenden Folgen zu untersuchen.", lautete die Antwort der höchsten europäischen Richter. Die Kläger könnten sich gegenüber dem deutschen Staat nicht auf das "Recht auf Eigentum" berufen, das in einem Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechts-Konvention garantiert ist. Erstens sei die Bundesrepublik für die SBZ-Enteignungen nicht verantwortlich zu machen und zweitens hätten die Kläger auch nach 1990 keine "begründete Erwartung" haben können, dass ihre Güter zurückgegeben werden, da die Rückgabe bereits 1990 ausgeschlossen worden sei. In einer "Gesamtbetrachtung" erklären die Richter: "Sobald sich ein Staat entschließt, die Folgen von undemokratischen Handlungen zu beseitigen, die von ihm nicht begangen wurden, besitzt er zur Umsetzung dieser Politik einen weiten Ermessensspielraum." Das Urteil hat vor allem den Bundes- und die Länderfinanzminister einer großen Sorge enthoben, denn höhere Entschädigungen hätten den Bundeshaushalt in wohl nicht tragbarem Maße belastet, wie die Länderhaushalte durch eine kostenlose Rückgabe von Grundstücken, deren Veräußerungsgewinne schon als feste Einnahmen verplant gewesen waren, in weitere Schieflage geraten wären. Vor dem EuGH müssen sich nach diesem Urteil Beklagte und Kläger wie in der Sentenz von Wilhelm Busch der unter dem mit gebleckten Lefzen über dem Wurstdieb Louis stehende Wachhund Graps vorgekommen sein: „Die zwei, die schaun sich ins Gesicht / Der eine froh, der andre nicht.“

Doch zurück zu dem anmaßenden Vergleich aus der »linkesten« Ecke der Kommunistischen Plattform der PDS bezüglich der - in deren Augen - gleichwertigen Rechtsstaatlichkeit der demokratisch organisierten BRD und der »volksdemokratisch« organisiert gewesenen DDR. Der ehemalige PDS-Vorsitzende Gysi kommentierte die verschrobene Sichtweise seiner Antipodin in der PDS mit den Worten: „Ich finde das absurd, wirklich absurd.“ Und der damalige Bundespräsident Herzog sagte am 26.03.96 vor der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“: „Sie [die DDR] war ein Unrechtsstaat. Den Versuch ihrer früheren politischen Elite, heute die DDR-Realität zum international Üblichen umzuinterpretieren, dürfen wir nicht zulassen.“17 Demgegenüber gab 2001 der Vorsitzende der PDS-Bundestagsfraktion, Claus, noch fünf Jahre nach diesem mahnenden Wort unseres als Präsident des Bundesverfassungsgerichtes ehemals obersten Richters und damaligen Bundespräsidenten zum Schlechtesten, dass es in der DDR zwar auch Unrecht gegeben habe, er es aber ablehne, seinen vormaligen Staat als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen (DLF 19.08.01). Ein unschönes Beispiel dafür, wie Ideologie realitätsblind bis hin zur Amnesie machen kann. Claus scheint in seiner »Ost-Zeit« verbotenerweise zu viele »West-Schlager« gehört zu haben: dort hieß es in einem sehr alten: 17

zitiert nach: Das Parlament 03.05.96 S. 15

594 „Vergangen, vergessen, vorüber ... vorbei.“ Wegen der großen Anhängerschaft der PDS in Ostdeutschland von mehr als 23 % der Wähler selbst nach Aufdeckung des durch die SED jahrzehntelang begangenen Unrechts bis mindestens zur Bundestagswahl 1998 und 2004 nach der gesetzlichen Umsetzung der Hartz-IV-Reformen, die sich im Osten Deutschlands als Steigbügel für PDS und Rechtsradikale auswirkte, so dass der STERN ganz bewusst von einer „nationalsozialistischen Koalition der Hartz-IV-Gegner“ sprach, scheint es dringend geboten, näher aufzuzeigen und detaillierter darzustellen, was Recht unter der Herrschaft der PDS-Vorgängerin SED für die ihrem (Un-)Rechtsregime Unterworfenen bedeuten konnte und bedeutet hatte: Der mit dem MfS Hand in Hand zusammenarbeitende und in wichtigen Fragen von ihm gesteuerte Justizterror war ein konstitutives Herrschaftsinstrumente der SED, »die mit dem MfS regierte«. Jedem, der das begriffen hat, müsste sich als Konsequenz dieses Wissens dann die Erkenntnis aufdrängen, dass es vielleicht eine oder meinetwegen auch zwei, drei neue sozialistische Parteien in Deutschland (die sich dann gegenseitig die Stimmen wegnehmen würden und sich so am Überspringen der 5%-Hürde hindern könnten) für Unbelehrbare geben darf, nicht aber eine umbenannte direkte Nachfolgepartei und Erbin der SED geben dürfte, wie es auf der entgegengesetzten Seite des Parteienspektrums zu Recht auch keine Nachfolgepartei der NSDAP geben darf, die dann vielleicht auch noch den Obersalzberg als Parteieigentum beanspruchte, wie die PDS als selbst dazu erklärte Nachfolgerin der SED deren Vermögen zunächst heftig, dann zunehmend schamhaft verstohlen, beanspruchte, bis sie dann nach Gewährung einiger ansehnlicher Happen - darauf verzichten musste. (Mehr für sie war der Bevölkerung politisch nicht vermittelbar! Darum musste sie beidrehen.) Ob eine Partei mit Blut an den Händen nach einer einfachen Umbenennung aus ihrer besudelten diktatorischen Vergangenheit heraus in einem neuen System politisch weiterexistieren oder gar wieder politische Macht übertragen bekommen darf, ist nach meiner Wertung eine primär moralische und erst sekundär eine politische Frage! Wer das akustisch und intellektuell versteht, aber nicht begreift und z.B. weiterhin die jahrelange Verletzung der Menschenrechte durch Mauerbau und Stacheldraht als „friedensstiftende Maßnahme“ umdefiniert, wie es die beiden Parteifize der PDS zwei Monate vor dem 40. Jahrestag des Mauerbaues taten, kann sich ein Nachdenken über politische Moral sparen! (Der Landesparteitag der PDS sprach dann aber zwei Tage später mit großer Mehrheit wenigstens sein „Bedauern“ über die insgesamt mindestens 1.067, bis zur Beseitigung des privaten Mahnmals am Checkpoint Charlie mit je einem namentlich gekennzeichneten Kreuz für jeden Mauertoten und bei Fluchtversuchen auf der Ostsee ums Leben Gekommenen aus. Ohne dieses geäußerte „Bedauern“ hätte der unterstützende Beitrag der PDS zum Sturz des Regierenden Bürgermeisters der CDU von Berlin durch SPD und Grüne nicht akzeptiert werden können. Es hätte die lokalen Parteiorganisationen von SPD und Grünen vermutlich »zerrissen«. In nachfolgenden Diskussionen und Papieren kam die SED-Nachfolgeorganisation über ein „Bedauern“ nicht hinaus und verweigerte die von ihren Gegnern geforderte „Entschuldigung“ für das während DDR-Zeiten begangene Unrecht. Was hätte die andere Wortwahl geändert? Ist das vielleicht nur ein semantischer Streit? Wenn man der rigorosen Meinung ist, dass es keine Nachfolgeorganisation einer diktatorisch geherrscht habenden Partei geben darf, dann ist es wirklich nur ein semantischer Streit. Wenn man aber einer derart durch u.a. Hunderte von Toten diskreditierten Nachfolge-Partei einer diktatorisch geherrscht habenden Partei die von ihr auf Grund des bei Wahlen zu Tage getretenen Wählerwillens Unverbesserlicher beanspruchte Regierungsverantwortung zugestehen will – und die Lebensrealität geht in den meisten östlichen Bundesländern in diese Richtung und wird von Leuten getragen, die sich 15 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht entblöden kundzutun: „In der DDR waren wir glücklicher. Wenn jemand die Mauer wieder aufbauen wollte, würde ich sagen: Ja.“ (STERN 09.09.04) -, dann muss man sich die Frage gefallen lassen: Was wäre, wenn sich (nach einer dafür allerdings erst noch vorzunehmenden Gesetzesänderung) NPD, DVU oder die Republikaner (bisher durch Strafnormen verbotenerweise) offen als Nachfolgeorganisation der NSDAP ausgäben, gerade einmal mühsam ein „Bedauern“ über »gewisse Auswüchse« während der NS-Zeit zum Ausdruck brächten, eine Entschuldigung verweigerten und nach dieser sich für die Öffentlichkeit mühsamst abgerungenen historischen - zunächst meist nur verbalen - Bewältigung der grässlichen Untaten ihrer Vorgängerin nunmehr in unserer Demokratie Regierungsmitverantwortung beanspruchten? Wenn sie 12 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes in Berlin mitregiert hätten? Ein ehemaliger Bürgerrechtler aus der DDR kritisierte das analoge Verhalten der PDS so: Die PDS will zwar das unangenehme Erbe der SED los sein, aber mit deren Kasse und Mitgliedern aus der historischen Verantwortung verschwinden. Ein polemisch verkürztes Argument, gewiss, aber wie wollte man ihm widersprechen? Eine PDS, die sich nicht als Nachfolgepartei der SED begriffe und ausgäbe, wäre moralisch unangreifbar und demokratisch legitim, eine Regierungskoalition mit ihr eine legitime Gestaltungsmöglichkeit des politischen Lebens. Es rührt aber an die Grundlagen einer Demokratie und den Konsens zwischen Demokraten über das Grundverständnis von Demokratie, wenn eine Partei, die ausdrücklich die Nachfolge einer diktatorischen, ihre Herrschaft mit Terror bis zur physischen Vernichtung ihrer Gegner durch Fallbeil oder Genickschuss zemen-

595

tiert habenden Partei in einer Demokratie Gestaltungsrechte für sich in Anspruch nimmt, wenn eine solcherart unter historisch empfindenden Demokraten völlig diskreditierte Partei in einer demokratischen Gesellschaft auf welcher politischen Ebene auch immer an Regierungsmacht beteiligt wird. Für viele PDS-Mitglieder und viele Sympathisanten der SED-Nachfolgepartei ist das von ihnen teilweise bis wenigstens 2002, bis zur Präambel des rosa-roten Berliner Koalitionsvertrages zwischen SPD und PDS geleugnete Wissen um den in seinen Unterdrückungsmechanismen gleichgearteten Geheimdienst- und Justizterror der ehemaligen Staatspartei so schmerzlich, dass sie ihn nicht wahrhaben wollen. Nunmehr müssen sie lesen, was ihre Berliner Vertreter unterschrieben haben: „... Für die Verfolgung von Sozialdemokraten und anderen Teilen der demokratischen Opposition, für deren Inhaftierung bis hin zum Tod und für die Hinrichtung Andersdenkender trägt die SED eine historisch bleibende Schuld. Zusammen mit den damaligen Entscheidungsträgern der Sowjetunion ist sie verantwortlich für die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953, den Mauerbau und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, mithin für das Fehlen grundlegender demokratischer Freiheitsrechte in der DDR. ... SPD und PDS bekennen sich im Wissen um das Trennende aus der Geschichte dazu, dass die Vergangenheit nicht auf Dauer die Zukunft beherrschen darf.“ Es dürfte niemanden wundern, dass vorstehende Erklärung heftige Gegenreaktionen u.a. der Kommunistischen Plattform auslöste. Und als Historiker und Demokrat kann man nur sarkastisch fragen: Warum haben Berliner SPD und PDS nicht auch gleich NPD, DVU und Republikaner diesen Wortlaut unterschreiben lassen? Das würden die sofort tun und liebend gerne die Konsequenzen einer solchen Absolutionserklärung für sich sofort einfordern! Ist diese Anerkennung der historischen Schuld der SED in der Präambel des Berliner Koalitionsvertrages durch die Berliner PDS-Führung eine rosa-rote Koalition in der Stadt des Mauerbaues und der Mauertoten wert? Wenigstens »rechte« Sozialdemokraten mit einem bisschen historischem Empfinden müssten ein Gefühl dafür haben, dass sich ihre Partei durch eine Koalition mit einer solchen von ihr selbst erklärten Partei-Nachfolgerin besudelt. In Sachsen-Anhalt gab es bei den Landtagswahlen 2002 dann auch vom Wähler die Quittung für acht Jahre „Magdeburger Modell“: Die SPD erhielt die verheerendste Niederlage ihrer Geschichte, denn sie verlor ungefähr die Hälfte ihrer Wähler und wurde nach der mit weitem Abstand siegreichen CDU noch nach der PDS nur drittstärkste politische Kraft im Land! Was für ein moralischer Abstieg der SPD: Von der letzten freien Rede ihres Vorsitzenden Otto Wels im Reichstag - „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!“ -, mit dem er das Unrechtsregime der Nazis moralisch in die Schranken forderte, bis zu einer Koalitions-Ehe mit einer Partei, die das ebenfalls diktatorische und verbrecherische Erbe ihrer Mutterpartei ausdrücklich für sich reklamiert, indem sie sich ausdrücklich als deren Nachfolgerin begreift und bezeichnet! Der von der SPD begangene Tabubruch, sich mit einer dermaßen befleckten Partei ins Koalitionsbett zu legen und dort die Freuden der Koalitionsehe zu genießen, gilt natürlich auch für CDU-Bürgermeister, die in den östlichen Bundesländern erst durch die zusätzlichen Stimmen der PDS in ihr Amt gekommen sind. Man könnte die Haltung der SPD nach ihrem Verhalten in Sachsen-Anhalt (eine bis zur Abwahl 2002 durch die Tolerierung der PDS ermöglichte SPD-Regierung) und Mecklenburg-Vorpommern (Regierungskoalition zwischen SPD und PDS) in der politischen Gretchenfrage: „Wie hältst Du es mit der PDS?“, für Berlin (in der Stadt des Mauerbaues eine durchaus vermeidbar gewesene Koalition mit der PDS zu schließen) mit dem lakonischen Satz kommentieren: „Alle schlechten Dinge sind drei!“ Doch den zahllosen noch lebenden Opfern der SED-Diktatur wird durch das Zusammenspiel historisch unbelasteter demokratischer Parteien mit der von SED in PDS umbenannten Partei zu viel Verständnis für ihre früheren Peiniger und teilweise Henker ihrer Angehörigen zugemutet! Und das Niederlegen von Kränzen an den Resten der Mauer durch die PDS zum Gedenken an den 40. Jahrestag des Mauerbaus empfanden die SED-Opfer so, als wenn NPD, DVU oder die Republikaner am 20. Juli zur Erinnerung an das 1944 versuchte Attentat auf Hitler an der Hinrichtungsstätte Plötzensee zum Gedenken an die Märtyrer Kränze niederlegen würden. Innerlich zu tiefst getroffen haben sie – für mich durchaus verständlich – außer sich vor Schmerz über das ihnen und ihren Angehörigen von der „ParteiMutter“ der PDS, der SED unseligen Angedenkens, zugefügte, teilweise ihre Liebsten getötet habende Unrecht die von der PDS gestifteten Kränze empört zertreten! Und sollte es nach Jahrzehnten keine noch lebenden Opfer der SED-Diktatur mehr geben, dann besteht das

596

Problem der historisch-moralischen Diskreditierung einer diktatorisch geherrscht und dabei gemordet habenden Partei unter Demokraten trotzdem weiter! Wenn das nicht so wäre, dann könnten NPD, DVU und Republikaner - analog dem sofortigen Vorgehen der PDS - nach über einem halben Jahrhundert äußerer Häutung schamlos und ungestraft die Nachfolge der NSDAP beanspruchen, antreten und von unserer schnell vergessenden Gesellschaft Absolution verlangen! Gegner einer Zusammenarbeit zwischen historisch unbelasteten Parteien einerseits und der PDS andererseits sprechen daher von einem „schamlosen Tabubruch“ (Westfälische Nachrichten 13.06.01). Das von 1984-89 sogar dem Politbüro angehörende ehemalige SED-Mitglied Schabowski äußerte sich auf Grund seiner intimen Mitglieder- und Strukturkenntnisse sowohl der SED unseligen Angedenkens wie auch der jetzigen PDS im SPIEGEL 09.07.01 dahingehend: „Die PDS ist nicht die Nachfolgepartei der SED, sondern deren Fortsetzungspartei – nur ohne Moskau." Die jetzige Bedauernsäußerung der PDS über unter dem Namen SED von ihr begangenes Unrecht sei lediglich von der sich in Berlin eröffnenden Machtchance diktiert und erinnere ihn an einen Ausspruch von Honoré de Balzac: „Man schiss sich eilfertig und halsbrecherisch ins Hosenfutter.“ Soweit das ehemalige SED- und Politbüro-Mitglied Schabowski!

2 Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem Organisi ertes Verbrech en als Herrscha ftssystem

Fall (persönlich mitgeteilt durch einen freigekauften DDR-Häftling): Die Familie Edelstein aus Ribnitz-Damgarten wollte zu der in der Bundesrepublik lebenden 77 Jahre alten, allein stehenden und pflegebedürftigen Mutter eines der Ehepartner ziehen können, um die gebrechliche Verwandte zu pflegen. Nach einigen vergeblich gestellten Ausreiseanträgen fuhren die Edelsteins nach Berlin und besuchten zweimal die Ständige Vertretung der Bundesrepublik, um hier Hilfe für die geplante Familienzusammenführung zu erbitten. Bei der Rückkehr, im Frühjahr 1983, wurden sie verhaftet und jeder zu 4 1/2 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, vermutlich wegen "landesverräterischer Nachrichtenübermittlung" § 99 StGB-DDR oder "ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" § 219 StGB-DDR. (Solche Strafprozesse waren nicht öffentlich, die Angeklagten erhielten weder eine Anklageschrift noch später ein Urteil ausgehändigt. Auch solche Selbstverständlichkeiten, gegen die die SED-Justiz permanent bewusst verstieß, gehören zu einem Rechtsstaat, damit der Verurteilte weiß, wofür er weshalb verurteilt worden ist und ob er gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen kann. Aber die von der SED als unbeschränktes Lehen betrachtete DDR war eben nie ein Rechtsstaat gewesen. Erstaunlich sind deswegen die Stimmabgaben für die praktisch nur umbenannte Nachfolgerin der SED, die PDS. An sich ist es absurd: Da gaben in den Landtagswahlen und der Bundestagswahl Jahre nach der Wende mehr als 20 % der Ostdeutschen den früheren Gefängniswärtern ihrer Massenfreiheitsberaubung ihre Stimme! Dazu gehört schon sehr viel Masochismus und ein extrem kurzes Gedächtnis: Jedes begangene Verbrechen bis hin zum Mord ist vergeben, und die PDS wird von 20 % der Wähler nur noch als legitime Sachwalterin ostdeutscher (Sonder-)Interessen wahrgenommen! Jedwede Zusammenarbeit demokratischer Parteien mit der in PDS umbenannten Nachfolgeorganisation der SED müsste sich wegen der zuvor im Namen der SED begangenen Verbrechen auf jedweder Ebene aus moralischen Gründen von vornherein genauso verbieten, wie sich für demokratische Parteien eine Zusammenarbeit mit der durch das Gedankengut der NSDAP infizierten, belasteten und neuerdings von einem Verbotsantrag bedrohten NPD, den Republikanern und anderen gleich(un)wertigen Rechtsaußen-Parteien von vornherein verbietet, obwohl es sich hierbei - anders als bei der PDS - noch nicht einmal um direkte Nachfolgeorganisationen einer diktatorischen Partei handelt, wie es die PDS in Bezug auf die SED für sich in Anspruch nimmt, sondern »nur« um geistige Verwandte! Es lässt sich aus moralischen Gründen sogar die Extremposition vertreten, dass eine direkte Nachfolgeorganisation der Unrechtspartei SED genauso verboten gehört hätte wie jede Nachfolgeorganisation der NSDAP; was nicht ausschließt, dass Neugründungen sozialistischer Parteien vorgenommen werden könnten, die nicht den Anspruch erhöben, Nachfolgeorganisationen der Partei des roten Terrors, der SED, zu sein - und zunächst auch noch deren Vermögen beanspruchten. Eine neugegründete PDS dagegen, die sich nicht als Nachfolgepartei der SED begriffe und ausgäbe, wäre hingegen demokratisch legitim und nicht nur politisch opportun.) Fall (STERN 19/91)

597

Das Ehepaar Kerstens wurde wegen der Planung einer Demonstration in Ostberlin mit anderen Ausreiseantragstellern aus Stendal (Beeinträchtigung staatlicher Organe gemäß § 214 StGB-DDR) und Kontaktaufnahme zu bundesdeutschen Politikern, die sie über ihren Ausreiseantrag informiert hatten (ungesetzliche Verbindungsaufnahme gemäß § 219 StGB-DDR und landesverräterische Nachrichtenübermittlung, die nicht der Geheimhaltung unterliegt gemäß § 99 StGB-DDR), zu je drei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Vor der Urteilsverkündung sagte die Angeklagte in ihrem Schlusswort: "Hohes Gericht, ich fühle mich im Sinne der Anklage als nicht schuldig. Ich kann es als mündige Bürgerin der DDR nicht verstehen, daß ein Herr Udo Lindenberg aus der BRD das Recht genießt, mit Herrn Honecker Briefe und Geschenke auszutauschen, und wir als mündige Bürger dieses Staates nicht das Recht haben, eine Antwort auf unser Ausreiseanliegen zu bekommen." Staatlicher Sklavenhan del der SED zur Verbesseru ng ihrer Devisenein nahmen

Ähnliche Erlebnisse berichteten andere ehemalige DDR-Häftlinge, von denen 33.755 zwischen 1963-1989 von der Bundesregierung zu einem "Stückpreis" - für den SED-Staat waren sie nach Sklavenhaltermentalität nur Ware und wurden nach Bedarf produziert, indem z.B. auch kriminelle Strafgefangene zwecks Freikaufangebots zu politischen gemacht wurden - von rund 104.000,- DM für einen Gesamtbetrag von über 3,5 Mrd. DM freigekauft worden sind.18 Zunächst belief sich der „Normaltarif“ auf „nur“ 40.000 DM. Von 1977 an stieg der "Stückpreis" auf 95.847 DM. Bei wichtigen Personen musste die BRD aber wesentlich mehr bezahlen. Dividiert man die insgesamt gezahlten 3,5 Mrd. DM durch die Zahl der insgesamt freigekauften Häftlinge, dann ergibt sich vorstehender Mittelwert von rund 104.000 DM. Die Verdoppelung des "Stückpreises" Ende der 70-er und Anfang der 80-er Jahre war kein irgendwie ermittelter Inflationsausgleich. Die SED wies ganz einfach die angeblich unabhängigen Richter an, in politischen Verfahren extrem harte Urteile zu fällen. Wenn nun dem SED-Staat mehr Monate pro Häftling abgekauft werden mussten, dann erhöhte das den Preis – reine Sklavenhalter-Marktwirtschaft! Menschen gab es mehr als genug zu verkaufen, da in der DDR insgesamt ca. 150.000 - 240.000 politisch motivierte Strafurteile gefällt worden sind. Vor Anlaufen der Sklavenmarktauktionen der SED-Parteidiktatur sind Angeklagte auch einfach umgebracht worden, wie z.B. in den Fällen Werner, Alfred u.a. vor der erst später in Gang gekommenen Freikaufsvereinbarung. Diese unglücklichen Opfer der SED-Parteidiktatur sind nach ihren Bekenntnissen zu den Zielen des – nach SED-Lesart: von „Westbanditen“ inszenierten – Aufstandes vom 17. Juni in einem militärinternen Schauprozess zum Tode durch genau das schon von den Nazis an gleicher Stelle benutzte Fallbeil verurteilt und hingerichtet worden. Die Zahl der Opfer des Volksaufstandes vom 17. Juli 1953 ist nie genau ermittelt worden, da das MfS bemüht gewesen war, diesbezügliche Spuren zu verwischen. Schätzungen gehen dahin, dass insgesamt ca. 25 Personen – »Rädelsführer«, »Verräter«, »Plünderer«, »faschistische Provokateure«, »Mörder«, »Banditen« - hingerichtet wurden; die sowjetische Besatzungsmacht ließ 18 Personen standrechtlich erschießen, u.a. den West-Berliner Arbeiter Göttling. Zwischen 50-120 kamen durch u.a. Schüsse in die Mengen um oder gerieten unter Panzerketten, zwischen 4.383 in den ersten fünf Tagen bis 10.000 Personen im Zuge der sich anschließenden mehrmonatigen politischen Aufräumungsarbeiten wurden verhaftet, 1.526 Angeklagte seien zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem!19 "DDR hat mit unschuldig Verurteilten Geld verdient dpa Bonn. In der früheren DDR sind unschuldige Bürger bewußt zu hohen Haftstrafen verurteilt worden, damit Ost-Berlin beim Häftlingsfreikauf Devisen aus Bonn kassieren konnte. Entsprechende Zeitungsberichte hat der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Walter Priesnitz, bestätigt. `Wir können heute davon ausgehen, daß die Führung um Honecker Menschen nur deshalb zu Strafen verurteilen ließ, um Höchstpreise für den Freikauf auszuhandeln', sagte Priesnitz, der früher im innerdeutschen Ministerium für die Freikäufe zuständig war. ... Priesnitz berichtete, als er 1988 für die humanitären Beziehungen zuständig geworden sei, `bekam 18 19

Rehlinger, L.: Freikauf, Ullstein Ohne Schauprozess sind nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 20 Volkspolizisten und 40 Rotarmisten standrechtlich erschossen worden, die sich damals geweigert hatten, auf die Demonstranten zu schießen. Ich habe bisher keine Gedenktafel zu Ehren der Männer gesehen, die in mehr als beispielhaftem Mut und beispielhafter Selbstlosigkeit für eine demokratische Selbstbestimmung auch in der DDR eingetreten waren, ihr Leben eingesetzt und verloren haben. Namen alter Sozialisten zieren noch die Straßenschilder - auch das gehört zur Geschichte -, aber wo bleiben die Ehrungen derjenigen, die für ihre Menschlichkeit und ihre wirklich demokratischen Überzeugungen umgebracht wurden?

598

ich das Gefühl, hier werden Häftlinge produziert'. Daraufhin habe sein Ministerium beschlossen, in bestimmten Fällen kein Geld mehr zu zahlen. Als das in Ost-Berlin bekannt geworden sei, habe die Zahl der Verurteilungen schlagartig nachgelassen." (Harburger Anzeigen und Nachrichten 23.12.91) Die staatlichen Menschenhändler der DDR und SED handelten nach nur einer Devise: "Devisen!" Die auf dem Außenhandelssektor trotz umfangreicher und recht erfolgreicher Industriespionage international nur eingeschränkt konkurrenzfähige DDR produzierte Häftlinge zur Verbesserung ihrer Deviseneinnahmen u.a. durch den in der DDR zu einer Straftat erhobenen Vorwurf, Kontakt zur Mission der Bundesrepublik versucht oder aufgenommen zu haben, obwohl sie durch ihre Unterschrift unter das "Abschließende Dokument" des zweiten KSZE-Folgetreffens in Madrid im Kapitel "Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen" unter Punkt 7 die Verpflichtung eingegangen war: "Die Teilnehmerstaaten bekräftigen ihre Verpflichtung, die Bestimmungen hinsichtlich ... offizieller Missionen ... in vollem Umfang durchzuführen und das normale Funktionieren jener Missionen zu erleichtern. Der Zugang von Besuchern zu diesen Missionen wird unter gebührender Berücksichtigung der erforderlichen Sicherheitsbedürfnisse dieser Missionen gewährleistet." Sicherheitsbedürfnisse der Missionen sollten Einschränkungen des grundsätzlich freien Zugangs ermöglichen, nicht politisch motivierte Strafvorstellungen oder Devisenknappheit eines Gastgeberlandes!

3 Unrechtsregime wie die DDR unter SED-Herrschaft negieren Menschenrechte, Verfassung und eingegangene internationale Verpflichtungen Negieren von Menschenre chten, Verfassung und eingegange nen internationa len Verpflichtu ngen

Der SED-Staat machte trotz seiner Unterschrift unter sowohl diese freiwillig international vereinbarte und damit von ihm freiwillig anerkannte Regelung, unter das "Abschließende Dokument" des zweiten KSZE-Folgetreffens in Madrid, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.66 wie auch unter die Menschenrechtserklärung der UNO ein erlaubtes Verhalten durch seine Strafgesetzgebung zu einem Straftatbestand und verurteilte Zehntausende seiner Einwohner nur wegen des Besuches der bundesdeutschen diplomatischen Vertretung oder des auf andere Art bekundeten Ausreisewillens aus der real existent gewesenen Hoffnungslosigkeit des SED-Gefängnisses "DDR", in dem 17 Millionen Deutsche einer Massenfreiheitsberaubung der sich allmächtig gebärdenden Staatspartei unterlagen, zu meist mehrjährigen Gefängnisstrafen. So wurde 1989 ein Ehepaar zu einmal 2 Jahren und einmal 2 Jahren und 8 Monaten Haft in einem der MfS-Zuchthäuser verurteilt, weil es sich (nur) auf den Weg zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik gemacht, aber auf Grund des Verrates eines eingeweihten IM (inoffizieller Mitarbeiter des MfS) vorher abgefangen worden war. Wenn man einmal von der Niedertracht absieht, wie hier Menschen eines Staates für eine durch eben diesen Staat eingegangene internationale Verpflichtung erlaubte Handlung kriminalisiert worden sind, dann wäre das letzte Beispiel an sich immer noch ein Fall einer straflosen Vorbereitungshandlung, da ja noch kein Kontakt zu der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik wenigstens ansatzweise hergestellt worden war.20 Ein Tischler erhielt für die Herstellung eines hölzernen "A" 1 1/2 Jahre 20

s. Scharnweber, H.-U.: "Rechtskunde - Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten" Der BGH bestrafte einmal auch so unsinnig eine reine Vorbereitungshandlung, wie er im "Pfeffertüten-Fall" bewiesen hat: An einer Bushaltestelle steht ein Passant so herum wie andere auch. In der Tasche hat er eine Tüte mit gemahlenem Pfeffer - wie vielleicht andere auch. Er wartet - wie die anderen nicht - auf einen Geldboten, dem er Pfeffer ins Gesicht pusten und den so Geblendeten berauben will. Bevor der Geldbote erscheint und der (letztlich verhinderte) Räuber die konkrete Tatausführung erwägen, geschweige denn konkret zur Tat ansetzen und dazu die Tüte ziehen könnte, wird er verhaftet. Nach einstimmiger Ansicht der Lehre - und diese Einstimmigkeit ist für (Straf-)Juristen etwas sehr Seltenes(!) - ist das ein Fall von straflos zu belassender reiner Vorbereitung, weil der verhinderte Räuber noch nicht die Schwelle zum "Jetztgeht's-los" überschritten hatte. Dem vom BGH trotzdem Verurteilten war mit dieser Verurteilung jede Möglichkeit des gemäß § 24 StGB strafbefreienden Rücktritts von selbst noch der nächsten Stufe jeder Deliktsverwirklichung nach der Vorbereitung, dem Versuch, genommen worden. Er wurde gehindert, die selbst für einen umkehrwilligen Straftäter bei Vorliegen tatbestandlichen Unrechts und tatbestandlicher Schuld in der Form eines Versuchs immer noch begehbare "goldene Brücke" zurück in die Gesellschaft zu beschreiten, obwohl der nur gedankliche Räuber tatbestandlich noch gar

599

Gefängnis. Ähnliche Strafen ergingen gegen Autofahrer, die an der Antenne ihres Trabis eine weiße Schleife (als Sympathiebekundung für die "weißen Kreise") oder die in ihrem Auto ein großes "A" zur Dokumentation ihres "A"usreisewillens angebracht hatten. Teilweise ist darüber hinaus der damals nicht nur angesichts der niedrigen Löhne und des geringen Plastikpreises mit 15.500 Euro unverhältnismäßig teuer bezahlte Trabi als Tatwerkzeug eingezogen worden, auf dessen Zuteilung man 13 bis 15 Jahre hatte warten müssen. Fall (59. Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft 13. August e.V. vom 02.03.1984) "Am 01.04.81 versuchte ich [Henry Leuschner; der Verf.] mit meinem Freund Peter Dietz in der Nähe von Plauen in die Bundesrepublik zu flüchten. Zwei Zäune hatten wir bereits überwunden, als ich am letzten Zaun eine Selbstschußanlage auslöste. Die mit dieser Anlage verschossenen Metallteile haben nach Meinung von Ärzten die Wirkung von Dum-Dum-Geschossen, wie sie in der Haager Landkriegsordnung verboten sind. Entgegen ihrer Unterschrift unter dieses Abkommen verwendet die DDR aber trotzdem diese Anlagen, obwohl die Metallstücke beim Getroffenen unnötige Qualen und Leiden hervorrufen. Mein Freund hatte 8 Streif- und Durchschüsse, ich 22. Ein Geschoß ging durch die Brust, ein weiteres streifte meinen Kopf, ein anderes zerriß die Schlagader am Unterarm, weitere zerfetzten die linke Wade. Meinem Freund gelang es, Arm und Beine abzubinden. Man ließ uns 20 Minuten liegen, obwohl Grenzsoldaten bei der Gerichtsverhandlung aussagten, daß sie den Explosionsknall gehört hatten und sofort alarmiert worden waren, daß die Selbstschußanlage losgegangen war. Als man uns abtransportieren wollte, schoß ein Grenzer, obwohl ich wehrlos und bewegungslos am Boden lag, noch einmal auf meine Beine. Durch die Schwere der Verletzungen hatte ich nur sehr geringe Überlebenschancen. Obwohl mich die Ärzte im Krankenhaus Plauen, wohin man mich gebracht hatte, für transportunfähig erklärten, wurde ich mit einem Hubschrauber in das Regierungskrankenhaus nach Berlin (Ost) geflogen. Die Operation dauerte mehrere Tage. Trotz der Verletzungen wurde ich ständig Verhören unterzogen, teilweise sogar kurz nach der Operation. Mein Freund wurde wegen versuchter Republikflucht zu 2 Jahren und 8 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, ich erhielt 1 Jahr und 9 Monate. Als ich Mithäftlingen meine Schußverletzungen zeigte, wurde ich in ein anderes Gefängnis verlegt und erhielt die ganze Zeit Einzelhaft, weil ich angeblich versucht hätte, Propaganda zu betreiben. Nach meiner Haftentlassung nahm ich sofort Kontakt mit meinen früheren Freunden auf, die sich teilweise der Jenaer Friedensbewegung angeschlossen hatten. Seit meinem ersten Ausreiseantrag waren inzwischen vier Jahre vergangen und durch die Schußverletzungen hatte ich keine Hoffnungen mehr, die DDR verlassen zu dürfen, weil die DDR-Behörden niemanden rauslassen, der durch Vorzeigen seiner Wunden nachweisen kann, mit welchen Mitteln die DDR versucht, die Flucht ihrer Bürger zu verhindern. Im April 1983 stellte ich mich mit 11 weiteren Personen bei einem Diplomatentreffen in Jena in die Reihen der auf dem Platz angetretenen Schulkinder und `Jungen Pioniere'. Die meisten von uns hatten weiße, leere Plakate bei sich, was von den Diplomaten sehr gut verstanden wurde. [Die `Weißen Kreise' der von dem Staat verfolgten autonomen Friedensbewegung hatten ihren Namen daher, daß sich ihre Mitglieder auf öffentlichen Plätzen - ohne etwas zu sagen - in weißer Kleidung trafen und während einer Schweigeminute weiße Kerzen anzündeten, um so für den Frieden zu demonstrieren, den die DDR auch propagierte. Manche Mitglieder trugen statt der Kerzen leere(!) weiße Plakate; der Verf..] In den folgenden Wochen trafen wir uns regelmäßig auf dem Platz der Kosmonauten, um dort unseren Ausreisewillen zu bekunden. Mit 19 weiteren Personen entschloß ich mich, einen Brief an Erich Honecker zu schreiben, um unseren Ausreisewillen zu bekräftigen. Bevor wir uns zu der Unterzeichnung des Briefes treffen konnten, wurden wir verhaftet. 6 Personen wurden nach 24 Stunden wieder freigelassen, 14 erhielten Haftstrafen zwischen 3 Monaten und 2 Jahren wegen "Beeinträchtigung der Behörden". Inzwischen wurden bis auf Norbert Hackel alle Betroffenen aus der Haft entlassen und in die Bundesrepublik abgeschoben."

kein Unrecht verwirklicht hatte. Die BGH-Richter wollten die genial einfach formulierte Volksliedgut-Weisheit: "Die Gedanken sind frei!", nicht gelten lassen. Und Pfeffer zu kaufen, ist auch nicht strafbar. Trotz Vorliegens einer bloßen Vorbereitungshandlung wurde dem verhinderten Räuber der selbst beim Vorliegen einer unmittelbar angesetzten Deliktsverwirklichung vom Gesetzgeber in § 24 StGB angeordnete Straftatausschließungsgrund des Rücktritts genommen, obwohl er eben noch nicht zur Deliktsverwirklichung unmittelbar angesetzt hatte! Dazu hätte ja wenigstens der als Opfer auserkorene Geldbote auf der Bildfläche erscheinen müssen. Ein glattes Fehlurteil!

600

Fall (ebenfalls 59. Pressekonferenz der AG "13. August" e.V.) "Falk Winkler und ein Freund erhielten eine 15monatige Gefängnisstrafe wegen `Herabwürdigung und staatsfeindlicher Hetze', weil sie eine Bildcollage angefertigt hatten, die zeigte, wie sie angeblich dem Staatsratsvorsitzenden Honecker die Hand reichten. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, daß sie das Gespräch mit den in der DDR verantwortlichen Politikern suchen, um ihre Probleme darlegen zu können. Nach seiner Haftentlassung schloß sich F. Winkler der Dresdner Friedensbewegung an. Daraufhin bekam seine Frau Schwierigkeiten in ihrem Beruf als Ballettänzerin. Man verlangte von ihr, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, weil sie sonst nicht ihren Beruf weiter ausüben dürfte und keine weiteren Engagements mehr erhielte. Daraufhin ließen sich beide scheiden, lebten aber weiterhin zusammen. Nach einer weiteren Haftstrafe von 4 Monaten für einen Sitzstreik im Zimmer des für die Entgegennahme von Ausbürgerungsanträgen zuständigen Beamten, der die Entgegennahme verweigert hatte, wurde F. Winkler allein in die Bundesrepublik abgeschoben." Das Hamburger Abendblatt berichtete in der Rubrik „Menschlich gesehen“ (HH A 08.08.01) über den Losverkäufer auf dem Hamburger Dom A. Pätzold: „... Aber weil er seit Anfang der 70er Jahre regelmäßig versucht hatte, in den Westen zu flüchten, musste er immer wieder ins Gefängnis. Selbst seine Frau, die er 1983 heiratete, mußte er verlassen. ‘Als unsere Tochter Marina geboren wurde, zwangen sie uns zur Scheidung. Sonst wäre das Kind bei Pflegeeltern aufgewachsen.‘ ...“ Anmerkung hierzu: Art. 38 I Verf-DDR lautete: "Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter besonderem Schutz des Staates. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Ehe und Familie." Art. 24 S. 1 u. 2 Verf-DDR lautete: "Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation." Erinnert sei zur Abrundung an den Fall der Bildkollage aus der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Kriegsdienstverweigerung. Davon abgesehen, dass Diktaturen prinzipiell humorlos sind - 3 Jahre Haft für jemanden, der in der DDR einen politischen Witz erzählt hatte, 8 Jahre Haft in sowjetischen Lagern in der DDR und in Zuchthäusern für die damals 14-jährige Erika Riemann, die in der DDR auf einem Stalin-Bild mit einem Lippenstift dem Bart des Diktators eine Schleife hinzugefügt hatte21 -, war die Kollage aus der DDR völlig harmlos, die aus der Bundesrepublik dagegen eine verunglimpfende Sauerei. Fall (STERN 21/84) Ein Kriminalbeamter wurde von seinen Vorgesetzten aufgefordert, seinen Dienst zu quittieren. Grund: Die Eltern(!) seiner Lebensgefährtin(!) waren ins Rentenalter gekommen und hatten den Wunsch geäußert, die Bundesrepublik zu besuchen(!)." Fall (Die Zeit 22.12.78): "Untaugliche Verfassung `Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.' So steht es in Art. 27 I 1 der DDRVerfassung. Ein junger Bürger aus Görlitz, der 21jährige Uwe Reimann, hat dies und nichts anderes getan. Er verfaßte Flugblätter, in denen er die Einführung des Wehrkundeunterrichts an den Schulen kritisierte. Damit äußerte er seine Meinung. Und er verteilte diese Flugblätter in Hausbriefkästen. Damit machte er seine Meinung öffentlich. Wegen dieser öffentlichen Meinungsäußerung hat nun das Dresdner Bezirksgericht Uwe Reimann zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt, wegen `staatsfeindlicher Hetze', wie es heißt. Hat Reimann vielleicht seine Meinung nicht `den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß' geäußert, so daß ihm ein derart dicker Strick gedreht werden konnte? In der Verfassung heißt es in Art. 6 V: `Militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- oder Völkerhaß werden als Verbrechen geahndet.' Da findet offensichtlich die 21

Riemann, Erika: Die Schleife an Stalins Bart, Hamburg 2003

601

Meinungsfreiheit ihr Ende. Aber Reimann hatte ja nicht militaristische, sondern antimilitaristische Propagandazettel verteilt, also ganz im Sinne der Verfassung gehandelt. Der junge Mann aus Görlitz war ehrenamtlich im Evangelischen Jungmännerwerk tätig. Haben ihn die Staatsorgane vielleicht verurteilt, weil er seine Motive religiös begründete und Meinungen, die von der Evangelischen Kirche der DDR schon vor Monaten ungestraft öffentlich von der Kanzel verkündet wurden, auf seine Weise weiterverbreitete? Die Einführung des Wehrkundeunterrichts war für Reimann wie für seine Kirche vor allem eine Gewissensfrage. In der DDR-Verfassung steht aber in Art. 20 I 2: `Gewissens- und Glaubensfreiheit sind gewährleistet.' Die Kirchenleitung in Görlitz hatte sich bereiterklärt, für das Verfahren, das unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand, einen Rechtsanwalt zu stellen. Reimann aber wollte den Anwalt von seinen eigenen Ersparnissen bezahlen. Er hätte sich das sparen können. Ein Anwalt, der nicht einmal die Einhaltung der Verfassung vor Gericht durchsetzen kann, ist sein Geld nicht wert. Und eine Verfassung, welche die Rechte eines Bürgers nicht schützt, taugt auch nichts." Anmerkung hierzu: Art. 19 I 1 Verf-DDR lautete: "Die Deutsche Demokratische Republik garantiert allen Bürgern die Ausübung ihrer Rechte ... ." Fazit: Es bedeutete für den unrechtmäßig Verurteilten keinen Unterschied, ob ihm im Namen oder Geiste des Führers oder der Arbeiterklasse Unrecht getan wurde, auch wenn dafür dann der Name des Volkes missbraucht worden ist. Wenn im Namen des Führers oder der Arbeiterklasse von den Richtern aus ideologischen Gründen heraus Unrecht geschah, und das war in Prozessen mit politischem Hintergrund und Gehalt stets der Fall, dann war der Irrtum meist systembedingt, und auf eine Änderung im nächsten Urteil war nicht zu hoffen. Da waren die Richter dann Überzeugungstäter - was sie bei ihren Angeklagten als Uneinsichtigkeit geißelten. Das brachte 1989 in den von der „Heldenstadt Leipzig“ ausgehenden Montagsdemonstrationen in allen größeren Städten der DDR Zehntausende auf die Straße, weil ihnen fast ein halbes Jahrhundert lang ihr vornehmstes Bürgerrecht, darüber zu bestimmen und zu entscheiden, wer in ihrem Namen staatliche Gewalt kontrolliert und zeitlich begrenzt legitim auszuüben berechtigt sein soll, durch die SED, deren Geheimdienst MfS und die Besatzungstruppen des „Brudervolkes“ UdSSR beraubt worden waren. Und es brachte das SED-System zum Einsturz: Was lange gärt, wird endlich Wut! Nach der Solidarnosc-Bewegung in Polen und dem von Gorbatschow eingeleiteten Umbau der UdSSR und der damit einhergehenden Verunsicherung der SED-Kader gab es plötzlich die Chance der Demonstrationsfreiheit, der „Pressefreiheit des kleinen Mannes“, und die wurde genutzt. Der meiner Meinung nach tiefste Grund für das Scheitern der DDR lag - neben den systembedingten wirtschaftlichen Schwierigkeiten - darin, dass es - von bürgerlichen Zivilrechtsstreitigkeiten abgesehen - an Rechtsstaatlichkeit letztlich völlig mangelte. Ungehemmt waren Recht und Freiheit zertreten worden. Dafür wurden diejenigen, die nicht aufbegehrten, umsorgt, wodurch sich in großen Teilen der Bevölkerung eine „Vollkasko-Mentalität“ ausbildete. Die FAZ formulierte: „Die vormundschaftliche Wärme des SED-Staates ist durch die Verwesung persönlicher Freiheit entstanden.“

4 Ideologiebedingtes Geschichts-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis 4.1 Aus der Verfassung der DDR ersichtliches kommunistisches Gesellschaftsverständnis

602

Aus der Verfassung der (Ex-) DDR ersichtliche s kommunisti sches Gesellschaf tsverständn is

Die in den vorstehenden Beispielsfällen zum Ausdruck gekommene Haltung der DDR gegenüber ihren kritischen Bürgern wurzelte in ihrem Geschichts-, Rechts- und Klassenverständnis, dem ideologischen Überbau nach der marxistisch-leninistischen Theorie. Danach lief jede gesellschaftliche Entwicklung, folglich auch die unsere, unentrinnbar auf den kommunistischen Endzustand zu. Nach dem Zusammenbruch der inzwischen real untergegangenen kommunistischen Systeme fast überall in der Welt braucht über den Unsinn dieser These nicht mehr gestritten zu werden. Aber von diesem Gesellschaftsverständnis legte die Verfassung der DDR ein beredtes Zeugnis ab, wenn man ihren Wortlaut genau seziert. Das soll auch nachfolgend mit einigen ihrer Bestimmungen getan werden, um aufzuzeigen, wie man mit juristisch gedrechselten Formulierungen seine Ziele verdecken kann. U.a. wegen dieses Lerneffekts lohnt sich ein nachträglicher Blick auf diese das Volk unterdrückt habende Verfassung, wie ja aus diesem Grund auch aufgezeigt worden war, wie die Nazis das deutsche Volk juristisch unter Kuratel gestellt und seiner Rechte beraubt hatten. Formal war alles fast immer in Ordnung gewesen. Auf den rechtsstaatlich-demokratischen Anstrich hatte man immer sehr viel Mühe verwandt. Man glaube aber nie dem demokratischen Anschein des ersten Blicks! Das wäre auch nur ein jederzeit widerlegbarer „Prime-faciesBeweis“ (Beweis des ersten Anscheins), wie er im Zivilrecht zum Tragen kommt. Auch wenn sich die DDR im Staatsnamen "demokratisch" nannte, so handelte es sich dabei doch nur um eine "Volksdemokratie" der hinlänglich berüchtigten Art, in der vom Staat begangene Verbrechen bis hin zum kaltblütigen Mord zum Herrschaftssystem gehörten. Es sollen hier nicht alle Kommunisten über einen Lenin geschlagen werden, denn von der durch Rechtsradikale 1919 in Berlin ermordeten Kommunistin und Mitbegründerin der KPD Rosa Luxemburg stammt das programmatische Wort: "Freiheit ist immer die des Andersdenkenden!" Doch war dieses Gedankengut nie oder jedenfalls nicht längere Zeit Realität geworden, wenn Kommunisten durch eine Revolution an die Macht gekommen waren. Es wurde dann die Ideologie der jeweiligen Staatspartei ungeniert zum für alle verbindlichen Sittengesetz erhoben. Kritische Meinungen Andersdenkender sind trotz Schutz versprechender Grundrechte von den unterschiedlich ausgeprägten kommunistischen Systemen immer unterdrückt worden, weil sie von dort als Bedrohung des eigenen Herrschaftsanspruchs gewertet worden sind. Darum gab es in kommunistischen Staaten u.a. keine Opposition - oft nicht einmal eine innerparteiliche "Fraktion" -, keine freien und geheimen Wahlen mit der Chance zum Machtübergang auf eine andere politische Gruppierung - obwohl Dubcek das in der CSSR im "Prager Frühling" 1968 hatte versuchen wollen; deswegen war er ja auch durch Einmarsch der sowjetischen Kommunisten unter Mithilfe der "Brudervölker" wie der DDR in die CSSR gestürzt worden - und keine Gewaltenteilung in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt mit weitgehenden gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten ("balance of power"). So war es auch in der DDR gewesen.

4.2 Untersuchung ausgewählter Artikel der DDR-Verfassung 4.2.1 Führungsanspruch der SED mit Verfassungsrang festgeschrieben; keine Chance zum Machtwechsel Die Verfassung der DDR hatte in Art. 1 I bestimmt: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."

603

Führungsan spruch der SED mit Verfassung srang festgeschrie ben; keine Chance zum Machtwech sel

Diese Formulierung schloss einen Machtwechsel aus. Der Führungsanspruch der SED war so mit Verfassungsrang festgeschrieben worden. Parteistatut und Programm der SED hatten dadurch indirekt ebenfalls Verfassungsrang erhalten. Eine Chance zum Machtwechsel - ein demokratisches Fundamentalprinzip - war nicht möglich gewesen. Nie hatte es unter der Herrschaft der SED in der DDR freie Wahlen gegeben. Das war mit der Bildung der Einheitsliste und dem vor den Wahlen von vornherein festgelegten Schlüssel der Mandatsverteilung zu Gunsten der SED und ihrer Massenorganisationen verhindert worden. Die als bloßes „Stimmvieh“ für einen demokratischen Anstrich missbrauchten Bürger sprachen selber vom „Faltengehen“, dem Einwerfen des durch kein Kreuzchen veränderten, nur noch gefalteten Stimmzettels in die Wahlurne. Wer die Wahlkabine betrat, machte sich verdächtig, wer - weil er sich zu schade für diese Wahlfarce war - nicht wählte, entlarvte sich als Staatsfeind und konnte so die Zukunftschancen seiner Kinder in diesem Staat gegen Null bringen. 22 Und passte das Wahlergebnis trotz faktischen Zwanges zur offenen Stimmabgabe dann noch immer nicht in das vorgegebene Bild, so wurde es durch Wahlfälschungen zurechtgelogen. Nach Aussage des ehemaligen Dresdner Oberbürgermeisters Berghofer in seinem Wahlfälscher-Prozess ist unter der Herrschaft der SED seit 1950 jede(!) Wahl in der DDR gefälscht worden! "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ...!", hatte schon im August 1841 der Dichter A. H. Hoffmann gefordert, der sich gerne nach seinem Geburtsort "von Fallersleben" nannte, vielleicht weil der Anklang an ein Adelsprädikat einen Dichter so schön schmückt. (Näher soll an dieser Stelle aber nicht auf das Namensrecht eingegangen werden; nur zum Vergleich: Dr. jur. Heinrich Heine von Düsseldorf?)

4.2.2 Wahlen nach demokratischem und nach "volksdemokratischem" Verständnis Wahlen nach demokrat ischem und nach »volksde mokratis chem« Verständ nis

Nach bürgerlichem Demokratieverständnis sind Wahlen Zahltage: Es werden Rechnungen beglichen und neue Kredite ausgegeben - eventuell an die Konkurrenz. Nicht so in "Volksdemokratien". „Volksdemokratien“ haben zu freien Wahlen ein Verhältnis, wie die Inquisition zu den von ihnen geglaubten Hexen: Wie die Inquisition der Hexerei verdächtigte Frauen für Teufelswerk hielt und auszurotten trachtete, so hielten und halten angebliche Volksdemokratien freie Wahlen für Teufelswerk, das es mit allen Kräften zu bekämpfen gilt. So auch die SED in ihrem Herrschaftsbereich: Alle Tricks, die für Manipulationen angewandt werden können, wurden angewandt. Und wenn das immer noch nicht reichte, um an 99 % angeblicher Zustimmung zum Herrschaftssystem der Parteidiktatur der SED heranzukommen, dann wurde das Ergebnis gnadenlos gefälscht, bis es dem in zu erreichenden Prozent angeblicher Zustimmung vorgegebenen Wunschbild der Parteiführung entsprach. Nach Aussage des ehemaligen Dresdner Oberbürgermeisters Berghofer in seinem Wahlfälscher-Prozess ist seit 1950 jede(!) Wahl in der DDR gefälscht worden! Und nicht nur von ihm! "Berghofer: SED befahl die Wahlfälschung dpa Dresden. Der frühere SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer hat am ersten Prozeßtag vor dem Bezirksgericht Dresden gestanden, die Ergebnisse der DDR-Kommunalwahl im Mai 1989 gefälscht zu haben. Der 48jährige betonte jedoch, er habe auf Weisung der Partei gehandelt. Dabei beschuldigte er unter anderem den damaligen SED-Bezirkschef Hans Modrow und den Mitangeklagten, den früheren 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Werner Moke. Den Angeklagten wird vorgeworfen, die Zahl der Gegenstimmen bei der letzten Kommunalwahl vor der Wende von tatsächlich zwölf auf 2,5 Prozent gesenkt zu haben. Gleichzeitig sei die Wahlbeteiligung um acht auf 98 Prozent heraufmanipuliert worden. ... Nach seiner Darstellung war am Abend vor der Wahl in einer Beratung mit Modrow, Moke und einem anderen Funktionär entschieden worden, wie das Ergebnis auszusehen habe. ..." (Harburger Anzeigen und Nachrichten 08.01.92) "Modrow angenehm überrascht rtr/afp Dresden - Das Dresdner Landgericht hat den PDS-Bundestagsabgeordneten und früheren Bezirkschef von Dresden, Hans Modrow, wegen Anstiftung zur Wahlfälschung verurteilt und verwarnt. Die 3. Große Strafkammer befand Modrow gestern für schuldig, am 7. Mai 1989 Manipulationen am Ergebnis der DDR-Kommunalwahlen veranlaßt zu haben. ... Auch seine drei Mitangeklagten ... wurden mit der mildestmöglichen Strafe der Verwarnung belegt. 22

Der Pfarrer von Buckow berichtete mir 1969, dass seinem Sohn die Zulassung zur Erweiterten Oberschule (EOS), der damals einzigen Möglichkeit, das Abitur zu machen und dann studieren zu dürfen, mit der Begründung verweigert worden war: „Dein Vater hat bei der letzten Volkskammerwahl nicht seine Stimme (für die Einheitsliste) abgegeben.“

604

Alle vier erhielten zudem Geldstrafen, die für ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt sind, und müssen innerhalb eines halben Jahres Bußen an eine gemeinnützige Organisation zahlen ... Die Schuld Modrows und seiner Mitangeklagten liege "an der unteren Grenze", sagte Richter Rainer Lips in der Urteilsbegründung. Sie seien Täter und Opfer zugleich gewesen. Nach Ansicht der Kammer hatte sich Modrow bei der SED-Spitze in Berlin vor der Wahl um `reale Ergebnisse' bemüht. Diese seien ihm aber verwehrt worden. Aus Dokumenten ergebe sich, befand das Gericht, `der deutliche Beleg, daß von ganz oben eine Wahlfälschung angeordnet worden ist'. Am Wahltag habe unter den Angeklagten Einigkeit geherrscht, `daß manipuliert werden mußte, um die Vorgaben der Zentrale zu erfüllen'. Es habe unter den Angeklagten die Überzeugung vorgeherrscht, `nicht an falscher Stelle den Helden zu spielen'. Modrow, der spätere DDR-Ministerpräsident, sei bereits vor den Kommunalwahlen in die Schußlinie des SED-Politbüros geraten. Der Richter sagte, das Gericht sei dem Urteil gegen den früheren Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer gefolgt. Die Strafzumessung habe aber `größtes Kopfzerbrechen' bereitet. Es könnten nicht heutige Maßstäbe an gestrige Verhältnisse angelegt werden. Berghofer war 1992 wegen Fälschung der Kommunalwahlen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden. Diesen Urteilsspruch haben inzwischen der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Mit seinem Urteil blieb das Gericht weit unter den Strafanträgen der Staatsanwaltschaft, die Haftstrafen beantragt hatte. Staatsanwalt Ulrich Meinerzhagen kündigte Rechtsmittel gegen das Urteil an. Die Verteidigung hatte Freisprüche verlangt. Modrow zeigte sich angenehm überrascht von dem Urteil. Die Verwarnung ist keine Vorstrafe. Der PDS-Ehrenvorsitzende wurde vor dem Gerichtsgebäude von einer jubelnden Menge mit roten Nelken und Kampfliedern wie der Internationalen begrüßt." (HH A 28.05.93) Es gibt immer Leute, die nichts dazulernen, weiter kommunistische Kampflieder singen und die in PDS umbenannte SED-Nachfolgerin wählen werden! Der BGH hat das - im Vergleich zu den Urteilen aus den anderen Wahlfälscherprozesse - zu milde Urteil nicht bestätigt, sondern aufgehoben. Es musste ein »gerechteres« Urteil gefunden werden.

Schon vor der Gründung der DDR am 07.10.1949 war auf der 22. Tagung des Parteivorstandes der SED am 04.10.1949 gefordert worden, nur noch Einheitslisten mit (genauem, vorher festgelegtem) Verteilungsschlüssel zuzulassen. Gerhart Eisler forderte: „... wenn wir eine Regierung gründen, geben wir sie niemals wieder auf, weder durch Wahlen noch andere Methoden.“ Das anhaltende mangelnde Demokratieverständnis der die DDR regiert habenden SED-Kommunisten hatte später ihr Chef-Agitator „Schluder-Ede“ Karl-Eduard von Schnitzler anlässlich der Volkskammerwahl 1968 auf die Formel gebracht: "Mit unserer Opposition setzen wir uns nicht in den Parlamenten und an den Wahlurnen auseinander, sondern vor den Gerichten unserer sozialistischen Justiz." "Ihr seid mir ja scheene Demokraden!", hatte der sächsische König 1918 nach seiner erzwungenen Abdankung gesächselt, als ihn das Volk bei seinem Weggang mit Ovationen verabschiedete. Der Satz galt, wenn man es sehr zurückhaltend charakterisieren will, bei solchen dokumentierten Ansichten wie der des Chef-Agitators der SED auch für die Schein-Demokraten der Volksdemokratien. Für eine schärfer formulierte Beurteilung der in dem vorstehenden Ausspruch des SED-Agitators zum Ausdruck kommenden Demokratiedefizite des SED-Staates kann auf das Wort des in dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ sicher nicht vollständig publizierten „ArbeiterDichters“ Frank Wedekind zurückgegriffen werden: „Wer das freie Wort nicht ohne Zittern mehr vernehmen kann, Stellt sich hinter die Kanone Und davor den Untertan.“ Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit ohne ein „Gesinnungsversammlungsverbot“ und das Recht auf allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen sind für eine Demokratie, die diesen Namen verdient, sich gegenseitig bedingende unverzichtbare existentielle Rechte. Auf die Qualität einer Regierung wirkt nur die Bedrohung ihrer Existenz durch eine zu sofortiger

605

Machtübernahme auf Zeit bereite Opposition und die Möglichkeit des Machtentzugs durch den Wähler. Nur so können gravierende Fehlentwicklungen vom Entscheidungssystem her verhindert werden. Kaum überspitzt formuliert ist kommunistische Herrschaft somit institutionalisierter Irrtum. „Von was für Pfeifen haben wir Pfeifen uns regieren lassen!“, stellte nachträglich Jens Reich, der ostdeutsche Gegenkandidat zu Roman Herzog bei der Bundespräsidentenwahl, fest, als die stündliche Bedrohung durch das MfS nach dem Untergang der DDR abgeschafft war; so denkt man im Nachhinein auch von den Primitivlingen des Nationalsozialismus, aber in der aktuellen Situation ging von solchen Kreaturen eine Freiheits- oder Überlebensgefährdung aus. Das auf ihrer politischen Geheimpolizei MfS als „Schild und Schwert der Partei“ aufgebaute Herrschaftssystem der SED hatte diese den anderen deutschen Staat regierenden „Pfeifen“ hervorgebracht und deren Macht zementiert. Diktaturen organisieren den Jubel - Demokratien die Möglichkeiten zu Kritik und Machtwechsel durch Wahlen. Diese Möglichkeiten prinzipiell offen zu halten und zu kanalisieren fällt in den Bereich des Verfassungsrechts. Dort werden die Grundentscheidungen für die rechtliche Ausgestaltung des jeweiligen Staatswesens getroffen. Darum sind verfassungsrechtliche Fragen immer auch Machtfragen! Das Anliegen der SED war es nun gerade, aus Gründen des Machterhaltes freie Wahlen mit der Gefahr eines Machtwechsels zu verhindern. Darum war in Art 1 I Verf-DDR der Führungsanspruch der SED ganz bewusst festgeschrieben worden.

4.2.3 Trotz offenen Wortlauts Grundrechte nur in den engen Grenzen kommunistischer Ideologie Grundrecht e nur in den engen Grenzen kommunisti scher Ideologie

Auch in der Verfassung der DDR waren, wie im Grundgesetz, Glaubens- und Gewissensfreiheit vom Wortlaut (aber nicht von der Realität) her ohne Einschränkung gewährt worden. Doch die beispielhafte Fallsammlung zu Anfang des Kapitels zeigte, dass es damit nicht weit her war. Ein weiteres Beispiel für die Behinderung der Glaubens- und Gewissensfreiheit war die für alle Männer bestehende generelle Verpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes. Eine wie problematisch auch immer geregelte Möglichkeit zur Ableistung eines Zivildienstes gab es unter der Herrschaft der SED nicht. (In diesem Punkt bestand kein Unterschied zur Demokratie der Schweiz, die erst seit den 80erJahren eine Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen sehr zögerlich eröffnet hat. Bis dahin war - jedenfalls offiziell - der Standpunkt vorherrschend: Wer den Schutz der staatlichen Gemeinschaft genießen wolle, müsse seinen eigenen Beitrag dazu leisten und durch seinen Wehrbeitrag die Abwehrbereitschaft des Staates stärken.)

4.2.4 Meinungs-, Versammlungs- und Redefreiheit in der DDR als Verfassungstheorie und in der Verfassungswirklichkeit Meinungsund Versamml ungsfreihei t in der DDR

Viele andere Grundrechte standen in der DDR unter einem ganz spezifischen verfassungsmäßigen Vorbehalt. Exemplarisch seien die vom BVerfG als "für eine Demokratie schlechthin konstitutiv" angesehenen Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit herausgegriffen und ihre Regelung in der Verfassung der DDR näher untersucht. Hierdurch wird dann die juristische Aufarbeitung der Eingangsfälle dieses Kapitels möglich. "DDR-Systemkritiker zu einem Jahr Haft verurteilt BERLIN, 8. März (Reuter). Ein Ostberliner Gericht hat nach Angaben aus Herausgeber einer Untergrund-Zeitschrift, André Theil, zu einem Jahr Haft Dienstag in Ost-Berlin weiter bekannt wurde, erging das Urteil schon vorige zusammen mit dem Fernmeldemechaniker Peter Scharf (32) auf dem Hof der kirche Flugblätter mit der Forderung nach völliger Pressefreiheit in der DDR dafür zu zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden." (FAZ 09.03.88)

Kirchenkreisen den verurteilt. Wie am Woche. Theil hatte Ost-Berliner Zionsverteilt. Scharf war

Art. 27 Verf-DDR „(1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. (2) Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet."

606

Angeblich verfassungsrechtlich garantierte Redefreiheit in einem Staat, der seinen Bürgern nach 20-jähriger anders verlaufener Praxis Anfang der 70-er Jahre verbot, seine eigene Hymne zu singen, weil es - dummerweise für die SED - darin hieß: „Deutschland, einig Vaterland.“ In Büchern wurde nur noch die Vertonung abgedruckt, aber nicht mehr der Text Der verschwand einfach! Und das mehr als ein Jahrzehnt vor dem Jahr der Orwell’schen Vision „1984“. Für einen Staat mit einem solchen nicht ernst zu nehmenden Verständnis von Redefreiheit ist es dann nicht mehr erstaunlich, dass es keine andere als die SED- und damit Staatsmeinung in den Massenmedien der DDR zu z.B. dem Truppeneinmarsch der fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR 1968 und den Überfall der UdSSR auf Afghanistan 1979 gegeben hatte! Auch wenn die eigene Nationalhymne wegen der den politischen Machthabern anstößigen Zeile nicht mehr gesungen werden durfte, so war sie doch nicht vergessen, denn auf den Leipziger Montagsmärschen wurde 1989 aus: „Wir sind das Volk!“, ganz schnell der für den Machtanspruch der Nomenklatura noch viel bedrohlichere Ruf: „Wir sind ein Volk!“ Pressefreiheit gab es trotz ihrer ausdrücklichen Proklamation in der Verfassung des "Arbeiter- und Bauernstaates" nicht: So wurden z.B. Kirchenzeitungen ständig der Zensur unterworfen. Absätze oder ganze Artikel mussten immer wieder gestrichen werden, um in den staatlichen Druckereien eine Druckerlaubnis und als zweite Sicherungsmaßnahme gegen die in der Verfassung garantierte Pressefreiheit - die erforderliche Papierzuteilung zu erhalten. Für ein staatliches Druckverbot der SED-Regierung genügte z.B., dass ein Bischof von einem Redakteur mit dem Satz zitiert worden war, die DDR benötige einen Sozialismus "mit menschlichem Antlitz". Im März 1988 wurde sogar das Erscheinen der sowjetischen Zeitschrift "Neue Zeit" für drei Monate verhindert, im November 1988 die Verbreitung der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" wegen ihrer angeblich verfälschenden Darstellung der von Stalin zu verantwortenden Verbrechen verboten. Die Freiheit der Presse wurde entgegen der Verfassung also nicht nur gegenüber inneren und äußeren deutschen „Staatsfeinden“ eingeschränkt, sondern auch gegenüber politisch missliebigen Pressepublikationen des "sowjetischen Brudervolkes", das in einigen seiner eigenen Zeitschriften innerstaatlich mit den Verbrechen des Führers ihres eigenen Volkes abgerechnet hatte. Das war Pressefreiheit à la DDR. Dabei hieß die offizielle Propaganda jahrzehntelang immer: "Von der Sowjetunion lernen heißt: siegen lernen!" Ähnlich rigide handhabte die SED die vorgebliche Meinungs-, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit. Wir hatten schon an den Beispielen der "Weißen Kreise" und der Behandlung ihrer Mitglieder durch das MfS gehört, wie wenig ernst die Machthaber und ihre "Organe" die von ihnen zu verantwortende Verfassung genommen hatten. Dort hatte nämlich gestanden: Art. 28 Verf-DDR „(1) Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (2) Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur unbehinderten Ausübung dieses Rechts, der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet." Art. 30 Verf-DDR „(1) Die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik ist unantastbar. (2) Einschränkungen sind nur im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen oder einer Heilbehandlung zulässig und müssen gesetzlich begründet sein." Die juristische Delikatesse in der Formulierung des Art. 27 Verf-DDR bestand in den Worten: "... den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß ...", und in Art. 28 Verf-DDR lautete der verfassungsmäßige Vorbehalt bei der eingeschränkten Gewährung der Grundrechte: "... im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung ..." Eine schon durch die Verfassung selbst vorgesehene Einschränkung von Grundrechten ist nicht unüblich. Auch das Grundgesetz gewährt die meisten Grundrechte unter einem sogar nur einfachgesetzlichen Vorbehalt. Ein nicht mehr ganz aktuelles Beispiel für eine nachträgliche, nicht nur einfachgesetzliche, sondern sogar verfassungsrechtliche (mindestens faktische) Einschränkung eines Grundrechts ist der Parteienkompromiss um die Änderung des in Art. 16 GG bisher auf Grund der Verfolgungen Unschuldiger durch das NS-Regime bislang

607

schrankenlos geregelten Asylrechts durch den neu hinzugefügten Artikel 16 a GG.

4.2.5 Verfassungsrechtliches System als Unterdrückungsinstrument gegen Oppositionelle Verfassung srechtliches System als Unterdrück ungsinstrument gegen Opposition elle

Das Besondere an der Formulierung der DDR-Verfassung war aber, dass durch diese Verfassung keine Meinungsvielfalt und damit keine pluralistische Gesellschaft garantiert worden war. Bei der Interpretation solcher einschränkenden Formulierungen wie in den Artikeln 27 und 28 Verf-DDR musste immer Art. 1 VerfDDR mitgelesen und mitgedacht werden. Weil dort die unveränderbare sozialistische Staatsausrichtung unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen (Kader-)Partei bei der Neuformulierung der Verfassung 1968 festgeschrieben und in die zuletzt gültige Überarbeitung von 1974 übernommen worden war, handelte es sich im Gegensatz zum Grundgesetz nicht um eine politischen Entwicklungen gegenüber offene Verfassung. Die teilweise unverfänglich klingenden Formulierungen über die angebliche Gewährung von Grund- und Menschenrechten erfuhren ihre Relativierung bis zur Aufhebung durch ihre Einbettung in den Gesamtzusammenhang der kommunistischen Ideologie. Das Grundgesetz gestattet, für den Kommunismus zu demonstrieren, unsere Polizei gestattete es vor der Wiedervereinigung manchmal nicht. Sie wurde aber in solchen Fällen durch die Verwaltungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht belehrt, was rechtens ist. In der DDR ergaben sich 40 Jahre lang so gut wie keine Probleme, wenn man dort für den Kommunismus demonstrierte, auch nicht mit den "Organen" der uniformierten Polizei und dem Ministerium für Staatssicherheit. Als aber am 17.01.88 der Liedermacher Krawczyk, seine Frau Freya Klier, Wolfgang und Regine Templin, Bärbel Bohley, Werner Fischer und Ralf Hirsch, alle Mitglieder der "Initiative für Frieden und Menschenrechte", anlässlich einer Liebknecht-Luxemburg-Demonstration Transparente mit dem LuxemburgWort: "Freiheit ist immer die des Andersdenkenden!" im Festzug entrollten, wurden sie verhaftet und - vor die Alternative langjähriger Haftstrafe oder Ausbürgerung gestellt - nach abgenötigter Entscheidung ausgebürgert und in die Bundesrepublik abgeschoben. Wer aus Sympathie mit den Ausgebürgerten in einen Hungerstreik getreten war, ist ebenfalls verhaftet, ausgebürgert und abgeschoben worden. (Art. 19 IV Verf-DDR sah entgegen Artikel 9 der UNO-Charta der Menschenrechte den Entzug der DDR-Staatsbürgerschaft vor und überließ dessen nähere Ausgestaltung dem Gesetzgeber. Vergleiche aber dazu Art. 16 I 1 GG!) Das Grundgesetz gestattet aber auch, gegen den Kommunismus zu demonstrieren. Da gab es bei uns nie Probleme mit der Polizei und dem Verfassungsschutz. In dem Geltungsbereich der DDR-Verfassung war es aber nie gestattet, gegen den Kommunismus zu demonstrieren, nachdem es schon nicht gestattet war, mit ungenehmigten Parolen auf der Luxemburg-Demonstration für ihn zu demonstrieren. Diese - unsere Verfassung auszeichnende - Offenheit nach beiden Seiten kannte die DDR-Verfassung nicht. Es lebe der kleine Unterschied! In der DDR gab es demokratische Grundrechte und Rechtssicherheit im politischen Bereich nur für die, die jubelten oder sich zumindest angepasst verhielten. Wer kritiklos jubelte, empfand keine Ketten, und auch wer sich nicht rührte, spürte seine Ketten kaum. Der Bundestagsabgeordnete Keller (PDS/Linke Liste) in einem Redebeitrag im Bundestag: "Ich muß zur Kenntnis nehmen, Herr Eppelmann, daß Sie davon gesprochen haben, daß die DDR lebenslanger Knast gewesen ist. Wenn Sie das für sich und für viele, die Sie kennen, so einschätzen, nehme ich Ihnen das ab. Aber Sie und ich haben nicht das Recht, für alle zu sprechen. ... ich habe nicht im Gefängnis gelebt, und ich habe mich auch nie so gefühlt. ..." (Das Parlament 24.06.94) Eine Diktatur - nicht nur die des Proletariats - organisiert den Jubel, eine Demokratie, die diesen Namen verdient, wird u.a. durch den Ausspruch des französischen Philosophen Voltaire (1694 - 1778) gekennzeichnet:

608

"Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung, aber ich lasse mich dafür in Stücke reißen, daß Sie Ihre Meinung frei und ungehindert sagen können." Von dieser geistigen Toleranz waren die Machthaber der DDR Lichtjahrtausende entfernt. Die DDR-Bürger hatten zwar in Bezug auf das Recht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit theoretisch - eine leichte Besserstellung gegenüber den früheren obrigkeitlichen politischen Zuständen in Deutschland vor einigen Jahrhunderten erfahren. So hatte der Rat der Stadt Rothenburg 1778 verboten, in den Gasthäusern und auf den öffentlichen Plätzen über Angelegenheiten des Gemeinwesens zu diskutieren, "... wie es überhaupt und zu allen Zeiten unanständig und unzulässig ist, wenn Privat=Personen über Staats=Geschäfte und Begebenheiten freye, übereilte, unzeitige, auch zuweilen partheyische Urtheile zu fällen sich herausnehmen." Und der preußische Minister des Inneren hatte 1838 auf Beschwerden anlässlich der Entlassung der „Göttinger Sieben“ wegen ihres Professoren-Protestes gegen die Aufhebung der Verfassung des Königreichs Hannover aus ähnlich obrigkeitlichem Geist heraus geantwortet: „Es ziemt dem Untertanen, seinem König und Landesherren schuldigen Gehorsam zu leisten und sich bei der Befolgung der an ihn ergehenden Befehle mit der Verantwortlichkeit zu beruhigen, welche die von Gott eingesetzte Obrigkeit dafür übernimmt; aber es ziemt dem Untertanen nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermute ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben anzumassen.“ Die DDR-Bürger durften in der von der SED ständig, schon fast gebetsmühlenartig beschworenen „Einheit von Partei und Volk“ wenigstens auf den Straßen zusammenkommen und die weisen Beschlüsse der SED-Führung beklatschen, denn "die Partei, die Partei hat immer Recht", hieß es in einem kommunistischen Kampflied, das und andere - mit den Blauhemden der FDJ-Jugendorganisation zu singen sich der bundesrepublikanische Liedermacher Hannes Wader in beispielloser, schon ekelerregender Kritiklosigkeit nicht geniert hatte. Als nach eigenem Anspruch kritischer Linker hätte Wader aber erkennen müssen, dass eine kommunistische Partei immer beansprucht, alles jederzeit besser zu wissen, insbesondere besser als die von den jeweiligen Maßnahmen leidvoll direkt Betroffenen, „nach dem Motto: Auch wenn ihr’s nicht begreift, es dient doch nur euren Interessen, selbst wenn wir euch in den Hintern treten.“ So formulierte es rückschauend bekennend das ehemalige Politbüromitglied, der vom Saulus zum Paulus gewandelte Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, »Mauer-Öffner« Schabowski am 10.10.04 in der Reihe „Zeitzeugen“ der „Berliner Morgenpost“. Man durfte die Beschlüsse der Partei beklatschen. Doch selbst für etwas so Erstrebenswertes und Ideologiefreies wie für den Frieden durfte man in der DDR nicht demonstrieren, wenn diese Demonstration nicht von staatlichen oder anderen Massenorganisationen abgehalten und damit kontrolliert wurde. Kritik an den politischen Zuständen in der DDR – auch oder erst recht in der Form politischer Witze - dagegen aber war freiheits- und wegen der schlechten Ernährung, der mangelhaften medizinischen Versorgung und der Zwangsarbeit an überalterten Maschinen bei überhöhten Normen in den DDR-Gefängnissen auch zumindest gesundheitsgefährdend. § 106 Staatsfeindliche Hetze gab die Möglichkeit, das Erzählen politischer Witze mit ein bis zu fünf, in schweren Fällen mit bis zu acht Jahren Gefängnis zu bestrafen. Einen Witz wie: „’Warum ist das Klopapier in der DDR so rau?’ ’Damit auch der letzte Arsch noch rot wird.’“, zu erzählen, war nicht ungefährlich. Wie viele Lebensentwürfe sind wegen der in den über jeden Bürger geführten Kaderakten festgehaltenen Abweichungen von den Meinungen der Staatspartei durch die Vorgängerin der PDS, die SED, behindert oder vernichtet worden! U.a. darum ist vom Bundestag ja auch das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz beschlossen worden. Die Bürger waren von den Machthabern in ihrem geschlossenen Erziehungsheim DDR eingemauert und, durch diese Massenfreiheitsberaubung verursacht, in entwürdigender Unmündigkeit gehalten worden. Wenn dann Eingemauerte aufzubegehren wagten, wurde das "Gesetzessystem" - von »Rechts«system mag und kann man da nicht sprechen - als Unterdrückungssystem eingesetzt. Grundrechte galten nichts. Kein Gericht fiel einer übermütigen Verwaltung in den Arm. Willkür und Machtmissbrauch konnten nicht abgewehrt werden, denn der Bürger hatte keine Möglichkeit, gegen den Staat zu klagen. Wer Schwierigkeiten bereitet hatte, war von dem MfS in Haft genommen worden. Das MfS sicherte nicht den Staat, sondern als "Schwert und Schild der Partei" mit zuletzt einem finanziellen Aufwand von 1,84 Mrd. Euro jährlich „mit der Arroganz der nicht legitimierten Macht“ (Gauck) die Diktatur der SED. Das MfS, die von Gerichten unkontrolliert agierende Geheimpolizei der

609

SED, „... verhaftete und folterte ‘neben‘ seinen Geheimdienstaufgaben politisch Mißliebige; es steuerte Gerichtsverfahren, legte Urteile vorab fest; es war unkontrolliertes Untersuchungsorgan, insbesondere bei ‘politischen‘ Straftaten von Gewicht; es entzog NS-Mörder der Strafverfolgung. Das MfS brach permanent Verfassung und Gesetze seines Landes, tastete millionenfach die Menschenwürde von DDR-Bürgern an, bestahl sie, drang in ihre Intimsphäre ein, zersetze Freundeskreise, zerstörte Persönlichkeiten und ruinierte massenhaft Lebensläufe. Die Geheimpolizei der Politbüro-Diktatur war Devisen- und Technologiebeschaffer, mit großem Ehrgeiz und weniger großen Erfolgen auch Frühwarnstation und Reparaturbetrieb der ostdeutschen Mangelwirtschaft. Die Staatssicherheit war ‘Ideologiepolizei‘, Vertuschungsbrigade bei allen unliebsamen Vorkommnissen, geheimer Akteur im ‘Sicherungsbereich Literatur‘ und beim Doping. ‘Neben‘ seiner Geheimdiensttätigkeit war das MfS Chef des Menschenhandels und Bollwerk gegen Freizügigkeit und Ausreisebegehren, durch Vetoposition maßgebend in allen Personal- und Karrierefragen. Das MfS besaß in der HVA eine Auslandsaufklärung, die massiv und direkt zur Repression gegen die eigene Bevölkerung beitrug. ...“23 Das MfS war also Geheimpolizei, Nachrichtendienst und Untersuchungsorgan in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das jedes Ermittlungsverfahren an sich ziehen konnte. Die Ermittler des MfS setzten bei den Inhaftierten zunächst stets auf die Methode, die Festgenommenen in den Zustand völliger Recht- und Hilflosigkeit zu versetzen. Wichtigstes Mittel war, dem Gefangenen klarzumachen, dass kein Gesetz, kein Anwalt, kein Freund oder Verwandter den Staatssicherheitsdienst daran hindern konnte, den Inhaftierten so lange - manchmal auch jahrelang - festzuhalten, bis das MfS die von ihm angestrebte Aussage erhielt. Die Vernehmer übten psychische Folter aus. Ohne das Recht auf Aussageverweigerung, auf die Rücksprache mit einem selbst gewählten Anwalt des eigenen Vertrauens und die Begrenzung der Untersuchungshaft auf eine absehbare Frist gelang es fast immer, den Inhaftierten innerhalb weniger Tage das Gefühl völliger Ausweglosigkeit zu geben.

5 Volksdemokratien mangelt es an Rechtsstaatlichkeit als Fundament einer echten Demokratie In der DDR gab es - wie in allen anderen Volksdemokratien - keine unabhängigen Gerichte, die die Rechte der Bürger gegen den Staat durchgesetzt hätten, ferner keine ausgebaute Verwaltungs-, Finanz-, Sozial- oder Verfassungsgerichtsbarkeit. Die in den DDR-Verfassungen gewährten Grundrechte konnten nicht einmal in ihrer »sozialistisch uminterpretierten« Form eingeklagt werden - geschweige denn in der nach dem Beitritt nunmehr für alle Deutschen gültigen, von der SED stets so geschmähten »bürgerlichen« Form. Somit fehlte der Parteidiktatur der SED, wie jeder anderen Diktatur auch, das Fundament der Rechtsstaatlichkeit - die größte Morgengabe der "Wessis" an die "Ossis", die aber von ihnen nach dem ersten Überschwang zunächst nur schwer angenommen wurde. "`Dem Dilemma begegnen' HA Hamburg - Die strikte Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze läßt ostdeutsche Bundesbürger oft am Rechtsstaat und dessen Gerechtigkeit zweifeln, sagte der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Horst Eylmann, am Freitag in Hamburg. Er verwies dabei auf die komplizierte Rechtslage bei der Verfolgung und Verjährung von Straftaten. `Was früher die Opfer politischer Denunziation schützen sollte, schützt heute die Täter', sagte der Jurist. Verfassungs- und Strafrechtler bemühten sich darum, einen Ausweg aus dem `Dilemma' zu finden. Eher hemmend als fördernd hätte sich auch die `Fülle unserer Gesetze' erwiesen. Die Menschen seien `notwendigerweise verunsichert und überfordert'. Versuchen, das Recht zu vereinfachen, stünden zunehmend kompliziertere Lebensverhältnisse entgegen." (HH A 24.10.92)

Volksde mokratie n mangelt es an Rechtssta atlichkeit

23

Henke, Klaus-Dieter: Der Staatssicherheitsdienst der DDR und die List der Geschichte Ein Generalunternehmen für Machtsicherung und Unterdrückung in: Das Parlament ???

610

Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley brachte das von dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages beschriebene "Dilemma" auf die kurze Formel: "Wir wollten Gerechtigkeit - und erhielten den Rechtsstaat." Dankbar sollte sie dafür sein! Denn ohne Rechtsstaat kann es kein ernsthaftes Bemühen um »Gerechtigkeit« geben. Woran auch immer zu messende »Gerechtigkeit« kann selbst in einem Rechtsstaat nur möglichst angestrebt werden. Sie wird aber längst nicht immer erreicht! Sie kann auch gar nicht erreicht werden, da sie letztlich nicht allgemeinverbindlich definiert werden kann. Ein leider unbekannt Gebliebener tat den klugen Ausspruch: „Die Gerechtigkeit ist wie das Licht: Man weiß nicht, was es ist, aber man merkt, wenn es fehlt.“

6 „Amnesty international“ zur Lage der Menschenrechte in der DDR „Amnesty international“ formulierte in dem schon einmal erwähnten Bericht über die Lage der Menschenrechte in der DDR in der von dieser Institution bekannten abgewogenen Zurückhaltung: "Obwohl exakte Zahlenangaben nicht möglich sind, gilt, daß viele Menschen in der DDR festgenommen werden, weil sie ihr Recht auf Gewissensfreiheit und freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie ihr Recht, das eigene Land zu verlassen, wahrgenommen haben. Die Gesetze geben den Behörden ein wirksames Mittel zur Inhaftierung gewaltloser politischer Gefangener an die Hand. Die Bestimmungen einiger Gesetze beschränken explizit die Ausübung von Menschenrechten, andere sind so vage formuliert, daß nahezu jede Form unerwünschter politischer Tätigkeit zur Inhaftierung führen kann. In anderen Fällen - insbesondere hinsichtlich des Rechts, das eigene Land verlassen zu dürfen - ist die Ausübung im Rahmen der Gesetze so weit eingeschränkt, daß Personen bei der Wahrnehmung dieses Rechts zwangsläufig gegen Gesetze verstoßen."24

ai zur Lage der Mensch enrechte in der DDR

7 Staatlicher Terror bis zur physischen Vernichtung Staatlicher Terror bis zur physische n Vernichtu ng

Es wurden Menschen bei der Wahrnehmung des laut Europäische Menschenrechtskonvention und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bestehenden aber trotz der unter diese Konventionen geleisteten Unterschriften vom SED-Staat verweigerten Rechts, das eigene Land verlassen zu dürfen, sogar bewusst umgebracht: "Schweigend hörte sich der Oberleutnant Wochen später auch eine `Anweisung' an, die sein Chef, Oberstleutnant Josef Bielesch, den MfS-Offizieren der Rostocker Spionageabwehr gab: `Er sagte, wir ersparen uns viel Ärger mit Festnahmen und Vernehmungen, wenn wir mit einem Minensuchboot flüchtende Staatsfeinde in ihrem Paddelboot einfach überfahren. Im Räderwerk bleibe dann nur Kleinholz.'" (STERN 23/91) Wer dieser "Anweisung" und anderen wie dem Schießbefehl („Grenzverletzer sind zu vernichten, wenn sie nicht aufzuhalten sind.“) folgte - das MfS stellte in einem inzwischen aufgefundenen internen Papier fest, dass bei der Festnahme von Flüchtlingen zu viel Munition verbraucht worden sein soll, wenn andererseits ein Hund auf 170 m Entfernung mit einem einzigen Schuss niedergestreckt werden könne -, konnte sich selbst nach DDR-Recht nicht auf einen "Befehlsnotstand" berufen, wie es die "Mauerschützen" vergeblich versuchten, denn § 95 StGBDDR bestimmte unter der Überschrift "Ausschluß des Befehlsnotstandes": "Auf Gesetz, Befehl oder Anweisung kann sich nicht berufen, wer in Mißachtung der Grund- und Menschenrechte, der völkerrechtlichen Pflichten oder der staatlichen Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik handelt; er ist strafrechtlich verantwortlich." 24

amnesty international: Deutsche Demokratische Republik Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen, Göttingen 1989, S. 115

611

Das ist, kaum verhüllt, die klassische „Radbruchsche Formel“ – ein Gesetz könne keine Geltung beanspruchen, wenn es gegen die Menschenrechte verstoße – aus dem bourgeoisen Zeitalter der ausbeuterischen Juristerei, die die sozialistische Juristerei eigentlich überwunden haben wollte. Auch angeklagte DDR-Spitzenpolitiker, die unter Berufung auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege" („kein Verbrechen ohne Gesetz“), wonach eine Tat nur mit Strafe geahndet werden kann, wenn ihre Strafbarkeit vor der Begehung gesetzlich geregelt war, die Rechtmäßigkeit der nach der Wende zwischen Oktober 1990 und März 1997 wegen einer Unzahl von Delikten wie u.a. Rechtsbeugung, Wahlfälschung, Sportlerdopings, Devisengeschäften, Nötigung von Ausreisewilligen beim Grundstücksverkauf, Vermögensschiebereien, Betruges, Bereicherung, Unterschlagung und Spionage gegen sie eingeleiteten 12.862 Ermittlungsverfahren in Sachen "Justizunrecht der DDR", die bis dahin zu nur 50 Anklagen geführt hatten, bestritten, konnten sich nicht vor der ihnen schon durch § 95 StGB-DDR auferlegten Verantwortung drücken. Sie faselten zwar gerne etwas von „Siegerjustiz“ in die Mikrofone der sie während und nach ihren Prozessen interviewenden Reporter, aber ihre Klagen vor dem EuGH blieben erfolglos, denn Artikel 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention bestimmt entsprechend der „Radbruchschen Formel“, durch den Grundsatz "nullum crimen sine lege" dürfe "die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war". Der Zweite Senat des BVerfGs entschied 1996 in eben diesem Sinne, SED-Funktionäre und DDR-Bürger könnten durchaus für die Toten an Mauer und Stacheldraht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, auch wenn sie zur Tatzeit nicht Bürger der Bundesrepublik gewesen waren. Nach einer Aufstellung des Juristen Uwe Wesel kam es so bis 1999 zu 289 Verurteilungen wegen DDR-Unrecht - darunter 98 wegen Gewalttaten an der Grenze, 92 wegen Wahlfälschung, 27 wegen Rechtsbeugung, 22 wegen Amtsmissbrauch, 20 wegen Stasi-Straftaten, 19 wegen Misshandlungen. Im Zusammenhang mit den Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze wurden laut DIE WELT vom 07.08.04 bis dahin 126 Angeklagte in Maueropfer-Prozessen rechtskräftig verurteilt. Laut Staatsanwalt müssen sich nun noch fünf hochrangige frühere Angehörige der Nationalen Volkarmee wegen Minenlegung vor Gericht verantworten. Die Beispiele der bewussten Tötung von „Grenzverletzern“ und die Belobigung der Schützen zeigen ganz anschaulich die Verlogenheit der offiziellen DDR-Gesetzgebung auf, denn wer nicht nach den Grundsätzen der Europäischen Menschenrechtskonvention handelte und in zum Teil sicher unbewusster oder nur vage gefühlter Missachtung der Menschenrechte - die DDR hatte kein Interesse daran gehabt, ihren Bürgern den Wortlaut der Menschenrechtskonvention (MRK) zugänglich zu machen - als letztes Glied in der Befehlskette einen Flüchtling erschoss, um zu verhindern, dass dieser gemäß Art. 13 Nr. 2 MRK-Konvention: "Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen ..." sein Recht auf Verlassen des Arbeiter- und Bauernparadieses wahrnahm - selbst Gott hatte die sündigen Menschen des Paradieses verwiesen, die SED aber wollte sie in ihrem Arbeiter- und Bauernparadies behalten, wenigstens so lange, bis sie aus den Gefängnissen freigekauft wurden -, der wurde nicht, wie es der vorstehend zitierte § 95 StGB-DDR als Schlussfolgerung nahe legt, bestraft, weil ein Befehlsnotstand wegen der vorgehenden Geltung der Menschenrechte ausgeschlossen war, nein, er wurde belobigt und mit einer (Abschuss)Prämie sowie Sonderurlaub belohnt! Und auch dann, wenn kein akuter Flüchtlingsfall vorlag, befasste sich das MfS mit Mordplänen sogar denen gegenüber, die seiner unmittelbaren Einflusssphäre glücklich entronnen waren: "Mit dem Geheimbefehl Nr. 107/64 ordnete Stasi-Chef Erich Mielke die Aufstellung der »Arbeitsgruppe Minister/Sicherheit« (AGM/S) an, die für Killeraufträge ausgebildet und ausgestattet wurde. ... Sie erforschte die perfidesten Tötungsmethoden. Sie verfügte über heimtückische Gifte und Psychodrogen. Sie gebot über eine geheime Killertruppe. Neue Zeugenaussagen und Dokumente beweisen, wozu die Stasi fähig war. ... `Uns war klar, daß diese Forschungsarbeit eine Anleitung zum perfekten Mord war.' ... Der Verdacht, daß die Stasi lästige politische Gegner der DDR und gefährlich gewordene Wissensträger per Gift aus dem Weg geräumt hat, ist immer wieder geäußert worden. Nach dem mysteriösen Tod des DDR-Fußballers Lutz Eigendorf beispielsweise, der bei dem Stasi-Club Dynamo Berlin gespielt hatte, sich 1979 in den Westen absetzte und 1983 bei einem Verkehrsunfall in Braunschweig ums Leben kam - nachdem er in seinem Auto durch ein Kontaktgift betäubt wurde, wie heute vermutet wird. Die »Welt« berichtete von »70 handfesten Hinweisen« auf Stasi-Morde im Westen.“ (STERN 11.02.93)

612

"Stasi plante Mord dpa Berlin - Die Stasi hat in den 80er Jahren auch die Ermordung des in den Westen geflüchteten Ex-DDR-Grenzsoldaten Werner Weinhold geplant. Das geht aus einem Dokument hervor, das dem Kammergericht in Berlin vorliegt." (HH A 19.03.93)

8 Staatliches Kidnapping durch "Zwangsadoptionen" Staatliche s Kidnappi ng durch "Zwangsa doptionen "

Doch zurück zu dem harmloseren ai-Bericht. Was dort nicht erwähnt wurde, ist das staatliche Kidnapping: Wiederholt sind Eltern nach einem misslungenen Versuch der Republikflucht und anschließender mehrjähriger Haftstrafe ihre kleinen Kinder weggenommen und im Wege einer "Zwangsadoption" in kinderlose Ehen "linientreuer" Parteigenosse gegeben worden - teilweise unter Verschweigung der Hintergründe. Republikflucht war aber bei weitem nicht das einzige Delikt, das zur Kindesentziehung geführt hatte. Über tausendmal führte behauptetes "asoziales Verhalten" zum staatlichen Kidnapping. Unter "asozialem Verhalten" verstand man auch politischen Widerstand: Wer keine positive Einstellung zur herrschenden Gesellschaftsordnung hatte und keine Gewähr dafür bot, die in § 42 Familiengesetzbuch der DDR festgelegten Grundsätze der elterlichen Erziehung zu verwirklichen, die forderten, die "... Kinder zur sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus ..." zu erziehen, der neigte nach Meinung der Partei und der von ihr kontrollierten Institutionen zu asozialer Lebensweise und versagte damit zwangsläufig auch in der Erziehung seiner Kinder. Ihm wurden u.U. die Kinder weggenommen. Dafür - wie für die 42 Spezialkinderheime, die noch härteren 31 Jugendwerkhöfe und den berüchtigten "Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau" - war auf der Grundlage eines Gesetzes von 1965 die Abteilung "Jugendhilfe und Heimerziehung" zuständig. "In den Spezialkinderheimen", hieß es damals, "werden schwer erziehbare und straffällige Jugendliche sowie Kinder aufgenommen, deren Umerziehung in ihrer bisherigen Erziehungsumgebung trotz optimal organisierter erzieherischer Einwirkung der Gesellschaft nicht erfolgreich verlief." Das bedeutete Heimaufenthalt und/oder "Zwangsadoption" – teilweise so, dass kleinere Kinder nicht mehr wussten, wer ihre eigentlichen Eltern waren und es auch nie erfahren durften. Das kontrollierte das MfS. Schon im April 1986 hatte die "Internationale Gesellschaft für Menschenrechte" angeprangert: "In der DDR werden häufig Kinder den Eltern weggenommen, wenn diese religiös eingestellt sind oder politisch von der herrschenden Meinung abweichen." Auch schon das berechtigte Anprangern von Missständen konnte zum staatlichen Kinderraub führen: "Im Oktober 1984 wurde die 24jährige Krankenschwester Angelika Mertens* in Rostock zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt; ihr `Verbrechen': Sie hatte sich bei einem Patienten über medizinische Mißstände in der DDR beschwert. Bevor sie die Haftstrafe antrat, wollte sie ihre anderthalbjährige Tochter bei einer Verwandten unterbringen. Doch der Staat steckte das Kind in ein Heim. Als Angelika Mertens im Gefängnis versuchte, brieflichen Kontakt mit dem Internationalen Roten Kreuz aufzunehmen, wurde ihr zwei Tage und zwei Nächte der Schlaf entzogen. Anschließend nötigte man sie, ein teilweise abgedecktes Formular zu unterschreiben. Sie wußte nicht, daß sie mit dieser Unterschrift ihr Kind zur Adoption freigab. Angelika Mertens hat ihre Tochter bis heute nicht wiedergesehen." * Name von der Redaktion geändert (Brigitte 10/90) Das alles wurde von der DDR mit der marxistischen Ideologie begründet, nach der in einem sozialistischen Staat angeblich eine Interessensidentität zwischen den Anliegen der Individuen und denen der Gesellschaft bestünde. Jeder hatte darum zu wollen gehabt, was "die führende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung", die SED, in ihren Zwangsbeglückungsbemühungen gewollt hatte.

613

9 Faktisch bestehende Abhängigkeit der Richter trotz anders lautender Verfassungsbestimmungen In der DDR hatte es keine unabhängigen Richter gegeben, obwohl Art. 96 I Verf-DDR proklamiert hatte: "Die Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte sind in ihrer Rechtsprechung unabhängig." Die trotz dieses Wortlauts faktisch bestanden habende Abhängigkeit der Richter von staatlichen Gremien, u.a. dem Wahlgremium, lässt sich aus dem Zusammenspiel anderer Verfassungsartikel begründen, wobei immer der die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus zementierende Art. 1 Verf-DDR mitgedacht werden muss. Die wichtigsten, die Stellung der Richter betreffenden Verfassungsartikel waren: Art. 90 I Verf-DDR „Die Rechtspflege dient der Durchführung der sozialistischen Gesetzlichkeit ... ."

Faktisch bestehen de Abhängig keit der Richter trotz anderslau tender Verfassu ngsbesti mmunge n

Art. 93 Verf-DDR „... (2) Das Oberste Gericht leitet die Rechtsprechung der Gerichte auf der Grundlage der Verfassung ... . (3) Das Oberste Gericht ist der Volkskammer und zwischen ihren Tagungen dem Staatsrat verantwortlich." Art. 94 Verf-DDR „(1) Richter kann nur sein, wer dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist ... ." Art. 95 Verf-DDR „Alle Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte werden durch die Volksvertretungen oder unmittelbar durch die Bürger gewählt. ... Sie können von ihren Wählern abberufen werden, wenn sie gegen die Verfassung oder die Gesetze verstoßen oder sonst ihre Pflichten gröblich verletzen." Damit wurde den Richtern in dem "sozialistischen" Staat der DDR ihre Parteilichkeit für die weltanschaulich strikt festgelegte Verfassung zur Dienstpflicht gemacht. Wer sich mit dem sozialistischen Gedankengut nicht (mehr) hätte identifizieren mögen, hätte gröblich gegen seine Dienstpflichten verstoßen. "SED gängelte Justiz dpa Berlin - Im Prozeß gegen die DDR-Richterin Helena Heymann ist eine Verfügung des SEDPolitbüros von 1952 bekannt geworden, die belegt, daß die Machthaber sich systematisch in die Justiz einmischten. Darin heißt es: `Der Generalstaatsanwalt wird verpflichtet, vor dem Stattfinden wichtiger Prozesse dem Politbüro zu berichten.' Andernfalls drohten Disziplinarmaßnahmen." Eine laut Art. 93 III Verf-DDR dem Parlament und sogar Exekutivstellen gegenüber derart "verantwortliche", berichtspflichtige und jederzeit abberufbare Richterschaft kann ernstlich nicht als unabhängig bezeichnet werden. Abhängigkeit der Richter von der Ideologie der den Staat beherrschenden Partei ist aber ein Verstoß gegen eines der Fundamentalprinzipien der Demokratie. Ein Rechtsstaat lässt sich so nicht organisieren! Unverblümter, als es in der Verfassung oder dem Strafgesetzbuch der DDR zum Ausdruck kam, forderte die langjährige Justizministerin der DDR Hilde Benjamin (von der DDR-Bevölkerung wegen der in ihrer Amtszeit u.a. in den Waldheim-Prozessen ergangenen harten Urteile hinter der Hand "Blut-Hilde" genannt) 1954 auf dem IV. Parteitag der SED: "Für die Parteilichkeit der Rechtsprechung sind vor allem die Erkenntnisse und Beschlüsse der die Arbeiterklasse führenden SED zu beachten. Erst dann kann es zur richtigen Anwendung der Gesetze im Sinne von Partei und Regierung kommen."

614

"Sozialistische Gesetzlichkeit" wurde von ihr als "Einheit von strikter Einhaltung der Gesetze und Parteilichkeit ihrer Anwendung" definiert. Und der ZK-Funktionär (das entsprach von der Funktion und Entscheidungskompetenz her in etwa einem Bundesminister oder Parlamentarischen Staatssekretär) J. Streit - nomen est omen - rüffelte einmal die Justizorgane des Landes: "Eine Reihe von Richtern und Staatsanwälten haben nicht begriffen, daß sie gegenüber der Partei eine große Verantwortung tragen, denn sie sind als [Partei-]Genossen in ihre Funktion eingesetzt worden und unterliegen als Mitglieder der Partei auch der Kontrolle durch die Partei, sie sind der Partei für alle ihre Handlungen verantwortlich." Es ist nicht denkbar, dass einer der bundesrepublikanischen Bundesminister einen solchen Satz über die Justiz in unserem nach demokratischen Gesichtspunkten organisierten Staat sagen könnte wie der zitierte ZK-Funktionär! Das ist der Unterschied zwischen Volksdemokratie und Demokratie, zwischen Diktatur des Proletariats und Rechtsstaat. Richter hatten gemäß § 44 des Gerichtsverfassungsgesetzes der DDR "dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben (zu) sein". "Mit der Rechtsprechung leisten die Richter ihren spezifischen Beitrag zur Durchsetzung der Politik der Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei... Die Richter erstatten den Volksvertretungen, von denen sie gewählt worden sind, Bericht, wie sie mit ihrer Tätigkeit die gesellschaftliche Entwicklung beim umfassenden Aufbau des Sozialismus aktiv fördern. Die Berichterstattung ist Ausdruck der demokratischen Kontrolle der Öffentlichkeit ..." 25 Die Staatsanwälte hatten gemäß §§ 1 und 35 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft von 1977 "in Verwirklichung der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit zu wachen." Diese Aufgabe wurde als eine spezifische Form der Machtausübung der Arbeiterklasse ausgegeben. Richter und Staatsanwälte waren fast ausnahmslos Mitglieder der SED oder mit ihr verbündeter Parteien. Die Auswirkungen dieses Justizverständnisses werden durch folgenden Zeitungsbericht verdeutlicht: "`Staatsfeinde' verurteilte Ulbricht selbst zum Tode SED-Geheimpapier beweist: So machte die Partei Richter zu Marionetten Bonn - Schreckliche Enthüllung aus dem DDR-Unrechtsstaat: Walter Ulbricht, bis Mai 1971 Parteiund Staatschef, verurteilte in den fünfziger Jahren eigenhändig Menschen zum Tode. Sie wurden in Dresden durch das Fallbeil hingerichtet, die Leichen wurden im Krematorium Dresden-Tolkewitz verbrannt. Das geht aus Dokumenten der SED-Spitze hervor, die der MORGENPOST vorliegen. In mindestens einem Fall hat Ulbricht sogar eine lebenslange Freiheitsstrafe in Todesstrafe geändert. `Im Namen des Volkes' verkündeten jedes Mal Richter ihr Urteil. Doch - das beweisen die Dokumente, die dem Deutschlandfunk zugespielt wurden - nicht das Volk sprach das Urteil, sondern die SED-Spitze. ZK-Sekretär Klaus Sorgenicht, der heute in Berlin-Pankow als Pensionär lebt, hielt die Urteile schon Tage vor den Prozessen in SED-Hausmitteilungen fest. Die Richter verkündeten sie willfährig. Fall 1: Am 23. Juni 1955 verurteilte der Erste Strafsenat beim Obersten Gericht der DDR nach dreitägiger Verhandlung fünf Thüringer Mitglieder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit. Der Gruppe, die Widerstand gegen das kommunistische Regime propagierte, wurde die Vorbereitung von Mord, Brandstiftung und Sprengung von Eisenbahnbrücken vorgeworfen. Keine einzige Tat wurde ausgeführt, aber die Stasi hatte Geständnisse erpreßt. Das Urteil fällte zehn Tage vor der Verkündung nicht etwa ein Gericht, sondern das Zentralkomitee der SED. Erster Sekretär: Walter Ulbricht ... . Er zeichnete die Urteile nicht nur mit `Einverstanden W. Ulbricht' ab, sondern ergänzte sie auch. Da für Hans-Dietrich Kogel kein Strafmaß angegeben war, sondern nur ein handschriftliches F (für 25

Wörterbuch zum sozialistischen Staat 1974 Stichwort "Richter"

615

Freiheitsstrafe), machte Ulbricht kurzen Prozeß und dehnte mit zwei Doppelstrichen das darüber stehende Todesurteil für Gerhard Benkowitz auch auf Kogel aus. Sechs Tage nach dem Schauprozeß starben die beiden, 32 und 31 Jahre alt, unter dem Fallbeil in Dresden. Fall 2: Am 24. Juni 1955 begann vor dem Obersten Gericht der Prozeß gegen fünf DDR-Bürger, denen Kontakte zum RIAS Berlin vorgeworfen wurden. Ihr Urteil stand schon zehn Tage vorher fest - grausam gefällt von Walter Ulbricht. Denn das ZK der SED wollte für alle fünf Angeklagten nur Zuchthausstrafen. Ulbricht dagegen strich hinter dem Namen von Joachim Wiebach `lebenslängliches Zuchthaus' durch und schrieb: `Vorschlag Todesurteil', weiter unten: `Einverstanden W. Ulbricht'. Der Vorschlag des ZK-Sekretärs war Gerichtspräsident Horst Schumann (früher NaziKriegsgerichtsrat und seit 1937 Mitglied der NSdAP) Befehl. Der Angeklagte Wiebach wurde 29jährig am 14. September 1955 in Dresden durch die Guillotine hingerichtet. Aufmerksam geworden durch diese Fälle forschen hohe Bonner Justizbeamte zurzeit nach den Quellen weiterer DDR-Todesurteile. ..." (Morgenpost 16.04.91) Bei wem sich angesichts der Zitate kein gruselndes Erinnern an Adolf Hitler als "obersten Gerichtsherrn" und sein rechtswidriges, eigenmächtiges Abändern von ihm nicht genehmen Urteilen nach bereits abgeschlossenen Prozessen völlig aus dem Bauch heraus nach eigenem Gutdünken, sowie kein Erinnern an die Parteilichkeit der NS-Justiz und deren Auswirkungen einstellte, dem wäre kaum noch zu helfen. Er müsste zur Strafe den II. Teil dieses Buches: "Die Funktion des Rechts im NS-Herrschaftssystem" noch einmal lesen! Mit der Bindung der Justiz an die führende Rolle der Partei ging - trotz der in Art. 96 I Verf-DDR postulierten Unabhängigkeit der Richter - die richterliche Unabhängigkeit der DDR-Justiz verloren. Sie stand nur als demokratisches Feigenblatt de jure in dem Wortlaut der DDR-Verfassung, aber de facto herrschte in der Verfassungswirklichkeit ein Zustand wie zur Zeit des Nationalsozialismus. Ein Vergleich der Äußerungen der Justizministerin Benjamin und des ZK-Funktionärs Streit mit den Leitsätzen des "Reichsrechtsführers" Frank26 drängt sich geradezu auf. Im Gegensatz dazu war und ist in der Bundesrepublik eine Abberufung von Mitgliedern der Judikative durch Wähler oder die Exekutive nicht möglich, um so die Unabhängigkeit der Richter zu garantieren. Sie können grundsätzlich nicht einmal gegen ihren Willen an ein anderes Gericht versetzt werden, damit nicht vielleicht so einem störrischen Richter ein von ihm als dem zuständigen "gesetzlichen Richter" bei seinem Gericht zu bearbeitender Fall aus der Hand gewunden würde. (Doch Richter können ohne weiteres durch den Präsidenten des jeweiligen Gerichts in eine andere Abteilung ihres Gerichtes versetzt werden - z.B. von der Abteilung für Strafrecht in die für Grundbuchangelegenheiten -, und das kann auch eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit sein!) Versetzungen an ein anderes Gericht und Amtsenthebungen gegen den Willen eines betroffenen Richters können nur auf Grund rechtskräftiger richterlicher Entscheidungen anderer unabhängiger Richter vorgenommen werden, die auch keiner Wähler- oder Verwaltungsanordnung unterworfen werden können. „Schlechter Umgang ap Mainz - Erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte ist ein Amtsrichter in Trier wegen zweifelhaften Lebenswandels seines Amtes enthoben worden. Er wurde in den Ruhestand geschickt, weil er enge Kontakte zum Rotlichtmilieu pflegte.“

10 Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie

26

Siehe II. Teil 6.3 Der „Führer“ als oberster Gerichtsherr

616

Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrume nt zur Durchset zung der Staatside ologie

Mit dem Auftrag, "in Verwirklichung der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit zu wachen", war die Justiz ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie und zur Abwehr jeder ihren Machtanspruch gefährdenden anderen politischen Anschauung. Darum mussten Richter und Staatsanwälte grundsätzlich auch Mitglieder der Staatspartei SED sein. Das Recht in einer bürgerlichen Demokratie hat aber sowohl eine die Politik gestaltende, als auch eine die Politik begrenzende Doppelfunktion. Die gestaltende Funktion wird z.B. deutlich im Verwaltungs-, Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht, die die Politik begrenzende Funktion manifestiert sich z.B. in der Wahrung eines staatsfreien Raumes zur persönlichen Lebensgestaltung nach christlicher, buddhistischer, muslimischer, humanistischer, kommunistischer oder auch anderer Überzeugung durch so verstandene, den staatlichen Einfluss auf die Privatsphäre begrenzende Grundrechte. Insofern ist z.B. das Grundgesetz weltanschaulich ziemlich neutral. Jeder soll nach seiner Facon selig werden können, soweit sie tolerierbar ist. Dabei würden aber z.B. Menschenopfer von Satanisten und der „Sati“-Brauch der Witwenverbrennung zusammen mit dem Leichnam des Ehemannes nicht hingenommen werden. (Merkwürdig: Umgekehrt hat man nie etwas davon gehört!) Und weniger schwerwiegende Abweichungen von unseren gesellschaftlichen Normen werden auch nicht unbedingt toleriert. Das BVerwG entschied z.B. im Falle eines bayrischen Liedermachers und Rastafaris, der geltend gemacht hatte, dass für seine Religionsgemeinschaft das gemeinsame Rauchen von Marihuana eine wichtige rituelle Betätigung sei, dass auch für religiöse Riten keine Ausnahme vom Cannabis-Anbauverbot gelte. Selbst das in unserer Verfassung als eines der wenigen Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt gewährte Recht der freien Bekenntnis-/Religionsfreiheit wird also nur vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährt: Nach der durch die Rechtsprechung des BVerfGs entwickelten Verfassungsauslegung begrenzen die unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung systemimmanenten Schranken, das Gesamtgefüge unserer Wertordnung, also auch Grundrechte, für die kein Gesetzesvorbehalt formuliert wurde, die nach erstem Anschein oder der Meinung eines unbefangenen Lesers des Verfassungstextes – sprich: eines Nichtjuristen - ohne jede Einschränkung gewährt zu sein scheinen. Ohne jegliche Einschränkung wird aber nur das Grundrecht auf Menschenwürde gesehen! Im Gegensatz zu dem Recht in einer bürgerlichen Demokratie ist das Recht in einer Volksdemokratie marxistisch-leninistischen Zuschnitts - gleich welcher Ausprägungsstufe - ausschließlich der an der Staatsideologie ausgerichteten Politik untergeordnet. Es wandele sich dort mit dem als erreicht verkündeten gesellschaftlichen Zustand der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe nach den behaupteten neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen auf dem Wege zu dem als Endziel angestrebten Kommunismus. Die in einer bürgerlichen Demokratie eher statisch und ziemlich ideologieneutral verstandenen und interpretierten bürgerlichen Freiheits- und Grundrechte werden - oft bei Kontinuität des Wortlauts - nur noch als wandelbare sozialistische Grundrechte mit den sich daraus ergebenden Mitwirkungsrechten und den hiermit als korrespondierend angesehenen Mitwirkungspflichten im Sinne der marxistisch-leninistischen Ideologie verstanden. Ein die Staatsmacht begrenzender Freiraum wird den Bürgern verwehrt. Die "sozialistischen Grundrechte" waren nicht ideologieneutral. Sie wurden einseitig ideologisch umgedeutet und seien von der konkreten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe abhängig gewesen. Die in der DDR dem Staatsfernziel Errichtung des Kommunismus verpflichtet gewesenen Richter hatten eine ideologiekonforme Rechtsanwendung im Hinblick auf den Vollzug einer "sozialistischen Gesetzlichkeit" zu gewährleisten. Die Bindung an einen solcherart vorgegebenen Parteiauftrag schließt natürlich richterliche Unabhängigkeit aus. Als ideologiekonform galt, den bürgerlichen Rechtsstaat der westlichen Demokratien als Ausgeburt "bourgeoisen Denkens" zu verstehen, unfähig zu wahrer Gerechtigkeit, die immer nur parteiliche Gerechtigkeit für die Ziele des Kommunismus sein könne. So ersetzte den zum Richteramt in der sozialistischen Diktatur Drängenden die Parteilichkeit im Sinne der von der SED aufgestellten ideologischen Vorgaben die (diffuse) Idee der Gerechtigkeit. "Die Beschlüsse der SED sind bewußter Ausdruck objektiver Erfordernisse bei der Entwicklung des Sozialismus und dienen der Verwirklichung des Lebensinteresses der Arbeiterklasse und des ganzen werktätigen Volkes. In dieser gesellschaftlich begründeten Autorität sind die Beschlüsse der Partei unumstößliche Grundlage für die staatliche Arbeit ..." 27 Die SED beanspruchte, im Besitz der objektiven geschichtlichen und gesellschaftlichen Wahrheit zu sein, was zwangsläufig zu einer totalitären Entartung des Rechts und der Rechtsschöpfung führte. Das Recht wurde instrumentalisiert und zur Waffe im Klassenkampf ungeschmiedet, um den politischen Gegner in Fesseln schlagen zu können! Nicht: „Schwerter zu Pflugscharen!“, sondern: „Recht zu Fesseln der Aufbegehrenden!“, lautete das Motto der DDR-Justiz. Somit ist das Recht in einer Volksdemokratie ein Hebel zur Durchsetzung der behaupteten objektiv ablaufenden Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, deren archimedischer Punkt die marxistisch-leninistische 27

Wörterbuch zum sozialistischen Staat 1974 Stichwort "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands"

617

Ideologie ist. Das Recht hat dort die in Politik umgesetzte Ideologie abzusichern, bis mit der letztlich angeblich zwangsläufigen Erreichung des kommunistischen Endzustandes der Staat absterben werde. In der DDR herrschte in politischen Prozessen kein gesetzloser, aber nach rechtsstaatlichem Verständnis ein rechtloser Zustand. Die DDR war beileibe kein gesetzloser - man denke nur an die vielen Straftatbestände, die die Wahrnehmung zahlreicher Menschenrechte kriminalisierten -, aber ein rechtloser Staat, eben kein Rechtsstaat. Wenn allerdings in unpolitischen Prozessen sich die führende Rolle der SED, ihre Reputation oder der Sozialismus generell nicht auf dem Prüfstand befanden, z.B. wenn es nach einem - nicht von einem Prominenten wie ihrem Star-Dirigenten verschuldeten - Verkehrsunfall um Strafverfolgung und Schadensersatz ging, dann unterschied sich der Rechtsschutz der Bürger in der DDR vor ihren Gerichten nicht wesentlich von dem vor den Gerichten der Bundesrepublik. Aber wehe, die Prozesse hatten möglicherweise einen politischen Einschlag. Dann kam die verfassungsrechtlich ableitbare Abhängigkeit der Richter zum Tragen!

Die in diesem Kapitel skizzierten politischen Verhältnisse in der DDR charakterisierte der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen, Ottfried Hennig, 1983 mit dem Satz: "Fortsetzung der Hitler-Diktatur mit anderen Mitteln." Diese Formulierung ist nur wegen ihrer Anlehnung an das Clausewitz-Wort: "Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, zu verstehen. Sie ist aber nicht zutreffend, denn die Mittel beider Diktaturen ähnelten sich in vielem. Das macht ja gerade das Wesen einer Diktatur aus! Sie sind - abgesehen von dem durch die Nazis begangenen systematischen Massenmord - gleich geblieben, sind höchstens verfeinert worden. (Man denke nur an die durch rechtswidrige und teilweise kriminelle Handlungen wie Wohnungseinbrüche und Autoaufbrüche verschafften Geruchsproben potentieller Regimegegner, damit darauf dressierte Schnüffelhunde aus einer Reihe von Geruchsproben z.B. den Urheber einer an eine Wand gesprühten Parole herausschnüffeln können sollten, indem sie den Geruch am Standplatz des Sprayers mit den auf kriminelle Weise beschafften und konservierten Geruchsproben verglichen.) Es hatte sich nur der ideologische Überbau geändert. Darum hätte es richtiger heißen müssen: "Fortsetzung der Hitler-Diktatur mit anderer Ideologie." Der charismatische Vorsitzende der SPD nach dem Krieg, Kurt Schumacher, hatte kurz und bündig befunden: "Kommunisten sind rotlackierte Nazis!" Auch wenn der PDS im Bundestagswahlkampf 1994 diese selbst zum Unwillen der Ost-CDU von der WestCDU unter die Nase geriebene Charakterisierung ("Rote Socken"- Kampagne) verständlicherweise nicht passte, so ist die grundsätzliche Richtigkeit dieses Bonmots bezüglich der Herrschaftsausübung über die ihrem jeweiligen Unrechtsregime unterworfen Gewesenen durch die vorstehenden Ausführungen hinlänglich nachgewiesen. Beide Systeme waren darin gleich, dass sich beide Male eine Partei anmaßte, unter Einsatz aller ihr zu Gebote stehenden legalen und illegalen Machtmittel eines Überwachungsstaates das Denken der ihrem jeweiligen Unrechtssystem Unterworfenen bestimmen und kontrollieren zu wollen. Aber selbstverständlich hat die SED-Diktatur nicht eine solche Blutspur durch Europa und andere Teile der Welt gezogen, wie es die Nazi-Diktatur getan hat. Die juristischen Verbrechen der Nazis und der SED-Diktatur hatten auf jeden Fall eines gemeinsam: Unterdrückungsurteile waren vom "Staat", den jeweiligen Machthabern befohlene Verbrechen. Und die Staatsmacht rechtfertigte das von ihr begangene Unrecht stets als rechtens! Mit dieser von ihm wohl so gemeinten Beurteilung stand Hennig nicht allein. Selbst der als "links" eingestellt bekannte französische Philosoph und Dichter Satre hatte in Anspielung auf den als Agentenroman bekannten Buch- und Filmtitel John le Carres über die DDR gesagt: "Der Totalitarismus, der aus der Kälte kommt." Der vormals langjährige (vergeblich hoffende) Spitzenkandidat der SPD für den Posten des Ministerpräsidenten in Schleswig-Holstein, Jochen Steffen - von seinen Gegnern wegen seiner politischen "Linkslastigkeit" als "roter

618

Jochen" verschrien und damit ein in diesem Zusammenhang unverdächtiger Kronzeuge -, fasste das politische System der DDR in die Worte: "Was in der DDR praktiziert wird, ist doch nicht mehr als Kapitalismus unter Hammer und Sichel minus Privateigentum an den Produktionsmitteln und minus politischer Demokratie für die überwiegende Mehrheit des Volkes." Und als vorletzter unverfänglicher Zeuge, dem nicht vorgeworfen werden kann, er sei aus einer zu "rechten" Optik in seiner Beurteilung befangen, sei der überzeugte Kommunist und Liedermacher Wolf Biermann benannt. Er hatte die Zustände in der DDR selber lange Jahre erlitten. Bei den Kommunisten in der DDR hatte der Kommunist Biermann Auftritts- und Publikationsverbot wie auch später sein Nachfolger Krawzyk. Unter der Geltung des Grundgesetzes durften beide nach ihrer Zwangsausbürgerung aus der DDR im Westen Deutschlands auftreten und ihre Schallplatten veröffentlichen. Biermann geißelte die Zustände in der DDR mit den Worten: "Was inzwischen sich Kommunismus nennt, ist eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf höherer Stufe. Unser [angeblicher; der Verf.] Himmel ist die Hölle." Einen Sturm der Entrüstung innerhalb der PDS löste deren Wahlkampfmanager und „Vordenker“ Andre Brie 1999 aus, als er - laut HH A vom 28.01.99 - innerhalb seiner Partei die These aufstellte, dass der Sowjetkommunismus und die DDR in ihrem Anspruch, die Gesellschaft zu beherrschen, totalitärer als der Nationalsozialismus gewesen seien – was den Reformer der PDS aber nicht daran hinderte, sich als Interessenvertreter der alten SED-Kader der Forderung nach Amnestie für DDR-Funktionäre anzuschließen.

Fazit: Wer um utopischer Fernziele willen - z.B. der Errichtung einer angeblich klassenlosen Gesellschaft - Recht, Freiheit und Würde des Menschen mit Füßen tritt, hat den Anspruch auf politische Gefolgschaft von vornherein verloren. "Entscheidend ist die Freiheit. Sie allein macht es möglich, gemeinsam die Wahrheit, das richtige Ziel und die richtigen Mittel und Wege zu suchen. Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die den stets notwendigen Weg zum Wandel in Frieden finden läßt. Damit dies möglich bleibt, darf die Radikalität des Streitens niemals die Regeln des Rechts verletzen, denn diese sind die Bedingungen für die Freiheit und die Kraft zur Reform. ... Damit wir in dieser Freiheit zu Entscheidungen kommen, muß es nach dem Mehrheitsprinzip gehen. Dabei wissen wir alle, daß die Mehrheit genau so wenig über die Wahrheit verfügt wie die Minderheit. Keiner darf für sich den Besitz der Wahrheit beanspruchen, sonst wäre er unfähig zum Kompromiß und überhaupt zum Zusammenleben; er würde kein Mitbürger, sondern ein Tyrann. Wer das Mehrheitsprinzip auflösen und durch die Herrschaft der absoluten Wahrheit ersetzen will, der löst die freiheitliche Demokratie auf." Soweit unser damaliger Bundespräsident von Weizsäcker in seiner Antrittsrede. Unsere seit dem 05.05.52 geltende Nationalhymne ist musikalisch wirklich kein großer Hit (und sie würde auch nicht flotter klingen, wenn man dazu, wie von einigen ostdeutschen Abgeordneten nach dem Anschluss vorgeschlagen, den von Brecht verfassten Text des „Kinderliedes“ als neuen Text der Nationalhymne singen würde). Es gibt kaum ein Musikstück, das man spannungsärmer, »getragener«, um nicht zu sagen quälender, durch ein Streichquartett abspielen kann als die Melodie dieser „Königshymne“, in deren Tradition sie geschaffen wurde. (Nachdem ich mir die Nationalhymnen aller Länder dieser Welt vom Brockhaus MultimediaLexikon angehört habe, sehe ich die Melodie unserer Hymne allerdings etwas gelassener.) Einen direkten Vergleich hat man z.B., wenn Schumacher auf Ferrari siegt, zunächst dann erst die Hymne für den siegreichen Fahrer und anschließend die für das Land der siegreichen Marke hintereinander gespielt werden. Aber der Text unserer Hymne enthält - so empfinde ich es jedenfalls - einige göttlich inspirierte Worte, mit denen rund 150 Jahre vor der Antrittsrede von von Weizsäckers das alles seit 1841 schon zusammenfassend als genial kurz formulierter Programmsatz mit den Worten gesagt worden ist: "Einigkeit und Recht und Freiheit ... sind des Glückes Unterpfand." Diese drei Begriffe "Einigkeit und Recht und Freiheit“ sind so zentral für die Organisation eines staatlichen Gemeinwesens, dass sie in dieser oder ähnlicher Kombination, z.B. mit dem Wunsch nach „Frieden“, in den

619

Staatswappen verschiedener Länder auftauchen. Wenn ein Motto auftaucht, dann ist es meist etwas in dieser Art. In den »Volksdemokratien« und anderen Diktaturen stand oder steht die herrschende Partei als Repräsentantin des Staates und der Staatsmacht über dem Recht. Daher kam es dort immer wieder zu politisch motivierten Unrechts-Urteilen. In einer Demokratie nach westlich-bürgerlichem Verständnis aber kann dagegen die jeweils herrschende Partei und die von ihr geführte Exekutive bei Gesetzesverstößen unter Anwendung des Rechts durch die Justiz zu einem die Gesetze beachtenden Verhalten gezwungen werden: In einer bürgerlichen Demokratie steht der Staat unter dem Recht! Es darf kein Guantanamo des Rechts geben. Darum hatten Demokraten gegenüber Volksdemokraten letztlich immer die besseren Argumente, denn der Unterschied zwischen Demokratie und Volksdemokratie ist wie der zwischen Jacke und Zwangsjacke. Die Opfer der politischen Willkürjustiz in der DDR sollen nun rehabilitiert und - wenn das überhaupt geht entschädigt werden: "EINIGUNGSVERTRAG/ Kassation von Strafurteilen und Rehabilitierung Möglichkeit der Wiedergutmachung von strafrechtlichem Unrecht im SED-Staat Von JOHANN-GEORG SCHÄTZLER HANDELSBLATT; Sa./So., 29./30.9.1990 BONN. Die Opfer rechtsstaatswidriger Strafurteile der DDR-Justiz und ihre Hinterbliebenen haben Anspruch auf Rückgabe des im Urteil eingezogenen Vermögens sowie auf förmliche Rehabilitierung. Gesundheitliche, materielle und andere Nachteile der Haft werden durch soziale Leistungen ausgeglichen, die sich nach dem bundesdeutschen Häftlingshilfegesetz richten. Das ergibt sich aus dem Einigungsvertrag und den DDR-Gesetzen. ... Zwei strafverfahrensrechtliche Wege sind möglich, Kassation und Rehabilitierung. Der Unterschied: Im Kassationsverfahren wird rechtlich geprüft, ob zu Unrecht oder zu hart verurteilt wurde; jedes Urteil kann kassiert werden. Im Rehabilitationsverfahren kommt es darauf an, ob der Verurteilte verfolgt wurde, weil er Grund- und Menschenrechte wahrnahm (Hauptbeispiele: Ausreise, politische Betätigung); nur nach der Motivation umgrenzte Tatbestände können die Rehabilitierung begründen. Beiden Verfahren gemeinsam ist: Der Betroffene selbst kann sie betreiben, nach seinem Tod der Ehegatte, die Verwandten gerader Linie und die Geschwister. Die Antragsfrist ist zwei Jahre. ..." (Handelsblatt 29.09.90) "Ehemalige politische Gefangene der DDR fordern Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetz 240.000 Opfer schreien nach Gerechtigkeit Vera Schulze aus Spremberg war 23 Jahre alt, als sie im September 1946 nach einer, wie sie heute sagt, gezielten Denunziation verhaftet wurde. In einem in russischer Sprache geführten Prozeß eines Sowjetischen Militärtribunals vernahm sie vier Monate später das Urteil: 15 Jahre Arbeitslager in Sibirien wegen Spionage gegen die Besatzungsmacht. Vielleicht verdankt Vera Schulze ihr Leben dem Umstand, daß sie die vier folgenden Jahre `nur' im Lager Sachsenhausen und danach im Gefängnis Stollberg verbringen mußte. Während der Untersuchungshaft hatten ihr brutale Schläger den Kiefer zertrümmert. Bei einer deshalb notwendigen Operation in einem Haftkrankenhaus kam offenbar ein unsteriles Skalpell zum Einsatz. Der folgenden Sepsis fiel 1951 der linke Arm zum Opfer, ein Jahr später mußte auch noch das Schultergelenk entfernt werden. Bei der Haftentlassung nach acht Jahren litt Vera Schulze an Nieren- und Wirbel-TBC, später stellte sich noch eine Epilepsie ein. Den Haftjahren folgten vier Jahre im Krankenhaus. So konnte die Frau nur zwischen 1958 und 1974 arbeiten. Heute bezieht sie deshalb nur eine sehr kleine Rente. In dieser Woche will Vera Schulze einen Antrag auf politische Rehabilitierung und soziale Wiedergutmachung stellen. Er hat allerdings nur wenig Chance auf Erfolg: Für die Kassation von Urteilen der sowjetischen Militär-Tribunale sieht sich die Bundesrepublik Deutschland bislang aus völkerrechtlichen Gründen nicht zuständig. Daß die 68jährige, kranke Frau ihre Rehabilitierung noch erlebt und für die acht Haftjahre entschädigt wird, erscheint ungewiß. Der Fall Vera Schulze ist einer von vielen, die am Wochenende in Bautzen auf einem Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Sprache gebracht wurden. Zu den mindestens 27.000 Urteilen, die während der Besatzungszeit von sowjetischen Militärtribunalen gefällt wurden, kommen noch die von der DDR-Justiz gefällten politischen Strafurteile. Ihre genaue Zahl kennt niemand, die

620

Schätzungen schwanken zwischen 150.000 und 240.000. Die Betroffenen in den neuen Bundesländern fühlen sich als Opfer der kommunistischen Diktatur und verlangen Gerechtigkeit. Bisher stellten mehr als 60.000 von ihnen Anträge auf Rehabilitierung und Entschädigung. Die Zeit läuft ihnen jedoch davon, denn zwei Drittel sind schon über 65 Jahre alt. So waren die Debatten während der zwei Tage im Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen teilweise von großer Erregung geprägt. Ehemalige politische Häftlinge, die 40 Jahre lang schweigen mußten, schrien ihre Verzweiflung oft regelrecht heraus. Die schrecklichen Erlebnisse in den beiden Bautzener Gefängnissen waren ständig präsent. 16.000 kamen in der Nachkriegszeit in Bautzen um. Namen von Schuldigen wurden genannt, und es wurde gefragt: `Warum werden die nicht bestraft?' Die Kritik der 450 Teilnehmer richtete sich vor allem gegen die mangelhaften gesetzlichen Regelungen und die schleppende Bearbeitung der Anträge. So gilt das Bundesentschädigungsgesetz bisher nur für Naziopfer, und das umfassende Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer wurde, wie die stellvertretende SPD-Vorsitzende Hertha Däubler-Gmelin beklagte, auf ein Minimum zusammengestrichen. So gut wie keine Chance haben die durch Willkürurteile der sowjetischen Besatzungsmacht Verurteilten wie Vera Schulze, da hier, wie es hieß, völkerrechtliche Regelungen notwendig seien, die sehr viel Zeit kosten. Die Opfer wollen aber noch zu Lebzeiten rehabilitiert werden, wollen einen Ausgleich für jahrelange Haft, berufliche Nachteile, gesundheitliche Schäden und daraus resultierend mangelhafte Altersversorgung. Deshalb forderten sie zum Abschluß in einer `Bautzener Erklärung' den Bundestag auf, unverzüglich ein Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetz zu verabschieden, in dem unter anderem die Gleichstellung mit den NS-Opfern festgelegt wird." (HH A 29.04.91) "SED-Opfer haben Recht auf Entschädigung `Die Rehabilitierung ist ein wesentliches Element der Politik zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft, des Staates und des Rechts.' So steht es im Gesetz. Es ist gut, daß Kinkel und Waigel die Wiedergutmachungssätze für NS-Opfer nunmehr für Opfer der SED-Willkür verdreifachen wollen. Das ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Wiedergutmachung wird dauern. Da fehlen Richter, da mangelt es an Unterlagen, oft sogar am Urteil. Es müssen die Kriterien festgelegt werden, aus denen klar hervorgeht, wer was bekommen soll. Denn es kann nicht nur um eine Entschädigung für Haftjahre gehen. Das SED-Regime hat systematisch Menschen zerbrochen, Existenzen zerstört, Karrieren verhindert. Da ist die Witwe eines Schlossers, den das Landgericht Thüringen 1952 wegen des sogenannten Verbrechens der Boykotthetze zum Tode verurteilte und auch hinrichten ließ. Im Juni diesen Jahres erreichte die Frau - nachträglich - den Freispruch ihres Mannes. Und die Entschädigung? Ein paar lumpige Mark für die wenigen Wochen Freiheitsentzug bis zur Exekution wurden ihr angeboten. Entschädigung will erlittene Nachteile ausgleichen. Was soll der bekommen, der die Jugendweihe verweigerte und deshalb nicht studieren durfte? Was ist mit dem Lehrer, der Sympathien für Dubcek äußerte und deshalb als Toilettenwächter arbeiten mußte? Wer mißt die gesundheitlichen Schäden der Opfer? Gilt die Haftzeit als Rentenzeit? Mit den Mitteln der Justiz eine Diktatur aufzuarbeiten, war nach 1945 schwierig, das wird heute nicht leichter. Es geht um das Recht der Menschen, um ihre verlorene Würde und Ehre. Der Einsatz dafür kann nicht hoch genug sein." (Allgäuer Zeitung 15.07.91) "Mehr Geld für SED-Opfer Der Bundesrat hat am 25. September einer Anhebung der monatlichen Haftentschädigung für SEDUnrechtsopfer auf 550 DM zugestimmt. Er folgte damit - wie der Bundestag am Vortag - einem Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses. Die Entschädigung, die ursprünglich 450 DM für jeden Haftmonat betragen sollte, erhalten politisch Verfolgte, die bis zum 9. November 1989 in der ehemaligen DDR gelebt haben. SED-Unrechtsopfer, die bereits vorher in die Bundesrepublik übergesiedelt sind, erhalten, wie ursprünglich vorgesehen, 300 DM. Die Kosten des Gesetzes werden - ebenfalls entsprechend dem Vermittlungsergebnis - im Verhältnis von 65 zu 35 auf Bund und Länder aufgeteilt. Ursprünglich war eine hälftige Kostenteilung vorgesehen." (Das Parlament 02.10.92) „Bundestag erhöht Entschädigung 600 Mark für SED-Opfer dpa Berlin – Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer hat der Bundestag die Entschädigung für die

621

Haftopfer der politischen SED-Justiz auf einheitlich 600 Mark pro Haftmonat erhöht. Die Regelung, die vom Parlament am Freitag einschließlich der PDS einstimmig verabschiedet wurde, gilt vom 1. Januar 2000 an. ... (HH A 27.11.99)

622

IV. TEIL DAS RECHTSSYSTEM DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 1 Privatrecht und öffentliches Recht In der Bundesrepublik gibt es - wie in allen modern organisierten Staaten - eine weder dem Laien noch dem Juristen vorstellbare, geschweige denn für ihn überschaubare überbordende Fülle von rechtlichen Regelungen, die gesetzliche oder gesetzesgleiche Geltung haben. Allein rund 2059 bundesdeutsche Gesetze und 3004 Verordnungen mit mehr als 86.500 in Paragraphen oder Artikel gefassten Einzelbestimmungen regeln unseren Alltag.28 Jährlich werden rund 2.000 neue EU-Verordnungen erlassen, die oft durch Lobbytätigkeit in Brüssel entstehen. Diese Verordnungen müssen dann wortgetreu in nationales Recht umgesetzt werden, um sonst fällige Strafgelder zu vermeiden. „Das Wiehern jenes Amtsschimmels, der in Brüssel die EU-Richtlinie 2000/9/EG ersann, muss vom Nordkap bis Gibraltar zu hören gewesen sein. Denn diese Richtlinie schreibt vor: Der Betrieb und die Sicherheit von Seilbahnen, Ski- und Schleppliften muss geregelt werden – egal, ob es vor Ort überhaupt eine solche Anlage gibt! Und so kommt es, dass es seit 9. Dezember ein Seilbahngesetz für Berlin gibt. Dort gibt es natürlich keine Seilbahn. Aber, so versichert Senatssprecher Michael Donnermeyer, hätte Berlin nicht gehandelt, hätte die EU ein Strafgeld von 791 000 Euro [laut HH A 01.04.04: pro Tag; der Verf.] ausgesprochen ...“ Wie alle anderen Bundesländer musste auch Hamburg das von der EU geforderte und auch für Hamburg unsinnige Seilbahngesetz erlassen. Wegen der Unsinnigkeit steht - wohl einmalig in der Parlamentsgeschichte - in der Bürgerschaftsdrucksache 17/3734 einleitend die Entschuldigung: „Der Senat strebt (...) den Abbau überflüssiger Rechts- und Verwaltungsvorschriften an (...). Vor diesem Hintergrund bedauert der Senat, der Bürgerschaft den anliegenden Gesetzentwurf zuleiten zu müssen. ...“ Trotzdem können wir wegen dieses Gesetzes nicht (zu sehr) auf die EU schimpfen, denn die hatte nach einigen Seilbahnunglücken den Betrieb solcher potentiell gefährlichen Anlagen regeln wollen, und sie kann nichts für die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland: In dem zentralistisch organisierten Frankreich z.B. wird ein Seilbahngesetz für das Gebiet Frankreichs erlassen. Das gilt dann da, wo es sinnvoll ist, in den Alpen z.B., nicht in der Normandie. Weil die Regelung von Seilbahnen aber nicht in die Zuständigkeit des Bundes fällt, kann nicht analog vorgegangen werden. Und so muss ein jedes Bundesland ein Seilbahngesetz erlassen, um der sinnvollen EU-Auflage zu genügen!

Das führt zur wiederholt geäußerten nicht immer unberechtigten Unterstellung eines Regelungswahnes, auf die ein Bundesjustizminister dergestalt reagierte, dass er forderte, für jedes neu eingeführte Gesetz ein altes außer Kraft zu setzen. Außerdem sollte es – so eine andere Forderung - nur noch Gesetze mit eingearbeitetem Verfallsdatum geben, um sich einen mühsamen Gesetzeskehraus zu ersparen. Doch das ist leichter gesagt, als getan: Woher sollte z.B. der Verordnungsgeber wissen, wann die (Ex-)DDR aufhören würde zu existieren, denn „den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs’ noch Esel auf“, hatte Honecker – literarisch äußerst dürftig – gereimt. 2005, und damit eineinhalb Jahrzehnte nach dem Ende der DDR, wurde die „Verordnung über die Umzugskostenvergütung beim Umzug von Beamten in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik“ als abschaffungswürdig erkannt und zusammen mit weiteren 250 obsolet gewordenen Gesetzen und Verordnungen als (Teil-)Flurbereinigung abgeschafft. Die Unterstellung eines wenigstens in der Tendenz unbezweifelbar bestehenden Regelungswahnes geschieht 28

Leider wurde bei dieser Angabe aus 1997 nicht mitgeteilt, ob die speziellen Landesbestimmungen und die ebenfalls zahllosen Normen des Europa-Parlamentes und der EU-Bürokratie, denen auch ein Regelungswahn unterstellt wird, mit darin enthalten sind.

623

manchmal ohne tiefere Einsicht in Notwendigkeiten und wird gerne an Beispielen exemplifiziert, die bei näherem Hinsehen doch die Notwendigkeit einer Regelung erkennen lassen. So mokieren sich Zeitgenossen, warum die Toiletten in der EG bestimmten, von der EU vorgegebenen Normen entsprechen müssen: wie viel braunes Zeug durch einen Spülgang beseitigt werden muss. „Howe über EG-Normen für Toiletten SAD London – Bis vor zwei Jahren war die Weltpolitik sein Tagesgeschäft. Heute beschäftigen den ehemaligen britischen Außenminister Geoffry Howe andere Themen. Einer Anfrage folgend referierte der Politiker jetzt vor dem House of Lords über die EG-Normen für Wasserklosetts, die schon im kommenden Jahr verbindlich sein sollen:  Die Euro-Norm-Toilette muß robust genug sein, um dem Papierball-Test standzuhalten. Dabei werden zwölf Blatt Toilettenpapier - mit einer von Brüssel genauestens festgelegten Beschaffenheit – ‘leicht zum Ball geknüllt‘ in die Schüssel geworfen und hinuntergespült. Dies wird viermal wiederholt. Verschwindet das Papier nicht jedesmal im Rohr, ist die Toilette nicht EG-gerecht.  Die nächste Hürde, die eine Toilette auf dem Weg zum anerkannten EG-Klo nehmen muß, ist der Harzball-Test. Dabei muß der ‘Prüfling‘ mindestens vier von fünf schwimmfähigen Kunstharzkugeln einer bestimmten Größe, ‘relativer Materialdichte‘ und Konsistenz anstandslos schlucken.  Beim Sägemehl-Test wird die feuchte Schüssel sorgfältigst mit Sägemehl ausgestreut, bevor die Spülung gezogen wird. Dann messen Brüssels Latrinologen die Bereiche nach, die nicht saubergespült sind. Sind es mehr als 5000 Quadratmillimeter, kann die Toilette nicht von der EG anerkannt werden.  Ganz wichtig: Aus dem Spülkasten müssen mindestens sieben Liter Wasser fließen. Die Londoner Regierungsbehörden haben sich laut Geoffry Howe soeben Aufschluß darüber verschafft, ‘ob dies mit gegenwärtigen britischen Praktiken in Konflikt kommen‘ könnte.“ (HH A 05.02.92) Das kann man als Umwelt-Ignorant lachhaft finden - und das ist es zum Teil möglicherweise auch. Man findet es aber dann nicht mehr lachhaft, wenn man für Umweltfragen sensibilisiert ist und weiß, das Wasser - noch vor Energie - bald weltweit das größte Problem sein wird. Wenn man mit diesem Problembewusstsein den Abzug der Klospülung betätigt und dann miterlebt, dass das Becken hinterher weder sauber, geschweige denn rein ist, man ein zweites und drittes Mal spülen muss, um alles Grobe zu beseitigen, und so 14 oder sogar 21 Liter bestes aufbereitetes Trinkwasser durch die Leitung gejagt werden, weil die Toilette wohl nicht richtig konstruiert worden ist und darum nicht mit den für einen Spülgang vorgesehenen 7 Litern auskommt, und diese Beobachtung auf die Anzahl der möglichen Benutzungen pro Jahr durch alle EU-Bürger – natürlich nicht auf dieser einen Toilette - hochrechnet, dann denkt man etwas nüchterner über den gebetsmühlenartig behaupteten Brüsseler Regelungswahn. Aber es gibt ihn trotzdem, den Regelungswahn, auch wenn er bei dem vorstehenden Beispiel zu verneinen war: Warum müssen z.B. in einer Bananen-Verordnung Größe und Farbe von Bananen geregelt werden? Ich schäle sie eh und schnitzele sie in mein Morgenmüsli. Wenn Gesetze und gesetzesgleiche Bestimmungen nicht mehr nur im Dutzend, sondern gleich im Gros fabriziert werden, wird Wohltat durch Überregulierung zur Plage! Anderes Beispiel: In der von der EU erlassenen Obstqualitätsnormen-Verordnung (ObstQNormV) wird u.a. geregelt, dass eine Gurke der Sorte „Cucumis sativus L.“ nicht mehr als 10 mm Krümmung auf 10 cm Länge aufweisen dürfe. Die Gurken sollen aber doch nicht als Vorlage zu einem Stillleben dienen, und meinem Magen ist die Krümmung völlig egal: Mit Dill, Zitrone und ein wenig Sahne gut abgeschmeckt im Gurkensalat sieht man es den Gurkenscheiben nicht mehr an, ob die Ursprungsgurke gerade oder gekrümmt gewesen war. Sie muss nur munden! Letztes Beispiel: Warum musste in der EU-Norm EN 600 die Größe von Kondomen EU-einheitlich mit 170 mm Länge und 50 mm Durchmesser geregelt werden, und das nach einem 1993 heftig geführten Eurokratenstreit, in dessen Verlauf die Franzosen die von ihnen „angeberisch zunächst geforderten 56 mm Durchmesser nach erbittertem Streit zurückziehen mussten“ (Focus Feb. 2000)? Aber vielleicht gibt es für diese Normung auch einen einsehbaren Grund? Sonst würde es wohl nicht inzwischen eine weltweite Normung geben: „Kondome jetzt weltweit genormt Berlin – Das Deutsche Institut für Normung (DIN) hat die Mindestlänge für Kondome von 17 auf 16

624

Zentimeter reduziert. Mit der neuen Norm DIN EN ISO 4074 gelten künftig weltweit einheitliche Maßstäbe, hieß es. (ddp)“ (HH A 29.07.02) Die Dinger passten doch schon früher nicht, und jetzt werden sie noch kleiner! Na ja.29 Wir wollen die Europaproblematik außen vor lassen und uns nur dem bundesrepublikanischen Rechtssystem mit seinem „durch Regelungswut über die Jahre fett gewordenen Rechtsnormensystem“ (Sachverständigenrat Schlanker Staat) zuwenden. „Wir kriegen es noch hin, dass der Furz des Hundes in Nachbars Garten unters Immissionsschutzgesetz fällt“, beklagte des nordrhein-westfälische Ministerpräsidenten Steinbrück die Regelungswut wesentlich plastischer. Nach einer überschlägigen Berechnung des »Sachverständigenrates Schlanker Staat« sei die deutsche Wirtschaft mit „Bürokratiekosten von 58 Mrd. DM belastet“. Dies bedeute pro Unternehmen 62.200 DM oder pro Arbeitsplatz 3.640 DM. Leider wird in dem Zeitungsbericht nicht mitgeteilt, in welcher Höhe Kosten unabdingbar sind und in welcher Höhe Kosteneinsparungen durch Deregulierung möglich sein könnten, wenn der Staat den Rechtsnormenumfang abspecken würde. „Durch den vorgesehenen Rückzug der Behörden aus dem technisch-sicherheitsrechtlichen Bauordnungsrecht zum Beispiel könnten künftig 95 Prozent der Bauvorhaben genehmigungsfrei erledigt werden.“ Ich habe aber noch sehr gut die Fernsehbilder der in Asien zusammengestürzten Hochhäuser vor Augen, bei deren Errichtung nicht Eisenarmierungen sondern leere Blechkanister verwandt worden waren. Und auch jetzt schon passieren bei uns zu viele Umweltschweinereien, Lebensmittelskandale, ... . Die menschliche Gier drängt nach Bereicherung, teilweise unter bewusster Inkaufnahme von Risiken, Gefährdungen oder sogar bewusster Schädigung Ahnungsloser. Letzte in allgemeiner Erinnerung befindliche Beispiele krimineller Vorgehensweisen in Bereicherungsabsicht unter Schädigung von Leib und Leben Ahnungsloser: Trotz strenger Richtlinien ist im Zuge des BSE-Skandals Rindfleisch aus gefährdeten oder verseuchten Beständen von Großbritannien auf den Kontinent eingeführt worden, wurde mit HIV-Viren verseuchtes Blut verarbeitet und als Medikament ausgeliefert, passieren immer wieder Umweltschweinereien größeren Ausmaßes. Nach diesem kritischen, bruchstückhaften Blick auf Übereifer und Notwendigkeiten staatlicher Regelungswut müssen wir uns der Systematik unseres bundesrepublikanischen Rechtssystems zuwenden, um ein bisschen Grund unter die Füße zu bekomme, damit klar ist, wovon wir reden, wenn wir eventuell in den Chor der Kritiker einstimmen wollten. Ein Reden über eine Sache ist unangemessen bis lächerlich, solange man nicht annähernd weiß, wovon man spricht! Darum zunächst „ein bisschen Butter bei die Fische“:

Unsere gesamte Rechtsordnung gliedert sich in die beiden großen Bereiche: Privatrec ht und öffentlich es Recht

Privatrecht

und

öffentliches Recht.

Unter anderem nach dieser Grobeinteilung gliedern sich die vielen Gerichtszweige, in denen pro Jahr rund vier Millionen Prozesse von rund 20.000 Berufsrichtern abgewickelt werden. Bei der Frage, ob ein rechtliches 29

Zur Abrundung dieses EU Streites - und zur eigenen Standortbestimmung - die Meldung: „Kondome zu groß rtr Köln – Für rund 20 Prozent der deutschen Männer ist das Standard-Kondom zu groß. Das ergab eine Studie, die von ‘Pro Familia‘ (Köln) vorgestellt wurde. Danach liegt das Durchschnittsmaß des Mannes bei 14,48 Zentimeter Länge und 3,95 Zentimeter Durchmesser.“ (HH A 21.12.00) Weil nicht jede/r meiner Leser/innen eine Schublehre besitzt, wird hier - als ganz persönlicher Leserservice - die Umrechnung auf den Umfang nach der Formel: U = 2r = d vorgenommen, damit jeder und jede weiß, was Sache ist: U = d = 3,95cm x 3,1415927 = 12,41 cm. Nicht nur im juristischen Bereich gilt: Normen setzen Maßstäbe! Angier, N.: Frau Eine intime Geographie des weiblichen Körpers S. 93: „Zur Mitschrift: Der amerikanische Durchschnittspenis misst rund zehn Zentimeter im erschlafften und 14,5 Zentimeter im erigierten Zustand.“ Solche Mittelwerte sagen natürlich nichts über den beklagenswerten Einzelfall einer Normabweichung nach oben oder – erst recht beklagenswert – nach unten: Die bisher gemessenen Extremwerte erigierter Penisse liegen laut Pro 7/Welt der Wunder/Welt des Wissens vom 10.10.04 bei mitleidserregendem 1 cm als Minimal- und vermutlich furchteinflößenden 45 cm als Maximalwert. Solchen Männern am anderen Ende und ihren Leidensgenossen in ähnlich exponierter Lage ist natürlich mit einer Kondom-Einheitsgröße von 17 cm nicht geholfen; auch nicht damit, dass die Industrie ab November 2004 Kondome der Länge „King-Size“ mit 21,5 cm statt der 17 cm rausbringt, aber einigen nur »etwas begüteteren« schon. Hoffentlich passen die Dinger dann auch endlich mal im Umfang. „Für all jene, die glauben, ihr Penis sei zu klein oder zu gross, haben wir hier noch eine Zahl, die alles in den Schatten stellt: Der durchschnittliche Penis ist – Achtung, jetzt kommt es! – 16,1 Zentimeter lang“ (Blick Online 14.03.05)

625

Problem - vom Verfassungsrecht, das zum Bereich des öffentlichen Rechts gehört, einmal abgesehen - in den Rechtskreis des privaten oder des dem Bürger gegenüber meist auf ein Überordnungs-Unterordnungs-Verhältnis angelegten öffentlichen Rechts gehört, können zur Groborientierung als erste Leuchtfeuer die Kontrollfragen dienen: 1.) Hat ein Bürger oder eine juristische Person des Privatrechts (z.B. eine GmbH) losgelöst vom Arbeitsverhältnis ein Problem mit einem anderen Bürger oder einer anderen juristischen Person des Privatrechts (z.B. einer AG)? Dann ist ein Gebiet des Privatrechts betroffen. Hierfür ist die "ordentliche" Zivilgerichtsbarkeit zuständig. Damit ist aber nicht gesagt, dass die anderen Gerichtsbarkeiten (heute noch) "unordentlich" wären. Der etwas befremdliche Name erklärt sich historisch und stammt aus der Zeit, als Rechtsfälle aus dem Bereich des Zivilund des Strafrechts von Gerichten mit "ordentlichen", d.h., unabhängigen Richtern und andere Rechtsfälle, wie z.B. Finanz- und Verwaltungsrechtsstreite, von mit abhängigen Verwaltungsbeamten besetzten Gerichten entschieden worden waren. 2.) Betrifft oder tangiert ein rechtlicher Streit ein Arbeitsverhältnis in irgendeiner Form? Dann gehört dieser Streit vor die Arbeitsgerichte. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist eine erwachsen gewordene Tochter der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die dort verhandelte Rechtsmaterie enthält aber sowohl Elemente des Privat- wie auch des öffentlichen Rechts. 3.) Hat a) ein Bürger mit dem Staat ein Problem oder umgekehrt oder b) eine staatliche Stelle mit einer anderen oder wurde c) gegen aus überragendem Gemeinschaftsinteresse heraus getroffene Regelungen verstoßen? Dann ist das vor Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu verhandelnde öffentliche Recht, wie z.B. allgemeines Verwaltungs-, Bau-, Gewerbe-, Abgaben-, Polizei- und Ordnungsrecht, Asyl-, Lebensmittel-, Umweltrecht in der Form des Immissionsschutz-, Abfall- und Wasserrechts, BAFöG, Hochschul-, Wirtschafts- und Ordnungsrecht, usw., betroffen, wenn es sich nicht um ein vor den Landesverfassungsgerichten oder dem Bundesverfassungsgericht auszutragendes verfassungsrechtliches Problem handelt. Dabei ist durchaus fraglich, ob alles das, was im Rahmen der Gefahrenabwehr oder der Daseinsvorsorge geregelt ist, auch öffentlich-rechtlich geregelt sein muss: Warum gibt es z.B. einen in Friedhofsgesetzen geregelten Friedhofsbestattungszwang? In Großbritannien können sich eingeäscherte Fans an der Auslinie ihres Lieblingsvereins beisetzen lassen: STADION-TOTENKULT Plätze für die letzte Ruhe ausverkauft Von Julia Grosse, Liverpool Die Fans des FC Everton machen schwere Zeiten durch. Der Star des Premiership-Clubs, EM-Held Wayne Rooney, wird wegen einer Fußverletzung noch bis Mitte September fehlen. Keine Hoffnung gibt es in einer anderen Angelegenheit. Die beliebten Stadionbeisetzungen sind nicht mehr möglich. Im Goodison Park gibt es ein Platzproblem. Nicht etwa auf den Rängen ist es eng. Das Stadion wird gerade um weitere 300 Sitze auf fast 40.500 Plätze erweitert. Vielmehr musste das Management des Clubs mitteilen, dass ab sofort nicht mehr die Asche verstorbener Fans in Urnen am Spielfeldrand des heiligen Rasens begraben werden kann. 800 treue Anhänger der "Blues" hatten sich seit 1989 dafür entschieden, das sind über 50 Beisetzungen pro Jahr. "Wir haben es immer als große Ehre empfunden, wenn die Leute unser Stadion als den Ort ihrer letzten Ruhe gewählt haben", sagt Evertons PR-Chef Ian Ross. Die erste Grabstelle befindet sich beim FC Everton am begehrten Spielertunnel. "Seitdem haben wir uns buchstäblich einmal um das ganze Spielfeld gearbeitet. Jetzt ist uns schlichtweg der Platz ausgegangen", bedauert Ross. Wirklich erklären kann er sich die große Nachfrage nicht. "Wir sind ein familiärer Club und nehmen die Wünsche unserer Fans sehr ernst. Vielleicht ist das das Geheimnis." Die meisten Vereine der englischen Premier League bieten den besonderen Bestattungsservice offiziell nicht an, doch auf spezielle Anfrage ist es auch dort möglich. "Pro Saison lassen sich bei uns aber nur vier bis fünf Fans in Urnen jenseits des Rasens beisetzen. Die Nachfrage ist also relativ gering", weiß der Pressesprecher Mark Hannen von Newcastle United. Auch Evertons Lokalrivale FC Liverpool hält sich zurück. "Wir streuen manchmal die Asche direkt über das Feld. Aber wenn eine Familie die Asche des Verstorbenen direkt am Tag eines Spieles verstreuen will, geht das natürlich nicht", ist beim englischen Rekordmeister zu erfahren. Das Ausbringen der Asche direkt über dem Spielfeld wurde bis 1989 auch beim FC Everton praktiziert. Damals begann man die Fußballfelder mit

626

Phosphat zu düngen, weil so das Gras besser wuchs. Das Phosphat und die Asche der Toten riefen chemische Reaktionen hervor, und das interessierte dann plötzlich die Behörden. Auch kam die Frage auf, ob es ethisch überhaupt vertretbar sei, die Spieler über die Asche Verstorbener laufen zu lassen. Viele Clubs reagierten und änderten ihr System. So hat Meister FC Arsenal, am Sonntag Evertons Gegner beim Saisonauftakt, heute einen kleinen Bereich hinter dem Tor eingerichtet, auf dem sich die Asche einiger Fans befindet. "Wir begannen die Asche in Urnen beizusetzen und hatten seitdem mit unseren Behörden keine Probleme mehr", sagt Evertons Ross. Das Behältnis wurde für gewöhnlich von den Platzwärtern am Rand der Rasenfläche in rund 30 Zentimetern Tiefe vergraben. "Wer wo genau liegt, wissen wir nicht, wir führen kein Protokoll über die Gräber", sagt Ross. Männer, deren Frauen oder auch ganz jung verstorbene Fans sind vertreten. Nur eine kleine Plakette erinnert an die Verstorbenen, mit Namen, Daten und einem Spruch für die Ewigkeit. "Albo - a True Blue", lautet einer. Wollte eine Familie nach der Trauerfeier und Einäscherung noch einen Geistlichen zur Beisetzung der Urne ins Stadion mitbringen, war auch dies möglich. Zu Todestagen oder an Weihnachten sieht man im Goodison Park die Familien vor den jeweiligen Plaketten stehen und trauern. Auch hier zu Lande träumen viele Fans davon, auf dem Platz ihres Vereins beerdigt zu werden. "Doch nach deutschen Bestattungsgesetzen wäre das nie möglich. England ist da mit seinem Fankult ein wenig aufgeschlossener", sagt Hans-Joachim Dohm, Pfarrer auf Schalke. Dohm hat in seiner Amtszeit schon von einigen 04-Fans gehört, die sich damals noch im alten Parkstadion beerdigen lassen wollten. "Ganz selten gibt es schon einmal Beerdigungen von Fans mit Sarg in den Schalker Farben oder Fan-Utensilien statt Blumen. Mehr jedoch nicht", sagt Dohm. Beim FC Everton sucht man bereits angestrengt nach Alternativen. Eine Überlegung ist die Anlage eines "Memorial Gardens" auf dem Kirchengelände direkt neben dem Stadion. Das ist zwar nicht mehr unmittelbar am Spielfeldrand, aber immerhin fast nur einen Freistoß entfernt. Evertons Pressechef Ross ist zuversichtlich. "Auch in Zukunft sollen unsere Fans die Möglichkeit haben, ihrem Club auch im Jenseits nahe zu sein." (Spiegel Online August 2004) Doch Großbritannien, wo man Individualität über die Maßen und darum auch spinnerte Leute zwar belächelt, aber als Sonderlinge schätzt, muss nicht der Maßstab für unsere Gesetze zur Regelung der Beisetzungen sein: „Letzter Wille Asche zu Munition verarbeitet London – Eine englische Witwe hat die Asche ihres Mannes zu Munition für eine Jagdgesellschaft verarbeiten lassen. Wie der ’Daily Telegraph’ berichtete, erwies Joanna Booth aus London ihrem an einer Lebensmittelvergiftung gestorbenen Mann, einem Liebhaber alter Waffen, mit der sehr ungewöhnlichen ’Bestattung’ die letzte Ehre. Die Munitionsfirma mischte die Asche mit Schrotkugeln: Das Gemisch reichte für 275 Patronen. Diese wurden zunächst von einem Pfarrer gesegnet und anschließend von 20 engen Freunden der Familie in Schottland zum Abschluss der Jagdsaison verschossen. Indirekt seien durch den Verstorbenen auf diese Weise 70 Rebhühner, 23 Fasane, sieben Enten und ein Fuchs ums Leben gekommen. (dpa)“ (HH A 17.02.04) Auch in den liberalen Niederlanden und selbst in den katholischen Hochburgen Spanien und Italien kann die Asche der Verstorbenen mit nach Hause genommen werden. „Am freizügigsten aber sind die Niederländer, die ihre fein gemahlenen Altvorderen überall verstreuen dürfen – zu Lande, zu Wasser und aus der Luft“ (SPIEGEL 45/2002). Die wurden aber inzwischen von einer auch in Bayern operierenden Schweizer Firma übertrumpft; Omi als Schatz, der sie ihr Leben lang war, kann nunmehr als Diamant am Finger getragen werden; oder Opi an der Uhrkette: „Diamant aus Totenasche Karlsruhe - Nach dem Tod als Schmuckstück enden: Was für viele Menschen makaber scheint, macht eine Schweizer Firma seit kurzem möglich. Sie verarbeitet die Asche Verstorbener zu Diamanten. Das Unternehmen Algordanza, das seit November auch eine Filiale im bayerischen Lindau am Bodensee betreibt, will Trauernden ein ganz persönliches Erinnerungsstück bieten gefertigt aus den sterblichen Überresten des geliebten Menschen. Der Diamant sei ein Symbol der ’Unvergänglichkeit, der Erinnerung und der Liebe’. Die so ’veredelte Asche’ werde zu einem ’persönlichen mobilen Ort der Trauer und des Erinnerns’, sagt der Geschäftsführer Andreas Wampl (Lindau). Oberkirchenrat Michael Nüchtern von der evangelischen Landeskirche in Karlsruhe kritisierte allerdings die Privatisierung des Todes nach dem Motto ’Die

627 Asche gehört mir’. In Deutschland gilt ohnehin ein Bestattungszwang. epd“ (HH A 12.11.04) In Deutschland dagegen besteht seit 1933 ein Friedhofsbestattungs- und Sargzwang, der aber seit 2003 in Nordrhein-Westfalen als erstem Bundesland – mit Blick sowohl auf das Recht in anderen EG-Ländern wie auch auf die in NRW zahlreich lebenden Muslime und ihr glaubensmäßiges Erfordernis der nicht nur 25-jährigen, sondern einer »ewig« ungestörten Grabruhe - beseitigt wurde. Zwar können Opa und Oma wegen des hartnäckigen Widerstandes der CDU und der christlichen Kirchen noch nicht in substanziell veränderter Form in einer Urne auf dem Kaminsims weiterhin an Familienfeiern teilnehmen, aber sowohl der Friedhofsbestattungswie auch der Sargzwang sind gefallen, so dass Muslime ihre Toten nun in Leichentücher gehüllt in speziell ausgewiesenen „Friedwäldern“ beisetzen und ihnen so die von den deutschen Friedhofsverwaltungen nicht gewährte „ewige“ Grabruhe zukommen lassen können. Natürlich regte sich dagegen Widerstand, der wegen der dann wegfallenden Friedhofsgebühren zwischen 1.200- 3.000 € vom Deutschen Städtetag über die Gewerkschaft Ver.di wegen wegfallender Stellen für Totengräber und das gesamte Bestattungsgewerbe wegen Geschäftseinbußen für Bestatter (ca. 400-6.500 €), Steinmetze (550-4.500 €) und Floristen (250-900 €) bis zu den Kirchen reichte, die um ein weiteres Ausbleiben verirrter Schäfchen fürchten und dafür sogar die den Wünschen der Kirchen entgegenstehende Menschenwürde der Verstorbenen bemühten. Der moderne Mensch müsse - so ein evangelischer Würdenträger - vor sich selbst geschützt werden: „Das Recht auf Selbstbestimmung dürfe nicht das Recht auf die eigene Menschenwürde verletzten.“, weil – so ein ihm sekundierender katholischer Würdenträger – die Asche, wenn sie demnächst auf der Wiese verstreut werden sollte, beim nächsten Rasenmähen auf dem Kompost lande. 4.) Hat der Staat mit einem Bürger oder ein Bürger mit einem anderen Bürger oder dem Staat ein derartiges Problem, dass es den Staat in der Gestalt des Staatsanwaltes und des Strafrichters interessiert? Dann ist meistens ein verselbstständigter Teil des öffentlichen Rechts, das Strafrecht insbesondere des Strafgesetzbuches oder eines sonstigen "Nebenstrafrechts" (wie z.B. das Straßenverkehrs- das Betäubungsmittelgesetz, ...) betroffen. Ein solches "Problem" wird dann aber trotz seines Charakters als öffentliches Recht nicht von einem Verwaltungsgericht, sondern aus Traditionsgründen von der der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugeordneten Strafgerichtsbarkeit abgewickelt, wo es von Anfang an angesiedelt war, als man das noch als Einheit empfundene Recht noch nicht in die großen Rechtsgebiete und die verschiedenen noch weitergehenden spezialisierten Gerichtszweige aufgesplittet hatte.

2 Erste Einblicke in das Privatrecht Erste Einblicke in das Privatrecht

Das Privat- oder auch Zivilrecht regelt die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander durch Rechtsgeschäfte, ganz überwiegend durch Verträge. Dabei gilt der Grundsatz der Privatautonomie, der nur eingeschränkt wird, wenn als vorrangig erachtete Interessen bedroht sein könnten. Wenn jemand z.B. eine Sache kauft, schließt er als Käufer mit dem bisherigen Eigentümer oder einem von dem dazu gemäß § 167 BGB bevollmächtigten Vertreter (im Geschäftsbereich einem gemäß § 54 Handelsgesetzbuch (HGB) bevollmächtigten Angestellten in einem Laden; bei den vielen Filialen können z.B. die Gebrüder Albrecht nicht überall persönlich an der Kasse sitzen) einen Kaufvertrag gemäß § 433 BGB ab, damit letztlich die von ihm gewünschte Sache aus dem Eigentum des bisherigen Eigentümers in sein Eigentum übergehe. Es müssen im Falle des beispielhaft angesprochenen Kaufvertrages zwei übereinstimmende Willenserklärungen vorliegen, damit der Kauf rechtswirksam zustande kommt: Ein ganz konkretes Angebot des Erklärungsgebers, das so konkret ist, dass der Erklärungsempfänger zur Annahme nur noch: „Ja“, sagen muss. Ein Kaufvertrag ist also grundsätzlich ein nicht formgebundenes – man muss nicht erst zum Notar laufen, um den Brötchenkauf beurkunden zu lassen zweiseitiges Rechtsgeschäft in der Form eines zweiseitigen zivilrechtlichen Vertrages. Das sind in der Lebenswirklichkeit wohl die meisten geschlossenen Verträge. „Willst Du mich heiraten und zu mir halten, in guten wie in schlechten Tagen?“ „Ja!“ (Allerdings können nach der Erkenntnis des BVerfGs aus dem Jahr 2001 die aus diesem Grund zur näheren Ausgestaltung geschlossenen Eheverträge wegen Sittenwidrigkeit der darin für den Fall der Beendigung der Ehe meist geregelten Verzichtserklärungen nichtig sein, wenn die darin getroffenen Regelungen gegen den Persönlichkeitsschutz der Frau, den Mutterschutz oder das Kindeswohl verstoßen.) Weil den Staat nicht jedes gekaufte Brötchen interessieren kann, hält er sich aus einem (solchen) Kaufvertrag grundsätzlich heraus. Er ist ja auch zwischen Privatleuten abgeschlossen worden. Diese grundsätzliche Staatsferne von Verträgen des Privatrechts gilt auch für andere zweiseitige zivilrechtliche Verträge, wie z.B.

628

einen Werkvertrag gemäß § 631 BGB, demzufolge z.B. ein Maler den Auftrag erhält, die Wohnung zu renovieren. Den Staat interessiert - außer einer Stelle: dem Finanzamt - nicht, wenn jemand seine Fenster nicht selber streichen oder seine Wohnung nicht selber neu tapezieren will und statt dessen einen Maler engagiert wenn das nicht auf der Basis von "Schwarzarbeit" vorgenommen wird. Der beauftragte Maler schuldet dem Auftraggeber gemäß der vertraglichen Vereinbarung des Werkvertrages einen bestimmten Erfolg: Ein handwerksgerecht gestrichenes Fenster, eine handwerksgerecht tapezierte Wohnung, ... . Das staatliche Interesse sollte aber wach werden, wenn z.B. die Firma Immhausen auf Grund eines Werk- oder Werklieferungsvertrages (einer Mischform aus Kauf- und Werkvertrag) in Libyen eine Giftgasfabrik aufbaute. Dann schuldet die Firma dem libyschen Staat oder der von diesem Staat beauftragten Stelle auf Grund des zwischen ihnen geschlossenen zweiseitigen Vertrages nach eigenem und libyschem Verständnis auch einen Erfolg: eine funktionsfähige Giftgasfabrik. Aber aus diesem zivilrechtlichen Werk- oder Werklieferungsvertrag hält sich unser Staat wegen der Gefährlichkeit des "Deals" nun nicht mehr heraus - wenn der amerikanische Geheimdienst und die amerikanische Presse genügend Staub aufgewirbelt haben. Der Vertrag interessiert dann endlich außer dem Finanzamt auch den Staatsanwalt und den Strafrichter! (Unsere Strafjustiz beließ der Firma aber unverständlicherweise den Gewinn in Höhe von mindestens 35 Mill. DM aus ihren Straftaten und schöpfte ihn nicht ab! Ungern gezogenes Fazit: Verbrechen kann sich lohnen, selbst nach Entdeckung der Straftat.) Ein anderes Beispiel für die Einmischung des Staates in zivilrechtliche Verträge: "Hamburger Firma flog auf - drei Festnahmen Verstoß gegen Embargo Schon wieder ist in Hamburg gegen das UN-Embargo gegen Rest-Jugoslawien verstoßen worden. Zollfahnder kamen einer Hamburger Firma auf die Spur, die trotz Verhängung der Sanktionen Waren aus Serbien eingeführt hat. ... Alle Firmenunterlagen und die laufende Produktion wurden beschlagnahmt. Nach den bisherigen Ermittlungen sind 27 serbische Lastwagentransporte mit einem Wert von rund 1,2 Millionen Mark in die Hansestadt gelangt. Die drei Kaufleute sind mittlerweile gegen Zahlung einer Kaution freigelassen worden. Ihnen droht nach dem Außenwirtschaftsgesetz eine Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren." (HH A 22.12.92)

Aus manchen anderen Kaufverträgen hält der Staat sich zwar, was die genauen Vertragsmodalitäten angeht, heraus, registriert sie aber, weil sich daran Folgen knüpfen. Das gilt z.B. für einen Grundstückskauf. So ein Kauf geschieht nicht über die Ladentheke, sondern muss von einem Notar beurkundet werden, der den Verkauf dann an die Grundbuchstelle des Amtsgerichts meldet, wo jede Änderung der Eigentumsverhältnisse im Grundbuchregister eingetragen wird. Ein Grundstückskauf ist somit ein formgebundener zweiseitiger Vertrag. Doch nicht jeder von uns wird ein Haus oder eine Eigentumswohnung kaufen. Darum ein anderes Beispiel für formgebundene zweiseitige Verträge, das mehr Bürger betrifft: Jeder hoch entwickelte Staat hat ein überragendes Interesse daran zu wissen, wer seine Bürger sind und in welchem Personenstand sie leben, denn daran knüpfen viele andere Rechtsfolgen an: Für Kinder und Jugendliche z.B. die Schulpflicht, Unterhalts- und gegebenenfalls Sozialhilfeansprüche, das Erbrecht, für Erwachsene z.B. Fragen von Steuerklasse, Unterhalt, Zeugnisverweigerungsrecht, Sozialhilfeanspruch, Rentenberechtigung, Hinterbliebenenversorgung, Erbrecht und, und, und .... . Darum ist eine Eheschließung gemäß § 1310 BGB zwar ein zweiseitiges Zivilrechtsgeschäft, das der Königsberger Philosoph Kant einmal etwas sehr lieblos dahingehend definierte: „Die Ehe ist ein Vertrag zur Gewährung gegenseitiger Geschlechtsvorteile.“ Eine Ehe werde zum Zwecke des „wechselseitigen Genusses der Geschlechtsteile“ geschlossen. Mehr wollte ihm dazu nicht einfallen. Wie uncharmant, und wie peinlich ungalant! Da wundert es wohl niemanden, dass der Herr Professor nie verheiratet gewesen war: Es war wohl auch besser, dass sich so ein Stoffel höchstens mit »der Frau an sich« befasste und keiner netten Dame seiner gesellschaftlichen Schicht, die in dem damaligen Preußen zu überwinden kaum möglich war, eine Ehe mit ihm zumutete! Da ist er wohl ein Opfer seiner Sozialisation geworden: „Als ich die Frauen brauchte, konnte ich sie mir nicht leisten, und als ich sie mir leisten konnte, brauchte ich sie nicht mehr.“ (Nicht bekannt ist, in welchem Alter er diesen Ausspruch von sich gab.) Dieser zweiseitige Vertrag der Eheschließung kommt aber nur dadurch zustande, dass der Staat in Form des zuständigen Standesbeamten als Urkundsbeamter daran mitwirkt; handelt ein unzuständiger Standesbeamter, liegt eine Nicht-Ehe vor. Jeder der beiden persönlich und gleichzeitig vor dem Standesbeamten erschienenen zukünftigen Eheleute muss auf dessen Befragen laut, deutlich und unzweifelhaft ohne jede einschränkende

629

Bedingung, Zeitbestimmung oder einen anderen Vorbehalt (auf hoch-?)deutsch30 erklären, dass er den anderen als seinen zukünftigen Ehepartner annehmen will. (Es muss für die gesamte versammelte Hochzeitsgesellschaft sehr peinlich gewesen sein, als eine meiner mir später bekannt gewordenen Freundinnen in diesem Moment: „Nein.“ sagte, bis nach einem halbstündigen „mother-talk“ als Intermezzo der Widerstand gebrochen war: „Na gut, wenn ihr das so wollt, dann heirate ich ihn eben.“ Dem Standesbeamten hat sie das aber nicht so sagen dürfen und darum auch nicht so gesagt. Nach der standesamtlichen Zeremonie - „... hiermit seid ihr nunmehr kraft Gesetzes rechtmäßig verbundene Eheleute“ - ging Dagmar auf ihr Zimmer und kam die nächsten Tage nicht wieder raus31, heulte und zerschnitt ihr Brautkleid, während die Hochzeitsgesellschaft ihre Hochzeit drei Tage lang ohne sie feierte - und das alles nur, weil sie nicht darauf warten wollte, bis ich eine Generation später ihren Lebensweg kreuzte. Es kam, wie es kommen musste: Nach einem halben Jahr war sie dann - als junge Mutter - wieder geschieden.) Für die Eheschließung und ihre Registrierung muss dann noch eine Gebühr bezahlt werden. Das sind aber die geringsten Kosten einer Ehe! Wegen des einer Ehe zu Grunde liegenden Zivilrechts wird eine dann später bei einem Drittel der Eheschließungen fällige Scheidung von den Zivilgerichten ausgesprochen und nicht von einem Verwaltungsgericht. Aber nicht immer braucht man das Familiengericht: „Betrunkener Bürgermeister traute aus Jux – Ehe gültig?“: Nach einer feucht-fröhlichen Geburtstagsfeier in einem örtlichen Restaurant hatte der Bürgermeister der Marktgemeinde Kraibach am 22.08.98 die Geburtstagsrunde nach Schließung des Restaurants noch zu sich ins Rathaus geladen. Dort zeigte er ihnen nicht nur den Sitzungssaal. In dem Standesamtszimmer setzten sich ein junger Mann und eine junge Frau vor den Bürgermeister, der Kraft seines Amtes auch als Standesbeamter fungieren darf. Unter dem Gejohle der anderen Gäste traute der Bürgermeister die beiden. „Doch was niemand der Anwesenden bedacht hatte: Da seit dem 1. Juni 1998 kein Aufgebot mehr erforderlich ist, war die Gaudi-Ehe eigentlich gültig. ... Sollte das [aufsichtsführende] Landratsamt zu dem Schluß kommen, daß die Gaudi-Ehe gültig ist, muß das Ehepaar wider Willen zunächst ein Trennungsjahr einhalten. Erst danach können sich die beiden wieder scheiden lassen.“ (HH A 25.10.98) Mit ein wenig Phantasie kann man den Fall noch weiterspinnen: Die Ehe wird zwar später für ungültig erklärt, aber die angesoffenen Brautleute hatten nicht so genau hingekuckt oder den Jux weiter getrieben und miteinander die Hochzeitsnacht gefeiert – sehr speziell und deshalb ohne die anderen Gäste. Diese Nacht sei - wie es in solchen Fällen dann meistens ist, wenn es nicht sein soll (und man kann seine Phantasie ja nicht anhalten) - nicht folgenlos geblieben. Ist das Kind dann ehelich oder außerehelich? Der Journalist war nicht allzu rechtskundig - oder er wollte es wegen des Gags der angeblich oder möglicherweise gültigen Trauung nicht sein. Denn das Problem ist sehr leicht über die §§ 117 I BGB, „§ 117 [Scheingeschäft] Das Bremer Standesamt gab unter Hinweis auf § 23 I VwVfG: „Die Amtssprache ist deutsch.“, einen abschlägigen Bescheid, als sich dort 1997 zwei auf plattdeutsch das Ja-Wort geben wollten. „Jo“, „Jau“ oder gar „Dat will ick“ seien nicht zulässig. Die Verlobten wollten anschließend vom Innensenator wissen: Meint „deutsch“ nur die hochdeutsche Standardsprache oder ist nicht auch das dort heimische Niederdeutsch deutsch? Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer dörflichen Gegend in Bayern eine Eheschließung verweigert wird, weil der Toni und die Vroni Dialekt sprechen! 31 Man wusste wenigstens wo sie war, so dass sich daraus keine weiteren Komplikationen ergeben konnten, wie in dem Fall: „Ausreißer-Braut trägt Kosten USA Die Braut, die sich nicht traute, will teilweise für die Kosten der nach ihr ausgelösten Fahndung aufkommen. Bürgermeisterin Shirley Lasseter sagte, Jennifer Wilbanks habe der Stadt Duluth die Zahlung von 13 250 Dollar zugesagt. Mit der Einigung schreibt die Stadt weitere rund 30 000 Dollar ab, die ihr bei der Suchaktion Ende April entstanden. Wilbanks wurde am Mittwoch vergangener Woche wegen Vortäuschung einer Straftat angeklagt. Der 32jährigen Krankenschwester drohen damit sechs Jahre Haft. Sie war Ende April vor ihrer eigenen Hochzeit geflohen und hatte eine dreitägige Fahndung ausgelöst. AP“ (DIE WELT 02.06.05) 30

630

Wird eine Willenserklärung, die einem anderen gegenüber abzugeben ist, mit dessen Einverständnis nur zum Schein abgegeben, so ist sie nichtig. ...“ 118 BGB „§ 118 [Mangel der Ernstlichkeit] Eine nicht ernstlich gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung abgegeben wird, der Mangel der Ernstlichkeit werde nicht verkannt werden, ist nichtig.“ oder spätestens über „§ 1314 [Aufhebungsgründe] I. Eine Ehe kann aufgehoben werden, wenn sie entgegen den Vorschriften der §§ ... geschlossen worden ist. II. Eine Ehe kann ferner aufgehoben werden, wenn ... 5. beide Ehegatten sich bei der Eheschließung darüber einig waren, daß sie keine Verpflichtung gemäß § 1353 Abs. 1 [eheliche Lebensgemeinschaft; d. Verf.] begründen wollen.“ zu lösen. Und etwa gezeugte Kinder wären nichtehelich. Aber was früher als gesellschaftlicher Makel angesehen wurde, ist jetzt schon ein weit verbreiteter Normalfall, denn ein Drittel aller in der Bundesrepublik geborenen Kinder werden nichtehelich in diese Welt gepresst. Ist jemand krank und meint, Hilfe zu benötigen, geht er zum Arzt. Mit dem schließt er keinen Werkvertrag ab, sondern einen Dienstvertrag gemäß § 611 BGB. Warum keinen Werkvertrag? Ein Arzt schuldet bei der Krankenbehandlung nach deutschem Recht nur sein bestmögliches Bemühen, seine Dienste im Rahmen seiner Fähigkeiten und des unter Ärzten allgemein vorauszusetzenden Wissensstandes einzusetzen, nicht aber den Heilungserfolg: "Auch wenn künstliche Befruchtung mißlingt - Patientin muß Arztrechnung bezahlen Nachdem sie jahrelang vergeblich versucht hatten, ein Kind zu bekommen und eine Untersuchung schließlich ergab, daß der Mann unfruchtbar war, entschlossen sich die Eheleute auf Anraten ihres Arztes zu einer künstlichen Befruchtung mit dem Samen eines anonymen Spenders. Kosten der Behandlung: 2.000 Mark Grundgebühr und für jede Samenspende 400 Mark zuzüglich Nebenkosten. Insgesamt ergab dies nach Abschluß der Behandlung eine Honorarforderung von 4.600 Mark. Zum Leidwesen aller Beteiligten blieb der erhoffte Kindersegen aus. Die Frau wurde nicht schwanger. Dennoch bestand der Arzt auf der Zahlung des Honorars. Zu Recht, wie das AG Essen bestätigte. Der Einwand der Frau, der Behandlungsvertrag sei von Anfang an sittenwidrig gewesen, fand bei Gericht keine Gegenliebe. Auch nicht die Begründung, nicht der Arzt, sondern eine Helferin habe die Insemination vorgenommen. Wer sich auf solche Geschäfte einläßt, befand das Gericht, muß die Kosten tragen. (130 C 161/91)" Wenn das anders wäre und der Arzt das Ergebnis eines Werkvertrages, nämlich den Heilungserfolg schuldete, würde kein Arzt mehr z.B. einen Todkranken behandeln. Wegen des (ohne Heilungsgarantie) abgeschlossenen Dienstvertrages erhält er sein Honorar sogar auch dann, wenn der Patient eine "lege artis" (nach den Regeln der - ärztlichen - Kunst) durchgeführte Behandlung nicht überlebt. (Im alten China war das anders geregelt: Da wurde ein Arzt nur dann bezahlt, wenn der Kranke gesundete.) Wohlgemerkt: Die Behandlung muss nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen worden sein. Das gilt für jede ärztliche Behandlung, und damit grundsätzlich auch für eine zahnärztliche: Der Zahnarzt versucht, die Schmerzen unter Erhalt des Zahnes zu beheben, das misslingt, und der Zahn muss nach ein, zwei Wochen doch raus. Dann steht dem Zahnarzt für die Behandlung wegen des Dienstvertrages ein angemessenes Honorar zu. Anders ist es z.B., wenn ein Zahnarzt für einen Patienten eine Prothese selber herstellt oder in einem Zahnlabor anfertigen lässt: Die muss im Mund richtig sitzen, sonst hat der Zahnarzt keinen Anspruch auf Entlohnung, denn für die Herstellung einer Prothese gilt zwischen Zahnarzt und Patient nicht ein Dienst-, sondern ein Werkvertrag als abgeschlossen. Für eine fehlerhaft ausgeführte Dienst- oder Werkleistung steht aber niemandem ein Honorar zu, wenn keine sinnvollen und deshalb einzeln abrechenbaren Teilleistungen erbringbar oder erbracht worden sind. Der

631

fehlerhaft Belieferte/Behandelte hat u.U. sogar Anspruch auf Rückabwicklung, Minderung oder sogar Schadensersatz. „Der Streitfall: Ungewolltes Kind ein ‘Schaden‘? Ärzte sind schockiert ‘Urteil des Verfassungsgerichts unmenschlich‘ awe/tht Hamburg/Bonn – Mit seinem Urteil zur Haftbarkeit von Ärzten für ungewollte Kinder hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe gestern helle Empörung unter Fachmedizinern und scharfe Kritik bei Juristen ausgelöst. Zugleich offenbarte der Beschluß einen beispiellosen Konflikt zwischen den beiden Senaten des obersten deutschen Verfassungsgerichts. Kern des Streits ist die Frage, ob die Eltern die Unterhaltspflicht für ein ungewolltes Kind als ‘Schaden‘ begreifen und dafür nach einer fehlerhaften Behandlung den Arzt haftbar machen dürfen. ... Der Erste Gerichtssenat hatte am Montag anhand von zwei Verfassungsbeschwerden entschieden, daß Ärzte nach einer mißlungenen Sterilisation oder einer fehlerhaften Beratung über genetisch bedingte Erbkrankheiten den Eltern für ein unerwünschtes Kind Unterhalt zahlen müssen und der Mutter Schmerzensgeld. ... Der Zweite Senat verwies auf sein Abtreibungsurteil von 1993. Darin habe er geäußert, es sei von Verfassungswegen ‘nicht gestattet, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen‘. Es handele sich bei dieser Äußerung um eine ‘tragende Rechtsauffassung‘. Der Erste Senat sah das in seinem Beschluß anders ... . Sein Beschluß ist bindend. Der beispiellose gerichtsinterne Konflikt geht nach Angaben ranghoher Justizkreise auf Kompetenzstreitigkeiten und Animositäten zwischen Richtern beider Senate zurück. Der Erste Senat erläuterte seinen Beschluß auch mit dem Argument, wenn die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden angesehen werde, stelle dies keine ‘Kommerzialisierung dar, die das Kind seines Eigenwertes beraubt‘. (HH A 17.12.97) Und die Auslandsvariante, die ungewollte Kinder sehr wohl als Schaden ansah: „Wirkungslose Antibabypille Rio de Janeiro – Eine Tochter des Berliner Pharmakonzerns Schering ist in Brasilien wegen wirkungsloser Antibabypillen zu 280 000 Euro Schadensersatz verurteilt worden. Statt MicrovlarPillen waren versehentlich nur wirkungslose Placebos in den Handel gelangt. 40 bis 50 Frauen wurden dadurch ungewollt schwanger. (dpa)“ (HH A 26.03.04)

Bei einer Schönheitsoperation schuldet der Arzt nach herrschender, aber längst nicht einhelliger Meinung - das kann man von Juristen nun auch wirklich nicht erwarten - nicht nur ein Tätigwerden nach den Regeln der ärztlichen Kunst, sondern einen ganz bestimmten Erfolg. Zwischen Patient/in und Arzt besteht dann (eher) ein Werkvertrag oder ein „gemischter Werkvertrag“: Wenn eine Brust hinterher ganz anders hängt als die andere, ist das eine zur kostenlosen Nachbesserung oder zum Schadensersatz verpflichtende Schlechtleistung: Wie soll sich auch ein solches Operationsopfer in der Sauna oder am FKK-Strand sehen lassen oder auch nur ganz alleine morgens im Spiegel ertragen können? Ganz offensichtlich notwendig ist diese Differenzierung zwischen Werk- und Dienstvertrag z.B. auch dann, wenn sich zwei mit Hilfe der von ihnen bemühten Rechtsanwälte vor Gericht streiten: Kommt es nicht zum Vergleich, kann grundsätzlich nur einer den Rechtsstreit gewinnen, wenn nicht beide Seiten ein hälftiges Verschulden an der Vertragsstörung oder ein Verschulden nach einer anderen Quotelung trifft. Kein Rechtsanwalt schuldet seinem Mandanten den glücklichen Ausgang des Prozesses - dafür ist der oft viel zu ungewiss, denn vor Gericht erhält man nicht Recht, sondern (nur) ein Urteil! -, aber beide mit der Führung des Rechtsstreites beauftragten Rechtsanwälte haben für ihre Bemühungen Anspruch auf das in der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (BRAGO) gesetzlich festgelegte Mindesthonorar; fraglich ist nur, wer es letztlich bezahlen muss. Beide Rechtsanwälte können sich aber auch, wie ein auf der Basis eines Dienstvertrages verpflichteter Arzt, schadenersatzpflichtig machen, wenn sie nicht umsichtig und sorgfältig nach den Regeln der juristischen Kunst gearbeitet und z.B. einschlägige Rechtsprechung übersehen oder Fristen versäumt haben. Die Unterscheidung zwischen Dienst- und Werkvertrag und der daraus resultierende unterschiedliche Anspruch auf Vergütung der erbrachten Leistung - Werkvertrag: Vergütung nach Erfolg (ordnungsgemäßer Ausführung) der vereinbarten Leistung; Dienstvertrag: Vergütung für Tätigwerden ohne Rücksicht auf einen Erfolg - hat

632

nichts mit möglichen Schadensersatzansprüchen bei "Schlechtleistung" oder ausgebliebener Leistung zu tun. Nach Abschluss eines Vertrages gilt grundsätzlich: „Pacta sunt servanda!“ („Verträge müssen eingehalten werden.“) Von einem abgeschlossenen Vertrag, dessen Vereinbarungen und rechtsgültigen Abschluss man im Zweifelsfall nachweisen muss, kommt man grundsätzlich nicht mehr los: Der gute Glaube an das Bestehen der getroffenen Absprachen wird geschützt. „Kirche stoppte Vermietung: Schadensersatz an Homosexuellen Dr. Peter Breitholdt / Hamburg Zur ’Feier seiner Hochzeit’ hatte ein Homosexueller den Gemeindesaal einer katholischen Kirchengemeinde angemietet, ohne diese auf die Art der Nutzung hinzuweisen. Nachdem die Gemeinde von der geplanten Feier zwischen Männern nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz erfahren hatte, weigerte sie sich, den Raum zur Verfügung zu stellen. Ihr ’Mieter’ verlangte daraufhin Schadensersatz – die Mehrkosten einer alternativen Raummiete – in Höhe von 269,61 Euro und bekam beim Amtsgericht Neuss Recht (Az.: 77/32 C 6064/02). Die Weigerung, den angemieteten Pfarrsaal zur Hochzeitsfeier zu überlassen, stelle sich als Vertragsbruch dar, heißt es im Urteil. Unter keinen Gesichtspunkten sei die Gemeinde berechtigt gewesen, den Vertrag anzufechten, aufzukündigen oder sonst die Leistung zu verweigern. Es sei nämlich ihre Sache gewesen, Nachfrage zu halten, wenn sie mit bestimmten Personengruppen keine Verträge schließen möchte. Der homosexuelle Mieter jedenfalls sei nicht verpflichtet, die Interessen der katholischen Gemeinde zu wahren. Denn was nach ihrer Ansicht mit ihrer Zielsetzung vereinbar ist oder nicht, habe sie selbst zu definieren und nach außen zu kommunizieren. Das aber sei unstreitig nicht geschehen. Ferner heißt es: ’Dass die Heirat zweier Männer gegen allgemeine sittliche und moralische Wertvorstellungen verstößt, lässt sich schon deshalb nicht annehmen, weil sie sonst der Gesetzgeber kaum mit dem ’Segen’ der Lebenspartnerschaft ausgestattet hätte.’ Wie sagte Georg Bernhard Shaw: ’Die Kirchen müssen Demut lernen, wie sie sie lehren.’“ (HH A 09.04.04) Dem AG Neuss ist bei seiner als Zitat wiedergegebenen Argumentation aber ein Lapsus unterlaufen: Es hätte nicht juristisch unkorrekt von der „Heirat zweier Männer“ sprechen dürfen! Weil der Begriff der „Heirat“ den heterosexuellen juristischen Partnerschaftsverbindungen vorbehalten bleiben soll, wurde zur Unterscheidung von diesen ja bewusst der Begriff der „gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften“ neu geprägt! Aber natürlich gibt es im BGB selbst oder in Spezialgesetzen, wie z.B. dem Haustürwiderrufsgesetz, geregelte Ausnahmen, die es erlauben, den Rechtszustand wiederherzustellen, der vor Abschluss des Vertrages bestanden hat. Das sind Fälle, in denen angenommen oder unterstellt wird, dass der Verhandlungsdruck auf einen Vertragspartner unangemessen groß gewesen war, weil z.B. kein ausreichender Zeitraum für ein die Vor- und Nachteile abwägendes, meist preisvergleichendes Überlegen vorhanden war, ein krasses Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, oder kein guter Glaube auf Seiten einer oder beider Vertragsparteien vorhanden gewesen war, sei es, dass eine Partei irrtumsbefangen handelte oder dass sie unter Drohung zu einem Abschluss genötigt wurde. So schützt z.B. das Haustürwiderrufsgesetz den Kunden vor einem übereilten Vertragsabschluss in den Fällen, in denen er im Bereich einer Privatwohnung, z.B. an der Haustür, an seinem Arbeitsplatz, anlässlich einer Kaffeefahrt oder einer Freizeitveranstaltung oder im Anschluss an ein überraschendes Ansprechen in Verkehrsmitteln oder im Bereich öffentlicher Verkehrswege gegen seinen Willen in zu einem Abschluss führende Vertragsverhandlungen hineingezogen worden ist. In solchen Fällen hat er die Möglichkeit, sich durch Widerruf von dem Vertrag zu lösen. Aus dem vorstehend Gesagten geht aber auch hervor, dass dieser Schutz durch Widerruf binnen Wochenfrist dann nicht gilt, wenn der Kunde den Vertreter oder sonstigen Unternehmensmitarbeiter extra zu sich nach Hause bestellt hat, er also nicht durch eine unvorhergesehene Situation überrascht und so in seinen Abwehrreflexen eingeschränkt gewesen ist. Aber auch dann, wenn beide Vertragsparteien einen Vertrag in der abgeschlossenen Form wollen, wird ihm manchmal die Rechtskraft versagt, z.B. wenn er gegen ein gesetzliches Verbot verstößt oder als sittenwidrig angesehen wird. Unser Staat hält sich z.B. aus gefährdenden zivilrechtlichen Verträgen nicht heraus. Er hält sich selbst aus nur potentiell gefährdenden zivilrechtlichen Geschäften auch dann nicht heraus, wenn diese Gefahr gar nicht für die Bundesrepublik entstehen kann: Wenn ein nicht konzessionierter Waffenhändler einem Interessenten irgendwo auf der Welt Kriegswaffen verkaufen will und die Verkaufsverhandlungen werden in der Bundesrepublik

633

geführt, dann nimmt der Staat daran Anstoß. Das gilt auch dann, wenn die Waffen nie in der Bundesrepublik waren und nie in unser Land eingeführt, sondern z.B. von einem Krisengebiet der Dritten Welt in ein anderes Krisengebiet verscherbelt werden sollen, ja sogar, wenn fraglich ist, ob die verhandelten Waffen überhaupt beschafft und geliefert werden können. Dann verbietet der Staat durch die Bestimmungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes (KWKG) schon die Anbahnung eines solchen Handels auf dem Boden der Bundesrepublik und stellt Zuwiderhandlungen unter Strafe. Es wird in einem solchen Fall, wie es ein diesbezüglich Angeklagter ausdrückte, dann schon der "Versuch des versuchten Versuchs" bestraft. (Mit seinen darin enthaltenen Strafbestimmungen ist das KWKG ein im StGB nicht geregeltes Nebenstrafrecht. Nach der darin in § 28 enthaltenen Berlin-Klausel galt es nicht im Land Berlin. Das müsste nach der Wiedervereinigung ganz schnell geändert worden sein.) Zwar mag zwischen beiden Waffenhändlern ein Kaufvertrag abgeschlossen worden sein, aber ein solcher Kauf- oder anderer Vertrag ist - losgelöst von den detaillierteren Bestimmungen des KWKG - schon allein gemäß § 134 aus dem Allgemeinen Teil des BGB, der für alle zivilrechtlichen Verträge gilt, von Anfang an nichtig: " § 134 BGB [Gesetzliches Verbot] Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt." Ein konzessionierter Waffenhändler dagegen darf von dem Boden der Bundesrepublik aus Waffen verkaufen, wenn er diese äußerst sensiblen Geschäfte von unserem Staat jeweils vorher genehmigen lässt. Davon lebt ein ganzer Industriezweig sehr gut. Über u.a. § 134 BGB kann der Staat durch ein Verbot hoheitlich mit Anspruch auf Gehorsam und damit öffentlich-rechtlich in den Bereich des Zivilrechts eingreifen. Die Bestimmungen im Allgemeinen Teil des BGB, und damit z.B. der § 134 BGB, gelten grundsätzlich für alle im BGB geregelten Rechtsverhältnisse. Die Bestimmungen des Allgemeinen Teils des BGB sind gleichsam "vor die Klammer gezogen". So ist z.B. ein unter sieben Jahre altes Kind gemäß "§ 104 BGB [Geschäftsunfähigkeit] Geschäftsunfähig ist: 1. wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat; 2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.“ voll geschäftsunfähig, weil es das siebte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, gleichgültig, welches Rechtsgeschäft es abschließen möchte - auch wenn es nur ein Eis kaufen will. Es braucht für rechtswirksame Handlungen immer einen rechtlichen Vertreter. Das gilt, wie wir lesen konnten, gemäß § 104 Nr. 2 und 3 BGB auch für jeden anderen einem noch nicht siebenjährigen Kind Gleichgestellten und für jedes Rechtsgeschäft, welches es auch sei. Ist das Kind schon mindestens sieben und der minderjährige Jugendliche noch nicht achtzehn Jahre alt, so bestimmt "§ 106 BGB [Beschränkte Geschäftsfähigkeit Minderjähriger] Ein Minderjähriger, der das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist nach Maßgabe der §§ 107 bis 113 in der Geschäftsfähigkeit beschränkt." Dazu die illustrierende Zeitungsnotiz: „Freigebiger Bub dpa Germering – Ein Neunjähriger aus Germering (Bayern) hat die gesamten Ersparnisse seiner Eltern (10 000 Mark) verschenkt. Mit dem Geld wollten die Eltern, ehemalige Jugoslawen, ein Haus in ihrer Heimat bauen.“ (HH A 20.08.98) Wenn die Beschenkten zu ermitteln sind, haben die Eltern gegen sie einen Rückgabeanspruch bezüglich ihres Geldes durch die Regelung des "§ 107 BGB [Einwilligung des gesetzlichen Vertreters] Der Minderjährige bedarf zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters."

634

Und der Vollständigkeit halber musste früher auch noch "§ 114 BGB [Beschränkte Geschäftsfähigkeit Entmündigter] Wer wegen Geistesschwäche, Verschwendung, Trunksucht oder Rauschgiftsucht entmündigt oder wer nach § 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der das siebente Lebensjahr vollendet hat." zitiert werden, der seit 1990 nicht mehr im BGB geregelt ist, sondern in das Betreuungsgesetz überführt wurde, um den nachfolgenden, für die Liebenden fast tragisch ausgegangenen Fall verstehen zu können. Außerdem brauchen wir Kenntnis von „§ 107 BGB [Einwilligung des gesetzlichen Vertreters] Der Minderjährige bedarf zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters.“ Und nun der ans Herz gehende, lehrreiche Fall, der unser ganzes gebündeltes Mitgefühl wachzurütteln geeignet ist und - als "salvatorische (rettende, von einer bestimmten rechtlichen Verantwortung freistellende) Klausel" sei es ausdrücklich erwähnt - nicht der Regenbogenpresse entnommen wurde: "Hohenzollernprinz kämpft um sein Eheglück ap Kempten - Man fühlt sich um Jahre zurückversetzt, als in Deutschland noch Zucht und Ordnung herrschten: Hohenzollernprinz Carl-Alexander soll sich auf Betreiben der Verwandten von seiner 28 Jahre älteren Frau Angela trennen. Die Angehörigen sind der Ansicht, daß er bei der Eheschließung 1991 mit der früheren Gefährtin von Konsul Weyer schlichtweg nicht geschäftsfähig war. Auf ihr Betreiben beantragte die Staatsanwaltschaft, die Ehe zu annullieren. Vor dem Amtsgericht im Kempten machte der junge Mann gestern jedoch deutlich, daß er fest zu seiner Frau steht: `Ich würde Angela jederzeit wieder heiraten', sagte er händchenhaltend. Sein Verteidiger Roland Hasl beantragte, das Ansinnen abzuweisen. Daß der Prinz fähig sei, `die Geschäfte des täglichen Lebens zu besorgen', beweise schon die von ihm im Dezember 1993 erfolgreich abgelegte Führerscheinprüfung. Das Amtsgericht will am 12. April ein Urteil fällen." (HH A 18.03.94) Es fällt auf, dass in dem zitierten Zeitungsartikel von Staatsanwalt und Verteidiger gesprochen wurde, obwohl doch offensichtlich keine Straftat begangen worden ist. Die beiden Ehepartner haben sich doch nur in bei uns Nicht-Familienmitgliedern nicht Anstoß erregender Art geliebt. Das müsste doch eine zivilrechtliche Angelegenheit vor dem Familiengericht sein. Das mit dem Staatsanwalt hat aber wegen § 634 ZPO, auf den nicht näher eingegangen werden soll, seine Richtigkeit. Wie es erst einmal weiterging? "Aufgelöst Hohenzollern-Prinz: Gericht annullierte Ehe afp München - Jetzt ist es amtlich: Angela Stölzel ist keine `Prinzessin von Hohenzollern' mehr. Das Amtsgericht Kempten erklärte die Ehe zwischen Hohenzollern-Prinz Carl-Alexander (23) und seiner 30 Jahre älteren `Angie' als `nichtig'. Begründung: Der leicht verwirrte Prinz sei bei seinem Jawort 1991 nicht geschäftsfähig gewesen. Das zwangsgeschiedene Ehepaar kündigte Berufung vor dem Oberlandesgericht München an." (HH A 02.04.94) Ein 20-Jähriger, der eine 48-Jährige heiratet, ist dann wohl verrückt. Königliche Hoheit entschuldigen: Geistig nicht immer ganz präsent. Dann können, wenn es nach dem AG geht, also geistig Retardierte eine Führerscheinprüfung bestehen? Das sehen Vollsinnige, die durch die theoretische Führerscheinprüfung gerasselt sind, aber anders! Trauern wir mit den vermutlich nur nicht standesgemäß Liebenden! Armer Prinz! Und erst recht: Arme vielleicht "Nichtmehr-Prinzessin"! Aber noch ist Preußen nicht ganz verloren: Die Berufung läuft! Kontinuierliches gewissenhaftes Zeitungslesen auch kleinster Meldungen lohnt sich. So haben wir nachfolgend wieder einmal einen Beweis für Simmels so schön und einprägsam formulierten Romantitel: "Gott ist mit den

635

Liebenden"; und manchmal auch mit den Gerichten: "Ganz legales Eheglück dpa München - Hohenzollern-Prinz Carl Alexander (23) und seine bürgerliche Angetraute Angela Stölzel (53) dürfen weiter ganz legal Tisch und Bett teilen. Das Bayerische Oberlandesgericht (OLG) entschied in zweiter Instanz, daß die Eheschließung vom 19. April 1991 rechtswirksam sei. Sie war vom Hause Hohenzollern mit allen juristischen Mitteln bekämpft worden." (HH A 16.12.94) An ein, zwei Richterstimmen können das Lebensglück zweier Menschen und das Entstehen zukünftiger halbwegs blaublütiger Generationen hängen! Und ihre »standesgemäße« Versorgung! Wegen der als unstandesgemäß erachteten Verbindung kämpfte die vielleicht anders verwirrte Verwandtschaft so erbittert - wo doch der schwedische König auch eine Bürgerliche geheiratet hat; allerdings - altersmäßig betrachtet - nicht seine Mutter. Hätte der sicher "leicht verwirrte" Führerscheinneuling den Rechtsstreit nicht in die nächste Instanz weitergetrieben, hätte er zukünftig vielleicht allein in seinem dann viel kälteren Bettchen liegen müssen. Da muss die konsternierte Verwandtschaft schon schwerere juristische Geschütze in Stellung bringen, um Erfolg zu haben; etwa: "Ehe ungültig hei Hamm - Ein altes Attest über die Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten brachte den nichtsahnenden Ehemann darauf, eine Frau mit Vergangenheit geheiratet zu haben. Widerstrebend gab sie die frühere Tätigkeit "im horizontalen Gewerbe" zu. Das Oberlandesgericht Hamm erklärte die Ehe für ungültig (Az.: 5 UF 66/93)". (HH A 07.12.94) Wir freuen uns mit den alle Standesschranken und das Mutter-Sohn-Verhältnis überwunden habenden Liebenden, denn nur Liebe gibt dem Leben seinen schönsten Sinn! Wie wichtig die Geltung des Grundgesetzes ist, erfuhren die Hohenzollern, als einer der Ihren gegen das vom letzten Kaiser verfasste Hausgesetz klagte: „Preußen-Prinz erstreitet Recht auf Kaiser-Erbe Karlsruhe – Der Urenkel von Kaiser Wilhelm II., Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen (65), kann sich nach jahrelangem Rechtstreit wieder Hoffnungen auf das Millionenerbe des Hauses Hohenzollern machen. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hob am Freitag alle Urteile der Vorinstanzen auf, weil sie das Grundrecht des Adeligen auf Eheschließungsfreiheit verletzt hätten. Hintergrund des Streits ist ein alter Erbschein, wonach Kaiser Wilhelm II. 1938 mit einem seiner Söhne einen Erbvertrag abschloss, in dem geregelt wird, dass jeweils der erstgeborene Sohn das Hausvermögen des früheren preußischen Königshauses erbt. Voraussetzung: Er muss mit einer ’ebenbürtigen Dame protestantischen Glaubens’ verheiratet sein. Da Prinz Friedrich Wilhelm mit einer Bürgerlichen verheiratet ist, klagte ein weiterer Abkömmling auf das Alleinerbe. Das Langgericht Hechingen muss jetzt erneut verhandeln und die Erbfolge endgültig regeln. (afp)“ (HH A 03.04.04) Das BVerfG stellte also fest, dass die Ebenbürtigkeitsklausel des Hauses Hohenzollern gegen das Grundgesetz verstoße, weil sie das Grundrecht auf Eheschließungsfreiheit unzulässig einenge. Damit konnte der enterbte Prinz doch noch das Erbe von 20 Mill. Euro antreten.

Inzwischen scheint die Sicht der Dinge bezüglich der freien Ehegattenwahl auch geistig Retardierter wie des gerade angesprochenen Hohenzollern-Prinzen Carl Alexander von den Gerichten allgemein anerkannt zu sein, denn ein anderes AG entschied 1996: „Aufgebot ADN Düsseldorf – Geistig Behinderte dürfen heiraten, solange ihre Geschäftsunfähigkeit nicht nachgewiesen ist. Beschluß des Amtsgerichts Kaiserslautern (Az.: UR III 39/1994). Ein Standesbeamter hatte das Aufgebot abgelehnt.“ (HH A 06.06.96)

636

Die Bestimmungen des Allgemeinen Teils des BGB gelten grundsätzlich nur so lange, wie nicht unter den jeweiligen Einzelbestimmungen eines Rechtsverhältnisses eine davon abweichende und dann vorrangige spezialgesetzliche Regelung getroffen worden ist. Das ist für verbotene Rechtsgeschäfte natürlich nicht der Fall, aber gilt z.B. für die ebenfalls im Allgemeinen Teil des BGB geregelten Verjährungsbestimmungen. So ist z.B. im Kaufvertragsrecht für die Verjährung von Ansprüchen auf Schadensersatz bestimmt: Es gilt weder die im Allgemeinen Teil des BGB geregelte regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB (30 Jahre), noch die "mittlere" des § 197 BGB (4 Jahre) oder die "kurze" des § 196 BGB (2 Jahre), sondern eine im Recht der vertraglichen Schuldverhältnisse und da wieder für den Kaufvertrag in § 477 BGB geregelte, auf ein halbes Jahr abgekürzte Verjährungsfrist. Damit nicht der Eindruck erweckt wird, dass unsere Rechtsordnung nur mehrseitige, meist zweiseitige, Rechtsgeschäfte in der Form von Verträgen kenne, sei darauf hingewiesen, dass es z.B. auch einseitige Rechtsgeschäfte gibt, z.B. wenn durch eine „Auslobung“ gemäß „§ 657 BGB [Begriff] Wer durch öffentliche Bekanntmachung eine Belohnung für die Vornahme einer Handlung, insbesondere für die Herbeiführung eines Erfolges aussetzt, ist verpflichtet, die Belohnung demjenigen zu entrichten, welcher die Handlung vorgenommen hat, auch wenn dieser nicht mit Rücksicht auf die Auslobung gehandelt hat.“ Viele Privatdetektive forschten z.B. mehrere Jahre vergeblich nach den versteckten Millionen und hefteten sich dann nach der Entlassung des Oetker-Entführers aus der Strafhaft an dessen Fersen, um sich die von dem Haus Oetker oder deren Versicherung ausgelobte hohe Belohnung zu verdienen. Keiner war erfolgreich. Wenn man diese Selbstverpflichtung durch Rechtsgeschäft in Form der Auslobung wieder rechtswirksam beseitigen und so nicht mehr rechtlich daran gebunden sein will, bedarf es gemäß § 658 BGB eines in gleicher Weise wie bei der Auslobung vorgenommenen Widerrufes oder einer besonderen Mitteilung. Das steht hinter der Zeitungsmeldung: „Oetker zahlt nicht dpa Bielefeld – Das Haus Oetker hat die Belohnung für die Wiederbeschaffung des Lösegeldes im Entführungsfall Richard Oetker widerrufen. Von damals gezahlten 21 Millionen Mark tauchten bislang nur 90 000 Mark wieder auf.“ (HH A 13.09.96)

2.1 »Leihmutterschaft« und Zivilrecht "Leihmutte rschaft" und Zivilrecht

Ein aktueller Problemkreis neben gefährdenden oder gefährlichen Rechtsgeschäften, der - wie viele andere auch noch - wohl wegen angenommener Sittenwidrigkeit durch eine gesetzliche Regelung verboten worden und damit gemäß § 134 BGB nichtig ist, ist der Bereich der zivilrechtlich einzuordnenden »Leihmutterschaft«. In einem solchen Verbotsbereich kann wegen der in § 134 BGB getroffenen Regelung weder die Erbringung einer gesetzeswidrig vereinbarten Leistung der stellvertretenden Austragung einer Schwangerschaft eingeklagt, noch kann wegen § 817 BGB trotz einer eventuell einseitig erbrachten (verbotenen) Leistung eine Gegenleistung in z.B. der Form einer Bezahlung eingeklagt werden. Da bei uns - im Gegensatz zu z.B. den USA, Belgien, Italien und Israel - eine »Leihmutterschaft« verboten ist, könnte eine »Leihmutter« selbst bei Vertragserfüllung des mit ihr geschlossenen (Werk- oder Dienst-?) Vertrages kein Geld einklagen, müsste andererseits aber auch nicht wie in den USA in dem spektakulären Fall des "Baby M." entschieden - »ihr«(?) Kind, auf jeden Fall das von ihr ausgetragene und geborene Kind, an die »Bestelleltern« herausgeben.32 Dem stände § 134 BGB entgegen. Eine ganz andere Frage ist es, welche Rechte das nicht herausgegebene Kind später gegen seinen Erzeuger hat: „Tochter einer Leihmutter will Millionenerbe des Vaters Italien 32

In den USA weigert sich rund 1 % der Leihmütter, das von ihnen vertragsgemäß ausgetragene Kind nach der Geburt herauszugeben. Wenn das Kind mit der Eizelle einer anderen Frau, eventuell der Ehefrau, gezeugt wurde und die Leihmutter »nur« durch Schwangerschaft und Geburt mit dem Kind emotional verbunden ist, als wenn sie auch noch eine eigene Eizelle gespendet hat, sind nach vorliegenden Beobachtungen die emotionalen Schwierigkeiten geringer.

637

20 Jahre nach ihrer Geburt durch eine "Leihmutter" versucht eine Italienerin ein Millionenerbe ihres biologischen Vaters zu erstreiten. Dabei gehe es um rund 25 Millionen Euro. Im Jahr 1984 hatte ein reicher Mailänder Geschäftsmann eine Frau beauftragt, ihm nach einer künstlichen Befruchtung ein Kind auszutragen. Als "Lohn" sei ein hoher Geldbetrag sowie ein Haus in Rapallo am Golf von Genua ausgemacht worden. Die Frau aus Algerien wollte nach der Geburt die Tochter aber behalten. Eine Klage des Vaters, das Kind zu bekommen, wies ein Gericht im Jahr 1987 ab. Später wurde das Kind per Gerichtsbeschluss zudem als biologische Tochter des Geschäftsmannes anerkannt. Nach dessen Tod 1995 teilten sich mehrere Erben die hinterlassenen Millionen auf. (Dpa)“ (Die Welt 13.05.04 )

Durch das gesetzliche Verbot des § 134 BGB im deutschen Recht ist folgerichtig auch der Werkvertrag mit dem Arzt, durch den die Leistung der Einpflanzung der Eizelle in die Gebärmutter der "Leihmutter" geschuldet wird, miterfasst. Darum bestanden die Ärzte auf Vorkasse "Cash in de Täsch", denn "das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete kann nicht zurückgefordert werden, wenn der Leistende gewußt hat, daß er zur Leistung nicht verpflichtet war, ..." Das regelt § 814 BGB. Nach dem für die Bundesrepublik inzwischen ergangenen Verbot der »Leihmutterschaft« sind jetzt nicht mehr solche Annoncen wie die im Sächsischen Tageblatt erschienene und im STERN vom 27.09.90 in der Rubrik Fundsachen aufgespießte Anzeige möglich: "Arztehepaar aus der BRD sucht junge Mutter unter 30 J. als Tragemutter gegen sehr gute Belohnung." Bei der hohen Frauenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland wären sicher einige Frauen ins Überlegen gekommen, denn diese Verdienstmöglichkeit ist wohl grundsätzlich ungefährlicher als der Verkauf einer Niere, der ja auch schon vielfach erwogen worden sein soll! Trotz des inzwischen ergangenen Verbotes von »Leihmütterschaften«, das in Deutschland jede reale juristische Beschäftigung mit diesem Bereich für Berufsjuristen (außer möglicherweise den Staatsanwälten und den Strafrichtern) nunmehr (bis zu dessen möglicher Aufhebung) ziemlich obsolet gemacht hat, soll in diesem Problemkreis aus didaktischen Gründen wegen des vermittelbaren Lerneffektes noch ein bisschen gegründelt werden. Die erste Frage muss lauten: Wer sind als die rechtlichen Eltern anzusehen? Damit mussten sich die USA schon herumschlagen, z.B. als Gen-Material von zwei Müttern zu einem Ei kombiniert und dann mit einem Samen befruchtet worden war; das Mädchen hat so zwei biologische Mütter: Mit der Entnahme eines Plasmatropfens aus der Eizelle einer Spenderin, der mittels einer sehr feinen Pipette mit einem einzelnen Spermium aus der Samenprobe des Ehemannes verbunden und dann als Retortenkeim in die reife Eizelle der wegen ihres ungünstigen Zellplasmas unfruchtbaren Mutter eingesetzt wurde, werden auch Erbanlagen der Spenderin übertragen. Erstmals hatten es so Forscher riskiert, menschliche Fortpflanzungszellen bei einer künstlichen Befruchtung zu manipulieren, obwohl die Gefahr bestand, die Eigenschaften des Embryos zu verändern (STERN 4/98). Ein anderer juristischer Extremfall aus den USA: Ein beiderseits unfruchtbares Ehepaar in Kalifornien bildete sich ein, - vielleicht als »Ehe-Kitt« - unbedingt ein Kind haben zu müssen. Deswegen wurde eine Eizellenspenderin gesucht und gefunden, deren Ei mit dem Samen eines Samenspenders befruchtet wurde. Dieses so befruchtete Ei wurde dann einer Leihmutter eingesetzt. Die Ehe der »Bestell-Eltern« ging vor der Geburt des Kindes in die Brüche, und plötzlich wollte keiner das Kind mehr haben. Wer war »Eltern«? Wer hatte für die Aufzucht des Kindes aufzukommen, sich um das Kind zu sorgen, ... . Eine weitere Frage: Welche Rechte haben die jeweiligen »am Produktionsprozess des Kindes« beteiligten Elternteile hinsichtlich der einsetzbaren und der eingesetzten »Produktionsmittel«? „Embryo-Urteil KAN - Albany Ein Gericht im US-Staat New York hat einer Frau erlaubt, sieben eingefrorene Embryos, die vor der Scheidung von ihrem Mann befruchtet wurden, vernichten zu lassen. Der Vater will Einspruch dagegen einlegen.“ (HH A 01.10.98) Welche Rechte haben die Vertragsparteien an dem eingesetzten »Produktionsverfahren«? Diese Frage wird wohl im Normalfall nicht zum Tragen kommen – bei „mittlerer Art und Güte“ des geborenen Kindes werden die Eltern froh sein, dass ihnen ihr Kinderwunsch erfüllt werden konnte (und bis zu möglicherweise eintretenden Pubertätsschwierigkeiten mit dem herangereiften Flegel wären Regressansprüche verjährt) -, sehr wohl könnte diese Frage aber dann relevant werden, wenn das Kind behindert zur Welt kommt und dafür die Art und Weise

638

der »Herstellung« (mit-)verantwortlich gemacht werden könnte! Welche Rechte haben schließlich die Vertragsparteien an dem Ergebnis ihres gewollten Zusammenwirkens? Wir haben schon gehört, dass sich in den USA bisher rund 1 % der Leihmütter geweigert hat, das von ihnen vertragsgemäß ausgetragene Kind nach der Geburt herauszugeben. Das mag für den Fall verständlich sein, dass die Leihmutter das Kind wegen der während der Schwangerschaft entstandenen emotionalen Bindung für sich behalten möchte. Ist die Sachlage anders zu beurteilen, wenn die »Gebärmutter« andere Motive leiten? BELGIEN Leihmutter soll Kind im Internet verkauft haben Die belgische Justiz geht dem möglichen Kinderhandel einer flämischen Leihmutter nach. Wie die Zeitung "Het Laatste Nieuws" berichtet, habe sich die Frau geweigert, ihr Neugeborenes an den leiblichen Vater zurückzugeben. Stattdessen soll sie das Baby im Internet an ein anderes Ehepaar verkauft haben. Brüssel - Die Staatsanwaltschaft in Oudenaarde geht derzeit dem Verdacht nach, dass die Frau ihr Kind vor drei Monaten gegen Zahlung von 15.000 Euro an ein kinderloses Paar weggegeben hat. Der niederländische Kinderschutzrat prüft Zeitungsberichten zufolge, ob das Paar für das Kind bezahlt und das Adoptionsrecht verletzt habe. Die Leihmutter hatte sich mit dem Samen eines Mannes künstlich befruchten lassen, der mit seiner Frau ungewollt kinderlos geblieben war. Dieses Paar fordert nun die Herausgabe des Kindes, das im Frühjahr geboren wurde. Doch als die Leihmutter das Kind zur Welt gebracht hatte, verweigerte sie dem leiblichen Vater und dessen Frau die Herausgabe des Säuglings - angeblich könne sie das Kind "aus Liebe" nicht weggeben. Tatsächlich aber lebe das Mädchen gar nicht bei seiner biologischen, angeblich so liebenden Mutter in Flandern, sondern bei einem niederländischen Paar in der Nähe von Utrecht, berichtete die Zeitung "Het Laatste Nieuws". Dieses Paar wolle das Kind nun nicht mehr hergeben und strebe eine Adoption an. Wie "Het Laatste Nieuws" wissen will, soll die Leihmutter außerdem zwei Monate vor dem Geburtstermin auch einem belgischen Homosexuellenpaar für 10.000 Euro ihr Baby "zum Kauf angeboten" haben. Diese Interessenten hätten jedoch wegen des Verdachts auf Kinderhandel abgelehnt. Die eigentlichen Wunscheltern seien inzwischen dem Wahnsinn nahe, berichtete die Zeitung. Nach belgischem Recht hat das Paar jedoch wenig Chancen, den Säugling zu bekommen. Verträge über die Babys von Leihmüttern seien nichtig, weil ihnen kein erlaubtes Geschäft zu Grunde liege, erläuterte Jura-Professor Alain Verbeke im Radiosender VRT. Die Leihmutterschaft selbst ist in Belgien nicht verboten, wohl aber Abmachungen mit dem Charakter eines Kinderhandels. (SPIEGEL ONLINE 24.05.05)

Der zwischen »Bestelleltern« - es müssen nicht nur Mann und Frau sein: „Zwei Männer als Eltern dpa Los Angeles – Zum ersten Mal sind zwei homosexuelle Männer aus Europa von einem USGericht als Eltern von Zwillingen anerkannt worden, die von einer amerikanischen Leihmutter ausgetragen werden. Die 32-Jährige ließ sich die eine Eizelle einpflanzen, die mit Sperma der Briten befruchtet war. Jedes Kind hat übrigens einen anderen Vater.“ (HH A 29.10.99) und »Leihmutter« zu schließende Vertragstyp war vorstehend nicht ohne Grund mit einem Fragezeichen versehen worden. Wenn wir einmal annähmen, dass »Leihmutterschaft« bei uns genau so rechtlich zulässig wäre, wie sie es in den USA und neuerdings auch in Israel ist, dann würden sich vielleicht einige angehende Professoren ihren Lehrstuhl mit Arbeiten über die in diesem Problemkreis dann zu entscheidenden Streitfragen erschreiben, ob z.B. bei einem »Leihmutter«-Vertrag ein Werk- oder ein Dienstvertrag oder eine Mischung aus beiden mit einem Überwiegen der Elemente des Werk- oder des Dienstvertrages vorläge, und welcher Inhalt durch Gestattung und Gestaltung im Rahmen der Privatautonomie regelbar wäre, welcher eventuell nicht und welche personenrechtlichen Konsequenzen sich ergäben. Unersprießliches Juristengezänk? Fachidiotenprobleme? Mitnichten! Die Entscheidung dieser Frage hätte ungeheure Auswirkungen, z.B. für die Frage, wen die heutzutage erhebliche Kostentragungspflicht gegenüber dem Beerdigungsunternehmer bei Totgeburt oder für den Fall der Geburt eines behinderten Kindes treffen soll. Spätestens dann müsste (bei Annahmeverweigerung

639

durch die »Bestelleltern«) vermutlich entschieden werden, was für ein Vertrag - nach Meinung der Richter der letzten Instanz - geschlossen, und welche Leistung demnach geschuldet worden war. Soll die »Leihmutter« den »Bestelleltern« das behinderte Kind aufdrängen können? Sollen die »Bestelleltern« analog zu dem Rechtsgedanken einer „aufgedrängten Bereicherung“ die Annahme verweigern dürfen? Bei einem Dienstvertrag könnte wohl nur die Austragung einer Schwangerschaft geschuldet sein. Die »Leihmutter« hätte dann zunächst vermutlich sowohl bei einer Tot- wie bei einer Lebendgeburt Anspruch auf Bezahlung. Zwischenfrage: Wie sollte die Frage der Entlohnung aber für den Fall geregelt werden, dass der Embryo bei der »Leihmutter« aus medizinischen Gründen abgetrieben werden müsste? Das könnte wohl nicht gemäß § 323 I BGB geregelt werden: "§ 323 BGB [Nicht zu vertretendes Unmöglichwerden] (1) Wird die aus einem gegenseitigen Vertrag dem einen Teil obliegende Leistung infolge eines Umstandes unmöglich, den weder er noch der andere Teil zu vertreten hat, so verliert er den Anspruch auf die Gegenleistung; bei teilweiser Unmöglichkeit mindert sich die Gegenleistung nach Maßgabe der §§ 472,473. ..." (U.a. wegen solcher Formulierungen und der dahinter stehenden juristischen Probleme dauert das Jurastudium so lange. Weniger abstrakt formuliert und darum für Anfänger verständlicher ausgedrückt, lautet § 323 I BGB in die Alltagssprache übersetzt: "Keine Leistung - keine Gegenleistung; aber auch keine gegenseitigen Schadensersatzansprüche, wenn beide Vertragsparteien daran schuldlos sind, dass der Vertrag in der vereinbarten Form nicht durchgeführt werden kann; bei sinnvoller Teilleistungsmöglichkeit besteht ein Anspruch auf TeilGegenleistung.") Die auf den zu untersuchenden Fall der Abtreibung einer Leihmutterschaft auf Grund medizinischer Indikation angewandte erforderliche Interessenabwägung - und sowohl die Abfassung von Gesetzen wie auch die Rechtsprechung ist oder sollte (auch) eine »gerechte« Interessenabwägung sein - ergäbe vermutlich, dass eine solche Problemlösung auf der Basis des § 323 I BGB der »Leihmutter« gegenüber (grob?) unbillig wäre: Sie hat das stets vorhandene Schwangerschaftsrisiko auf sich genommen, durfte - vermutlich vertraglich vereinbart während der Zeit der Schwangerschaft keine andere Tätigkeit ausüben und sie kann bei Abbruch auf Grund medizinischer Indikation auch keine sinnvolle Teilleistung erbringen. Sie hätte darum wohl Anspruch auf Bezahlung des überwiegenden Teiles der vereinbarten Entlohnung, vermindert um einen gewissen Teilbetrag wegen der »ersparten« Schwangerschaftsmonate. Doch zurück zur Ausgangsfrage: Wer hätte ein eventuell behindert geborenes Kind aufzuziehen, die »Bestelleltern« oder die »Leihmutter«? Bei einem Dienstvertrag wären wohl die »Bestelleltern« »abnahmepflichtig«, denn die »Leihmutter« hätte nur ihre Gebärmutter als Nisthöhle zur Verfügung zu stellen gehabt. Das wäre ihre Hauptvertragspflicht gewesen. Daneben gilt es sicher noch nebenvertragliche Sorgfaltspflichten zu beachten, gegen die auch nicht verstoßen werden darf. So hätte die »Leihmutter« sich u.a. gesund zu ernähren und zu verhalten, sich jeder gesundheitlichen Gefährdung des werdenden Lebens zu enthalten gehabt, z.B. keinen Alkoholmissbrauch begehen, keine Risikosportarten betreiben, kein Rauschgift nehmen und wohl auch nicht rauchen dürfen, alle Vorsorgeuntersuchungen gewissenhaft wahrnehmen und alle Rötelnkranken wie der Teufel das Weihwasser meiden müssen. Andernfalls hätte sie sich bei einem nachgewiesenen ursächlichen Zusammenhang zwischen ihrem Verstoß gegen ihre nebenvertraglichen Sorgfaltspflichten und der später zu Tage getretenen Behinderung schadenersatzpflichtig gemacht. Um den Fall nicht unnötig zu komplizieren und hier nicht eine Habilitationsschrift zu verfassen, sei davon ausgegangen, dass sich die »Leihmutter« vertragsgemäß verhalten habe. Dann wären unter Zugrundelegung eines Dienstvertrages selbst bei einer Behinderung die »Bestelleltern« »abnahmepflichtig«. Bei einem Werkvertrag könnte es sein, dass die Bestelleltern nur ein gesundes Kind als vertragsgemäße Leistung ansehen und nur ein solches Kind abnehmen wollten. Wer sollte dann das Risiko der Geburt eines behinderten Kindes tragen müssen? Die »Leihmutter«? Doch wohl eher die »Bestelleltern«, denn ohne sie hätte sich die vermutlich in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen lebende »Leihmutter« nicht zu ihrer »Leihmutterschaft« hinreißen lassen. Würde das Risiko der Geburt eines behinderten Kindes auf die »Leihmutter« überbürdet, hätte sie eine Fallgrube gegraben, in der sie sich selbst gefangen hätte. Diese abwägende Überlegung spräche dafür, dass der Abschluss eines Dienstvertrages zu unterstellen gewesen wäre.

640

Aber der bundesdeutsche Gesetzgeber hat alle diesbezüglichen juristischen Überlegungen hinfällig werden lassen. Und damit soll nicht weiter im zivilrechtlichen Nähkästchen, Schublade BGB, Schachtel Schuldrecht, Schächtelchen Dienst- und Werkvertragsrecht gekramt werden. Aber die Länder, die eine Leihmutterschaft zulassen, werden sich nicht um die juristische Beantwortung und Regelung solcher Fragen drücken können wie: „Auch Israel erlaubt Leihmütter KNA Jerusalem - Israelische Paare, die auf normalem Wege keine Kinder zeugen können, dürfen sich vom Januar 1996 an einer Leihmutter bedienen. Das hat ein israelisches Gericht auf Antrag des Generalstaatsanwaltes entschieden. Die Frau darf keine engen verwandtschaftlichen Bindungen an das kinderlose Paar haben, sie soll die israelische Staatsbürgerschaft besitzen und volljährig sein. Rabbiner fordern, daß sie unverheiratet ist. Ihr Honorar soll auf 14 000 Mark begrenzt werden (das ist die Hälfte des Betrages, der in den USA für das Austragen eines fremden Kindes gezahlt wird). Andere Fragen sind ungeklärt: Was wird aus dem Kind, wenn es behindert zur Welt kommt? Was, wenn sich die Leihmutter zur Abtreibung entschließt? ...“ (HH A 28.07.95) Bisher hatten wir die Verwandtschaftsverhältnisse fast ausschließlich in auf- oder absteigender Linie - Urahne, Ahne, Großmutter, Mutter und Kind - betrachtet. Aber es gibt im Zusammenhang mit Leihmutterschaft auch noch Probleme mit Geschwistern und nicht nur mit etwaigen eigenen Kindern der Leihmutter: „Doppelte Leihmutter SAD Rom – In Italien gibt es die erste ‘doppelte Leihmutter‘. Eine Römerin (35) trägt gleichzeitig Kinder für zwei Frauen aus. Die Mutter (27) des einen hat keine Gebärmutter mehr. Sie ließ Eizellen einfrieren, die mit dem Sperma ihres Mannes befruchtet wurden. Die zweite Frau (32) ist herzkrank und darf das Risiko einer Schwangerschaft nicht eingehen. Die Embryonen wurden der Leihmutter, die zwei eigene Kinder hat, in einer Schweizer Klinik eingepflanzt. Die Babys sollen im September zur Welt kommen. Verwechslung ist nicht möglich: Sie werden den Eltern erst nach einem Bluttest übergeben.“ (HH A 07.03.97) Ungeachtet der Frage, ob die Leihmutter gegenüber der ersten »Bestell-Mutter« nicht eine gröbliche Verletzung ihrer vertraglichen Nebenpflichten begangen hat, als sie sich noch einen zweiten Embryo zum Zwecke des doppelten Geldverdienens im gleichen Zeitraum einsetzen ließ – „Wenn der Bauch schon dick wird, dann soll es sich auch lohnen!“ -, denn dadurch wird das Geburtsrisiko ja nicht unbeträchtlich erhöht, bliebe noch zu klären, wie man verhindert, dass die beiden Kinder juristisch als Geschwister eingestuft werden! Da fällt mir nur der Ausweg der Adoption ein. Aber einmal angenommen, die vier »Bestell-Eltern« wollten noch vor der Geburt dann doch nicht das von Ihnen jeweils bestellte Kind haben: Sind die beiden dann Geschwister?

2.2 »Offene« Rechtsbegriffe als Einfallstore für die Wertordnung des GG "Offene" Rechtsbegr iffe als Einfallstor e für die Wertordnu ng des GG

Ein anderer - sehr unbestimmt gefasster und damit für gegensätzliche Wertungen offener - Verbotstatbestand neben der Regelung des vorstehend besprochenen § 134 BGB ist für sämtliche zivilrechtliche Verträge die Regelung des "§ 138 BGB [Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher] (1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig." (2) ... Was aber sind "gute Sitten"? Ganz pragmatisch gesehen: das, was spätestens die Richter der letzten Instanz dafür halten! Die Richter haben Streitfälle zu schlichten und nicht nur im Strafrecht, aber insbesondere dort, den Rechtsfrieden in einer Gesellschaft wieder herzustellen. Immer dann, wenn sich ein Mensch in Deutschland durch die Staatsgewalt oder durch einen Mitmenschen in seinen Rechten verletzt glaubt und sich hilfesuchend an ein Gericht wendet, muss ein oder müssen mehrere Richter den Sachverhalt unvoreingenommen klären, eine drohende Rechtsverletzung abwehren oder eine bereits eingetretene Verletzung durch Ausgleichsmaßnahmen kompensieren. Als Strafrichter hat ein Richter über die Einhaltung der Mindestnormen für ein gedeihliches Zusammenleben zu wachen. Letztlich entscheidend ist dabei, was die Richter der jeweils letzten Instanz als »Recht« ansehen und gelten lassen.

641

Das ausgesprochene Gegenteil „guter Sitten“ ist eine so gesehene Sittenwidrigkeit. Eine Bundesfamilienministerin plädierte z.B. dafür, die von einigen Heiratsinstituten praktizierte oder zumindest angebotene Frauenbeschaffung aus Osteuropa mit „Umtauschgarantie bei Nichtgefallen“ als sittenwidrig zu werten. Ein anderes Beispiel: Immer mehr Gerichte und auch der BGH haben seit 1998 entschieden, dass die Kostentragung für gehabte erregende Anrufe bei teuren 0190-Stöhnnummern nicht mit gerichtlicher Hilfe erzwungen werden kann: Da Telefonsex sittenwidrig sei, könnten die teilweise Zehntausende und mehr Euro an Gebühren (z.B. OLG Stuttgart: DM 26.000,-) nicht eingeklagt werden: „Wenn das Verdikt Sittenwidrigkeit gerechtfertigt ist, dann hier.“ Der Intimbereich werde zur Ware gemacht, die sog. „Service-Mädchen“ zum Objekt herabgewürdigt. (Viele von denen wollen aber laut Interviewauskunft in Fernsehreportagen lieber ein bisschen neben der Hausarbeit stöhnen, als acht Stunden am Tag tagein, tagaus zu langweiliger Büroarbeit in eine Firma gehen zu müssen. Sie sehen sich selbst nicht als Opfer und ihre Tätigkeit als relativ gute Verdienstmöglichkeit.) Das OLG Hamm sah dagegen 2001 in einer möglicherweise rechtlich veränderten Sichtweise der Dienste von Telefonsex-Anbietern diese wohl doch sehr verbreitet nachgesuchte Dienstleistung nicht mehr als sittenwidrig an und verurteilte einen jedenfalls finanziell lustlos gewordenen Kunden zur Zahlung der aufgelaufenen Telefonrechnung in Höhe von DM 15.000,- (Az.: 17 U 73/00). In gleicher Sichtweise entschied das OLG Saarbrücken, für Telefonsex aufgelaufene Gebühren könnten nicht mit dem Hinweis auf die Sittenwidrigkeit des Grundgeschäfts verweigert werden. Die Richter scheinen das Kundenverhalten, Leistungen in dem Bewusstsein zu nutzen, sie nicht entgelten zu wollen, weil das Rechtswesen ihre Vergütung bisher nicht schützte, als noch sittenwidriger anzusehen als den Verbal-Sex per Telefon. Man kann sich eben nicht auf einen ausbleibenden Wandel in der Rechtsprechung verlassen! Und wenn dafür ein neuer Dreh gefunden wird: „Telefonsex muss bezahlt werden Karlsruhe – Nun also doch: Telefonsex über 0190-Nummern muss bezahlt werden, obwohl der ‘Vertrag‘ zwischen Anrufer und Anbieter ‘sittenwidrig‘ ist. Der Bundesgerichtshof: Die technische Leistung des Mobilfunkbetreibers ist ‘wertneutral‘ (Az.: BGH III ZR 5/01). (HH A 27.11.01) Eine sehr blauäugige Argumentation, denn Betreiber und Stöhnanbieter teilen sich üblicherweise die lukrativen Einnahmen. Der Betreiber weiß daher genau, aus welchem Geschäft er seine Einnahmen bezieht. Und wenn dieses Grundgeschäft – weiterhin? - als sittenwidrig angesehen wird, dann kann nach meinem Dafürhalten der für den Telefonsex unabdingbare Zwischenschritt des Telefonates über den Betreiber nicht von der Rechtsordnung gebilligt werden! Dieser Wandel der Auffassung über die langsam nicht mehr so gesehene Sittenwidrigkeit von Telefon-Sex scheint sich zu verfestigen, sogar in Extremfällen: „Eltern müssen für Telefonsex zahlen Paderborn – Wenn Kinder am Telefon teure Sex-Gespräche führen, dann müssen ihre Eltern dafür zahlen. Das Amtsgericht Paderborn verurteilte ein Ehepaar, für eine 800-Mark-Rechnung des Sohnes (11) aufzukommen (Az.: 57 C 392/01). (dpa)“ (HHA 16.11.01) Die Entscheidung muss Bedenken auslösen, weil erstens die Damen meines Erachtens hätten erkennen müssen, dass es sich bei der Kinderstimme eines Elfjährigen um keinen erwachsenen Kunden handeln könne, und weil zweitens die Schutzbestimmungen des BGB bezüglich der Geschäftsfähigkeit Minderjähriger ausgehebelt wurden: Damit ein Rechtsgeschäft mit einem Minderjährigen zustande kommt, verlangt das BGB die Zustimmung der Erziehungsberechtigten in Form einer vorherigen Einwilligung oder einer nachträglichen Genehmigung. Und gerade die fehlt hier. Das Rechtsgeschäft im Ergebnis zu einem Rechtsgeschäft der Erziehungsberechtigten umzudeklarieren, vielleicht weil sie die Anschlussinhaber sind, halte ich in einem solchen Fall wie dem vorliegenden für sehr bedenklich! Die Entlohnung eines LKW-Fahrers, dem der Tariflohn von DM 15,- pro Stunde von seiner Firma vorenthalten worden war und dem statt dessen DM 6,- gezahlt worden waren, ist von dem Landesarbeitsgericht Berlin 1997 als sittenwidrig eingestuft worden. Eine derartige Vergütung könne „nicht mehr als billig und gerecht“ anerkannt werden. Die Richter ersetzen dann einen in einer Zwangslage geschlossenen und von ihnen wegen seiner Einzelbestimmung/en als sittenwidrig eingestuften und daher nach der Wertung des Gesetzgebers nichtigen

642

Vertrag durch einen auf das gleiche Ziel ausgerichteten Vertrag mit angemessenen Bestimmungen. Wenn beide Seiten von der Sittenwidrigkeit wussten oder von ihr ausgehen mussten, dann versagen sie ihren Schutz wegen beiderseitiger Bösgläubigkeit: Kauf eines Radarwarners ist sittenwidrig mid Karlsruhe - Der Kauf eines Radarwarngerätes ist sittenwidrig. Das hat der Bundesgerichtshof (BHG) entschieden. Das Gerät dient demnach dazu, ein verbotenes Verhalten im Straßenverkehr zu begehen, indem Geschwindigkeitskontrollen unterlaufen und Geschwindigkeitsübertretungen begünstigt werden. Grundlage des Urteils war die Klage einer Käuferin eines Radarwarngerätes. Sie wollte das Gerät zurückgeben und verlangte den Kaufpreis zurück. Begründung: Das Gerät funktioniere nicht und habe an mehreren Radarmessstellen kein Warnsignal abgegeben. Die Richter am BGH wiesen die Klage zurück: Ein solches Geschäft sei darauf gerichtet, die Sicherheit im Straßenverkehr zu beeinträchtigen und verstoße gegen die guten Sitten. Zwar sei der Erwerb eines Radarwarners nicht untersagt, aber rechtlich zu missbilligen, da er eine unmittelbare Vorbereitungshandlung für dessen Betrieb darstelle (BGH Karlsruhe, Az. VIII ZR 129/04). (Auto-presse 24.02.05)

Sicher wäre bei uns auch der Lebenssachverhalt der nachfolgenden Zeitungsmeldung als zumindest sittenwidrig, wenn nicht gar als strafwürdiger Betrug, eingestuft worden: „120 Persönlichkeiten ap/SAD New York – Unglaublich: Ein Psychiater im US-Staat Wisconsin stellte einer einzelnen Patientin Rechnungen für eine Gruppentherapie aus – insgesamt fast 500 000 Mark. Begründung: Er habe bei der Schizophrenen 120 verschiedene Persönlichkeiten diagnostiziert, darunter eine Ente, den Satan, Engel und Gott.“ (HH A 13.02.97) Und im Rückgriff auf unser Leihmutterschaft-Glasperlenspiel: Wäre die »Leihmutterschaft« bei uns nicht gesetzlich verboten worden, so wäre sie von den höchsten Richtern vermutlich als stark sittenwidrig angesehen worden. Darum ist sie ja schließlich verboten worden. Wieso wird aber bei uns in diesem Fall als sittenwidrig beurteilt, was im Fall der Leihmutterschaft in den USA mit ihrer - abgesehen von der gesetzlichen Regelung der Todesstrafe - vergleichbaren Zivilisationsstufe als zulässig angesehen, was sogar mit eigenen Datenbanken in großem Stile betrieben wird? (Eine der Eingangsfragen war: "Was ist Recht?") Doch mit dem Verbot der »Leihmutterschaft« ersparen wir uns einen ganzen Rattenschwanz weiterer Prozesse, wie er andeutungsweise aus nachfolgender Meldung deutlich wird: "Leihmutter siegte ap Los Angeles - Eine Leihmutter hat vor dem Gericht in Santa Ana (Kalifornien/USA) einen Teil des Sorgerechts für ihr leibliches Kind erstritten. Sie darf sich von Montag bis Freitag um ihre 16 Monate alte Tochter kümmern, der biologische Vater, der inzwischen von seiner Frau geschieden ist, dagegen nur am Wochenende." (HH A 28.09.91) Dieser eben zuvor kurz angesprochene unbestimmte "offene Rechtsbegriff" der "guten Sitten" ist eines der Einfallstore, durch das die Wertordnung des Grundgesetzes oder auch nur das, was die Richter dafür ausgeben denken wir ganz schnell noch einmal an das jahrzehntelang von den höchsten Richtern als sittenwidriges Konkubinat eingestufte Zusammenleben eines unverheirateten Paares zurück! -, mühelos im BGB zur Geltung gebracht werden kann. Das hört sich sehr rechtstheoretisch an, kann aber, wie durch vorstehend aufgeführte Beispiele angedeutet werden sollte, eine eminent praktische Bedeutung haben. Und es gibt allein durch die rapide fortschreitende Medizintechnik ständig erneut großen Regelungsbedarf, wo die §§ 134, 138 BGB zum Tragen kommen können. Zur Abrundung noch zwei weitere Fälle von »Leihmutterschaft«, die nicht aus Gewinnstreben vorgenommen worden sind. Sind auch die als »sittenwidrig« einzustufen? Auch diese Fälle müsste man im Blick haben oder besser: gehabt haben, als man die Materie rechtlich regeln wollte und bei uns dann auch mit dem gesetzlichen Verbot der »Leihmutterschaft« geregelt hat:

643

"Oma trägt Enkel aus ap/afp New York - Arlette Schweitzer (42) in Aberdeen (Süd-Dakota) wird im November Zwillinge zur Welt bringen. Es sind ihre eigenen Enkel. Der Amerikanerin wurden Eizellen ihrer Tochter eingepflanzt, die mit dem Sperma des Schwiegersohnes befruchtet waren. Tochter Christa Uchytil (22) wurde ohne Gebärmutter geboren." (HH A 07.08.91) So wurde die »An-sich-Oma« zur Mutter ihrer »An-sich-Enkel«. Der Bundesgesetzgeber hatte sich zu fragen: Sollte so etwas auch bei uns zulässig sein? Oder sollte es wegen (angeblichen?) Verstoßes gegen die guten Sitten abgelehnt werden? Wenn nicht, wie sollten dann die Verwandtschaftsverhältnisse geregelt werden? Ist die »An-sich-Mutter« die Schwester ihrer eigenen »An-sichKinder«? Sie wäre dann nicht erziehungsberechtigt, die »An-sich-Kinder« trügen normalerweise nicht den Namen der »An-sich-Mutter«, ihre »An-sich-Kinder« wären ihr erbrechtlich gleichgestellt, denn sie wäre nicht mehr in gerader Linie mit ihnen verwandt, ... . Den Leser schwindelt's wie einen Abwehrspieler, der von Littbarski kurz vor der schon für nicht mehr möglich gehaltenen Flanke zum Führungstreffer umdribbelt worden ist, und die »An-sich-Mutter« muss nun von ihrer eigenen Mutter, der »An-sich-Oma«, deren(?) Kinder, ihre Geschwister und »An-sich-Kinder«, adoptieren, um alles wieder in die Reihe zu bringen und auch rechtlich die Mutter ihrer »An-sich-Kinder« werden zu können. So ein gordischer Knoten kann natürlich leicht mit dem Schwert des § 138 BGB oder des § 134 BGB durchschlagen werden. Aber wird man damit allen Seiten gerecht? Was kann die »An-sich-Mutter«, der die Eizellen entnommen worden sind, dafür, dass sie ohne Gebärmutter geboren worden ist? Soll sie das als gottgewollten Schicksalsschlag hinnehmen müssen? Soll man da nicht helfen dürfen? Wenn ein Kind mit einem Herzklappenfehler geboren wird, dann wird ihm auch durch eine Operation geholfen; warum dann nicht auch der Frau? Das Problem ist nicht das erste Mal aufgetreten. Der nachfolgende Artikel weist auf den juristischen Regelungsbedarf solcher Fälle hin und deutet - als Diskussionsgrundlage für uns als gedankliche Gesetzgeber zur Überprüfung unserer Interessenabwägung: Wie hätten wir als Bundestagsabgeordnete entschieden? - den Stand des Problems vor dem Tätigwerden des Gesetzgebers an: "Wenn Oma ihre Enkel selbst bekommt ... Wo sind die Grenzen in einem Medizin-Zirkus, in dem Skalpell-Jongleure vom Rang eines Rastelli hantieren, Organe austauschen oder sogar mechanische Pumpen als Herzersatz einbauen? Wie weit darf die Manipulation beim werdenden Leben gehen? Frauenärzte und Fortpflanzungsgenetiker präsentieren der staunenden Welt in der Petri-Schale gezeugte Kinder. Neuester Wurf ehrgeiziger Mediziner sind Drillinge, die im Bauch ihrer Großmutter aufwuchsen. Die 48jährige Südafrikanerin Pat Anthony hat als Leihmutter für ihre Tochter ihre Enkel - ein Mädchen und zwei Jungen - ausgetragen. ... Die 25jährige Tochter, die sich nach der schweren Geburt eines Sohnes ihre Gebärmutter herausnehmen lassen mußte, bekam Hormone, damit ihre Eierstöcke möglichst viele Eier produzierten. Denn je mehr Eier in eine fremde Gebärmutter eingesetzt werden, desto größer die Chancen, daß sich eines einnistet. Synchron dazu wurde auch die Großmutter hormonell auf die Schwangerschaft vorbereitet. Kurz nach Weihnachten setzten ihr dann die Ärzte vier mit dem Samen des Schwiegersohnes künstlich befruchtete Eizellen ein. ... Nur für die Tochter gibt es noch ein kleines Problem. Sie muss von der Mutter ihre »Geschwister« als Kinder adoptieren. Befruchtungstechniker haben die vielgerühmte »Keimzelle« unseres Gemeinwesens, die Familie, längst auseinanderdividiert. Sie splitten Mutterschaft im Zweifelsfall sogar auf drei Frauen auf - die genetische, die ihr Ei spendiert oder verkauft, die Leihmutter, die das Baby austrägt, und die soziale, die es aufzieht. Es scheint dringend notwendig, mit der Forschung innezuhalten und darüber nachzudenken, was sie darf, und nicht darüber, was sie kann. Das fordern inzwischen sogar einige der Forscher selbst. Der »Vater« des ersten französischen Retortenbabys, Dr. Jacques Testart, stieg aus der Forschung aus. Weil er eine gefährliche Entwicklung bis hin zur Schaffung von »Qualitätsmenschen« befürchtete. »Ich bin für eine Ethikkommission, die Vollmachten hat und nicht bloß Empfehlungen ausspricht. Es muß Leute geben, die durchsetzen, was diese Kommission beschließt.« Heute sind sich Medizin und Rechtsprechung in der Bundesrepublik darüber einig, daß Genverpflanzungen in Körperzellen erlaubt sein sollen, weil sie Verpflanzungen von Organen gleichzusetzen seien. Umstritten sind dagegen die im Tierversuch schon erprobten Gentransplantationen in Keimzellen. Erst recht zu verwerfen seien, so Professor Ernst Benda, ehemals Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, alle Versuche, den Menschen durch

644

Veränderung der Erbanlagen »verbessern« zu wollen. »Ein Gentransfer in menschlichen Keimbahnen ist derzeit nicht vertretbar« stellt die nach Benda benannte Kommission fest. Derzeit nicht - aber könnten Übertragungen von Genen in menschliche Keimzellen eines Tages nicht nur sinnvoll, sondern medizinisch und ethisch notwendig sein, beispielsweise um die Menschen von Erbkrankheiten zu befreien? Die künstliche Befruchtung jedenfalls möchte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer nur auf die Ehe beschränken. Der Deutsche Juristentag hält dagegen, stabile, aber nicht-eheliche Gemeinschaften dürften nicht davon ausgeschlossen werden. Die Befruchtung mit Samen, der nicht vom Ehemann stammt, soll nach einem Gesetzentwurf aus den sechziger Jahren bei Strafe verboten sein. Der Deutsche Richterbund allerdings hält sie bis heute nicht für verfassungswidrig, und die SPD möchte den »technischen Ehebruch« im Reagenzglas unter bestimmten Bedingungen zulassen. Einigkeit besteht darüber, daß Samenspenden nicht anonym bleiben dürfen. Die jährlich etwa fünfhundert Kinder, die mit Spendersamen in der Bundesrepublik im Reagenzglas gezeugt werden, sollen das Recht haben, ihre Erzeuger zu kennen. Ob die Kinder allerdings auch Unterhalts- oder Erbansprüche an ihre Spender haben, ist fraglich. Käme es dazu, dürften sich kaum noch Männer zur Spermaspende in den Praxen einfinden. Einig sind sich die Kommissionen auch darin, daß auf Eis gelegte Eier und Samen von Verstorbenen nicht verwendet werden dürfen. Kein Kind soll von vornherein mutter- oder vaterlos aufwachsen. Und wenn der Spender krank, sein Tod vielleicht absehbar ist? Bei künstlicher Befruchtung werden Zwillinge zehnmal, Drillinge hundertmal und Vierlinge zweitausendmal so häufig geboren wie bei natürlicher Empfängnis. Mehrlinge sind deshalb häufiger, weil zumeist mehrere Embryos in die Gebärmutter eingepflanzt werden, damit eine Einnistung wahrscheinlicher ist.33 Dieser »helping-effekt« verstößt nach Auffassung vieler Juristen gegen die Menschenwürde. Es sei nicht zu rechtfertigen, wegen eines gewünschten Embryos mehrere andere als »Starthelfer« zu mißbrauchen. Ein Kieler Retortenvater wollte die Drillinge nicht akzeptieren, die ihm geboren wurden - er war arbeitslos geworden und kann sie nicht unterhalten. Was darf man mit Embryos überhaupt machen? Darf man »Überschuß« produzieren? Daran forschen? Sie in den Laboratorien verschwinden lassen und eines Tages heimlich »entsorgen«? Versuche an Embryos, so findet der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer, seien »nur« zulässig, wenn sie einen »unmittelbaren klinischen Nutzen« haben und »einem hohen wissenschaftlichen Standard entsprechen«. Das muß schon ein miserabler Forscher sein, der solch schwammige Bedingungen nicht erfüllen oder geschickt umgehen kann. Der Pariser Biologe Testart warnt gerade vor solchen Gummirichtlinien: »Schlimm ist, wenn dieselben Leute Richter und Interessengruppe sind. Und das sind Ärzte heute. Man muß sie unter 33

Bislang pflanzen Ärzte den Betroffenen häufig mehrere Embryonen ein, um die Chancen einer Schwangerschaft zu erhöhen. Sie liegen bei 43,5 %. In mehr als jedem dritten Fall kommt es anschließend in Deutschland zu Mehrlingsgeburten; die Risiken für Mutter und Kinder und auch die psychische Belastung sind dadurch weitaus höher. Verpflanzen Mediziner aber nur einen Embryo in den Mutterleib, so entsteht mit 39,7 % fast genauso häufig eine intakte Schwangerschaft. In Schweden ist es seit 2003 nur noch erlaubt, einen Embryo zu verpflanzen - seltene Ausnahmen werden gemacht, wenn die Frauen älter als 39 Jahre sind oder schon mehrere fehlgeschlagene Befruchtungsversuche hinter sich haben. Ein solcher "Single-Embryo-Transfer" ist in Deutschland (noch) nicht vorgeschrieben Es werden bis zu drei Embryonen verpflanzt, wobei die Anzahl vom Alter der Patientin und ihren Wünschen abhängig ist. Werden dann Zwillinge oder Drillinge geboren, so kommen diese im Durchschnitt fünf oder neun Wochen zu früh auf die Welt. Die intensivmedizinische Versorgung einer Frühgeburt kostet bis zu 80 000 Euro. Die jährlichen Gesamtkosten für Frühgeburten übersteigen so deutlich die Kosten für künstliche Befruchtungen, die bei etwa 500 Millionen im Jahr liegen. Seit Januar 2004 muss ein deutsches Paar die Hälfte der Kosten einer künstlichen Befruchtung selbst tragen. Zu Schweden bestehen noch weitere rechtliche Unterschiede: Weil die Auswahl des richtigen Embryos für den Erfolg wichtig ist, setzt sie die Anwendung der Präimplantationsdiagnostik voraus. Embryonen aber zu kultivieren, ihre Zellen zu begutachten und dann den auszuwählen, der die größten Chancen zur Einnistung hat, ist in Deutschland nicht erlaubt.

Eine Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) will daher das überholungsbedürftige, 13 Jahre alte Embryonenschutzgesetz dem Fortschritt anpassen: Durch In-vitroFertilisation sollen Mehrlingsschwangerschaften verhindert werden. Dafür müssten die Ärzte den Embryo auswählen dürfen, den sie in die Gebärmutter einpflanzen wollen. Zu klären bliebe dann die umstrittene Frage, was mit den überzähligen Embryonen geschehen soll. Für Forschungszwecke dürfen diese Zellen in Deutschland nicht verwendet werden.

645

Aufsicht stellen und ihre Projekte beurteilen, bevor sie sie verwirklichen. Ich kann nur sagen: Trauen sie mir nicht über den Weg, wenn ich mit dem Leben spiele.« Wäre der nötige »unmittelbare klinische Nutzen« oder das besondere hochrangige Forschungsziel etwa die Herstellung natürlicher Organ-Ersatzteile aus embryonalem Gewebe? Solche, die der Körper nicht abstößt? Kann man überhaupt auf sie verzichten, wo es an Spenderbereitschaft und verfügbaren Organen mangelt? Allein in der Bundesrepublik, so könnten Organbastler argumentieren, sind jährlich 2400 Nieren für Transplantationen nötig, aber nur 1627 wurden 1986 »gespendet«. Und der Bedarf steigt. Auf australischen Wiesen grasen friedlich durch Klonen entstandene identische Schafe, Kälber und Pferde. Das gilt in der Tiermedizin inzwischen als »Routine«. Die dabei verwendete Tiefkühltechnik wird nicht nur von Veterinären benutzt. Im April 1984 kam das erste »Frostie« zur Welt - so nennen australische Ärzte stolz ein Baby, das als Embryo drei Monate lang in flüssigem Stickstoff zugebracht hatte. Totgeschwiegen dagegen wurde der bislang schwerste »Embryo-GAU«: In mehreren australischen Kliniken kamen Hunderte von Tiefkühl-Embryos um - der Strom war ausgefallen! Dagegen lagern in einem Melbourner Klinik-Frostfach noch immer einige »EmbryoWaisen« und warten auf den Tag X, an dem sie vernichtet werden oder mit Erbanspruch weiterverpflanzt werden dürfen. Sie stammen von dem chilenischen Millionärsehepaar Rios, das 1983 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.34 Für den Embryo aus der Kälte stoßen Forscher die Tür zu einem grenzenlosen Raum auf. Man kann die befruchtete Eizelle teilen und damit Zwillinge ganz neuer Art produzieren. Man setzt den ersten ein, und gelingt er, können die Eltern den zweiten »nachbestellen« wann immer es ihnen paßt. Mit vielversprechenden Ersatzteilen und Reparaturangeboten lockt heute eine Medizin, die bislang zu wenig Interesse für die Verhütung von Zivilisationskrankheiten zeigt. Kaum erforscht sind beispielsweise die Zusammenhänge zwischen Unfruchtbarkeit und Umweltgiften. Und bei der Säuglingssterblichkeit rangiert die Bundesrepublik unter den europäischen Ländern noch immer auf Platz 11. Alkohol, Drogen, Nikotin und Übergewicht zählen nach wie vor zu den großen Krankmachern. Aber sogar an unseren Schulen gilt Computerunterricht mehr als das Lernen von Verantwortung für die eigene Gesundheit. All das drängt eine ganz andere Frage auf: Welchen Wert haben medizinische Kunststücke, wenn nach wie vor Millionen am Herzinfarkt sterben?" (STERN 08.10.87) Der Artikel eignet sich deshalb sehr gut als Diskussionsgrundlage, weil er viele juristische Problemfelder aufzeigt, die bei der damals in der Bundesrepublik noch anstehenden juristischen Bewältigung dieses Teilaspektes medizinischer Forschungstätigkeit bedacht werden mussten. Und wissen muss man außerdem, dass bis zu 15 % aller Paare erfolglos ungeschützten Geschlechtsverkehr praktizieren und damit die Definition der Weltgesundheitsbehörde WHO erfüllen, die ungewollte Kinderlosigkeit nach diesem Zeitraum des intensiven lustvollen, gleichwohl erfolglosen Bemühens als Krankheit einstuft. Das liegt zu 30 % an einer Störung der Eizellenreife oder verschlossener oder fehlgebildeter Eileiter bei der Frau und zu 30 % allein am Mann, wenn bei ihm etwa eine Störung der Spermienreife oder des Spermientransportes vorliegt. Bei einem weiteren Drittel der Betroffenen liegen die Gründe bei beiden, bei 10 % können keine organischen Gründe festgestellt werden. All diesen Paaren kann eventuell durch eine In-Vitro-Fertilisation geholfen werden. Inzwischen wurden diese Fragen für die Bundesrepublik in einem Embryonenschutzgesetz teilweise zu lösen versucht, das aber nur in unserem Land Geltung beanspruchen kann. Andere Länder werden die mit diesem Problemkreis verbundenen juristischen Fragen (zum Teil?) anders gelöst haben. "Embryonenschutz: Manipulation am Erbgut ist verboten Manipulation am menschlichen Erbgut sowie die Verwendung von Embryonen zu Forschungszwecken sollen künftig verboten sein. Der Bundestag verabschiedete am 24. Oktober mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP das Embryonenschutzgesetz, das der 34

In einem 13 Jahre später verfassten Artikel stammte das Millionärsehepaar Rios aus Kalifornien, und das Problem der zwei in einer australischen Kryonenbank tiefgefrorenen Embryonen war richterlicherseits gelöst. Ausgangsfrage: Sind die Embryonen Erben des Vermögens – oder gehörten sie im Gegenteil zur Erbmasse, so dass es anderen Hinterbliebenen überlassen ist, die potentielle Erbkonkurrenz irgendwann von einer Leihmutter austragen zu lassen oder sie zu vernichten? Von der Aussicht auf Teilhabe an dem möglichen Reichtum meldeten sich viele Frauen als Leihmütter, bis ein kalifornisches Gericht entschieden hatte, dass die Embryonen nicht Erben sein könnten. Da erlosch das (rein pekuniäre) Interesse schlagartig!

646

Forschung und der neuen Fortpflanzungsmedizin Grenzen setzen soll. `Nicht alles, was technisch machbar ist, darf auch erlaubt sein', betonte Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP). Das Gesetz soll am 1. Januar 1991 in Kraft treten. Allerdings muß es noch abschließend den Bundesrat durchlaufen. Es stellt unter anderem die sogenannte Leihmutterschaft, das Austragen des Kindes durch eine andere Frau als die genetische Mutter, unter Strafe, sowie die Befruchtung mit Samen eines Toten. Mediziner dürfen bei Befruchtung außerhalb des Körpers keine `überzähligen' Embryonen herstellen. Verboten ist auch die Vervielfältigung der Geninformationen, also die Herstellung identischer Menschen durch das sogenannte Klonen, ebenso die Vermischung von menschlichem und tierischem Samen. Auch die Geschlechtswahl ist grundsätzlich untersagt, allerdings zur Verhinderung schwerer Erbkrankheiten zugelassen. Als Embryo gilt künftig die befruchtete menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an. Während die PDS das Gesetz teilweise billigte, sahen es die SPD und die GRÜNEN/Bündnis 90 als mangelhaft an und lehnten es ab. Nach ihrer Ansicht eröffnen die Bestimmungen der Forschung zu viele Möglichkeiten, in der Entwicklung `eines neuen Menschen' mit gewollten Eigenschaften fortzufahren. Zum ersten Mal seit 1945 - so die GRÜNEN - werde auch der Versuch gemacht, spezifische Behinderungen zu benennen, deren Auftreten selektive Maßnahmen rechtfertigt. Ein solches Gesetz beschreite den Weg hin zur Festlegung `lebensunwerten Lebens', nach berüchtigtem Nazi-Vorbild. Änderungsanträge der Opposition fanden keine Mehrheit. `Chance und Gefahr' Die SPD-Rechtsexpertin Herta Däubler-Gmelin unterstrich, es gehe darum, `die ganz feine Grenze zwischen Chance und Gefahr' zu finden. Daher sei ein umfassendes `Fortpflanzungsmedizingesetz' mit einem Katalog verschiedener - auch standesrechtlicher - Maßnahmen wünschenswert. Strafrechtliche Bestimmungen allein könnten den komplizierten Problemen nicht gerecht werden. Begrüßt wurde von der SPD das Verbot der Leihmutterschaft, kritisiert aber die Zulassung von Samenspenden außerhalb der Partnerschaft. Fortpflanzung müsse auch künftig mit klarer Mutterund Vaterschaft verbunden sein, betonte Frau Däubler-Gmelin. Scharf formulierte die GRÜNEN-Abgeordnete Marie-Luise Schmidt ihre Kritik. In dem Gesetz gehe es lediglich um eine `Kontrolle der weiblichen Gebärfähigkeit' und eine `Absicherung von Forschungsinteressen unter dem Deckmantel des Lebensschutzes'. ... Von Seiten der Koalition wurde das Gesetz begrüßt. Allerdings - so hieß es von Abgeordneten der Union und der FDP - sei es lediglich ein erster Schritt und könne noch nicht allen Gefahren durch die neue Fortpflanzungsmedizin begegnen. Wichtig sei aber, die Chancen zur Hilfe für Frauen bei ungewollter Kinderlosigkeit zu nutzen, betonte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Friedrich Adolf Jahn. Außerdem dürfe die Freiheit der Forschung nicht zu stark eingeschränkt werden. dpa" (Das Parlament 02.11.90) "Fortpflanzung müsse auch künftig mit klarer Mutter- und Vaterschaft verbunden sein, betonte Frau DäublerGmelin“, hieß es in dem letzten Zeitungszitat. Schon die alten Römer wussten es besser: "Mater semper certa, pater semper incertus.", lautete ein alter römischer Rechtsspruch. ("[Nur] die Mutter ist immer sicher, der Vater ist immer unsicher.") Eine entsprechende afrikanische Weisheit lautet: „Mama’s baby, papa’s maybe.“ Und wie wir gesehen haben, gilt durch die Fortschritte der Fortpflanzungsmedizin selbst der Satz, der Jahrtausende lang Gültigkeit hatte, demzufolge wenigstens die Mutter sicher feststehe, heute nicht mehr. 2001 wurde ein Kind geboren, das zwei biologische Mütter hat, denn eine (weibliche) Eizelle war entkernt und mit den Genen einer anderen Frau angereichert und schließlich mit (männlichem) Samen befruchtet worden. Dieses Kind stammt folglich biologisch von einem Vater und zwei Müttern ab. Seit Jahrzehnten steht nach der ersten diesbezüglichen amerikanischen Blutgruppenuntersuchung an einem anonym gehaltenen Krankenhaus fest, dass 10 – 15 % aller in einer Ehe geborenen Kinder nicht von dem jeweiligen Ehemann gezeugt sind35. Ähnliche Ergebnisse erbrachten mindestens 15 Folgeuntersuchungen in den USA und Europa, u.a. auch in Deutschland. Untersuchungen in Liverpool und Südost-England ergaben dabei sogar bis zu 30 % Kuckucks-Kinder36 durch das von den Wissenschaftlern so genannte „Gen(e)-shopping“, demzufolge sich die Frauen die Gene für ihre Kinder von ihrem jeweiligen Liebhaber und nicht von ihrem Ehemann besorgt hatten – vielleicht, weil nach einer französischen Studie die Engländer international mit 40 Stunden pro Jahr für Sex den Spitzenplatz einnehmen, wohingegen die Deutschen mit 27 Stunden und 29 35 36

Diamond: Der dritte Schimpanse SPIEGEL 16/00 S. 264

647

Minuten pro Jahr nur einen Platz im unteren Mittelfeld belegen. (Das ist pro Woche weniger als eine halbe Stunde. Die armen Japanerinnen müssen – wohl auf Grund der langen Arbeits- und Fahrtzeit ihrer Männer und der oft angesetzten nachdienstlichen Besäufnisse im Kollegenkreis zur Hebung des betrieblichen Zusammengehörigkeitsgefühls - mit 7 Stunden und 24 Minuten pro Jahr unbefriedigt bleiben! HH A 04.08.01) Das sexuelle Verhalten des Menschen ist nach den Kenntnissen der Evolutionsbiologen in der Jäger-undSammler-Vergangenheit angelegt und ohne Umbrüche so aufrechterhalten worden. Psychologische Tests an Frauen ergaben, dass die, einem in ihnen angelegten genetischen Programm folgend, je nach Menstruationszyklus und Eisprung ihre Vorlieben für Männer ändern: Während der fruchtbaren Tage werden mehr oder minder unbewusst »Draufgänger« bevorzugt, die ihre von den Frauen für optimal erachteten Gene an ihre Kinder weitergeben sollen, die übrigen Tage stehen Frauen mehr auf »Kuschelmänner«, die ihrer Brut bei deren Aufzucht liebevolle Väter zu sein versprechen. Alles geschieht im Dienste der bestmöglichen Arterhaltung. Das diesbezügliche in den Genen der Frauen angelegte Sexualverhalten laufe auf die Maxime hinaus: „Trachte danach, einen fürsorglichen Ehemann zu finden, der in deine Kinder Nahrung und Pflege investiert; trachte danach, einen Liebhaber zu finden, der deinen Kindern erstklassige Gene verschafft. Nur wenn sie sehr viel Glück hat, findet sie beides beim selben Mann. ... Dieses Verhalten lebt fort in der Frau des Großindustriellen, die ein Kind zur Welt bringt, das ihrem muskulösen Leibwächter ähnelt.“37 Die sozialen Väter wissen aber meist nicht, dass ihnen von ihren Frauen „Kuckucks-Kinder“ untergeschoben wurden. Bei einem solchen Prozentsatz kann man wohl nicht mehr von grundsätzlich »klarer Vaterschaft« sprechen! Da ist es auf jeden Fall menschlich verständlich, wenn durch die Gefährdungshaftung der Alimentezahlung als Erzeuger in Anspruch genommene Männer genau wissen wollen, ob auf Grund eines »Besenkammer-Erlebnisses« mit angeblichem »Samenraub« oder weniger dramatisch verlaufenen Paarübungen überhaupt rechtliche und moralische Verpflichtungen bestehen. Einzige Möglichkeit, Gewissheit zu erlangen: Ein Vaterschaftstest. Und wenn man die durch gewecktes Misstrauen vermutlich eh schon angespannte Partnerbeziehung nicht weiter anheizen aber gleichwohl Gewissheit erlangen wollte, blieb nur ein heimlich in Auftrag gegebener Vaterschaftstest, indem ein Haar vom Lockenköpfchen des Unschuldigen oder sein Schnuller zusammen mit einer Speichel- oder Haarprobe des unsicheren und möglicherweise ebenfalls unschuldigen Vaters zu einem Labor zur Durchführung eines Abstammungstests eingesandt wurde. So, wie u.a. am Beispiel der Fortpflanzungsmedizin aufgezeigt, können Zivil- und öffentliches Recht sich verzahnen.

3 Öffentliches Recht Öffentlic hes Recht

Das öffentliche Recht in seiner Gesamtheit regelt einerseits das Verhältnis der Bürger zu den Trägern öffentlicher Hoheitsgewalt (z.B. im Straf- und im Straßenverkehrsrecht und immer dann, wenn der Bürger etwas vom Staat oder der Staat etwas vom Bürger will, was dem Begehrenden nicht grundsätzlich erlaubt ist) und andererseits das Verhältnis der Träger öffentlicher Gewalt zueinander (z.B. Befugnisse von Bundestag und Bundesrat bei der Gesetzgebung oder Staatsverträge der Bundesländer untereinander, z.B. beim geplanten Zusammenschluss der Länder Brandenburg und Berlin, bei der Gestaltung der Transrapidstrecke oder anderer länderübergreifender Vorhaben). Das konkrete öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Bürger und Staat - es gibt auch Privatrechtsverhältnisse zu Bürgern, z.B. wenn der Staat wie ein Privater über eines seiner Beschaffungsämter Computer und Büromaterial für die Arbeit seiner Angestellten und Beamten einkauft - wird weit überwiegend durch auf gesetzlichen Ermächtigungen basierende je einzelne Verwaltungsakte („VA“) geregelt. Dabei hat der Staat jeden Bürger ohne Ansehen der Person gleich »gerecht« zu behandeln. Er darf nicht bei gleicher Problemlage z.B. einem Parteifreund der gerade regierenden Partei/en etwas erlauben, was er anderen Bürgern verweigert. Das gebietet der Gleichbehandlungsgrundsatz und die daraus abgeleitete Selbstbindung der Verwaltung durch vorgängiges Verwaltungshandeln. Weil die öffentliche Verwaltung sich nicht immer strikt an diesen Grundsatz hält, sprechen dann die politischen Gegner oder spricht, wenn es ruchbar wird und nach oben kocht, die Presse von »schwarzen« oder »roten Filz«. Das Verhältnis zu anderen innerstaatlichen Trägern öffentlicher Gewalt wird überwiegend durch Staatsverträge, 37

Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998 S. 337

648

z.B. zwischen den einzelnen Bundesländern oder den Bundesländern und dem Bund, geregelt. Die Regelung der Verhältnisse zwischen den einzelnen Bundesländern interessieren den einzelnen Normalbürger eines Bundeslandes kaum: Mit welchem Bundesland z.B. ein Stadtstaat wie Hamburg einen Vertrag schließt, demzufolge es unter Zahlung der vereinbarten Gebühr den Dreck seiner Bürger auf die Müllkippe eines Flächenbundeslandes schütten darf, interessiert den normalen Hamburger nicht: Hauptsache, der Dreck ist weg. Deswegen soll im Weiteren nur das überwiegend durch Verwaltungsakte geregelte öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Bürger und Staat in den Blick genommen werden. Wenn der Staat seine oder überragende Gemeinschaftsinteressen beeinträchtigt glaubt, „Lebensmittelkontrolle Berliner mit Kondom ap Wiesbaden – Pflaumenmus mit Glassplittern, Roggenbrot mit toten Motten, Tiefkühlpizza mit Schraube oder Berliner mit Kondom: In einer Vielzahl von Lebensmitteln befinden sich immer noch teils gesundheitsschädliche Fremdstoffe. ...“ (HH A 15.10.98) greift er mit Anspruch auf Gehorsam in die vom Prinzip her privaten, zivilrechtlichen Belange und Absprachen seiner Rechtsunterworfenen ein. Diese Eingriffe geschehen durch einen Hoheitsakt, meistens in der Form eines Verwaltungsaktes. Das ist dann ein Beispiel für öffentliches Recht. "Teurer Mohnkuchen dpa Berlin - Selbst wer Mohnsamen nur zum Kuchenbacken anbaut, muß sich dafür eine 50 Mark teure Genehmigung vom Bundesgesundheitsamt holen. Grund: Das Anpflanzen von Schlafmohn Ausgangsstoff für Opium - ist genehmigungspflichtig." (HH A 09.03.93) Die Regelung, dass eine Sache erst einmal grundsätzlich verboten ist, aber eine Genehmigung - meist bei persönlicher Zuverlässigkeit - beantragt werden kann, nennen die Juristen „Verbotstatbestand mit Erlaubnisvorbehalt“. In solchen Fällen begehrt der Bürger auf einer bestimmten gesetzlichen Grundlage einen ihn begünstigenden VA. Sollte ihm die Behörde die Erteilung des erstrebten VAs verweigern, kann er gegen diese Verweigerung mit einer Verpflichtungsklage vor dem Verwaltungsgericht klagen. Ein typisches Beispiel für einen begünstigenden VA ist eine Baugenehmigung. Gleiches gilt, wenn jemand auf Grund eines Leistungsgesetzes eine von einer Behörde verweigerte Leistung begehrt, sie aber nicht erhält. Da handelt es sich dann nicht um einen „Verbotstatbestand mit Erlaubnisvorbehalt“. Wird dem Bürger die ihm seiner Meinung nach zustehende Leistung zu Unrecht verweigert, so kann er vor dem VG auf Erteilung des ihn begünstigenden VAs auf der Basis des Leistungsgesetzes eine Leistungsklage erheben. Häufig sind diese Klagen im Bereich der »Stütze«, wenn ein »Alko« von seinem Saufkumpan erfährt, was der seinem Sachbearbeiter beim Sozialamt »aus dem Kreuz geleiert« hat und ihm das nicht gelang. Dann klagen viele von ihnen dann auf der Basis der von ihnen ja nicht zu zahlenden Prozesskostenhilfe. Aber nicht jede der Klagen ist erfolgreich, besonders dann nicht, wenn man damit juristisches Neuland beschreiten will: „Sozialamt soll Bordell-Besuche bezahlen Hilfeempfänger Helmut H. klagt vor dem Verwaltungsgericht - Ehefrau sitzt seit zwei Jahren in Thailand fest von Jörg Völkerling Ansbach - Die Adresse war dick gedruckt, die Betreffzeile hatte es in sich: Im September 2003 schrieb Helmut H. einen "Antrag zur Gewährung von Beihilfen zur Abwehrung sexueller Entzugserscheinungen" an das Landratsamt Weißenburg-Gunzenhausen (Bayern). Dann folgte eine beachtliche Wunschliste des 43-jährigen Sozialhilfeempfängers: 16 Bordellbesuche à 100 Euro, 32 Pornofilme, ein Kontaktmagazin zuzüglich der Fahrten zur Videothek. 2464,25 Euro sollte das Amt zahlen - doch es lehnte ab. Helmut H. klagte, heute wird die Angelegenheit vorm Verwaltungsgericht in Ansbach verhandelt. Der Tag, an dem der Hormonhaushalt des Helmut H. aus den Fugen geriet, ist der 5. Mai 2002: "Damals gebar meine thailändische Frau Nitaya in ihrer Heimat unseren Sohn Markus Günther", berichtet H. Wegen Verständigungsproblemen mit den deutschen Ärzten sei sie nach Bangkok geflogen, sagt er - doch für das Rückflugticket fehlte das Geld. Als das Sozialamt sich weigerte, die Rückführungskosten zu erstatten, ersann der gelernte Kfz-Mechaniker eine andere Strategie: "Ich bin

649

auf sexuellem Entzug", schrieb er nun an Sachbearbeiter Dieter D. Er klagte über psychische Schäden und verlangte zur Lustbefriedigung nach einer Gummipuppe auf Amtskosten. Dieter D. antwortete wutentbrannt: "Derartige Schreiben werden künftig nicht mehr beantwortet." Das Verfahren AN 4 K 04.00052 nahm seinen Lauf. Sozialamtsleiter Manfred Walter ist das Lachen über den renitenten Antragsteller längst vergangen: "So etwas hatten wir hier noch nie." Höchstens, dass mal die Pille im Rahmen der Familienplanung bezuschusst wurde. Aber Bordellbesuche, vier Mal monatlich? "Das ist keine Leistung nach dem Bundessozialhilfegesetz", sagt der 55-jährige Beamte trocken. Dabei ist die Frage, inwieweit sich das Sozialamt um das Sexualleben seiner Klienten sorgen muss, durchaus umstritten: Erst im vergangenen Jahr hatte "Viagra-Kalle" aus Bad Soden Schlagzeilen gemacht - der Hessische Verwaltungsgerichtshof sprach ihm zumindest in erster Instanz das Potenzmittel zu.38 Dass sich die Ansbacher Richter dieser Rechtsauffassung anschließen, ist am Freitag nicht zu erwarten. Dabei wäre für Helmut H. die Sache ohnehin längst erledigt, wenn seiner Frau die 500 Euro für das Rückflugticket erstattet würden. "Das ist alles nur Business", sagt der Franke ehrlich.“ (Die Welt 05.03.2004) Der Kläger unterlag auf jeden Fall in der ersten Instanz: „Bordell nicht auf Sozialhilfe Ansbach – Auch bei mittellosen einsamen Ehemännern muss das Sozialamt nicht für Bordellbesuche und Pornohefte aufkommen. Das entschied das Verwaltungsgericht in Ansbach (Bayern). Ein Sozialhilfeempfänger (35) aus Franken hatte mehr als die üblichen 287 Euro im Monat eingefordert, um seine ’erheblichen sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen’. Das könne er nur im Freudenhaus, weil seine Frau, eine Thailänderin, seit der Geburt des gemeinsamen Sohnes 2002, wieder in Thailand lebe. ’Ich brauche die Bordellbesuche zur Wiederherstellung meines psychischen und physischen Gleichgewichts.’ Die Richter argumentierten dagegen, dass auch solche Dinge mit dem Regelsatz der Sozialhilfe abgegolten seien. Der Arbeitslose aus dem Landkreis Gunzenhausen will in die Berufung gehen. Er hatte monatlich vier Bordellbesuche à 125 Euro, acht Pornovideos inklusive Fahrtkosten zur Videothek sowie ’Selbstbefriedigungszubehör’ für die Zeit während des Films beantragt. Inklusiver der Gummipuppe forderte er insgesamt knapp 2500 Euro im Monat.“ (HH A 06.03.04) Dann muss „Viagra-Kalle“ umgezogen sein und nach seiner Niederlage vor dem VG Ansbach erneut - und dieses Mal zunächst mit Erfolg - vor dem VG Frankfurt geklagt haben. Und dann der herbe Rückschlag. Wenn er »ihn« ohne Potenzmittel nicht mehr zum Stehen kriegt, so hat „Viagra-Kalle“ trotz seiner körperlichen Dysfunktion aber auf jeden Fall rechtliche »Steherqualitäten« bewiesen: Keine "Sex-Stütze" für Frührentner "Viagra-Kalle" will Bezahlung von Potenzmitteln durch Sozialamt einklagen Bad Soden - Schluss mit lustig: Die Folgen der Gesundheitsreform bekommt auch Frührentner Karlheinz F. (56), bekannt als "Viagra-Kalle", aus Bad Soden zu spüren. Weder die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) noch das Sozialamt des Main-Taunus-Kreises wollen für seine Potenzprobleme aufkommen. Weder der finanzielle Aufwand für Viagra (Kostenpunkt etwa 13 Euro pro Tablette) noch die vom 38

Potenzlose »Notgeilheit« allein genügt nicht; es müsste noch eine schwere Lungenkrankheit hinzukommen: „Lungenkranke hat Recht auf Viagra Lübeck – Eine schwer lungenkranke Frau (53) aus dem Kreisherzogtum Lauenburg hat das Recht auf eine Dauertherapie mit Viagra. Das hat das Sozialgericht Lübeck einstweilig entschieden (Az.: S 9 KR 70/03). Das Potenzmittel wirkt auch gegen Lungenhochdruck. (dpa)“ (HH A 22.04.04) Nun können sich potenzlose notgeile Männer lungenkranke Frauen suchen, wenn sie nicht selber unter Lungenhochdruck leiden und mit ihnen angenehmen Nebenwirkungen behandelt werden – was eventuell zum Priapismus führen könnte. Seit einiger Zeit gibt es übrigens die ersten Scheidungen wegen zu intensiven Viagra-Gebrauchs, weil »er« jetzt doch wieder kann und das Versäumte so intensiv nachholen will, dass »sie« sich von der sexuellen Aggressivität des vorher impotenten Mannes überfordert fühlt (HH A 20.04.04)

650

Frührentner als Minimalleistung akzeptierte Penisspritze (Preis: 21,60 Euro pro Injektion) werden erstattet. Ein herber Schlag für "Viagra-Kalle". Er und Ehefrau Lali (41) müssen nun selbst bezahlen - oder Verzicht üben. Musste das Sozialamt bis zum 31. Dezember 2003 doch laut eines Urteils des Verwaltungsgerichts Frankfurt/Main vom 12. August 2003 für die Potenzhilfen zahlen. Die Durchblutungsstörungen seines Penisschwellkörpers wurden als Krankheit anerkannt. Das Sozialamt zahlte, bis sich die Rechtsgrundlage änderte. Karlheinz F., der noch vor etwa einem Jahr erfolgreich für sein Recht auf Sex geklagt hat, will sich damit nicht abfinden und klagt erneut: Wenn die Krankenkasse - seit dem 1. Januar 2004 per Gesetz für die gesundheitlichen Nöte des Sozialhilfeempfängers zuständig - sein Grundrecht auf körperliche Liebe nicht anerkennt, soll eben der Staat wieder "Sex-Stütze" bezahlen, argumentiert er. Am 24. August verhandelt nun das Verwaltungsgericht in Frankfurt/Main den Fall. Im Landratsamt in der hessischen Kreisstadt Hofheim gibt man sich optimistisch. Allzu lange musste die Behörde für die Lustspritzen des Sozialhilfeempfängers bezahlen. Ganz Deutschland spottete noch vor Jahresfrist über die "Sexstütze des Sozialamts": "Die Rechtslage ist eindeutig. "Viagra-Kalle" hat dieses Mal keine Chance, vom Sozialamt finanzielle Unterstützung für potenzsteigernde Mittel zu bekommen", so Pressesprecherin Karin Rometsch. Nach dem Fall von "Florida-Rolf", der sich lange Zeit von der Sozialhilfe sein Leben im Süden der USA finanzieren ließ und zurückkehren musste, glaubt man offenbar daran, dass auch die Justiz den Reformwillen im Sozialwesen unterstützen will. zach“ (DIE WELT 11. 08.04) Der Fall zeigt außerdem, wie notwendig es für eine vereinheitlichte Rechtsprechung ist, dass selbst erstinstanzliche Urteile von einiger Bedeutung publiziert werden und Obergerichte mit ihrer Rechtsprechung zur Rechtsvereinheitlichung beitragen. "Viagra-Kalle" geht leer aus Gericht weist Klage des Sozialhilfeempfängers auf kommunal finanzierte Potenzmittel ab von Jasch Zacharias Bad Soden - Auch die zweite Klage vor dem Verwaltungsgericht hilft Sozialhilfeempfänger Karlheinz F. aus Bad Soden, deutschlandweit bekannt als "Viagra-Kalle", nicht weiter. Der MainTaunus-Landkreis muß dem 56jährigen keine Potenzmittel bezahlen, entschied das Gericht. Das Urteil ist aus juristischer Sicht offenbar wasserdicht. Denn es enthält sich jeglicher moralischer Bewertung des Falles. Die Frage, ob "Viagra-Kalle" ein existentielles Recht auf "Sex-Stütze" hat oder nur der Allgemeinheit auf der Tasche liegt, wird nicht beantwortet. Formalrechtliche Gründe - die berühmte Hintertür des deutschen Rechtssystems - sind ausschlaggebend. "Der Bescheid ist unanfechtbar, weil der Kläger keinen Widerspruch erhoben hat", sagte Richter Norbert Breunig gestern der Nachrichtenagentur dpa. Kein Widerspruch - kein Grund zur Klage. Dieser Grundsatz gilt für alle auch im Falle sexuellen Notstands eines Impotenten. Bereits im vergangenen Jahr hatten sich die Kontrahenten vor demselben Gericht gegenübergestanden. Damals hatte derselbe Richter, Norbert Breunig, das vieldiskutierte Urteil gefällt, daß Viagra Sozialhilfeempfängern nicht grundsätzlich vorenthalten werden dürfe. Sozialhilfeempfänger Karlheinz F. kam aber dennoch nicht mit öffentlicher Hilfe an das "Lust"Medikament, weil der Landkreis zunächst einen Hilfeplan aufstellen sollte und schließlich aber in der Berufung vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel gegen das Breunig-Urteil Erfolg hatte. In der Neuauflage des Prozesses wollte "Viagra-Kalle" nun das Potenzmittel Caverject erstreiten, das ihm der Kreis bei der vorangehenden Auseinandersetzung noch angeboten hatte. Er hatte damals das Präparat noch abgelehnt, da es gespritzt werden müßte und nicht etwa wie Viagra geschluckt werden konnte. Der Landkreis hatte die Kostenübernahme dann aber am 1. Juli komplett abgelehnt, da mit einer neuen Gesetzeslage seit Jahresbeginn auch Kassenpatienten keinen Anspruch auf Potenzmittel mehr hätten. Wie schon der mittlerweile längst nicht mehr auf Staatskosten im US-Sonnenstaat Florida residierende "Florida-Rolf" fühlt sich auch der Potenzmittelkläger Karlheinz F. unterhalb der Gürtellinie getroffen. Das Urteil sei "menschenverachtend", kritisierte er. Er will weiterkämpfen. (DIE WELT 17.11.04)

651

Neben begünstigenden VAs, auf deren Erteilung man mit u.a. einer Verpflichtungsklage klagen kann, gibt es belastende VAs, gegen die man sich – ebenfalls vor dem zuständigen VG - mit einer Anfechtungsklage wehren kann. Ein belastender VA ist z.B. ein Steuerbescheid. Wenn man einen unrichtigen belastenden VA erhält, sollte man binnen eines Monats dagegen Widerspruch einlegen. Dadurch erhält die Behörde die Gelegenheit, ihre eigene Maßnahme zu überprüfen. Bleibt sie bei ihrer Auffassung und hilft dem Widerspruch nicht ab, dann kann eine Anfechtungsklage erhoben werden, um den belastenden VA eventuell wieder aus der Welt zu bekommen – aber die Steuern sind erst einmal fällig!

So etwas für den einzelnen Bürger eminent Wichtiges wie ein Verwaltungsakt, ist selbstverständlich auch gesetzlich geregelt. In § 35 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) heißt es: „§ 35 Begriff des Verwaltungsaktes Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Allgemeinverfügung ist ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.“ Keiner sollte glauben, dass mit einer solchen Definition Streitfragen ausgeschlossen sind. Der Umfang der diesbezüglichen rechtlichen Probleme kann bei diesem ersten Einblick in das Recht der Bundesrepublik Deutschland nicht einmal angedeutet werden! Er füllt Bibliothekssäle. Ein Beispiel: Ein Autofahrer hatte sein Kfz ordnungsgemäß abgestellt, als er sich für eine mehrwöchige stationäre Behandlung in ein Krankenhaus begab. Während er im Krankenhaus lag, wurde die Straße für ein Stadtteilfest gesperrt. Die Verwaltung ließ Halteverbotsschilder aufstellen und vier Tage später alle Autos abschleppen, die in dem nunmehr gesperrten Bereich geparkt waren. Der Kläger weigerte sich, die ihm für das Abschleppen auferlegten Kosten von DM 180 zu zahlen. Das BVerwG entschied in letzter Instanz, dass der Kfz-Eigentümer kostentragungspflichtig sei, obwohl er keine Chance hatte, den VA in Form der Allgemeinverfügung überhaupt zur Kenntnis nehmen zu können: Ordnungsgemäß abgestellte Verkehrszeichen entfalten ihre Wirkung gegenüber jedem betroffenen Verkehrsteilnehmer - ob er das Schild wahrnimmt, überhaupt wahrnehmen kann oder nicht. Niemand dürfe darauf vertrauen, dass eine Verkehrsregelung unverändert bleibe und das Parken an einer bestimmten Stelle immer erlaubt sei. Ungeachtet aller Zweifelsfragen ist wichtig zu wissen, dass generelle Regelungen für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen durch Gesetze und darauf fußende Verordnungen getroffen werden, eine Einzelfallregelung aber grundsätzlich39 durch eine Allgemeinverfügung (z.B. bei einer Straßensperrung) oder durch einen z.B. begünstigenden oder ablehnenden VA vorgenommen wird, dessen Ablehnung man gerichtlich überprüfen lassen kann. Der Exekutive ist durch den VA ein Machtmittel in die Hand gegeben worden, um schnell und effektiv Einzelfallregelungen treffen und dann Rechtssicherheit herstellen zu können. Denn rührt man sich bei einem belastenden VA nicht, wird er selbst dann bestandskräftig, wenn er fälschlicherweise ergangen ist und so zu Unrecht in die Freiheitssphäre des betroffenen Bürgers eingreift. Die Verwaltung kann dann auf der Basis dieses an sich rechtswidrigen Bescheides grundsätzlich die in dem Bescheid angekündigte Maßnahme vollstrecken wenn der unrechtmäßig ergangene Bescheid nicht „das Kainsmal40 der Unrichtigkeit auf der Stirn trägt“, d.h., 39

Das Etatgesetz als ein nur auf ein ganz bestimmtes Haushaltsjahr bezogenes Einzelfallgesetz war schon angesprochen worden. Desgleichen sind einige Gesetze mit Blick auf einen zu regelnden Einzelfall gleichwohl in Gesetzesform beschlossen worden. 40 Das „Kainsmal“ wird sprichwörtlich und literarisch immer falsch benutzt: Kain hatte seinen jüngeren Bruder Abel erschlagen, weil der und dessen Tier-Opfer „von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett“ von Gott gnädig angesehen wurden, er und sein Acker-Opfer „von den Früchten des Feldes“ hingegen nicht. Als Gott Kain wegen dieses Brudermordes verfluchte und Kain befürchtete, „dass mich totschlägt, wer mich findet“, machte der HERR „ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände“ (1. Moses 4/15). Der durch das „Kainsmal“ Gezeichnete sollte laut Urteilsspruch des Obersten Richters durch dieses Zeichen gerade am Leben erhalten werden: „Wer Kain totschlägt, das

652

wenn er nicht so offensichtlich grob falsch ist, dass jeder das eigentlich hätte merken müssen. Da tun sich aber wieder viele Streit- und Wertungsfragen auf, denn es kann durchaus strittig sein, wann diese Grenze überschritten ist. „De een säch so, de annern säch anners!“, sagt man dazu an der Küste.

3.1 Verzahnung von zivilem und öffentlichem Recht in ein und demselben Lebenssachverhalt Wie schon angedeutet, kann ein und derselbe Lebenssachverhalt sowohl einen zivil- wie auch einen öffentlichrechtlichen Aspekt haben. Diese Verzahnung ist nicht auf den Bereich der Medizin beschränkt, wie z.B. jeder Verkehrsunfall mit erheblichem Sach- oder sogar Personenschaden lehrt, weil die Schadensersatzansprüche nötigenfalls vor den Zivilgerichten geklärt werden, der schuldige Fahrer darüber hinaus von Staatsanwaltschaft und dem Strafrichter zur Verantwortung gezogen wird. Und das ist öffentliches Recht. Doch schöner zum "Anfüttern" ist ein Fall mit überwiegend strafrechtlichem Aspekt (denn Strafrecht kann mehr Spaß machen als alle anderen juristischen Gebiete; deshalb leben die Zeitungen ja auch von "Sex and Crime"): Der Bäckergeselle T (= Täter) versetzt seinem Kollegen O (= Opfer) aus Ärger einen Fußtritt. O stolpert und gerät so unglücklich in die Teigmaschine, dass sein Kopf von dem rotierenden Teighebel in die Teigmassen gedrückt wird. T, dem es recht ist, wenn O so elend umkommt, verlässt die Backstube in der Annahme, dass O nach 5 Minuten erstickt sein werde. O wird jedoch 2 Minuten später lebend vom zufällig hereinschauenden Bäckermeister B aus seiner elenden Lage befreit. (OGHSt 1/357) Verzahnun g von zivilem und öffentliche m Recht

Der Strafanspruch des Staates - wegen des möglichen Tötungsversuchs ist er umstritten, wegen der Körperverletzung und der unterlassenen Hilfeleistung ist er auf jeden Fall gegeben - wird in einem zum öffentlichen Recht gehörenden Verfahren durchgesetzt, das aber vor den ordentlichen Gerichten, Abteilung Strafsachen, zu verhandeln wäre. Der Schadensersatzanspruch des Geschädigten in Form eines Schmerzensgeldes gemäß "§ 847 BGB [Schmerzensgeld] (1) Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen. Der Anspruch ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben über, es sei denn, daß er durch Vertrag anerkannt oder daß er rechtshängig geworden ist. (2) Ein gleicher Anspruch steht einer Frauensperson zu, gegen die ein Verbrechen oder Vergehen41 wider die Sittlichkeit begangen oder die durch Hinterlist, durch Drohung oder Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses zur Gestattung der außerehelichen Beiwohnung bestimmt wird." wird üblicherweise vor den ordentlichen Gerichten in einem gesonderten Zivilgerichtsverfahren verfolgt. Ganz selten machen die Strafrichter von der ihnen gegebenen Möglichkeit Gebrauch, die zivilrechtlichen Ansprüche im Strafprozess im Wege eines so genannten "Adhäsionsverfahrens" gleich mitzuregeln.

soll siebenfältig gerächt werden“. Ein Verwaltungsakt hingegen, der „das Kainsmal der Unrichtigkeit auf der Stirn trägt“, ist so offensichtlich unrichtig und damit rechtswidrig, dass es nicht einmal des Richters bedürfen sollte, um ihn auszulöschen. Auf jeden Fall wird ein so offensichtlich rechtswidriger VA vernichtet – und nicht durch ein „Kainsmal“ besonders geschützt. 41 § 12 StGB Verbrechen und Vergehen (1) Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. (2) Vergehen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind. // Wenn ein Lehrherr an seiner Auszubildenden morgens sexuelle Handlungen vornimmt, so wäre das ein sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 StGB, für den Freiheitsstrafe bis zu mehreren Jahren oder Geldstrafe angedroht sind, also ein Vergehen. Wenn der nette junge Mann aus der Disco auf der Fahrt nach Hause gar nicht mehr so nett ist und unter Einsatz von Gewalt über die Disco-Queen herfällt, kann eine sexuelle Nötigung gemäß § 178 StGB oder sogar eine versuchte oder vollendete Vergewaltigung gemäß § 177 StGB vorliegen, wofür im ersteren Fall Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, im zweiten Fall Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren angedroht wird; das wären dann beides Verbrechen. Gleichgültig, ob im Einzelfall nun ein Vergehen oder ein Verbrechen vorliegt, wäre die zivilrechtliche Anspruchsnorm für die Einklagung eines Schmerzensgeldes § 847 BGB.

653

3.2 Der Rechtsweg ist nicht immer eindeutig In Grenzfällen kann umstritten sein, welcher unserer fünf Gerichtszweige für die Entscheidung eines rechtlichen

Rechtsweg nicht immer Problems zuständig ist. Diesen Streit kann man bis in die höchste Instanz treiben - als wenn die Richter nichts anderes zu tun hätten. Dabei kann dann rauskommen, dass ein und derselbe reale Akt je nach seiner Intention eindeutig

sogar in je einen anderen Rechtsbereich fallen kann. Darauf muss man erst einmal kommen!

"Res sacrae - profan geläutet Lärmgeplagter muß anderen Weg der Klage beschreiten Von Eckhard Müller-Jentsch Ob quäkende Frösche, kreischende Bohrer, stöhnende Nachbarinnen, wummernde Stereoanlagen, bimmelnde Kirchenglocken - gegen alles kann man vor Gericht klagen. Aber vor welchem Gericht? Durch alle Instanzen bis vor das Bundesverwaltungsgericht zog ein Münchner, der das Zeitschlagen vom benachbarten Kirchturm nicht mehr ertragen konnte. Jetzt muß der Mann seinen Kampf gegen Kirche und Mesner aber von vorn beginnen, denn für das weltliche Zeitgeläut sind nicht die Verwaltungs-, sondern die Zivilrichter zuständig. Vor Verwaltungsgerichten kann man nur gegen das `öffentlich-rechtliche' sakrale Glockenschlagen klagen. Ein Beispiel für Amtsdeutsch Das Verwaltungsgericht der ersten Instanz hatte sich noch mit dem eigentlichen Fall beschäftigt, die Klage jedoch abgewiesen: Glockenläuten sei keine unzumutbare Lärmbelästigung. In zweiter Instanz beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof wollen die Richter den Streit bereits aus formalen Gründen ad acta legen und an das Landgericht München verweisen. In bestem Amtsdeutsch stellten die Juristen fest: `Der Verwaltungsrechtsweg ist nicht gegeben, weil der Glockenschlag zur Zeitangabe sich jedenfalls heutzutage und im Gegensatz zum liturgischen Glockengeläut nicht generell als typische Lebensäußerung der öffentlich-rechtlichen Körperschaft Kirche qualifizieren läßt.' Beim Zeitschlagen handle es sich um eine ‘nichtsakrale Nebenaufgabe im Randbereich kirchlicher Tätigkeit'. Gegen diesen Richterspruch legte der Münchner Beschwerde ein. Das Bundesverwaltungsgericht pflichtete den bayerischen Oberrichtern jedoch bei. Unstreitig sei die Kirche eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und bei den Glocken handle es sich um `res sacrae', also heilige und damit auch öffentliche Sachen; dennoch sei nicht jede Tätigkeit eines Trägers öffentlicher Verwaltung schon allein wegen dieses Status dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Das Zeitläuten sei - im Gegensatz zum liturgischen Glockenläuten - `die Wahrnehmung von Eigentümerbefugnissen außerhalb eines sakralen Widmungszwecks'. Das Fazit dieser Rechtsprechung: Wer das Läuten der Kirchenglocken insgesamt bekämpfen will, muß vor das Verwaltungs- und das Zivilgericht ziehen. Denn Kirchenglocken klingen, wie wir jetzt wissen, mal öffentlich-rechtlich, mal zivilrechtlich (Aktenzeichen 7 B 198/93)." (SZ 02.05.94) Ein angerufenes Gericht kann sich aus von ihm so beurteilten Gründen für unzuständig erklären und - wenn vorsichtshalber vom Kläger im Klagantrag ein allgemeiner Verweisungsantrag an ein anderes als das angerufene Gericht gestellt worden war, und die Sache so nicht mehr aus Gründen der Unzuständigkeit abgeschmettert werden kann - der Klage auf das richtige Pferd helfen, indem die Angelegenheit von Amts wegen an ein Gericht eines als in dieser Sache für zuständig erachteten Gerichtszweiges verwiesen wird. Damit sich so etwas - von den verweisenden Gerichten hilfreich unterstützt - nicht zu einer Gerichts-Ralley auswächst, ist dieses neue Gericht an die (u.U. auch falsche) Verweisung gebunden. Der Bürger soll nicht schutzlos im ZuständigkeitsAbwehrkampf der Gerichte zerrieben werden - und jedes Gericht hat "das Gesetz" zu kennen und muss dann auch ein Urteil abgeben.

3.3 Rangordnung unter den Rechtsnormen im öffentlichen Recht

654

Rangordnu ng unter den Rechtsnor men im öffentliche n Recht

Die Vielzahl der rechtlichen Regelungen ist Legion, niemand kann sie alle kennen. „Viel Gesetz geben ist, viel Stricke den armen Seelen legen“ (Martin Luther). „Ein Gemeinwesen ist nach der Zahl seiner Gesetze zu beurteilen: je mehr, desto schlechter“ (Freiherr vom und zum Stein). „Hätte die Natur so viele Gesetze wie der Staat, Gott selbst könnte sie nicht regieren“ (Ludwig Börne). Unsere Rechtsordnung erschöpft sich und uns mit rund 85.000 Gesetzen, Verordnungen, Satzungen und Verwaltungsvorschriften mit ungezählten Paragraphen und Artikeln; niemand weiß das genau, 8.400 davon allein im Umweltbereich. Von 1969 bis 1978 sollen allein 889 Bundesgesetze und 3.500 Rechtsverordnungen in Kraft getreten sein - Tendenz steigend. Humanistisch gebildete Juristen wie unser Alt-Bundespräsident Prof. Herzog, vordem als Präsident des BVerfGs oberster Richter des Landes, sprechen von einem „furor germanicus/teutonicus legislativus“. Herzog hatte sarkastisch den Vorschlag unterbreitet, man solle alle rechtlichen Regelungen durchnummerieren und die Gesetze mit einem Vielfachen von drei als Ordnungszahl einfach wegfallen lassen: Es würde in unserem Lebensalltag kaum auffallen. "Wenn man alle Gesetze studieren wollte, hätte man gar keine Zeit mehr, sie zu übertreten“, hatte schon der Jurist Goethe gefunden; und damals war die Gesetzgebungstätigkeit noch überschaubar gewesen. Diese Entwicklung ist ein Ausfluss unserer demokratischen Massengesellschaft mit ihren sich daraus ergebenden juristischen Problemen und der Internationalisierung im Rahmen der EU. Die auf die Eigenständigkeit Bayerns sehr achtende Bayerische Staatskanzlei schätzt, dass ungefähr jedes zweite Gesetzesvorhaben im Bundestag auf Brüsseler Vorgaben beruhe! Im nationalen Bereich des öffentlichen Rechts ist der Grund hierfür u.a. auch darin zu sehen, dass so viele Gesetzes-, Verordnungs- und Satzungsgeber vom Bund bis zu den Kommunen die rechtliche Befugnis haben, den Bürger bindende Normen zu erlassen. Wenn aber eine rechtliche Regelung besteht, dann ist die Verpflichtungswirkung für den betroffenen Bürger gleich groß, gleichgültig, von welchem Organ die Rechtsnorm erlassen worden ist. Trotzdem gibt es bei diesen Normen graduelle Abstufungen. Im Konfliktfall bricht die höherrangigere Norm die niederrangigere. Eine Gemeindesatzung darf z.B. nicht gegen Landesrecht verstoßen. In einem solchen Konfliktfall geht dann das Landesrecht des Landesgesetzgebers (Landtag in Flächenstaaten, Bürgerschaft in Bremen und Hamburg, Abgeordnetenhaus in Berlin) vor. Ähnlich geregelt ist der seltene Konfliktfall, dass sich Bundes- und Landesrecht gegenseitig ausschließen, wie z.B. die landesrechtlichen Bestimmungen über die Todesstrafe und Art. 102 GG mit seinem Verbot derselben. Dann kommt die Regelung des Art. 31 GG zum Tragen: "Bundesrecht bricht Landesrecht." Das gilt auch für den Fall, dass international geltendes Recht übernommen wird und nun im Range einfachen Bundesrechts bei uns Geltung hat, wie z.B. die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 04.11.50. Sie würde entgegenstehendes einfaches Bundes- und Landesrecht brechen - nicht aber unser Verfassungsrecht, denn das ist höherrangiger als einfaches Bundesrecht. Darum entschied das BVerfG 2004 in diesem Zusammenhang auch: „Straßburger Urteile für deutsche Justiz nicht zwingend Karlsruhe (dpa) - Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind für deutsche Gerichte nicht zwingend. Das hat das Bundesverfassungsgericht in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss entschieden. Danach muss die deutsche Justiz die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs gebührend berücksichtigen und "schonend" in die nationale Rechtsordnung einpassen. Eine "schematische Vollstreckung" der Urteile komme aber im Regelfall nicht in Frage (Aktenzeichen: 2 BvR 1481/04 Beschluss vom 14. Oktober 2004). Damit haben sich die Karlsruher Richter erstmals umfassend zur Bindungswirkung der Straßburger Urteile geäußert. Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention sind die Entscheidungen zwar für die betroffenen Staaten verbindlich. Nicht abschließend geklärt war bisher jedoch, wie deutsche Gerichte dies umsetzen müssen. Das Gericht hob eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Naumburg auf. In dem Fall klagt ein in Sachsen lebender türkischer Vater auf ein Umgangsrecht mit seinem fünfjährigen nichtehelichen Sohn, der seit seiner Geburt auf Wunsch der Mutter bei einer Adoptivfamilie lebt. Der Straßburger Gerichtshof hatte im Februar die Ablehnung des Besuchsrechts durch das OLG beanstandet. Das OLG blieb aber im Juni bei seiner Ablehnung und bezeichnete das Straßburger Urteil als einen "für die Gerichte unverbindlichen Ausspruch". Für die Neuverhandlung des Falls gab Karlsruhe dem OLG kein bestimmtes Ergebnis vor. Das OLG müsse sich lediglich "gebührend" mit dem Straßburger Urteil auseinander setzen und erneut prüfen, was heute am ehesten dem Kindeswohl entspreche. Eine weitere Verfassungsbeschwerde des Vaters,

655

der auch um das Sorgerecht kämpft, ist noch in Karlsruhe anhängig Laut dem Beschluss des Zweiten Senats steht die Europäische Menschenrechtskonvention, die als völkerrechtlicher Vertrag 1953 per Gesetz in deutsches Recht transformiert worden war, "im Range eines Bundesgesetzes". Damit habe das Grundgesetz Vorrang. Deutsche Gerichte müssen dem Karlsruher Beschluss zufolge den Straßburger Vorgaben jedenfalls dann folgen, wenn nach deutschem Recht entsprechende Spielräume bestehen. Sehen sich die Gerichte an einer Umsetzung gehindert - etwa, weil dies dem Grundgesetz widersprechen würde - müssen sie eine Abweichung "nachvollziehbar" begründen. Im Streitfall kann ein Kläger dies vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen. Der Straßburger Gerichtshof hat erst im Juni die Veröffentlichung von Paparazzi-Fotos aus dem Privatleben von Prinzessin Caroline von Hannover als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention beanstandet und sich damit in Widerspruch zum Karlsruher Caroline-Urteil von 1999 gesetzt. Bereits im Januar stufte das europäische Gericht die - von Karlsruhe gebilligte - entschädigungslose Enteignung so genannter DDR-Neubauern nach der Wende als Menschenrechtsverletzung ein. Derzeit stehen in Straßburg noch die Klagen von Alteigentümern wegen der BodenreformEnteignungen nach 1945 auf dem Prüfstand. Ob die Grundsatzentscheidung Auswirkungen auf die DDR-Fälle hat, ist unklar. Beim Persönlichkeitsschutz wie auch im Familien- und Ausländerrecht räumt Karlsruhe den Gerichten allerdings einen besonders großen Spielraum ein: Wenn es um eine derart differenzierte deutsche Rechtsprechung gehe, dann sei es Aufgabe der deutschen Justiz, die nationale Rechtsordnung den Straßburger Vorgaben anzupassen.“ (FR-aktuell 20.10.04)

Bundesverfassungsgericht Völkerrechtsfreundlichkeit hat Grenzen 19. Oktober 2004 Die Europäische Menschenrechtskonvention und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen von allen staatlichen Organen in Deutschland gebührend berücksichtigt werden. Doch kann ebenso wie eine fehlende Auseinandersetzung mit Straßburger Urteilen auch deren „schematische Vollstreckung” gegen das Grundgesetz verstoßen. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag entschieden. Der Zweite Senat entwickelt damit die bisherige Karlsruher Rechtsprechung fort, nach der die Europäische Menschenrechtskonvention in Deutschland im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht. Die Konvention ist demnach bei der Interpretation des nationalen Rechts zu beachten. Im Verfassungsrecht dient die Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe zur Bestimmung des Inhalts von Grundrechten - soweit dadurch nicht der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt wird. Die Grenzen der Menschenrechtskonvention Reichweite und Grenzen der Konvention und der Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofs leiten die Karlsruher Richter aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Verfassung her. Diese Offenheit entfalte ihre Wirkung nur „im Rahmen des demokratischen und rechtstaatlichen Systems” des Grundgesetzes. Dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit widerspreche es nicht, „wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet”. Zum einen muß nach Ansicht der Karlsruher Richter das Bundesverfassungsgericht die fehlerhafte Anwendung völkerrechtlicher Verpflichtungen verhindern und beseitigen. Zum anderen muß die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs „schonend” in die nationale Rechtsordnung eingepaßt werden. Das gelte insbesondere bei einem ausbalancierten Teilsystem des nationalen Rechts wie dem Persönlichkeitsrecht (hier hatten die Straßburger Richter im Caroline-Fall kürzlich die deutsche Rechtsprechung gerügt) oder dem Familienrecht. Im vorliegenden Fall hob das Verfassungsgericht eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg auf. Ein türkischer Vater hatte ein Umgangsrecht mit seinem fünfjährigen nichtehelichen Sohn gefordert, der seit seiner Geburt auf Wunsch der Mutter bei Adoptiveltern lebt. Der Straßburger Gerichtshof hatte im Februar die Ablehnung des Besuchsrechts durch das Oberlandesgericht beanstandet. Während das Amtsgericht Wittenberg der Straßburger Entscheidung unverzüglich folgte, nannte das Oberlandesgericht sie einen „für die Gerichte unverbindlichen Ausspruch”. Diesen Beschluß hob das Verfassungsgericht nun auf. Es verwies die Sache zurück und gab dem Oberlandesgericht auf, sich gebührend mit der Straßburger Rechtsprechung auseinanderzusetzen und abermals zu prüfen, was heute am ehesten dem Wohl des Kindes

656

entspreche (Aktenzeichen 2 BvR 1481/04). (FAZ 20.10.04) Karlsruhe deckelt Straßburg Die Verfassungsrichter befinden, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssten in Deutschland nur "berücksichtigt" werden. Verbindlich sind sie nicht - anders als es die Bundesrepublik etwa von der Türkei verlangt AUS FREIBURG CHRISTIAN RATH Deutsche Gerichte dürfen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht einfach ignorieren. Dies hat gestern das Bundesverfassungsgericht klargestellt. Allerdings sei auch eine blinde Umsetzung der Straßburger Urteile nicht richtig. Sie müssten von deutschen Gerichten nur "berücksichtigt" werden. Konkret geht es um einen türkischen Vater aus Sachsen-Anhalt. Seine deutsche Freundin hatte 1999 ein nichteheliches Kind geboren und zur Adoption freigegeben. Seit fünf Jahren schon versucht Kazim Görgülü das Sorgerecht und ein regelmäßiges Besuchsrecht zu bekommen. Das Oberlandesgericht Naumburg verweigerte ihm beides. Die emotionale Bindung des Sohnes zur Pflegefamilie sei schon zu tief. Um die Situation zu stabilisieren, verboten die Richter sogar Besuche Görgülüs. Im Februar diesen Jahres entschied jedoch der EGMR in Straßburg, dass das deutsche Gericht damit Görgülüs Recht auf Familienleben verletzt habe. Es sprach dem Vater 15.000 Euro Schadensersatz zu. Doch bis heute hat Görgülü weder Sorge- noch Umgangsrecht. Das Amtsgericht Wittenberg wollte den Spruch aus Straßburg zwar sogleich umsetzen, doch entschied das Oberlandesgericht Naumburg erneut gegen den Vater. Das EGMR-Urteil sei für deutsche Gerichte nicht bindend. Auf eine Verfassungsbeschwerde des Vaters hat sich jetzt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in den Streit eingeschaltet und hob den Naumburger Beschluss wieder auf. Das Gericht hätte die EGMR-Vorgaben nicht einfach ignorieren dürfen, sondern sich "nachvollziehbar" mit der Straßburger Kritik auseinander setzen müssen. Ein "unreflektierter Vollzug" des Urteils, wie sie dem Amtsgericht Wittenberg unterstellt wurde, hielt Karlsruhe aber auch nicht für richtig. Die deutschen Gerichte müssten den Spruch vielmehr lediglich "berücksichtigen". Zur Begründung verwies Karlsruhe darauf, dass im Straßburger Verfahren die Pflegeeltern nicht beteiligt waren und damit auch nicht angehört wurden. Außerdem beziehe sich die Kritik aus Straßburg auf das Jahr 2002, seitdem seien also wieder zwei Jahre vergangen. Es könne deshalb durchaus sein, dass ein Sachverständigen-Gutachten heute zum Schluss komme, dass es dem "Kindeswohl" widerspreche, wenn Görgülüs Sohn nach fünf Jahren doch noch aus seiner Adoptivfamilie genommen wird. Außerdem erinnern die Karlsruher Richter auch daran, dass das Grundgesetz im Konfliktfall über der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehe, weil diese in Deutschland nur Gesetzesrang hat. Zwar müssten Gesetze und auch die Verfassung in Deutschland "völkerrechtsfreundlich" ausgelegt werden, sodass sich nach Möglichkeit gar keine Unterschiede ergeben. Aber ausgeschlossen ist es eben auch nicht, dass Karlsruhe das Grundgesetz anders interpretiert als Straßburg die Menschenrechtskonvention. Deutsche Gerichte müssten dann Karlsruhe folgen, nicht Straßburg, so die klare Ansage der Verfassungsrichter. Denkbar sind solche Streitfälle vor allem, wenn es um den Ausgleich verschiedener Grundrechte geht. So hat Karlsruhe der Pressefreiheit auch im Unterhaltungsjournalismus großes Gewicht gegeben, während die Straßburger Richter kritisieren, dass dabei die Persönlichkeitsrechte Prominenter zu wenig geschützt sind. Immer wieder kommt es auch zu Streitigkeiten um die Rechte nichtehelicher Väter, deren Position der Straßburger Gerichtshof stärkt. Dagegen hat in Deutschland bisher das Kindeswohl den Ausschlag gegeben. Es wird hierzulande oft so interpretiert, dass die Ansprüche der Väter unter den Tisch fallen. Der Streitfall Görgülü wurde jetzt von Karlsruhe an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts Naumburg zurückverwiesen. Inhaltliche Vorgaben wurden den Naumburger Richtern ausdrücklich nicht gemacht. Es ist also völlig offen, ob Vater Görgülü noch Sorge- oder Umgangsrecht erhält. Ohnehin ist der Fall noch beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts anhängig. Dieser ist nach der Geschäftsverteilung für Fragen des Familienrechts zuständig. Falls Görgülü am Ende wieder den Kürzeren zieht, dürfte er seinen Fall erneut nach Straßburg

657

tragen. Möglicherweise muss ihm die Bundesrepublik dann erneut Schadensersatz zahlen. (taz 20.10.04) DAS BUNDESVERFASSUNGSGERICHT WERTET STRASSBURGER URTEILE AB Eine Frage des Stils Man stelle sich vor, das türkische Verfassungsgericht (oder auch das russische) hätte erklärt, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zu befolgen, sondern nur "zu berücksichtigen" seien. Ein Sturm der Empörung wäre losgebrochen: Der Türkei wäre ein zweifelhaftes Verhältnis zu den Menschenrechten unterstellt worden, Russland ein Rückfall in zaristische Willkürherrschaft. Doch der skandalöse Spruch kommt nicht aus Ankara oder Moskau, sondern vom Bundesverfassungsgericht aus Karlsruhe. Dessen Formulierung ("sind zu berücksichtigen") ist allerdings kurzsichtig und respektlos. Kurzsichtig, weil sie ein falsches Signal in die wackligen Demokratien Osteuropas sendet. Denn sie stärkt dort Kräfte, die finden, dass sich Europa ohnehin zu stark in nationale Angelegenheiten einmischt. Und respektlos ist die Formulierung gegenüber den Richtern in Straßburg. Offensichtlich wollte Karlsruhe demonstrieren, wer in Deutschland bei der Auslegung von Grundrechtsfragen das letzte Wort hat. Dabei haben die deutschen Richter durchaus bedenkenswerte Argumente auf ihrer Seite: Was passiert, wenn sich die Sachlage nach einem Straßburger Urteil verändert hat? Außerdem weisen sie zurecht darauf hin, dass für deutsche Gerichte im Konfliktfall das Grundgesetz Priorität hat. Letztlich ist das aber vor allem eine Frage des Stils und des politischen Fingerspitzengefühls. Warum sagten die Karlsruher Richter nicht: "Straßburger Urteile sind zu befolgen. Ausnahmen sind nur möglich, wenn …"? Inhaltlich wäre das kein Unterschied gewesen. Außerdem ist die Karlsruhe Position fragiler, als es den Anschein hat. Zwar kann Straßburg ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht aufheben, sondern nur beanstanden. Aber es kann der Bundesrepublik Schadenersatz aufbrummen. Eine klare Hierarchie der Gerichte fehlt. Das kann auch eine Chance sein, denn die Gerichte müssen sich in der Sache überzeugen. Die Auslegung der Grundrechte aber darf nicht von juristischen Eitelkeiten bestimmt werden. " CHRISTIAN RATH (taz 20.10.04)

Diese aufgezeigte Hierarchie vom Grundgesetz über einfachgesetzliche Normen bis runter zu Ortssatzungen ist nicht selbstverständlich und war nicht immer so. Im mittelalterlichen "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" ging das Ortsrecht dem regionalen und dieses wiederum dem überregionalen Reichsrecht vor. Wegen seiner hemmenden Wirkung auf die rechtliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Einheit Deutschlands wurde dieser unpraktikable Grundsatz in der nie in Kraft gesetzten Paulskirchenverfassung von 1848 als Bekenntnis zur deutschen Einheit umgedreht und seitdem in den danach geschaffenen Verfassungen so beibehalten. Über allen anderen gesetzlichen Regelungen und allem staatlichen Handeln steht in der Bundesrepublik das Grundgesetz. (Das war schon bei den Eingangsüberlegungen ganz zu Anfang des Rechtskundebuches hervorgehoben worden.)

4 Das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Wächter des GG durch Urteil mit Gesetzesverwerfungskompetenz und durch mahnende Existenz Das BVerfG als Hüter und Wächter des GG

Jede Macht muss durch Kontrolle gezähmt werden, auch staatliche, denn jede Macht läuft Gefahr, irgendwann einmal korrumpiert zu werden! In einer „balance of power“ sollen sich die drei staatlichen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative darum gegenseitig kontrollieren. Dabei sind Konflikte wegen unterschiedlicher Anschauungen unvermeidlich. Bei der Auslegung des von der Legislative beschlossenen und von ihr selber in gewissen Grenzen auch änderbaren Grundgesetzes von 1949 haben die Karlsruher Verfassungsrichter das letzte Wort zugewiesen erhalten. Damit ist das dem amerikanischen Supreme Court nachgebildete und (erst) 1951 eingerichtete Bundesverfassungsgericht Hüter und Wächter - aber nicht Herrscher - des Grundgesetzes, denn es

658

ist ihm seinerseits unterworfen. Eine - einen einzelnen in der Öffentlichkeit Unwillen erregenden Richterspruch aber nicht ändernde - Kontrolle der Verfassungsgerichtsrechtsprechung findet in sehr eingeschränktem Rahmen durch fachliche Widerrede in Fachaufsätzen und Widerspruch in den Medien und in der Öffentlichkeit statt. Im Gegensatz zu seinem us-amerikanischen Vorbild muss das BVerfG entscheiden, wenn ihm ein Rechtsstreit zulässigerweise vorgelegt wird. Es kann im Gegensatz zum Supreme Court (bisher) nicht eine zwischen den Parteien streitbefangene Sache als „im Wesen zu politisch“ zurückweisen und sich damit aus der Schusslinie der Tagespolitik heraushalten. Das führt zu einer Überanstrengung der Verfassung zu Lasten des politischen Prozesses. Nach Aussage seines damaligen Präsidenten Herzog, des nachmaligen Bundespräsidenten, hat das BVerfG aber nicht die Aufgabe eines Wegweisers der Politik. Es sei »nur« dazu berufen, den politisch Handelnden die äußersten Grenzen aufzuzeigen, an denen die noch innerhalb der Verfassung liegende Politik in Willkür umschlägt und damit verfassungswidrig wird. (Erinnert sei z.B. an die auf Geheiß des BVerfGs mehrfach zu korrigieren gewesene Gesetzgebung zum Bundeswahlgesetz vor der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990.) Das BVerfG könne nie(!) sagen, welche Politik richtig oder falsch sei. Das Gericht könne nur(!) sagen, ob eine Maßnahme der Politik mit der Verfassung übereinstimme - und dabei irrt sich nach kritischer Selbsteinschätzung des ehemaligen BVerfGs-Präsidenten Zeidler auch das BVerfG. Bei dieser Überprüfung auf die Vereinbarkeit einer politischen Maßnahme auf ihre Grundgesetzverträglichkeit könne sich nach Meinung seines damaligen Präsidenten Herzog herausstellen, "... dass etwas ganz Vernünftiges verfassungswidrig ist; und umgekehrt ist nicht alles, was verfassungsgemäß ist, der Weisheit letzter Schluss." Das BVerfG prüft und entscheidet als "Klagemauer der Nation" mit Interpretationshoheit u.a., ob Verwaltungen und Gerichte bei ihren Maßnahmen und Entscheidungen die Bestimmungen des Grundgesetzes in ausreichendem Maße beachtet haben, in welchem Verhältnis die Verfassungsnormen des Grundgesetzes als zueinander stehend beachtet werden müssen und ob erlassene Gesetze "grundrechtskonform" sind, ob sie also mit dem Grundgesetz vereinbar sind - oder nicht. Durch die Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfGs wird die politische Wirklichkeit an die Verfassung angepasst, obwohl normalerweise - dann aber vom Gesetzgeber - versucht wird, die Gesetze den sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen und dem daraus resultierenden, sich auch ständig verändernden Rechtsbewusstsein der Bürger anzupassen. (Über die Wandlung der Auffassungen bezüglich des unverheirateten Zusammenlebens von Mann und Frau von einem "sittenwidrigen Konkubinat" hin zu einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, einer »wilden Ehe«, war schon beispielhaft gesprochen worden.) Die dem BVerfG vom Gesetzgeber zuerkannte Bindungswirkung seiner Entscheidungen erfasst alle anderen Verfassungsorgane, Gerichte und die Behörden von Bund, Ländern und Gemeinden. Sie sind daran gebunden und haben sie über den entschiedenen Einzelfall hinaus fernerhin zu beachten. In Kraft gesetzte Gesetze sollten immer beschlossenes geltendes »Recht« sein, sind aber manchmal geltendes(!) »Un-Recht«. Die Gültigkeit von Normen besteht so lange, bis das anzurufende und angerufene BVerfG eventuell die Unvereinbarkeit der angegriffenen Norm mit dem Grundgesetz feststellt und auf Grund der von ihm festgestellten Verfassungswidrigkeit mit der ihm verliehenen Gesetzesverwerfungskompetenz das jeweilige Gesetz oder eine oder einige seiner Teilbestimmungen außer Kraft setzt. Ein solches zunächst vom Parlament beschlossenes Gesetz kann ohne Unrechtsbewusstsein von der Parlamentsmehrheit - oder, wie im Falle des Volkszählungsgesetzes 1982, sogar einstimmig - verabschiedet worden sein. Trotzdem wurde die Unvereinbarkeit wesentlicher Teile dieses Gesetzes mit dem Grundgesetz vom BVerfG festgestellt, deren Geltung durch die Richter aufgehoben. Ähnlich verfuhr das BVerfG mit Urteil vom 25.02.75, mit dem es die vom Bundestag mehrheitlich beschlossene "Fristenlösung" bei der schon damals versuchten Neugestaltung des § 218 StGB wieder aufhob. Manchmal erleben wir es aber auch, dass ein Gesetz von den Abgeordneten der Mehrheitsparteien beschlossen werden soll, und diese Abgeordneten müssten bei einem bisschen Gewissensanspannung zu einem Unrechtsbewusstsein bezüglich ihres Handelns kommen. Als Beispiel hierfür sei das versuchte "ParteispendenAmnestiegesetz" nach der ersten Parteispenden-Affäre („Flick-Affäre“) in der BRD genannt: Wegen Steuerhinterziehung von Strafverfolgung bedrohte Großspenden-Geldgeber sollten durch einen hastigen Gesetzgebungsakt straffrei gestellt werden. Wie handfeste Interessen in solchen Fällen von Politikern mit hehren Worten ummäntelt werden, kann anhand der Äußerung des damaligen CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Dregger aufgezeigt werden, der im Zusammenhang mit dem geplanten Gesetzesvorhaben zum Schutz der Parteispenden-Steuersünder als Begründung sagte: "Wir haben uns allein nach den Interessen des Volkes zu richten." Sehr viel klarer und machiavellistischer war dagegen die Äußerung des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesjustizministeriums Erhard zur geplanten Spenderamnestie: "Wir haben die Mehrheit im Parlament - das zählt." Der damalige Abgeordnete der Grünen (jetzt SPD-Innenminister) Otto Schily sprach dagegen von einer geplanten "Verschrottung des Rechtsstaates". Der Präsident des BVerwG Sendler beklagte 1989 mit Blick auf solche Vorkommnisse auf dem 45. Deutschen Anwaltstag, dass der Respekt vor dem Rechtsstaat in weiten Teilen der Bevölkerung abhanden gekommen ist. Das geltende Recht werde häufig gar

659

nicht mehr oder nur dann noch befolgt, "... wenn es den Betroffenen in den Kram paßt. Diese Einstellung wird vor allem durch das nicht immer erfreuliche Bild des Gesetzgebers in Gestalt unserer Politiker verursacht. Ziel, Machart und Inhalt der Gesetze sind häufig nicht dazu angetan, dem Bürger Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Gesetze zu geben." Im Zuge der Flick-Affäre (SPIEGEL: "Die gekaufte Republik") war daraufhin in Anlehnung an Art. 38 I 2 GG das böse Wort entstanden: "Der Abgeordnete ist nicht an Weisungen gebunden aber an Überweisungen." Ein Sponti-Spruch dazu lautete: „Politikern glaube ich grundsätzlich nur ihre Kontonummer.“ Das Amnestievorhaben der Parlamentsmehrheit des Bundesgesetzgebers war, als es ruchbar wurde, von der Mehrheit der Pressepublikationen als "Anschlag auf das Rechtsbewußtsein des Volkes" gegeißelt und von einem Proteststurm der durch die wachsame Presse in den Massenmedien mobilisierten Öffentlichkeit hinweggefegt worden. Da hatte die Presse rechtzeitig und laut genug angeschlagen und sich wieder einmal als "Wachhund der Demokratie" bewährt. Das BVerfG brauchte gar nicht erst einzugreifen. Das BVerfG entscheidet nur, wenn es angerufen wird. Seit der Gründung des BVerfGs im Jahre 1951 waren bis Ende 1996 neben ca. 7.000 anderen Verfahren 104.760 Verfassungsbeschwerden an die mit je acht Richtern besetzten zwei Senate unseres obersten Gerichts herangetragen worden; vor der Wiedervereinigung waren es zuletzt etwa 4.000 Eingänge pro Jahr gewesen, 1996 waren es 5.117, Tendenz weiterhin steigend. Seit 1951 sollen bids 1996 rund 135.000 Verfahren, weit überwiegend Verfassungsbeschwerden, beim BVerfG anhängig gemacht worden sein! Die neuesten Zahlen: 2002 waren 4.523 Beschwerden wegen behaupteter Grundrechtsverletzungen anhängig gemacht worden, 2003 wurde mit 5055 Verfassungsbeschwerden erstmals die 5.000-er Grenze übersprungen und 2004 waren es schon 5434 Verfassungsbeschwerden gewesen. Das bedeutet einen ungeheuren Lese- und Entscheidungsaufwand für die damit befassten Richter und ihre inzwischen je vier Hilfskräfte. Der Präsident des BVerfGs hält Referate zu dem Thema: „Höchste Gerichte an ihren Grenzen.“ 97 % der Eingaben wurden von einem Vorprüfungsausschuss, der aus jeweils drei Verfassungsrichtern besteht, als offensichtlich unbegründet "a limine" (von der Schwelle des Gerichts hinweg) abgewiesen, d.h., gar nicht erst im Senat behandelt. Was sollen Verfassungsrichter auch anderes machen, wenn z.B. ein Obdachloser klagte, weil er einen höheren Kleiderzuschuss erhalten wollte, um besser gekleidet zur Cebit fahren zu können? Einem Obdachlosen kann man ja keine Missbrauchsgebühr aufbrummen! Nur ca. 3 % der Klagen wurden überhaupt angenommen, nur 2,73 % waren erfolgreich. Darum werden Verfassungsbeschwerden in ihrer überwältigenden Mehrheit als "formlos und fruchtlos" charakterisiert; kein Wunder, wenn von ihnen auch ziemlich unsinnig Gebrauch gemacht wird: Das BVerfG wurde u.a. angerufen, weil ein transsexueller Gefangener nicht mehr mit „Herr“ angeredet werden wollte, Radfahrer die Verpflichtung, vorhandene Radwege auch benutzen zu müssen, vorgeblich als Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte empfanden, oder „Abgewiesen afp Karlsruhe – Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde zweier Schüler gegen die europäisch-amerikanische Mission ‘Cassini‘ zum Saturn-Mond Titan abgewiesen. Bei dem von der US-Raumfahrtbehörde NASA koordinierten Start und dem Flug von Trägerrakete und Raumfahrzeug handle es sich um Akte ausländischer öffentlicher Gewalt, die nicht per Verfassungsbeschwerde angegriffen werden können (Az.: 1 BVvR 1908/97.“ (HH A 08.10.97) Ich bin mir sicher, Mitteilungen über die unsinnigsten Verfassungsbeschwerden gar nicht in der Presse gefunden zu haben. Um die zu kennen, brauchte man intime Kenntnisse über den Geschäftseingang. Nur ganz selten einmal teilt ein Richter als »Döntsche« mit, was ihm so auf seinen Richtertisch kommt. Offiziell mitgeteilt wurde 1997 in der Presse nur, dass die damalige Präsidentin des BVerfGs eine Einschränkung bei der Zulassung von Verfassungsbeschwerden fordere. Dem Gericht lägen „eine Fülle von lächerlichen Beschwerden“ vor. Trotz der behaupteten Fruchtlosigkeit von Verfassungsbeschwerden übt allein schon die mahnende Existenz des BVerfGs als „Lobby für Schwächere“ auf den Gesetzgeber eine heilsame Wirkung aus, weil sie die an einem Gesetzgebungsakt Beteiligten schon bei der Abfassung der Gesetzestexte zwingt, eine eventuelle Überprüfung der geplanten Regelungen durch das BVerfG im vornherein in Erwägung zu ziehen. Erinnert sei an die von allen Seiten angestellten Überlegungen bezüglich der erforderlichen Verfassungsgemäßheit der geplanten Neuregelung der Abtreibungsproblematik. Man kann insoweit grundsätzlich von einem "vorauseilenden Gehorsam" der Abgeordneten sprechen, keine allzu offensichtlich unsinnigen Gesetze zu erlassen.

660

Das gleiche gilt für Richter. Auch sie haben zu bedenken, ob ihre nach irgendeiner gesetzlichen Norm erlassenen Urteile auch mit den Wertungen des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten, vereinbar sind. Die 16 Bundesverfassungsrichter der beiden Senate sind völlig überlastet. Allein im Verfassungsbeschwerdeverfahren kommen rechnerisch bei 5.117 Eingängen im Jahr 320 Entscheidungen auf jeden der Richter, der die umfangreichen, teilweise vielhundert Seiten umfassenden Akten der teilweise drei und mehr Instanzen, die ein Fall durchlaufen haben kann, bis er überhaupt erst beim BVerfG landen darf, mit seinen drei Mitarbeitern (sog. „Dritter Senat“) gewissenhaft durcharbeiten muss. Da die Richter in dem Vorprüfungsausschuss zu Dritt arbeiten, wird jeder Richter - neben langwierigen Großverfahren – mit rund 1.000 Verfassungsbeschwerden pro Jahr befasst. Bei überschlägig 200 Arbeitstagen pro Jahr sind das fünf Verfassungsbeschwerden pro Tag! Wegen dieser Überlastung hat inzwischen eine Reformkommission Vorschläge zur Umstrukturierung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens inklusive Vorschlägen zur dafür erforderlichen Änderung des GG unterbreitet. Die Verfassungsbeschwerde als subjektiv-individualrechtlicher Rechtsbehelf solle abgeschafft werden. Keiner solle mehr einen Anspruch darauf haben, dass seine Verfassungsbeschwerde von dem BVerfG behandelt werde. Die Annahme von Verfassungsbeschwerden solle in das Belieben des Gerichts gestellt werden. Ihre Annahme, die nur noch von zwei Richtern geprüft werden solle, soll nur noch der Weiterentwicklung des objektiven Verfassungsrechts dienen und könne dann nur noch als Nebenfunktion den Schutz des einzelnen vor Grundrechtsverletzungen bewirken. Aber zu bedenken bleibt: Die bisherigen wesentlichen Entscheidungen des BVerfGs sind fast ausschließlich von einzelnen Betroffenen ausgelöst worden. Der durch grundrechtsunsensible „Fachgerichte“ in seinem Gerechtigkeitsgefühl zutiefst getroffene Einzelne hatte sich bisher zum BVerfG flüchten und zu seinen Füßen niederwerfen können. Durch ihn und seinen jeweiligen Fall sind die relevantesten Entscheidungen veranlasst worden. Und wie viele Eilentscheidungen sind vom BVerfG z.B. zum Schutz vor unberechtigter Abschiebung getroffen worden, mit denen rechtlich fehlerhafte Gerichtsentscheidungen manchmal buchstäblich in letzter Minute des schon startbereiten Flugzeugs korrigiert wurden! Wer sollte das dann machen? Vermutlich wäre es für unsere Demokratie zwar um einiges teurer, aber wesentlich sachgerechter, wenn die Anzahl der Bundesverfassungsrichter - und eventuell auch der Senate - aufgestockt würde, anstatt den Grundrechtsschutz eines möglicherweise in seinen Grundrechten verletzten Bürgers zu verkürzen!!!

5 Überprüfung von Urteilen durch das BVerfG hinsichtlich möglicher Grundrechtsverletzungen

5.1 Staatliche Macht beschränkende Funktion der Grundrechte Ein für das Zusammenleben in unserer offenen multikulturellen staatlichen Gemeinschaft aussagekräftiges Beispiel für die Bedeutung der die staatliche Macht begrenzenden Funktion der Grundrechte: Den Muslimen wurde das rituelle Schächten unbetäubter Tiere mit einem Schnitt durch die Kehle und dem anschließenden Ausbluten vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof verboten, weil die muslimischen Kläger nach Meinung des Gerichts nicht ausreichend belegen konnten, dass religiöse Gebote des Islam das Ausblutenlassen unbetäubter lebender Tiere zwingend vorschreiben würden, wie es z.B. den orthodoxen Juden durch eine so interpretierte Talmudstelle vorgeschrieben wird. Für orthodoxe Juden stellt das Bluttabu ein zwingendes Glaubenserfordernis dar. Sie müssen koscheres Fleisch von durch das Schächten vollständig ausgebluteten Tieren essen, weil sich nach ihrem Glauben im Blut die Schöpferkraft Gottes zeige und es ihnen darum verboten sei, Blut in jedweder Form einzunehmen (was auch die Zeugen Jehovas und eine christliche Sekte, siehe nächsten Gliederungspunkt 5.2, so sehen). Darum besteht für einige lizenzierte jüdische Schlachtereien in Deutschland aus rituellen Gründen eine Ausnahmeregelung von § 4 I TierSchG. Der klagende muslimische Schlachter begehrte eine Gleichstellung, die ihm aber verwehrt wurde. Es gebe trotz Sure 5/3 „Verboten ist euch (der Genuss von) Fleisch von verendeten Tieren, Blut, Schweinefleisch und Fleisch, worüber (beim Schlachten) ein anderes Wesen als Gott angerufen worden ist, und was erstickt, (zu Tode) geschlagen, (zu Tode) gestürzt oder (von einem anderen Tier zu Tode) gestoßen ist, und was ein wildes Tier (an)gefressen hat – es sei denn, ihr schächtet es (indem ihr es nachträglich ausbluten lasst). ...“

661

für Muslime - abgesehen von der Schächtung von Tieren für das Opferfest im Dhul-Hidscha, dem 12. Monat eines islamischen Jahres - keine zwingende religiöse Norm des Schächtens zur Zubereitung koscheren Essens, denn Sure 5/5 bestimmt: „Und was diejenigen essen, die (vor euch) die Schrift erhalten haben, ist für euch erlaubt und (ebenso) was ihr esst, für sie.“ Darum sei das Tierschutzgesetz, das in § 1 unnötige Leiden von Tieren grundsätzlich verbietet und in § 4 das Töten von Wirbeltieren nur unter Betäubung und somit unter Vermeidung von Schmerzen zulässt, trotz seines niedrigeren Ranges als einfachgesetzliche Norm in dieser Frage gegenüber dem grundgesetzlich geschützten Grundrecht der Religionsfreiheit vorrangig. Die im Tierschutzgesetz zur Durchsetzung des Grundrechts auf Religionsfreiheit vorgesehene Ausnahme vom Betäubungsgebot, wenn „zwingende Vorschriften einer Religionsgemeinschaft“ dies nahe legen, greife nicht im Falle muslimischer Schlachter, da es im Islam eine solche zwingende Vorschrift nicht gebe. Dabei fußte der Hessische Verwaltungsgerichtshof auf einer Entscheidung des BVerwGs. Das hatte in Änderung seiner bis zu dem Zeitpunkt gültigen Rechtsprechung 1995 festgestellt, dass Muslime nicht verpflichtet seien, Fleisch nur von geschächteten Tieren zu essen. Diese Auffassung hatte das BVerwG nicht in manchmal unerfindlichem höchstrichterlichen Ratschluss geschöpft, sondern auf Grund besonders sorgfältiger Sachverhaltsermittlung gewonnen: Im Verwaltungsrecht gilt, im Gegensatz zum Zivilverfahren, wo nur verhandelt wird, was die Parteien dem erkennenden Gericht jeweils vortragen, der Amtsermittlungsgrundsatz. Den hatte das BVerwG, wie es seines Amtes ist, sehr ernst genommen: Es hatte bei der höchsten sunnitischen Glaubensautorität, der el-Azhar-Universität in Kairo, und bei dem Religionsministerium in Ankara Gutachten erstellen lassen, die auch in Ansehung von Sure 5/3 zu dem Ergebnis kamen, dass der Koran eine kurzzeitige Betäubung des Schlachttieres per Elektroschock in „Notsituationen“ wie dem Leben in christlicher Umgebung nicht verbiete. Daraufhin war Muslimen das Schächten verboten worden. Ein muslimische Schlachter wandte sich nach der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes nunmehr an das BVerfG, weil er sich durch diese Entscheidung in seinen Grundrechten der freien Berufsausübung und in seiner Religionsfreiheit verletzt sah. Das BVerfG ließ die vom BVerwG verkündete pauschale Ablehnung des Schächtens für Moslems in seinem 2002 einstimmig gefassten Beschluss nicht gelten: Die Grundrechte des Klägers aus Art. 2 I i.V.m. Art. 4 I und II GG und seine Berufsfreiheit seien durch das faktische Schächtverbot für Muslime „unverhältnismäßig beschränkt“ worden. Es müsse im Einzelfall geprüft werden, ob sich aus der Religionsfreiheit für bestimmte muslimische Gruppen nicht etwas anderes ergebe. „Im Lichte der Verfassungsnormen ist § 4 a Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 des Tierschutzgesetzes so auszulegen, dass muslimische Metzger eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten erhalten können.“ Es verstoße gegen das Grundgesetz, wenn Behörden und Gerichte dem (einfachgesetzlichen) Tierschutz generell „einseitig den Vorrang“ gegenüber der (grundgesetzlich garantierten) Religionsfreiheit einräumten, denn dann liefe das Grundrecht der Religionsfreiheit faktisch leer. Ein Grundrecht darf – selbst von kollidierenden anderen Grundrechten - aber nur in seinen Randbereichen eingeschränkt werden. Sein Kernbereich hingegen muss immer unangetastet erhalten bleiben, damit es ein Grundrecht bleibt: Grundrechtsdelle ja, substanzieller Grundrechtsschaden oder Grundrechtstotalschaden nein! Es gibt ebenso wenig einen monolithischen Islam, wie es ja auch kein monolithisches Christentum gibt. Der Begriff „Religionsgemeinschaft“ dürfe darum nicht auf die Hauptströmungen eines Glaubens eingegrenzt werden. Wenn Glaubensgründe auch nur einer kleineren Glaubensgemeinschaft innerhalb des Islam glaubhaft gemacht werden können, dann habe das Tierschutzgesetz hinter der Religionsfreiheit zurückzustehen. Allerdings habe jede Glaubensgemeinschaft gesondert zu begründen, warum das Schächten für sie unerlässlich sei. Außerdem dürfen Muslime Tiere nur zum Opferfest, also nur einmal im Jahr, schächten. Das BVerfG verwies den Fall an das Gießener Verwaltungsgericht zurück, wo nunmehr unter Beachtung der Grundrechtsauslegung der Religionsfreiheit durch das BVerfG bei Kollision mit dem Tierschutzgesetz erneut zu entscheiden war. Ein Nicht-Muslim fragt sich natürlich, warum es nicht zulässig sein sollte, ein Tier vor dem Schächten erst kurz zu betäuben und es dann bei noch lebendigem Leibe ausbluten zu lassen, da es ja – nur(?) - auf das Ausbluten ankommen soll? Das einzige religiös verbrämte tiermedizinische Gegenargument gegen ein Verbot des Schächtens, das die Verfechter des Schächtens vorbringen könnten, damit das Bluttabu gewahrt bleibt, kann doch nur sein, dass ein zuvor betäubtes Tier wegen der angeblich damit verbundenen Verkrampfung von Muskeln und Blutbahnen dann beim Schächten (möglicherweise?) nicht so vollständig ausblute wie ein unbetäubt geschächtetes. Und es müsste nachgewiesen sein, dass solche Verkrampfungen bei einem Schnitt durch Kehle, Luft- und Speiseröhre bis auf den Halsknochen nicht eintreten! Da bei uns sowohl geschächtet wie

662

»mitteleuropäisch« geschlachtet wird, müsste ein direkter Vergleich ja möglich und diese Frage zu entscheiden sein. Nach jüdischem Glauben muss ein zu schächtendes Tier „unverletzt“ sein. Der Koran fordert das nicht. Ein Tier könnte durch einen Stromstoß oder durch CO2 betäubt werden. Dann wäre, wenn ein betäubtes geschächtetes Tier gleich vollständig ausblutet wie ein unbetäubt geschächtetes, sowohl dem Tierschutzgedanken Genüge getan, wie auch die Religionsfreiheit der Muslime gewahrt. Der für das Schächten in Anspruch genommene Korantext verbietet ein solches Vorgehen nach meinem unislamischen Verständnis ja nicht. Nicht bekannt ist mir, ob die jüdischen Schlachtereien in Deutschland mit der Ausnahmegenehmigung für das Schächten die Auflage erhalten haben, die durch das Schächten zu tötenden Tiere erst zu betäuben, oder ob die Juden für sich in Anspruch nehmen, dass »richtiges« Schächten ohne Betäubung vorzunehmen sei, weil man früher, als die Regel des Schächtens aus ernährungshygienischen Gründen in den heißen Ländern geschaffen und zu ihrer Durchsetzung religiös untermauert wurde, noch nichts von der Betäubung von Tieren wissen wollte. Eine solche Auslegung des Begriffes »schächten« könnten dann natürlich auch Muslime für sich in Anspruch nehmen. Aber warum soll eine solche historisierende Auslegung die einzig zulässige sein? Der Tierschutzbund macht geltend: Bei dem schnellen Schnitt durch Kehle, Schlagadern, Luft- und Speiseröhre, bei dem aber die Wirbelsäule nicht mit durchtrennt wird, arbeite das Gehirn bis zu zwei Minuten nach dem Schnitt weiter, und solange die Hirnströme funktionieren, funktioniere das Schmerzzentrum. Das Tier leide wahnsinnig! Mit scharfem Messer Die anatomisch-physiologischen Vorgänge beim Schächten Werner Hartinger Wenn die Schächtung am gefesselten und niedergeworfenen Tier, entsprechend den Vorschriften, durch einen Schnitt mit einem scharfen Messer vorgenommen wird, durchtrennt man zunächst die vordere Halshaut, dann die vorderen Halsmuskeln, die Luftröhre und die Speiseröhre. Jeder Mediziner mit operativer Erfahrung weiß, wie schmerzempfindlich Luftröhre und Speiseröhre sind, besonders aber der betroffene Kehlkopf, dessen Verletzung selbst bei tiefer Narkose noch zu schweren reflektorischen Atemstörungen und Kreislaufreaktionen führt. Danach werden die darunter und seitlich liegenden, mit spezifischer Sensitivität ausgestatteten beiden Halsschlagadern durchschnitten, die eine relevante Gesamtreaktion auf Blutdruck und Kreislauf haben. Daneben werden auch die Nervi accessori und der Vagus sowie das gesamte Sympathische Nervensystem und die das Zwerchfell motorisch versorgenden Nervi phrenici durchtrennt. Hierdurch kommt es zu einem immobilen Zwerchfellhochstand mit stärkster Beeinträchtigung der Lungenatmung, so daß das Tier neben seinen unerträglichen Schnittschmerzen auch noch zusätzliche Todesangst durch Atemnot erleidet. Durch verstärkte Atemreaktionen wird das Blut und der aus der Speiseröhre austretende Mageninhalt in die Lungen aspiriert, was zu schweren Erstickungsanfällen führt. Während des langsamen Ausblutens thrombosieren und verstopfen vielfach die Gefäßenden der vorderen Halsarterien, so daß regelmäßig nachgeschnitten werden muß. Und das alles bei vollem Bewußtsein des Tieres, weil beim Schächtschnitt die großen, das Gehirn versorgenden Arterien innerhalb der Halswirbelsäule ebenso wie das Rückenmark und die zwölf Hirnnerven nicht durchtrennt sind und wegen der knöchernen Ummantelung auch nicht durchtrennt werden können. Diese noch intakten Gefäße versorgen über den an der Basis des Gehirns liegenden Circulus arteriosus weiterhin das ganze Gehirn noch ausreichend, so daß keine Bewußtlosigkeit eintritt. Hängt man das Tier an den Hinterbeinen auf, so bleibt es infolge der Blutversorgung des Gehirns, des orthostatisch verstärkten Blutdruckes und des lebensrettenden physiologischen Phänomens, daß der blutende Organismus seine periphere Durchblutung zugunsten von Gehirn, Herz und Nieren auf Null reduziert, praktisch bis zum Auslaufen der letzten Blutstropfen bei vollem Bewußtsein. (Aus dem Internet über Google unter dem Stichwort „Schächten“ herausgesucht.) „Eine Zivilisation kann man danach beurteilen, wie sie ihre Tiere behandelt“42 (Mahatma Gandhi). Dem Beschluss des BVerfGs hielten Kritiker entgegen, dass mit demselben Argument grundgesetzlicher Akzeptanz von Überzeugungen religiöser Minoritäten auch die Genitalbeschneidung von Mädchen hingenommen werden müsste.

42

Der Ausspruch mag grundsätzlich richtig sein, aber es sei an Hitler und seine Spießgesellen erinnert, die insbesondere Schäferhunde liebten und u.a. bestimmt hatten, dass Juden keine Haustiere halten durften, damit die nicht mit erschlagen werden mussten, wenn man deren Halter erschlug, vergaste, ...

663

Nach dem Urteil des BVerfGs zum Schächten hat der Bundestag als erstes europäisches Land jetzt nach dreimaligem vergeblichen Anlauf in den zehn vergangenen Jahren den Tierschutz durch eine Grundgesetzänderung 2002 als „Staatsziel“ in unsere Verfassung mit aufnehmen lassen, um auch die vielfachen anderen Verstöße aus u.a. den Komplexen Tierversuche (ca. 2 Mill. pro Jahr allein in der Kosmetikindustrie, dazu Tierversuche an „Bruder Tier“, insbesondere an Primaten, in der Grundlagenforschung), quälende Tiertransporte und bisher erlaubte, aber nicht artgerechte und daher ethisch problematische Tierhaltung durch z.B. Käfighaltung in Legebatterien oder andere Nutztierhaltung in zu engen Stallungen in den Griff zu bekommen. Man will strengere Strafen gegen z.B. Legehennenbesitzer, die ihre Legebatterien mit Nikotin begasten, um so die eingepferchten Hennen noch aggressiver zu machen und dadurch zu einer größeren Eierproduktion anzuregen. Oder es war eine „Künstlerin“, die auf einem Happening ihren Wellensittich wiederholt in klebrigen Teig geworfen hatte, von einem Kasseler Gericht mit dem Hinweis auf die Kunstfreiheit des GG vom Vorwurf der Tierquälerei freigesprochen worden. So etwas soll es nicht mehr geben. In Art. 20 b GG wurden am 17.05.02 drei Wörter ergänzt: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere ...“ um so den Tierschutz nicht nur durch eine einfachgesetzliche Norm zu verankern, nachdem die CDU ihren langjährigen Widerstand aufgegeben hat. Kaum ein Mitglied des Bundestages – 543 Ja-Stimmen bei 19 Ablehnungen – und keine Partei wollte sich kurz vor der anstehenden Bundestagswahl dem Vorwurf aussetzen, kein Tierfreund zu sein. So etwas hätte bei den tierlieben Deutschen Wählerstimmen kosten können! Nach dieser Grundgesetzänderung hat der Tierschutzbund angekündigt, das BVerfG in der Sache des Schächtens erneut anrufen zu wollen. Aber wie? Für diesen Bereich gibt es – bisher – kein Verbandsklagerecht, auf Grund dessen der Tierschutzbund als Nichtbetroffener klagen dürfte. Er ist ja nicht in seinen Grundrechten verletzt! Und die Tiere sind keine Rechtssubjekte. Juristisch spannend ist, wie das BVerfG nun nicht mehr eine bisher nur einfachgesetzliche Norm (Tierschutz) gegen die ohne Gesetzesvorbehalt gewährten Grundrechte Religions-, Forschungs-, Lehr- und Kunstfreiheit, sowie das Eigentumsrecht, das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und das Recht der Berufsfreiheit, die gesetzlich eingeschränkt werden dürfen, sondern das nunmehr mit Verfassungsrang versehene Staatsziel Tierschutz gegen diese Grundrechte abwägen, „in Konkordanz bringen“, und dem Gesichtspunkt der „Mitgeschöpflichkeit“ Rechnung tragen wird. Aus einem Staatsziel können – im Gegensatz zu einem Grundrecht - keine Rechte direkt abgeleitet werden und unsere Verfassung bleibt anthropozentrisch, auf den Menschen und seine Würde hin ausgerichtet, aber ein Staatsziel ist ein starkes Abwägungskriterium für gesetzgeberische Überlegungen, aus denen sich Konsequenzen gegenüber den Nutznießern der inzwischen als anstößig empfundenen bisherigen einfachgesetzlichen Gesetzeslage ergeben werden. Das vorstehende Beispiel der Problematik des Schächtens macht anschaulich deutlich, dass Grundrechte nicht nur Deutschen, sondern jedem im Bereich der Geltung unseres Grundgesetzes Lebenden zustehen. Die Grundrechte sind nicht eo ipso ausschließlich „Deutschen- oder Bürgerrechte“ sondern großenteils Menschenrechte. Sie stehen – wenn sie durch ihren Wortlaut nicht wie z.B. in den Fällen der in Art. 8 GG geregelten Versammlungs-, der in Art. 9 GG geregelten Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, der durch Art. 12 geschützten Berufsfreiheit und der in Art. 12 a geregelten Wehr- und Dienstpflicht ausschließlich Deutsche betreffen - jedem zu, der sie berechtigt in Anspruch nehmen kann. Sie stehen sogar dann Ausländern zu, wenn Deutsche für dasselbe Verhalten zur Rechenschaft gezogen würden und wenigstens mit einem Bußgeld belegt werden könnten, denn deutsche Schlachter dürfen nicht schächten! Das Grundrecht auf Asyl ist sogar eines, das nur Ausländern zusteht. Und nicht nur deutsche und ausländische natürliche Personen besitzen Grundrechtsfähigkeit, sondern auch die durch einen privaten Rechtsakt gründbaren deutschen und ausländischen juristischen Personen des Privatrechts – AGs, GmbHs, Rundfunkanstalten, der TÜV, ..., Niederlassungen ausländischer Firmen – und ebenfalls die grundsätzlich nur durch ein Gesetz oder durch einen Hoheitsakt auf Grund eines Gesetzes gegründeten juristischen Personen des öffentlichen Rechts wie z.B. die Universitäten, Staatskirchen, ... Sie alle können die für sie jeweils einschlägigen Grundrechte geltend machen. Natürlich können juristische Personen z.B. nicht ein Recht auf Leben oder ein Elternrecht wahrnehmen, aber sie haben das Recht auf die freie Entfaltung ihrer „Persönlichkeit“ und können sich darum im Rahmen der durch Art. 2 I GG geschützten Wettbewerbsfreiheit wirtschaftlich betätigen. Zum Schutz der freien Entfaltung der natürlichen und der juristischen Personen fallen neben den tatsächlich zum Wohnen genutzten Räumlichkeiten Privater grundsätzlich auch nicht der Allgemeinheit zugängliche Geschäftsräume ebenfalls unter den durch Art. 13 I GG geschützten Begriff der „Wohnung“. Für die

664

Durchsuchung von der Allgemeinheit nicht zugänglichen Geschäftsräumen ist deshalb auch immer erst beim zuständigen Gericht ein „Durchsuchungsbefehl“ zu beantragen. Auch das durch Art. 10 GG geschützte Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis steht den juristischen Personen zu. Der angesprochene »Wohnung«sbegriff, der praktisch alles außer den der Allgemeinheit zugänglichen Verkehrsflächen, Verkaufsläden, Schankräumen von Gaststätten, Freizeitparks und ähnlichen Einrichtungen mit zwangsläufigem Publikumsverkehr zu normalen Geschäftszeiten umfasst - nicht aber deren Kontorräume(!) und der den grundgesetzlich grundsätzlich geschützten Bereich vor dem richterlich nicht genehmigten Eindringen und Verweilen der Organe öffentlicher Gewalt bewahrt, weckt natürlich Zugriffsgelüste berufsneugieriger staatlicher Stellen. Insbesondere Innenminister, Staatsanwaltschaften und Polizei argumentieren immer: Wir können nicht zulassen, dass in grundgesetzlich geschützten Räumen ungestört die Begehung schwerster Straftaten geplant und verabredet werden kann, ohne dass wir dort wenigstens mithören können. Als Beispiele dienten seit längerem im Bereich der organisierten Kriminalität ethnisch abgegrenzte Banden wie die italienischen Maffiaarten und andere ethnisch abgegrenzte Banden aus Ost-, Südosteuropa und Asien, wie u.a. die chinesischen Triaden mit ihren Schutzgelderpressungen bei einem Großteil der Besitzer chinesischer Lokale in Deutschland, Banden, in die ein Eindringen Fremder aus ethnischen und sprachlichen Gründen so gut wie unmöglich ist. In neuerer Zeit wurde diese schon vorher bedenkliche Sicherheitslage durch islamistische Extremisten verschärft, die z.B. in Hamburg in der Nähe der Technischen Universität Hamburg-Harburg, an der einige studiert hatten, das Selbstmordattentat vom 11.09.01 in die Twin-Towers des World-Trade-Centers in New York geplant hatten. Um dieses die Strafverfolgungsbehörden seit einigen Jahren drückende Problem angemessen zu lösen, sind in dem Artikel 13 GG durch dessen eingefügte Absätze 3-6 Möglichkeiten zum Einsatz von „technischen Mitteln zur akustischen Überwachung von Wohnungen“ geschaffen worden, die grundsätzlich nur nach vorheriger richterlicher Anordnung eingesetzt werden dürfen. Eine Ausnahme besteht bei „Gefahr im Verzug“. Da darf die Staatsanwaltschaft die nötigen Anordnungen treffen, hat aber gemäß Art. 13 V GG die ausstehende „richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen“. Das Ganze firmiert unter dem Stichwort „großer Lauschangriff“. So weit, so gut; teilweise mit erheblichem juristischen Bauchgrimmen, u.a. weil durch einen Lauschangriff zwangsläufig auch das Grundrecht aus Art. 13 GG der an geplanten Verbrechen Unbeteiligten, die sich ebenfalls in einer der Räume der Wohnung aufhalten, verletzt wird. Besonders kritisch, nein: für einen den Grundrechten verpflichteten Staatsbürger nicht mehr hinzunehmen ist, dass 2004 Bundesinnenminister und Bundesjustizministerin planten, die bisher schon eröffneten Möglichkeiten des Großen Lauschangriffs auf Vertreter von Berufsgruppen auszudehnen, für deren angemessene Berufsausübung die Vertraulichkeit des in der »Wohnung« gesprochenen Wortes unabdingbar ist: Nach dem (nicht nur mich) empörenden Referentenentwurf sollten in Umsetzung eines Urteils des BVerfGs vom März 2004, das im Falle einer nachweisbaren(!) Verstrickung beispielsweise von einzelnen Juristen, Journalisten oder Geistlichen in schwerwiegende Verbrechen unter erschwerenden Voraussetzungen Abhörmaßnahmen auch gegen diese für statthaft erklärt hatte, die Wohnungen und Geschäftsräume aller 800.000 bis eine Million Berufsgeheimnisträgern wie u.a. Ärzte, Steuerberater, vereidigte Buchprüfer, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte, Notare, Journalisten, Psychotherapeuten, ... und Priester mehr oder minder verdachtsweise abgehört werden dürfen! Von der geplanten Änderung betroffen waren ein gutes Dutzend von Berufsgruppen sowie Bundes- und Landtagsabgeordnete, die nach § 53 der StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Fast ein Prozent unserer Bevölkerung wäre durch das geplant gewesene Gesetz ihres Grundrechtsschutzes in nicht hinnehmbarer Weise beraubt worden, obwohl insbesondere diese Personen zur angemessenen Berufsausübung dieses Grundrechts besonders bedürfen und ihre Klientel darauf vertrauen können muss, dass ihre Lebensgeheimnisse und Lebensbeichten vom Staat nicht ausspioniert werden, wenn sie die Wohn- und Geschäftsräume von Berufsgeheimnisträgern betreten und sich dort vertraulich äußern. Jeder hat in unserer Rechtsordnung Anspruch auf kompetente Hilfe: In Zivilstreitigkeiten kann das Gericht Prozesskostenhilfe bewilligen. Vor dem Strafgericht wird ihm in Strafverfahren mit gravierendem Deliktsvorwurf sogar notfalls ein Pflichtverteidiger gestellt, wenn er diese ihm grundsätzlich zustehende Hilfsmöglichkeit aus finanziellen Gründen nicht nutzen kann. Und der Helfende hat sich strikt an das Gebot der Vertraulichkeit zu halten; widrigenfalls droht ihm Strafe wegen Geheimnisverrats. In dieses hochsensible Beziehungsgeflecht wollte sich der Staat drängen können. Indirekt betroffen hätte jeder sein können, der zu einem dieser Berufsgeheimnisträger in Kontakt tritt! So wäre die die staatliche Macht beschränkende Funktion der Grundrechte in einem Bereich, der sowohl für das einzelne Individuum wie auch für unser Gemeinwesen unaufgebbar wichtig ist, faktisch abgeschafft worden! Wie hätte ein Rechtsanwalt seinen Mandanten weiterhin angemessen verteidigen sollen, wenn er nicht unbedingt

665

vertraulich mit ihm hätte reden können? Wie hätte ein Pfarrer oder Priester seiner unverzichtbar wichtigen Aufgabe nachkommen können, wenn staatliche Organe sich mit in den Beichtstuhl hätten drängen dürfen? Das hätte zu einer völligen Umdeutung des Begriffes der „Ohrenbeichte“ geführt. So ist der Begriff der „Ohrenbeichte“ bisher nicht verstanden worden! Außerdem war diese angestrebte Neuregelung auch deswegen unsinnig, weil Maffiakiller (jedenfalls üblicherweise) nicht vor der Erledigung ihres Auftrages zu einem Priester gegangen sind, um dem mitzuteilen, welche lebensauslöschende oder andere gravierende Schandtat sie erst noch begehen wollten! Die Beichtformel heißt ja auch seit mehr als einem Jahrtausend: „Pater, peccavi.“, „Vater, ich habe gesündigt!“ Und nicht: „Vater, ich werde sündigen.“ Die »juristische Atombombe« der angestrebten Grundrechtsänderung, die Möglichkeit des verdachtsweisen Abhörens aller Berufsgeheimnisträger zu schaffen, zielte - außer auf die wenigen die Maffiabosse angeblich vor der Ausübung ihrer Verbrechen beratenden Anwälte - ganz eindeutig auf das Abhören von Imamen. Im Islam gibt es zwar nicht das Institut der Beichte mit der darauf abzielenden Möglichkeit anschließender Sündenvergebung, wohl aber das seelsorgerische Gespräch. Bei einem christlichen Priester oder Pfarrer kann man in Deutschland heutigen Tages davon ausgehen, dass er nicht zu so gravierenden Straftaten anstiften wird, wie es manche „Hass-/Dschihadprediger“ taten, als sie zum Dschihad gegen die Ungläubigen aufriefen. Aber das Gesetzesvorhaben allein auf islamische Geistliche abzielen zu lassen, wäre zu diskriminierend gewesen, das hätte man bei ca. 4 Mill. Muslimen in unserer Gesellschaft politisch nicht durchhalten können! Da musste schon eine legalistische Gleichbehandlung mit allen anderen Berufsgeheimnisträgern simuliert werden, die den diskreten Charme gehabt hätte, gleich noch ein paar schwarze Schafe aus anderen Berufsgruppen der Berufsgeheimnisträger in die Waden zu beißen und mit einfangen zu können. Und so wollte man allen Ernstes – und dieser Ernst der »levithanistischen Ministerialbürokratie« ist das Empörendste an dem gesamten Vorgang, dass da niemand: „Halt! Stop!“ ruft, „Das geht nicht! So können wir unsere Grundrechte nicht zerstören!“ - so wollte man über der Savanne unserer Rechtskultur eine »juristische Atombombe« werfen, um ein paar gefährliche Elefantenbullen unschädlich zu machen!!! Aber beim Jagen von Elefanten, die Plantagen zerstören, nimmt man eine Elefantenbüchse und keine Atombombe! Nach zwei Monaten der Proteste der Berufsverbände der betroffenen Personengruppen wurde der Gesetzentwurf geändert. Schlimm bleibt es, dass eine solche Einschränkung überhaupt erwogen, dem Kabinett vorgelegt und dort nicht gleich beerdigt worden war: Wenn eine Ministerin und ein Minister sich so vergaloppieren, dann hätten die Kabinettskollegen eine solche legalistische Fehlgeburt sofort abtreiben müssen! Und die neben dem Eingriff in privateste Rechtsgüter als zweiter Ablehnungsgesichtspunkt angesprochene Gefahr für unser Gemeinwesen besteht darin, dass Journalisten kaum noch an wirklich brisante Informationen herankämen und so nicht mehr als Akt der sozialen Hygiene eines Gemeinwesens Skandale publik machen könnten, wenn die ihnen übermittelten Informationen nicht mehr vertraulich wären, da der Informantenschutz nicht mehr gewährleistet wäre. Wir brauchen aber die „Wachhunde der Demokratie“, um die Funktionsfähigkeit unseres politischen Systems aufrechterhalten zu können! Unter dem Gliederungspunkt „Wächteramt der Presse“ war schon geschrieben worden: „’Journalisten müssen die Wachhunde des Bürgers sein, nicht die Schoßhunde der Mächtigen’ (Lilli Gruber). Der freie kritische Journalismus ist der zweieiige Zwilling eines frei gewählten Parlamentes.“ Davon ist kein Buchstabe zurück zu nehmen! Wie vergesslich alte Menschen doch werden können! Als der Bundesminister des Inneren vor mehr als zwei Jahrzehnten als Strafverteidiger ein Mitglied der Baader-Meinhoff-Bande verteidigte - schließlich hat in unserem Rechtsstaat jeder Verbrecher Anrecht auf juristischen Beistand -, wird er das völlig entgegengesetzt gesehen haben! (Es waren damals schon Befürchtungen laut geworden, die sich dann – für unseren Rechtsstaat: leider bewahrheitet hatten, dass Mandantengespräche, zumindest einige der in den Gefängnissen geführten, unzulässigerweise abgehört wurden.) Da hätten Schily und seine Strafverteidigerkollegen der Terroristenprozesse auch nicht die Sicherheitskautelen beruhigt, die nach der Entwurfsfassung in das Gesetz jetzt eingebaut werden sollten: Zwar wird zunächst betont, dass eine Abhörmaßnahme unzulässig sei, "soweit Äußerungen aus dem Mandatsverhältnis zwischen einer überwachten Person und ihrem Verteidiger oder Beichtgespräche oder Gespräche mit beichtähnlichem Charakter zwischen einer Person und einem Geistlichen betroffen sind". Dieses grundsätzliche Verbot gelte aber dann nicht, "soweit auf Grund bestimmter Tatsachen der Verteidiger oder der Geistliche der Beteiligung an der Tat oder der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei verdächtig" ist. Konkret hieß es im Artikel 1, Absatz 7 des Entwurfs, Lauschmaßnahmen gegen Angehörige dieser Berufsgruppen und eine Verwertung entsprechender Erkenntnisse blieben "unzulässig, soweit nicht im Einzelfall unabweisbare Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung unter besonderer Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Maßnahme und Verwertung ausnahmsweise erfordern". Aber dieses Gesetzesplacebo hätte den Strafverteidiger Schily und seine Kollegen in dem Baader-Meinhoff-Komplex sicher

666

nicht beruhigt! Dessen bin ich mir absolut sicher, zumal den Verteidigern damals von verschiedenen Seiten pauschal unterstellt worden war, sie würden mit ihren Mandanten zumindest hinsichtlich Begünstigung und Strafvereitelung „gemeinsame Sache machen“ (was einige ja auch getan haben müssen, denn sonst hätte z.B. nicht eine Pistole in eine der Zellen eingeschmuggelt und nach der Selbsttötung eines der Terroristen in dessen Zelle gefunden werden können). Die als Schutzbehauptung für ihren Anschlag auf unsere Grundrechte und die liberale Ordnung unseres Zusammenlebens vorgebrachte Argumentation der Bundesjustizministerin Zypries (und des Bundesinnenministers Schily: „Wo Zypries draufsteht, ist Schily drin!“ spottete ein Abgeordneter) ging dahin, dass Mafiosi ihre Straftaten – angeblich – unter Beteiligung ihrer Rechtsanwälte planen würden. Und selbst wenn das in manchen Einzelfällen so gewesen sein mag und fürderhin so sein könnte oder vermutlich sogar sein wird, so rechtfertigt diese Annahme nicht einen so gravierenden Eingriff in die Arbeit aller Berufsgeheimnisträger! Wegen einiger schwarzer Schafe kann man nicht allen Berufsgeheimnisträgern die Grundlage ihrer Berufsausübung: das Vertrauen ihrer Mandanten, Klienten, Patienten oder Beichtkinder in die Geheimhaltung ihrer privatesten Geheimnisse, entziehen. Weil Juristen Grundsätzliches gerne in Latein ausdrücken, müssen wir Bürger laut schreien: „Obstate principios!“ („Wehret den Anfängen!“) Ein paar Tage nachdem der Entwurf, auf dessen Abfassung so viel Gehirnschmalz guter Juristen verwandt worden war, das Licht der Öffentlichkeit erblickt und wütende Proteste vieler Verbände der betroffenen Berufsgruppen hervorgerufen hatte, wurde er in einem Begräbnis Dritter Klasse verscharrt: „Das Kabinett wird sich nicht weiter mit dem Entwurf befassen.“ Und das ist gut so! Wie hatte man nur politisch so unsäglich unbedarft und juristisch so dummdreist sein können anzunehmen, dass ein solcher Entwurf, wäre er Gesetz geworden, vor dem BVerfG hätte bestehen können? Diese »Denke« unserer Spitzenpolitiker bis rauf zu den für ihren Exekutivbereich eigenverantwortlichen Bundesministern und ihrer Spitzenjuristen ist für mich als Politiklehrer und Juristen des Erschreckendste an diesem Vorgang! Was sitzen da für Leute, die ganz offensichtlich dort nicht hingehören! Da hätte doch so heftig von den mit der Entwurfserstellung beauftragten Beamten remonstriert werden müssen, dass der angedachte Entwurf gar nicht erstellt worden wäre, geschweige denn das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätte. So ein juristischer anenzephaler Fötus hätte gleich abgetrieben werden müssen! Dann hätte sich das Bundesministerium der Justiz nicht so unsäglich blamiert.

5.2 »Bluttransfusionsfall« und die in Art. 4 I GG geregelte Glaubensfreiheit

"Bluttran sfusionsf all" und die in Art. 4 I GG geregelte Glaubens freiheit

Fall (BVerfGE 32/98) Ein Ehepaar war Mitglied der "Religiösen Vereinigung des evangelischen Brüdervereins". Diese Sekte steht - wie einige andere auch - auf Grund einer speziellen Interpretation einiger Bibelzitate Bluttransfusionen aus religiösen Gründen ablehnend gegenüber. (Apostelgeschichte 15/20: "... sondern schreibe ihnen, daß sie sich enthalten von Unsauberkeit der Abgötter und von Hurerei und vom Blut“, mit weiterem Verweis auf 3. Mose 17/10: "Und welcher Mensch, er sei vom Haus Israel oder ein Fremdling unter euch, irgend Blut ißt, wider den will ich mein Antlitz setzen und will ihn mitten aus seinem Volk ausrotten." Diese Sekten unterscheiden auf Grund ihrer eingeschränkten Wortlautinterpretation nicht zwischen Blutwurst und Bluttransfusion, zwischen vermeidbarer Blutaufnahme mittels (früher) in vielen Religionen gebräuchlich gewesener Blutopfer und (jetzt) Speisen durch den Mund einerseits und eventuell notwendiger Bluttransfusion andererseits. Blutplasma ist akzeptiert, hilft aber nicht immer. Wir sehen: Auch bezüglich der Bibel waren schon immer und sind immer noch Interpretationskünste gefragt. Das ist nicht nur bei den inzwischen säkularisierten Juristen so. Nicht ohne Grund waren in früher Zeit die obersten Priester oft auch die obersten Richter.) Als die Frau ihr viertes Kind zur Welt gebracht hatte, war sie durch die bei der Geburt aufgetretenen Komplikationen auf Grund des hohen Blutverlustes lebensgefährlich geschwächt. Entgegen ärztlichem Rat wollte sich weder die Patientin zur Bluttransfusion ins Krankenhaus bringen lassen, noch war der Ehemann dazu bereit, die notwendigen Hilfsmaßnahmen gegen ihren Willen zu veranlassen. Bibeltreu, wie beide waren, nahmen sie die Heilige Schrift und deren Auslegung, wie ihre Sekte sie befolgt wissen wollte, als Richtschnur ihres Handelns: "Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse über sich beten, und das Gebet wird dem Kranken helfen."

667

Das Gebet half aber nicht in der erbetenen Weise. Die Frau starb. Der Mann wurde vor Gericht gestellt und in zwei Instanzen von Strafgerichten verurteilt. Welche Strafnorm des StGB könnte er verletzt haben? Das Schöffengericht der ersten Instanz verurteilte ihn wegen einer Straftat gemäß § 222 StGB "fahrlässige Tötung" (mit dem oberen Strafrahmen „... bis zu fünf Jahren ...“) zu acht Monaten Gefängnis. Hiergegen legte der Verurteilte bei diesem Gericht das Rechtsmittel der Berufung ein. Die nunmehr mit der Sache befasste nächsthöhere Instanz, die Große Strafkammer des Landgerichts, hob das Urteil der Vorinstanz auf und sprach den Angeklagten frei: Es sei nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu klären, dass der Tod der Ehefrau durch die unterlassene Überführung in ein Krankenhaus verursacht worden sei. Wie damit die fahrlässige Tötung verneint worden ist, so sei auch ein Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung nicht nachweisbar, weil nicht zu widerlegen sei, dass sich die Ehefrau aus eigenem Entschluss gegen eine im Krankenhaus vorzunehmende Bluttransfusion ausgesprochen habe; über diesen in voller geistiger Klarheit und voller Willensfähigkeit(!) gefassten Entschluss habe sich der Ehemann nicht hinwegsetzen dürfen. (Das Gericht wäre vielleicht zu einer Verurteilung gelangt, wenn die Ehefrau nicht mehr die für jede rechtsverbindliche Entscheidung vorauszusetzende volle geistige Klarheit und Willensfähigkeit besessen hätte. Dann hätte der Ehemann möglicherweise sogar wegen des Verbrechens einer Tötung durch Unterlassen gemäß §§ 212, 13 StGB zu einer Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren verurteilt werden können. Der Strafrahmen reicht in einem solchen Fall gemäß § 38 II StGB bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe.) Die Staatsanwaltschaft (StA), die sich gerne als die "objektivste Behörde der Welt" bezeichnet, weil sie vom gesetzlichen Auftrag her auch alle zu Gunsten des jeweiligen Beschuldigten sprechenden Fakten zu sammeln hat, fand die vorstehend wiedergegebene Begründung des Landgerichts (LG) rechtsirrig - "Wo kämen wir hin, wenn jeder seinen Ehepartner verbluten lassen könnte?" - und legte darum beim zuständigen Oberlandesgericht (OLG) das Rechtsmittel der Revision ein, weil das LG angeblich das Gesetz verkannt habe. Das OLG folgte der rechtlichen Beurteilung der StA und hob darum das freisprechende Berufungsurteil des LG in dem bei ihm anhängigen Revisionsverfahren auf. Gleichzeitig verwies es die Sache zurück an eine andere Kammer der Vorinstanz. Diese neue Kammer hatte nun, das ist in § 358 StPO verfahrensrechtlich so festgelegt, die im Revisionsurteil geäußerte Rechtsansicht des ihr übergeordneten Gerichts zu beachten: Das OLG hatte ein Vergehen gemäß § 323 c StGB "unterlassene Hilfeleistung" ( ... bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe ...) als verwirklicht angesehen, weil der Ehemann aus der ehelichen Lebensgemeinschaft heraus zu dem für ihn zumutbaren Versuch verpflichtet gewesen sei, seine Ehefrau zur Einwilligung in die von dem behandelnden Arzt für notwendig erachtete Krankenhausbehandlung zu bewegen. Die nunmehr zuständige Kammer des LG verurteilte den Ehemann wegen (des vom OLG vorgegebenen) Verstoßes gegen den so genannten »Liebesparagraphen« § 323 c StGB (der früher, als die Leute noch zur Kirche gingen, mindestens einmal jährlich von der Kanzel herunter verkündet worden war, weil sich in ländlichen Gebieten immer wieder Personen aus Aberglauben gescheut hatten, Ertrinkende zu retten, da sie befürchteten, zu spät zu kommen und das Herausziehen einer Wasserleiche angeblich langjähriges Unglück auf ihr Haupt beschworen hätte). Das LG hielt in diesem Falle eine Geldstrafe in Höhe von DM 200,- für tat- und schuldangemessen - und nicht mehr 8 Monate Freiheitsstrafe, wie das erstinstanzlich zuständig gewesene Schöffengericht. Ein schöner Erfolg für den Strafverteidiger! Mit einem solchen günstigen Ausgang eines Verfahrens gibt man sich allein schon aus Kostengründen nach einer Vorverurteilung zu Freiheitsstrafe normalerweise zufrieden. Nicht so der Rechtsfuchs des Verurteilten, der sich selbst durch das im Vergleich zum Urteil des AG nun wesentlich günstigere Urteil immer noch gegen den Strich gebürstet fühlte, auf sein Gerechtigkeitsgefühl vertraute und seinen Mandanten aus Überzeugung in weitere kostenträchtige Schlachten hetzte. Er legte nun seinerseits das Rechtsmittel der Revision ein, weil er trotz der bisherigen gegenteiligen Urteilsbegründungen glaubte, dass alle bisher in dieser Sache ergangenen Urteile auf einer Gesetzesverletzung beruhten. Der abgeurteilte Sachverhalt rechtfertige keine Bestrafung aus § 323 c StGB. Dieser erneute Revisionsantrag wurde - wen wundert's - von dem OLG als "offensichtlich unbegründet" verworfen. Das war auch nicht anders zu erwarten gewesen, denn das OLG hatte ja schon anlässlich der ersten Revision entschieden, dass eine Straftat gemäß § 323 c StGB vorliege. Da kann doch ein kleiner, unbelehrbarer Rechtsanwalt nicht ein zweites Mal mit derselben Sache kommen. So etwas ist "offensichtlich unbegründet" und kostenpflichtig! Nunmehr konnte der Verteidiger nach Ausschöpfung des Rechtsweges - und nur deshalb hatte er das OLG noch einmal anrufen und sich die vorhersehbare Abfuhr erteilen lassen müssen - beim BVerfG eine

668

Verfassungsbeschwerde einreichen, in der er behaupten musste, dass das Urteil unter Verletzung eines seinem Mandanten zustehenden Grundrechts zustande gekommen sei. Er berief sich diesbezüglich auf "Art. 4 I GG Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich." Die in Art. 4 I GG geregelte Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sind einige der wenigen Grundrechte, die (wie auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit durch Art. 5 III GG und die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen durch Art. 8 I GG) innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes völlig ohne jeden gesetzlichen Vorbehalt gewährt werden. Nicht einmal das durch Art. 2 II 1 GG geschützte Recht auf Leben, laut Rechtsprechung des BVerfGs ein „Höchstwert“ unserer Verfassung, und das Recht auf körperliche Unversehrtheit werden so umfassend geschützt. Selbst die unterliegen einem Gesetzesvorbehalt, wie sich aus der Formulierung in Art. 2 II 3 GG: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“, ablesen lässt. So ist z.B. durch Landespolizeigesetze ein „Finaler Rettungsschuss“, der einen Geiselnehmer gezielt tötet, zur Rettung des akut bedrohten Lebens einer Geisel zulässig. Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit hingegen können nicht einmal ein bisschen, geschweige denn wie das Recht auf Leben beim „Finalen Rettungsschuss“ bis zu ihrer völligen Außerkraftsetzung – eingeschränkt werden. In diesem für Menschen zentralen Bereich soll keiner geknechtet, jeder nach seiner Facon selig werden können – soweit es für die Gesellschaft tolerabel ist. Selbst die in unserer Verfassung als einige der wenigen Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt gewährten Rechte der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnis-/Religionsfreiheit werden also nur vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährt: Nach der durch die Rechtsprechung des BVerfGs entwickelten Verfassungsauslegung begrenzen die unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung systemimmanenten Schranken, d.h. das Gesamtgefüge unserer Wertordnung, auch die (wenigen) Grundrechte, für die kein Gesetzesvorbehalt formuliert wurde, die also nach erstem Anschein oder der Meinung eines unbefangenen Lesers des Verfassungstextes – sprich: eines Nichtjuristen - ohne jede Einschränkung gewährt zu sein scheinen. Schrankenlos geschützt ist »nur« das Grundrecht auf Menschenwürde, und dieser Schutz ist, wie wir aus der »dunkelsten« Zeit unserer Geschichte wissen, sehr viel! Allerdings scheint »Menschenwürde« nicht überall gleich gesehen zu werden, nicht einmal im Europa der EU. So scheint sich die bundesrepublikanische von der österreichischen zu unterscheiden, wenn es um die Menschenwürde derjenigen geht, die etwas gröblicher als andere gegen die innerstaatlichen Gesetze verstoßen haben und dafür einsitzen: "Übungs-Razzia" in Frauengefängnis Wien - Eine vom Justizministerium zu Übungszwecken genehmigte Razzia der Justizwache im Frauengefängnis Schwarzau in Niederösterreich erregt heftige Kritik. Maskierte Beamte hätten Zellen verwüstet, Frauen mussten sich nackt ausziehen, berichtet die Wiener Stadtzeitung "Falter" in ihrer am Mittwoch erscheinenden Ausgabe. Etwa 70 Beamte der Alarmabteilung der Justizwache, so die Wochenzeitung, streiften sich schwarze Masken übers Gesicht, "rüsteten sich mit Schlagstöcken, Schilden und Waffen. Dann stürmen sie mit Gebrüll ins Frauengefängnis Schwarzau ..." Während die Frauen mit erhobenen Händen und Gesicht zur Wand am Gang gestanden seien, sei ihre Wäsche am Boden verstreut und darauf herumgetrampelt worden. Persönliches Hab und Gut sei zerstört worden. Am Schluss wurden die Frauen in Zweiergruppen in die Anstaltskapelle abgeführt und von weiblichen Beamten angewiesen, sich komplett zu entkleiden. 'Ich musste mich völlig nackt neben einer Mitgefangenen bücken, die Beamtinnen haben mir in die Vagina geschaut, ob ich mir Drogen eingeführt hatte'", wurde eine Insassin zitiert. Anstaltspfarrer Georg Öttl hat dem Bericht zufolge beim Anstaltsleiter Beschwerde eingelegt, die SPÖ-Abgeordnete Petra Bayr habe wegen der "menschenverachtenden Aktion" eine parlamentarische Anfrage an Justizminister Dieter Böhmdorfer (F) gestellt. Heinz Patzelt, Chef der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, spricht im "Falter" von Verletzung der Menschenwürde. "Die Frauen waren Versuchskaninchen. Eine gesetzliche Grundlage für so eine Übung gibt es nicht", so der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak. Sektionschef wehrt sich Michael Neider, Sektionschef im Justizministerium, bestätigte laut "Falter", dass das Ministerium die Übungsrazzia angeordnet hatte. Alles sei rechtmäßig abgelaufen. Dass Eigentum der Frauen beschädigt worden sei, lasse sich "nicht verhindern. Wir haben den Frauen die geringfügigen

669

Schäden aber ersetzt". Zur "Körperhöhlenkontrolle" sagte der Sektionschef laut "Falter": "Die Untersuchung hat nicht in der Kapelle, sondern in einem ungeweihten Vorraum stattgefunden. Die Menschenwürde wurde gewahrt." (Kurier.at vom 16.03.2004 |apa |dk)

Zurück zum Ausgangsfall unserer Überlegungen in diesem Kapitel, dem Bluttransfusionsfall: Der Anwalt hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde Erfolg. Das BVerfG hob die Verurteilung auf, obwohl nach Meinung des OLG ein Rechtsmittel gegen die von ihm vorgegebene Verurteilung offensichtlich unbegründet gewesen war! Das BVerfG argumentierte dagegen mit seiner überlegenen Rechtsmacht: Der Staat sei durch das Grundgesetz zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet. Diese Neutralitätspflicht bestehe nicht nur gegenüber den Mitgliedern großer Religionsgemeinschaften. Auch die Mitglieder zahlenmäßig oder sozial unbedeutender religiöser Vereinigungen unterständen dem gleichen Schutz. Das gelte selbst dann, wenn sich jemand aus seiner Glaubensüberzeugung heraus zu einem Tun oder Unterlassen entschließe, "... das sich mit den in der Gesellschaft herrschenden sittlichen Anschauungen nur schwer(!) vereinbaren läßt." Solche Fälle passieren immer wieder. 2005 starb in Landau/Bayern eine Zeugin Jehovas bei der Geburt ihres dritten und gesunden Kindes an einer Nachblutung, auf Grund derer die Gebärmutter entfernt werden musste, was mit Blutverlust verbunden ist und durch Bluttransfusionen hätte ausgeglichen werden müssen. Die Ärzte, die ihr das Neugeborene zeigten, um sie an ihre soziale Verantwortung zu gemahnen, konnten ihr nicht helfen, weil die Frau Bluttransfusionen ablehnte und diesen religiös motivierten Willen – u.a. in dem Mutterpass - schriftlich verfügt hatte. Weil Patientenrechte absolute Priorität haben, insbesondere wenn sie sich auf die grundgesetzlich garantierte Glaubensfreiheit berufen, waren den Ärzten die Hände gebunden: Liegt eine schriftliche Erklärung vor, in der ein Patient betont, dass er im Ernstfall nicht gerettet werden möchte, müssen die Ärzte das bei Kenntnis respektieren! Ärzte sind aber beim Vorliegen eines Notfalles nicht verpflichtet, erst einmal Nachforschungen anzustellen, ob nicht möglicherweise religiöse Überzeugungen des ihrer Hilfe Bedürftigen eine ihn rettende Bluttransfusion ausschließen könnten. In einem Notfall sind sie zur Hilfeleistung verpflichtet – ungeachtet der Tatsache, dass dann möglicherweise der oder die Gerettete die von ihr oder ihm so gesehene schwere Sünde des Verstoßes gegen ein von ihr oder ihm als absolut verpflichtend angesehenes göttliches Gebot seelisch nicht verkraften kann!

Es war schon darauf hingewiesen worden, dass im Gegensatz zu vielen anderen Grundrechten die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht durch Gesetze einschränkbar sind, wie es z.B. bei den in Art. 2 II GG enthaltenen Grundrechten auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit möglich ist. So darf z.B. ein geiselnehmender Bankräuber mit einem "finalen Rettungsschuss" zu Gunsten der Geisel/n getötet werden. Ein (sich regendes und dabei sich im Rahmen der „fdGO“, der freiheitlich demokratischen Grundordnung bewegendes) Gewissen aber darf nicht »vergewaltigt« werden. Obwohl in unserer Verfassung Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit vom Wortlaut des Grundgesetzes her nicht einschränkbar gewährt werden, weil sie nicht unter einem sogenannten, die verbriefte Freiheit einschränkenden „Gesetzesvorbehalt“ stehen und somit auf den ersten und sogar einen genaueren zweiten und dritten Blick als nicht einschränkbar erscheinen, sind sie doch durch die im Grundgesetz zum Ausdruck kommende, in ihrer Gesamtheit unter dem Aspekt der Einheit der Verfassung geltende Wertordnung, durch vom BVerfG in seiner Rechtsprechung entwickelte und so erkannte "ungeschriebene Grundrechtsschranken" begrenzt und gelten damit nicht schrankenlos: Ein Kult mit Menschenopfern oder Witwenverbrennungen nach SatiBrauch z.B. würden vom BVerfG nicht hingenommen werden. Das würde als Verstoß gegen die in Art. 2 I GG postulierte verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz gewertet werden – auch wenn der damalige Präsident des BVerfGs Papier in einem Stern-Interview (12.05.05) zu allgemein formulierte: „Ich kann nicht viel mit der Vorstellung anfangen, dass das Wahrnehmen von Grundrechtenin diesem Lande unter einem allgemeinen Moralvorbehalt steht.“ Doch: Das tut es! Kurz-Fazit: Ein bisschen blöd darf man sein und als irrendes oder verirrtes Schäfchen z.B. selbst als obskure Sekte getarnten Wirtschaftsunternehmungen anhängen, die oft nur ihre Mitglieder ausnehmen, um den jeweiligen Sektenführern ein angenehmes Leben mit diversen Luxuskarossen und Sex-Sklavinnen oder – Sklaven, die bei pädophilen Neigungen der jeweiligen Sektenführer praktischerweise unter den Kindern der

670

Mitglieder ausgesucht wurden, zu ermöglichen, aber zu blöd darf man nicht sein. Einem Nicht-Juristen, der nicht in der Spaltung von feinsten Haaren geschult wurde, ist kaum der Unterschied klar zu machen, dass selbst die nicht einschränkbaren Grundrechte nicht schrankenlos gewährt werden: Wenn irgendwelche Schranken bestehen, dann gilt eine Sache nach (im Gegensatz zu juristischem zu sehenden) natürlichem Verständnis als irgendwie doch eingeschränkt. Wenn das zur besseren Veranschaulichung gewählte Beispiel der Witwenverbrennung nach dem Motto: „Ha’m Sie’s nicht ’ne Nummer kleiner?“ nicht ganz so dramatisch sein soll, so kann man sich - weniger einprägsam aber alltäglicher und darum realistischer - vorstellen, dass die individuelle Aktualisierung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit dann nicht geschützt sein kann, wenn sie z.B. die als obersten Wert unserer Verfassung durch Art. 1 GG geschützte Würde anderer Personen verletzt. Das kann ganz konkret entweder durch die spezielle Lehre der jeweiligen Religion oder Sekte mit entsprechendem verteufelndem Handlungsgebot an die eigenen Anhänger (z.B. das satanische Tötungsgebot im damaligen Charles-Manson-Fall in den USA) oder durch die „Hassprediger“ geschehen, die den jeweiligen in der oder den Hauptrichtung/en an sich friedfertigen Glauben in eine fanatische »Kampfreligion« umfunktionieren. Noch alltäglicher ist ein Fall einer versuchten Überdehnung der Religionsfreiheit, der seit ungefähr 2000 vor britischen Gerichten verhandelt wird: „CHRISTLICHE SCHULE WILL PRÜGELSTRAFE Recht auf den Rohrstock In Großbritannien ist es seit 1996 untersagt, Kinder in der Schule körperlich zu züchtigen. Eine christliche Privatschule in Liverpool will das Verbot umgehen und klagt sich dazu durch alle Gerichtsinstanzen. Begründung: Die Prügelstrafe gehöre zum Glauben. Eine christliche Privatschule in Großbritannien hat eine Sondergenehmigung zur Wiedereinführung der Prügelstrafe beantragt. Die Züchtigung von Kindern sei Teil ihrer religiösen Überzeugungen, erklärten Vertreter der Christian Fellowship School in Liverpool am Mittwoch. Der Antrag wurde beim Oberhaus eingereicht, dessen fünf Lordrichter die höchste Rechtsinstanz im Vereinigten Königreich darstellen. Zwei ranghohe Gerichtsinstanzen hatten die Argumentation der Schule zuvor zurückgewiesen. Die Lehranstalt kämpft seit insgesamt fünf Jahren vor diversen Gerichten für das Recht auf Erziehung mit dem Rohrstock. Die Prügelstrafe an Schulen wurde in Großbritannien 1996 verboten. Die Liverpooler Schule sieht darin jedoch eine Einschränkung ihres Rechts auf freie Religionsausübung, wie Direktor Philip Williamson erklärte. Sein Anwalt James Dingemans machte geltend, dass es nach britischem Gesetz Eltern gestattet sei, ihre Kinder zu züchtigen. Dieses Recht müssten sie auf Lehrer übertragen können. "Kinder sind unschlagbar" Schon im Buch der Sprüche stehe geschrieben: "Bestrafe das Kind mit der Gerte und rette seine Seele vor dem Tod." Die Ansicht der Traditionalisten ist allerdings in Großbritannien auch innerhalb der Kirche umstritten. Zahlreiche Funktionsträger und kirchliche Organisationen erklärten, Kinder zu schlagen sei ein Akt der Gewalt. Kinderorganisationen und moderne Pädagogen sind über die handfesten Pläne erzürnt. Ein Bündnis mit dem Namen "Kinder sind unschlagbar" kämpft seit Jahren für ein absolutes Züchtigungsverbot. Nach britischem Recht ist es Eltern nach wie vor gestattet, ihre Kinder zu züchtigen. Auch in amerikanischen Schulen ist das gefürchtete "Paddling" weit verbreitet, vor allem in den religiös geprägten Bundesstaaten des "Bible Belt". Dort ist das gefürchtete Instrument rund einen Meter lang und ähnelt einem Paddel. Mit Wucht auf den Hintern geschlagen, hinterlässt es Striemen oder sogar Blutergüsse. Zur Züchtigung müssen sich Schüler nach vorne beugen - eine ebenso schmerzhafte wie erniedrigende Prozedur. Nur 28 amerikanische Bundesstaaten haben die Prügelstrafe offiziell abgeschafft, in den übrigen 22 ist sie noch erlaubt. Laut US-Bildungsministeriums bekamen im Bundesstaat Mississippi 9,8 Prozent der Schüler den Hintern versohlt. Auf den weiteren Plätzen folgen Arkansas mit 9,1 Prozent, Alabama mit 5,4 Prozent und Tennessee mit 4,2 Prozent. In Deutschland wurde die Prügelstrafe im Klassenzimmer nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verboten, dann zum Teil erneut eingeführt und erst viel später wieder abgeschafft in Bayern zum Beispiel 1970, in Baden-Württemberg sogar erst 1976.

671

Genaue Gebrauchsanweisung Hinter der Initiative der Liverpooler Schule stehen 40 weitere Privatschulen, die allesamt das Verbot der Prügelstrafe als Beschneidung der Religionsfreiheit ablehnen. Der Vorstoß werde auch von den Eltern unterstützt, behauptet der Direktor. Die Gerichtskosten in sechsstelliger Höhe hoffen die streitbaren Pädagogen durch Spenden zu decken. Die Privatschule verlangt ein Schulgeld von mehr als 3000 Euro pro Jahr. Das höchste Appellationsgericht des Landes hatte zuvor erklärt, Lehrer könnten bei Problemen mit Kindern deren Eltern kontaktieren, die dann eine etwaige Bestrafung selbst ausführen könnten. Für den Fall, dass die Christian Fellowship School mit ihrer Argumentation vor Gericht durchkommt, liegen bereits konkrete Gebrauchsanweisungen für das Instrument der Prügelstrafe vor. Kleine Kinder könne man "auf die Hände oder die Beine" schlagen. Größere Schüler gehörten auf den Hintern geschlagen, "mit einem Gegenstand, der einem Lineal ähnelt, aber etwa 10 Zentimeter breit ist". (SPIEGEL ONLINE 06.12.04) Obwohl es des Weiteren die in dem vorstehenden Bericht nicht zitierte, mir aber geläufige Bibelstelle: „Wer sein Kind liebt, züchtigt es!“, geben soll und auf andere entsprechende Bibelstellen verwiesen werden kann und früher vom BGH nicht nur den Eltern, sondern auch den Lehrern gegenüber zu aufsässigen (oder fälschlicherweise dafür gehaltenen) Schülern ein „maßvolles Züchtigungsrecht“ zugesprochen worden war, kann ich mir im Zuge des seit 2000 im BGB verankerten Grundsatzes einer gewaltfreien Erziehung der Kinder nicht vorstellen, dass das BVerfG einem entsprechenden Antrag einer Religionsgemeinschaft auf Anwendung einer (auch noch an mir selbst verübten und in dem konkreten Fall von mir als ungerecht empfundenen) Rohrstockpädagogik unter Berufung auf die ihren Mitgliedern und der Gemeinschaft zustehende Religionsfreiheit stattgeben würde; schließlich hat Jesus ja nur gesagt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ und nicht hinzugesetzt: „… damit ich ihnen den rechten Glauben und Sitte und Moral einbläuen kann.“ Unter dem Gesichtspunkt einer (zwei Gliederungspunkte weiter detaillierter abgehandelten) Grundrechtskollision – gegen das Ausleben der Religionsfreiheit der Eltern steht das Grundrecht der Schüler auf Achtung ihrer Würde durch die zu ihrer Erziehung berufenen Personen – würde selbst das im Verfassungswortlaut vorbehaltlos gewährte Recht der Religionsfreiheit in dieser Fallkonstellation vom BVerfG als in seinem Randbereich einschränkbar angesehen werden, denn das von den Eltern und der christlichen Schule in Großbritannien beanspruchte Züchtigungsrecht kann ja nicht dem absolut geschützten und daher nicht einschränkbaren Kernbereich der christlichen Lehre zugerechnet werden, wenn zu diesem Kernbereich die von Jesus geforderte Feindesliebe gehört; die muss auch gegenüber eigenen Kindern gelten. Und gegenüber fremden Kindern und Jugendlichen, wenn sie einen nicht tätlich angreifen, was auch ich als Lehrer erleben musste, als ein Schüler mit gezücktem Butterfly-Messer auf mich losging, weil ich seines vorangegangenen Verhaltens wegen den Sportunterricht abbrechen musste.

5.3 Glücksspiel Rechtsprechung Glücksspiel Der vorstehend ausführlich geschilderten »Bluttransfusionsfall« zeigt anschaulich, dass Rechtsprechung auch für Rechtsprec ausgewiesene Spitzenjuristen zu schwierig sein kann, dass es Glücksache sein kann, wie ein Prozess ausgeht. Daher der nicht unberechtigte Stoßseufzer: „Auf See und vor Gericht ist man nur noch in Gottes Hand.“ Es hung

bewahrheitete sich wieder einmal die alte Soldatenregel: "Nur die letzte Schlacht entscheidet!" Aber deshalb gilt auch: Auch in einer »gerechten« Sache kann man zum Schluss unterliegen, denn menschliche Rechtsprechung ist nur unter Inkaufnahme von Irrtümern möglich! Und manchmal sind Richter eben dort völlig uneinsichtig, wo jeder billig und recht Denkende und Petitionsausschüsse parlamentarischer Gremien es nach sachgerechter Abwägung völlig anders gesehen haben. Ärgerlich ist es, wenn die Richter dann kein nachvollziehbares Argument vorweisen können. Und das können sie ja bei abwegigen Entscheidungen nicht! Ich habe es in einem für mich existenziellen Rechtsstreit selber durchlitten: „Das, was die Behörde Ihnen gesagt hat, hat nicht ganz die Qualität einer Zusage erreicht!“ Mit einer so schwammigen Begründung wurde vor der durch andere Fehlentscheidungen übel beleumdeten Fiskuskammer des Hamburger LG ein Schadensersatzprozess abgebügelt (Fall auf der Grundlage von SPIEGEL 39/85: „Würdest Du auch eine Bonner Sekretärin heiraten?“).

672

5.4 Grundrechtsabwägung bei Zielkonflikt zwischen gleichzeitig betroffenen, widerstreitenden gleichen oder unterschiedlichen Grundrechten (Grundrechtskollision) In dem ausführlich dargestellten Beispiel war nur ein Grundrecht betroffen gewesen. Es kann aber auch sein und kommt sogar oftmals vor, dass in einem Rechtsstreit mehrere Grundrechte betroffen sind, die miteinander in einem Zielkonflikt liegen. Wie ist dann zu entscheiden? Beispielsfall: In Australien kam das “Zwergenwerfen“ als »Belustigung« auf, breitete sich von dort pandemisch in die USA und Kanada aus und wurde meistens als menschenunwürdiger Klamauk verboten. Bei diesem Kneipenklamauk wurden Kleinwüchsige, die sich dafür freiwillig zur Verfügung stellten und zuletzt auch Schutzhelme trugen, von Kraftbolzen oder solchen, die sich in meist angesoffenem Zustand dafür hielten, an Gürtel und Schulter gepackt und möglichst weit durch die Gegend geworfen. Wer einen »Kurzen« am weitesten warf, war der »Kneipen-King«. Kleinwüchsige, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, dass sie sich als »Wurfgerät« zur Verfügung stellten, klagten gegen das Verbot, da sie sich ja freiwillig zur Verfügung stellten und auch Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Schutzhelmen ergriffen. Für sie sei das eine zugegebenermaßen zwar ungewöhnliche aber gleichwohl willkommene berufliche Tätigkeit zum Erwerb des für ihren Lebensunterhalt benötigten Geldes. Auf Grund ihrer Kleinwüchsigkeit seien sie im täglichen und im Berufsleben benachteiligt und hätten nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehende Erwerbsmöglichkeiten. Da sei ihnen diese auf freiwilliger Basis ausgeübte Möglichkeit des Broterwerbs willkommen. Selbstverständlich kam dieser »Spaß« auch nach Deutschland. Mit Verfügung vom 18.05.1992 untersagte die zuständige Behörde einer Firma die Durchführung der geplanten Veranstaltung. Sie begründete ihre Entscheidung insbesondere damit, dass es sich bei dem "Zwergenwerfen" um eine entwürdigende Behandlung eines Menschen handle, die mit Art. 1 Abs.1 GG nicht zu vereinbaren sei. Hierfür spreche insbesondere das Ziel der Veranstaltung, einen Menschen von einem anderen weitaus stärkeren Menschen zur Belustigung des Publikums wie ein Sportgerät möglichst weit zu werfen. Als Veranstaltung mit Wettbewerbscharakter sei das "Zwergenwerfen" nicht nur demütigend, sondern auch gefährlich für die Gesundheit der Geworfenen. Der sportliche oder akrobatische Charakter trete demgegenüber deutlich in den Hintergrund. Dass das menschliche Wurfgerät sich freiwillig werfen lasse, spiele keine Rolle, da die Menschenwürde ein unverfügbarer Wert sei, auf dessen Beachtung der einzelne nicht verzichten könne. Gegen diese Verbotsverfügung klagte die Betreiberin unter Hinweis auf ihr Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit in Form der Gewerbefreiheit aus Art. 2 I GG vor dem VG Neustadt - und verlor den Rechtsstreit. Das Gericht wog die geltend gemachten Interessen der Betroffenen gegen das in Art. 1 I GG normierte Postulat der Menschenwürde ab - vom Gericht außerdem zu berücksichtigen war die Berufsfreiheit der sich zur Verfügung stellenden Kleinwüchsigen aus ebenfalls Art. 2 I GG - und machte sich in seinem Urteil die Argumentation der Behörde zu Eigen.43 Die Würde des Menschen sei der oberste Wert des GG, auf den der Einzelne unter keinen Umständen verzichten könne. Sie habe Vorrang vor der Berufs- und Gewebefreiheit. Bis zum BVerfG kam der Rechtsstreit nicht, aber alle Gerichte haben ja in ihren Urteilen bei aktuellem Anlass Grundrechtserwägungen anzustellen. Anlässlich der Erörterung der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten (I. Teil 1.3.2.2.6) war schon der Fall einer Muslimin angesprochen worden, die – ohne zu der Zeit der Aufnahme des Arbeitsverhältnisses in einem Kaufhaus einer hessischen Kleinstadt ein Kopftuch zu tragen – als Verkäuferin eingestellt und in der Kosmetikabteilung eingesetzt worden war. Nach ihrem Babyjahr hatte sie dann angekündigt, nur noch mit einem Kopftuch arbeiten zu wollen und dafür religiöse Gründe angegeben: Ihre religiösen Vorstellungen hätten sich gewandelt. Weil der Islam es ihr verbiete, sich in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch zu zeigen, werde sie bei ihrer Tätigkeit künftig ein Kopftuch tragen. Die Arbeitgeberin kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis ordentlich mit der Begründung, ein Kopftuch würde bei dem "ländlich-konservativen Kundenkreis" auf Ablehnung stoßen. Umsatzeinbußen seien zu befürchten. Die Arbeitsgerichte, die sich in ihrem Selbstverständnis im Zweifelsfall als Schutzmächte der Arbeitnehmer gegen die größere wirtschaftliche Macht des jeweiligen Arbeitgebers verstehen, gaben in erster und zweiter 43

VG Neustadt, NVwZ 1993, S. 98

673

Instanz erstaunlicherweise in der von der gekündigten Arbeitnehmerin angestrengten Kündigungsschutzklage der Arbeitgeberin Recht. Erst das Bundesarbeitsgericht entschied zu Gunsten der klagenden Muslimin. Hiergegen reichte die Arbeitgeberin wegen der intendierten Grundrechte Klage beim BVerfG ein, das aber in einem Beschluss die Behandlung der Klage verweigerte. Es führte aus: „Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich: Es liegen keine Gründe für die Annahme der Verfassungsbeschwerde vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Das BAG hat bei der Auslegung und Anwendung der Kündigungsvorschriften den Grundrechtsschutz des Arbeitgebers aus Art.12 Abs. 1 GG nicht verkannt. Im vorliegenden Fall können sich zwei Personen des Privatrechts, nämlich sowohl die gekündigte Arbeitnehmerin wie auch die Beschwerdeführerin auf den Schutz ihrer Berufsfreiheit berufen. Der Arbeitnehmerin kommt darüber hinaus auch der Schutz aus Art. 4 Abs. 1 GG zugute, da sie ihren Arbeitsplatz aufgrund eines Verhaltens, zu dem sie sich aus religiösen Gründen verpflichtet fühlt, verlieren soll. Privatpersonen unterliegen grundsätzlich nicht der Bindung der Grundrechte. Gleichwohl sind die Grundrechte auch in privatrechtlichen Beziehungen von Bedeutung. Sie beeinflussen die Auslegung der zivilrechtlichen Vorschriften, die im Geiste der Grundrechte ausgelegt und angewandt werden müssen, was sich vor allem auf die zivilrechtlichen Generalklauseln und die sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe auswirkt. Dies gilt auch im Arbeitsrecht. Es ist Sache der Fachgerichte, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren. Das Bundesverfassungsgericht tritt deren Beurteilung und Abwägung von Grundrechtspositionen im Verhältnis zueinander nur bei Auslegungsfehlern entgegen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Nach diesen Maßstäben hat das BAG die wechselseitigen Grundrechtspositionen der gekündigten Arbeitnehmerin und der Beschwerdeführerin erkannt und in plausibler Weise gewürdigt, ohne dass dies verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre. Aus den kollidierenden Grundrechtspositionen der Arbeitnehmerin und der Beschwerdeführerin ergeben sich abstrakt keine Maßstäbe dafür, welches Maß der Einschränkung seiner Kündigungsfreiheit der Arbeitgeber letztlich hinnehmen muss, um den Freiheitsraum des Arbeitnehmers im Rahmen des von beiden Parteien freiwillig eingegangenen Verhältnisses zu wahren. In erster Linie haben die Fachgerichte im konkreten Einzelfall des betroffenen Arbeitsverhältnisses abzuwägen, ob eine bestimmte Erwartungshaltung an das Verhalten des Arbeitnehmers eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann, wenn der Arbeitnehmer sich im Rahmen seiner grundrechtlich geschützten Freiheiten nicht in der Lage sieht, den an ihn herangetragenen Erwartungshaltungen gerecht zu werden. Das BAG hat das Abwägungsergebnis maßgeblich darauf gestützt, dass die Beschwerdeführerin betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Nachteile nicht hinreichend plausibel dargelegt habe. Darauf deutete weder Branchenüblichkeit noch die Lebenserfahrung hin, zumal die Verkäuferin auch weniger exponiert als in der Parfümerieabteilung des Kaufhauses eingesetzt werden könne. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sachgerecht ist es auch, dass das BAG eine konkrete Gefahr des Eintritts der von der Beschwerdeführerin befürchteten nachteiligen Folgen verlangt und nicht schon auf einen bloßen Verdacht hin die Glaubensfreiheit der Arbeitnehmerin zurücktreten lässt. Beschluss vom 30. Juli 2003 - Az. 1 BvR 792/03 Karlsruhe, den 21. August 2003 Also: Ab in die Fischabteilung! Dort sind aus hygienischen Gründen Mützchen oder Kopftücher zu tragen; die fällt ein aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch nicht auf. Die „Würde des Menschen“ als oberster Wert unserer Verfassung schützt den Einzelnen auch nach seinem Tod vor u.a. verleumderischen Nachreden, wie das BVerfG in seinem „Mephisto-Urteil“ entschieden hat. Und dieser oberste Wert wurde auch bemüht, als in München vor einer anatomischen Schau auf menschliche Körperteile und Körper Exponate präparierter Leichenteile und ganzer Leichen für schutzbedürftig erklärt wurden: Dem besessenen Plastineur, der mit seiner Schau „Körperwelten“ durch die internationalen Lande zieht, wurde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof untersagt, einige seiner Exponate Verstorbener in München auszustellen, die zuvor in anderen Städten, wie z.B. in Berlin, unbeanstandet gezeigt worden waren. Das Bayerische Gericht schränkte die Gewerbefreiheit des Anatomen aus Art. 2 I GG unter Hinweis auf die in Art. 1 I GG normierte Würde auch des verstorbenen Menschen ein und untersagte die Zurschaustellung einiger Exponate. Und das für den Hamburger Kietz zuständige Bezirksamt hängte sich an diese Begründung an, als die Schau in

674

den bisherigen Räumen des Erotik-Museums am Ende der Reeperbahn gezeigt werden sollte! Viele weltoffene, liberale Hamburger konnten es nicht fassen, dass sie in ihrer Stadt nicht sehen dürfen sollten, was sie ein Jahr zuvor bei einem Tripp nach Berlin hatten sehen können. Grundrech tsabwägung bei Zielkonfli kt zwischen mehreren gleichzeiti g betroffene n Grundrech ten

Wenn Grundrechte kollidieren, ist von je einzelnem Fall zu je einzelnem Fall eine Grundrechtsabwägung erforderlich, weil zur Aufrechterhaltung der Wertordnung des Grundgesetzes jedes Grundrecht in seinem Kernbereich erhalten bleiben muss und nur in seinem Randbereich durch das entgegenstehende Grundrecht eingeschränkt werden darf. Das ist vom BVerfG u.a. in dem so genannten "Lebach-Fall" (BVerfG NJW 73/1226) entschieden worden, wo in dem Fall eines nach Jahren der Strafhaft von den Medien wieder aufgegriffenen Verbrechens eine Abwägung getroffen werden musste zwischen der in Art. 5 I 2 normierten Rundfunkfreiheit des Senders einerseits und dem durch Art. 1 und 2 geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht eines der Täter, der gezeigt und namentlich erwähnt werden sollte, andererseits. Das BVerfG hatte in diesem Fall auch wieder entschieden, dass beide Grundrechte zur Geltung kommen müssten: Der Sender dürfe seine Reportage bringen, dabei aber nicht durch zu ausführliche Berichterstattung mit Bild und Namensnennung des bald zur Entlassung anstehenden Gehilfen des Verbrechens dessen auf Art. 2 fußenden Resozialisierungsanspruch als eine Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verletzen. Das Fernsehen dürfe kein „moderner Pranger“ sein! Durch die Verwaltung radikal beschnitten wurde die Rundfunkfreiheit aber z.B. im Falle einer der sich ständig an Geschmacklosigkeit unterbietenden mindestens zehn täglichen Talk-Shows, als in einer geplanten Talk-Show des Senders Pro-Sieben eine 15-Jährige zu dem Thema auftreten sollte und wollte: „Ich brauche jeden Tag meinen Fick.“ Das zuständige Jugendamt verbot der 15-Jährigen den geplanten Auftritt, woraufhin die Sendung platzte. Der Sender wagte gar nicht erst, einen Rechtsstreit vom Zaune zu brechen. Einer der neuesten Fälle einer Kollision zwischen dem durch Art. 2 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der in Art. 5 I 2 normierten Rundfunk- und Informationsfreiheit ist die vom BVerfG mit fünf gegen drei Richterstimmen im Januar 2001 abgewiesene Klage des Fernsehsenders n-tv auf Übertragung von Gerichtsverhandlungen, was sich an der verweigerten Übertragung der Verhandlungen zu dem „Kruzifix-Rechtsstreit“ (dem Hängenlassen von Kruzifixen in bayerischen Klassenzimmern als Verstoß gegen die „negative Religionsfreiheit“ von Eltern und Kindern) entzündet hatte. Das Minderheitsvotum lautete dahingehend, dass trotz eines möglicherweise entgegenstehenden grundgesetzlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Kläger wegen der wichtigen Rolle der audiovisuellen Medien in einer modernen Informationsgesellschaft, die „zu wichtigen Begleitern fast aller Bürger geworden sind“, zumindest Teile eines die Allgemeinheit bewegenden Gerichtsverfahrens einer breiteren Öffentlichkeit durch Rundfunk- und Fernsehübertragungen zugänglich gemacht werden müssten. Wir sehen einmal wieder: Die Sicht der Grundrechte ist auch an höchster Entscheidungsstelle umstritten. Der Umfang der Grundrechte wird dadurch festgelegt, dass die Mehrheit der entscheidenden Richter des erkennenden Senats des BVerfGs ihn als solchen definiert! Das Übertragungsverbot gilt (erst) seit 1964. § 169 GVG regelt diesbezüglich grundsätzlich: „Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich. Ton und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig.“ Die grundsätzliche Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen gilt nach der Germanenzeit mit dem damals gar nicht anders als öffentlich tagenden Thing aller wehrfähigen Männer als zentrales justizielles Grundrecht in moderner Zeit allgemein erst wieder seit der Französischen Revolution, um Geheimprozessen zur Vollstreckung eines absolutistisch-diktatorischen Herrscherwillens einen festen Riegel vorzuschieben. Dieses Recht ist so demokratiewichtig, dass es, insbesondere nach den Erfahrungen mit der Justiz in der nationalsozialistischen(!) Zeit, ohne weiteres in der Nähe der Art. 101-104 GG als justizielles Grundrecht oder im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes hätte mitgeregelt sein können, meiner Meinung nach sogar hätte geregelt werden sollen! Selbst wenn der Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen – mit Ausnahmen für z.B. Familien- und Jugendgerichtsverhandlungen - für das Justizwesen inzwischen zu einer »Selbstverständlichkeit« geworden ist – ein Grundsatz, der er lange Jahre aber leider gar nicht war –, hätte er zum Neuanfang nach fürchterlicher nationalsozialistischer Justizgeschichte in der Verfassung unseres Staates, und wenn auch nur deklaratorisch, aufgeführt werden sollen. Der Privatsender wollte nun – wohl in Anlehnung an die in den USA mit großem (wirtschaftlichen) Erfolg laufenden sensationslüsternen (hauptsächlich Straf-)Gerichtsreportagen: Gerichts-TV als ultimativer Quotenbringer, je dreckiger die Wäsche, desto höher die Zuschauerquote – eine Aufhebung dieses grundsätzlich geltenden Verbotes erreichen, denn als Ausnahme von dem Grundsatz des Übertragungsverbotes von

675

Gerichtsverhandlungen können Verhandlungen vor dem BVerfG seit 1998 in dem vom Gericht gestatteten Rahmen übertragen werden. Die Mehrheit der Richter des erkennenden Senates des BVerfGs waren jedoch der Ansicht, dass das Verbot zur Sicherung eines fairen Verfahrens weiterhin grundsätzlich notwendig sei. Angeklagte könnten sonst einer „Prangerwirkung“ ausgesetzt werden, Zeugen und Richter könnten sich durch die Anwesenheit von Kameras gehemmt oder auch beflügelt sehen. Dadurch könnte eine ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung zumindest gefährdet werden. Die im Grundgesetz geschützte Rundfunk- und Informationsfreiheit gebiete nicht, in den grundsätzlich öffentlichen Verhandlungen auch TV-Aufnahmen zuzulassen. Die Richter machten aber zugleich deutlich, dass der Gesetzgeber zumindest an einer vorsichtigen Öffnung der Gerichtssäle für die Fernsehöffentlichkeit nicht gehindert wäre. Er sei „von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, wohl aber befugt, die Öffentlichkeit auf die im Raum der Verhandlung Anwesenden zu begrenzen.“ Für das Verständnis des nächsten Falles muss allerdings akzeptiert werden, dass die in dem ersten Abschnitt des GG "I. Die Grundrechte" aus Art. 7 irgendwie hergeleitete und wegen der Kultur(verwaltungs)hoheit der Länder in Landesgesetzen geregelte Schulpflicht ein Grundrecht darstellt. Wozu wäre sonst das Aufsichtsrecht des Staates unter den Freiheitsrechten der Bürger, die die Bürger der Grundidee nach von staatlichen Belastungen und Eingriffen freihalten sollen, erwähnt? Ein staatlicher Erziehungsauftrag kann nur dann sinnvoll erfüllt werden, wenn er nicht nur als Angebot ergeht, sondern alle Kinder sich ihm stellen müssen. Der Staat muss den Kindern dabei das gleiche Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit gewähren und ihnen auch die Chance geben, sich in der Schule mit anderen Werthaltungen auseinander zusetzen. Da »Schule« u.a. auch eine Zuteilungsapparatur von Sozialchancen ist und alle Kinder das Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben, ist die Schulpflicht (auch?) als Grundrecht von Kindern und Jugendlichen zu sehen. „Schulpflicht gilt auch für bibeltreue Christen Von Jochen Leffers Fromme Eltern haben nicht die Wahl, ob sie ihre Kinder selbst unterrichten oder zur Schule schicken - auch wenn sie dort Sexualkunde, Evolutionslehre und "Zügellosigkeit" stören. Das haben Frankfurter Richter in letzter Instanz entschieden Ein bibeltreues Elternpaar aus dem oberhessischen Ehringshausen muss seine Kinder trotz religiöser Bedenken zur Schule schicken. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt hat ein entsprechendes Urteil des Gießener Landgerichts bestätigt. Nach Auffassung der Richter führen auch Glaubens- und Gewissenskonflikte der Eltern nicht zur Aufhebung der allgemeinen Schulpflicht für die Kinder. Das staatliche Schulgestaltungsrecht stehe nicht unter dem Vorbehalt, elterlichen Erziehungsvorstellungen zu entsprechen. Bevor der Fall vor dem OLG landete, hatten sich bereits zwei Vorinstanzen mit einer Klagen der Eheleute Michael und Sigrid Bauer beschäftigt. Sie gehören einer Glaubensgemeinschaft an, die sich in Fragen der Erziehung verpflichtet sieht, den Maßstäben und Vorgaben der Bibel wortgetreu zu folgen. Anstoß nahmen die Bauers vor allem am Sexualkunde- und Religionsunterricht sowie an der Vermittlung der Evolutionstheorie. Deshalb meldeten sie um August 2001 ihre fünf schulpflichtigen Kinder von der Schule ab, die Mutter unterrichtete sie fortan zu Hause. In ihrem alten Bauernhaus richtete die Familie ein Klassenzimmer ein, nur zehn Schritte vom Frühstückstisch entfernt; der Unterricht beginnt morgens stets mit einer halbstündigen Andacht. Die Kinder würden "in der Schule doch zwangssexualisiert" und "regelrecht zur Zügellosigkeit und Ausschweifung animiert", glaubt Vater Michael Bauer. Die Lehrer würden lieber Sexualkunde betreiben, als die Schöpfungsgeschichte zu würdigen; auch stören sich die Bauers an der "unkritischen und ausschließlichen" Weitergabe der Evolutionslehre. Ihrer Ansicht nach unterwandern öffentliche Schulen ihre christlichen Erziehungsideale wie Schamhaftigkeit und Gehorsam. Jetzt vor das Verfassungsgericht? Was ihre insgesamt acht Kinder lernen, wollen die Bauers selbst festlegen. Und überraschend hatte das Amtsgericht Alsfeld sie in erster Instanz freigesprochen, weil den Angeklagten kein schuldhaftes Handeln vorzuwerfen sei und sie nach ihren Überzeugungen zum Besten der Kinder gehandelt hätten. Dann aber hob das Landgericht Gießen das Urteil auf und griff dabei zur mildesten Sanktion, die das Strafgesetzbuch vorsieht, nämlich zu einer Verwarnung mit Strafvorbehalt. Das hessische Schulgesetz ermöglicht auch weit härtere Strafen: "Wer einen anderen der Schulpflicht dauernd oder hartnäckig entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180

676

Tagessätzen bestraft", heißt es dort. Auch das OLG Frankfurt stufte jetzt die allgemeine Schulpflicht höher ein als die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Eltern und folgte der Argumentation der Gießener Richter: Aus der Glaubensfreiheit folge kein Anspruch, sich nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen befassen zu müssen, die der eigenen religiösen Überzeugung widersprechen. Auch Inhalte und Form des Sexualkundeunterrichts bewegten sich noch "im Rahmen dessen, was die Schule sensiblen, anders denkenden Menschen im Ergebnis zumuten" dürfe. Kinder seien in ihrem Alltag zahlreichen Einflüssen durch die moderne Medienwelt und Mitschüler ausgesetzt. Die Schulwirklichkeit entspreche dem, was Kinder allenthalben wahrnehmen, ob die Eltern dies wünschten oder nicht. Die Frankfurter Entscheidung ist rechtskräftig, die Eltern können dagegen keine Rechtsmittel mehr einlegen (Aktenzeichen 2 Ss 139/04). Sie prüfen jedoch, ob sie vor das Bundesverfassungsgericht ziehen oder den Europäischengerichtshof für Menschenrechte anrufen. "Es steht noch nichts fest", sagte Sigrid Bauer.“ (Spiegel Online 30.07.04) SCHULPFLICHT Sieben bibeltreue Väter müssen ins Gefängnis Seit Jahren weigern sich Eltern der Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" in Bayern, ihre Kinder in staatliche Schulen zu schicken. Deshalb müssen sieben der bibeltreuen Väter jetzt eine Haftstrafe antreten. Für die Behörden ist es ein Kreuz mit den starrsinnigen Eltern, für die Mitglieder der "Zwölf Stämme" indes eine Frage des Gewissens. Seit Jahren schon lehnen Eltern der Religionsgemeinschaft "Zwölf Stämme" im nordschwäbischen Klosterzimmern es ab, ihre schulpflichtigen Kinder in eine staatlich anerkannte Schule gehen zu lassen. Mehrfach wurden ihnen Buß- und Zwangsgelder aufgebrummt, die sich inzwischen zu einer sechsstellige Summe auftürmen doch die bibeltreuen Sektenmitglieder zahlten nicht. Jetzt müssen einige Eltern erstmals ins Gefängnis und sollen am 15. Oktober in der Augsburger Justizvollzugsanstalt erscheinen. Wie die Staatsanwaltschaft Augsburg am Freitag bestätigte, wurde gegen sieben Familienväter Erzwingungshaft angeordnet und soll kommende Woche erstmals vollstreckt werden. Die Strafe beträgt zwischen 6 und 16 Tagen. Anschließend sollen einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" auch sechs Mütter eine Haftstrafe antreten. "Wir vollstrecken immer nur gegen ein Elternteil, damit der Erziehungsauftrag gewährleistet werden kann", sagte der Augsburger Oberstaatsanwalt HansJürgen Kolb. Die bibeltreue Gemeinde lebt auf einem ehemaligen Klostergelände in Klosterzimmern. Beseelt von der Tradition der Ur-Christen erwartet sie bald nach der Vereinigung der Zwölf Stämme den Countdown für das Ende der Welt, eine Apokalypse mit Feuer und Flut. Auch bei der Weigerung, die Schulpflicht zu erfüllen, beruft sich die Sekte auf eine "urchristliche Überzeugung". Bereits vor zwei Jahren kam es zu einem Prozess: Das Verwaltungsgericht entschied, dass der von den Eltern propagierte Heimunterricht dem staatlichen Bildungsauftrag widerspreche. Für Gerichtsvollzieher nichts zu holen Nach dem "Gottesgebot" wolle sie die damals 17 Kinder "nach der Bibel erziehen und von der Welt unbefleckt halten", argumentierte die Sekte. Dagegen verstoße unter anderem, dass an staatlichen Schulen die Evolutionslehre und nicht die "reine Schöpfungslehre" unterrichtet werde. Von dieser Haltung ließen die Mitglieder sich auch nicht durch Buß- und Zwangsgelder abbringen. Laut "Süddeutscher Zeitung" hat das Landratsamt Donau-Ries nun 36 weitere Bußgeldbescheide in Höhe von 14.000 Euro erlassen, und am 11. November stehen in Nördlingen abermals Eltern vor Gericht. Ein Sprecher der Glaubensgemeinschaft sagte, Bußgelder und Haft seien nicht geeignete Mittel, gegen eine "Gewissensüberzeugung" vorzugehen. Ein oder zwei Mal im Jahr Mitglieder der "Zwölf Stämme" ins Gefängnis zu stecken, sei keine Lösung. Anfang Oktober 2002 hatten die Behörden es bereits einmal mit einem massiven Polizeieinsatz versucht, was zu dramatischen Szenen führte: Die Bewohner flüchteten unter Glockengeläut in die Kirche, die Kinder klammerten sich an ihre Väter und Mütter. Dennoch brachten die Beamten sie in eine nahe gelegene Grund- und Hauptschule. Doch bald war wieder alles beim Alten. Die Sektenmitglieder beugten sich nicht und zahlten die hohen Geldstrafen nicht; für Gerichtsvollzieher ist bei den armen Ur-Christen wenig zu holen ist. Nun greift die Justiz des Freistaates zu Haftstrafen - mit ungewissen Aussichten. (SPIEGEL ONLINE 13.10.04) SCHULBOYKOTT Väter verweigern Erzwingungshaft

677

Der Konflikt zwischen einer urchristlichen Glaubensgemeinschaft und den bayerischen Schulbehörden spitzt sich weiter zu. Weil sie ihre Kinder nicht in staatliche Schulen schicken, sollten sieben bibeltreue Väter der "Zwölf Stämme" am Freitag ins Gefängnis - aber sie erscheinen einfach nicht. Zwischen 6 und 16 Tagen sollten die Mitglieder der Religionsgemeinschaft hinter Gittern. Damit wollte die Staatsanwaltschaft für die künftige Erfüllung der Schulpflicht bei den Kindern sorgen (SPIEGEL ONLINE berichtete). Doch die Familienväter haben den freiwilligen Antritt der Erzwingsungshaft verweigert und ließen sich am Freitag nicht in der Augsburger Justizvollzugsanstalt blicken. Damit ist ein seit Jahren schwelender Streit neu aufgeflammt. Die "Zwölf Stämme", die sich auf die Tradition der Ur-Christen berufen und im nordschwäbischen Klosterzimmern leben, lehnen insbesondere die Evolutionslehre und den Sexualkundeunterricht an Bayerns Schulen ab. Durch die Verweigerung der Schulpflicht sollen rund 30 Kinder von Alkohol, Drogen, Sex und Gewalt ferngehalten werden. Die Gemeinschaft unterrichtet die Kinder nach den eigenen Prinzipien. Grundsatz der Privaterziehung sei die religiöse Gewissensentscheidung, "über die Seelen der Kinder zu wachen, um sie nicht beschmutzt werden". Bußgelder über 150.000 Euro Gegen den Schulboykott waren Schulbehörden, Staatsanwaltschaft und Gerichte bisher vor allem mit Bußgeldern vorgegangen; vor zwei Jahren gab es zudem einen Polizeieinsatz, um die schulpflichtigen Kinder in staatliche Schulen zu bringen. Doch die Bußgelder - insgesamt rund 150.000 Euro - wurden nie gezahlt. Holger Röhrs, Sprecher der Glaubensgemeinschaft, erklärte am Freitag, aus Glaubens- und Gewissensgründen Bußgelder wie Beugehaft abzulehnen: "Beugehaft ist ein ungeeignetes Mittel, um wahre Überzeugung zu ändern." Er bedauerte die Eskalation, die sich zu Lasten der Kinder und der Familien auswirke. "Es geht um eine Gewissensentscheidung, wir können nicht anders. Wir werden die Erziehung unserer Kinder nicht abgeben." Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) habe bei der Behandlung der Probleme mit der Glaubensgemeinschaft das "Fingerspitzengefühl" verloren und fahre die "harte Linie", kritisierte Röhrs. Von Anfang an habe das Ministerium auf Konfrontation gesetzt, statt auf Gesprächsangebote zu reagieren. "Wir sind keine gesetzlosen Leute, wir stehen auf dem Boden des Grundgesetzes", so Röhrs. Im übrigen sei "auch Konrad Adenauer zu Hause unterrichtet worden. Schulpflicht ist kein Garant für Bildungserfolg. Ministerium will Rechte der Kinder schützen Das bayerische Kultusministerium wies die Vorwürfe zurück. Das Ministerium habe den Eltern immer wieder aufgezeigt, welche Unterrichtsmöglichkeit auch außerhalb des staatlichen Schulwesens bestehen, so ein Sprecher. Indes habe die Glaubensgemeinschaft sich nie auf einen echten Dialog eingelassen. Ein demokratischer Staat müsse Kindern das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gewähren, begründete das Ministerium die Schulpflicht auch für die Kinder der "Zwölf Stämme". Dazu gehöre, dass Kinder die Chance haben müssten, sich in der Schule mit anderen Werthaltungen auseinander zu setzen. Es gehe dem Ministerium nicht um die Kriminalisierung der Eltern, sondern um den Schutz der Rechte von Kindern. Die Augsburger Staatsanwaltschaft kündigte die Ausstellung von Vorführ-Haftbefehlen gegen die sieben Familienväter an, ließ den Zeitpunkt der Festnahmen aber offen. Wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtet hatte, sollen nach den Vätern auch sechs Mütter eine Haftstrafe antreten. Vollstreckt werde "immer nur gegen ein Elternteil, damit der Erziehungsauftrag gewährleistet werden kann", so Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Kolb. (SPIEGEL ONLINE 16.10.04) Der Staat lässt sich nicht gerne auf der Nase rumtanzen: irgendwann wird er - hoffentlich streng rechtsstaatlich aktiv: Schulboykott: Väter in Haft Augsburg - Die Polizei in Augsburg hat sieben Familienväter festgenommen, die sich seit zwei Jahren aus religiösen Gründen weigern, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Die Männer, die in Erzwingungshaft genommen wurden, sind Mitglieder der christlichen Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme". epd (HH A 19.10.04) Einen ähnlich gelagerten Konflikt in Nordrhein-Westfalen versuchte man eleganter zu lösen: durch die

678

Gründung einer Privatschule. BAPTISTEN-FAMILIEN Schulboykotteure wollen eigene Schule gründen Aus religiösen Gründen weigern sich sieben baptistische Familien im Kreis Paderborn, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Nun gibt es kleine Fortschritte: Die Eltern lehnen die Schulpflicht nicht mehr rundweg ab und denken über eine eigene Schule nach. In den nächsten Tagen wollen die Familien einen Antrag auf Gründung einer neuen Privatschule vorlegen. Sie hätten zugesagt, ihre Kinder nicht mehr zu Hause zu unterrichten, sagte eine Sprecherin der Bezirksregierung in Detmold. Allerdings lehnen die Eltern den Kompromissvorschlag des Landes, die insgesamt 15 Kinder in staatlich anerkannten Bekenntnisschulen in Nachbarkommunen unterrichten zu lassen, ab. Auch Gespräche mit dem Landesintegrationsbeauftragten Klaus Lefringhausen hätten sie nicht umstimmen können, so die Sprecherin. Die Eltern sind streng gläubige Baptisten und mehrheitlich aus Kasachstan zugewandert. Sie lehnen für ihre Kinder den Besuch staatlicher Schulen bereits seit einigen Monaten ab, berufen sich auf ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit und nehmen Anstoß vor allem am Unterricht in Religion und Sexualkunde. Nach ihrer Auffassung wird in den Grundschulen vor allem zu freizügig über Sex gesprochen; sie wollen ihre Kinder deshalb zu Hause unterrichten und dazu das Lehrmaterial von zwei Fernschulen nutzen (SPIEGEL ONLINE berichtete). Auch Ermahnungen und Bußgelder konnten die Eltern nicht umstimmen. Bereits im Dezember hatte der Kreis in sieben Fällen Bußgeldbescheide verhängt; das Amtsgericht Paderborner verurteilte ein Elternpaar vor ein paar Tagen wegen des Verstoßes gegen das Schulpflichtgesetz zu einer Geldbuße von 500 Euro. Der Unmut der Lehrer wächst Nach Angaben der Zeitung "Neue Westfälische" wurden auch gegen zwei Verantwortliche des Vereins "Schule zu Hause" Bußgelder verhängt. Gegen die Geschäftsführerin ist zudem eine Strafanzeige bei der Paderborner Staatsanwaltschaft eingegangen. Lehrer werfen dem Verein Beleidigungen und Diffamierungen vor. Der Zeitung zufolge hatte die Geschäftsführerin Ingrid Günther unter anderem behauptet, die Kinder würden an den staatlichen Schulen in eine "freizügige Sexualpraxis" eingeführt, die ihre Intimsphäre verletze und ihre Menschenwürde missachte. Ähnlich äußerte sich auch Helmut Stücher, Gründer der "Philadelphia-Schule", die für Heimunterricht eintritt und die Paderborner Schulboykotteure offenbar unterstützt. Diese Fernschule ist staatlich nicht anerkannt. In einem Schreiben an das Schulministerium hat der Hauptpersonalrat für die Grund- und Hauptschulen NRW das Land zum Handeln aufgefordert. Laut einer Umfrage des nordrheinwestfälischen Schulministeriums halten derzeit im Land insgesamt 26 Eltern ihre 42 Kinder von der Schule fern. Die Schulbehörden wollen ihr Vorgehen jetzt abstimmen. Im Paderborner Fall drohen den Eltern momentan keine Zwangsmaßnahmen. Die vor drei Wochen von den betroffenen Schulen verschickte schriftliche Androhung, die Kinder notfalls von der Polizei zum Unterricht abholen zu lassen, wird vorläufig nicht vollstreckt. Ralph Fleischhauer, Sprecher des Schulministeriums in Düsseldorf, sieht einen kleinen Fortschritt im Zwist um die Schulpflicht: "Die Eltern sehen mittlerweile ein, dass sie ihre Kinder auf eine Schule schicken müssen und nicht zu Hause unterrichten dürfen", sagte er. Nun müsse der Antrag auf Schulgründung abgewartet werden. Religiöse Überzeugungen stünden zwar unter einem besonderen Schutz, dennoch müsse sich auch eine Ersatzschule der staatlichen Schulaufsicht unterstellen. "Schulpflicht ist unserer Ansicht nach ein Kinderrecht", stellte Fleischhauer die Position des Schulministeriums klar. SPIEGEL ONLINE 08.02.05

Im Staate Dänemark ist nach im Hamlet geäußerter Meinung Shakespeares zwar etwas faul, aber es ist dort trotzdem freier. Diesen Rechtsstreit bezüglich der Schulpflicht, um den Kindern die Wahrnehmung eines ihrer Grundrechte zu ermöglichen, damit sie bessere Zukunftschancen für ihr Leben in der Gesellschaft erhalten, kann es dort nicht geben, denn dort gibt es keinen staatlichen Bildungsauftrag für Kinder und folglich keine prinzipielle Pflicht zum Besuch einer Schule. Stattdessen besteht ein privater Erziehungsauftrag der Eltern, dem die auf verschiedenen Wegen nachkommen können. Es ist gesetzlich nur eine Unterrichtungspflicht festgelegt, die auch durch die Eltern in Hausunterricht wahrgenommen werden kann, wenn sie ihre Kinder nicht auf eine

679

staatliche Schule schicken mögen. Gäbe es keine alle Kinder erfassende Schulpflicht, hätten wir – besonders in den unteren Schichten der Gesellschaft - schnell wieder die frühindustriellen Verhältnisse, dass Kinder aus armen Familien nicht zur Schule, sondern zur Arbeit geschickt und so ihre Sozialchancen in nicht akzeptabler Weise verkürzt werden oder ältere Kinder aus kinderreichen Familien zur Entlastung der Mutter auf die kleineren, noch nicht schulfähigen Geschwister aufpassen müssen und so in ihrer eigenen Ausbildung zu kurz kommen. All das hatten wir schon, und gebranntes Kind scheut das Feuer. Und wenn die Kinder zur Schule gehen, gibt es weitere juristische Probleme, wieder aus religiösen Gründen: "Kopftuch statt Kopfstand Hatice ist 16 Jahre alt, besucht ein Gymnasium in Bochum und bekennt sich als gläubige Moslemin. Öffentlich zeigt sie nur ihr Gesicht, alles andere verhüllt sie unter weiten Kleidern und Kopftuch, um dem Keuschheitsgebot des Korans Genüge zu tun. In diesem Sinne haben sie ihre aus der Türkei stammenden Eltern erzogen. Hatice ist auch sportlich. Solange sie unter Mädchen ist, `trete ich sogar ohne Kopftuch an', sagt sie. Aber in dem städtischen Gymnasium für Jungen und Mädchen in Bochum, das sie besucht, ist das nicht möglich - und da fängt das Dilemma an. Die von Hatice und ihren Eltern beantragte Befreiung vom gemeinschaftlichen Sportunterricht wurde von der Schulaufsichtsbehörde nicht gestattet. Dagegen hat die türkische Familie geklagt, bis die Sache vor das Oberverwaltungsgericht in Münster kam. Dort entschieden die Richter, daß in einer pluralistischen Gesellschaft, in der Angehörige unterschiedlicher Religionen lebten, jeder Abstriche machen müsse. Der staatliche Erziehungsauftrag gebiete es, daß Hatice am Sportunterricht teilnehme. Ihre Blöße lasse sich dabei mit entsprechender Kleidung verdecken. Der ebenfalls den Frauen im Islam untersagte Anblick teils unbekleideter Männer sowie die verbotene Berührung fremder Dritter müsse eben hingenommen werden. So etwas passiere ja auch versehentlich auf der Straße. Mit diesem Richterspruch zu leben, ist Hatice immerhin so schwer gefallen, daß sie für ihren Anspruch auf Religionsfreiheit in allen Instanzen gekämpft hat, bis zum Bundesverwaltungsgericht in Berlin. Dort schilderte sie den Richtern am Mittwoch die Probleme damit, in den Sportstunden die Anweisungen der Lehrer und die Gebote des Korans gleichzeitig zu beachten. `Für mich ist das eine Qual, das macht mir richtigen seelischen Druck.' Hatice setzte sich durch. Würde sie in Bremen leben, wäre es gleich eine andere Sache gewesen. Dort entschied das Oberverwaltungsgericht in einem vergleichbaren Fall, daß religiöse Toleranz gegenüber einer `keineswegs übersteigerten Glaubenshaltung' gefordert sei, anstatt eine junge Türkin zur Integration zu zwingen. I. GÜNTHER (BERLIN)" (FR 26.08.93) "Türkinnen vom Sport befreit Gericht bewertet Religionsfreiheit höher als Erziehungsauftrag Von unserer Korrespondentin Inge Günther BERLIN, 25. August. Türkische Mädchen islamischen Glaubens dürfen nicht zum koedukativen (für beide Geschlechter gemeinsamen) Sportunterricht gezwungen werden. Dies hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichtes (BVG) in Berlin am Mittwoch entschieden. Damit maßen die Richter der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit gegenüber dem staatlichen Anspruch auf Erziehung das größere Gewicht bei (AZ.: 6 C 891 und 6 C 3c 92). Nach Auffassung des BVG muß eine staatliche Schulverwaltung sämtliche organisatorischen Möglichkeiten nutzen - etwa einen nach Jungen und Mädchen getrennten Unterricht anzubieten -, um islamische Schülerinnen nicht einem ‘unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt' auszusetzen. Solange dies nicht geschehe, könnten die Betroffenen ihr Recht auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht geltend machen. Der Entscheidung lagen zwei gegensätzlich begründete Revisionsanträge zugrunde. In einem Fall hatte sich eine Türkin auf ihre Religionsfreiheit berufen und gegen die Entscheidung eines Oberverwaltungsgerichtes geklagt, wonach sie zum gemeinschaftlichen Sportunterricht (auch mit Jungen also) verpflichtet sei. Ihren Religionsvorschriften könne sie durch entsprechende Kleidung Genüge tun, hatte es darin geheißen. In dem anderen Fall wollte der Stadtstaat Bremen eine dort gefällte Entscheidung aufgehoben wissen, in der von einer multikulturellen Gesellschaft stärkere Rücksichten auf ihre religiösen Minderheiten verlangt worden waren. Der Berliner Senat unter dem Vorsitzenden Richter Norbert Niehues hatte in seiner Erörterung argumentiert, bei einer Abwägung stehe der Staat in der Verantwortung, religiösen Konflikten

680

vorzubeugen." (FR 26.08.93) Diese Entscheidung gilt dann natürlich erst recht für den noch entblößter vorgenommenen Schwimmunterricht. Aber: Ohne Sportunterricht kann man leben, das beweisen zahlreiche Schülerinnen und Schüler, die sich davor zu drücken versuchen, ohne Schwimmfertigkeiten im Ernstfall nicht - das beweisen ertrunkene Kinder! Und in der referierten Sicht der Dinge kann ein Bruch in der Rechtsprechung des BVerwGs deswegen gesehen werden, weil es die Klage einer deutschen Mutter, die ihre Tochter unter Berufung auf Bibelstellen sowie die Schamhaftigkeit und Sittsamkeit ebenfalls vom koedukativen Sportunterricht befreien lassen wollte, mit der Begründung ablehnte, die religiöse Überzeugung sei „erheblich überzogen“ (STERN 01.04.04). Es ist auch noch sehr die Frage, ob mit solchen Entscheidungen die Religionsfreiheit der Mädchen geschützt wird – oder das Elternrecht auf Erziehung ihrer Kinder und die Religionsfreiheit strenggläubiger bis fundamentalistisch ausgerichteter Eltern, die ihre Töchter aus Gründen der von ihnen sonst als gefährdet angesehenen Familienehre zu einem solchen emanzipatorische Einflüsse abschottenden Verhalten zwingen! Einige Verwaltungsgerichte scheinen die bisherige Rechtsprechung zu der vorstehenden Problematik aufweichen zu wollen: Muslimin (9) muß am Schwimmen teilnehmen Urteil: Politiker aller Parteien begrüßen Entscheidung des Hamburger Verwaltungsgerichts. Ein neun Jahre altes Mädchen pakistanischer Herkunft muß am Schwimmunterricht in der Schule zusammen mit Jungen teilnehmen. Das hat das Verwaltungsgericht entschieden. In dem Streit zwischen Bildungsbehörde und strenggläubigen Muslimen ist es das erste Urteil für ein Kind dieser Altersgruppe. "Ich begrüße die Entscheidung, die an Klarheit nichts zu wünschen übrigläßt", sagte Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig. Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts haben die Eltern des Mädchens bereits Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht eingelegt. Die Eltern hatten die Teilnahme ihrer Tochter am Schulschwimmen mit der Begründung verweigert, daß das nach ihrer Religion eine Sünde sei. Das Tragen von Badekleidung widerspreche den Vorschriften des Islam. Die Familie gehört der Glaubensrichtung der Ahmadiyya an, die Ende des 19. Jahrhunderts in Indien entstand. Das Verwaltungsgericht machte in seiner Entscheidung deutlich, daß die Schulpflicht das Schulschwimmen umfasse. In der Abwägung zwischen dem Erziehungsauftrag des Staates und der Religionsfreiheit gebühre dem schulischen Erziehungsauftrag der Vorrang. Der Sportunterricht erfülle dabei wichtige Erziehungsaufgaben. Der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen diene auch dazu, die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu verankern. Zentrales Moment der Entscheidung ist das Alter des Kindes. Das Gericht verweist darauf, daß die Bekleidungsvorschriften des Korans nicht für Mädchen vor der Geschlechtsreife gelten. Das steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das zugunsten der Familie eines älteren muslimischen Mädchens entschieden hatte, das vom Schwimmunterricht befreit ist. Nach Informationen des Abendblatts besucht das neunjährige Mädchen die dritte Klasse einer Grundschule in Mümmelmannsberg. Zu Beginn des Schuljahres hatten sich die Eltern geweigert, ihr Kind am Schwimmunterricht teilnehmen zu lassen. Gespräche der Schulleitung und von Mitarbeitern der Beratungsstelle REBUS mit den Eltern führten zu keinem Erfolg. Schließlich leitete die Behörde ein Bußgeldverfahren ein. Die Bildungsexperten von CDU, SPD und GAL begrüßten die Entscheidung. "Wir sind dafür, die Schulpflicht in allen Punkten durchzusetzen", sagte Robert Heinemann (CDU). "Das Gericht beweist, daß die Schulpflicht ohne Gesetzesverschärfung durchgesetzt werden kann", sagte Britta Ernst (SPD), die damit auf die vom Senat geplante Einführung des Schulzwangs anspielt. ... Hakki Keskin, Chef der "Türkischen Gemeinden in Deutschland" freut sich über den Richterspruch: "Ich begrüße die Entscheidung. Sie schafft Klarheit. Nur so kann die Schulpflicht von jedem erfüllt werden." Der Islam gewähre eine Flexibilität je nach den gegebenen Umständen. pum/gen (HH A 20.04.05) „In der Abwägung zwischen dem Erziehungsauftrag des Staates und der Religionsfreiheit gebühre dem schulischen Erziehungsauftrag der Vorrang.“ Das sind wahrlich neue Töne! Ob das BVerfG, das letztlich über die Teilnahmeverpflichtung am Sportunterricht als Ausfluss des Erziehungsauftrags des Staates in Abwägung zur Religionsfreiheit verbindlich wird urteilen müssen, das genau so zu sehen vermag, steht dahin! Die Abwägungen des BVerfGs sind oft nicht vorhersehbar und seine Entscheidungen nicht immer

681

nachvollziehbar! Aber sicher scheint mir, dass die Eltern eines muslimischen Jungen mit ihrer „erheblich überzogenen“ Haltung vor Gericht keine Chance haben werden, Gehör zu finden: URTEIL ZUM SCHWIMMUNTERRICHT Auch Muslime müssen mitmachen Schulfahrten, Sexualkunde und Schwimmunterricht bringen strenggläubige Muslime oft in Konflikt mit der Schulpflicht in Deutschland. Ein Düsseldorfer Gericht wies den Antrag von Eltern zurück, die ihrem Sohn den Anblick von Mitschülerinnen in Badeanzug oder Bikini ersparen wollten. Religiöse Bedenken der Eltern sind kein Grund, einen Schüler vom Schwimmunterricht fernzuhalten. Das entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf am Montag in einem bundesweiten Präzedenzfall (Aktenzeichen 18 K 74/05). Die islamischen Eltern des Elfjährigen hatten beantragt, den Schüler zu befreien, um ihm den Anblick leicht bekleideter Mädchen in Badeanzügen und Bikinis zu ersparen. Dies ist nach Meinung der Eltern mit dem Koran und islamischen Werten nicht vereinbar. Im Schwimmbad könne ihr Sohn, der die fünfte Klasse einer Realschule in Wuppertal besucht, zudem die für islamische Jungen geltenden Bekleidungsvorschriften nicht einhalten. Das Verwaltungsgericht wies die Klage auf Befreiung ab: Die religiösen Vorschriften, die der Teilnahme angeblich entgegenstehen, seien nicht nachvollziehbar. Es sei fragwürdig, ob das Schwimmen mit der Schulklasse überhaupt einen religiösen Gewissenskonflikt auslöse. "Es ist nicht unsere Aufgabe, die Auslegung des Koran zu hinterfragen", sagte der Vorsitzende Richter Uwe Sievers. Leicht bekleidete Menschen überall Ein muslimischer Junge sei im Sommer in Deutschland jederzeit an öffentlichen Plätzen, Wiesen und auf Werbeplakaten dem Anblick "locker bekleideter Leute ausgesetzt", so der Richter in der mündlichen Verhandlung Bei Abwägung widerstreitender Interessen habe der staatliche Bildungsauftrag Vorrang vor der Religionsfreiheit und dem elterlichen Erziehungsrecht, befanden die Richter in ihrer Urteilsbegründung. Die Teilnahme am Schwimmunterricht sei zumutbar. Das Gericht schlug verschiedene Maßnahmen vor, wie der möglicherweise entstehende Gewissenskonflikt abgemildert werden könne, etwa durch das Tragen einer knielangen Badehose oder durch nach Geschlechtern getrennte Umkleiden. Außerdem verbleibt den Eltern nach Auslegung der Verwaltungsrichter ohnehin ein umfassender Einfluss auf ihr Kind. Zu Konflikten zwischen Schulen und muslimischen Eltern über den Sport- und den Sexualkundeunterricht war es in der Vergangenheit immer wieder gekommen. Die Behörden in Berlin und anderen Städten mit einem hohen Einwandereranteil berichten von einer steigenden Zahl muslimischer Eltern, die ihre Kinder aus religiösen Gründen vom Sport- und Biologieunterricht abmelden oder nicht an Klassenfahrten teilnehmen lassen - laut Bildungssenator Klaus Böger (SPD) ein "drängendes Problem". Die Senatsverwaltung in Berlin verzeichnete im laufenden Schuljahr 68 Befreiungen vom Schwimmunterricht, davon 61 aus gesundheitlichen Gründen. Außerdem wurden 18 Anträge auf Befreiung vom Sexualkundeunterricht registriert, von denen aber nur dreien stattgegeben wurde. Abstriche von der Weltanschauung Ähnlich wie ihre Kollegen in Düsseldorf hatten im vergangenen Jahr Richter des Hamburger Verwaltungsgerichts entschieden. Sie lehnten das Ansinnen einer türkischen Mutter ab, ihre beiden 14 und 15 Jahre alten Töchter vom Sexualkundeunterricht freizustellen. Sexualität finde im Islam nur in der Ehe statt, vorher gebe es keinen Aufklärungsbedarf, so hatte die Mutter argumentiert. Das Schulgesetz verpflichte alle Schüler zur Teilnahme am Biologieunterricht, befanden die Hamburger Richter, auch wenn Sexualkunde auf dem Stundenplan stehe. Die Eltern müssten dabei Abstriche "von einer absolut gesetzten Weltanschauung hinnehmen". Erst vor zwei Monaten hatte das Verwaltungsgericht Hamburg die Klage von pakistanischen Eltern zurückgewiesen, die ihre Tochter vom Schwimmunterricht befreien wollten. Die Rechtsprechung war in der Vergangenheit allerdings nicht immer so eindeutig zugunsten der Schulpflicht und des staatlichen Bildungsauftrages ausgefallen: Im Fall einer türkischen Schülerin entschied das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 1993, die Schulverwaltung sei für einen "schonenden Ausgleich beider Rechtspositionen" verpflichtet, "alle ihr zu Gebote stehenden, zumutbaren organisatorischen Möglichkeiten auszuschöpfen". Eine Schülerin, die fürchtete, sie können auf einer Klassenreise den Geboten ihres Glaubens nicht nachkommen, bekam 2002 vorm Oberverwaltungsgericht Münster teilweise recht: "Es spricht Überwiegendes dafür, dass die geschilderten Zwänge und Ängste (...) bei der Antragstellerin bereits

682

Krankheitswert erreichen, so dass sie (...) begründet verhindert ist, an der Klassenfahrt teilzunehmen." Die Anwältin der Düsseldorfer Kläger machte ebenfalls geltend, dass muslimische Mädchen nach bundesdeutscher Rechtsprechung vom Schwimmunterricht befreit werden können. Es sei nicht einzusehen, warum dies Jungen verwehrt werde. Sie will nun prüfen, ob sie gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegt. (SPIEHGEL OMLINE 01.06.05)

Ich hatte zu Beginn des Buches erklärt, dass es meine Absicht u.a. auch sei, zum verständigen Lesen von noch so unbedeutend erscheinenden Zeitungsmeldungen anzuleiten und ihrem juristischen Gehalt nachzuspüren. Nachdem Sie nach der Behandlung der Kopftuch-Fälle und der Problematik des Schächtens über das grobe juristische Raster verfügen müssten, um Ihre juristische Wertentscheidung zu treffen, nun die Kurzmeldung mit, wie ich finde, juristischem Dynamit: „Mit Schleier keine Sozialhilfe Mainz – Weil sie sich weigert, ihre Vollverschleierung abzulegen, erhält eine junge Muslimin künftig keine Sozialhilfe mehr. Dies geht aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts Mainz hervor. Die Begründung: Die Vollverschleierung sei ein ’Vermittlungshindernis’. (AZ.: 1 L 98/03.MZ). (dpa)“ (HHA 07.03.03) Die Richtigkeit des geschilderten Sachverhaltes sei einmal unterstellt, auch wenn sich gleich noch auszuführende Bedenken auftun. Man wird dem Verwaltungsgericht insoweit Recht geben, dass es irgendwo einer Bremse bedarf, wenn sich Leute - um ihren Freiheitsdrang nicht einzuengen - nur auf die faule Haut legen und von schmarotzter Sozialhilfe leben wollen, wie es aber der Fall ist, wenn man bei schönem Wetter nicht auf einer Parkbank in der Sonne sitzen kann, sondern in einer stinkenden Fabrikhalle malochen müsste. Das kann einem die Laune für den ganzen Tag verderben! Darum entziehen sich viele der Verpflichtung, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen und nassauern bei der Gemeinschaft der Arbeitenden, die durch ihre Steuern die Mittel aufbringen, die den Staat erst in die Lage versetzen, Sozialhilfe leisten zu können. Leider machen bei diesem „Spiel“ mit den Behörden zu viele Ärzte mit und stellen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus, um die Behörden auszutricksen. Ich fand es beschämend, einen längeren Artikel hierüber und viele der angewandten Tricks im STERN zu lesen. Wer aber nicht arbeiten und nicht durch ausreichende eigene Mittel sein Existenzminimum bestreiten kann, hat einen Anspruch auf staatliche Unterstützung, damit er nicht ins Elend abgleite. Von den die Einzelfälle ausgestaltenden einzelgesetzlichen Anspruchsgrundlagen einmal abgesehen, leitet sich dieser Anspruch letztlich aus der in Art. I 1 GG verbrieften Menschenwürde ab. Es ist unter der in unserer Gesellschaft praktizierten Menschenwürde, Menschen wie Tiere verkommen zu lassen, ohne für ihr existenzsicherndes Wohlergehen Sorge zu tragen! Damit haben wir das erste Grundrecht zu fassen – auch wenn es in diesem Fall nicht ausreichend trägt, denn dann dürfte es ja keine staatliche Notbremse gegen Sozialhilfeschmarotzer geben. Nehmen wir einmal ganz einleuchtend an, dass für einen gesunden Menschen die Verpflichtung bestehe, alles in seiner Kraft Stehende zu tun, um der Gemeinschaft nicht unberechtigt zu Last zu fallen. Wie ist es dann aber in dem Fall der vorstehenden Zeitungsnotiz zu werten, wenn die Muslimin behauptet, zu ihrer religiösen Überzeugung gehöre es, sich außerhalb ihrer Wohnung nur voll verschleiert sehen zu lassen? Und Art. 4 I GG garantiert die uneingeschränkte Glaubensfreiheit, eines der wenigen in unserer Verfassung ohne jeglichen Gesetzesvorbehalt uneingeschränkt gewährten Grundrechte, das nur durch die unserer Wertordnung immanenten Schranken eingeschränkt werden könnte: Der schon früher angesprochene „Sati“-Brauch der Witwenverbrennung z.B. könnte nicht unter Berufung auf die Religionsfreiheit durchgesetzt werden. Selbstverständlich kann argumentiert werden, dass von den grundlegenden religiösen Vorschriften her keine Muslimin in Vollverschleierung rumlaufen müsse: Die (überwiegend) muslimischen Länder sind voll von Frauen ohne Schleier mit offenen Haaren und geschminkten Lippen und manchmal sogar erfreulich kurzen Röcken – was diese hier klagende Muslimin für sich sicher als unvorstellbar von sich weisen würde. Bei der juristischen Problematik des Schächtens hatte das BVerfG aber entgegen den Rechtsauskünften der höchsten sunnitischen Autorität und dem Religionsministerium an Ankara, deren Gutachten das BVerwG zur Grundlage seines das Schächten durch einen muslimischen Schlachter ablehnenden Urteils gemacht hatte, entschieden, dass das Schächten auch dann zu erlauben sei, wenn es zwar vom Glauben her nicht für alle in der Diaspora lebenden Muslime zwingend vorgeschrieben sei, eine kleine Gruppe der Muslime aber geltend mache, dass zu ihrer Glaubensüberzeugung das Schächten unumstößlich dazu gehöre. Wo sollte der rechtliche Unterschied sein, wenn die klagende Muslimin zwar zugesteht, dass nicht alle

683

muslimischen Frauen in Vollverschleierung herumlaufen müssten, ihre Glaubensüberzeugung es aber von ihr verlange, ausschließlich so gekleidet am öffentlichen Leben teilzunehmen? Der Fall könnte ohne weiteres beim BVerfG landen, wenn nicht die nächsthöhere Verwaltungsgerichtsinstanz anders entscheidet, oder es dem Arbeitsamt gelingt, der Frau eine Arbeitsstelle auf einem türkischen Großmarkt nachzuweisen, wo ihr hier befremdlich wirkender Aufzug toleriert würde. Das BVerfG kann der Sozialhilfe begehrenden, sich (aber) nur in Vollverschleierung in der Öffentlichkeit zeigenden Muslimin nach meinem Dafürhalten die Zahlung von Sozialhilfe nicht verweigern, und dafür nicht als Begründung angeben, sie sei so nicht vermittelbar: Jeder in Ganzkörpertätowierung mit Irokesen- oder anderem auffälligen Haarschnitt herumlaufende Punk erhält ja auch »Stütze«; wovon sollte er sonst sein vieles Bier und das Hundefutter für seinen oft vorhandenen und meist ausgesprochen friedlich neben ihm liegende vierbeinigen Begleiter kaufen können?

5.5 Justizielle Grundrechte der Art. 101 bis 104 GG Justizielle Grundrecht e der Art. 101 bis 104 GG

Der nächste Fall setzt zunächst das Wissen voraus, dass nicht nur in dem ersten Abschnitt des Grundgesetzes, der mit der Überschrift "Die Grundrechte" versehen ist, unsere Grundrechte festgeschrieben sind, sondern dass es daneben auch noch politische (Recht auf Zugang zu jedem öffentlichen Amt gemäß Art. 33 II GG und der Wahlrechtsgrundsatz des Art. 38 I GG) und die so genannten "justiziellen Grundrechte der Art. 101 bis 104 GG gibt. Letztere sind ein bisschen systemwidrig von den anderen Grundrechten getrennt in dem Abschnitt "IX. Die Rechtsprechung" untergebracht worden, weil es sich dabei zum Teil auch um strafprozessuale Grundrechte handelt. Sie sind das Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes der Bürger gegen den Obrigkeitsstaat auf dem äußerst mühseligen Weg vom Untertan zum Staatsbürger. Wie es vor weniger als 200 Jahren in Deutschland noch gewesen war, macht das Beispiel des für damalige Verhältnisse liberal gesinnten, aber trotzdem wertkonservativen Regimegegners "Turnvater Jahn" deutlich: Als der Mitbegründer der freiheitlichen Burschenschaften und spätere Abgeordnete des Paulskirchen-Parlamentes von 1848 wegen seiner auf die Erneuerung Preußens abzielenden Bestrebungen, in denen die erstarkende Restauration den Untergang des Gottesgnadentums erblickte, 1819 nach Abbruch der preußischen Reformen verhaftet worden war, wollte das Kammergericht in Berlin den Fall an sich ziehen. Die preußische Regierung erklärte aber dem höchsten Gericht des Landes aus ihrem obrigkeitsstaatlichen Staatsverständnis heraus, die Gerichte hätten sich nicht in "polizeyliche Verhaftungen" einzumischen und müssten warten, bis ihnen eine Sache übergeben werde. Jahn saß bis 1825 ohne gerichtliches Verfahren in Festungshaft, weil die Untertanen Preußens bis dahin kein die Bürger vor willkürlicher Verhaftung schützendes Recht hatten erstreiten können, wie es den Engländern mit dem 1679 ihrem Monarchen abgerungenen "Habeas-Corpus-Act" gelungen war. Viele leidvolle Erfahrungen der ohnmächtigen Menschen mit einer ungezügelten Staatsmacht, viele Martyrien sind in den nunmehr geltenden justiziellen Grundrechten verarbeitet! Auch an dieser Stelle wird wieder deutlich, dass in unserem Grundgesetz die historische Erfahrung der 12 schlimmsten Jahre unserer jüngsten Geschichte (1933 - 45) aufgearbeitet worden ist und dass Verfassungen und Gesetze Antworten auf historische Erfahrungen sind. Um Beispiele für willkürliche Verhaftungen zu finden, hätten wir nicht erst ca. 200 Jahre zurückgehen müssen. Nur 60 Jahre zurück, und wir finden sie millionenfach im Deutschland der Nazi-Diktatur. Um diesen in frischer Erinnerung verbliebenen Gefahren zu wehren, verbietet z.B. Art. 101 I GG die Errichtung von Ausnahmegerichten (Sondergerichte außerhalb der allgemeinen Gerichtsverfassung für bestimmte Fälle oder Personen), wie es u.a. der berüchtigte Volksgerichtshof gewesen ist; außerdem waren ab März 1933 in jedem OLG-Bezirk Sondergerichte (Gerichte für bestimmte Sachgebiete im Rahmen der allgemeinen Gerichtsverfassung mit von vornherein gesetzlich festgelegter Zuständigkeit, die die Rechte der Angeklagten stark beschnitten, und gegen deren Entscheidungen es keine Rechtsmittel gab) zur Aburteilung politischer Straftaten gebildet worden. Wie im Teil "Die Funktion des Rechts im Nationalsozialismus" detailliert dargestellt worden war, waren unliebsame Mitbürger damals wegen Nichtigkeiten oder einer freien Meinungsäußerung oder auch nur in "Sippenhaft" für im Exil unerreichbare, politisch Unliebsame (Fall Remarque) hingerichtet worden. Damit so etwas nicht wieder geschieht, bestimmt der "Art. 102 GG Die Todesstrafe ist abgeschafft." Diese Bestimmung zählt aber nicht zu dem unveränderbaren »verfassungsfesten Minimum«. Eine Änderung dieses Artikels wäre gemäß Art. 79 GG möglich. Hierfür hatte sich der inzwischen verstorbene CSU-

684

Bundestagsabgeordnete und spätere Justizminister Dr. Jäger immer wieder so vehement eingesetzt, dass er von seinen politischen Gegnern nur noch "Kopf-ab-Jäger" geschimpft worden war. Und 1989 forderte der Vorsitzende der Jungen Union Bayerns und CSU-Kandidat für die Europa-Wahl, Müller, die Einführung der Todesstrafe für Rauschgifthändler. (Diese extreme Ansicht war aber auch in der CSU nicht mehrheitsfähig. Darum wurde die Todesstrafe zum 50. Jahrestag der bayrischen Verfassung 1996 daraus gestrichen.) Es geht auch ohne Todesstrafe, wie das Beispiel Portugals lehrt. Dort ist die Todesstrafe seit rund 200 Jahren abgeschafft - ohne dass das Land in einer Sturzsee von Verbrechen versänke. Selbst unter der »rechten« Diktatur des Salazar-Regimes hatte diese juristisch-soziale Kultur Bestand gehabt. Weil bei den Verhandlungen der Ausnahme- und Sondergerichte und insbesondere des Volksgerichtshofes die Angeklagten teilweise gar nicht angehört, sondern von dem Vorsitzenden Freisler zusammengeschrieen und gedemütigt worden sind, bestimmt nunmehr: "Art. 103 I GG Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör." Der zweite Absatz des Art. 103 GG liest sich wie eine Selbstverständlichkeit, war es aber unter der Herrschaft der Nazis nicht. Art. 103 II GG lautet: Art. 103 II GG „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Die braunen Machthaber hatten nicht davor zurückgeschreckt, durch nachträgliche Gesetzesänderungen oder Neuformulierungen nicht nur eine wesentlich härtere Bestrafung als die zur Zeit der Begehung der Tat vorgesehene anzuordnen, um auf diese Weise z.B. im Reichstagsbrandprozess Todesurteile gegen die Angeklagten zu ermöglichen, auf die vorher nicht hatte erkannt werden können. Sie waren sogar so weit gegangen, durch nachträgliche Schaffung von Strafgesetzen abgeschlossene Handlungen, die nach den zum Zeitpunkt der Tat geltenden Gesetzen straffrei hätten bleiben müssen ("Garantiefunktion der Strafgesetze"), nachträglich zu kriminalisieren. Nicht mehr nur die Verletzung einer in irgendeinem auch noch so ungerechten Gesetz (z.B. den "Nürnberger Rassegesetzen") fixierten Norm wurde bestraft, sondern jeder geglaubte Angriff gegen die Machtposition der Nazis, wenn er nach deren (Un-)Rechtsüberzeugung zwar ohne(!) Verletzung von Gesetzen dennoch strafwürdiges Verhalten darstelle. Das bedeutet, dass jeder unliebsame Bürger auch dann vor willfährige, parteiverbundene oder gar von Parteiideologie verblendete Richter gezerrt werden konnte, wenn die Machthaber sein Verhalten bestraft wissen wollten, obwohl er kein Gesetz in irgend einer Weise verletzt hatte. Der damalige Reichsjustizminister Gürtner hatte 1935 proklamiert: "Unrecht ist also in Deutschland künftig auch da möglich, wo es kein Gesetz mit Strafe bedroht." Dieser entlarvende Satz sagt alles über das unter den Nazis praktizierte Un-“Recht«! Dem wollen nun Art. 103 II GG und die gleichlautende Bestimmung in § 1 StGB einen Riegel vorschieben. Wegen der zentralen Bedeutung dieser Bestimmung wurde sie nun an den Anfang des StGB gesetzt und ergänzt durch § 2 StGB, der dieses justizielle Grundrecht noch etwas näher konkretisiert: "§ 2 Zeitliche Geltung (1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. (2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt. (3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.“ ... Artikel 103 III GG hat den gleichen geschichtlichen Hintergrund. Weil diese Bestimmung uns gleich noch näher beschäftigen wird, sei zunächst nur einfach zitierend auf sie hingewiesen: "Art. 103 III GG Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft

685

werden." Art. 104 GG regelt die Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung und geht u.a. auf die 1679 in England zum Schutz der persönlichen Freiheit gegen Willkür des Staates erlassene "Habeas-Corpus-Akte" zurück. Auch gegen die zuvor in Art. 114 WV noch unvollkommen geregelten und jetzt in Art. 104 GG mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgrundsätze bei Freiheitsentziehung hatten Teile der Justizverwaltung und der Polizei im nationalsozialistischen Deutschland mit System und Fleiß verstoßen. So arbeiteten zu Beginn der Durchseuchung der Justiz mit Parteiaktivisten Staatsanwaltschaften mit der Gestapo zusammen und veranlassten diese, in Fällen, in denen der Staatsanwaltschaft das Urteil eines noch nicht so ganz auf Parteilinie gebrachten Gerichtes in der erwarteten geringen Strafhöhe nicht passte oder ein Freispruch befürchtet wurde, den betreffenden Angeklagten "a limine" von der Schwelle des Gerichts wegzufangen und zur „Schutzhaft“ in ein Konzentrationslager zu überführen, das auch ein Vernichtungslager sein konnte. Dort war er der Willkür der in ihren Maßnahmen sehr bald jeder richterlichen Kontrolle entzogenen politischen Polizei weniger auf Gedeih als vielmehr auf Verderb ausgeliefert. Teilweise wurden gerade aus normaler Gefängnishaft Entlassene auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft ohne jedes Gerichtsurteil von der Gestapo vor den Toren der allgemeinen Haftanstalten erneut verhaftet und in spezielle Gestapo-Gefängnisse gebracht, "... um die verbüßte Strafe noch wirksamer zu gestalten." Aber nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus wurde gegen die jetzt in Art. 104 GG verankerten Rechtsgrundsätze verstoßen, sondern auch unter der Geltung des Grundgesetzes: Nach einer teilweise gewaltsam verlaufenen Demonstration waren 1981 sämtliche 141 jugendliche Besucher des Nürnberger Kommunikationszentrums "Komm" wahllos in den Räumen des "Komm" verhaftet, in einer Pauschalreise ins Untersuchungsgefängnis befördert und mit ebenso pauschalen hektographierten Haftbefehlen hinter Schloss und Riegel gesetzt worden, weil Passanten beobachtet haben wollten, dass (nur) einige der Demonstranten kurz vor Erscheinen der Polizei in das "Komm" geflüchtet seien. Unter den Verhafteten befanden sich folglich eventuell mutmaßliche Beteiligte an der inkriminierten Demonstration, mit Sicherheit in der Mehrheit aber Unbeteiligte, die nur gleichaltrig und vielleicht auch gleich langhaarig gewesen waren. Bei allen war in einem pauschalierten Schnellverfahren von den fünf daran beteiligten Richtern dringender Tatverdacht wegen begangener Demonstrationsstraftaten sowie als Haftgrund Flucht- und insbesondere Verdunkelungsgefahr behauptet und angenommen worden, um den in § 112 StPO geregelten Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft formal zu genügen. Durch die Presse gingen Meldungen, dass einige Eltern tagelang ihre Kinder gesucht hatten, weil sie über deren Verhaftung nicht informiert worden waren, obwohl Art. 104 IV GG ganz unmissverständlich bestimmt: Art 104 IV GG "Von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung ist unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen." Selbst wenn Juristen als Freunde des gespaltenen Haares an dem Begriff "unverzüglich" ein bisschen drehen und deuteln und ihn spitzfindig gegen den Begriff "sofort" abgrenzen, hätte die Benachrichtigung spätestens Stunden und nicht Tage später erfolgen müssen! Die Aktion missriet (von der Nichtverfolgung des durch Nazi-Richter begangenen Unrechts einmal abgesehen) zu einer der größten Blamagen der Nachkriegsjustiz. Das LG kassierte - einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte - seinen eigenen Eröffnungsbeschluss, als sich in der Verhandlung herausstellte, dass die Staatsanwaltschaft alle entlastenden(!) Beweise "verlegt" gehabt und darum dem Gericht nicht vorgelegt hatte. Die pauschalen Verhaftungen hatten sich ebenfalls als unhaltbar erwiesen. Es hatte entgegen den Anforderungen des "§ 112 I StPO Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht." nicht einmal ein einfacher, geschweige denn der vom Gesetz geforderte "dringende" Tatverdacht bestanden. Auch der mit Verfassungsrang ausgestattete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz war mit Sicherheit durch die Haftrichter verletzt worden.

686

Der ergangene Eröffnungsbeschluss wurde durch das LG wieder aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft verzichtete, nachdem sie bei ihrem Pfusch ertappt worden war, wegen ihres blamablen Verhaltens auf eine Beschwerde. Der bayerische Justizminister August Lang sprach den Betroffenen im Bayerischen Landtag sein Bedauern aus: Sie hätten samt und sonders als unschuldig zu gelten. Aber verhaftet worden war zunächst einmal bedenkenlos. Die nach einer Festnahme gebotene Einzelfallprüfung war, wenn man es beschönigend ausdrücken will, von den fünf Haftrichtern nicht mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt worden - um den angeblich randaliert habenden Jugendlichen nach dem Motto: "Falsche Duldsamkeit schafft falsche Vorstellungen über die Grenzen des Erlaubten“, endlich einmal die Zähne des Rechtsstaates zu zeigen, der sich nicht ständig auf der Nase herumtanzen lässt? Von Staatsanwälten ist man ja einiges gewohnt. Darum spricht man in Juristenkreisen bei solchen und anderen Fehlleistungen lästernd (und natürlich zu pauschalierend) von den Staatsanwälten als den "Kavalleristen der Justiz: Schneidig, aber dumm!" Dass aber fünf Richter, die mehr Zeit zum Abwägen hatten als Polizei und Staatsanwaltschaft, weil die Tatverdächtigen ja schon dingfest gemacht worden waren, und die sich bei dieser Massensache vor dem Beginn der Haftprüfungen sicher besprochen und abgestimmt haben werden: "So, jetzt wollen wir mal ..." - sonst wäre nicht unterschieds- und ausnahmslos mit den gleichen hektographierten Haftbefehlen bei allen Inhaftierten das Vorliegen eines Haftgrundes behauptet(!) worden - dass aber fünf Richter so unbedenklich nicht ihres Amtes walteten, sondern ihren Vorurteilen freien Lauf ließen, das ist schon nicht mehr befremdlich. Das ist ein Justizskandal! Dem Autor des SPIEGEL-ESSAYS "Ringparabeln des Rechts" (DER SPIEGEL 49/90) drängten sich zu diesem alarmierenden Vorgang u.a. die nachfolgend zitierten Gedanken auf: "Der Vorgang ist kaum nachzuvollziehen. Unterstellt, daß die fünf verantwortlichen Nürnberger Amtsrichter von niemandem eine Weisung oder nur einen Wink erhalten haben, weder vom Justizministerium noch von ihrer eigenen Gerichtsspitze - dennoch sind sie, jeder einzelne oder alle gemeinsam, vorsichtig ausgedrückt, einer Häufung von Rechtsirrtümern erlegen. Psychologen würden solch ein Phänomen vielleicht mit der Suggestionskraft gruppendynamischen Verhaltens erklären. Doch die Frage nach der verblüffend gleichgerichteten Motivation ist damit nicht beantwortet. Die Deutung, daß es sich hier um einen Fall vorauseilenden Gehorsams gehandelt haben könnte, liegt nahe. Oder anders, die Akteure glaubten den Willen der Herrschenden zu ahnen und leisteten ihm Folge." Das war von Seiten der Haftrichter schon kein vorauseilender Gehorsam mehr, sondern ein vorausgaloppierender, der sich aber vergaloppierte!

5.6 Die Rechtsprechung des BVerfGs zur Kriegsdienstverweigerung aus individuellen Gewissensgründen (Art. 4 III GG) und zur Wehr- und Dienstpflicht (Art. 12 a GG) als Beispielsfälle für notwendige Abwägungen bei widerstreitenden grundgesetzlichen Regelungen Nach diesen allgemeinen Hinweisen auf die in den Artikeln 101-104 GG geregelten "justiziellen Grundrechte" aller im Geltungsbereich des Grundgesetzes lebender Personen - es handelt sich also hierbei nicht um bloße (Staats-)Bürger-/ "Deutschenrechte" wie z.B. in den Art. 8 (Versammlungsfreiheit für alle Deutschen), Art. 9 (allgemeine Vereinigungsfreiheit für alle Deutschen), Art. 11 (Recht der Freizügigkeit für alle Deutschen innerhalb des Bundesgebietes, Ausländern können räumliche Aufenthaltsbeschränkungen auferlegt werden), Art. 12 (Berufsfreiheit für alle Deutschen), Art. 16 (Verbot der Ausbürgerung und das – seit 02.12.00 eingeschränkte – Auslieferungsverbot an andere Staaten) und 33, die nicht "Fremdländischen", sondern nur den Deutschen zustehen - folgen nunmehr einige Anwendungsfälle, die eine „Deutschenpflicht“ betreffen. Sie haben die in Art. 12 a GG festgelegte, im Wehrpflichtgesetz vom 21.07.56 näher geregelte Wehrpflicht und die in Art. 4 III GG geregelte Möglichkeit zur "Kriegsdienstverweigerung" aus individuellen Gewissensgründen - mit der Folge der in Art. 12 a II GG festgeschriebenen Pflicht zur Ableistung eines zivilen(!) Ersatzdienstes - als zwei widerstreitende grundgesetzliche Positionen zum Inhalt. Zunächst der Wortlaut des

687

Die Rechtsprechun g des BVerfGs zur Kriegsdie nstverwei gerung

"Art. 12 a GG (1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden. (2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht. (3) - (6) ..." Zur Klarstellung: 1.) Der in Art. 12 a GG vorgesehene Dienst in den Streitkräften ist ausweislich seines Wortlautes eine »KannBestimmung«, die Beibehaltung der Wehrpflicht also keine vom Grundgesetz aufgegebene Verpflichtung, die nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Deutschen Bundestag und im Bundesrat geändert werden könnte. Die allgemeine Wehrpflicht könnte verfassungstechnisch ohne Weiteres durch einen einfachen parlamentarischen Gesetzgebungsakt zu Gunsten einer Berufsarmee ausgesetzt werden. (Zur generellen Abschaffung der Wehrpflicht durch die Streichung des Art. 12 a GG aus dem Grundgesetz bedürfte es aber weiterhin einer verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheit.) 2.) Die »Kriegs«dienstverweigerung, die nach einer Entscheidung des BVerfGs die »Wehr«dienstverweigerung beinhaltet, ist kein Wahlrecht, sondern ausschließlich auf Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen beschränkt und steht nicht Verweigerern aus allgemeinen oder speziellen politischen Erwägungen auf Grund z.B. eines von den Jugendorganisationen der IG Metall und der IG Handel, Banken und Versicherungen 1989 veröffentlichten Aufrufs zur massenhaften Verweigerung aus politischen Gründen zu; der DGB hatte sich deshalb sofort von diesem von Teilen der Gewerkschaftsjugend proklamierten Aufruf distanziert. Und auf ein Drittes sei hervorhebend hingewiesen, weil es für einige der nachfolgenden Fälle entscheidungserheblich ist: Die Verfassung fordert den Gesetzgeber in Art. 12 a II 3 l. HS (letzter Halbsatz) auf, dass er "... auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muss, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht." Auch wenn der ehemalige Bundesinnenminister Höcherl, als politisch Verantwortlicher bei einem Fehlverhalten seines Ministeriums durch illegales Abhören von Telefongesprächen erwischt, unangemessen herunterspielend salopp formuliert hatte: "Man kann doch das Grundgesetz nicht ständig unter dem Arm tragen!", so muss der Wortlaut der Verfassung doch ernst genommen werden. Art. 12 a GG ist wegen seines die Berufsfreiheit des Art. 12 GG einschränkenden Charakters unter dem Abschnitt "Die Grundrechte" eingeordnet, an sich aber – bis zur eventuellen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht - eine Grundpflicht für jeden männlichen Bürger, der den Schutz der staatlichen Gemeinschaft genießt und zu ihrer Erhaltung ihre Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft nach außen durch seinen Einsatz mit glaubhaft machen soll, weswegen z.B. die Schweiz ihren Männern bis vor kurzem keine Wehrdienstverweigerung gestattete. Es galt der Grundsatz: Wer geschützt werden will, muss selber dienen! Dieser Art. 12 a GG steht in einem nicht aufhebbaren gegensätzlichen Spannungsverhältnis zu der in Art. 4 GG geregelten Glaubens- und Gewissensfreiheit, insbesondere zu dessen Absatz 3 Satz 1: Art. 4 III 1 GG "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Wichtig an dieser abschließenden Regelung des »Kriegswaffendienstverweigerungsrechts« des Art. 4 III GG und viel zu leicht überlesen - ist die Formulierung, dass niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst "mit" der Waffe gezwungen werden dürfe. Nach wohl überwiegender Juristenmeinung ist es darüber hinaus nicht möglich, aus der durch Art. 4 I GG garantierten Gewissensfreiheit ein Verbot des Zwanges zum Kriegsdienst "ohne" Waffen abzuleiten. Juristen drehen und deuteln an jedem Wort und Satzzeichen, selbst wenn sie vom Gesetzgeber vielleicht auch noch so unbedacht verwandt worden sein könnten! (Das passiert aber nicht allzu häufig, weil die Gesetzesvorlagen meist von darauf spezialisierten Beamten nach den Vorgaben der Politiker in Entwürfen erarbeitet werden, die danach von den Fraktionsexperten in parlamentarischen Gremien gründlich beraten werden. Wenn einem Gericht in einem zur Entscheidung anstehenden Fall eine Gesetzesformulierung dann trotzdem missglückt erscheint, gründelt es teilweise in den Bundestagsprotokollen der Ausschusssitzungen, um zu erforschen, was der Gesetzgeber ausweislich des mitstenographierten Wortlautes der Beratungen für Motive hatte, eine ganz bestimmte Wortwahl in dem Gesetz zu verwenden. Nach deren Interpretation durch das

688

Gericht wird dann das Urteil gefällt.) Die nachfolgenden Fälle, in denen die beiden Grundgesetzartikel 12 a und 4 gegeneinander stehen, machen deutlich, wie das BVerfG den zwischen diesen Positionen bestehenden Zielkonflikt im Einzelfall zu lösen versucht hat - und dass die Entscheidungen des BVerfGs nicht die einzig juristisch vertretbaren Möglichkeiten darstellen. Manche Entscheidungen dieses höchsten Gerichts sind "nicht überzeugend", soll heißen: sie sind für den gesunden Menschenverstand eines liberal denkenden Bürgers einfach nicht nachvollziehbar! Zur Ausgangslage, die bei der Urteilsfindung herrschte: Obwohl - z.B. im Gegensatz zur CSSR 1948, Tibet 1949, Nord-Korea 1950 und Afghanistan 1979 - in der Zeit des virulenten Kommunismus unsere Freiheit nur deswegen hatte bewahrt werden können, weil die westlichen Alliierten bereit gewesen waren, uns durch ihre Truppen zu schützen und uns im Westen Deutschlands damit das Schicksal der DDR-Bürger erspart hatten, wofür auch wir unseren Beitrag zu leisten verpflichtet waren, ist das Grundgesetz seit der Einführung der Wehrpflicht 1956 von Anfang an (z.B. im Gegensatz zu der bis vor kurzem in der Schweiz noch gegolten habenden und als letztem NATO-Land zuletzt in der Türkei noch geltenden Regelung) so tolerant gewesen, Gewissensentscheidungen hinzunehmen, die darauf hinauslaufen, dass junge Staatsbürger das Ihre zu tun - und notfalls zu töten - sich weigern, um durch ihren eigenen Beitrag die Verteidigungsbereitschaft unseres freiheitlichen Gemeinwesens zu gewährleisten. Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, hatte die allgemeine Wehrpflicht als "das legitime Kind der Demokratie" bezeichnet, und aus diesem Geist heraus war sie auch zur Sicherung unserer damals stark bedroht gewesenen Freiheit eingeführt worden: Man denke nur an die Berlin-Blockade 48/49 und diverse Berlin-Krisen, als die Gefahr bestanden hatte, dass das auf Grund seiner geographischen Insellage in ständig bedrohter Freiheit lebende West-Berlin von den Sowjets in die DDR einverleibt werden sollte. Es war nur durch die Standhaftigkeit der West-Alliierten und durch ihre "Rosinenbomber" gerettet worden. Diese Erfahrungen wirkten nach; auch noch bis zu der von den Russen als kränkend empfundenen graduell abgestuften Verabschiedung der Truppen der Alliierten aus Berlin 1994. Aber weil es das oberste staatliche Gebot ist, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, wollte der Verfassungsgeber denen nicht Gewalt antun, die - im Vertrauen auf das sie mitschützende Bestehen von Verteidigungsbereitschaft bei anderen - aus (echten und nicht nur wie bei vielen aus bloß behaupteten) Gewissensgründen die Anwendung von notfalls notwendiger Gewalt zur Verteidigung unserer (und ihrer!) Freiheit - einschließlich ihres Rechts auf Kriegsdienstverweigerung - ablehnen würden. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus - „Nie wieder!“ - traf der Parlamentarische Rat in Art. 1 I GG die Wertentscheidung, dass die staatliche Gemeinschaft als (erhoffte) Schranke gegen erneute Diktatur und Unmenschlichkeit das Gewissen jedes einzelnen Mitbürgers zu achten habe. „Artikel 1 Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. ...“ Die »Menschenwürde« ist das Grundrecht, das am umfassendsten gilt, aus dem heraus im Zweifelsfall alle anderen Grundrechte interpretiert werden. Alle anderen Grundrechte sind entweder schon durch den Verfassungswortlaut eingeschränkt, als durch sie einschränkende Gesetze einschränkbar gekennzeichnet oder durch die im Grundgesetz getroffenen Wertentscheidungen, die von der zu achtenden Menschenwürde gesetzten systemimmanenten Schranken, vom BVerfG einschränkend interpretierbar. Die »Menschenwürde« ist aber kein feststehender Kanon, in dem man in einem Zweifelsfall nur nachzuschlagen habe: notfalls muss durch das BVerfG interpretiert werden, ob ein bestimmter Sachverhalt unter das Gebot der zu achtenden »Menschenwürde« falle und darum besonderen Schutz genieße. Und zu der Würde des Menschen, die von jeder staatlichen Gewalt zu achten und durch sie zu schützen ist, gehört neben insbesondere der Verhinderung elementarer Rechtsungleichheit z.B. durch religiöse oder rassische Diskriminierung, dem Anspruch auf körperliche Identität und Integrität, was z.B. die Anwendung von Folter, einen Organhandel, Gerichtsverhandlungen gegen Schwerst- und Todkranke wie z.B. Honecker ausschließt, dem Recht auf geistig-seelische Integrität mit seinen Auswirkungen z.B. auf das (ebenfalls) auf der Menschenwürde fußende Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Recht auf individuelle und soziale Grundsicherung für jeden im Geltungsbereich des Grundgesetzes Lebenden, was z.B. die Zahlung von »Stütze« an Randständige bedingt, u.a. auch die Freiheit vor Gewissenszwang. Man könnte die Gewissensfreiheit schon durch diese sehr allgemein gefasste Norm als geschützt ansehen. Wegen ihrer zentralen Bedeutung für jeden Menschen wurde sie aber noch einmal ausdrücklich durch die Spezialnorm in Art. 4 I GG geschützt:

689 „Artikel 4 Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. ...“ Beim schnellen, flüchtigen Lesen dieser Grundgesetznorm geht die darin auch normierte Gewissensfreiheit neben der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit immer ein bisschen unter. Sie ist aber gleichrangig neben der Glaubens- und der mit ihr verbundenen Bekenntnisfreiheit gedacht und geschützt. Glaubens- und Gewissensentscheidungen sind höchstpersönliche Entscheidungen darüber, was für das eigene Leben als verpflichtende Norm seelisch erlebt wird. Darum könne die staatliche Gemeinschaft nicht mit auch noch so großer Mehrheit darüber befinden, was das Gewissen eines bestimmten einzelnen unzumutbar belaste. Gewissensfragen sind keine Mehrheitsfragen sondern Individualentscheidungen – die sich im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung halten müssen: Kein Terrorist dürfte z.B. geltend machen, sein Gewissen zwinge ihn, durch einen Bombenanschlag, eine Flugzeugentführung, ... auf die Lage von ... aufmerksam zu machen; daher sei er straflos zu lassen. Inzwischen haben jährlich seit 1995 mit steigender Tendenz 34,3 % aller Wehrpflichtigen, im bisherigen Rekordjahr 1999 waren es 174.347 junge Männer, ein spezielles Gewissen und für sie nicht tragbare Gewissensnöte zu erkennen gemeint und geltend gemacht - was nicht mehr glaubhaft ist. Viele Söhne der Herren »OhneMichel« scheinen zu hedonistisch zu sein und auf die nicht ausreichende Zahl von Plätzen für den Wehrersatzdienst zu vertrauen (der aber auch dann noch rund 90.000 Zivis benötigen wird, wenn die Zahl der Bedarf der Bundeswehr an Wehrpflichtigen bis 2015 auf rund 55.000 gesunken sein wird)! Wieso sollte der Prozentsatz der echten Gewissensverweigerer plötzlich auf ein Drittel aller Wehrpflichtigen hochgeschnellt sein, wo früher, zur Zeit des Kalten Krieges, die Gefahr viel größer war, in eine reale Kriegshandlung hineingezogen zu werden, die Zahl der Verweigerer aber wesentlich niedriger lag? Und ausschließlich für »Gewissensverweigerer« war die großzügige Regelung der Befreiung vom Wehrdienst im Grundgesetz geschaffen worden! Wenn vordem die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung aus angeblichen Gewissensgründen bisher unzulässiger- aber noch nachvollziehbarerweise - u.a. auch dafür genutzt worden war, dem Wehrdienst zu entgehen, um einen mühsam und glücklich ergatterten Ausbildungsplatz besetzen zu können, so ist dieser Grund inzwischen hinfällig, nachdem das BVerwG 1997 seine bis dahin gültige Rechtsprechung geändert hat und den durch den Wehrdienst drohenden Verlust eines Ausbildungsplatzes als Zurückstellungsgrund anerkennt. Nun hat Ausbildung Vorrang vor Wehrpflicht. Und trotzdem steigt die Zahl der Verweigerer! Sie überstieg 2004 sogar die Zahl der zum Wehrdienst Gezogene: Wehrdienst nur noch für gesunde Dumme, die sich der (noch) bestehenden Wehrpflicht nicht entziehen? Das kann keine Wehrgerechtigkeit sein! Sollten die Pläne der Wehrstruktur-Reformkommission 2000 auch nur annähernd realisiert werden, was auf eine Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zu Gunsten einer allgemeinen »Los-Wehrpflicht« hinausliefe - wofür vermutlich das Grundgesetz mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden müsste -, dann stellte sich die Frage der Wehrgerechtigkeit, wenn jedes Jahr nicht mehr 130.000, sondern nur noch zwischen 30.000-50.000 Rekruten u.a. dadurch als Wehrpflichtige eingezogen würden, dass der angenommene Prozentsatz der für den Wehrdienst Tauglichen willkürlich auf 23 % heraufgesetzt wird. Ganz sicher würde dann das BVerfG wegen des Verstoßes gegen die Gebote der Wehrgerechtigkeit und der Gleichbehandlung angerufen, wenn nicht gleichzeitig die Wehrpflichtarmee in eine Freiwilligenarmee umgewandelt wird. Die aktuelle Lage Ende 2004 wurde durch folgende Zahlen gekennzeichnet: Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Bundeswehr nur noch 259.025 von ursprünglich 290.000 Soldaten und Soldatinnen Sollstärke, deren Zahl noch weiter reduziert werden sollte. Davon waren 59.697 Berufs- und 131.000 Zeitsoldaten, 44.809 Wehrpflichtige im neunmonatigen Grundwehrdienst und 23.519 Soldaten hatten sich für bis zu 24 Monate verpflichtet. Dies sind insgesamt deutlich weniger als die 440.158 jungen Männer, die zu dem Zeitpunkt als erfasste Wehrpflichtige für die Bundeswehr in Frage kamen. Wenn davon die Zahl der Untauglichen, Kriegsdienstverweigerer, Verheirateten und weiter diejenigen abgezogen werden, die unter die 3.-Kind-Regelung fallen und darum nicht dienen müssen, die zu Polizei, BGS und THW gehen, dann waren 169.220 junge Männer für den Wehrdienst verfügbar, von denen 137.531 den Wehrdienst abgeleistet haben (weil rund 32.000 unbegründet nicht zur Verfügung standen). Schon zu diesem Zeitpunkt stand fest, dass die Zahl der Wehrpflichtigen in der Bundeswehr weiter sinken werde. Die Grünen und die FDP argumentierten, dass von der verfassungsrechtlich unabdingbar geforderten Wehrgerechtigkeit als Voraussetzung für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht nichts mehr übrigbleibe, wenn von 415.000 potentiellen Wehrpflichtigen nur mal gerade 10 % (44.809) in der Bundeswehr Dienst täten – unterschlägt bei dieser Argumentation jedoch die 23.519 kurzfristig dienenden Zeitsoldaten, die ja nur aus finanziellen Erwägungen heraus »einige Monate länger dienende Wehrpflichtige« sind. Allerdings ist zuzugeben, dass selbst unter Einrechnung dieser weiteren rund 5 % von einer Wehrgerechtigkeit nicht mehr gesprochen werden kann. Der Verteidigungsminister verwies aber auf die Erfahrungen in den Ländern, die ihre

690

Armeen in Berufsarmeen umgewandelt haben und rechnete den eine Freiwilligenarmee befürwortenden Grünen und der FDP vor, dass eine Berufsarmee bis zu 7,6 Mrd. teurer kommen würde als die bisherige Wehrpflichtigenarmee mit Zeit- und Berufssoldaten. „Wenn die Bundeswehr Berufsarmee wäre . . . Interne Studie: Die Abkehr von der Wehrpflicht wäre teurer, und, sagen Experten, die Qualität würde sinken. Von Frank Ilse Berlin/Hamburg - Angenommen die Bundeswehr würde ihren ältesten Grundsatz über Bord werfen und sich von einer Wehrpflichtarmee zur Berufsarmee wandeln. So fordern es die Grünen, das will die FDP, und auch nennenswerte Gruppen bei den Sozialdemokraten sympathisieren mit diesem Gedanken. Also - was wäre, wenn? Dann würde es zumindest teurer, sagt eine Studie des Verteidigungsministeriums. Und qualitativ schlechter, behaupten Experten. Das interne Papier liegt dem Abendblatt vor. Darin kommen die Autoren zu dem Schluß, daß allein die Personalkosten bis zu 7,2 Milliarden Euro jährlich höher ausfallen können als mit einer Wehrpflichtarmee vergleichbarer Größe. Grundsätzlich seien die Kostenberechnungen für hypothetische Streitkräftemodelle schwierig, heißt es in der Studie. ’Bisher ist es nicht gelungen, die Kosten einer Freiwilligenarmee überzeugend zu erfassen. Eindrucksvoller Beleg dafür mag sein, daß alle unsere Partnerstaaten, die einer Freiwilligenarmee den Vorzug gegeben haben, die Kosten für diese deutlich unterschätzt haben und jeweils erheblich nachsteuern mußten.’ Um es überschaubar zu halten, geht das Papier nur auf die Personalkosten ein und kommt zu eindeutigen Ergebnissen: Nimmt man alle Personalausgaben der Bundeswehr - militärisch wie zivil und bildet daraus einen Durchschnitt, so gibt Deutschland derzeit pro Bundeswehrangehörigen 28.600 Euro im Jahr aus. Das sieht bei unseren unmittelbaren Nachbarn deutlich anders aus: In Frankreich kostet ein Militärangehöriger jedes Jahr 32.900 Euro, in Belgien 38.400 Euro und in den Niederlanden sogar 57.300 Euro. Alle drei Länder haben Berufsarmeen. Würde man also die französischen Verhältnisse auf die Bundeswehr übertragen, kämen höhere Personalkosten von etwa 1,1 Milliarden Euro heraus, im Fall der belgischen Verhältnisse 2,5 Milliarden Mehrkosten und beim niederländischen Standard sogar 7,2 Milliarden Euro. Ins Gewicht fällt dabei laut Studie nicht nur die notwendige Gehaltssteigerung, um den Dienst vor allem in den unteren Dienstgraden finanziell attraktiv zu machen. Auch Verbesserungen bei den Zulagen, Verpflichtungsprämien, eine Erhöhung der Versorgungsrücklagen, die Steigerung von zivilberuflichen Qualifikationen mit Ende der Dienstzeit oder Aufwendungen für die Nachwuchswerbung würden zu Buche schlagen. Sollen die Kosten gleich bleiben, müßte die Bundeswehr schrumpfen: auf rund 217.500 Soldaten bei französischen oder nur noch 125.000 Soldaten bei niederländischen Verhältnissen. In keinem Fall könnte die Zielstärke 250.000 erreicht werden. Mehr noch als vor dem finanziellen Risiko warnen Experten vor den sozialen Folgen einer Berufsarmee. ’Wehrpflichtarmeen gelten inzwischen als die Streitkräfte armer Länder. Doch die Profiarmeen werden in ihren jeweiligen Gesellschaften geringschätziger angesehen als Wehrpflichtarmeen’, sagte ein hoher Bundeswehroffizier dem Abendblatt. Ganz zu schweigen vom Ausbildungsstand der Soldaten. ’Ein schwerwiegendes Problem’, wie der ehemalige britische Generalstabschef Lord Guthrie gegenüber dem Abendblatt einräumte. Tatsächlich können sich in Großbritannien Strafgefangene für Haft oder Dienst in den Streitkräften entscheiden - wie zu Nelsons Zeiten. Die spanischen Streitkräfte haben die Anforderungen für ihre Bewerber gerade drastisch heruntergeschraubt: Intelligenzquotient von 100 auf 80, und Kraftfahrer müssen keinen Schulabschluß mehr nachweisen, sondern lediglich den Schulbesuch. Rund 20 Prozent der Soldaten kommen gar nicht mehr aus Spanien, sondern aus den spanisch sprechenden Ländern Südamerikas. In der US Army nähert sich die Quote der Analphabeten der 40-Prozent-Marke. Und die US-Marine, traditionell bekannt für ihren hohen Ausbildungsstand, hat derzeit rund 10.000 Stellen für Unteroffiziere mangels qualifizierter Bewerber nicht besetzt.“ (HH A 10.03.05) Bis zu 7,6 Mrd. Mehraufwendungen! Und das bei der klammen Kassenlage, die dazu geführt hatte, dass die SPD-Führung den unsäglichen Versuch gestartet hatte, den Nationalfeiertag vom 3. Oktober ab 2005 als beweglichen Nationalfeiertag dergestalt festzulegen, dass er fürderhin immer an einem bestimmten Sonntag im

691

Oktober gefeiert werden sollte - was dazu geführt hätte, dass im Jahre 2007 indirekt des Nationalfeiertages der Ex-DDR mit gedacht worden wäre: eine unerträgliche Verhöhnung der Opfer der kommunistischen Diktatur! Nachfolgend kurz die Perspektive aus der aktuellen politischen Diskussion um die Wehrpflicht und die Umwandlung der Bundeswehr von einer Wehrpflichtarmee mit einem hohen Grad an freiwillig Längerdienenden in eine Berufsarmee: Über die Zeitgemäßheit der allgemeinen Wehrpflicht vor Einführung der angesprochenen Strukturreform hatte das BVerfG auf Antrag des LG Potsdam im Fall eines Totalverweigerers zu befinden. Der Totalverweigerer war 1998 vom AG Potsdam wegen Dienstflucht zu einer Geldstrafe verurteilt worden und hatte gegen diese Verurteilung das Rechtsmittel der Berufung eingelegt. Das LG Potsdam hatte die Wehrpflicht unter den veränderten politischen Verhältnissen für verfassungswidrig erklären lassen wollen, weil die Wehrpflicht wegen der veränderten sicherheitspolitischen Lage einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Freiheitsrechte der männlichen Bürger darstelle. Das Problem der Abschaffung der Wehrpflicht - ab frühestens 2010 - stellte sich noch gravierender ab 2002 nach Einführung der Strukturreform mit einem auf nur noch neun Monate verkürzten Grundwehrdienst. Darum forderten schon einige Zeit vorher und während des laufenden Verfahrens vor dem BVerfG u.a. die Grünen und die FDP die Umwandlung der zunächst grundsätzlich weiterhin bestehenden Wehrpflichtigenarmee mit noch weiter eingeschränkter Dienstzeit – zuletzt waren nur noch vier Monate in der Diskussion, die gerade zum Auspacken des Koffers reichen würden - in eine Berufsarmee. Jede Seite erhoffte sich vom BVerfG Schützenhilfe. Das entschied vier Jahre nach dem erstinstanzlichen Urteil: Die Wehrpflicht für Männer stehe im Einklang mit dem GG und bleibe so lange bestehen, wie der Gesetzgeber nichts anderes beschließe. Und nach den neuesten Plänen: Es ist in Ordnung, wenn die für den Zivildienst aufzubringende Zeit der des neunmonatigen Wehrdienstes angeglichen wird und nicht mehr Zeiten von Wehrübungen bei den Zivildienstleistenden gleich hinzugerechnet werden, um durch die zeitliche Belastung den von der parlamentarischen Mehrheit – im Parlament unausgesprochen - als »Drückeberger-Alternative« eingestuften Zivildienst etwas unattraktiver zu gestalten. Das geht deshalb in Ordnung, weil nach der wiederholten Verkleinerung der Truppenstärke ja gar nicht mehr alle Wehrpflichtigen eingezogen werden. Noch nie war es jedoch so einfach wie heute, Bundeswehr oder Zivildienst komplett aus dem Weg zu gehen. Früher kannte der Staat kein Erbarmen und zog Wehrpflichtige noch kurz vor Erreichen der Altersgrenze rigoros aus der laufenden Ausbildung. Diese Praxis wurde aber längst in aller Stille beerdigt. Warum sollen aber nach der Gesetzesfassung von 2004 nur die unverheirateten heterosexuellen und nicht auch weiterhin die sehr jung verheirateten oder die in »eingetragener Partnerschaft« lebenden homosexuellen Männer dienen müssen? Von den 200.000 Männern eines Jahrganges, die nach Abzug von Untauglichen der Stufen IV und V und Verweigerern für den Wehrdienst zur Verfügung stehen, wurden 2003/04 nur 80.000 tatsächlich eingezogen. Nach den jüngsten Plänen soll die Regel-Altergrenze der einzuziehenden Wehrpflichtigen von 25 auf 23 Jahre gesenkt werden und es sollen sowohl Wehrpflichtige der Tauglichkeitsstufe III, wie auch Verheiratete, Männer in eingetragenen Partnerschaften und Sorgeberechtigte auf Antrag von der Erfüllung der Wehrpflicht verschont sein. Aus der "Dritte-Söhne-Regel" wird nun die "Dritte-Geschwister-Regel": Von der Dienstpflicht kann man sich befreien lassen, wenn - unabhängig vom Geschlecht - zwei oder mehr Geschwister bereits ein ziviles oder militärisches Dienstjahr geleistet haben; bisher galt das nur bei Brüdern. Wer früh studiert, hat eine besondere Chance: Ab Beginn des dritten Semesters hat jeder einen Anspruch darauf, wegen eines laufenden Studiums zurückgestellt zu werden. Bis dato galt in solchen Fällen die etwas schwammige Definition der "weitgehend geförderten Ausbildung". Die hatten Gerichte so interpretiert, dass das erste Drittel der Regelstudienzeit absolviert sein musste, um sicher vor dem Zugriff des Staates zu sein - was für viele Studenten Feilschereien um Monate, Wochen oder sogar Tage bedeutete. Insbesondere eine frühe Eheschließung oder eheähnliche Bindung Homosexueller sollen also – auch nach Anfang 2005 ausgeurteilter Meinung des BVerwGs in Leipzig - die Wehrgerechtigkeit unterlaufen können! Was haben diese Vorstellungen aber noch mit Wehrgerechtigkeit zu tun? Mit welchem Recht sollen unverheiratete heterosexuelle Männer grundsätzlich stärker belastet werden als ihre irgendwie vor dem Gesetz gebundenen Altersgenossen? Es gibt keine solcherart differenzierende Rechtsnorm, die den unverheirateten heterosexuellen Männern durch die Wehrdienstzeit und alle damit verbundenen Einschränkungen ein Sonderopfer auferlegen dürfte! Fiskalische Gründe durch an vor dem Gesetz Gebundene zu zahlende Trennungsgelder sind kein hinreichender Grund für eine solche massive Schlechterstellung der gesetzlich ungebundenen jungen Männer. (Oder hofft man im Falle der Verheirateten - nach dem Motto: „Gelegenheit macht Kinder“ -, als willkommenen Nebeneffekt so den demographischen Abwärtstrend in unserer Bevölkerungsentwicklung verlangsamen oder sogar stoppen zu können, der uns nach einer UNO-Studie aus dem Jahre 2000 zwingen müsste, pro Jahr einen Einwanderungsüberschuss von ca. 458.000 Immigranten anzustreben, um unsere sozialen Sicherungssysteme auf dem jetzigen Stand finanzierbar halten zu können?) Das BVerwG hat in einem Revisionsverfahren die Ansicht

692

des VG Köln zurückgewiesen und entschieden: Die Einberufungspraxis zur Bundeswehr zur Ableistung der Wehrpflicht, die nur noch 80.000 von ca. 420.000 jungen Männern erfasste, sei nicht zu beanstanden. Die Wehrgerechtigkeit sei nicht verletzt, da nach Abzug der Verweigerer unter Zugrundelegung der Rückstellungskriterien noch mehr als die Hälfte der Wehrpflichtigen einberufen werde. Die Regelung sei verfassungskonform, da es für die Einberufung ein geordnetes Verfahren mit fairen, nachvollziehbaren Kriterien für die Befreiung von der Wehrpflicht gebe, sodass keine Willkür herrsche. Das BVerfG hatte schon 1978 entschieden, dass eine Freistellungspraxis, die sich ausschließlich am jeweiligen Personalbedarf der Bundeswehr orientiere, gegen den Gleichheitsgrundsatz des GG und damit gegen das Grundrecht auf Schutz vor staatlicher Willkür verstoße. Das VG Köln griff diesen Gedanken auf und sah in der nach der Einberufungsneuregelung geübten Praxis der Einziehung mit der faktischen Freistellung von über der Hälfte der Wehrpflichtigen einen rechtswidrigen Verstoß gegen das Willkürverbot des Grundgesetzes und gegen den Grundsatz der Wehrgerechtigkeit: Die Wehrgerechtigkeit verlange wegen ihres erheblichen Eingriffs in die persönliche Lebensführung eines Wehrpflichtigen, dass bei der Erfüllung der Wehrpflicht nicht willkürlich oder ohne sachlich zwingenden Grund unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Da die Bundeswehr nach ihrer zunehmenden Umstrukturierung in eine Kriseninterventionsarmee vor allem Längerdienende und Berufssoldaten benötigt, konnte sie die Masse der Wehrpflichtigen nicht mehr gebrauchen. Das Bundesministerium der Verteidigung, das bislang die Wehrpflicht beibehalten wollte, schaffte sich die nicht benötigte Masse an Einzuziehenden dadurch vom Hals, dass es die Einziehungskriterien umdefinierte – und damit, nach Meinung des VG Köln, gegen Grundrechte verstieß. Angesichts dieser enormen Ausmusterungsund Befreiungsquoten könne von Wehrgerechtigkeit keine Rede mehr sein. Sieben andere VGs hatten die Sachlage anders beurteilt und diese Neuregelungen unbeanstandet gelassen. Nun musste das BVerwG in Leipzig als Revisionsinstanz entscheiden, was als Rechtens gelten solle. Teilte es die Meinung der Richter des VG Köln, wäre das faktisch das Ende der Wehrpflicht. Die Grünen fordern schon lange die Abschaffung der Wehrpflicht und die Einführung einer Freiwilligenarmee. Die FDP steht dem mit ihrer etwas zurückhaltenderen Forderung nach Aussetzung der Wehrpflicht relativ nahe. Weite Teile der SPD und CDU/CSU hingegen wollen wegen der in der Weimarer Republik deutlich gewordenen Gefahr einer Berufsarmee als eines „Staates im Staate“, zur demokratischen Verankerung der Armee in der Bevölkerung die allgemeine Wehrpflicht beibehalten. Gleiches Recht für alle, und nicht die Kür für die Frauen und die verheirateten oder denen gleichgestellten Männer in einer homosexuellen Partnerschaft und die faktisch alleinige Wehrpflicht für die gesetzlich ungebundenen Staatsbürger der Tauglichkeitsstufen I und II. Die können sich genau so an eine/n Partner/in gebunden fühlen! Ein hinreichender Differenzierungsgesichtspunkt wäre für mich aber, in ihrem Familienverbund lebende Väter nicht einzuziehen, damit sie ihrer Familie möglichst umfassend zur Verfügung stehen: Die Würmer brauchen ihre Väter, und die Mütter möglichst viel partnerschaftliche Entlastung. Diesen Gedanken scheint die SPD - unzulänglich - aufzugreifen, indem Dienstpflichtige bei einer projektierten Wehrpflichtdauer von nur noch sechs Monaten dann freigestellt werden sollen, wenn sie über 23 Jahre alt oder verheiratet sind. Das ist aber nicht im Sinne meiner Argumentation. Ich plädiere ausschließlich für eine Freistellung von Vätern, damit sie in ihren jungen Familien helfen, und nicht für eine generelle Freistellung von jungen Männern, die sich - ohne Kinder - unter ein anderes fremdes Kommando als das eines militärischen Feldwebels gestellt haben. Warum soll eine neuartige Dienstpflicht zu Hause junge Ehemänner von einer militärischen Dienstpflicht generell entlasten? Ich greife noch einmal den inzwischen nicht mehr ganz neuen Gedanken hinsichtlich der Abschaffung der Wehrpflicht auf, der nicht nur mehrheitlich bei den Grünen, der FDP, der PDS und auch dem Potsdamer LG, sondern jetzt auch an höchster Stelle gedacht wird: Nach Meinung unseres früheren Bundespräsidenten und ehemaligen Vorsitzenden des BVerfGs, Herzog, habe sich die früher existente Bedrohungslage so radikal entschärft, dass der Staat sein Recht verloren haben könnte - ehemalige Verfassungsrichter formulieren so vorsichtig abgewogen -, derart einschneidend in das Leben seiner jungen Männer einzugreifen, wie es die Auferlegung der Wehrpflicht für einen »Gezogenen« bedeutet. Daher wird ja – insbesondere bei den Grünen eine Gesetzesänderung mit dem Ziel erwogen, im Zuge der Umwandlung der Bundeswehr von einer Truppe zur Landesverteidigung in vornehmlich eine Kriseninterventionstruppe die Wehrpflicht - und damit auch den Zivildienst! - nicht nur de facto, sondern auch de jure abzuschaffen und die Wehrpflichtarmee in eine Berufsarmee umzuwandeln. Das lehnen SPD, CDU und CSU aber - bisher - ab: Berufsarmeen seien - laut dem

693

damaligen BMV Scharping in einem Fernsehinterview Anfang des Jahres 2000 - um ein Drittel teurer44, litten unter Nachwuchsmangel (so dass in Großbritannien schon Straftäter zwangsweise zur Armee verpflichtet werden sollen!), die Bundeswehr könne dann nicht mehr ihre Sollstärke aufrechterhalten, und überhaupt sei eine Wehrpflichtarmee das legitime Kind der Demokratie; schließlich wurde sie anlässlich der Freiheitskriege gegen Napoleon in Deutschland mit den Preußischen Reformen 1814 eingeführte, die den Übergang »vom Untertan zum Staatsbürger« kennzeichnen. Hinzu kommt: Die Bundeswehr rekrutiert den größten Teil ihrer Freiwilligen aus ihren Wehrpflichtigen, die sich dann freiwillig zu einem längeren Dienst verpflichten. Aber kann das Bedürfnis nach einem maximal »neunmonatigen Vorstellungsgespräch« ein hinreichender Grund für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht sein? Die Grünen, FDP und PDS meinen (jedenfalls mehrheitlich): Nein! Ein wichtiger gesellschaftspolitischer Grund für die Beibehaltung der Wehrpflicht könnte aber sein, dass eine Berufsarmee – jedenfalls in einem im Bewusstsein der Bürger demokratisch nicht hinreichend gefestigten Staat immer die Tendenz zum »Staat im Staate« in sich trägt, woran sich die SPD, mit Rückblick auf die Reichswehr in der Zeit der Weimarer Republik, nur mit Grausen erinnert. Um einer „Entfremdung der Armee von der Gesellschaft“ vorzubeugen, lehnte bislang jeder Bundesminister der Verteidigung eine Umwandlung des Wehrpflichtheeres in eine Berufsarmee ab. Und das bei einerseits einer weiteren Absenkung der Wehrdienstzeit auf vielleicht nur noch sechs Monate ausschließlich für Taugliche der Tauglichkeitsstufen 1 und 2, soweit sie unter 23 Jahre alt und unverheiratet sind, was rund 150.000 der an sich zur Erfüllung der Wehrpflicht Anstehenden durch den Rost fallen lässt, und andererseits einer gesteigerten internationalen Anforderung für die Bundeswehr mit Auslandseinsätzen, zu denen Wehrpflichtige nicht gezwungen und denen so kurzfristig Dienende gar nicht gerecht werden können: Da haben gegnerische Kämpfer in den potentiellen Einsatzgebieten ja wesentlich längere militärische Erfahrungen; und die haben sie auch noch in der Ernstsituation teilweise langjährigen Guerillakampfes gesammelt! Und mit ihren überreichlichen Erfahrungen kämpfen sie teilweise einarmig und einäugig weiter, wie einige Taliban zunächst gegen die Sowjets und später gegen die mit den USAmerikanern in Afghanistan kämpfenden Truppen, auch der Bundeswehr. Als weiteres Argument für eine Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht wird die Gefahr einer sonst drohenden „Verdummung“ des Bildungsniveaus der Soldaten angeführt, wenn intelligente Männer nicht mehr eingezogen werden können und nur noch die Frauen und Männer, die sonst keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz erhalten, mangels einer beruflichen Alternative als Berufs- oder Zeitsoldatinnen oder -soldaten zum Militär gehen. Aber da in einer generalisierenden Betrachtung Schülerinnen bessere Schulabschlüsse als Schüler zustande bringen, könnten die weiblichen Freiwilligen das Intelligenzniveau der Bundeswehr ja heben. Bei der Darstellung der bisher genannten Kriterien gegen eine Abschaffung der bisherigen Wehrstruktur zu Gunsten einer Berufsarmee schwang immer schon die Sorge um die Tendenz zu einer sozialen und soziologischen Negativauslese derjenigen mit, die im Falle der Einrichtung einer Berufsarmee dort Dienst tun werden. "Wir bekommen durch die Wehrpflicht ja noch Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten und mit unterschiedlicher Ausbildung. Bei einer Berufsarmee droht die Gefahr, dass vor allem diejenigen kommen, die sonst keinen Job mehr kriegen. Dann gute Nacht." Die Befürchtungen beziehen sich insbesondere auf die Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade. Und ein Blick auf die Berufsarmeen einiger Länder zeigt, dass diese Befürchtungen nicht unbegründet sind und die darin angelegten Tendenzen vom Gesetzgeber mit bedacht werden müssen, wenn er sich per Gesetz zu einer Reform, zu einem Umbau, entschließen sollte: „Ehe du etwas beginnst, bedenke zuvor auch das Ende!“ In Großbritannien, das seit 1962 eine Berufsarmee hat, gibt es jedes Jahr mehrere Berichte über Misshandlungen von Rekruten in Ausbildungseinheiten. Jüngstes Beispiel ist ein Bericht über eine Reihe von Selbstmorden in Surrey im März des Jahres 2004. Darin ist unter anderem von Gruppenvergewaltigungen die Rede. Die Army gilt mittlerweile als "Schule der Skandale". „Folter und Vergewaltigung in britischer Armee Nach der Deutschen Bundeswehr gibt es jetzt auch Missbrauchsvorwürfe gegen Soldaten der britischen Armee. Von Gruppenvergewaltigungen und Schlägen ist die Rede, von systematischer Schikane und rassistischen Übergriffen in der "Deepcut-Kaserne" in der südenglischen Grafschaft Surrey - wenn man einem bislang unter Verschluss gehaltenen Bericht der dortigen Polizei glaubt. Der Parlamentsabgeordnete Lembit Opik nannte am Dienstag das Ausbildungslager der ansonsten 44

Dem widersprach u.a. Th. Straubhaar, Präsident des Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs HWWA: „Es ist ein weit verbreiteter Denkfehler, dass eine Berufsarmee höhere gesamtwirtschaftliche Kosten verursacht als eine Wehrpflichtarmee.“ Eine Freiwilligenarmee spare laut Experten der Münchner Bundeswehrhochschule 6 Mrd. DM. (STERN 18.05.00, S. 216 f). Andere Experten geben an, dass eine Freiwilligenarmee zwar im Aufbau teurer sei, anschließend aber im Unterhalt billiger komme.

694

für ihre Disziplin bekannten britischen Armee eine "Schule für Skandale". Nackt auf dem Exerzierplatz "Sie musste nackt auf dem Exerzierplatz herumlaufen, mit einem Gürtel, an dem Blechbüchsen aus dem Kasino hingen", zitierte die Zeitung "Guardian" aus den 173 Anschuldigungen über Gruppenvergewaltigungen und zahlreiche weitere Straftaten. Dazu gehört etwa auch die Schilderung eines Soldaten, wie ein Unteroffizier auf eben jenem Platz über am Boden liegende Rekruten mit einem Fahrrad hinwegfuhr oder wie eine Soldatin im Monat Januar "nackt und nass" gezwungen wurde, mit ihren Kameraden draußen stramm zu stehen. Der Bericht kam nur ans Licht, weil er einem Journalisten zugespielt wurde. Am Dienstag versuchten sich die Beteiligten in Schadensbegrenzung. Der Staatsminister im Verteidigungsministerium lehnte eine öffentliche Untersuchung zwar ab, versprach aber vor dem Unterhaus weitere Aufklärung durch eine "vollständig unabhängige Person". Er wies jedoch Behauptungen zurück, dass in britischen Kasernen eine "Kultur der Furcht und Gewalt" herrsche. "Leichteres Leben" als Gegenleistung für Sex Auch die Polizei sprach von bislang "ungeprüften Anschuldigungen". Dies liegt aber wohl auch daran, dass sich die jungen Soldaten und Soldatinnen offensichtlich nicht trauten, vor der für solche Untersuchungen eigentlich zuständigen Militärpolizei auszusagen. Rekrutinnen, die sich nach den Angaben bei Vorgesetzten über sexuelle Übergriffe beschwerten, seien abgewiesen worden. Im Gegenteil sollen Offiziere Soldatinnen ein "leichteres Leben" in der Kaserne für den Fall sexueller Gegenleistungen versprochen haben. Ermittlungen nach Tod von vier Rekruten Die Polizei hatte in der Kaserne ursprünglich zum Tod von vier Rekruten ermittelt, die zwischen 1995 und 2002 dort an Schussverletzungen starben. Die Untersuchungen legten Selbstmord nahe, doch die Familien der Toten akzeptieren dies bis heute nicht. Bei Befragungen im Zuge der Ermittlungen waren die jetzt ans Tageslicht gekommenen Misshandlungsvorwürfe geäußert worden. Der Abgeordnete Opik, in dessen Waliser Wahlkreis die Eltern eines der toten Soldaten leben, sprach von "Vertuschung" und forderte eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge. Von Verdunkelung könne keine Rede sein, widersprach Staatsminister Ingram, sowohl die Armee als auch das Verteidigungsministerium nähmen Misshandlungsvorwürfe "extrem ernst". "Gewalt und Einschüchterung sind nicht die Mittel, mit denen die Armee die Soldaten hervorbringt, die sie braucht", sagte er.“ (Kronenzeitung 02.12.04) Auch in den US-Streitkräften ist das systematische Schikanieren von Rekruten nicht unbekannt. So werden bei den Marines junge Soldaten durch Anbrüllen, Dauertrab und Schlafentzug an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, um sie hinterher als "Kämpfer" wiederaufzubauen. In der russischen Armee gilt heute noch: Wer dienstälter ist, darf Untergebene verprügeln und kann sie sogar versklaven, ohne dass eingeschritten wird (HH A 01.12.04).

Kaum angesprochen, aber von in der Verantwortung stehenden Politikern immer mitgedacht, werden die Veränderungen für die Lage der sozialen Dienste, wenn die Wehrpflicht abgeschafft werden sollte und damit gleichzeitig und zwangsläufig der 1961 eingeführte Zivildienst entfiele. Seit mittlerweile zehn Jahren zerbrechen sich die Verbände den Kopf darüber, wie eine Zukunft ihrer Angebote ohne die (2003) rund 91.000 Zivis aussehen könnte, die in ihren Organisationen Ersatzdienst leisten - ohne eine Lösung zu finden. Zu zentral ist die Rolle der Kriegsdienstverweigerer im Gesundheitssystem, für die 160.000 Plätze vorhanden sind: Steht der Zivildienst vor dem Aus? Sozialverbände warnen vor den Folgen - Rund 91 000 "Zivis" sind derzeit im Einsatz - Rückläufige Tendenz von Frank Käßner Knapp 160 000 Plätze für den Zivildienst gibt es in Deutschland, in exakt 40 452 Einrichtungen. Krankenhäuser, Altenheime, Behindertenwerkstätten, Kindergärten oder Drogenberatungsstellen könnten ohne die Hilfe der Zivildienst Leistenden ihren Betreuungsauftrag nur schwerlich erfüllen. Das weiß man auch im Bundesfamilienministerium - und schlägt Alarm. Denn eine Abschaffung der Wehrpflicht, für die sich in der Politik die Stimmen mehren, hätte zwangsläufig auch das Aus für den Zivildienst zur Folge. Eine Katastrophe aber, wie von manch einem der Sozialverbände lautstark angekündigt, droht nicht. Denn es gibt schon heute nur 91 000 "Zivis", und viele der zugelassenen

695

Stellen sind unbesetzt. Schon seit Jahren ist die Zahl der Zivildienstler rückläufig. Noch 1999 gab es 138 000 junge Männer, die als Stationshilfe, Essenausfahrer oder Betreuer ihren Wehrersatzdienst versahen. Und der ist ein Auslaufmodell, auch wenn mit 190 000 Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung im Jahr 2002, vor dem drohenden Irak-Krieg, ein Spitzenwert erreicht wurde. "80 Prozent der Zivis leisten ihren Dienst unmittelbar am Menschen", sagt Rüdiger Löhle, der Sprecher des in Köln ansässigen Bundesamtes für den Zivildienst. Hier koordinieren knapp 1000 Beschäftigte die Zusammenarbeit mit den Sozialverbänden, bearbeiten Anträge, Akten, Versicherungsfragen. Weitere 300 Mitarbeiter gibt es in Außendienststellen. Mit einem Jahresetat von rund 885 Millionen Euro verwaltete 2003 das Amt einen nicht geringen Posten im Etat des Familienministeriums von Renate Schmidt (SPD), der für 2004 mit insgesamt 4,7 Milliarden Euro veranschlagt ist. Monatlich 800 Euro werden vom Staat für jeden "Zivi" ausgegeben, hinzu kommen noch einmal 350 bis 400 Euro von der Stelle, die seine Dienste in Anspruch nimmt. Mit rund 1200 Euro Kosten pro Zivildienst Leistenden rechnet das Bundesamt, der Großteil fließt in die Renten- und Sozialversicherung, wird für Fahrtkosten- und Kleidungszuschüsse, Unterkünfte sowie den Anspruch auf Verpflegung verwandt. Zwischen 250 und 500 Euro erhält der Dienstverpflichtete - und nach seinen zehn Monaten wie Rekruten eine einmalige Abfindung von 690 Euro. Angesichts solcher Beträge wird schon seit langem über Aufwand und Nutzen des Wehrersatzdienstes diskutiert. Regina Mannel, die Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Sachsen, sieht eine "Kostenlawine auf die Kommunen und Krankenkassen" zukommen, sollte der Zivildienst abgeschafft werden. Zu verhindern wäre das nur durch Kompensationen seitens des Gesetzgebers. Denn vieles, was "Zivis" heute verrichten, könnte durch staatlich unterstützte Minijobs geleistet und damit könnten Arbeitsplätze geschaffen werden. Auch eine Aufwertung des freiwilligen Jahres, das derzeit 15 000 junge Menschen im sozialen Dienst verrichten, ist denkbar. Bert Hinterkeuser, Beauftragter für den Zivildienst bei der Arbeiterwohlfahrt, weiß, wie: "Etwa durch einen Bonus bei der Studienplatzvergabe, Anrechnung des Dienstes als Praktikum und bessere soziale Absicherung." Zudem sollten Arbeitgeber freiwilliges Engagement bei Bewerbungen höher bewerten. Ministerin Schmidt mahnt bei Abschaffung des Zivildienstes eine mehrjährige Übergangsfrist an. Geschieht dies nicht, könnte es für Krankentransporte, mobile Hilfsdienste sowie die Betreuung in Krankenhäusern und Altenheimen fatale Folgen haben, obwohl - so besagt es das Gesetz Zivildienst leistende junge Männer nicht anstelle hauptamtlicher Mitarbeiter beschäftigt werden dürfen. Die Praxis sieht in Zeiten leerer Kassen aber vielerorts anders aus. Und zu fragen bleibt auch, welcher hauptamtlich Beschäftigte oder Selbständige zukünftig Zeit findet, einem gebrechlichen Menschen aus der Zeitung vorzulesen oder mit Schwerstbehinderten das Kino zu besuchen. So gesehen sind "Zivis" derzeit tatsächlich unersetzbar. Ganz zu schweigen von Erfahrungen, die sie selbst sammeln. (DIE WELT 13.01.04) Junge Arbeitslose könnten nicht anstelle der Kriegsdienstverweigerer zwangsverpflichtet werden. Ihnen würde außerdem die Motivation für diesen insbesondere im Bereich der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung an die Nieren gehenden Job fehlen. Zivis, die sich bewusst für diese Tätigkeit entschieden haben, bringen aber die für die Betreuung notwendige Motivation auf. Wegen dieser unverzichtbaren Motivationslage wird bei den sozialen Organisationen aus ähnlichen Gründen auch nicht viel von einem allgemeinen sozialen Pflichtdienst gehalten, der an die Stelle der Wehrpflicht treten könnte. Außerdem sind Zivis in der Kostenkalkulation der Wohlfahrtsverbände ausgesprochen preisgünstig. Statt der Zivis qualifizierte Kräfte einzustellen, ist zu kostenintensiv, ist unbezahlbar. Und neu einzustellende Niedriglohnbeschäftigte sehen nicht ein, bettlägerigen nörgeligen Greisen für eine so niedrige Bezahlung die Hintern abzuputzen. Das Elend, das kurzzeitig dienende Zivis mit dem Blick auf das baldige Ende ihrer Dienstpflichtzeit seelisch verkraften können, würde bei unmotivierten Niedriglohnempfängern ohne Aussicht auf ein Ende der seelisch anstrengenden Tätigkeit in wenigen Monaten sehr schnell zu einem Burn-out-Syndrom führen. Und damit ist auch niemandem geholfen! Viele bei sich zu Hause individuell betreute Schwerstbehinderte müssten auf ihr ihnen verbliebenes Bisschen selbstbestimmtes Leben verzichten und in Heime abgeschoben werden. Es müssten weitere Heimplätze geschaffen werden, die solidarische Pflegeversicherung würde sich wesentlich verteuern.

696

Getrieben vom grünen Koalitionspartner und jungen Mitgliedern und Abgeordneten in den eigenen Reihen startete die SPD Ende 2004 einen Wehrkongress, der 2005 in einen Parteitagsbeschluss münden und die Frage der Organisation der Bundeswehr klären und für die nächsten Jahre festlegen solle. Dabei werden vier Positionen vertreten: 1.) Umwandlung der Bundeswehr in eine reine Berufsarmee. Dafür sprächen a) die Lösung des Problems nicht verwirklichter Wehrgerechtigkeit – „Wehrdienstlotterie statt Wehrgerechtigkeit“ - bei geburtenstarken Jahrgängen und b) eine höhere Professionalisierung der neu strukturierten Wehrmachtsverbände: weg von der vielleicht überholten Landesverteidigung und hin zu einer weltweit einsatzfähigen Eingreiftruppe, wenn man die haben will. Dagegen sprechen die höheren Kosten und das sich automatisch einstellende »Kastendenken« derjenigen, die es dann zu den Waffen drängt. Auf Grund unserer Geschichte fürchten wir die Wiederholung des „Staates im Staate“. Solche Tendenzen waren schon unter der bisherigen Struktur zu beobachten, als die NPD ihre Mitglieder dazu aufrief, verstärkt zur Bundeswehr zu gehen und dort die militärische Ausbildung zu erhalten, die denen sonst in Wehrsportgruppen und anderen „Kameradschaften“ beizubringen versucht wird, um Waffengeübte für einen gefaselten Umsturz zur Verfügung zu haben. Es sind schon Rechtsextremistische aus der Bundeswehr entlassen worden, um diesen sich jetzt schon gezeigt habenden Tendenzen zu wehren! 2.) Einführung eines freiwilligen Kurzdienstes, der auch in sozialen Einrichtungen abgeleistet werden könne. Durch die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung, die teilweise von mehr als der Hälfte der Wehrpflichtigen genutzt wird, geschieht die Ableistung des Wehrdienstes faktisch schon freiwillig. 3.) Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, auch für Frauen. 4.) Beibehaltung des bisherigen Mix aus Berufs- und Zeitsoldaten, ergänzt durch Wehrpflichtige. Dafür spricht die bessere Verankerung der Armee in der Bevölkerung zur Vermeidung von Kastendenken und der Gefahr der Entwicklung undemokratischer Tendenzen und falscher Elitenbildungen derjenigen, die bei einer Berufsarmee dorthin drängen würden. Die Kosten einer Armee jetzigen Zuschnitts sind – wie die Beispiele der Länder zeigen, die ihre Armeestruktur auf Berufssoldaten umgestellt haben - geringer als bei einer Berufsarmee und das Problem der momentanen Wehrungerechtigkeit löse sich, wenn die ausgesprochen geburtenschwachen Jahrgänge eingezogen werden. Wenn die Regierungskoalition zu dem Ergebnis kommen sollte, die in Art. 12 a GG geregelte Wehrpflicht abschaffen zu wollen, müsste das Grundgesetz geändert werden. Dazu bedarf es gemäß Art. 79 II GG einer Zweidrittelmehrheit der Abgeordnetenstimmen und damit der Zustimmung der CDU/CSU-Opposition im Deutschen Bundestag, die die allgemeine Wehrpflicht aber beibehalten will, und ebenfalls einer Zweidrittelstimmenmehrheit im von der CDU/CSU dominierten Bundesrat. Daher könnte die Regierungskoalition mit ihrer einfachen Parlamentsmehrheit ausschließlich eine Aussetzung der Wehrpflicht beschließen! Für die Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht werden als Gründe ins Feld geführt:  Als wichtigstes Argument wird angesehen, dass sich die Bedrohungslage für die BRD – Grund für die Verankerung der Wehrpflicht im Grundgesetz 1957 – radikal geändert habe und eine Landesverteidigung nach der Auflösung der Sowjetunion, der Aufnahme vieler der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in die Nato und der Erweiterung der EU um zunächst die neun mittel- und osteuropäischen Staaten nicht mehr oberste Priorität besitzt. Damit sei die Wehrpflicht als massiver Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männer zur Verteidigung des Landes sicherheitspolitisch nicht mehr zu rechtfertigen.  Wehrgerechtigkeit ist nicht mehr gegeben, da von den (angeblich weiterhin jährlich) 415.000 wehrpflichtigen Männern eines Jahrgangs künftig (angeblich) nur noch rund 50.000 zum Bund müssten.  Deutschland ist politisch so stabil, dass eine Armee ohne Wehrpflicht nicht mehr - wie zu Zeiten der Weimarer Republik - zum "Staat im Staate" werden würde. Eine Bundeswehr ohne Wehrpflicht sei genau so in die Gesellschaft integrierbar, wie in anderen demokratischen Staaten auch.  Die Umgestaltung einer Wehrmacht hin zu einer möglicherweise überall auf der Welt zum Einsatz kommenden Eingreiftruppe ist nur mit längerdienenden Profis möglich.  Mit der Umgestaltung der Struktur der Bundeswehr hin zur Berufsarmee unweigerlich verbundene Standortschließungen oder der von den Befürwortern angeführte Gesichtspunkt der Nachwuchsgewinnung aus den Reihen der Wehrpflichtigen reichten als Argument für den gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der gezogenen Wehrpflichtigen nicht aus, denn hier steht Pragmatismus gegen Grundrechte.  Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der jungen Männer sei so gravierend, dass der Hinweis auf die

697



bei Abschaffung der Wehrpflicht automatisch mit wegfallenden Kriegsdienstverweigerertätigkeiten auf Ersatzdienststellen in sozialen Einrichtungen nicht durchgreifen könne. Wenn diese Institutionen gezwungen sind, sich die dann fehlenden rund 100.000 Arbeitskräfte auf dem freien Arbeitsmarkt zu besorgen, werde die Arbeitslosigkeit in erheblichem Umfang abgebaut.

Für die Beibehaltung der Wehrpflicht werden als Gründe angegeben:  Nur durch die allgemeine Wehrpflicht wird die Bundeswehr – anders als die Reichswehr in der Weimarer Republik - ausreichend in der Gesellschaft verankert und mit dem demokratischen Geist des Staatsbürgers in Uniform erfüllt. Das beuge dem sich bei allen Berufsarmeen zu beobachtenden demokratiefeindlichen Kastendenken vor, wie es z.B. bei den Folterungen in den irakischen Gefängnissen durch US-Berufssoldaten zu beobachten war. Eine Armee mit einem hohen Prozentsatz Wehrpflichtiger, die nach einigen Monaten in ihr Zivilleben zurückgehen, ist »ziviler« als eine »Rambo-Wehrmacht« von ausschließlich berufsmäßig in ihr Diensttuenden.  Eine Berufsarmee wird erheblich teurer als eine Wehrpflichtigenarmee.  Die Nachwuchsgewinnung für die Bundeswehr ist garantiert, weil nach aller bisherigen Erfahrung rund 80 Prozent der länger dienenden Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgrade aus dem Reservoir der zunächst nur Wehrpflichtigen gewonnen werden. Man muss nicht – wie in den USA – Arbeitslose aus Gebieten ohne Chance auf eine Möglichkeit einer qualifiziert(er)en Berufsausbildung mit der Möglichkeit einer ihnen sonst nicht zugänglichen Berufsausbildung ködern oder - wie in Großbritannien geschehen - auf in Gefängnissen einsitzende Straftäter zurückgreifen, die bereit sind, sich gegen Straferlass zum Militärdienst zu verpflichten. Die Mehrzahl der NATO- und EUMitgliedsländer hat nach der von ihnen vorgenommenen Abschaffung der Wehrpflicht auf jeden Fall ein qualitatives Problem! Die in der BRD gebräuchliche Gewinnung von Längerdienenden hebt demgegenüber die Qualität des gewonnenen Personals.  Mit dem bisherigen Mix aus Berufs-, längerfristig dienenden Zeitsoldaten und Wehrpflichtigen lassen sich die Auslandseinsätze personell hinreichend bewerkstelligen, da – siehe das vorherige Argument – aus dem Reservoir der Wehrpflichtigen Längerdienende in ausreichender Anzahl gewonnen werden.  Die Abschaffung der Wehrpflicht ohne Beibehaltung der Stellenzahl von 55.000 Wehrpflichtigen bedeutet noch einmal die Schließung von mindestens 50 Bundeswehrstandorten.  Der zurzeit möglicherweise zu geringe Prozentsatz der Einzuziehenden erhöhe sich zwangsläufig, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge zur Ableistung ihres Militärdienstes anstehen.  Die Qualität motivierter, nur für mehrere Monate in diesem Bereich kurzfristig tätiger Ersatzdienstleistender liege wesentlich höher, als die Motivation derjenigen, die keinen anderen Job zu erhalten vermögen und darum nur notgedrungen eine Pflegetätigkeit annehmen werden. Die Gründe des Für und Wieder müssen unter Berücksichtigung der juristischen Implikationen überwiegend politisch abgewogen werden, eine rein juristische Abwägung ist nicht möglich. Diese Abwägung unterliegt unbezweifelbar dem Primat der Politik. Erst nachdem nach der Gewichtung der politischen Gründe die Entscheidung getroffen worden ist, muss sie juristisch in die politisch gewünschte Form gegossen werden, wenn die alte nicht mehr beibehalten werden soll. Dabei scheint das sogenannte „dänische Modell“ einen großen Reiz auf die Politiker auszuüben: Danach würde die Wehrpflicht formell bestehen bleiben, der laufende Bedarf an Soldatennachwuchs aber ausschließlich über Freiwillige gedeckt; die jungen Männer werden zwar noch gemustert, aber einberufen wird – außer für den „Tag der Streitkräfte“ - per Losentscheid nur, wenn sich nicht genügend Freiwillige melden sollten. Da von den im Mittelwert der Jahrgangsstärke zur Zeit etwa 444.000 zur Verfügung stehenden jungen Männern (abzüglich der 17 % als krank eingestuften und der 39 % den Kriegsdienst mit der Waffe verweigernden) pro Jahrgang im Jahre 2005 nur noch 73.000 für den Dienst an der Waffe gebraucht wurden und diese Zahl absehbar auf 55.000 Mann sinken soll, was für das möglicherweise dann nach dem Losverfahren einzuziehende Achtel Wehrungerechtigkeit pur bedeuten würde, könnte das “dänische Modell“ wirklich ein eleganter und gangbarer Weg sein, die Wehrpflicht beizubehalten, ohne jemanden einziehen zu müssen, wenn in ausreichender Zahl Freiwillige zur Verfügung stehen; was durch eine weitere Absenkung der Truppenstärke auf nur noch 230.000 Mann noch leichter zu erreichen wäre. Die Gegner sehen in dem „dänischen Modell“ eine „Wehrpflicht light“: das "dänische Modell" sei ein Versuch, zwischen den zwei klaren Positionen Wehrpflichtarmee und Freiwilligenarmee "künstlich eine Brücke zu schlagen, um eine politische Befriedung zu haben, die aber vollkommen sachfremd ist. Das ist wie halb schwanger oder ein bisschen Frieden.“ Und es kommen geburtenschwache Jahrgänge! Da wird der Anteil der Einberufenen an der Gesamtjahrgangsstärke von (hochgerechnet für 2008) 12,32 % auf 14,69 % im Jahre 2013 steigen.

698

Doch nach diesem Einblick in die Gesamtproblematik nun zu den angekündigten Fällen miteinander konkurrierender Grundrechte und Grundpflichten am Beispiel der Gewissensfreiheit und der allgemeinen Wehrpflicht. Diese Darstellung wird auch dann beibehalten, wenn das Konzept der Bundeswehr so grundlegend geändert werden sollte, dass solche Fälle nicht mehr eintreten können. Die Darstellung wird beibehalten, weil es in diesem Buch nicht um die Aufarbeitung mehr oder minder aktueller Fälle geht, sondern um die Darstellung meist grundrechtsrelevanter gesellschaftlicher Konflikte und ihre (teilweise un-)angemessene juristische Bewältigung, die nicht immer grundrechtskonform gelöst wurde: Um die wegen der ihnen immanenten Grundrechtsrelevanz nachfolgend angeführten Fälle bei der damaligen Wehrpflichtdauer von 18 Monaten verstehen und - dem Anliegen dieses Buches gemäß – dann auch juristisch angemessen beurteilen oder die daran geknüpften juristischen Überlegungen wenigstens nachvollziehen zu können, muss zunächst die Gesetzeslage für die Gewissensprüfung vor der Geltung des "Gesetzes über die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen" (KriegsdienstverweigerungsNeuordnungsgesetz KDVNG) von 1983 erläutert werden: Nachdem festgeschrieben worden war, dass eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zulässig sei, verlagerte sich das juristische Kriegsgeschehen auf einen Nebenkriegsschauplatz zu einem Stellvertreter- und Stellungskrieg mit Grabenkämpfen: Es wurde zunächst darum gekämpft, wann denn überhaupt eine Gewissensentscheidung vorliege, dann darum, ob die angeführten Gründe die behauptete Gewissensentscheidung tragen könnten, tragen würden. In vorderster Front standen Prüfungsausschüsse bei den Kreiswehrersatzämtern (KWEA). Lehnten sie einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer (KDV) ab, konnte hiergegen Widerspruch eingelegt werden, der dann in einem zweiten Anhörungsverfahren vor einer Prüfungskammer des KWEA weiterverhandelt wurde. Wurde dem KDV auch hier die Ernsthaftigkeit der von ihm vorgebrachten Gründe bestritten, so konnte er den Weg zu den - in dieser Frage sehr restriktiv urteilenden - Verwaltungsgerichten durch alle Instanzen beschreiten, obwohl jeder weiß, dass »Gewissen« letztlich nicht justitiabel ist. Kein Richter kann einem Antragsteller ins Herz schauen und die Ernsthaftigkeit der vorgetragenen Gewissensnot überprüfen. Deswegen musste die juristische Auseinandersetzung um die Frage, was »Gewissen« ist und was als Gewissensentscheidung anerkannt werden solle, zu einem Stellungskrieg ohne entscheidenden Raumgewinn ausarten. Inzwischen war das Verfahren geändert worden: Bei beabsichtigter Kriegsdienstverweigerung vor Einberufung oder einer diesbezüglichen Vorbenachrichtigung kann mit 17 1/2 Jahren beim KWEA ein KDV-Antrag gestellt werden. Zu diesem persönlich zu stellenden und zu unterschreibenden Antrag gehören a. die persönlichen Angaben, b. ein ausführlicher Lebenslauf, c. eine ausführliche Darlegung der den Antrag begründenden persönlichen Gewissensgründe für eine "schriftliche Gewissensprüfung" und d. ein polizeiliches Führungszeugnis (dessen Kosten auf Antrag erstattet werden können). Die eingereichten Unterlagen werden im Friedensfall vom KWEA an das Bundesamt für den Zivildienst weitergereicht, das sie allein und ohne persönliche Anhörung abschließend bearbeitet, wenn sie vollständig sind und nicht Zweifel an der Wahrhaftigkeit der gemachten tatsächlichen Angaben, insbesondere des glaubhaft zu machenden Gewissenskonfliktes, auftreten, indem z.B. zur Begründung der Gewissensentscheidung ein Formblatt der Kriegsdienstverweigererorganisation angeheftet oder abgeschrieben würde. Bei Auftreten von Zweifeln wurde ein beim zuständigen KWEA angesiedelter Ausschuss für Kriegsdienstverweigerung mit der weiteren Behandlung betraut. (Im Spannungs- und Verteidigungsfall ist dieser Ausschuss beim KWEA von vornherein ohne Zwischenschaltung des Bundesamtes für den Zivildienst auch schon für die ungedienten Wehrpflichtigen zuständig.) Dieser Ausschuss konnte nach Gutdünken allein auf Grund der Aktenlage oder nach persönlicher Anhörung entscheiden. Gegen dessen möglicherweise ablehnende Entscheidung konnte in einem Verwaltungsgerichtsverfahren durch alle zulässigen Instanzen geklagt werden. Aus Kostengründen wurde das Verfahren dann aber abgeändert: Die mündliche Gewissensprüfung wurde für alle verweigernden Soldaten, Reservisten und Einberufene abgeschafft und durch ein einheitliches schriftliches Verfahren ersetzt. Bis es so weit war, wurde aber so weiter verfahren wie bisher. Weil es für das Verstehen der nachfolgend geschilderten Fälle teilweise notwendig ist, wird es kurz skizziert: Wurde der Antrag auf Anerkennung als KDV nach Erhalt des Einberufungsbescheides von Einzuziehenden, Soldaten - gleichgültig ob Wehrpflichtige, Zeit- oder Berufssoldaten - oder von Reservisten gestellt, so wurde er vom KWEA gleich an den eben angesprochenen Ausschuss für Kriegsdienstverweigerung weitergeleitet, der den KDV zu einer mündlichen Anhörung vorladen und ihn dann detailliert bis inquisitorisch befragen konnte. Danach konnte dann wieder - wie es sich in einem Rechtsstaat gehört - eine möglicherweise ablehnende

699

Entscheidung in einem sich daran anschließenden Verwaltungsgerichtsverfahren gerichtlich überprüft werden. Diese Regelungen bedeuteten für die Ostdeutschen eine Besserstellung gegenüber der SED-Zeit unseligen Angedenkens, weil damals statt des normalen Soldatendienstes nur die einzige Möglichkeit eines in den Augen der Staatspartei sich selbst diskriminierenden Einsatzes als Bausoldat bestanden hatte. (So etwas »versaute« die über jeden Bürger beim MfS geführte Kaderakte, behinderte im Allgemeinen die spätere Berufs- und Arbeitsplatzwahl und verhinderte grundsätzlich ein Studium.) Die jetzt für Gesamtdeutschland gültigen Regelungen bedeuten aber für die Ostdeutschen eine Schlechterstellung gegenüber der Nach-SED-Zeit unter der CDU-Regierung, weil damals für 7 Monate die Möglichkeit bestanden hatte, bei effektiv gleicher zeitlicher Dauer und gleicher Bezahlung frei zwischen Militär- und Zivildienst zu wählen. Diese in Ostdeutschland vor der Wiedervereinigung zuletzt gegebene reine Wahlmöglichkeit verhinderte nach der Wiedervereinigung nunmehr das BVerfG, weil es von einer durch das Grundgesetz aufgegebenen und daher sicherzustellenden Verteidigungspflicht der jungen Männer gegenüber dem Staat ausgeht, die leer laufen könnte, wenn das freie Wahlrecht zwischen Militär- und Zivildienst gestattet würde. Art. 4 III GG solle nur im Falle eines schweren seelischen Konfliktes eine an Art. 1 GG orientierte höchstpersönliche Lösung ermöglichen. Die von der SPD/FDP-Koalition 1977 eröffnete "Postkarten-Lösung", die Abmeldung aus der Verteidigungspflicht per formlosem Antrag ohne Darlegung einer begründeten Gewissensentscheidung, was auf eine Wahlmöglichkeit hinausgelaufen wäre, war nach Anrufung des BVerfGs von ihm sofort gestoppt worden. Nach weitgehendem Abbau der Atomwaffen und dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation mit der Drohung und Gefahr eines mit »Overkill« geführten Atomkrieges kann sich wohl kein KDV mehr auf die polemisch vorgetragene Ansicht von Albert Einstein als für ihn relevanten Kriegsdienstverweigerungsgrund berufen, der geäußert hatte: "Wem bewusst ist, dass er im Atomzeitalter lebt, und sich dem Militärdienstzwang trotzdem nicht widersetzt, wer gedankenlos in die Kasernen trottet, obwohl er den Kriegsdienst verweigern kann, den kann ich nicht einmal bedauern. Er hat nur durch einen Irrtum sein Großhirn bekommen, das Rückenmark hätte ihm vollkommen genügt." Nun muss wohl, solange das Grundgesetz nicht diesbezüglich geändert wird, wieder mehr das Argument der eigenen Unmöglichkeit, notfalls einen Menschen töten zu können, in den Vordergrund rücken, wenn der im Grundgesetz als "Kriegsdienst" benannte Wehrdienst verweigert werden soll. Eine Grundgesetzänderung wird aber schon von einigen Politikern seit einiger Zeit erwogen: "Künftig drei Dienstpflichten für Männer? Hamburgs Senator Zumkley fordert breiteres Angebot ... Bonn - Neben dem Wehrdienst sollen künftig ein sozialer und ein ökologischer Dienst gleichrangig in einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer zusammengefaßt werden. ... Der SPD-Politiker will so den Wehrdienst auch in einer verkleinerten Bundeswehr retten. Zumkley sagte: `Künftig muß für die Bundeswehr im Rahmen der allgemeinen Dienstpflicht das Prinzip Freiwilligkeit gelten.' ... Sicher sei aber, daß es künftig für Dienstpflichtige eine breitere und interessantere Angebotspalette geben müsse als beim bisherigen Zivildienst. Die allgemeine Dienstpflicht sei als Engagement für die Gesellschaft und als Ausdruck der Solidarität im demokratischen Rechtsstaat zu verstehen. ..." (HH A 04.02.93) Inzwischen zeichnen sich auch schon die Leitlinien des neu gestalteten Prüfungsverfahrens ab: „Das Bundeskabinett hat [am 17.03.03; der Autor] den Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung beschlossen. Kern des neuen Kriegsdienstverweigerungsgesetzes ist, die Verfahren für die Kriegsdienstverweigerung zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Die Neuregelung des Gesetzes soll spätestens am 1. Januar 2004 in Kraft treten. Soldatinnen und Soldaten, gediente Wehrpflichtige und vorangekündigte Wehrpflichtige werden in Zukunft den ungedienten Wehrpflichtigen gleichgestellt. Es wird nur noch ein einheitliches Kriegsdienstverweigerungsverfahren beim Bundesamt für den Zivildienst geben. Ein Führungszeugnis muss nicht mehr vorgelegt werden. Bislang werden die Kriegsdienstverweigerungsanträge von ungedienten Wehrpflichten vom Bundesamt für den Zivildienst entschieden. Anträge von Soldatinnen und Soldaten, gedienten Wehrpflichtigen (Reservisten) und sogenannten "vorangekündigten" Wehrpflichtigen - bereits einberufene oder schriftlich benachrichtigte ungediente Wehrpflichtige - hingegen werden nach einem besonderen Verfahren durch Ausschüsse bzw. Kammern für Kriegsdienstverweigerung

700

entschieden. Auf die Ausschüsse und Kammern für Kriegsdienstverweigerung wird künftig verzichtet. Das Verfahren wird sich im Wesentlichen am bisherigen Anerkennungsverfahren des Bundesamtes für Zivildienst orientieren, d.h. es gibt ein schriftliches Verfahren, in dem auch die ernsthafte Gewissensentscheidung dargelegt werden muss. Nur wenn Zweifel bestehen, wird der Antragsteller bzw. die Antragstellerin vom Bundesamt für den Zivildienst zu einer mündlichen Anhörung eingeladen. In der Neuregelung des Gesetzes sind die Rechtsvorschriften gestrafft worden. Umfasste das Kriegsdienstverweigerungsgesetz bisher 23 Paragraphen, wird es nun auf 13 Paragraphen gekürzt. Der Gesetzentwurf ist geschlechtergerecht ausformuliert; auch Soldatinnen sind antragsberechtigt.“ (Pressemitteilung BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 17.03.03)

Damit genug der Vorrede. Für die nun näher dargestellten Verfahren vor dem BVerfG galt als Voraussetzung noch die alte, eingangs dieses Abschnitts skizzierte Regelung des Prüfungsverfahrens vor den Prüfungskammern der KWEAs. Und weil die jetzt anzusprechende juristische Auseinandersetzung exemplarische Einsichten in unser System der Grundrechte und unser Gerichtswesen ermöglicht, wird die Darstellung dieses Konfliktes auch für den Fall beibehalten, dass (nicht mehr ganz unwahrscheinlicherweise und frühestens 2010) die Wehrpflicht abgeschafft werden sollte. Beispiels fälle für notwendi ge Abwägun gen bei widerstre itenden grundges etzlichen Regelung en

Fall BVerfGE 23/191 (1968): Die Angehörigen der Sekte »Zeugen Jehovas« verweigern prinzipiell nicht nur erlaubterweise die Ableistung des Wehrdienstes, sondern auch unerlaubterweise die Ableistung des dann stattdessen zu erfüllenden zivilen Ersatzdienstes. Daraufhin wurden die vergeblich zur Ableistung des Ersatzdienstes Aufgeforderten wegen der begangenen "Dienstflucht" nach § 53 Ersatzdienstgesetz ein Nebenstrafrechtsparagraph - bestraft. Nach Verbüßung der Gefängnisstrafe wurden sie erneut zum Dienstantritt aufgefordert, verweigerten wieder und wurden wieder mit mehrmonatiger Haftstrafe belegt. (Man musste kein Anhänger der »Zeugen Jehovas« gewesen sein, um dieses staatliche Vorgehen als skandalös nachzuempfinden. Aus diesem Grund wollte der Autor sein Reserveoffizierspatent zurückgeben, unterließ es dann aber u.a. aus der Trägheit seines Herzens - was er sich 40 Jahre später noch heute ein bisschen übel nimmt. Aber man kann andererseits auch nicht auf jede Fehlentscheidung selbst nur unseres obersten Gerichts, von denen gleich noch einige beispielhaft angesprochen werden, mit einem persönlichen Demonstrationsakt reagieren. So viele Möglichkeiten hat man gar nicht in seinem persönlichen Bereich!) Gegen die wiederholte Verurteilung wegen wiederholter Dienstflucht nach schon einmal verbüßter Dienstfluchthaftstrafe erhoben einige Sektenmitglieder fristgemäß Verfassungsbeschwerde. Sie beriefen sich dabei auf ihr Grundrecht aus Art. 103 III GG "Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden." Die Strafrichter hatten das bisher anders gesehen als die Beschwerdeführer. Für sie lag mit jeder erneuten Dienstflucht ein neues Vergehen und nicht "dieselbe Tat" vor, denn sonst hätte sich nach ihrer Meinung jeder kleine Eierdieb, wenn er wieder mal beim Stehlen erwischt worden war, darauf berufen können, er sei schon einmal wegen eines Diebstahls verurteilt worden. Besonders für Kleptomanen (Personen mit krankhaftem Stehltrieb) wäre das eine wunderbare Zukunftsvision gewesen! Das wollten die Strafrichter aus ihrem Gerechtigkeitsempfinden heraus durch Gleichbehandlung vermeiden: Wer - gleichgültig ob als Eierdieb oder als "Dienstflüchtender" wiederholt die Gesetze bricht, sollte auch wiederholt bestraft werden. Wie war zu entscheiden? (Stimmte der von manchen Strafrichtern angestellte Vergleich?) Das BVerfG gab hingegen den Beschwerdeführern recht. Es urteilte: "Dieselbe Tat i.S.v. Art. 103 III GG liegt auch vor, wenn die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst auf die ein für allemal getroffene und fortwirkende Gewissensentscheidung des Täters zurückgeht; eine dazwischen ergangene Verurteilung wegen

701

Dienstflucht steht dem nicht entgegen." Die Ernst- und Dauerhaftigkeit der Gewissensentscheidung sei bei den Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas unzweideutig erwiesen. Das stellte das BVerfG 1984 in zwei Entscheidungen klar. Doch dann beriefen sich andere auf die im Falle der Zeugen Jehovas ergangene und vorstehend zitierte Begründung der Entscheidung. Fall BVerfGE 28/265 (1970): Drei junge Männer hatten einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer (KDV) gestellt; einer vor seiner Einberufung, zwei aber erst während ihrer schon begonnenen Dienstzeit. Weil ihre Anträge auf Anerkennung als KDV sowohl von dem Prüfungsausschuss wie auch in der Rechtsmittelinstanz von der Prüfungskammer abgelehnt worden waren, mussten alle drei Dienst tun. Auch derjenige, der vor(!) seiner Einberufung den Antrag auf Anerkennung als KDV gestellt hatte, war eingezogen worden, obwohl die Verwaltungsmaßnahme der Ablehnung nunmehr bei dem Verwaltungsgericht zur gerichtlichen Überprüfung anhängig gewesen war. Auch die beiden zur Ableistung des Wehrdienstes zunächst bereiten und dann verweigernden jungen Männer hatten vor dem Verwaltungsgericht (VG) eine Klage anhängig gemacht. Alle drei Kläger wurden später von dem jeweils zuständigen VG als KDV anerkannt! In der Zwischenzeit aber hatten sie sich wiederholt geweigert, Dienst mit der Waffe zu tun. Was hätten sie auch tun sollen, da die Ernsthaftigkeit ihrer Motivation in dem anhängigen Gerichtsverfahren mit Sicherheit in Zweifel gezogen worden wäre, wenn sie entgegen ihrer behaupteten Überzeugung am Waffendienst teilgenommen hätten?! Für ihre wiederholten Befehlsverweigerungen waren sie mehrfach disziplinarisch mit Arrest bestraft worden. Unter Hinweis auf Art. 103 III GG riefen auch sie (zwei Jahre nach der zuvor behandelten Entscheidung) deswegen das BVerfG an, weil sie - wie bei der Abstrafung der Zeugen Jehovas - in dem Vorgehen ihrer Disziplinarvorgesetzten ebenfalls eine unzulässige Doppelbestrafung sahen. Auch sie hatten ja mit einer durchgängigen Motivationslage auf Grund einer einmal gefällten Gewissensentscheidung gehandelt. Ein Tipp nach dem Rechtsgefühl (»juristischen Bauchgefühl«, »Judiz«) bitte: Wie ging das Verfahren aus? Lesen Sie bitte zunächst noch einmal genau(!) den Text des Art. 103 III GG - und Sie werden verblüfft sein! Dieses Mal waren für das BVerfG nämlich nicht wie in dem zuvor geschilderten Fall der Zeugen Jehovas die Wörter "dieselbe Tat" entscheidungserheblich, sondern die Wörter "allgemeine Strafgesetze". Das BVerfG entschied gegen die Kläger: Das Doppelbestrafungsverbot gilt nach Meinung unseres höchsten Gerichts nur im Bereich des Strafrechts, nicht aber im Bereich der Disziplinarmaßnahmen - auch wenn man im Zuge dieser Maßnahmen in einer Zelle einsitzen muss. Darauf muss man erst einmal kommen. Das zeugt von juristischer Kreativität! Das schaffen nur Spitzenjuristen. Um dieses so feine juristische Netz zu schmieden, muss Hephaistos Pate gestanden haben! Aber spätestens bei juristisch unverbildeten Normalbürgern, die schon einmal eine Arrestzelle gesehen oder erlitten haben, setzt das Verständnis für einen solchen Argumentationsstrang aus, denn das BVerfG argumentierte: Wiederholte Arrestmaßnahmen in Disziplinarverfahren gegen einen Soldaten, der z.Zt. der Disziplinarmaßnahmen noch nicht als KDV anerkannt ist, verletzten bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit weder das Grundrecht aus Art. 103 III GG noch das Rechtsstaatsprinzip. Die vom BVerfG in wiederholter Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über das Verbot der mehrfachen Bestrafung von Ersatzdienstverweigerern seien auf die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen Soldaten nicht anzuwenden, da deren Zweck nicht die Ahndung von Straftaten, sondern die Erziehung des Soldaten zur Erfüllung seiner Pflichten seien. Mit diesem Zweck sei es vereinbar, bei wiederholten Pflichtverletzungen wiederholte Maßregelungen zu treffen. Um die Einsatzbereitschaft der Truppe und damit unsere Verteidigungsbereitschaft zu gewährleisten, stehe ein Verweigerungsrecht erst dem rechtskräftig anerkannten Verweigerer zu. Anmerkung: Kann ein auf Grund eines schweren seelischen Konfliktes und nach einer Entscheidung nunmehr auf Grund einer bestehenden durchgehenden Motivationslage zur Wehrdienstverweigerung bereiter "Noch-aberbald-nicht-mehr-Soldat" durch wiederholte Arreststrafen überhaupt zur Erfüllung von von ihm prinzipiell abgelehnten soldatischen Pflichten erzogen werden? Unschwer lässt sich mit dem Hinweis darauf, dass der Bürger nicht zum Objekt sinnloser staatlicher Sanktionen degradiert werden dürfe, ein Verstoß gegen die in Art. 1 I GG geschützte Würde des betroffenen Menschen wenigstens argumentativ vertreten! Manchmal verkennt eben auch das BVerfG die Wertungen des Grundgesetzes. War es im Fall des zuerst genannten Verweigerers

702

wirklich verhältnismäßig, einen Verweigerer, dessen Verfahren zur Anerkennung als KDV schon vor(!) seiner Einziehung angelaufen und auch schon bei dem zuständigen Verwaltungsgericht anhängig war, überhaupt noch zur Ableistung des von ihm in einer grundsätzlichen moralischen Entscheidung abgelehnten Wehrdienstes einzuberufen? Wohl nicht! Wieso hatte der Ausgang des schon anhängigen Verfahrens nicht abgewartet werden können? Und mitmenschlich war es auf keinen Fall! Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit muss so gestellt werden, denn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat obwohl im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt, sondern von dem BVerfG in ständiger Rechtsprechung aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet - Verfassungsrang. Wegen der in Art. 20 III GG getroffenen Regelung muss sich jedes(!) staatliche Handeln an dem im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Ausdruck kommenden Übermaßverbot messen lassen. »Der Staat«, gleichgültig in welcher Form er dem Bürger gegenübertritt, darf nicht mit seinen Kanonen auf uns Spatzen schießen. Kein Polizist dürfte z.B. einen an den Bahngleisen angeketteten Anti-Atomtransport- oder anderen mehr oder minder gewalttätigen Demonstranten erschießen. Blockierer von Bahngleise müssen – zwar nicht in einer Sänfte und nicht unbedingt sanft – weggetragen werden. Und nicht nur auf uns Spatzen darf nicht ohne ausreichenden Grund geschossen werden, sondern auch nicht auf Dackel, Zwergpinscher, und was es da sonst noch für kleine Knochennager gibt. Das urteilte das OLG Hamm in dem Fall, dass nach den Kampfhund-Attacken eine Kommune einen generellen Leinenzwang für alle Hunde, gleich welcher Rasse und Größe, verhängt hatte Nicht nur die Gerichte sind an die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gebunden, sondern auch die Gesetzgebung und die Verwaltung. So war es nach dem rechtskräftigen Urteil des Hamburger Verwaltungsgerichts unverhältnismäßig und damit rechtswidrig, dass die Hamburger Polizei am 08.06.86 ca. 400 Demonstranten mehr als 14 Stunden lang im dadurch berüchtigt gewordenen "Hamburger Kessel" ohne hinreichenden Grund, ohne Wasser, Brot und Toiletten festgehalten hatte, um ihr Mütchen an hilflos gemachten Demonstranten in relativer geistiger Nähe zur Hafenstraße zu kühlen. Sie wollte die schon lange aufmüpfigen Demonstranten Mores lehren! Stattdessen musste der Innensenator gehen, und die leitenden Polizeioffiziere mussten (Jahre später) vor dem Strafrichter erscheinen, wo sie verurteilt wurden. Die Demonstranten, die zivilrechtlich auf Schadensersatz geklagt hatten, hatten zwischenzeitlich nach dem präjudizierenden (das begangene Verwaltungsunrecht auch für die Zivilverfahren rechtsverbindlich feststellenden) Verwaltungsgerichtsurteil, in dem die Rechtswidrigkeit festgestellt worden war, von der dafür zuständigen "Fiskus-Kammer" des Hamburger Landgerichts, die schon durch unverständliche Abwehr von Schadensersatzansprüchen gegen den Staat Aufsehen in der bundesdeutschen Presse erregt hat, pro Demonstrantennase DM 200,- als Schmerzensgeld zugesprochen erhalten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allen staatlichen Handelns, den die Verwaltung im Konfliktfall oft nicht beherzigt (Beispiel: nach dem Hamburger erneut der Münchner Kessel), obwohl ihre Juristen und Behördenleiter ihn kennen, besagt, dass bei einem auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung vorgenommenen belastenden Eingriff in die grundsätzlich bestehende Freiheitssphäre des Bürgers – und für einen solchen schwerwiegenden Eingriff ist unabdingbar eine gesetzliche Ermächtigung erforderlich - nur diejenigen Mittel angewandt werden dürfen, die gerade notwendig und ausreichend sind, um den angestrebten Erfolg zu erreichen. Im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse ist bei einem notwendigen staatlichen Eingriff unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen in einer Abwägung dann diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten belastet. Die Wahl eines schwereren Eingriffsmittels als unbedingt notwendig macht die angewandte Maßnahme rechtswidrig. Es gilt ein "Übermaßverbot". Der Staat begeht bei Verletzung des Übermaßverbotes "Verwaltungs-Unrecht". „Richter lassen Rinder leben ap Koblenz – Aus England stammende Rinder, bei denen kein konkreter Verdacht auf eine BSEAnsteckung besteht, müssen in Deutschland vorläufig nicht getötet werden. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hob eine entsprechende Anordnung des Westerwaldkreises auf. Begründung: Ein Schlachtverbot reiche aus.“ (HH A 08.10.96) Ein Autofahrer hatte sein Kfz in der zweiten Reihe abgestellt, aber an der Windschutzscheibe gut sichtbar einen Zettel mit seiner Handy-Nummer angebracht und der Telefonnummer den Satz hinzugefügt: „Komme bei Anruf sofort.“ Die Polizei rief ihn aber nicht an, sondern schleppte sein Kfz ab und stellte ihm DM 173,10 dafür in Rechnung. Dagegen wandte sich der Falschparker. Das Hamburger Verwaltungsgericht gab ihm (in dem bisher noch nicht rechtskräftigen Verfahren) recht: Das Abschleppen sei nicht verhältnismäßig gewesen, denn ein Anruf beim Fahrer wäre „die mildere Maßnahme gewesen. Zwar müsse nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Polizei bei einem Abschleppvorgang nicht vorher Nachforschungen nach dem Aufenthalt des Zustandsstörers anstellen

703 – und nach dieser gefestigten Rechtsprechung handelte die Polizei -, aber eine Ausnahme von diesem Grundsatz bestehe im Einzelfall: „Wenn der Fahrer ... selbst Vorkehrungen dafür getroffen hat, dass er leicht, kurzfristig und zuverlässig erreichbar ist.“ In einem solchen Fall sei eine Nachforschung „erfolgversprechend“. Die Hamburger Polizei sieht in diesem Urteil eine „Erlaubnis zum Wildparken“, könne bei diesem Massendelikt vor lauter Anrufen gar nicht mehr ihrer Arbeit nachkommen und legte darum Berufung ein. „Abschleppen trotz Telefonnummer Stuttgart – Eine Visitenkarte mit einer Handy-Nummer hinter der Windschutzscheibe schützt Falschparker nicht vor dem Abschleppen. Das entschied der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim. in der Vorinstanz hatte der Jurist, der auf einem Behindertenparkplatz stand, noch gewonnen (Az.: 1 s 1248/02). (rtr)“ (HH A Februar 2003) Darüber hinaus gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch, dass ein an sich notwendiges Mittel dann nicht angewandt werden darf, wenn es außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht. So war ein Mann querulatorisch aufgetreten und der Verwaltung frech gekommen, woraufhin vom Richter eine schmerzhafte und auch nicht ungefährliche Entnahme von Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit durch Punktion angeordnet worden war, um so den Querulanten auf eine Erkrankung des Zentralnervensystems und damit seine Zurechnungsfähigkeit hin untersuchen zu lassen. In seinem berühmten "Liquor-Fall" (BVerfGE 16/194ff) hatten die "Richterkönige" des BVerfGs die Anordnung dieser Maßnahme als unverhältnismäßig und verfassungswidrig beurteilt. Dieser dem Übermaßverbot unterliegende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist – auch wenn es manchem Konservativen schwer fällt – nicht nur gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Ausländern zu beachten. Lehrreich ist in diesem Zusammenhang, wie die bayerische Ausländerbehörde vom BVerwG im Fall des schwerkriminellen Kinderstraftäters »Mehmet« zusammengestaucht wurde: Einem türkischen Ehepaar gegenüber ist 1998 nach über 30-jährigem unauffälligem Aufenthalt trotz des schon jahrelang erreichten abgesicherten Aufenthaltsstatus’ eine Ausweisung ohne Rückkehrrecht - wie Kritiker berechtigt vorbrachten: „in Sippenhaft“ - ausgesprochen worden, weil ihr schwerkrimineller minderjähriger, von dem Jugendgericht aus Jugendschutzgründen der Presse gegenüber als »Mehmet« bezeichneter Sohn Muhlis hier schon in den letzten drei Jahren vor Eintritt der erst mit 14 Jahren beginnenden Strafmündigkeit als Serientäter zwar nur 5 Klassen geschafft, aber 62 teilweise als Verbrechen qualifizierte Straftaten begangen hatte. Eine erneute Raubstraftat nach seinem 14. Geburtstag war eine zu viel! Das Verwaltungs- und das Oberverwaltungsgericht München bestätigten die Rechtmäßigkeit der ihn betreffenden Ausweisungsanordnung, die auch durchgesetzt, und deren Durchsetzung nicht von türkischen Behörden – wie schon fast einhundert Mal bei in der Bundesrepublik schwerkriminell gewordenen Türken mit einem einfallsreichen Trick geschehen – durch Entziehung der Staatsbürgerschaft auf dem Verwaltungsweg vereitelt wurde, da die Türkei ja nur türkische Staatsbürger zurücknehmen müsse, nicht aber (durch die blitzschnelle Entziehung der Staatsbürgerschaft daraufhin) Staatenlose. (Tolle Idee: Dem Juristen in mir nötigt so viel - von unserem Staat nicht hinnehmbare – unseriöse juristisch-handwerkliche Schlitzohrigkeit irgendwie ein wenig intellektuelle Bewunderung ab!) Damit war es den bayerischen Behörden aber nicht genug. Als rechtliche Neuheit wurde nun auch den hier 30 Jahre lang »unbescholten« gelebt habenden Eltern gegenüber eine Ausweisungsverfügung erlassen: Weil sie ihren Sohn nicht ordentlich erzogen und nicht im Griff haben, hätten sie ihre Erziehungspflicht verletzt und müssten mit ihrem unsere öffentliche Ordnung erheblich gefährdenden Sohn die Bundesrepublik Deutschland verlassen - der hier bei uns in unserer deutschen Gesellschaft zum Serienstraftäter dissozialisiert worden ist. Das ist nicht nur insofern ungewöhnlich, weil jetzt das erste Mal in Deutschland ausländische Eltern in die Haftung für das Un-Wohlverhalten ihres missratenen Kindes einbezogen und deswegen ausgewiesen werden sollten, sondern auch deswegen, weil schon fast üblicherweise türkische Eltern ihre zu missratenen Kinder aus der Schusslinie der bundesrepublikanischen Behörden zu bringen und vor Strafverfolgung zu schützen suchen, indem sie die unlieben Kleinen bei heimischen Verwandten ihrer Großfamilie unterzubringen trachten. Die scheinen in diesem Fall nicht vorhanden gewesen zu sein - oder das Risiko der Aufnahme des Serienstraftäters gescheut zu haben. Die Zwangslage der Eltern: Sie sind nicht im Rentenalter, der Vater verlöre aber hier seinen Arbeitsplatz bei BMW, und die Familie wüsste nicht, wovon sie leben sollte. Ein tragender Rechtsgrundsatz des bundesrepublikanischen öffentlichen Rechts ist das so genannte »Übermaßverbot«, das bei allen staatlichen Eingriffen zu gelten hat und darum stets zu beachten ist. Sollte ausländischen Eltern von der Rechtsordnung bislang eine - im Vorgriff auf eine von der CSU durch eine Bundesratsinitiative angestrebte dann auch für deutsche Eltern geltende - im Vergleich zu deutschen Eltern gesteigerte Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder auferlegt sein, deren Erfolglosigkeit gegebenenfalls durch Rauswurf sanktioniert werden kann? Wenn die Eltern alles versucht haben und der Bengel von seinem Vater und einem der älteren Brüder (laut

704 Zeitungsbericht) nach Straftaten „regelmäßig zusammengeschlagen“ worden sein soll, er sich aber als strafresistent erwiesen hat? Auch wenn, wie in diesem Falle, der - allerdings erst seit drei Monaten - von dem deutschen Jugendamt der Stadt München gestellte Sozialarbeiter bisher in dem sicherlich zu kurzen Zeitraum ebenfalls an dem Bengel scheiterte? Und woher sollen die ausländischen Eltern diese gesteigerte Fähigkeit haben, wenn viele Deutsche ihre Kinder genau so wenig erziehen können? (Als Lehrer und auf das Strafrecht spezialisierter ehemaliger Rechtsanwalt weiß ich, wovon ich rede!) Woher soll diese von den bayerischen Behörden behauptete gesteigerte Rechtspflicht ausländischer Eltern hergeleitet werden? Bayern plant zur Absicherung in zukünftigen Fällen mit anderen ausländischen Eltern eine entsprechende Bundesratsinitiative zur Änderung des Ausländergesetzes. Und für ausländische Kinder - unter 14 Jahre alt - soll nach Vorstellungen der CSU, auch wenn die Kinder nur in Deutschland aufgewachsen sind, künftig die „nachweisbare Begehung von Straftaten“ als im Ausländerrecht zu verankernder Rechtsgrund für eine Ausweisung genügen. Obwohl - auch international, vielleicht durch z.B. viele schon in Kraft gesetzte einzelstaatliche Regelungen in den USA beeinflusst - in der Bundesrepublik Bestrebungen im Gange sind, ausländische und inländische Eltern für die kriminellen Taten ihrer Kinder strafrechtlich - bei ausländischen Eltern bis zum Rauswurf auch der Eltern haftbar zu machen, kann man berechtigte Zweifel hegen, ob unsere höchsten Gerichte, letztlich das Bundesverfassungsgericht, solch einschneidende Veränderungen der Lebensumstände sowohl des Jugendlichen als auch seiner Eltern durch die Verwaltungsbehörde und ein Untergericht wegen Kollision mit dem vorrangigen Verfassungsgrundsatz des Übermaßverbotes hinnehmen werden! Als Verfassungsrichter würde ich das ablehnen! Das von den Eltern durch Anfechtungsklageerhebung angerufene Verwaltungsgericht hat im Falle der Überprüfung der gegen die »unbescholtenen« Eltern ergangenen Ausweisungsverfügung zu Recht zu deren Gunsten entschieden. Und 2001 erlaubte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Rückkehr des früheren Serienstraftäters, weil nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden könne, dass »Mehmet« sein früheres Verhalten nach Rückkehr in das Bundesgebiet fortsetzen werde. Die Ausweisung vor drei Jahren sei außerdem auch deswegen unrechtmäßig gewesen, weil dem Jugendlichen nach dem europäisch-türkischen Assoziationsvertrag ein Aufenthaltsrecht zugestanden habe. Die bei dem in Berlin ansässigen Bundesverwaltungsgericht eingelegte Beschwerde der Stadt München wurde 2002 ebenfalls in diesem Sinne entschieden. Muhlis A. dürfe wieder einreisen. Dem mittlerweile 18-Jährigen müsse wieder eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Das BVerwG wies in der Revisionsverhandlung auf die besonders starke Stellung von in Deutschland geborenen und hier aufgewachsenen Ausländern als „faktische Inländer“ hin, die als Minderjährige einen besonderen Abschiebeschutz genössen. Der Familienschutz aus Art. 6 I GG „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“ sei in solchen Fällen stärker zu beachten, als es die bayerischen Behörden mit Blick auf Art. 6 III GG „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“ getan hatten, als sie ein Exempel hatten statuieren wollen, und gegen die begangene Straftat abzuwägen. Die habe bei dem von „Mehmet“ nach Erreichen der Strafmündigkeit begangenen Raub als einziger abzuurteilender Straftat nicht vorgelegen. Die Münchner Ausländerbehörde drang auch nicht mit dem Argument durch, dass der zurückkehrende Serienstraftäter nicht in den Schoß der Familie zurückkehren werde, sondern erst einmal sozialtherapeutisch behandelt werden müsste. Aber die bayerischen Behörden hatten noch einen Pfeil im Köcher, um „Mehmet“ die Rückkehr so unangenehm wie möglich zu machen. Der Innenminister des Landes und potentielle Bundesinnenminister, der das Urteil des BVerwGs als „Zurücksetzung des Schutzes der [in Deutschland lebenden] Bevölkerung“ kritisierte, wies darauf hin, dass nun das wegen der Ausweisung unterbliebene Strafverfahren bezüglich der mit nach dem 14. Geburtstag begangenen Raubstraftat erneut aufgenommen werde, um eine Verurteilung zu erwirken. (Die vier Jahre ohne die eigene Familie in der Türkei reichen den bayerischen Behörden nicht! „Mehmets Rückkehr“ mache laut CDU-Generalsekretär Meyer „jeden ehrliche Bürger zornig“.) Die Union kündigte außerdem an, nach einem eventuellen Wahlsieg schärfere Gesetze durchdrücken zu wollen, um minderjährige Straftäter ohne deutschen Pass leichter abschieben zu können. Man kann nicht sagen, dass Muhlis, alias Mehmet – entgegen anderslautenden Bekundungen nach seiner Rückkehr gegenüber den Medien - aus seinen Fehlern etwas gelernt habe. Im Februar 2005 wurde er wieder in Haft genommen: Seine Eltern hatten den inzwischen 20-Jährigen angezeigt, weil er seine 57-jährige Mutter und seinen 67-jährigen Vater seit Monaten immer wieder geschlagen und sogar mit dem Tod bedroht habe – „Euer Tod wird aus meiner Hand kommen, ich bringe euch um, ich werde euch abstechen!“ -, um von ihnen Geld zu

705

erpressen. Ein Richter erließ Haftbefehl wegen räuberischer Erpressung, vorsätzlicher Körperverletzung und Bedrohung. Nun könnte ihm – nach Verbüßung einer 2003 für einen Raubüberfall zur Bewährung ausgesetzten Haftstrafe - die endgültige Ausweisung drohen, weil inzwischen der (nur) Minderjährigen zustehende besondere Ausweisungsschutz des deutschen Ausländerrechts zum Schutz der Familie entfallen ist! Nach seiner Verurteilung zu einer Jugendstrafe wegen der zuletzt gegen seine Eltern begangenen Delikte hat das bayerische Innenministerium seine erneute Ausweisung in Angriff genommen. Eine quasi „abschiebende Lösung“, von der ich mir nicht vorstellen kann, dass sie vor dem BVerfG Bestand haben könnte, hat ein Kölner Jugendrichter gefunden: „Deutscher Serientäter verurteilt Zur Besserung in die USA Ein Kölner Richter hat einen jugendlichen Serientäter in ein privates Jugendgefängnis in den USA geschickt. Das berichtet der "Kölner Stadt-Anzeiger". Der 14-Jährige, der aus Datenschutzgründen Murat genannt werde, soll 150 Straftaten begangen haben. Er war laut dem Zeitungsbericht im Sommer vergangenen Jahres zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Da bislang alle Angebote der städtischen Jugendhilfe wirkungslos geblieben seien, sei er am Mittwoch zu einem einjährigen Aufenthalt in der Besserungsanstalt Glen Mills im US-Bundesstaat Pennsylvania verurteilt worden. Am Tag darauf habe er bereits im Flugzeug Richtung USA gesessen. Ein Mitarbeiter des Kölner Jugendamtes sagte dem Blatt, seine Behörde sei "froh, dass wir nochmals eine Maßnahme gefunden haben, nachdem viele andere Angebote fehlgeschlagen sind." Glen Mills School ist laut "Kölner Stadt-Anzeiger" eine Jugendanstalt ohne Zellen, Schlösser und Wärter, die Insassen überwachten sich gegenseitig. Die Rückfallquote liege bei 30 Prozent. Die Anstalt werde von Kritikern wegen des dort herrschenden Psychoterrors jedoch scharf kritisiert.“ (Internet sternshortnews 10.01.03) Das us-amerikanische Jugendgefängnis ist eine private Besserungsanstalt für rund 1.000 straffällige Jugendliche mit Resultaten, die aufhorchen lassen: 70 % der US-Absolventen sollen nicht mehr rückfällig werden. (HH A 10.01.03)

Nachdem wir uns über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schlau gemacht und punktuell den allgemeinen Wissensstand der Juristen und damit auch der Richter des BVerfGs erworben haben, nun zurück zu den Kriegsdienstverweigerern, die schon unseres Urteils harren, nachdem das BVerfG deren Anträge abgeschmettert hat, eine Grundrechtsverletzung durch mehrfache Verhängung des Arrestes festzustellen. Das Problem der Doppelbestrafung erledigt sich dabei zu Gunsten der Beschwerdeführer schon dann, wenn aus einem anderem Grunde eine Grundrechtsverletzung festgestellt werden kann. Ansatzpunkt hierzu: Hat das BVerfG bei seiner abschmetternden Entscheidung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausreichend beachtet? Wer sich ein eigenständiges Urteil zutraut, mag mitüberlegen: Das BVerfG hatte die Beschwerde der drei KDVs auf Feststellung einer Grundrechtsverletzung mit der Begründung abgelehnt, dass die Verteidigungsfähigkeit des Staates nicht beeinträchtigt werden dürfe. Sie aufrecht zu erhalten, rechtfertige wiederholte, mit der Verhängung von Arrest verbundene disziplinarische Maßnahmen. Aber war die Bundeswehr zur Aufrechterhaltung ihrer Abschreckungskraft auf diese drei KDVs angewiesen? Für ein bestmögliches Ergebnis sollte der Fall seziert werden: Die beiden diensttuenden oder ihn teilweise verweigernden Soldaten sollten für sich betrachtet werden, dann der nur erst zu einem absehbaren zukünftigen Termin einberufene, aber zunächst noch nicht eingezogene Verteidiger. Die Bundeswehr muss grundsätzlich auf zwei gewissensgeplagte Hanseln verzichten können, ohne dass ihre Verteidigungsfähigkeit dadurch erheblich beeinträchtigt sein dürfte. Wenn das aber jeder täte? Es stellt aber nicht jeder Wehrpflichtige während seiner Dienstzeit einen Antrag auf Anerkennung als KDV. Das ist höchstens ein kleiner Promillesatz, bei einem damals 500.000 Mann Heer eine vernachlässigbare Winzigkeit. Schon allein aus diesem Grunde war es nach hier vertretener Rechtsauffassung unverhältnismäßig, die um ihre Anerkennung ringenden Verweigerer, deren Anliegen schon beim Verwaltungsgericht rechtshängig war, zum Waffendienst zwingen zu wollen.

706

Zu einer differenzierteren Entscheidung, ob mit einem Zwang zum Waffendienst und anschließend mit Arrest hätte reagiert werden müssen, könnte auch noch in die Situation der Bundeswehr in Friedens-, in Spannungsund in Kriegszeiten unterschieden werden. In Friedenszeiten muss die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr großzügiger gesehen werden als im Spannungsfall oder in Kriegszeiten. In Kriegszeiten können sich nicht kleinere und erst recht nicht größere Teile der Armee nach dem Motto: "Stell dir vor, es wäre Krieg, und keiner geht hin“, in den relativ sicheren »Bau« (Arrestzelle) verkriechen. Da muss die Durchsetzung der Verweilpflicht im Schützengraben notfalls erzwungen werden können. In Friedenszeiten dagegen haben die berechtigten Belange der Bundeswehr auf jeden Fall hinter den berechtigten Belangen eines Waffendienstverweigerers aus Gewissensgründen zurückzustehen, da die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nicht einmal tangiert ist, wenn vereinzelt unterste Glieder nicht mehr strammstehen wollen. Hinzu kommt, dass die auf ihre Anerkennung wartenden KDVs gar nicht erst in die Situation hätten gebracht werden dürfen, den Dienst mit der Waffe verweigern zu müssen. Man hätte sie z.B. in der Kleiderkammer beschäftigen können. Das hätte schon die Fürsorgepflicht der Vorgesetzten für ihre Untergebenen geboten! Darum war der Zwang zum Dienst mit der Waffe unverhältnismäßig und damit rechtswidrig - und somit die Entscheidung des BVerfGs falsch! Man hat durch die wiederholte Arrestierung mit juristischen Kanonen auf soldatische Spatzen geschossen. Das Problem der "Doppelarrestierung/Doppelbestrafung" hätte sich bei einer an dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichteten Reaktion der Vorgesetzten gar nicht erst gestellt. Für die Soldaten eines Standortes sind so viele Toiletten zu putzen und Kartoffeln zu schälen! Und Kartoffelschälmesser können zwar auch als Waffen eingesetzt werden, fallen bei »Soldatens« aber nicht unter den Begriff des "Dienstes mit der Waffe". Aber die Vorgesetzten wollten die von ihnen so empfundene unsoldatische Haltung der unwillig Diensttuenden nach dem "Befehl-und-Gehorsam-Prinzip" brechen. Wenn aber das Gewissen den KDVs diese Haltung der Verweigerung des Waffendienstes gebietet, dann ist sie grundgesetzlich geschützt. Selbst als ehemaliger Zeitsoldat empfinde ich die Haltung der Vorgesetzten als beschämend - noch mehr aber die des BVerfGs in dieser Sache! Es bleibt noch der Fall des zwar einberufenen aber noch nicht eingezogenen KDVs: War die Bundeswehr zur Aufrechterhaltung ihrer Abschreckungskraft überhaupt auf die Einziehung dieses Mannes angewiesen, auf dessen Dienst sie nach Abschluss des schon begonnenen Anerkennungsverfahrens als KDV hinterher sowieso verzichten musste (ohne dass die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik Deutschland deswegen zusammengebrochen wäre)? Bei Bejahung der Frage müsste der vorstehend dargelegte Argumentationsstrang erneut aufgegriffen werden. Da es sich aber nicht um "Batman" handelte, ist die Frage zu verneinen. Die Bundeswehr hätte keinen Schaden genommen, wenn zunächst die anhängige Entscheidung des Verwaltungsgerichtes abgewartet worden wäre und zur Linderung der bei dem Verzicht auf die Einziehung dieses jungen Mannes möglicherweise entstandenen Personalnot ein anderer Wehrpflichtiger eingezogen worden wäre. Eine solche Vorgehensweise hätte auch die Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geboten, um dem Kläger unnötige Gewissenskonflikte zu ersparen. Nach den hier dargelegten Maßstäben war die Maßnahme der Einberufung aus diesen Gründen unverhältnismäßig und darum rechtswidrig - und die Entscheidung des BVerfGs in diesem Falle erst recht falsch. Auch in diesem Falle hätte es gar nicht erst zur mehrfachen Verhängung von Arrestmaßnahmen kommen dürfen. Die Bundeswehr hätte schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse auf zunächst die Einziehung des Mannes, erst recht aber auf den Zwang zur Aufnahme des Waffendienstes verzichten müssen. Das Ziel der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr wird eher dadurch erreicht, dass angehende KDVs bis zum Abschluss ihres Verfahrens aus der Bundeswehr herausgehalten werden, anstatt dort durch wiederholte Befehlsverweigerungen und Festnahmen Unruhe zu erzeugen und möglicherweise durch die Auseinandersetzungen die Gewissen der anderen Dienenden mit von der Truppe unerwünschtem Gedankengut zu infizieren! Wenn der Staat meinte, dass es sich bei den KDVs zu einem kleineren oder größeren Teil um Drückeberger handle, dann war es seine Aufgabe, genügend Ersatzdienstplätze zu schaffen und so dafür zu sorgen, dass Ersatzdienst nicht zur von ihm befürchteten "Drückeberger-Alternative" wird. Nach den "2+4-Verträgen" mit der darin festgelegten substantiellen Verminderung der Bundeswehrpersonalstärke und der sich daraus ergebenden kürzeren Dienstzeit für Wehrpflichtige und damit auch für Ersatzdienstleistende hat man heutzutage mehr Chancen, sich vor dem Dienst für die Gemeinschaft drücken zu können, wenn man nicht seine Anerkennung als KDV betreibt, sondern bereit ist, ein bisschen Lotterie zu spielen und riskiert, notfalls Soldat zu werden, aber darauf hofft, nicht eingezogen zu werden. Das gilt erst recht bei einer nunmehr auf 82 Mill. vergrößerten Bevölkerung nach der aus finanziellen Gründen auf 250.000 Mann immer weiter reduzierten Personalstärke der Bundeswehr (davon 195.00 Zeit- und Berufssoldaten und nur noch 55.000 Wehrdienstleistende), die nach einer erneuten Strukturreform in geplante 35.000 »Mann« Einsatzkräfte, 70.000 Personen umfassende Stabilisierungskräfte und 145.000 Personen umfassende Unterstützungskräfte gegliedert werden soll. Weil von den zurzeit 430.000 Männern eines

707

Alterjahrganges bald nur noch 100.000 einberufen werden - davon ca. 50.000-75.000 als Wehrpflichtige, der Rest sind Freiwillige -, will der der SPD zugehörige Verteidigungsminister eine Verkürzung auf 9 Monate, wollen die Grünen als quasi eine „Wehrpflicht light“ die Verkürzung der Wehrpflicht auf 6 oder sogar nur 4 Monate – und betrachten diesen Abschied von der allgemeinen Wehrpflicht auf Raten als Übergang zu der von ihnen propagierten Freiwilligenarmee. Begründung u.a.: Die Landesverteidigung mit großen Panzerverbänden sei angesichts der politischen Lage in Europa als oberste Aufgabe der Bundeswehr überholt. Im Vordergrund stehe nun die weltweite Krisenreaktions- und -interventionsfähigkeit mit den notwendigen Folgen für die Ausbildung, Ausrüstung und die Nutzung der zu ändernden militärischen Fähigkeiten. Bei den gegenwärtigen Zahlenverhältnissen stellt sich ohne eine schon nicht mehr sinnvolle Verkürzung der Wehrpflicht – die Jungs kommen ja kaum noch zum Auspacken ihres beim Einrücken mitgebrachten Koffers, geschweige denn zur Einübung in das militärische Handwerk, da werden sie schon wieder nach Hause entlassen - das vom BVerfG schon mehrfach behandelte Problem der Wehrgerechtigkeit erneut und dringlicher als vordem. Ein anderer Fall, der ebenfalls die Frage aufwirft, ob die Bundeswehrverwaltung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinreichend beachtet hat, ist der einer Einberufung eines Reservisten, der als Hausmann zwei minderjährige Klein- und Kleinstkinder zu versorgen hatte. Fall (STERN 5/85): "In Münster hat sich der 34jährige arbeitslose Jurist Burkhard Helms mit der Begründung, er müsse als Hausmann zwei Klein- und Kleinstkinder versorgen, einer Einberufung widersetzt, mußte aber dennoch einrücken. Dies tat er - mit seinen beiden Kindern auf dem Arm (Foto). Der wachhabende Offizier kommandierte ihn daraufhin mit dem Befehl nach Hause ab, die Kinder unterzubringen und dann zurückzukehren. Als Helms dieser Aufforderung nicht nachkam, erschienen in seiner Wohnung Feldjäger (Militärpolizei) in Zivil, um ihn abzuführen. Der Anblick der Kinder verunsicherte den verantwortlichen Feldwebel: `Weil Sie das Kind vor der Brust haben, kann ich den Befehl nicht ausführen und verzichte auf unmittelbaren Zwang!' Jetzt soll sich Helms wegen Ungehorsams vor Gericht verantworten." Wie wird der zuständige Strafrichter den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei seiner Urteilsfindung berücksichtigt und ausgelegt haben? Als Familienvater mit eigenen Kleinkindern anders als als Junggeselle? Bei Interessensabwägungen können Richter durch ihre eigene Lebenssituation und ihre eigenen Lebenserfahrungen beeinflusst werden - auch wenn die nicht immer zum Tragen kommen wie im »Memminger Hexenprozess«, wo sich herausstellte, dass der den Frauen am unsensibelsten zusetzende Richter selber eine Freundin von Bayern nach Hessen gebracht hatte, damit sie sein werdendes Kind, das er nicht hatte haben wollen, abtreibe. Die Entscheidung zu vorstehendem Bundeswehrfall ist nicht mehr durch die überörtliche Presse gegangen. Aber wir wissen hoffentlich, wie wir entschieden hätten! 1989 entschied das Verwaltungsgericht Kassel, dass ein Studienrat und Unteroffizier der Reserve, der zur Betreuung seines sechs Monate alten Babys ein halbes Jahr Erziehungsurlaub genommen hatte, während dieser Zeit einer Einberufung zur Ableistung einer Wehrübung nicht Folge zu leisten brauchte: Elternrecht gehe vor Wehrpflicht. Und was ist nach Ablauf des Erziehungsurlaubs? Da sind die Würmchen auch noch so klein und unbedingt der Hilfe bedürftig. Wer soll ihre Rotznäschen putzen, ihre Tränen trocknen und sie abends in den Schlaf küssen? Der „Spieß“, der Kompanie-/Batteriefeldwebel mit dem höchsten Mannschaftsdienstgrad unterhalb der Offiziersebene, ist nur die „Mutter der Kompanie“, nicht aber die Mutter der Kinder seiner Untergebenen. "Art. 6 GG (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern."

708

Soll man das Grundgesetz nun ernst nehmen - oder vielleicht doch nicht? In einem anderen Fall urteilte das BVerfG, das Doppelbestrafungsverbot gelte auch nicht im Verhältnis von Kriminal- zu Disziplinarstrafe. So sei es z.B. zulässig und ist auch so geschehen, dass eine Beamtin, die auf dem Weg zur Arbeit einen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang verschuldet hatte, dafür nicht nur von ihrem nach Art. 101 II 2 GG vorgesehenen gesetzlichen Richter strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen worden ist. Daneben ist sie noch einmal von ihrem Dienstherrn disziplinarisch belangt worden, obwohl sie kein BeamtenSonderdelikt, sondern ein "Jedermanns-Delikt" begangen hatte. Doch zurück zu der »Verteidiger-Problematik«, die sich für uns juristisch Interessierte etwas anders stellt als für den Fußball-Bundestrainer, wenn der sich mit der bestmöglichen Aufstellung der (in den letzten Jahren völlig aus dem Tritt gekommenen) Fußball-Nationalmannschaft quält. Fall BVerfG 32/40 (1972): Ein Speditionskaufmann stellte nach Erhalt des Einberufungsbescheides den Antrag auf Anerkennung als KDV, der von dem Kreiswehrersatzamt abgelehnt wurde. Obwohl das Verfahren vor dem VG weiterlief, das am 31.10.68 mit seiner Anerkennung als KDV endete, war er unverständlicherweise - in der Zwischenzeit zur Ableistung seines Wehrdienstes einberufen worden und dem Stellungsbefehl auch gefolgt. Am 09.09.68 meldete er sich bei seinem Disziplinarvorgesetzten in Zivil und erklärte, dass er als (noch nicht anerkannter) KDV künftig keinen Dienst mehr tun und auch keine Uniform mehr anziehen werde. Daraufhin wurde eine Arreststrafe gegen ihn verhängt und von ihm abgesessen. Weil der Disziplinarvorgesetzte aber wegen der auf derselben durchgängigen Motivationslage beruhenden später mehrfach wiederholten Befehlsverweigerung, Dienst zu tun, die Arreststrafe nicht für ausreichend erachtete, kam der Fall vor ein Jugendgericht. Der Speditionskaufmann war in der Zwischenzeit am 31.10.68 von einem VG als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden. Trotzdem wurde er am 11.02.69 von dem Jugendgericht zu drei Wochen Jugendarrest verurteilt - auf die die beim Militär bereits verbüßte 21tägige Arreststrafe voll angerechnet wurde -, weil das Recht auf praktisch umgesetzte Kriegsdienstverweigerung generell erst nach rechtskräftiger Anerkennung als KDV ausgeübt werden dürfe. Hiergegen legte der Verurteilte Verfassungsbeschwerde ein. Wie war zu entscheiden? Das BVerfG urteilte wie in dem vorstehenden Fall, dass erst dem rechtskräftig anerkannten Verweigerer das Grundrecht aus Art. 4 III GG zustehe. Die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr müsse gewährleistet werden. Die Disziplinarmaßnahme des Arrestes sei nicht als Kriminalstrafe zu werten und schließe darum eine spätere(!) strafrechtliche Verfolgung nicht aus. "Das gilt auch dann, wenn die Sanktion erst nach einer Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer verhängt wird." Wieso? Ist das die juristisch einzig haltbare Entscheidung? Demgegenüber hatte der Bundesminister der Justiz - im Gegensatz zu dem Minister des Inneren und dem der Verteidigung - in seinem für die Entscheidungsfindung vom BVerfG erbetenen Gutachten ausführen lassen, dass er die Verfassungsbeschwerde für begründet halte. Die angefochtene Entscheidung des Jugendgerichtes enthalte durch die Anwendung von Strafrechtsnormen ein sozialethisches Unwerturteil, das auf der grundsätzlichen Gehorsamspflicht des Beschwerdeführers beruhe. Dem stehe sein Grundrecht aus Art. 4 III GG gegenüber, dessen Voraussetzungen schon im Augenblick der Gehorsamsverweigerung erfüllt, aber in dem vorgesehenen Anerkennungsverfahren noch nicht festgestellt gewesen seien. Die hieraus entstandene Konfliktsituation könne verfassungsrechtlich bedenkenfrei nur so gelöst werden, dass staatliche Maßnahmen wegen Gehorsamsverweigerung bis zur rechtskräftigen Anerkennung als KDV möglich, strafrechtliche Sanktionen danach mit Art. 4 III GG aber nicht mehr vereinbar seien. Letzteres folge vor allem daraus, dass eine Kriminalstrafe ohne einen ethischen Schuldvorwurf nicht denkbar sei. Ein solches Unwerturteil der Gemeinschaft könne aber nicht mehr aufrechterhalten werden, wenn durch die staatliche Anerkennung als KDV feststehe, dass der Gewissenstäter den Schutz des Art 4 III GG mit Recht von vornherein habe in Anspruch nehmen dürfen. Die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 4 III GG verbiete nachträgliche Bestrafung jedenfalls dann, wenn es sich bei der Gehorsamsverweigerung um ein und dieselbe ernsthafte und andauernde Gewissensentscheidung gehandelt habe, die später zur Anerkennung als KDV geführt habe. Soweit die Begründung aus dem Gutachten des Bundesjustizministeriums, das die besseren juristischen Argumente auf seiner Seite hat. Und trotzdem entschied das BVerfG anders - sprich: eindeutig falsch!

709

Man stelle sich vor, der mit dieser Entscheidung befasste Senat des BVerfGs wäre mehrheitlich mit Richtern besetzt gewesen, die die in diesem Fall großzügigere, liberalere und - wie ich glaube - rechtsstaatlichere Auffassung des Bundesjustizministeriums geteilt hätten. Der Beschwerdeführer wäre auf Grund seiner Verfassungsbeschwerde von der Kriminalstrafe verschont geblieben. Der Umfang der Grundrechte wird halt – so unbefriedigend das für den von einer Entscheidung Betroffenen sein kann – durch die Mehrheit der Richter des zuständigen Senates des BVerfGs definiert. Und nicht nur „Konzilien können irren“, wie Luther mit Mut bekannte, sondern genauso auch Richter unseres obersten Gerichts! Der langjährige bayerische Kultusminister H. Maier sagte über ihm ungenehme Urteile: "Die obersten Gerichte entscheiden zwar manches falsch, aber bindend!"45 Er ist sich in dieser Lagebeurteilung einig mit dem damaligen Bundesjustizminister H. J. Vogel, der einmal das Resümee gezogen hatte: "Jedermann ist verpflichtet, richterliche Urteile zu respektieren, nicht aber dazu, sie für richtig zu halten."

Ein weiterer Fall zu dem Themenkreis Wehrdienstverweigerung (FR 19.04.84 und STERN 42/84): Der "Totalverweigerer" T. S., der wie die Zeugen Jehovas sowohl die Ableistung des Wehr- wie auch des Ersatzdienstes abgelehnt und dafür eine sechsmonatige Freiheitsstrafe wegen Dienstflucht verbüßt hatte, war erneut zum Ersatzdienst eingezogen worden, hatte wieder Dienstflucht begangen und war wieder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gegen die "Doppelbestrafung" erhob er Verfassungsbeschwerde, mit der vor ihm die betroffenen Anhänger der Zeugen Jehovas erfolgreich gewesen waren. Rekapitulieren wir zunächst gedanklich: Wie lautete die Argumentation des BVerfGs gegenüber dem Klagebegehren der Zeugen Jehovas? "Dieselbe Tat i.S.v. Art. 103 III GG liegt auch vor, wenn die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst auf die ein für allemal getroffene und fortwirkende Gewissensentscheidung des Täters zurückgeht; eine dazwischen ergangene Verurteilung wegen Dienstflucht steht dem nicht entgegen." Wie hat das BVerfG auf Grund seiner eigenen Rechtsprechung dann wohl in dem Fall des Totalverweigerers vermutlich entschieden? Reingefallen! Recht zu bekommen ist auch bei unserem obersten Gericht manchmal Glücksache. Der dreiköpfige Vorprüfungsausschuss, der über Annahme oder "a-limine-Abweisung" einer Verfassungsbeschwerde entscheidet und wegen seiner nicht immer nachvollziehbaren Abweisungspraxis in Anlehnung an einen Filmtitel auch "Trio-Infernale" gescholten wird, hatte die Annahme der Verfassungsbeschwerde rundweg abgelehnt. Solch eine Ablehnung wird nicht begründet; das wäre bei den vielen Verfassungsbeschwerden wohl zu viel Arbeit. Jetzt schon ist eine Verfahrensdauer von sechs bis acht Jahren nicht ungewöhnlich. Aber eine ausbleibende Begründung erhöht nicht die Akzeptanz einer Entscheidung! Mindestens in diesem hier dargestellten Fall erscheint die öffentliche Schelte zu Recht ergangen. Da kann man nur noch machtlos schäumen. Aus solchen Anlässen entwickeln sich Rechtsverdrossenheit und manchmal auch Amokläufe! Der damalige stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen kommentierte diese Entscheidung auf einer Pressekonferenz mit den Worten: "Das durch ständige Rechtsprechung des BVerfGs festgeschriebene Verbot einer Doppelbestrafung bei Zeugen Jehovas muß auch für Kriegsdienstverweigerer gelten, die aus anderen Gewissensgründen ebenfalls den Zivildienst verweigern und eine solche Gewissensentscheidung ein für allemal getroffen haben." 45

Nach dem Kruzifix-Urteil vom 10.08.95 scheint er aber diese richtige Haltung revidiert zu haben, denn an dem darauf folgenden Wochenende 14./15.08.95 ließ er in der SZ verlauten: „Gegen den puren Unsinn und Übermut, auch der höchsten Gerichte, ist Widerstand geboten.“

710

Die Entscheidung der Verfassungsrichter, die Klage gegen die Doppelbestrafung entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BVerfGs gar nicht erst zur Entscheidung zuzulassen, ist nach den in den Zeitungen enthaltenen Informationen schlichtweg nicht mehr nachvollziehbar! Und das ist bewusst als »Understatement« formuliert. Asterix und Obelix hätten das anders ausgedrückt. Die haben ihre feste Ansicht über die Rationalität der Römer. ("Die spinnen, die Römer!") Diese Ansicht lässt sich mit einem in der Juristerei allgemein üblichen Analogieschluss, mit dem ein juristisches Ergebnis bei ähnlicher Interessenlage auf einen ähnlichen Sachverhalt angewandt wird, unschwer auf die an dieser Abweisungsentscheidung beteiligt gewesenen Richter übertragen. "Auch das Verfassungsgericht irrt. Es gibt eine ganze Reihe von Entscheidungen, die ich im nachhinein persönlich für bedenklich halte." Das sagte - äußerst vorsichtig formuliert - der damalige Präsident des BVerfGs Prof. Zeidler kurz vor seinem Ausscheiden aus diesem Amt. Die zuvor hier angegriffene Entscheidung des "Trio-Infernale" gehört unbedingt dazu! Richter unterer Instanzen teilen ab und zu die hier dargelegte rechtsstaatliche und juristisch argumentativ allein haltbare Auffassung. Das AG Stade hatte einen Totalverweigerer, der schon einmal wegen eines Dienstfluchtvergehens bestraft worden war und seine Strafe schon abgesessen hatte, nicht ein zweites Mal verurteilt, sondern das Verfahren eingestellt. Es begründete seinen Entschluss folgendermaßen: "Es läßt sich nicht nachvollziehbar begründen, warum `Zeugen Jehovas' ihre Weigerung auf ihre `ein für allemal getroffene Gewissensentscheidung' zurückführen dürfen, während anderen Verweigerern diese Entscheidung verwehrt sein soll." Ebenso entschied eine Große Strafkammer des LG Düsseldorf im Oktober 1984. Noch einen Schritt weiter ging ein Schöffengericht Ende 1984 in Lüneburg. Weil der angeklagte Totalverweigerer, der seine Anerkennung als KDV gar nicht erst betrieben hatte, in einer langen Beweiskette und u.a. mit dem Hinweis auf das "Weißbuch zur Zivilen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland" dem Gericht nachwies, dass der Zivildienst vom Verteidigungsministerium als "untrennbarer Teil der Gesamtverteidigung" gesehen wird, sprach es nicht einmal eine Erstverurteilung wegen der begangenen Dienstflucht aus. Der Angeklagte habe zwar rechtswidrig gehandelt, aber nicht schuldhaft. (Dieser Verzicht auf ein Unwerturteil durch Strafausspruch trotz rechtswidrigen Handelns war auch die Lösung des Falles "Brett des Karneades" gewesen.) Es ist sehr selten, dass dem BVerfG von den Untergerichten so demonstrativ der Gehorsam aufgekündigt wird! Das geschieht aber zu Recht, da es in Art. 12 a II 2 GG heißt: "Das nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht." Dieser erste Freispruch für einen Totalverweigerer in einem Erstverfahren konnte in der nächsten Instanz (OLG Celle) keinen Bestand haben, weil Gesetz und Bundesverfassungsgericht ein generelles Recht auf Zivildienstverweigerung nicht zulassen. So war ein anderer Totalverweigerer von dem AG Ravensbrück wegen eines Dienstfluchtvergehens zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Diese Strafe war von dem für die Berufung zuständigen LG mit Hinweis auf § 3 Wehrpflichtgesetz mit der Begründung aufgehoben worden: Die bisherige Regelung des Zivildienstes sei verfassungswidrig. Der Zivildienst müsse vom Wehrdienst getrennt werden. Er dürfe nicht mit dem Wehrdienst unter dem Oberbegriff Wehrpflicht zusammengefasst werden. Das BVerfG hat diesen Fall 1989 dann dahingehend entschieden, dass ein anerkannter Wehrdienstverweigerer den Zivildienst in der vom Gesetzgeber vorgesehenen Form abzuleisten habe. Auch im Grundgesetz würden Wehr- und Zivildienst unter dem Oberbegriff Wehrpflicht zusammengefasst. Zurück zu dem Lüneburger Totalverweigerer. Der hatte gar nicht erst ein Verfahren zur Anerkennung als KDV betrieben. Er war darum als KDV noch gar nicht rechtskräftig abgelehnt worden. Deshalb konnten die zum Verbot der Doppelbestrafung entwickelten Grundsätze hier in diesem speziellen Verfahren auch keine Anwendung finden. Sie müssten aber in dem Fall Geltung haben, dass ein anerkannter KDV schon eine Strafe wegen Dienstflucht verbüßt hat. Doch das OLG Düsseldorf fand - von der Rechtsprechung des BVerfGs ausgehend - einen neuen Dreh, um eine Doppelbestrafung eines anerkannten KDV zu ermöglichen, der als Totalverweigerer schon einmal wegen eines Dienstfluchtvergehens zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt, danach erneut zur Ableistung des

711

Zivildienstes aufgefordert worden war, erneut verweigert hatte und wegen dieser erneuten Dienstflucht nunmehr von einem AG zu 9 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Dagegen hatte er Berufung eingelegt. Ihr war von der Berufungsinstanz des LG stattgegeben worden, indem dessen Strafkammer das Urteil aufgehoben und das Verfahren eingestellt hatte. Hiergegen hatte die Staatsanwaltschaft zur Überprüfung der Rechtsfrage das Rechtsmittel der Revision eingelegt. Die Revision war erfolgreich. Das OLG Düsseldorf entschied, dass die Gewissensentscheidung der Totalverweigerer so strikt zu sein habe, wie die der Zeugen Jehovas, die im letzten Krieg "... eher ihren Tod und zum Teil auch den ihrer Angehörigen in Kauf genommen hatten, als dem an sie ergangenen Einberufungsbefehl Folge zu leisten." Dem kann, was die Anforderung an die Ernsthaftigkeit der Verweigerungsentscheidung betrifft, im Prinzip zugestimmt werden. Wer als Totalverweigerer nach dem Gleichheitsgrundsatz, der für jedes staatliche Handeln gilt, wie die Zeugen Jehovas von dem Doppelbestrafungsverbot profitieren will - obwohl die Zeugen Jehovas heutzutage diese Ernsthaftigkeit nicht mehr unter Beweis stellen müssen -, der muss auch eine Verweigerungsentscheidung von gleicher Ernsthaftigkeit getroffen haben. Der unbefangene Leser dieser Entscheidung fragt sich nur, wie ein Totalverweigerer diesen Grad der als Maßstab geforderten Ernsthaftigkeit in Friedenszeiten je glaubhaft machen soll, da er keiner Sekte angehört, deren Mitglieder irgendwann schon einmal bis hin zur Tötung verfolgt worden sind, da Dienstflucht gemäß § 53 Zivildienstgesetz maximal »nur« mit bis zu 5 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden kann und die Todesstrafe gemäß Art. 102 GG abgeschafft ist. Da kann doch nur der Rechtsgrundsatz: "In dubio pro reo“, gelten! Sonst müssten Totalverweigerer darauf verweisen, dass schon der erste Christ, der den Gebrauch von Waffen im Garten Getsemane selbst zu seiner Nothilfe, um ihn vor Gefangenschaft und drohendem Kreuzestod zu bewahren, mit den Worten unterbunden hatte: "Stecke dein Schwert an seinen Ort, denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen“, ans Kreuz geschlagen worden ist und so für alle anderen Christen, die ihm teilweise an ihren eigenen Kreuzen nachfolgten, sein Leben gelassen hat. Darum würden die Christen auch heute noch Gewissensentscheidungen mit einem solchen sittlichen Ernst fällen, wie er vorher schon von anderen Christen durch ihren Kreuzestod nachgewiesen worden ist. Das OLG Düsseldorf führt nach Darlegung seiner Ansicht, dass das Gewissen der Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas und ihr dadurch geprägtes äußeres Verhalten der Maßstab für die Prüfung der Ernst- und Dauerhaftigkeit von Gewissensentscheidungen (der Totalverweigerer) gegen den Wehrund Ersatzdienst sein müsste, näher aus: "Angesichts dessen können sich Gewissensbedenken, welche sich lediglich gegen die konkrete Ausgestaltung des Zivildienstes und die dahinterstehende politische Zielsetzung des Gesetzgebers richten, keine geeignete Grundlage für die Annahme einer einzigen Tat bieten. Diese radikalen Prüfungskriterien hat die Strafkammer nicht angelegt. Sie begnügt sich damit, die Genesis der Ansicht des Angeklagten aufzuzeigen, für ihn sei die `Totalverweigerung' geboten. Dabei bezieht sie aber die eigene Einlassung des Angeklagten nicht in den Kreis ihrer Überlegungen mit ein, wonach er den Zivildienst als Teil des militärischen Komplexes versteht, was sich aus der Regelung des § 79 Zivildienstgesetz und des § 4 Wehrpflichtgesetz ergebe. Nach der Einlassung des Angeklagten verbiete ihm sein Gewissen auch eine indirekte Teilnahme an Aufgaben aus dem Bereich des militärischen Komplexes. Gerade daraus jedoch ergibt sich, daß nicht ein besonders sensibles Gewissen des Angeklagten Motiv für seine Verweigerungshandlung ist, sondern seine Aversion gegen die vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachte politische Zielsetzung. Diese ist aber von dem Wunsch getragen, die freiheitlich demokratische Grundordnung, in der wir leben, zu erhalten und zu sichern; einer Ordnung, die überhaupt erst wehrpflichtigen Männern den Freiraum dafür bietet, aus Gewissensgründen statt des Wehrdienstes Zivildienst außerhalb der Bundeswehr als Ersatzdienst leisten zu können." Die Begründung des OLG Düsseldorf ist juristisch nicht zwingend und teilweise diffamierend falsch: Wieso lässt sich die aus der Gewissensentscheidung des Totalverweigerers mühelos ableitbare und wohl auch konsequenterweise erfolgte Ablehnung selbst der indirekten Teilnahme und Unterstützung an Aufgaben aus dem Bereich des militärischen Komplexes nur auf eine "Aversion gegen die vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachte politische Zielsetzung" schließen und nicht (eventuell auch und sogar viel nahe liegender) auf ein dem Totalverweigerer in einem nicht nachvollziehbaren Gedankenschluss ausdrücklich abgesprochenes besonders sensibles Gewissen? Da staunt der juristische Fachmann, und der juristische Laie wundert sich erst recht! Solch eine nur durch das angestrebte Ergebnis erklärbare, aber ansonsten nicht nachvollziehbare Begründung hätte wohl auch die Richter des AG Stade nicht überzeugt, denn dass jemand, der als überzeugter Pazifist den Wehrdienst ablehnt, dann nicht gezwungen werden dürfte, auch nicht indirekt an Aufgaben aus dem Bereich des militärischen Komplexes teilnehmen zu müssen, sollte schon allein für liberal denkende Menschen geschweige denn für solche, denen es berufsmäßig aufgegeben ist, sich um Gerechtigkeit zu mühen - eine

712

Selbstverständlichkeit sein! (Aber eine solche Geisteshaltung ist nach dem deutschen Richtergesetz kein Examens- und Anstellungserfordernis.) Amnesty international betrachtet deshalb die deutschen Totalverweigerer, die auf Grund der Mängel der staatlichen Umsetzung von Gesetzen inhaftiert werden, als gewaltlose politische Gefangene und setzt sich für deren Freilassung ein. Und ein Rat an die Totalverweigerer: Sie sollten sich, solange keine mit dem Militärdienst als gleichrangig eingestufte soziale Dienstpflicht eingeführt ist, zu einem Entwicklungshelferdienst bereitfinden, dann würden sie gemäß § 14 a Zivildienstgesetz nicht zum Zivildienst herangezogen. (Herbert Wehner hatte dazu gesagt: "Wir können den Entwicklungsländern nicht unsere unreifen und unausgebildeten Abiturienten zumuten.") "Vor Gericht bekommt der Bürger nicht Recht, sondern ein Urteil oder einen Beschluss." Über diese bittere Erkenntnis zu reden, hatte es vorher schon Anlass gegeben. Wem eine solche eigenständige Meinung in Bezug auf Teile der Rechtsprechung des BVerfGs und einiger Obergerichte zu aufmüpfig erscheint - "So etwas tut man nicht." -, dem sei das Wort des Verfassungsrechtlers Prof. M. Kriele entgegengehalten: "Das Verfassungsgericht beugt nicht den Verstand; der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht gebietet uns nicht, mit dem Hut zugleich den Kopf abzunehmen." Sie können es auch literarisch bekommen: „Ich will meine Gedanken von Ihnen geprüft, nicht gelobt haben!“ (Lessing an Moses Mendelssohn) Doch Rechtsgehorsam wird auch dann geschuldet, wenn eine Entscheidung nicht verstanden wird. Das ist die Friedensregel des Rechtsstaates. Verbittert und überzogen formulierte der Pastor U. Finckh von der "Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen" 1981: "An jedem Arbeitstag werden über 250mal junge Menschen unter Verletzung ihrer Menschenwürde [von den Anerkennungskommissionen] ausgefragt, über 150mal abgewiesen. An dem zentralen Punkt der Gewissensfreiheit erleben wir Tag für Tag unseren Staat hundertfach als Unrechtsstaat." Wenn auch die Überzogenheit der Formulierung sofort erkennbar ist, so macht doch der Gehalt der polemischen Äußerung betroffen. Wer es gut mit unserem Staat meint, der muss fordern, dass durch legislative und organisatorische Änderungen die Anlässe zu solcher Kritik behoben werden. Wie wäre es statt des OLGVerdikts mit dem Ernstnehmen unseres Verfassungstextes, der fordert, dass eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorgesehen werden "... muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte ... steht"? 1999 schloss sich das LG Potsdam der Sicht eines Totalverweigerers an, der die allgemeine Wehrpflicht jedenfalls heutzutage - für verfassungswidrig hält. Die Vorinstanz, das AG Potsdam, hatte den Totalverweigerer noch wegen Dienstflucht zu einer Geldstrafe von DM 1.500,- verurteilt, weil er seinen Zivildienst beim Grünflächenamt 1993 nicht angetreten hatte, und das war ja ein Dienst außerhalb jeglicher militärischen Organisation! Durch Antrag des LG Potsdam muss das BVerfG nun prüfen, ob die Wehrpflicht angesichts der Sicherheitslage nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes einen unverhältnismäßigen Eingriff in die persönliche Handlungsfreiheit eines Wehrpflichtigen darstelle und somit wegen des Übermaßverbotes verfassungswidrig sei. Deutschland sei rundherum von Verbündeten umgeben. Deshalb könnten die militärischen Aufgaben auch oder besser von einer Freiwilligen-Armee geleistet werden. Schon 1995 hatte der Bundespräsident und vormalige Präsident des BVerfGs, Herzog, als Bundespräsident auf einer Kommandeurstagung erklärt, dass „die Wehrpflicht ein so tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers ist, dass der demokratische Rechtsstaat ihn nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet.“ Nachdem selbst der vorherige Verteidigungsminister Rühe befunden hatte: „Wir sind von Freunden umzingelt!“, ist nun das BVerfG wieder am Zuge. Man darf gespannt sein. Das BVerfG will bis Ende 2001 entschieden haben. Die Sachlage kann sich wieder anders darstellen, wenn ab 01.01.2002 das aus Sparzwängen erdachte neue Modell der Bundeswehr umgesetzt wird, demzufolge nur noch 77.000 Wehrpflichtige in der Bundeswehr Dienst tun werden. Das wäre nur noch die Hälfte der zurzeit Eingezogenen. Da kann man wirklich nicht mehr von einer allgemeinen Wehrpflicht sprechen. Das ginge nur, wenn der Prozentsatz der als „wehruntauglich“ beurteilten deutlich erhöht würde. Es wird mit 22 % eines Jahrganges, etwa 100.000 Mann, gerechnet. Da wird es zahlreiche Klagen benachteiligter einberufener Wehrpflichtiger geben! 2004 sprachen Politiker der Grünen davon, dass bald (angeblich) nur noch 10 % der Männer eines Altersjahrganges eingezogen würden; dann könnte man wirklich nicht mehr von Wehrgerechtigkeit sprechen – und die Frage nach einer Berufsarmee könnte von der Bundesregierung wohl nicht mehr abschlägig beschieden werden!

713

6 Mahnende Existenz und Rechtsprechung des BVerfGs; Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Politik an einem Beispielsfall Mahnend e Existenz und Rechtspr echung des BVerfGs

Trotz der gelegentlichen, für andere als die (Mehrheit der) Verfassungsrichter offensichtlichen Fehlentscheidungen hat sich die bloße Existenz und (mit Einschränkungen) die sonstige Rechtsprechung des BVerfGs - nicht nur, wenn sie mit unseren eigenen Vorurteilen übereinstimmt - für unser Gemeinwesen als segensreich ausgewirkt. Der Verfassungsrechtler Isensee fand zur Eröffnung des Deutschen Juristentages 1996 in Karlsruhe über das BVerfG die Worte: „Das Bundesverfassungsgericht bildet den Schlußstein im Bau der auf das Recht gegründeten Republik. Der Jurist findet in ihm Grund und Wahrzeichen seines Selbstbewußtseins. Er hält zum Bundesverfassungsgericht auch dann, wenn er mit ihm hadert, und er bleibt stolz auf dieses Gericht, selbst wenn er sich an ihm reibt.“ Die juristischen „Schönheitschirurgen“ aus Karlsruhe haben für den Schutz der Menschen vor der permanenten Freiheitsbedrohung durch einen übermächtigen Staat und damit das menschliche Antlitz unseres Staates sehr viel getan! Sie sind ihrer Hauptaufgabe, die Bürger vor rechtswidrig eingesetzter Staatsgewalt zu schützen, so gut gerecht geworden, dass osteuropäische Staaten nach der Abschüttelung des zuvor auf ihnen lastenden sowjetideologischen Jochs diese Institution als Vorbild für den in ihrem jeweiligen Land neu zu schaffenden Bürgerschutz nahmen. Schon allein seine jederzeit zu bedenkende, bloße mahnende Existenz hat seit seiner unabhängigen, die anderen staatlichen Gewalten bindenden Rechtsprechung schon im Vorwege viel legislatives und exekutives Unrecht verhindert! Und dann erst die Rechtsetzung durch seine Urteile! Wie umstritten »das Recht« aber selbst innerhalb der einzelnen Senate des BVerfGs ist, kann daran abgelesen werden, dass die bei der jeweiligen Abstimmung unterlegenen Richter des BVerfGs nach englischem Vorbild nunmehr auch ihr "dissenting vote" zur Rechtsfortbildung in einem Minderheitengutachten publizieren dürfen. Das war früher nicht der Fall und gilt nicht für Richter anderer Gerichte, die weiterhin das Beratungsgeheimnis strikt zu wahren haben. Früher musste von den einzelnen Senaten des BVerfGs Übereinstimmung demonstriert werden, wo gar keine vorhanden war; wie an anderen Gerichten auch. Wäre ein mit einer bestimmten Problematik befasster Senat anders - mit einer Überzahl an Richtern, die eine jetzige Minderheitenmeinung vertreten - besetzt, so würde eine anstehende Entscheidung genau entgegengesetzt ausfallen. In der Bundesrepublik wäre dann z.B. die vom Parlament 1974 beschlossene Fristenlösung schon damals so eingeführt worden, wie sie in anderen Staaten mit vergleichbarer Rechtskultur als »Recht« angesehen wird, ohne dass in Deutschland daraufhin ein biblischer Kindermord im »Frühest«stadium ausgebrochen wäre. Aber Herodes wird so etwas schon seit zwei Jahrtausenden angedichtet. Letztlich wird man immer wieder auf die Eingangsfrage dieses Buches zurückgeworfen: "Was ist Recht, was Gerechtigkeit?" Und: "Wer soll darüber befinden?" Der Gedanke, dass unser Recht ganz anders aussähe, wenn die jeweilige Richterbank anders besetzt gewesen wäre, ist beunruhigend - muss aber ertragen werden, da es keine für alle Probleme verfügbare Elle der Gerechtigkeit gibt! Die Zehn Gebote regeln halt zu wenig. Wären wir Verfassungsrichter, wären bestimmt auch viele Menschen mit unseren Entscheidungen nicht einverstanden; zumindest diejenigen nicht, die alle vorstehend zitierten und kritisierten Entscheidungen des BVerfGs so gefällt haben oder sie (irrigerweise!) für richtig halten. Manchmal sind die Entscheidungen des BVerfGs nur aus der damaligen aktuellen politischen Situation heraus getroffen worden. So sagte z.B. der BVerfG-Richter Hirsch Jahre nach dem Verbot der KPD: "Heute wäre die KPD nicht verboten worden." Warum sollte z.B. so lange nach der Wiedervereinigung beim BVerfG der Antrag gestellt werden, die PDS wegen ihrer jetzigen politischen Tätigkeit zu verbieten, wie es wegen ihres Ursprungs als SED-Nachfolgeorganisation nach dem erfolgten Anschluss an die Bundesrepublik anfangs in der politischen Diskussion von konservativer Seite vereinzelt gefordert worden war? Die PDS taugt doch heutzutage als verlässlicher Maßstab zur Feststellung der Anzahl der verbliebenen oder nachwachsenden Verrückten mit Kurzzeitgedächtnis, die dem wegen seiner ökonomischen und rechtlichen Widersprüche real untergegangenen Sozialismus in ihrer zur politischen Ruhigstellung dort anerzogenen und gepflegten "Vollkasko-Mentalität" nachtrauern, einem Sozialismus, der - einmal abgesehen von dem die Menschenrechte seiner Bürger zutiefst verund missachtet habenden staatlichen Zwangsregime - Ostdeutschland so ruiniert und seine Ressourcen (siehe u.a. insbesondere Bitterfeld!) so aufgezehrt hat, dass bis 2003 schon rund 1.250 in den Aufbau der ostdeutschen Länder gepumpte Milliarden diesen Teil unseres Vaterlandes bisher nicht wieder zu beleben und in blühende

714

Landschaften zu verwandeln vermochten. (Da ist noch Titanenarbeit zu leisten!) Als Kronzeugen für diesen ökonomischen (Teil-!)Aspekt des Unterganges der deutschen Sozialismus-Variante sei auf das ZK-Mitglied Schabowski, der auch die Öffnung der Mauer vor der internationalen Presse verkündet hatte, verwiesen. Er sagte ein paar Jahre später öffentlich, die DDR sei untergegangen und wäre ohne den von Strauß an Honecker(s Bande) vermittelten Milliardenkredit schon ein paar Jahre früher zugrunde gegangen, weil der Sozialismus die wirtschaftlichen Ressourcen des Staates bis zum Geht-nicht-mehr ausgebeutet und erschöpft und so den Staat wirtschaftlich zugrunde gerichtet habe. (Die Beschränkung auf allein den ökonomischen Aspekt bei der Suche nach den Gründen für den Untergang der durch das MfS-System und die Truppen der UdSSR als Korsettstangen notdürftig aufrechterhaltenen Diktatur des Proletariats ist natürlich eine unzulässige Verkürzung auf die von der rechtlos gehaltenen, "eingemauerten" Bevölkerung erlebte und erlittene Mangelwirtschaft: Die Paketsendungen aus dem Westen mit ihren Unterstützungsgütern der ostdeutschen Bevölkerung waren vom Wirtschaftsministerium fest eingeplante Größen zur Milderung der Versorgungsengpässe. Viel schwerer zu ertragen als die Mangelwirtschaft war aber doch wohl das die Menschen- und Bürgerrechte mit Füßen tretende Unrechtsregime der Parteidiktatur der PDS-Mutter! Um das zu ändern waren 1998 Hunderttausende in ihren Montagsmärschen auf die Straße gegangen. Wenigstens Gregor Gysi sieht das auch so: „ ... das schlechtere Auto fahren und dann auch noch die Schnauze halten müssen – das ist als Mischung einfach zu viel verlangt“ (STERN 23.08.01). Als »obiter dictum« sei angemerkt: Die PDS spekuliert da auf das Kurzzeitgedächtnis der Ostdeutschen, die ja nicht Erich Kästner lesen konnten und denen wohl darum seine Mahnung fremd ist: "Nie dürft Ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man Euch zieht, auch noch zu trinken." Und die PDS hat Erfolg mit ihrer meist sehr bürgernah angesetzten Verdummungskampagne! Schlimm, dass so viele Ostdeutsche das mitmachen. Und (nach ganz privater Wertung) noch viel schlimmer, dass dann auf Grund dieses Abstimmungsverhaltens so vieler Ostdeutscher die ostdeutschen Ableger der "West-Parteien" sich auf sowohl kommunaler wie auch auf Landesebene von dieser durch ihre Geschichte, die ja nicht erst mit der Umbenennung von SED auf PDS anfängt - über 90 % der PDS-Mitglieder sind ehemalige SED-Mitglieder -, diskreditierten Partei parlamentarische Unterstützung holen! Was Schabowski öffentlich sagte - und nur deshalb war auf ihn verwiesen worden, weil das von ihm allgemein Gesagte damals damit allgemein zugänglich geworden war -, hatte er nicht unbedingt nur durch eigene Erkenntnis herausgefunden. Da ist ihm zugearbeitet worden. Am 27. Oktober 1989 hatte das ZK-Mitglied Gerhard Schürer als Planungschef der SED in dem nach ihm als "Schürer-Papier" benannten Geheimbericht an das ZK der Partei u.a. geschrieben: "Geheime Verschlußsache b 5-1155/89 10. Ausf. Seiten 1-22 Vernichtung: 31.12.1989 Geheimhaltungsgrad darf nicht verändert werden. 27.10.1989 Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen ... Die Feststellung, daß wir über ein funktionierendes System der Leitung und Planung verfügen, hält jedoch einer strengen Prüfung nicht stand. ... Dadurch entwickelte sich ein übermäßiger Planungs- und Verwaltungsaufwand. ... Das bestehende System der Leitung und Planung hat sich ... trotz großer Anstrengungen zentraler und örtlicher Organe nicht bewährt, ... . Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet [NSW] ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt. ... Im Zeitraum seit dem VIII. Parteitag wuchs insgesamt der Verbrauch schneller als die eigenen Leistungen. Es wurde mehr verbraucht, als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde zu Lasten der Verschuldung im NSW, ... . Das bedeutet, daß die Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistungen beruht, sondern zu einer wachsenden Verschuldung im NSW führte. ... Die Konsequenzen der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit wäre ein Moratorium (Umschuldung), bei der der Internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat. ... Es ist eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik der DDR verbunden mit einer Wirtschaftsreform erforderlich. ... Grundlegende Aufgaben sind: - ...

715

- Es ist eine Umstrukturierung des Arbeitskräftepotentials erforderlich, um das Mißverhältnis zwischen produktiven und unproduktiven Kräften in der gesamten Wirtschaft und im Überbau zu beseitigen, d.h. drastischer Abbau von Verwaltungs- und Bürokräften sowie hauptamtlich Tätiger in gesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen. - Als Grundlage der konsequenten Durchsetzung des sozialistischen Leistungsprinzips ist die Erhöhung der Einnahmen direkt an höhere Leistungen zu binden. Das erfordert zugleich für nicht gebrachte Leistungen, Schluderei und selbstverschuldete Verluste Abzüge vom Lohn und Einkommen. - Die Investitionen sind für die Erhaltung, Modernisierung und Rationalisierung einzusetzen, um eine bedeutende Einschränkung von Arbeitsplätzen zu erreichen, ... Auch wenn alle diese Maßnahmen in hoher Dringlichkeit und Qualität durchgeführt werden, ist der ... für die Zahlungsfähigkeit der DDR erforderliche NSW-Exportüberschuß nicht sicherbar. 1985 wäre das noch mit großen Anstrengungen möglich gewesen. Heute besteht diese Chance nicht mehr. Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 % erfordern und die DDR unregierbar machen. Selbst wenn das der Bevölkerung zugemutet würde, ist das erforderliche exportfähige Endprodukt in dieser Größenordnung nicht aufzubringen." (Das Parlament 23.09.94) Auch in dieser um schonungslose Offenheit in der Analyse wenigstens der wirtschaftlichen Schwierigkeiten sich mühenden Stellungnahme ist aus kommunistischer Betriebsblindheit heraus der vielleicht wesentlichere gesellschaftspolitische Aspekt des Unterganges des SED-Unrechtsregimes ausgespart worden. Zu einer solchen angemessenen Fundamentalkritik in z.B. den Schlussfolgerungen der als geheim eingestuften Ausarbeitung war ein ZK-Mitglied der SED entweder wegen seines eingeschränkten Arbeitsauftrages oder aus ideologischer Betriebsblindheit heraus vermutlich nicht fähig. Aber zur Vorbeugung gegenüber einer falschen Legendenbildung sei wenigstens diese richtige Teilerkenntnis hier festgehalten, dass der ehemalige kommunistische deutsche Teilstaat von der SED vor deren behänder Umetikettierung des Türschildes von SED in PDS bis zum Bankrott heruntergewirtschaftet worden war! „Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 % erfordern und die DDR unregierbar machen.“ Klarer geht es nicht! In einem ruinösen Vorgriff auf die Zukunft der ostdeutschen Bevölkerung war zur Finanzierung der sozialen (Über-)Absicherungsmaßnahmen für die politisch unmündig gehaltenen Bürger die Auslandsverschuldung trotz Sklavenmarkterlösen beim Verkauf u.a. eigens dafür produzierter politischer Gefangener und Wegelagererzolls im Berlinverkehr so hoch getrieben worden, dass die Zahlungsunfähigkeit des kommunistischen Regimes im Oktober 1989 nicht mehr abwendbar gewesen war. Als ein beliebiges Beispiel für uneffektives Wirtschaften sei angeführt: Im Wartburg-Werk in Eisenach waren 10.000 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen, obwohl für nur 6.000 Arbeit vorhanden gewesen war. Es herrschte künstliche Vollbeschäftigung in Form unwirtschaftlicher Arbeitsverteilung. Das spiegelt die geringe Produktivitätsrate der gesamten damaligen DDR-Wirtschaft von zwischen 30-40 % der bundesrepublikanischen wider. So etwas kann auf die Dauer kein Betrieb, der ökonomisch wirtschaften muss, verkraften. Er muss Pleite gehen. Und bei fast ausnahmslos bestehenden Staatsbetrieben zwangsläufig die gesamte Volkswirtschaft. Jetzt werden in dem im ehemaligen Wartburg-Werk neu erbauten Opel-Werk nur noch 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Die stellen nun aber viermal mehr Autos her, als die 10.000 vorher! So sind das jetzt konkurrenzfähige und damit sichere Arbeitsplätze geworden! So war es mehr oder weniger in der gesamten sozialistischen Wirtschaft. Der Chef von Jenoptik, Lothar Späth berichtete in STERN-Zeitgeschichte: „Meine erste Erfahrung die ich hier machte, war deshalb: Verlass‘ dich nie auf die statistischen Zahlen, denn sie sind alle falsch! Das galt für das Sozialprodukt der ehemaligen DDR wie für die Zahlen bei Carl Zeiss Jena. Die Verantwortlichen sagten mir damals dreierlei: Hier arbeiten 24 000 Menschen, 800 Mio. DM Umsatz werden erwartet, und es sei mit Verlusten von 320 Mio. DM zu rechnen. Das war schon schlimm genug, aber was noch schlimmer war: Nichts davon stimmte. Der Umsatz betrug 200 Mio. DM, der Verlust 500 Mio. DM und wir hatten 27 000 Mitarbeiter.“46 Aus der durch betriebs- und volkswirtschaftliches Missmanagement resultierenden unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit des kommunistischen Regimes resultierte die vorstehend zitierte Schlussfolgerung aus dem Schürer-Papier, dass eine Absenkung des Lebensniveaus (von dem Trabi-Niveau!) um bis zu 30 % hätte vorgenommen werden müssen, um überhaupt eine Chance zu erhalten, die von dem SED-Politbüro zu verantworten gewesenen Defizite auszugleichen. Nur unter Inkaufnahme einer Massenverelendung riesigen Ausmaßes hätte der SED-Staat ökonomisch noch irgendwie einige Zeit weiterexistieren können - aber wohl nicht politisch, denn allen Ostdeutschen wäre es dreckiger gegangen als "nur" denjenigen, die nach der 46 STERN-Zeitgeschichte

3. Oktober 1990 Die Deutsche Einheit Oktober 99 S. 26 Beilage zu STERN 41

716

Wiedervereinigung selbst durch die jährlich rund 73 Mrd. im Jahr (1991-2003 insgesamt 950 Mrd.) umfassenden schwindelerregend hohen Nettotransferzahlungen aus dem Westen nicht in Lohn und Brot gehalten werden konnten. Natürlich ist das hochexplosiver gesellschaftspolitischer Zündstoff! Besonders deswegen, weil die wahre Lage ja von der SED verschleiert und nur in dem Geheimpapier dargestellt worden war. Für die mit wirtschaftlichen Zusammenhängen nicht so vertrauten Ostdeutschen stellt sich die Lage so dar: Die Industrieanlagen waren zwar größtenteils hoffnungslos veraltet, zum großen Teil sogar verrottet und darum uneffektiv, sie waren so umweltfeindlich, dass die Kinder und Erwachsene krank wurden, die Böden völlig verseucht wurden und Zahlen über Umweltbelastungen deshalb als Staatsgeheimnis behandelt wurden, aber sie boten Arbeit. Die DDR stand auch ökologisch vor dem völligen Ruin. Sie war ein Öko-Gau größten Ausmaßes. Die notwendigen Aufwendungen für den Erhalt einer Umwelt, die das pure Überleben ohne chronische Krankheiten erst möglich macht, waren in dem Schürer-Papier noch gar nicht enthalten! Heute ersetzen neue umweltfreundliche chromglänzende High-Tech-Anlagen den DDR-Schrott, aber die zur Produktion auf moderner Basis nicht mehr erforderlichen Arbeiter - von den Wasserköpfen in den Verwaltungen ganz zu schweigen! - sitzen nun mehr oder minder verzweifelt zu Hause herum und fallen darum nicht vor den WestParteien vor Dankbarkeit auf ihre Knie. Aber sie müssen selbst bei sehr verständlicherweise schmerzendem Verlust ihres oft persönlichkeitssinnstiftenden Arbeitsplatzes trotzdem keine 30prozentige Einschränkung vom niedrigen Trabi-Lebensniveau der DDR mit Bückware und anderen Erscheinungen der Mangel-Planwirtschaft hinnehmen! Die in dem Schürer-Papier aufgeführte unausweichliche(!) Konsequenz der jahrzehntelangen Misswirtschaft hätte rund drei Millionen Arbeitslose allein in der (Ex)DDR bedeutet! Um es rein rechnerisch klarzustellen: Der im Vergleich zu den anderen Nationalwirtschaften des Ostblocks relative »MangelwirtschaftsWohlstand« in der ehemaligen DDR, in dem man trotzdem um fast alles anstehen oder worauf man ständig - z.B. für einen Telefonanschluss viele Jahre (oder überhaupt vergeblich) oder einen Platz in der Fahrschule ein Jahr und den dazugehörigen Trabi 13-15 Jahre - warten musste, wäre für die 70 % in der Beschäftigung Verbliebenen nur aufrechtzuerhalten gewesen, wenn von dem SED-Staat 30 % der arbeitenden Bevölkerung aus ihrem Arbeitsverhältnis entlassen worden wären und keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten hätten! Die SED selbst(!) - und nicht der böse Klassenfeind des kapitalistischen Westens - sah als Konsequenz ihrer verfehlten sozialistischen Wirtschaftspolitik nur noch die Notwendigkeit von Massenentlassungen aus den unproduktiven Bereichen! (Dafür wurde das Schürer-Geheimpapier als Beleg wörtlich zitiert.) Ähnlich sahen es die Bürgerrechtler: "Stasi in die Produktion!", skandierten die "Montags-Marschierer" kurz vor dem Zusammenbruch des SED-Staates. Die PDS profitiert jetzt absurderweise von der von ihr als SED in jahrzehntelanger Misswirtschaft geschaffenen nationalen und internationalen negativen Konkurrenzlosigkeit der ostdeutschen Industrie. Mit den mehr als 20-%-Voten für die PDS bei den ostdeutschen Landtagswahlen und dem ungefähr gleichen Stimmenanteil in Ostdeutschland bei den Bundestagswahlen muss unsere nun in ganz Deutschland geltende Demokratie jetzt die Suppe auslöffeln, die die von den ursächlich von ihr geschaffenen momentanen Schwierigkeiten politisch profitierende PDS unserer Demokratie selber eingebrockt hat, als sie noch SED hieß und durch ihre Parteiobersten als Partei der Mauerbauer, Kerkermeister, Flüchtlingsmörder, Post-, Kinder-47 und Menschenräuber48 und sogar Henker - alles das wurde ja von der Staatspartei SED angeordnet - jede kleinste Regung der ihrem Unrechtsregime Unterworfenen in ihrem Machtbereich kontrollierte; und - wenn sie es für angebracht hielt - entgegen der eigenen Verfassung und allen eingegangenen internationalen Verpflichtungen unter Missachtung der Geltung der simpelsten Menschenrechte kriminalisierte, um z.B. durch den Verkauf ihrer Bürger in einem modernen Sklavenhandel Devisen zu erwirtschaften. Als unverdächtiger Zeuge sei der tschechische Dichter und Staatspräsident Havel angeführt. Er sagte zum neunten Jahrestag der deutschen Einheit 1998: „Für die ganze Welt war es gut, dass mit der DDR das Böse zusammenbrach, das aus dem Bösen geboren wurde.“ Die Nachfolge einer solchen Partei verbietet sich nach hier vertretener Ansicht auf Grund des von der Vorgängerin millionenfach begangenen himmelschreienden Unrechts genauso wie eine Nachfolge der NSDAP. Ist es da »nur« Instinktlosigkeit, dass PDS-Bundestagsabgeordnete und die rechtspolitische Sprecherin dieser Partei Ende 1998 eine Amnestie für alle wegen der von ihnen begangenen Straftaten verurteilten und einsitzenden ehemaligen SED-Amtsträger und zusätzlich auch noch eine Haftentschädigung von DM 600,- pro Haftmonat für die rechtmäßig abgesessenen Haftzeiten gefordert hatten? „Heute ist eine große Nachfrage nach Menschen, die Unrecht so erscheinen lassen, als wäre es das Recht“, stellte schon vor mehr als 2.000 Jahren der 47

Es sind rund 1.000 Kinder ihren Eltern zwangsweise weggenommen und durch Adoptionen an linientreue Genossenpaare weitergegeben worden. 48 Hin und wieder entführte das MfS in den Westen geflüchtete Gegner, wie z.B. Dr. E. Linse aus dem Fluchtort WestBerlin, der dann der sowjetischen Geheimpolizei übergeben und zum Tode durch Erschießen verurteilt und am 23.09.53 hingerichtet worden ist, oder den ehemaligen Generalinspekteur der Nationalen Volksarmee R. Bialek.

717

als Sklave von Karthago nach Rom gebrachte und dann dort später freigelassene Dichter Terenz fest. Das Wort hat nichts an Aktualität verloren! Weiter wurde von PDS-Vertretern gefordert, dass gezahlte Geldstrafen zurückgezahlt werden sollten! Dazu fällt mir als Schlagwort nur noch der (anders gemeinte) Buchtitel von Hermann Mostar ein: „Und sie schämeten sich nicht!“ Solche Forderungen sind eine Verhöhnung der Opfer des Unrechtsstaates und unseres Rechtsstaates! Der Versuch nachträglicher Manipulation an Gerichtsurteilen eines Rechtsstaates über begangenes politisch motiviertes Unrecht im großen Stil: das ist alte SED-Tradition. Das zeigte schlaglichtartig, dass die umbenannte SED, die PDS, geistig noch lange nicht in dem Rechtsstaat der Bundesrepublik „angekommen“ ist! Und Haftentschädigung für Richter, Staatsanwälte, Offiziere und Zivilamtsträger, die wegen schwerkriminellen Verhaltens verurteilt worden sind, wäre wirklich eine aberwitzige Verhöhnung der Opfer der SED-Diktatur! Haftentschädigung kann es nur geben, wenn Menschen durch das staatliche Unrecht einer unverdienten Haftstrafe geschädigt worden sind. Die Verurteilten haben sich aber selbst nach DDR-Recht strafbar gemacht! Mit dieser anscheinend angestrebten Gleichbehandlung im Unrecht mit nicht zur Rechenschaft gezogenen NSRichtern würde das Unwerturteil des Rechtsstaates ad absurdum geführt, die Grenze zwischen Tätern und Opfern verwischt. Nach dem Aufschrei in der Bevölkerung, den der Bundestagspräsident Thierse in das schöne Wort fasste: „Die PDS will nicht Amnestie, sondern Amnesie!“, distanzierte sich die PDS halbherzig von dem dreisten Vorschlag ihrer rechtspolitischen Sprecherin: „Der Vorschlag entspricht nicht der Beschlusslage der Partei.“ Es bleiben aber Zweifel, ob die Distanzierung auch erfolgt wäre, wenn die Reaktion unserer Bevölkerung eher lau ausgefallen wäre. Das war vorstehend nur der ökonomische Teilaspekt des Zusammenbruchs der SED-Herrschaft. Die das kommunistische Zwangsregime aber letztlich sprengenden Widersprüche im (nach marxistisch-leninistischer Staats- und Rechtswissenschaft) "ideologischen Überbau des Rechts" sind im vorhergehenden Kapitel aufgezeigt worden. Warum sollte da in der aktuellen politischen Diskussion des Neuanfangs das BVerfG zum von den konservativsten Teilen der Konservativen geforderten Verbot der PDS bemüht werden, um vielleicht ein für die bisherigen Parteien der Bundesrepublik leichter handhabbares Wahlergebnis zu bewirken? Es ist vorrangig die Aufgabe der demokratischen (»West«-)Parteien, in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner den Wahlbürgern Ostdeutschlands das totale Versagen der PDS-Vorgängerin SED auf wirtschaftlichem Gebiet und ihr die Menschenrechte verachtendes, die ihrer Willkür Unterworfenen geknebelt und teilweise sogar physisch vernichtet habendes Rechtssystem so bewusst zu machen, dass die Nachfolgerin der SED auf die ihr zukommende Bedeutungslosigkeit reduziert wird - wenigstens solange, wie die PDS sich als Nachfolgerin der SED begreift und in ihren Reihen eine kommunistische Plattform mit einer den Stalinismus verteidigenden Programmatik duldet. Das weist die PDS als letztlich antidemokratische Partei aus, denn Stalin kann wahrlich nicht als Ikone eines Demokraten verehrt werden! Darum war ja auch der Konflikt Honeckers mit Gorbatschow entstanden, in dessen Auswirkung Gorbatschow seine den SED-Staat schützende Hand wegzog, weil Honecker immer noch dem Stalinismus anhing, den Gorbatschow für sein Land schon überwunden hatte. Und nun fallen starke Kräfte in der PDS auf diese Position zurück! Für solche Auseinandersetzungen im parteipolitischen Grabenkampf sollte aber nicht das BVerfG bemüht werden, um Aufgaben der Tagespolitik erledigen zu helfen. Solche stalinistischen Wunsch- und Blütenträume zu bekämpfen, ist eine originär politische Aufgabe, die von den demokratischen Parteien angegangen, beackert und gelöst werden muss und nicht dem BVerfG aufgebürdet werden darf, wenn keine gravierenden Rechtsverstöße vorliegen.

In bewusster Abkehr von den Bestimmun gen der Weimarer Verfassung getroffene staatsorgani satorische Bestimmun gen im Grundgeset z

7 In bewusster Abkehr von den Bestimmungen der Weimarer Verfassung getroffene staatsorganisatorische Bestimmungen im Grundgesetz Unser Grundgesetz - im Gegensatz zu anderen Verfassungen der Neuzeit nicht so sehr aus einer positiven Begeisterung für eine bessere Zukunft aus dem Volk heraus entwickelt, sondern primär aus dem Abscheu vor der schlimmsten Vergangenheit der deutschen Geschichte erwachsen - ist nicht nur in seinem bisher schwerpunktmäßig behandelten Grundrechtsteil eine demokratische Antwort auf die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Auch in seinem organisatorischen, die Befugnisse der staatlichen Gewalten aufteilenden Teil ist es eine bewusste Abkehr von der Weimarer Verfassung und deren Missbrauch durch die radikalen Parteien, insbesondere durch die NSDAP. Der von allen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates als verpflichtend empfundene Wunsch des „Nie wieder!“ leitete die Suche nach Verfassungsprinzipien und Institutionen, die ein menschenwürdiges Zusammenleben in einem freiheitlich-demokratischen Staat ermöglichen könnten.

718

Ausgehend von dem in Art. 1 I GG geregelten zentralen Grundrecht der Menschenwürde, „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ die, wie alle anderen Grundrechte auch, in der NS-Zeit in vorher unvorstellbarem Maße geschändet worden war, wollten die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit den von ihnen konzipierten Neuerungen ein auf der Basis der Achtung der Menschenwürde gegründetes funktionsfähiges demokratisches Gemeinwesen schaffen. Ein Ziel war dabei u.a. auch, die neu zu schaffende Demokratie so wehrhaft auszugestalten, dass sie - getreu der Devise: "Keine Toleranz gegenüber Intoleranz!" - ihren inneren Feinden nicht mehr schutzlos ausgeliefert sei. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten durch die Pervertierung des Rechts und der demokratischen Staatsform im NS-Staat gelernt, dass zur Demokratie auch legitime Intoleranz gehören kann, dass das Nichttolerierbare nicht toleriert werden dürfe! Die wichtigsten diesbezüglichen Neuerungen gegenüber der Weimarer Verfassung sind nachfolgend aufgelistet. Dabei werden a) die entsprechenden Regelungen der Weimarer Verfassung vorangestellt, um b) die vom "Verfassungskonvent", vom "Parlamentarischen Rat" - den 4 Müttern und 61 Vätern unserer Verfassung - und zuletzt vom Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit dann bewusst gewählten Änderungen deutlich zu machen. Ihre Gesamtschau zeigt, dass Gesetz und Recht auch Antworten auf historische Situationen, im Falle des Grundgesetzes Antworten auf die bewusste Missachtung der Menschenrechte durch die NS-Diktatur sind.

"Grundgese 7.1 "Grundgesetz" contra "Verfassung" tz" contra "Verfassun a) Die Weimarer Verfassung war von Anfang an eine "Verfassung" für das ganze Deutsche Reich. g"

b) Das Grundgesetz wurde nur für die aus den Westzonen hervorgegangene Bundesrepublik geschaffen, hielt aber von Anfang an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung in Recht und Freiheit offen. Um den teilungsbedingt vorläufigen Charakter der Verfassung für nur den durch unverdientes Glück nach der bedingungslosen Kapitulation "Groß-Deutschlands" in Freiheit lebenden Teil des westlichen Rest-Deutschlands - ganz Nazi-Deutschland hatte den Weltkrieg mutwillig vom Zaune gebrochen und das gesamte Deutschland hatte ihn auch verloren, und nicht etwa nur der Osten Deutschlands - schon allein sprachlich deutlich zu machen, wurde bei der Namensgebung der obersten Rechtsnorm der Bundesrepublik bewusst auf die Bezeichnung "Verfassung" verzichtet und statt dessen die Bezeichnung "Grundgesetz" gewählt - ohne dass sich daraus staatsrechtliche Konsequenzen ergeben. Nach der Wiedervereinigung der größten Teile Vorkriegsdeutschlands hat die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat nicht mit der erforderlichen 2/3 Mehrheit vorgeschlagen, die Bezeichnung "Grundgesetz" aufzugeben, da ja nicht mehr von einem vorläufigen Charakter der teilweise umzugestaltenden obersten Rechtsnorm gesprochen werden kann. Die SPD forderte eine Umbenennung von "Grundgesetz" in "Bundesverfassung", die CDU/CSU lehnte eine Namensänderung von vornherein und kategorisch ab.

7.2 Grundrechte vorrangig vor Gesetzen als jederzeit gerichtlich einklagbare Rechte a) Die Grundrechte waren reine Programmsätze. Sie wurden vor der Geltung des Grundgesetzes nur nach Maßgabe der Gesetze gewährt und standen damit unter Gesetzesvorbehalt. Sie galten grundsätzlich nicht gegenüber dem Gesetzgeber, der über sie nach Belieben verfügen, sie nach Belieben einschränken oder sogar aufheben konnte; wie es die Nazis, wie dargestellt, damals legal korrekt wiederholt getan haben. Die Bedürfnisse der inneren Freiheit wurden in der Weimarer Verfassung hinter den so gesehenen Notwendigkeiten des Staates auch schon rein optisch im Abschnitt VI hintangestellt. Die Parlamentsmehrheit entschied von Fall zu Fall nach Belieben und Gesinnung und ließ damit die Grundrechte letztlich ins Leere laufen.

719

Grundrechte vorrangig vor Gesetzen als jederzeit gerichtlic h einklagba re Rechte

b) Diese Erfahrungen mit der verfassungskonformen Suspendierung von Grundrechten durch die von den Nationalsozialisten beherrschte Parlamentsmehrheit ließ die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auf das schon einhundert Jahre davor in der Paulskirchenversammlung erarbeitete Grundrechtsverständnis zurückgreifen. Es war also kein gedanklicher Neuanfang, als an die Stelle von (nach Weimarer Verständnis) erst durch den Staat geschaffenen Grundrechten vorstaatliche unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte proklamiert wurden, die jedem Menschen schon allein durch sein Menschsein zustehen und nicht erst durch eine huldvoll-gnädige Geste des Staates gewährt werden. So wurde unter der Geltung des Grundgesetzes das Verhältnis von Gesetz und Grundrechten umgekehrt: Statt der in der Weimarer Republik geltenden Maxime „Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze“ galt nun „Gesetze nur nach Maßgabe der Grundrechte“. Es gibt nur noch Gesetze im Rahmen des Grundgesetzes, insbesondere der Grundrechte. Die Grundrechte binden nunmehr gemäß Art. 1 III GG Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Damit sind sie jederzeit gerichtlich einklagbar, wenn(!) ihre Verletzung festgestellt werden kann. Die gesetzgebende Gewalt wird durch die Vorgaben der Verfassung, durch die im Grundgesetz zum Ausdruck kommende Wertordnung gebunden: Die Legislative darf nur grundgesetzkonforme Gesetze erlassen und die Verfassung selbst nur in einem genau geregelten Verfahren in einigen Bereichen ändern, den Bürgern aber z.B. nicht ein Grundrecht aberkennen. Die vollziehende Gewalt, die Exekutive, unterliegt der Bindung des Grundgesetzes, der Gesetze und des beim Tätigwerden von ihr stets zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des ihr zustehenden Ermessensspielraumes. Die rechtsprechende Gewalt, die Judikative, hat im Rahmen der ihr vom Verfassungs- und vom Gesetzgeber eingeräumten Befugnisse beanstandetes Verhalten auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Ein weiterer Grundrechtsschutz wird durch ganz genau die Zulässigkeit vom staatlichem Handeln regelnde Verfahren angestrebt, z.B. die in Art. 19 IV GG geregelte Rechtsweggarantie, die StPO, in der u.a. die Regelung getroffen wurde, dass sich in der Gewalt von staatlichen Institutionen befindliche Bürger nicht gefoltert werden dürfen, durch die Regelungen der Kriegsdienstverweigerung durch das Kriegsdienstverweigerungsneuordnungsgesetz KDVNG, das Asylverfahrensgesetz. Wegen ihrer überragenden Bedeutung für die Ausgestaltung unseres Staatswesens wurden die Grundrechte nunmehr an den Anfang des Grundgesetzes gleich nach der Präambel in dessen ersten Abschnitt gestellt. Die Artikel 1-19 sind unter der Überschrift zusammengefasst: „I Die Grundrechte“. Durch die nicht aberkennbare Geltung der Grundrechte wurde das GG »ethikimprägniert«. Art. 19 II GG will verhindern, dass Deutschen je wieder Grundrechte entzogen werden könnten, wenn sie nicht selber die in Art. 18 GG und nur die dort aufgeführten Grundrechte durch die Bekämpfung unserer »fdGO« (freiheitlich demokratischen Grundordnung) verwirken. Art 19 II GG legt darum fest: Art. 19 II GG "In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden."

Neben den als solchen ausdrücklich so genannten Grundrechten der Art. 1-19 GG, zu denen nicht etwa auch ein Grundrecht auf Arbeit oder ein Lehrlingsausbildungsplatz gehören, gibt es noch in der Staatsrechtslehre so bezeichnete grundrechtsgleiche Rechte. Für sie besteht der gleiche Schutz wie für die ausdrücklich als solche bezeichneten Grundrechte. Das geht aus Art. 93 I Nr. 4 a hervor, der regelt, dass eine Verletzung der grundrechtsgleichen Rechte aus den Art. 20 IV (Widerstandsrecht), 33 (staatsbürgerliche Gleichstellung aller Deutschen, insbesondere beim Zugang zu jedem öffentlichen Amte), 38 (Wahlrechtsgrundsätze), 101 (Recht auf den gesetzlichen Richter), 103 (uneingeschränkter Anspruch auf rechtliches Gehör, und wenn der wegen Rechtsradikalismus selbst schon verurteilte Verteidiger, wie 2002 in Hamburg geschehen, in einem Verfahren gegen einen Neonazi fünf Tage lang exzessiv plädierte, um das Verfahren so möglichst auffliegen zu lassen oder sich einen Revisionsgrund zu schaffen) und 104 (Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug, insbesondere das Folterverbot, gegen das der Polizei-Vizepräsident von Frankfurt im Fall einer Kindesentführung bewusst verstoßen hat, um möglicherweise das Leben des – da aber schon ermordeten – Kindes zu retten; ein klarer Verfassungsbruch zu dem der Bundesinnenminister kommentierend sagte: „Man darf mit dem Gewaltmonopol des Staates kein Schindluder treiben.“) GG vor dem BVerfG genau so angegriffen werden kann wie eine Verletzung aus den ausdrücklich so genannten Grundrechten. Manche zählen auch noch das in Art. 102 GG festgelegte Verbot der Verhängung der Todesstrafe zu den grundrechtsgleichen Rechten. „Rübe ab!“, ist nicht mehr – so sehr auch die manchmal kochende Volksseele eben dieses fordert, wenn wieder einmal ein Kind überfallen, vergewaltigt und dann ermordet worden ist.

720

Interessant ist in diesem Zusammenhang noch der Art. 142 GG „Ungeachtet der Vorschrift des Artikels 31 bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten.“ So ist in der Verfassung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen über das selbstverständlich auch dort geltende Bundesdatenschutzgesetz hinaus noch extra ein Grundrecht auf Datenschutz geregelt, welches das BVerfG zuvor als in den Grundrechten immanent enthaltenes Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus einer Zusammenschau der Art. 1 und 2 GG rechtsschöpfend konstruierend abgeleitet hat, als das Problem durch die Überprüfung des Volkszählungsgesetzes auf seinem Richtertisch gelandet war. Daraus ist ersichtlich: Die im GG geregelten Grundrechte sind wegen Art. 31 GG „Bundesrecht bricht Landesrecht.“ durch Landesverfassungen nicht einschränk-, aber sehr wohl erweiterbar: Weniger Grundrechte als vom Verfassungsgeber vorgesehen und gewährt geht nicht; mehr schon! Die Grundrechte können in  Freiheitsrechte (Art. 2, 4, 5, 6, 7 IV, 8-14 und 16-17 GG)  Gleichheitsrechte (Art. 3, 6 V, 33 und 38 GG) und  Verfahrensrechte (Art. 19 IV, 101 und 103 GG) unterschieden werden. Eine andere Unterscheidung kann nach der Funktion der Grundrechte vorgenommen werden:  Objektive Wertentscheidungen zur Regelung unseres Zusammenlebens und  subjektiver Gewährleistungsgehalt individueller Ansprüche an den Staat. Objektive Wertentscheidungen/Grundsatznormen in GG beziehen sich als Instituts- oder Einrichtungsgarantie auf z.B. Eigentum und Erbrecht in Art. 14 I, das Privatrecht mit seiner allgemeinen Handlungsfreiheit im Rahmen der Gesetze in Art. 2 I, Ehe und Familie in Art. 6 I, Privatschulen in Art 7 IV GG und zur Gründung von Vereinen und Vereinigungen zu gemeinsamer Interessenswahrnehmung in Art. 9 I GG. Die institutionellen Einrichtungsgarantien betreffen im Bereich des öffentlichen Rechts u.a. das in Art. 33 V geregelte Berufsbeamtentum, die in Art. 5 III mit Erwähnung der Wissenschaftsfreiheit indirekt angesprochenen Hochschulen, das durch Art. 7 I der Aufsicht des Staates unterstellte Schulwesen und die in Art. 28 II durch die Erwähnung der Gemeinden geregelte kommunale Selbstverwaltung. Der subjektive Gewährleistungsgehalt der Grundrechte bezieht sich zunächst auf die dem Bürger zugestandenen Abwehrrechte gegen staatliche Einflussnahme, dann auf Leistungsrechte in der Form von Teilhaberechten z.B. bei dem Besuch von Bildungseinrichtungen, dem in Art. 33 II geregelten „gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“; des Weiteren in der Form von individuellen Leistungsrechten im engeren Sinn zur Gewährung von subjektiven Leistungsansprüchen in Notlagen, wie z.B. der Sozialhilfe, dem Wohngeld, BAFöG, Anspruch auf Obdach (nicht im 5-Sterne-Hotel, aber in einer Schlichtunterkunft wie dem Pik-As in Hamburg) und schließlich in der Form von Schutzrechten, die der das Gewaltmonopol beanspruchende Staat dann als Konsequenz aus dem Monopol seinen Bürgern gewähren muss. So kommt die Polizei in die missliche Lage, Demonstranten vor Gegendemonstranten selbst dann schützen zu müssen, wenn sie mit den Ansichten der Demonstranten nicht übereinstimmt. Neben Abwehr- und Leistungsrechten werden dem Bürger Mitwirkungsrechte gewährt, von denen das bedeutsamste das in Art. 38 angesprochene Wahlrecht ist.

7.3 Grundrechte als Abwehrrechte Grundrech te als Abwehrrec hte

Die Wirkung der Grundrechte beruht zunächst darauf, dass sie Freiheit vor unangemessenen, gesetzlich nicht erlaubten Eingriffen des Staates in die Freiheitssphäre seiner Bürger gewähren ("Freiheits- und Unverletzlichkeits- oder Abwehrrechte"). Sie setzen dem in seinen Machtmitteln an sich übermächtigen Staat eine rechtmäßig nicht überschreitbare Grenze seiner Gewalt. Keine staatliche Maßnahme darf im Widerspruch zu dem in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Wertesystem stehen. So benötigt z.B. die Exekutive als

721

Voraussetzung für Eingriffe in den Freiheitsbereich des Eigentums in der Form der Enteignung von Grund und Boden zur Beschaffung von Privatgrundstücken für z.B. den Schul-, Krankenhaus- oder Straßenbau oder den Bau einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben eine gesetzliche Grundlage. Wenn dem Staat das von ihm für ein als gemeinschaftswichtig erachtetes Bauvorhaben als notwendig angenommenes privates Grundstück fehlt, so kann er unter gewissen Voraussetzungen den bisherigen Grundeigentümer gegen dessen Willen enteignen, denn Art. 14 II GG bestimmt: Art 14 II GG "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Das ist die so genannte "Sozialpflichtigkeit des Eigentums". Eine Enteignung durch ein Gesetz (z.B. Hamburger Deichordnungsgesetz BVerfGE 24/376) oder durch eine Verwaltungsmaßnahme auf Grund eines Gesetzes (Normalfall) ist aber u.a. dann rechtswidrig, wenn in diesem Gesetz nicht auch gleichzeitig gemäß Art. 14 III GG Art und Ausmaß der Entschädigung geregelt sind. Ein solches gegen den eindeutigen Wortlaut des Grundgesetzes verstoßendes Gesetz trüge dann das "Kainsmal der Widerrechtlichkeit" - und das ist vorgekommen.

7.4 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- in Teilhaberechte Weiterent wicklung einiger Grundrecht e von Abwehr- in Teilhabere chte

Die Grundrechte sind aber nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat. In einigen extremen Ausnahmefällen urteilte das BVerfG, dass der Charakter der Grundrechte eine Weiterentwicklung von Abwehr- in Teilhabeund sogar Leistungsrechte gebiete, weil anders die bedrohten Grundrechte nicht zur Geltung zu bringen seien. Sie würden sonst leer laufen. Es nütze nichts, wenn die jeweiligen Grundrechte nur proklamiert seien. Der Staat müsse auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie überhaupt erst in Anspruch genommen werden können. Das gilt besonders im Bereich der teilweise nicht ausdrücklich formulierten, sondern aus anderen Rechten und Prinzipien abgeleiteten sozialen Grundrechte, wofür z.B. das aus Art. 2 II GG abgeleitete Recht auf soziale Fürsorge im Bedürfnisfall (»Stütze«) als Beispiel dienen kann. "Recht auf Schultüte ap Berlin - Eine Schultüte gehört zum notwendigen Lebensunterhalt von Abc-Schützen. Auch die Kinder von Sozialhilfeempfängern haben ein Recht darauf und müssen einen Zuschuß bekommen. Das entschied jetzt das Bundesverwaltungsgericht in Berlin (Az.: 5 C 34/92)." (HH A 23.01.93) Im "Numerus-clausus-Urteil" (BVerfG NJW 72/1561) als Beispiel für die Weiterentwicklung eines Grundrechtes zu einem Teilhaberecht war entschieden worden, dass die in Art. 12 I 1 GG "Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen." proklamierte Berufsfreiheit für einen studierwilligen Abiturienten leer laufe, wenn er keine Chance zum gleichberechtigten Universitätszugang habe. Wenn der Staat die Universitäten fördere, er auf diesem Gebiet ein Monopol habe und die Universitäten ohne die staatliche Finanzierung nicht existieren könnten, dann müsse er auch durch ein bereitzustellendes objektives Verfahren gleiche Zugangsmöglichkeiten für alle Bewerber der jeweiligen Fachrichtung schaffen. Grundrechte seien auch Teilhaberechte.

7.5 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- über Teilhabe- in Leistungsrechte Noch einen Schritt weiter ging das BVerfG im Fall einer Privatschulsubventionierung (BVerfGE 23/347), mit der der Zusammenbruch einer Privatschule, die Aufgaben des staatlichen Schulwesens wahrnahm

722 Grundrecht e als Teilhabere chte

(Ersatzschule49) verhindert werden sollte. In diesem Fall, wo in der Form einer Einrichtungsgarantie für Privatschulen gemäß Art. 7 IV 1 GG "Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet."

Garantenst ellung des Staates

eine objektive Wertaussage im Grundgesetz enthalten ist, die ohne staatliche Hilfe leer laufen würde, hätte der Staat aus seiner Garantenstellung heraus die Pflicht, durch seine Leistung die Wahrnehmung des jeweiligen Grundrechts zu garantieren. Das Grundrecht aus Art. 7 IV 1 GG wurde in diesem Fall vom BVerfG von einem Abwehrrecht gegen staatliche Maßnahmen - wenn z.B. der Staat alle Privatschulen schließen wollte - in ein Leistungsrecht mit unmittelbar aus diesem Grundrecht folgendem Leistungsanspruch uminterpretiert. Eine so weitgehende Umdeutung eines ursprünglichen Abwehrrechts in ein Leistungsrecht ist dann noch einmal vorgekommen, als es in einem bestimmten Fall um die Sicherung des Existenzminimums gegangen war: Der Staat wird für die Sicherung des Existenzminimums jedes seiner Bürger in einer Garantenstellung gesehen.

7.6 Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz der Grundrechte; Verwirkung von Grundrechten a) Es gab keine Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz der Grundrechte. Verfassu ngsgerich tsbarkeit zum Schutz der Grundrec hte

b) Wie schon in der nie in Kraft gesetzten Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung von 1849 durch eine Verfassungsklage vorgesehen, kann jetzt jede Maßnahme der öffentlichen Gewalt, insbesondere Verwaltungsakt, Gesetz und Urteil, bei behaupteter Grundrechtsverletzung - aber grundsätzlich erst nach Ausschöpfung des normalen Rechtsweges - gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG "(1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: ... 4a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein; ..." mit einer Verfassungsbeschwerde vor das BVerfG gebracht und ihm zur Überprüfung vorgelegt werden. Ob die Verfassungsbeschwerde dann zur Entscheidung angenommen (ca. 2 %) oder von der "Schwelle des Gerichts" hinweg ("a limine") abgewiesen wird (ca. 98 %), ist eine zweite Frage. Ob sie erfolgreich sein wird, ist noch fraglicher. Gegen Urteile ist eine Verfassungsbeschwerde nur bei einer behaupteten Grundrechtsverletzung durch das ergangene Urteil zulässig. Die Verfassungsbeschwerde darf aber nicht rechtsmissbräuchlich sein, sonst kann ihre Einlegung mit einer Missbrauchsgebühr bis zu 2.500 Euro geahndet werden. Die Behauptung einer Grundrechtsverletzung in einer Verfassungsbeschwerde muss substantiell glaubhaft gemacht werden: "Mißbrauchsgebühr gegen Anwalt verhängt Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat gegen einen Hamburger Rechtsanwalt, der Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte, eine `Mißbrauchsgebühr' von 2000 Mark verhängt. Der Hamburger Anwalt habe die `Arbeitskapazität des Bundesverfassungsgerichts in unvertretbarer Weise in Anspruch genommen', heißt es in der Begründung des 2. Senats. Die äußerst seltene Sanktion der `Mißbrauchsgebühr' wird nur ausgesprochen, wenn ein Beschwerdeführer die Karlsruher Richter wider besseren Wissens mit falschen Informationen über Rechtsstreitigkeiten behelligt. Der Fall: Der Hamburger Jurist war im Straßenverkehr mehrfach von der Polizei beim rücksichtslosen Fahren erwischt worden. Der mühsame Rechtsweg begann: Zunächst erließ das 49

Ersatzschule gesehen im Gegensatz zu einer Ergänzungsschule, die außerhalb des staatlichen Angebotes liegende Bildungsbereiche in z.B. einer Kosmetik-, Gymnastik- oder Musikschule für Privatschüler oder einer Fahrschule außerhalb der Bundeswehr anbietet.

723

Hamburger Amtsgericht gegen den Anwalt wegen Nötigung einen Strafbefehl von 4500 Mark. Er legte Einspruch ein. In der Hauptverhandlung verschleierte der Verkehrsrowdy seine Einkommensverhältnisse: Seine Einnahmen würden gerade notdürftig die Praxiskosten decken - der Richter glaubte ihm nicht und ordnete eine Hausdurchsuchung an. Ergebnis: Der Anwalt verdiente im vergangenen Jahr 142.000 Mark. Nach rechtskräftiger Verurteilung legte er Verfassungsbeschwerde ein. Begründung: Die Hausdurchsuchung verstoße gegen seine Grundrechte und die seiner Mandanten. Er schilderte zwar den Hergang des Verfahrens, nicht aber den eigentlichen Anlaß der Durchsuchung. Der Anwalt habe versucht, dem höchsten Gericht Deutschlands `die Kenntnis eines bedeutsamen Teils des Strafverfahrens vorzuenthalten', befanden die Verfassungsrichter. Dem Advokaten sei es nicht um die `Sicherung seiner Grundrechte' gegangen, sondern um die `Durchsetzung seiner Interessen, unabhängig von der tatsächlichen Rechtslage'". (HH A 10.02.95) Gewöhnliche Fehlurteile durch Verkennung der Prozessvoraussetzungen und -gegebenheiten oder des einfachen Rechts müssen von dem jeweils Betroffenen hingenommen werden - so bitter so etwas im Einzelfall auch ist; und ich weiß auf Grund eigener bitterer Erfahrungen genau, wovon ich spreche (s. IV. 7.16 aus SPIEGEL 39/85)! Das BVerfG ist keine übliche »Vierte Instanz«. Es untersucht nur, ob bei der Urteilsfindung Grundrechte oder die anderen in Art. 93 I Nr. 4 a GG angegebenen Rechte zu beachten gewesen waren und deren Anwendung möglicherweise verkannt worden ist. (Erinnert sei an den im Zusammenhang mit Art. 4 I GG ergangenen, wegen seiner grundsätzlichen Problematik zur Illustration unter Teil IV. 5.2 ausführlich dargestellten Bluttransfusionsfall.) Verwirku ng von Grundrec hten

Wer bestimmte, in Art. 18 GG abschließend aufgeführte Grundrechte "... zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen." Dass dieses Verbot nicht allzu viel bewirkt, wussten auch schon die Verfassungsmütter und -väter im Parlamentarischen Rat. Dort hatte der spätere Bundesjustizminister Dehler erklärt: "Auf jeden Fall halte ich es für notwendig, daß wir diese Barriere aufrichten, nicht in dem Glauben, daß wir dadurch einer Revolution begegnen können, aber doch in dem Willen, einer Revolution die Maske der Legalität zu nehmen." Gegen den Chefredakteur und Besitzer oder Eigentümer der im Medienspektrum am äußersten rechten Rand angesiedelten Nationalzeitung, Frey, ist ein solches Verfahren schon einmal angestrengt worden. Es endete aber mit einer Einstellung des Verfahrens und nicht mit dem Entzug einzelner in Art. 18 GG aufgeführter Grundrechte, weil von den in der Zeitung vertretenen Auffassungen, die so gut wie keine politische Resonanz fänden, kaum ernste Gefahren für den Bestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung ausgehen würden, hieß es damals vor Jahren. Das war eine strenge Prüfung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Doch Verhältnisse können sich auch ändern. Zwischenzeitlich saß die zu diesem Kreis dazugehörige DVU, Vorsitzender eben dieser Frey, wenigstens für eine Legislaturperiode im Schleswig-Holsteinischen Landtag und in der Bremer Bürgerschaft, zuletzt im sächsisch-anhaltinischen Parlament! Nachdem viele Ausländer wegen ihrer Andersartigkeit, Hautfarbe, fremden Sprache, ... auf deutschen Straßen erschlagen und in ihren Häusern verbrannt worden sind, mag man über solche Hetzblätter auch anders denken. Verbotskriterium kann nach hier vertretener Auffassung nicht mehr nur eine zu untersuchende mögliche Breitenwirkung sein, sondern auch das enthemmende Schüren von Ausländerhass in der dafür äußerst anfälligen »rechten Szene«. "Staatsanwalt fordert zweieinhalb Jahre Haft für neuen `Führer' `... dann brennen eben noch mehr Neger und Vietnamesen' Rudolstadt - Höhnisch grinsend und ohne eine Spur von Reue wiederholt der Angeklagte vor Gericht seine rechtsextremistischen Parolen. Der selbsternannte Führer der rechtsradikalen Deutschen Nationalen Partei (DNP), Thomas Dienel, brüstet sich: `Sie können mir meine Gedanken nicht aus dem Kopf schlagen.' ... `Wenn es das Bonner Judenregime nicht anders will, dann brennen eben noch mehr Neger und Vietnamesen', droht der Mann, der sich selbst als Nationalsozialist bezeichnet, ..." (HH A 09.12.92) "Bewährungsstrafe für Volksverhetzer `Man muß alle Türken abstechen und alle türkischen Frauen aufschlitzen! Die Vergasung von sechs Millionen Juden ist eine gute Tat gewesen, aber nicht genug', hatte Ragnar St. am 18. Mai 1992 lautstark in der U-Bahn verkündet und Sitzpolster zerstochen. Gestern bekam er für seine

724

rassistischen Äußerungen die Quittung: Wegen Volksverhetzung und Sachbeschädigung wurde der arbeitslose 27jährige vom Amtsgericht zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Zusätzlich muß er 800 Mark Geldbuße zahlen. ..." (HH A 16.12.92) "Verbietet die rechtsextremen Rockbands! Bonn - Lieder rechtsextremistischer Rock-Bands stiften nach Ansicht von Bundesjugendministerin Angela Merkel (CDU) Kinder und Jugendliche zu Gewaltaktionen gegen Ausländer an. ... Geradezu bestürzend sei, daß `sehr viele junge Leute über diese rechtsextremen Botschaften den Einstieg in die Skinhead-Szene finden'. ... Auch eine Broschüre `unbekannter Herkunft' mit dem Titel `Radikahl - Retter Deutschlands' dürfe nicht mehr an junge Menschen unter 18 Jahren veräußert werden. Dabei handelt es sich um eine Art `Liedbuch' zum Rassenhaß mit Texten wie diesem: `Hast du in deinem Garten 'ne Eiche stehn, will ich daran einen Türken hängen sehn.'..." (HH A 28.11.92) "Kripo ermittelt wegen volksverhetzender Flugblätter `Asylantenkinder in Brand' Die Staatsanwaltschaft Stade ermittelt in einem schweren Fall von Volksverhetzung. In Buchholz sind von einer Gruppe, die sich `Rent a Demo' nennt, Flugblätter aufgetaucht, auf denen angeboten wird, Skinhead-Überfälle auf Asylantenheime zu inszenieren und gegen einen Aufpreis auch Asylantenkinder in Brand zu stecken. ..." (HH A 13.01.93) "Alles nur Satire hs Buchholz - Alles nur Satire? Die Verfasser der Flugblätter, auf denen ein vorgebliches Unternehmen mit dem Namen `Rent a Demo' seine Dienste bei der Inszenierung von SkinheadÜberfällen auf Asylantenheime anbietet, haben sich bei der Kriminalpolizei gemeldet. Man habe mit den Flugblättern nur auf die zunehmende Verharmlosung eines neu aufgeflammten Faschismus' aufmerksam machen wollen, heißt es in dem mit den Worten `Red. TITEL' unterschriebenen Brief. Die Polizei hatte ein Verfahren wegen Volksverhetzung eingeleitet." (HH A 16.01.93)

7.7 »Parteienprivileg« mit »Parteienirrtumsprivileg«; Parteienverbotsmonopol beim BVerfG; Widerstandsrecht a) Es gab keine verfassungsmäßigen Sperren gegen Parteienverbote durch die Exekutive. So konnte Hitler in formaler Legalität durch das Verbot von zunächst Parteien und dann auch Gewerkschaften auf die Errichtung des autoritären Führerstaates hinarbeiten und so "die Demokraten mit ihrem eigenen Wahnsinn erschlagen" (Hitler). b) Diese historischen Erfahrungen führten dazu, dass – getreu dem Wort von Erich Kästner: „Es ist besser, Deiche zu bauen, als darauf zu hoffen, dass die Flut allmählich Vernunft annimmt.“ - nunmehr die Grundlagen für eine "abwehrbereite, wehrhafte Demokratie" geschaffen wurden. Die staatliche Souveränität und Einheit und die wichtigsten Verfassungsgrundsätze sind durch verschiedene strafrechtliche Bestimmungen geschützt und dazu in § 92 I, II StGB aufgeführt: "§ 92 StGB Begriffsbestimmungen (1) Im Sinne dieses Gesetzes beeinträchtigt den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, wer ihre Freiheit von fremder Botmäßigkeit aufhebt, ihre staatliche Einheit beseitigt oder ein zu ihr gehörendes Gebiet abtrennt. (2) Im Sinne dieses Gesetzes sind Verfassungsgrundsätze 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, 3. das Recht auf die Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition,

725

4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, 5. die Unabhängigkeit der Gerichte und 6. der Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft." Eine solche Aufzählung von (u.a. im Strafgesetzbuch selbst getroffenen) "Legaldefinitionen" wie vorstehend lädt geradezu zu einer Grundgesetz-Ralley50 ein, um die Fundstellen dieser tragenden Verfassungsgrundsätze in der Quelle selbst zu suchen. Viel Spaß! "Kein Schutz den Feinden der Demokratie!" oder: "Keine Toleranz gegenüber Intoleranz!", ist der Schlachtruf unserer "streitbaren Demokratie", die auf Grund der historischen Erfahrungen der NS-Diktatur ihren Feinden keine Chance mehr zur Abschaffung der Demokratie auf scheinlegalem Wege einräumen will - wie das in Staaten mit langer freiheitlicher Tradition wie z.B. den USA, Großbritannien und Frankreich jedenfalls formal möglich wäre. Darum gibt das Grundgesetz durch Art. 21 II GG die Möglichkeit, dass (ausschließlich!) das Parteienver BVerfG auf Antrag von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung die Verfassungswidrigkeit einer Partei botsmonop feststellen und deren Verbot aussprechen kann. Weil Hitler (als Spitze der Exekutive) in der Endzeit der »freien« Weimarer Republik zur Errichtung des diktatorischen NS-Regimes nach und nach alle anderen ihm ol beim missliebigen Parteien verboten hatte, wurde nunmehr der Exekutive die Macht aberkannt, Parteien verbieten zu BVerfG dürfen. Der die Exekutive beherrschenden Partei wurde das Schwert aus der Hand geschlagen, ihr unliebsame Konkurrenten im Parteienwettstreit scheinlegal oder legal zu meucheln. Nicht einmal der Judikative generell, sondern ausschließlich dem BVerfG wurde diese Rechtsmacht gegenüber einer politischen Partei zuerkannt. Die Exekutive darf nunmehr unter der Geltung des Grundgesetzes nur noch nach dem Vereinsgesetz die unterhalb der Parteienschwelle angesiedelten Vereine und Verbände verbieten, wenn die durch das Vereinsgesetz nicht gedeckte, insbesondere verfassungsfeindliche Ziele verfolgen. Das aber sogar selbst dann, wenn sie sich, wie Parteienpr z.B. die Kurdische Arbeiterpartei PKK, in ihrem Namen "Partei" nennen, um durch die Namensgebung einen ivileg höheren rechtlichen Schutz gegenüber einer bloßen Vereinsgründung anzustreben. Wenn Vereine wie z.B. die "Grauen Wölfe" der türkisch-islamischen Fundamentalisten in der Bundesrepublik gegen die »fdGO« ("freiheitlich demokratische Grundordnung") verstoßen, dann können sie vom Innenminister verboten werden, da sie nicht am so genannten "Parteienprivileg", der im Rahmen der Rechtsordnung uneingeschränkten Betätigungserlaubnis bis zu einem erfolgenden Verbotsurteil, teilhaben. Das ist schon mehrfach so geschehen. Vereine genießen im Gegensatz zu Parteien keinen erhöhten Bestandsschutz. Deswegen ist die Verbotskompetenz für Vereine unterhalb der Entscheidungsebene des BVerfGs angesiedelt. "Nach den Morden von Mölln Verbot rechter Gruppen möglich dpa Berlin - Angesichts der zunehmenden Gewalt von rechtsextremistischen Gruppen in Deutschland prüft das Bundesinnenministerium zurzeit ein Verbot solcher Organisationen. Dieser Schritt ist bereits im Grundgesetz vorgesehen. Im Artikel 9, Absatz 2, heißt es: `Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeiten den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.' Entgegen dem Wortlaut des Grundgesetzes tritt aber das Verbot nicht automatisch in Kraft, sondern muß vom Bundesinnenminister beziehungsweise den Landesministern ausgesprochen werden. In der Vergangenheit hat der Bundesinnenminister bereits mehrere rechtsextremistische Organisationen verboten: unter anderem in den 70er Jahren die `Wehrsportgruppe Hoffmann', 1982 die `Volkssozialistische Bewegung Deutschlands/ Partei der Arbeit' sowie 1983 die `Aktionsfront nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten' des gestorbenen Michael Kühnen. Dabei hatte sich der Bundesinnenminister jeweils darauf berufen, diese Gruppierungen verstießen gegen die 50

Nicht alle in § 92 StGB angegebenen Verfassungsgrundsätze sind "expressis verbis" im Grundgesetz zu finden. Einige beziehen sich auf mehrfache Nennung und/oder direkte oder indirekte Erwähnung, einer ist eine zusammenfassende Generalklausel. Lösungen zur "GG-Ralley": Zu 1.): Art. 20 I, 28 I und 38 I GG; zu 2.): Art. 20 III GG; zu 3.): Art. 21 I und II GG; zu 4.): Art. 38, 65a, 67, 68, 115b GG; zu 5.): Art. 97 GG; zu 6.): zusammenfassende Generalklausel dessen, was zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört. Sie umfasst auch den größten Teil der in Nr. 1-5 genannten Grundsätze.

726

verfassungsmäßige Ordnung. Die Verbote wurden jeweils durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Im Fall der `Partei der Arbeit' hatte das Bundesverwaltungsgericht sein Urteil damit begründet, daß die Gruppierung sich `zu Hitler und zur NSDAP bekennt'. Sie mache sich über die demokratische Staatsführung lustig und propagiere eine mit dem Diskriminierungsverbot unvereinbare Rassenlehre. Das spektakulärste Verbot des Bundesinnenministers betraf 1983 die Rocker-Gruppe `Hells Angels'. Das Bundesverwaltungsgericht hatte hier festgestellt, daß diese Gruppe Straftaten ihrer Mitglieder gefördert habe. Der Verein, so die Richter, habe die Straftaten gemäß dem Motto `Einer für alle, alle für einen' unterstützt. Nach Meinung des Rechtswissenschaftlers Wolfgang Löwer könnte ein Vereinigungsverbot auch damit begründet werden, daß eine Vereinigung eine ausländische Bevölkerungsgruppe permanent `verhetzt'. Dies würde dem Gedanken der Völkerverständigung zuwiderlaufen, weil dadurch die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Heimatstaaten der hier lebenden Ausländer gefährdet sein könnten. Vom Vereinsverbot ist ein Parteiverbot zu unterscheiden. Darüber hat das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden. Dabei ist nicht jede Gruppierung, die sich Partei nennt, auch eine Partei im Sinne des Gesetzes. Parteien müssen danach eine gewisse Festigkeit in ihrer Organisation und eine gewisse Anzahl von Mitgliedern haben, `die eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung' bieten." (HH A 25.11.92) Im letzten Absatz dieses Artikels ist der Begriff der Partei aus dem "Gesetz über die politischen Parteien" (Parteiengesetz) nur sehr ungenau wiedergegeben. Darum die zur Zeit der Drucklegung gültige Definition des Begriffs der Partei aus diesem Gesetz, die nach dem Zusammenschluss der europäischen Staaten zum 01.01.93 sicher in mindestens einem Punkt überarbeitet und geändert werden muss: "§ 2 Begriff der Partei (1) Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Mitglieder einer Partei können nur natürliche Personen sein. (2) Eine Vereinigung verliert ihre Rechtsstellung als Partei, wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat. (3) Politische Vereinigungen sind nicht Parteien, wenn 1. ihre Mitglieder oder die Mitglieder ihres Vorstandes in der Mehrheit Ausländer sind oder 2. ihr Sitz oder ihre Geschäftsleitung sich außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes befindet." "Das erste Verbot: Härterer Kurs gegen rechte Gewalt HA Bonn/Hamburg - Mit dem Verbot der rechtsextremen `Nationalistischen Front' (NF) durch Bundesinnenminister Rudolf Seiters haben die deutschen Behörden am Freitag einen härteren Kurs gegen neonazistische Gewalttäter eingeschlagen. ... Zur Begründung des Verbots erklärte Seiters, die neonazistische NF habe das Ziel, die demokratische Grundordnung zu beseitigen. In ihrem politischen Programm greife sie Forderungen der NSDAP auf. Außerdem habe ihr Vorsitzender Meinolf Schönborn damit begonnen, ein `Nationalistisches Einsatzkommando' aufzubauen, `um straff gegliederte, hochmobile `Kampftruppen' unter anderem für Aktionen gegen Ausländer, politische Gegner und Staatsorgane aufzustellen'. Das Verbot der NF setze ein unübersehbares Warnsignal gegen rechtsextreme Agitation und Gewalt. Diesem Schritt würden weitere Maßnahmen folgen. Als Kandidaten für weitere Verbote gelten die `Deutsche Alternative' und die `Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei'. ... (HH A 28.11.92) In der Bundestagsdebatte vom 10.12.92 sagte der damalige Bundesminister des Innern u.a.: "Wir Deutschen wissen aus dem leidvollen Teil unserer Geschichte, daß Extremismus, Haß und Gewalt immer ins Unglück geführt haben. Deshalb muß sich unsere Demokratie - und das heißt ja

727

wohl, wir alle - gegen ihre Feinde mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen. Seit Beginn dieses Jahres haben wir über 2.000 Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation zu verzeichnen, rund 1.800 mit fremdenfeindlicher Zielsetzung. 17 Menschen kamen durch diese Gewalttaten zu Tode, darunter sieben Ausländer. ... Ich bin fest entschlossen, das Mittel des Vereinsverbots, wo immer dies unter unseren rechtsstaatlichen Voraussetzungen möglich und notwendig ist, konsequent anzuwenden. Deshalb habe ich am 27. November die `Nationalistische Front' verboten. Heute morgen ist das Vereinsverbot gegen die `Deutsche Alternative' ausgesprochen worden. Dieses Vereinsverbot wird zur Stunde in allen Bundesländern vollzogen. Darüber hinaus hat das Kabinett gestern beschlossen, gegen zwei Personen aus der rechtsextremistischen Szene, die in besonders übler und menschenverachtender Weise gegen Ausländer, gegen Juden Agitation betreiben und sich vorgenommen haben, die demokratische Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland abzuschaffen, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag nach Art. 18 auf Verwirkung der Grundrechte zu stellen. Ich weiß, daß es hier um eine Abwägungsfrage geht. Ich kenne auch die Argumente in der Frage, ob man von diesem Instrument wirklich Gebrauch machen sollte. Aber, meine Damen und Herren, wenn es uns jetzt darum geht, deutliche Zeichen zu setzen, daß dieser Rechtsstaat entschlossen ist, dem widerwärtigen Spuk rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Gewalttäter ein Ende zu bereiten, dann müssen wir von allen Möglichkeiten Gebrauch machen, die uns unsere Verfassung zur Verfügung stellt. ... " (Das Parlament 18.12.92) Nach der Nationalistischen Front (NF) und der Deutschen Alternative (DA) ist dann auch noch die Nationale Offensive (NO) verboten worden, weil auch sie "eine ausländerfeindliche Stimmung erzeuge und anheize". Doch damit war diese Angelegenheit juristisch noch nicht ausgestanden: "Symbolische Politik Gerichte prüfen: Ist die Bonner Verbotsstrategie gegen Neonaziparteien rechtswidrig? ... Den Bonner Dekreten folgt jetzt ein komplizierter Rechtsstreit darüber, ob das Ministerium die rechtsextremen Organisationen zu Unrecht auf Grund des Vereinsgesetzes aufgelöst hat. Die drei verbotenen Gruppierungen haben beim Bundesverfassungsgericht und beim Bundesverwaltungsgericht Klage eingereicht. Die Neonazis berufen sich auf den Parteienstatus ihrer Vereinigungen. Parteien können gemäß Artikel 21 des Grundgesetzes nicht von Bonn, sondern nur vom Verfassungsgericht in Karlsruhe verboten werden. In ihrer Klageschrift verweisen die Rechtsradikalen darauf, daß der Bundeswahlleiter die NO, die DA und die NF gemäß Paragraph 6 des Parteiengesetzes registriert hatte. Auf Anforderung verschickte die Wiesbadener Behörde sogar Programme und Statuten auf Kosten des Steuerzahlers. Bei der DA des Cottbusser Neonazis Frank Hübner, 27, notierte der Bundeswahlleiter in Wiesbaden noch im Oktober den neuesten Stand der Daten über Vorstandsmitglieder, Programm und Statut. Der NO des Augsburgers Michael Swierczek, 31, teilte die Behörde noch vier Wochen vor dem Verbot mit, sie habe deren `Unterlagen auf den neuesten Stand gebracht'. Auch die Verwaltung des Deutschen Bundestages nahm artig die im Parteiengesetz vorgeschriebenen Finanzberichte der Neonazi-Parteien DA und NO entgegen - Spenden an die braunen Propagandisten waren steuerlich abzugsfähig. Innenminister Seiters selbst hat noch im jüngsten Verfassungsschutzbericht die NO Als `Partei' beschrieben, die `in den östlichen Bundesländern neue Aktivisten hinzugewonnen' habe. In der Verbotsverfügung vom 22. Dezember jedoch bestritt das Bundesinnenministerium die Parteieigenschaft der Gruppierung - etwa mit dem Hinweis, die NO verfüge `bis heute nur über einen begrenzten Kreis von Mitgliedern in drei Landesverbänden'. Solche Argumentation hält der Hamburger Staatsrechtler Wolfgang Hoffmann-Riem, 52, für `sehr kurzschlüssig und gefährlich'. Seiters' Verfügungen stuft der Professor als `typische Zeichen symbolischer Politik' ein. Die Verbotsbegründungen, so der Hamburger Jurist, seien `etwas dürftig', die Parteieigenschaft der aufgelösten Organisationen habe das Innenministerium nicht einmal näher geprüft. Eine solche rechtliche Prüfung aber erweist sich als äußerst schwierig. Das Grundgesetz kennt keine Institution, die einer Vereinigung den Parteienstatus rechtsverbindlich zuerkennen kann. Auf eine derartige Instanz haben die Väter des Grundgesetzes bewußt verzichtet; die Bildung von

728

Parteien sollte keinen Beschränkungen unterliegen. Das Bundesverfassungsgericht ist nur für Verbote verfassungswidriger Parteien zuständig, und ein solches Verfahren kann, wie bei der 1956 verbotenen KPD, mehrere Jahre dauern. Seiters aber wollte nach den Morden von Mölln schnelle Erfolge vorweisen. Wie dilettantisch seine Beamten zu Werke gingen, zeigt etwa die Verbotsverfügung gegen die NO, in der die Gruppierung mehrfach mit der DA verwechselt wird. Beide Parteien halten ihre Chancen, vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Bundesverwaltungsgericht zu gewinnen, für aussichtsreich. Derzeit aber zeigen die Richter keine Eile - ein Verhandlungstermin ist noch nicht festgesetzt." (SPIEGEL 5/93) Man mag es kaum glauben, dass das Bundesinnenministerium die fraglichen Gruppierungen selbst jahrelang als Parteien anerkannt haben soll, doch nun wie ein Pfau »das große juristische Rad schlägt« und aus tagespolitischen Erwägungen heraus Verbote nach dem Vereinsgesetz ausspricht und damit die von ihm bisher wenigstens »konkludent« (durch schlüssiges Handeln) festgestellte oder bestätigte Parteieigenschaft mit einem Federstrich der Exekutive beseitigt. Das verstieße eindeutig gegen das Grundgesetz, wenn die Exekutive Parteien nur zuließe oder duldete, solange sie der Regierung genehm sind und ihnen bei Missfallen die Parteieigenschaft entzöge, indem das Ministerium sie durch einen internen Akt zu einem bloßen Verein herabstufte oder umdefinierte. So kann man sich nicht zu seinem eigenen Tun in Widerspruch setzen, nur weil der vom Grundgesetz vorgeschriebene Weg zu lästig ist! Mit so heißer Nadel darf nicht genäht werden! Wofür hätte denn sonst einzig das Bundesverfassungsgericht das Parteienverbotsmonopol zuerkannt erhalten? Die Parteien in der Bundesrepublik sollten eben nicht der willkürlichen Definitionsbeliebigkeit der Exekutive unterfallen, sondern vor deren opportunistischen Eingriffen geschützt werden! Einen Rechtsstaat zeichnet es u.a. aus, dass die Exekutive auch dann, wenn es ihr sehr lästig ist, streng rechtsstaatlich vorgeht und den vorgeschriebenen Rechtsweg einhält! Andererseits ist auch die Exekutive nicht gehindert, von Tag zu Tag klüger zu werden und ihre bisher einigen Vereinen gegenüber nachsichtig geübte Praxis, sie privilegiert als Parteien zu behandeln, bei Vorliegen neuer Erkenntnisse zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern. Notfalls muss dann eben das BVerfG entscheiden. Und das hat dann auch entschieden: "Schlag gegen Neonazis Karlsruhe: Keine Parteien, sondern Vereine dpa Karlsruhe - Das Bundesverfassungsgericht hat den Antrag der Bundesregierung auf Verbot der rechtsextremen `Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei' als unzulässig abgewiesen. Bei dieser Gruppierung handle es sich nicht um eine Partei; deshalb sei das Verfahren vor dem Karlsruher Gericht ausgeschlossen... . Die FAP sei lediglich ein Verein, für dessen Verbot nach dem Vereinsgesetz der Bundesinnenminister zuständig sei. Mit dieser Begründung wurde auch ein entsprechender Antrag des Hamburger Senats auf Verbot der rechtsextremen `Nationalen Liste' (NL) abgelehnt. Für das Verbot dieser lediglich in der Hansestadt existierenden Vereinigung sei die oberste Landesbehörde zuständig. Weder die FAP noch die NL erfüllten die Anforderungen, die das Grundgesetz und das Parteiengesetz an Parteien stellten. Allein der Wille, `Partei' zu sein, reiche nicht aus. Eine politische Vereinigung, die Partei sein wolle, müsse die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung auch anhand objektiver Kriterien bestätigen, die ihre Fähigkeit zur Erfüllung der Aufgaben einer Partei erkennen ließen: `Solche Kriterien sind insbesondere Umfang und Festigkeit der Organisation sowie Mitgliederzahl und Hervortreten in der Öffentlichkeit.' Insgesamt komme es darauf an, ob der Schluß zulässig sei, daß eine politische Vereinigung ihre erklärte Absicht, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, `ernsthaft verfolgt'. ... Angesichts ihrer vollständigen und anhaltenden Erfolglosigkeit bei Wahlen könne `nicht davon gesprochen werden, daß hinter den verbalen Zielsetzungen dieser Vereinigung Wirklichkeiten stehen, die es erlauben, sie als Ausdruck eines ernsthaften, in nicht zu geringem Umfang im Volk vorhandenen politischen Willens anzusehen' (Az.: 2 BvB 1/93, 2 BvB 2/93, 2 BvB 3/93)." (HH A 25.02.95) Was die Existenzberechtigung der Parteien betrifft, ist die Exekutive durch die Regelung des Grundgesetzes bewusst entmachtet worden, damit sie nicht ihr unliebsame Gruppierungen auf dem bequemen Weg einer Verwaltungsanordnung mundtot machen kann. Die Parteien wurden damit "in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution" gehoben (BVerfGE 2/1; 1973). Der hervorgehobenen Rolle der Parteien für unsere Demokratie sollte durch das so genannte "Parteienprivileg" Rechnung getragen werden: Bis das BVerfG gesprochen hat, müssen Verwaltungen, Polizei und Verfassungsschutz jede Partei ertragen (lernen) und

729

gleichbehandeln, z.B. bei der Vergabe von kostenloser Werbezeit vor Wahlen, Vermietung von städtischen Sälen zu Veranstaltungen, polizeilichem Schutz ihrer Veranstaltungen vor Gegendemonstranten, ... . Dabei stehen manche Polizeibeamte, insbesondere beim Schutz von Links-Parteien, sogar in der für sie unangenehmen Situation, die Versammlungen von Parteien vor deren Gegnern schützen zu müssen, auch wenn sie oder die Behördenleitung die Organisation, Arbeitsweise und Ziele dieser zu schützenden Partei für verfassungswidrig halten. (Beim Schutz von extremen Rechts-Parteien haben viele Polizeibeamte nicht nur Ostdeutschlands oft nicht gleichermaßen gravierende Probleme! Das müssen wir dann als Skandalberichte der Presse entnehmen.) Doch bis das BVerfG eventuell das Verbot einer bestimmten Partei ausgesprochen hat, nimmt sie mit allen Rechten am Parteienprivileg teil. Vielleicht lindert bis dahin das 1973 u.a. als Stoßseufzer über die innerparteilichen Kritiker geäußerte Wort des Münchner Oberbürgermeisters Kronawitter ein wenig den seelischen Schmerz der Polizeibeamten: "Ich habe mir schon überlegt, ob ich mir nicht eine Hose aus Blech anschaffen soll wegen der vielen kleinen kläffenden Köter, die immer das Bein an mir meinen heben zu müssen, wenn's ihnen juckt." Anderen geht es ähnlich wie der Polizei: Sie werden auch von vielen Seiten angefeindet. Art. 21 II GG wurde schon zweimal angewandt: 1952 (BVerfGE 2/1 ff.) wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP) als Nachfolgeorganisation der NSDAP u.a. wegen ihrer nach dem Führerprinzip aufgebauten inneren Ordnung verboten, 1956 (BVerfGE 5/85 ff.) die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), weil ihre Ziele mit der in Anlehnung an die Ziele der SED in der DDR auch bei uns offen propagierten Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" in unserem "kapitalistischen Ausbeuterstaat" den Grundsätzen der vom Grundgesetz gewollten freiheitlich demokratischen Grundordnung widersprachen. Das Grundgesetz ist unteilbar: Es duldet nur die Unterscheidung in widerleglich vermutet verfassungsgemäße Parteien einerseits und in einem Verfahren von allein dem BVerfG mit Rechtsmacht feststellbar verfassungswidrige andererseits. Solange eine Partei - vielleicht auch nur aus Gründen der politischen Opportunität heraus - nicht verboten ist, nimmt sie, wie z.B. die sich seit dem Jahre 2000 in einer Verbotsdiskussion befindende NPD, am »Parteienprivileg« teil und hat damit zunächst einmal die in einem Verfahren vor allein dem BVerfG überprüfbare staatsrechtliche widerlegliche Vermutung für sich, nicht verfassungswidrige Ziele zu verfolgen und deshalb nicht verfassungswidrig zu sein, sondern – vielleicht auch nur gerade noch - auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Darum müsste man sich aus Gründen der vom Grundgesetzgeber gewollten Liberalität nach hier vertretener Ansicht in solchen Parteien bis zu ihrem Verbot ohne Befürchtung von Nachteilen durch staatliche Organe (z.B. Extremistenbeschlüsse gegen eine Verbeamtung) organisieren und dort sogar herausgehobene Positionen bekleiden dürfen! Auch wenn man solche teils bloß unappetitlichen, teils jedoch schon demokratiegefährdenden Parteien von »links« und »rechts« zu Recht nicht mag, sollte trotzdem gegenüber verblendeten Sektierern aus rechtsstaatlichen und kriminalpolitischen Erwägungen heraus die uns vom Grundgesetz auferlegte Toleranz gewahrt bleiben; was nicht ausschließt, dass man als Demokrat gegen deren die politisch Dummen im Lande verführenden Parolen mit allen zu Gebote stehenden politischen Mitteln kämpft, bis rechtliche Zwangsmittel eingesetzt werden können. Man muss Kinder ja nicht erst eine Scheune abfackeln lassen, sondern kann sie vorher über vom Spiel mit Streichhölzern drohende Gefahren belehren: Die Pest des Nationalsozialismus hat sich schon einmal als Leben verschlingender Moloch europaweit ausgebreitet. Nach dessen Niederringung durch eine globale Kraftanstrengung waren ca. 6 Millionen Menschen in Vernichtungslagern und anderweitig umgebracht worden, hatten ca. 50 Millionen Menschen im von den Nazis angezettelten Zweiten Weltkrieg ihr Leben lassen müssen, waren Millionen andere auf der ganzen Welt vertrieben worden und hatte Deutschland mit den Ostgebieten von der Oder-Neiße-Linie „bis an die Memel“ mehr als ein Viertel seines Staatsgebietes verloren! Schon allein dieses eine Mal war einmal zuviel für die Welt gewesen. Darum dürfen wir keinen wiedergängerischen braunen Untoten politische Mandate übertragen! Die Vermutung der Verfassungskonformität ist aber jederzeit widerlegbar. Darum werden Parteien am jeweiligen extremen Rand des Parteienspektrums vom Verfassungsschutz beobachtet. "Bonn läßt Republikaner überwachen dpa Bonn - Die Republikaner sollen bundesweit vom Verfassungsschutz observiert werden. Das haben die Innenminister des Bundes und der Länder einstimmig beschlossen. Begründung: Bei der Partei unter dem Vorsitz von Franz Schönhuber lägen `Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik' vor. Hamburgs Verfassungsschutz observiert die Republikaner seit 1990. (HH A 16.12.92) "Überwachung der Republikaner, aber kein Verbot

730

Schönhuber: Polizeistaatliche Mittel HA Bonn - Ein breites positives Echo hat der Beschluß der Innenminister des Bundes und der Länder gefunden, die Partei `Die Republikaner' bundesweit von den Verfassungsschutzämtern beobachten zu lassen. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Schnoor sagte, Merkmal der Republikaner sei ihre `radikale Ausländerfeindlichkeit'. Sein bayerischer Kollege Edmund Stoiber sprach von einer `möglicherweise übersteigerten nationalistischen und rassistischen ausländerfeindlichen Haltung, die auch Gewalt gegen Ausländer billigt'. Schnoor (SPD) und Stoiber (CSU) lehnen aber ein Verbot der Republikaner ab (das vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden müßte). Schnoor sagte, man müsse sich politisch mit der Partei auseinandersetzen. Stoiber erinnerte an schlechte Erfahrungen mit dem Verbot der KPD. Er versteht die Überprüfung als Warnung an Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, ein Partei-Engagement zu prüfen. Nach Ansicht des saarländischen Innenministers Friedel Läpple (SPD) muß sich die Republik der heftigsten Angriffe gegen die Demokratie in ihrer Geschichte erwehren: `Wir müssen aufpassen, daß wir nicht Weimarer Verhältnisse bekommen.' Der Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, äußerte dagegen, `die um ihre Pfründe zitternde politische Klasse' lasse ihre `pseudo-demokratische Maske fallen' und greife zu polizeistaatlichen Mitteln. Kanzler Kohl steuere auf ein Ermächtigungsgesetz zu: `Hitler läßt grüßen.' Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz bedeutet zum einen, daß die Ämter sich aus öffentlich zugänglichen Quellen informieren - also aus Zeitungen, Rundfunk, Flugblättern, Programmen oder bei Parteiveranstaltungen. Außerdem werden die Beamten Personen befragen. Darüber hinaus greifen die Verfassungsschützer zu nachrichtendienstlichen Mitteln. Das sind heimliche Beobachtung, Einsatz von `V-Leuten' (verdeckte Ermittler) und Überwachung des Briefund Telefonverkehrs. Dieser Eingriff ist allerdings nur zulässig, wenn ein Parlamentsausschuß (G10-Kommission) zugestimmt hat. Es muß stets das geeignete Mittel angewendet werden, das am wenigsten in die Rechte des Beobachteten eingreift. ..." (HH A 17.12.92) "Gericht lehnt Beobachtung der Reps ab dpa Hannover - Der niedersächsische Verfassungsschutz darf die rechtsradikalen Republikaner nicht länger beobachten. Die zur Rechtfertigung dieser Maßnahme vom Land vorgelegten Anhaltspunkte für eine Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln reichten nicht aus, begründete das Verwaltungsgericht in Hannover seinen Beschluß. Das vom Land vorgelegte Material lasse zwar `Rückschlüsse auf ausländerfeindliche Positionen zu', der Vorwurf des Verstoßes gegen die freiheitliche Grundordnung sei damit allein jedoch nicht gedeckt. ..." (HH A 09.02.93)

»Parteieni rrtumsprivileg«

In einer Partei, deren Verfassungswidrigkeit vom BVerfG (noch) nicht festgestellt worden ist, muss man sich engagieren dürfen - auch wenn es dem Staat zum Teil nicht passt -, denn sonst liefe das Parteienprivileg leer. Es beinhaltet nach der hier vertretenen Ansicht auch ein »Parteienirrtumsprivileg« - auch wenn es Demokraten nicht mit Freude erfüllt, dass auf Grund dieses mit der alleinigen Parteienverbotskompetenz des BVerfGs verbundenen »Parteienirrtumsprivilegs« und des Gleichbehandlungsgebots an extreme und extremistische Parteien staatliche Zuschüsse in nicht unerheblichem Umfang gezahlt werden müssen: 2005 erhielten die Republikaner 1,3 Mill. € öffentliche Zuschüsse, die NPD 666.040 €, die DVU 260.000€; und die Mitfinanzierung der innerhalb der PDS agierenden Kommunistischen Plattform sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden! Weite Kreise im Ausland hatten kein Verständnis dafür, dass bei uns in hysterischem Aktionismus z.B. Lokomotivführer oder Fernmeldemechaniker der Post bei einer Kandidatur für die DKP zwangsweise aus dem Beamtenverhältnis entlassen worden waren, dagegen zur gleichen Zeit bei unseren Nato-Partnern Island und Frankreich Kommunisten Ministerämter bekleidet hatten. Das war selbst mit Hinweis auf unsere Situation als geteiltes Land an der Systemgrenze zwischen Ost und West kaum vermittelbar, geschweige denn verständlich zu machen. In Frankreich können Mitglieder der KPF ohne weiteres Lehrer sein oder andere Beamtenaufgaben wahrnehmen. Und der norwegische König hatte während des oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt: "Die norwegischen Kommunisten sind auch meine Kommunisten." Zu dieser Toleranz war unser damals geteilter Staat nicht fähig gewesen, weil 17 Millionen Landsleute von der SED, dem MfS als Schirm und Schild dieser Partei und den sowjetischen Besatzungstruppen in kommunistischer Knechtschaft gehalten worden waren. 2001 beantragte die Bundesregierung (als kleine politische Stichelei am bewusst so gewählten, von den

731 Neonazis immer noch gefeierten „(Jahres-)Tag der Machtergreifung“ 30.01.33) beim BVerfG das Verbot der NPD, dem sich auch Bundestag und Bundesrat mehrheitlich in einem eigenen Verbotsantrag anschließen wollen. Als verbotsheischend wurde insbesondere angesehen:  Die - teilweise unter Verwendung von Kennzeichen der NSDAP und ihrer Unterorganisationen - aggressiv vorgetragene rassistische Argumentation und Programmatik der NPD gegen das „internationale Judentum“, mit der – zuletzt im Programm zur Europawahl 1999 - Fremdenfeindlichkeit als legitimes Mittel der "Arterhaltung" der „Volksgemeinschaft“ propagiert und auf Parteiversammlungen in den Frieden in Europa gefährdender Form die Wiederherstellung des Deutschen Reiches gefordert werde,  ein die Shoa-Opfer verhöhnender Antisemitismus: „Hitler mit seinem Antisemitismus war genau gesehen ein Glücksfall für die Juden“,  die Zusammenarbeit mit Skinheads, um „befreite Zonen“ zu schaffen, und  eine durch Massenaufmärsche demonstrierte aktive kämpferische Demokratiefeindlichkeit.

Widers tandsre cht

Für den extremen Notfall eines Putschversuches meist in einer extremistischen Partei organisierter oder ihr nahestehender antidemokratischer Kräfte gesteht unsere "streitbare Demokratie" in dem Extremfall, dass andere Abhilfe gegen einen Umsturz nicht mehr möglich wäre, jedem Deutschen durch Art. 20 IV GG das auf die Erhaltung unserer demokratischen Ordnung abzielende Recht zum Widerstand zu. „Das Volk muss für seine Verfassung so kämpfen wie für seine Stadtmauer“, hieß es schon im alten Athen. Wohlgemerkt: Dieses Widerstandsrecht steht nur jedem Deutschen und nur gegen diejenigen zu, die es unternehmen, unsere in Art. 20 I-III GG in Kurzform wiedergegebene Verfassung - Republik, Demokratie mit Gewaltenteilung, Sozial- und Rechtsstaat, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für alles staatliche Handeln - zu beseitigen; und nur dann, wenn andere Hilfe nicht mehr möglich ist. Es gibt unter der Geltung des GG kein rechtlich zulässiges Widerstandsrecht gegen in rechtlich einwandfreiem Verfahren erlassene Gesetze, Urteile und Verwaltungsmaßnahmen, wenn sie vom BVerfG überprüft und – eventuell sogar rechtsirrig – für verfassungskonform erklärt worden sind! Startbahn-West-, Raketenstationierungs- oder Atomkraftgegnern z.B. stand und steht dieses über das Demonstrationsrecht, der „Pressefreiheit des kleinen Mannes“, hinausreichende Widerstandsrecht nicht zu (auch wenn es der spätere Bundesaußenminister Fischer in seiner „Putzgruppen-Zeit“ anders gesehen hat). Sie und alle anderen müssen mit straf- und gegebenenfalls auch zivilrechtlicher Verurteilung rechnen, wenn sie Gesetze brechen und ein Gericht eine strafbare Demonstrationshandlung, wie z.B. das Einbetonieren der Arme auf einer Castor-Transportstrecke zum Blockieren der Gleise51 oder eine andere Straftat, wie z.B. das Ansägen eines Strommastes, feststellen zu können glaubt. Art. 20 IV kann nicht als Legitimationsbasis für politisch motivierte Rechtsverletzungen gegen Entscheidungen, die von zuständigen Staatsorganen im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung rechtlich einwandfrei getroffen wurden, in Anspruch genommen werden! Und erst recht nicht für einen antidemokratischen Staatsstreich. Mit diesem in die Verfassung aufgenommenen Widerstandsrecht wurde nicht gedankliches juristisches Neuland betreten. Der Verfassungsgeber, die Zwei-Drittel-Bundestagsmehrheit, griff »nur« einen Gedanken auf, der schon Jahrhunderte in der abendländischen philosophischen und Rechtstradition gedacht worden ist. So formulierte z.B. der Engländer Locke nach der „Glorious Revolution“ von 1688 den Gedanken: Nur der ungerechten und ungesetzlichen Gewalt darf man mit Gegengewalt begegnen! Aber es war ein neuer Schritt in der deutschen Verfassungsgeschichte, dass dieser Gedanke jetzt mit Verfassungsrang rechtliche Bedeutung erlangte. Artikel 20 IV GG hat mehr deklaratorischen Charakter, denn wenn der Staat mit seiner bewaffneten Macht nichts mehr gegen einen Umsturz ausrichten kann, dann wird auch der zum Widerstand aufgerufene Bürger kaum etwas ausrichten können. Außerdem: Sollte in der Bundesrepublik ein Umsturz erfolgreich stattfinden und einige Idealisten sollten Widerstand geleistet haben, dann würde sich trotz dieser grundgesetzlichen Regelung kein demokratischer Widerstandskämpfer auf Art. 20 IV GG berufen können. Die Sieger eines Umsturzes, die das Grundgesetz nicht achteten, würden doch nicht den Rückgriff auf Art. 20 IV GG als Rechtfertigungsgrund anerkennen! Art. 20 IV GG würde einem Widerständler ebenso helfen, wie einem Beinamputierten Salbe auf seinem Holzbein. "Vae victis!" ("Wehe den Besiegten!"), sagte schon 390 v.Chr. der gallische Feldherr Brennus nach seinem Sieg über die Römer, warf sein Schwert in die Waagschale und ließ es von den schon 51

Fünf »Aktivisten« von »Robin Wood«, die sich 2002 an einem im Gleisbett unter den Gleisen eingegrabenen Betonblock fest gekettet und die Fahrt eines Castor-Zuges so 17 Stunden lang aufgehalten hatten, wurden von dem LG Lüneburg wegen Störung öffentlicher Betriebe zu Geldstrafen zwischen 350–1.155 € verurteilt. Zivilrechtlich wurden gegen sie von verschiedenen Seiten Forderungen geltend gemacht: Von der Bahn 10.000 €, Technisches Hilfswerk und Bundesgrenzschutz je 9.000 €, ... Angesichts dieser Forderungen ist die Geldstrafe nur »Kleingeld«! Vom LG Lüneburg wurden der Deutsche Bahn AG 4.700 € zugesprochen.

732

ausgeplünderten Römern über den geforderten Tribut hinaus mit Gold aufwiegen. "Vae victis!" So reagiert jedes Terrorregime! Eine solche Bestimmung wie Art. 20 IV GG in der Weimarer Verfassung hätte die NSDAP nicht an der Machtergreifung gehindert! Die einzige Chance besteht in solchen Fällen nur in einem von den Gewerkschaften ausgerufenen und von der Bevölkerung befolgten passiven Widerstand in der Form eines politisch motivierten Generalstreiks.

7.8 »Ewigkeitsgarantie« für ein »verfassungsfestes Minimum« a) Im Prinzip war jede Verfassungsbestimmung der Weimarer Verfassung veränderbar. Ganz legal konnte die Diktatur eingeführt werden. Die Verfassung war so liberal, dass sie die gesetzlich betriebene Abschaffung der Grundprinzipien des Staates zuließ, wie Goebbels es schon 1928 propagiert hatte: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahm zu legen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache.“ Sogar Grundrechte konnten - wie dargestellt - völlig beseitigt werden, wie es durch das Ermächtigungsgesetz auch praktiziert worden ist. b) Demgegenüber bestimmt "Ewigkei tsgarantie " für ein "verfassu ngsfestes Minimu m"

Art. 79 III GG "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." mit seiner »Ewigkeitsgarantie« ein »verfassungsfestes Minimum«, das auch der Verfassungsgeber (Bundestag und Bundesrat, beide mit qualifizierter Zwei-Drittel-Mehrheit) nicht ändern darf. Nach einer Revolution würde aber kein Hahn mehr nach dem Art. 79 III GG krähen! Das Verbot der Verfassungsänderung in den aufgeführten Punkten gilt somit praktisch nur für denjenigen, der sich der Verfassung unterwirft. Aber eine Partei, die unsere staatliche Ordnung abschaffen und eine neue Diktatur, einen neuen Führerstaat errichten wollte, wie es manche Rechtsradikale in ihrer jeweiligen Gruppierung unter ihrer Anhängerschaft schon wieder verdeckt propagieren, „Wer mit dem Grundgesetz unter dem Kopfkissen schläft, braucht Carl Schmitt nicht. Wer jedoch erkannt hat, dass die Verfassung das Gefängnis ist, in dem die res publica der Deutschen – gerade nach der kleinen Wiedervereinigung – gefangen gehalten wird, greift gerade jetzt zu seinen Werken.“52 könnte die Verfassung bei einem eventuellen nächsten Mal nicht mehr scheinlegal beseitigen, die Demokraten nicht mehr "mit ihrem eigenen Wahnsinn schlagen" (Hitler).

7.9 Wahlsystem der Bundesrepublik a) In der Weimarer Republik galt das Verhältniswahlsystem ohne Sperrklausel. Dadurch kamen extrem viele Parteien ins Parlament, wie in dem nachkommunistischen Polen 29 Parteien bei einer Parlamentswahl in den Sejm eingezogen sind; ein parlamentarischer Alptraum. Bei solchen Verhältnissen ist es äußerst schwierig, 52

Thor von Waldstein 1992; zitiert nach der Broschüre Bundesamt für Verfassungsschutz: Demokratie ist verletzlich – Rechtsextremismus in Deutschland S. 18

733

Parteiinteressen zu bündeln, Regierungskoalitionen zu bilden und Gesetze zu beschließen. So war es in der Weimarer Republik. Die Extremisten von rechts und links hatten die Mehrheit. Sie waren sich einig in der Ablehnung der jungen Demokratie und wählten jede Regierung ab, ohne eine neue bilden zu können oder bilden zu wollen. Jeder Minister konnte aus der Regierungsmannschaft "herausgeschossen" und einzeln gestürzt werden. So kam es in der kurzen Zeit der Weimarer Republik zu 16 Regierungen mit einer Regierungszeit von acht Monaten im Mittelwert. b) Das Wahlsystem der Bundesrepublik wird als "personalisierte Verhältniswahl" mit 5-%-Sperrklausel

Wahlsyst umschrieben. Das Hauptwort zeigt an, dass es sich dabei schwerpunktmäßig um eine - mit der Zweitstimme em der Bundesr vorgenommene - Verhältniswahl handelt: Wenn durch zusammenfassende Berechnung der Zweitstimmen einer Partei in einer nur zu diesem Zweck gedachten(!) "Bundesliste", die es ja gar nicht gibt, da nur Landeslisten epublik

aufgestellt werden, feststeht, dass eine Partei mindestens 5 % aller im Bundesgebiet abgegebenen Stimmen erhalten hat, wird berechnet, wie viele Abgeordnetensitze ihr auf Grund dieses Wahlergebnisses im Deutschen Bundestag zustehen. Daran schließt sich die Berechnung an, wie viele der für den Bundestag errungenen Sitze davon auf die real nur existierenden Landeslisten der jeweiligen Partei entfallen. Bei der so errechneten Vergabe der Sitze für die einzelnen Landesparteiverbände werden dann zunächst die Abgeordneten berücksichtigt, die in dem jeweiligen Bundesland durch die nach Mehrheitswahlgesichtspunkten vergebenen Erststimmen ein Wahlkreis- oder Direktmandat direkt errungen haben. Stehen der Landesliste einer Partei mehr Abgeordnetensitze zu, als sie durch Siege in den Wahlkreisen des jeweiligen Landes direkt erobern konnte, so werden die restlichen zu vergebenden Sitze nach der Reihenfolge der Kandidaten auf der Landesliste durch Listenmandate ergänzt, nachdem die direkt gewählten Abgeordneten von dieser Liste, wenn sie über die Nominierung in einem Wahlkreis hinaus durch gleichzeitige Aufstellung auf der Landesliste dort abgesichert gewesen sein sollten, gestrichen worden sind. Hat eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt gewonnen, als ihr Sitze nach dem Verhältniswahlschlüssel an sich zustehen würden, so behält sie diese Sitze als so genannte "Überhangmandate". So haben – wie bei früheren Bundestagswahlen auch schon – nach der Wiedervereinigung bei den Wahlen zum 13. und 14. Bundestag sowohl CDU als auch SPD durch das Wahlergebnis Überhangmandate errungen. Das bewirkte eine Vergrößerung der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder des Bundestages. Eine gemäß § 6 IV Bundeswahlgesetz (BWG) mit 5 % angesetzte Sperrklausel soll die für das Weimarer Wahlsystem beschriebenen Auswirkungen hinsichtlich der uneffektiven und sich teilweise zerstörerisch auswirkenden Parteienvielfalt im Parlament verhindern: Eine Gruppierung, die nicht mindestens 5 % der im Bundesgebiet abgegebenen Zweitstimmen auf sich vereinigen kann, wird bei der Vergabe der Sitze grundsätzlich nicht berücksichtigt - außer sie konnte mindestens drei Direktmandate („Grundmandate“) erringen. Mit einem solchen Erfolg kann die grundsätzlich bestehende 5%-Sperre außer Kraft gesetzt werden und die Partei erhält dann über die drei Grundmandate hinaus den ihrem unter 5 % liegenden Prozentanteil entsprechenden Anteil an den Sitzen im Bundestag, wobei sie dann eventuell nicht die für die Konstituierung als Fraktion vorgeschriebene Stärke erreicht. Sie verfügt dann nur, wie die PDS 1994 mit 4,4 % der Stimmen und damit der entsprechenden Anzahl der Sitze im 14. Deutschen Bundestag, über einen mit wesentlich geringeren Rechten ausgestatteten „Gruppenstatus“. Diese Grundmandats-Regelung war in den frühen Jahren der Bundesrepublik von der durch die CDU/CSU geführten Parlamentsmehrheit geschaffen worden, um für einen kleinen Koalitionspartner, der die 5%-Hürde nicht mehr schaffen würde, eine verlängerte Überlebenschance zu ermöglichen. Man konnte ja nie wissen, ob man nicht eine Kleinstpartei zum eigenen Machterhalt gegen die die Regierungsfestung berennenden Sozis gebrauchen würde! Diese Klausel war nach dem endgültigen Verschwinden dieser Kleinstpartei dann nicht abgeschafft worden. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 versuchte ein Ostableger der CSU vergeblich zu erreichen, dass die CDU ihr vier – mit bei der letzten Wahl mindestens 5 % Abstand vor der nächst größeren Partei - als »sicher« geltende Wahlkreise überlasse, um so in den Bundestag einziehen zu können. Auf diese durch das Wahlrecht eröffnete Chance konzentrierte sich ab 1994 die PDS wegen des trotz der vorangegangenen Erfolge bei den ostdeutschen Landtagswahlen befürchteten – weil nunmehr bundesweit zu berechnenden - Unterschreitens der 5-%-Hürde. Durch Vergabe von Direktkandidaturen auch an unabhängige Prominente wie den nicht dieser Partei angehörenden und trotz einer gewissen Distanz zu dem SED-Regime immer noch »linksaußen« angesiedelten Schriftsteller Stefan Heym und an andere PDS-Sympathisanten in früheren SED-Hochburgen wie Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg, Berlin-Mahrzahn53 und anderswo sollten die 53

Im 12. Bundestag eines von zweien (neben dem nach der Wiedervereinigung als Hommage an den aus Halle stammenden Bundesaußenminister Genscher durch einen FDP-Kandidaten in Halle/Stadt) nicht durch CDU/CSU oder SPD errungenen, sondern durch den damaligen PDS-Vorsitzenden Gysi in dem ehemals vorrangig für

734

notwendigen Direktmandate errungen werden. Diese Strategie verlief 1994 erfolgreich, denn trotz Scheiterns an der 5%-Hürde kam die PDS in den 13. Deutschen Bundestag, weil sie in Ost-Berlin vier Direktmandate hatte erringen können. Überraschenderweise gewannen in Ost-Berlin außer dem »Ossi« Stefan Heym auch der aus West-Berlin stammende Landesvorsitzende der Gewerkschaft HBV Müller, als ebenfalls Nicht-Parteimitglied auf der PDS-Liste kandidierend, eines der vier Direktmandate. Beide Nicht-Parteimitglieder hätten diesen Erfolg wohl nicht geschafft, wenn sie als wirklich unabhängige Wahlkreiskandidaten ohne Parteianbindung kandidiert hätten. Nun kandidierten sie für die PDS und die Parteibindung ihrer Wähler verhalf ihnen zu dem Direktmandat. Dadurch verhalfen ihrerseits sie der PDS zum Einzug in den Bundestag. Es ist nicht erstaunlich, dass am Tag nach der Wahl 1994 in der Presse angeregt wurde, den bis dahin so eingeschätzten Anachronismus, durch die Erringung von drei Direktmandaten die 5-%-Hürde überspringen zu können, abzuschaffen. Aber was gäbe das für ein Geschrei, wenn das jetzt versucht würde! Das hätte vorher gemacht werden müssen, als es lange Zeit nicht mehr aktuell gewesen war. Doch da beließ die CDU/CSU/FDP-Koalition diese Möglichkeit im Wahlgesetz, vermutlich um eventuell durch Abtreten sicherer Wahlkreise an den kleinsten Koalitionspartner dessen Überleben erforderlichenfalls ermöglichen zu können. 1998 errang die PDS dann in Ost-Berlin nicht nur die für einen Wiedereinzug erforderliche Anzahl von Direktmandaten, sondern überwand auch bundesweit gerechnet die von ihr gefürchtete 5-%-Hürde – an der außer ihr die Grünen und die FDP bei einer der nächsten Bundestagswahlen scheitern könnten! Die PDS ist seit diesem mehr als 5-prozentigen Wahlerfolg das erste Mal mit Fraktionsstatus im Bundestag vertreten, und nicht nur als „Gruppe“ mit minderen parlamentarischen Rechten und geringeren finanziellen Zuwendungen. Es war wiederholt behauptet worden, dass diese Hürde für eine Bundestagswahl mit 5 % zu hoch liege und Parteineubildungen dadurch unzulässig erschwert würden. In etwa 500 seit dem Bestehen der Bundesrepublik an dieser Hürde gescheiterte Klein- und Kleinstgruppierungen schienen diese These zu bestätigen. Aber die Grünen hatten dann in ihrem verdienstvollen Bemühen, die Umwelt durchgreifender und schneller retten zu wollen, als die etablierten Parteien überhaupt bereit waren, die unsere Umwelt zerstörenden Probleme erst einmal mehrheitlich zur Kenntnis zu nehmen, die Unrichtigkeit dieser Wahlrechtskritik gleich durch ihren Einzug in Landesparlamente und den Bundestag unter Beweis gestellt. Das Scheitern der westdeutschen Grünen bei der Bundestagswahl 1990 legte aber wieder eine widerlegliche Vermutung für die Richtigkeit dieser Annahme nahe. 1994 wären dann die ostdeutschen Grünen, ihr Ergebnis rein interessehalber allein gerechnet, an dieser Hürde gescheitert und wurden von dem Erfolg ihrer westdeutschen Parteifreunde mit in den Bundestag gezogen. Desgleichen stehen viele FDP-Landesverbände und bei den Bundestagswahlen dann auch deren Bundesorganisation unter diesem ständigen Damoklesschwert für kleine Parteien. Auf der anderen Seite droht dem deutschen Parlamentarismus ein gravierender Gesichtsverlust im Ausland, wenn »Rechtsaußen«-Parteien in den Bundestag einziehen würden. (Eine solche außenpolitische Katastrophe hatte schon einmal gedroht, als die NPD in elf Landtagen vertreten gewesen und nur äußerst knapp, wie später auch die Republikaner, durch die 5-%-Sperrklausel am Einzug ins Bundesparlament gehindert worden war.) Nach den Berliner Kommunalwahlen von 1992 mit ihrem auf Grund der unbefriedigenden wirtschaftlichen Situation als Quittung für die Alt-Bundesparteien gedachten niederschmetternden Ergebnis im Ostteil der Stadt lästerten Kabarettisten, die CDU wäre für die Abschaffung der Sperrklausel, damit sie nach der nächsten Wahl noch in den Ost-Berliner Bezirksparlamenten vertreten sein könnte. Das ist natürlich satirisch überzogener Spott, deutet aber ironisch die Janusköpfigkeit jeder Entscheidung über die politisch gewollte Höhe einer Sperrklausel an. Wenn Sperrklausel, dann auch effektiv. Dass eine 1-%-Sperrklausel zu niedrig angesetzt ist, zeigt das Beispiel Israels, wo 1984 von allen Seiten um die Unterstützung durch den später in New York ermordeten offen rassistischen, rechtsradikalen Rabbi Kahane - er war auf das Niveau der islamischen Fundamentalisten gesunken, hatte alle Araber als "Hunde" bezeichnet und die Araberfrage durch die Vertreibung aller Araber aus den israelischen und den israelisch besetzten Gebieten gefordert - gebuhlt werden musste, der nur auf Grund der zu niedrig angesetzten Hürde in die Knesseth hatte einziehen können. Er konnte dann wegen der spezifischen labilen Mehrheitssituation das Zünglein an der Waage spielen und mit seinen überzogenen Forderungen jede sinnvolle Regierungsbildung zu verhindern suchen. Daraufhin erhöhten die Israelis die Sperrklausel für die Wahl zur Knesseth (erst einmal) auf 1,5 %. Regierungsangestellte und verdiente Arbeiter des Volkes und damit überwiegend systemtreue SED-Mitglieder hochgezogenen Neubaugebiet erkämpftes PDS-Direktmandat. Die PDS profitiert so ab 1994 in vier Ost-Berliner Wahlbezirken u.a. von durch Bekenntnis zur kommunistischen Ideologie bedingten Besiedlungsfakten, die sie als SED selbst geschaffen hat, indem sie ihren bürokratischen Wasserkopf auf einigen Neubaugebieten bevorzugt und konzentriert angesiedelt hatte.

735

Manche Länder, wie z.B. Österreich und Italien, haben »nur« eine 4-%-Sperrklausel eingeführt. Es gibt kein logisch zwingendes Kriterium für die Festsetzung einer bestimmten Prozentzahl als für den Einzug in ein Parlament zu überwindende Hürde. Kleinere Gruppierungen in der Bundesrepublik forderten eine Herabsetzung der Sperrklausel von 5 % auf 3 %; dann wären früher u.a. auf jeden Fall die NPD und danach die Republikaner in den Bundestag eingezogen. Doch das BVerfG hatte keine Bedenken gegenüber der Rechtmäßigkeit einer 5-%-Klausel für Bundestagswahlen. Zwischen 0 % und 5 % entscheidet nicht das rechtliche Dürfen, sondern ausschließlich das politische Wollen. Diesen Ermessensspielraum der hierfür zuständigen Legislative, des Deutschen Bundestages, achtet das oberste Organ der Judikative, das BVerfG. Erst bei einer größeren Hürde als 5 % würde es vermutlich ein Verdikt aussprechen, weil es dann die Chancengleichheit der Parteien als nicht mehr ausreichend gewahrt beurteilen würde. Etwas anderes sind Kommunalwahlen. Für solche Wahlen haben in der Bundesrepublik Landesverfassungsgerichte bestehende 5-%-Klauseln als rechtswidrig und daher abzuschaffen ausgeurteilt, um kommunalen Wählervereinigungen eine größere Chance zur Gestaltung der örtlichen Verhältnisse einzuräumen. Ein nach den vorstehend erklärten Wahlprinzipien zustande gekommener Bundestag - und nicht wir als das Wahlvolk, wie manche auf Grund der vereinfachenden Wahlpropaganda glauben - wählt dann mit der Mehrheit seiner gesetzlichen – und nicht nur der gerade anwesenden - Mitglieder den Bundeskanzler als Chef der Bundesexekutive. Auf seinen Vorschlag hin werden die vorgesehenen Minister vom Bundespräsidenten als Chefs ihrer jeweiligen Ressorts ernannt. Die Regelung, dass die Mehrheit der jeweils gesetzlichen Mitglieder des Bundestages für die Wahl eines Bundeskanzlers erforderlich ist, ist wieder ein Ausfluss der historischen Erfahrung mit den Praktiken unserer ersten Diktatur: Da hatten die Nazis – wie bei der Beschreibung über das Zustandekommen des Ermächtigungsgesetzes erläutert – durch die Freiheitsberaubung von Abgeordneten für eine ihnen genehme Mehrheit der anwesenden Abgeordneten gesorgt und so das Ermächtigungsgesetze beschließen lassen. Wäre hierfür eine Mehrheit der jeweils gesetzlichen Mitglieder des Reichstages vorgesehen gewesen, hätten die Nazis das Ermächtigungsgesetz nicht durchbringen können. Solch einen gravierenden rechtlichen Unterschied macht ein einziges kleines Adjektiv aus: Der Reichstag wählt mit der Mehrheit seiner „anwesenden“ oder „gesetzlichen“ Mitglieder ... .

7.10 Konstruktives Misstrauensvotum a) In der Weimarer Republik konnte der Reichskanzler oder ein einzelner Minister - wie in manchen anderen Staaten auch - dadurch zum Rücktritt gezwungen werden, dass das Parlament mit einfacher Mehrheit ein Misstrauensvotum gegen ihn durchbrachte, ohne wie jetzt im Falle des Kanzlers konstruktiverweise gleich einen Nachfolger präsentieren zu müssen. Das war einer der vielen juristischen Geburtsfehler der Weimarer Verfassung, denn das führte zu instabilen Regierungsverhältnissen: Die Extremisten von rechts und von links waren sich in der Ablehnung der Demokratie einig und stimmten in dieser Frage oft in gleicher Weise ab; nur auf einen Nachfolger konnten sie sich dann natürlich nicht mehr einigen. b) Nach der Neuregelung in "Art. 67 GG (1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. (2) Zwischen dem Antrage und der Wahl müssen 48 Stunden liegen." ist im Gegensatz zu der entsprechenden Regelung in der Weimarer Verfassung die Abwahl eines Bundeskanzlers nur durch ein positiv verlaufendes "konstruktives Misstrauensvotum" möglich. Ein Kanzler kann danach nur dann seines Amtes enthoben werden, wenn es der Opposition gelingt, gemäß Art. 67 oder 68 GG "mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages" einen neuen Kandidaten zum Kanzler zu wählen. Mit der etwas schwammigen Umschreibung "mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages" ist nicht die Mehrheit der gerade mehr oder minder zufällig anwesenden Parlamentarier gemeint. Art. 121 GG definiert in einer "Legaldefinition" - eine nicht erst durch Urteile, sondern schon durch das Gesetz selbst vorgenommene

736

Definition - diese Umschreibung wegen ihrer Unklarheit extra in diesem gesonderten Artikel als "Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl" (wobei § 1 Bundeswahlgesetz "vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen" diese Anzahl grundsätzlich genau vorgibt), ohne in diesem Artikel anzugeben, ob dazu auch die Überhangmandate gehören; das ist aber der Fall, da sie ja auch auf Grund des Wahlgesetzes zustande gekommen sind. Allerdings fragt man sich, warum in einigen Artikeln des Grundgesetzes ein schwammiger und darum definitionsbedürftiger Begriff verwendet wird, wenn man das Problem schon bei der Textabfassung erkannt und deswegen gleich den Art. 121 GG zur Klarstellung in den Text des Grundgesetzes mit aufgenommen hat. Es wäre sinnvoller gewesen, an den entsprechenden Stellen gleich von der "Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder" zu sprechen und so die erst wieder wegzudefinierenden Schwierigkeiten von vornherein zu vermeiden! Die Nummerierung des Artikels ohne ein kleines "a" als Zusatz signalisiert dem kundigen Leser, dass der Artikel 121 (vermutlich) von Anfang an zum Bestand des Grundgesetztextes gehörte und nicht später wegen sich nachträglich herausgestellten Bedarfs eingefügt worden ist. Eine solche Annahme ist aber immer nur ein "Prime-facies-Beweis" ("Beweis des ersten Anscheins"), denn bei Gesetzestexten passiert es auch, dass irgendwann einmal Artikel oder Paragraphen gestrichen und andere später eingefügt werden, die dann die durch Streichungen freigewordenen Paragraphennummern erhalten können. Um sicher zu gehen, kontrolliert man eine solche Frage dadurch, dass man z.B. im Fall des Grundgesetzes in der Aufstellung der "Änderungen des Grundgesetzes" nachschaut, ob ein bestimmter Artikel geändert oder eingefügt worden ist. Durch das konstruktive Misstrauensvotum wird die Stellung des Bundeskanzlers gestärkt und eine große Stabilität der im Amt befindlichen Regierung erreicht. Sie wird noch dadurch verstärkt, dass einzelne Minister nicht mehr von einer Parlamentsmehrheit gegen den Willen des Kanzlers aus einer Regierungsmannschaft »herausgeschossen« werden können. Zuvor müsste erst der Kanzler, hinter dessen wirklich breitem Rücken sie in Deckung gehen können, durch ein positiv verlaufenes konstruktives Misstrauensvotum gestürzt worden sein. Wegen dieser nach den Erfahrungen der Weimarer Republik bewusst so stark ausgestalteten Stellung des Bundeskanzlers spricht man bei uns nun mit Fug und Recht von einer "Kanzler-Demokratie". 1972 war ein Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt (SPD) gescheitert – weil das MfS dem CDUAbgeordneten Steiner DM 50.000,- dafür gezahlt hatte, dass er für den SPD-Kanzler Brandt und gegen den CDU-Kanzlerkandidaten seiner eigenen Partei, Barzel, stimmte -, 1982 dagegen gegen Bundeskanzler Schmidt (SPD) erfolgreich, und so wurde Kohl (CDU) durch den Schwenk der abtrünnigen FDP innerhalb der laufenden Legislaturperiode ohne Bundestagsneuwahlen zum ersten Mal zum Bundeskanzler gewählt. Das war auch das erste und bisher einzige Mal, dass ein Bundeskanzlers nicht direkt durch eine Bundestagswahl in sein Amt gekommen ist.

7.11 Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung a) Der Reichspräsident wurde vom ganzen deutschen Volk für 7 Jahre gewählt. Wiederwahl war beliebig oft zulässig. Der Reichspräsident war u.a. Oberbefehlshaber über die Reichswehr, hatte das Recht zur Auflösung des Reichstages und ein ausgiebigst genutztes Notverordnungsrecht, ernannte den Reichskanzler und konnte ihn jederzeit entlassen. Er war ein „Ersatzmonarch“. Nach dem Tode Hindenburgs war das Amt des Reichspräsidenten nicht mehr besetzt worden. Hitler hatte sich ganz schnell entgegen den Bestimmungen der Weimarer Verfassung in einer Volksabstimmung mit 90 % JaStimmen als "Führer und Reichskanzler" zum Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches deklarieren lassen, damit ihn kein Reichspräsident mehr in seiner Machtfülle beschneiden könne. Wahl des Bundespräs identen durch die Bundesvers ammlung

b) Weil man nach den Erfahrungen der NS-Zeit wegen des psychologisch vielleicht sogar berechtigten Grundmisstrauens gegen demagogische Verführungen der leider zu oft »dumpfen Volksmasse«, dem auch Mehrheiten anderer Völker in ihrer Geschichte erlegen waren – der Historiker kennt Beispiele zuhauf – die Wahl des Staatspräsidenten durch das (demokratisch unerfahrene) deutsche Volk verhindern wollte, schuf man bei der Gründung der Bundesrepublik ein völlig neues Gremium in der deutschen Verfassungsgeschichte: die fast ausschließlich aus Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Länderparlamente bestehende Bundesversammlung - als wenn nicht auch ein zu großer Teil der Abgeordneten des Deutschen Reichstages verführbar gewesen wäre. Die einzige Aufgabe dieses zur Hälfte aus den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und zur anderen Hälfte aus von den Ländern als Repräsentanten zur Wahl des Bundespräsidenten entsandten Vertretern bestehenden

737

Verfassungsorgans ist gemäß Art. 54 GG die Wahl des hauptsächlich auf die Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben und die Funktion als "Notar des Staates" beschränkten Bundespräsidenten mit fünfjähriger Amtsdauer, die nur einmal verlängert werden darf. (Als Änderung ist zwischenzeitlich ins Gespräch gekommen: Nur eine Amtsperiode von 7 Jahren ohne Wiederwahlmöglichkeit.) Die Parteien hatten am Ende der durch Wiederwahl ausgeschöpften Amtszeit unseres ersten Bundespräsidenten die Verfassung ändern wollen, um eine zweite Wiederwahl des allseits hoch angesehenen "Papa Heuss" zu ermöglichen. Aber Prof. Heuss hatte aus Respekt vor der von ihm mit geschaffenen Verfassung eine Änderung des Grundgesetzes zu seinen Gunsten abgelehnt. Die Verfassung sei wichtiger als die momentane Verlegenheit der Parteien, die zunächst keinen Nachfolgekandidaten zu benennen gewusst hatten. Nach fast einem halben Jahrhundert Demokratie in Deutschland begann anlässlich der Wahl eines Nachfolgers für den aus dem Amt scheidenden Bundespräsidenten Rau, für dessen Amtsnachfolge mit den Professoren Horst Köhler und Gesine Schwan zwei „Quereinsteiger“ als Bewerber kandidierten, die nicht gestandene Parteipolitiker waren, sondern (auch) außerhalb ihrer Parteizugehörigkeiten Karriere gemacht hatten, zaghaft eine politische Diskussion, ob es nicht vielleicht nach einem 50-jährigen demokratischen Reifungsprozess allmählich an der Zeit sei, dass das deutsche Volk (als jedenfalls theoretisch oberster Souverän des Staates) sein Staatsoberhaupt direkt selbst wählen solle. Als politisch bewusster Mensch, der zu sein ich für mich als Politiklehrer in Anspruch nehme, bedauere ich, dass ich diese Einflussmöglichkeit nicht habe. Wenn ich mir allerdings in Erinnerung rufe, welche teilweise äußerst peinliche Reihenfolge sich bei der zu einem Medienereignis hochgepuschten Wahl „Wer ist [über Jahrhunderte betrachtet; der Verf.] der bedeutendste Deutsche?“ durch das Plebiszit ergeben hatte, dann fällt es mir leichter, mich mit der Weisheit des Parlamentarischen Rates als Verfassungsgeber zu arrangieren, dass der Bundespräsident von der Bundesversammlung zu wählen sei.

7.12 »Notstandsverfassung« statt Notverordnungen

"Notsta ndsverf assung" statt Notver ordnun gen

a) Der Reichspräsident konnte durch Notverordnung alle ihm zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geeignet erscheinenden Maßnahmen ergreifen, die bis zur Außerkraftsetzung der Grundrechte reichten. Darum spricht man im Nachhinein von der "Präsidialdiktatur" der Weimarer Republik. Mit seinen Notverordnungen ermöglichte der Reichspräsident den Nationalsozialisten das scheinlegale Hinübergleiten in die braune Diktatur. Hitler gelangte "über die Brücke der Legalität" zu seinem Ziel der NS-Diktatur. b) Um einerseits solche Missbrauchsmöglichkeiten auszuschalten, andererseits aber für einen Notfall Vorsorge zu treffen, waren 1968 Bestimmungen über eine so genannte "Notstandsverfassung" in das Grundgesetz aufgenommen worden. Diese Bestimmungen sollen auch in Staatsnotfällen demokratische Kontrollmechanismen ermöglichen. Als Ausgleich für die durch die »Notstandsverfassung« für den Fall eines Notstandes angeordneten Einschränkungen der Freiheit war 1968 gleichzeitig das Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG als "eine verlegene Zugabe für den verschärft in die Pflicht genommenen Bürger" in die Verfassung aufgenommen worden.

7.13 Föderaler Bundesstaat statt eines zentralistischen Einheitsstaates a) Die Nationalsozialisten hatten die Länder des Deutschen Reiches zuerst gleich- und dann ausgeschaltet. Die Länder waren ihrer eigenen Verwaltungshoheit beraubt worden und in einem streng zentralistisch aufgebauten "Führerstaat" untergegangen. Ein »Knopfdruck« in Berlin genügte, um das ganze Reich strammstehen zu lassen. So waren z.B. für den 9. November54 1938 die Ausschreitungen gegen deutsche Mitbürger jüdischen Glaubens 54

Der 8./9. November scheint ein Schicksalstag in der deutschen Geschichte zu sein, denn an diesen Tagen ereigneten sich 1884: die Vertagung der preußischen Nationalversammlung zur Einschüchterung auch des Frankfurter Parlaments 1918: in Berlin die „Novemberrevolution“, die zur Abschaffung der Monarchie und zur Ausrufung der Republik führte 1923: der »Hitler-Putsch« in München, durch den die Regierungen in Reich und Ländern abgesetzt werden sollten 1938: die »Reichspogromnacht« oder »Parteipogromnacht«

738

in der "Reichspogrom-/Reichskristallnacht" - in der nicht nur 177 Synagogen gebrannt hatten und mehr als 7.500 jüdische Geschäfte zerstört, sondern auch mindestens 90 Deutsche jüdischen Glaubens umgebracht worden waren - zentral befohlen und dann überall durchgeführt worden. „‘Wer das getan hat, ist zu allem fähig‘ Von Ralph Giordano ... Dies war geschehen: Ein Bekenntnis vor aller Welt zu Mord und Totschlag an Juden über den Buchstaben der erlassenen Rassegesetze hinaus und die Prüfung, wie hoch oder wie niedrig die Schamschwelle des eignen Volkes lag. In jener Nacht [09./10.11.38; d. Verf.] wurden in Großdeutschland 91 Juden ermordet, erschossen, erstochen, mit Knüppeln erschlagen oder in Flüssen ertränkt; Tausende getreten, aus Fenstern geworfen, Treppen hinuntergestürzt, vergewaltigt und ihres Eigentums, ihres Augenlichts, ihrer Würde beraubt. Hunderte von Gotteshäusern wurden in Schutt und Asche gelegt, 30.000 männliche Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt ... . Egal, ob hochdekorierte Offiziere des Ersten Weltkrieges, getaufte Christen ... . Tatsächlich war der Pogrom von oben befohlen worden, von Hitler, Himmler, Goebbels und Heydrich. Von ganz oben kamen die Befehle und die Parolen. Der Zug der Zerstörung lief auf den Gleisen sofort mobilisierbarer Verbände von Partei, SA und SS. ... Die rasch in die verniedlichende Formel ‘Reichskristallnacht‘ gefaßte Ungeheuerlichkeit hatte die ganze Nation zu Mitwissern gemacht, daß sie von einer Verbrecherbande regiert wurde. Angesichts der offensichtlich beabsichtigten Unverbergbarkeit des Pogroms vor der übrigen Welt, konnte das Kalkül der Reichsführung nur darauf hinauslaufen, dem eigenen Volk die Rolle eines mitwissenden Komplizen zuzuweisen, gespannt, wie es darauf reagieren würde. Denn nach dieser Nacht konnte niemand in Deutschland mehr sagen, er habe von nichts gewußt. Während bis dahin das Staatsverbrechen hinter den Toren der Konzentrationslager sozusagen intern gewütet hatte, war nun der Terror extern geworden, hatte er die offene Bühne betreten und unter freiem Himmel gewütet. Zu laut hatten die zerschlagenen Scheiben geklirrt, zu heftig die Flammenstöße gebrüllt, zu sehr die Schreie der Mißhandelten und Sterbenden in die Nachbarschaft gegellt. ... Alle haben davon gewußt. ... Die Reichspogromnacht - das war die Vorhölle der Hölle Holocaust. ... Wer heute Menschen ‘abfackelt‘, weil sie keine Deutschen sind, wer nach Auschwitz Brände an Synagogen legt, wer ‘national befreite Zonen‘ markiert, und damit meint ‘Für Juden und Ausländer Zutritt verboten‘, wer all das und mehr in unserer Gegenwart tut, der, Landsleute, wäre auch morgen wieder zu allem fähig.“ (HH A 07./08.11.98) Die ehemalige Präsidentin des BVerfGs, Jutta Limbach, stellte - wohl mit Blick auf die u.a. von Giordano angeprangerte Lethargie der deutschen Bevölkerung - die These auf: „Die Weimarer Republik ist nicht am radikalen Gebrauch der Meinungsfreiheit gescheitert, sondern am unbegreiflichen Gleichmut der Bevölkerungsmehrheit gegenüber offenen Unrechtsakten zu Lasten von Minderheiten“ – vergaß dabei aber leider, selbstkritisch die Einschüchterung der Bevölkerung durch Unrecht sprechende Richter zu erwähnen, die diesen nicht ihr aber mir begreiflichen Zustand „unbegreiflichen Gleichmuts“ mit hervorgerufen haben, weil die Richter den zum Engagement gegen die „offenen Unrechtsakte“ bereiten Bürgern jeglichen Schutz versagten, sie im Gegenteil unverhältnismäßig hart abstraften! b) Die "Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 III GG mit dem Verbot einer Grundgesetzänderung bezüglich - Artikel 1 (Menschenwürde, Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt) - Artikel 20 ("Verfassung in Kurzform", Widerstandsrecht) - Gliederung des Bundes in Länder und der - grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung

1939: das leider erfolglose Attentat des von seinem Gewissen getriebenen Einzelgängers Georg Elser auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller, wofür er als „Sondergefangner Hitlers“ in Gestapo-Haft verwahrt und am 09.04.45 zusammen mit den anderen Regimegegnern von Dohnanyi und Bonhoeffer einen Monat vor dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes hingerichtet wurde 1967: Studentenunruhen 1989: Fall der „Berliner Mauer“

739

Föderale r Bundess taat statt zentralis tischen Einheits staates

schützt darum jetzt u.a. die föderalistische Struktur unseres Bundesstaates, um die in einem Zentralstaat übliche Machtkonzentration zu begrenzen und einen bürgernahen Staatsaufbau zu gewährleisten. Das war 1945 die Vorgabe der Siegermächte, damit – insbesondere auf Drängen des weiterhin zentralistisch organisierten Zentralstaates Frankreich – vom rechtsrheinischen Nachbarn in Zukunft keine Gefahr mehr ausgehe. Ein föderaler Aufbau der Bundesrepublik wurde als Garant für staatliche Schwäche gesehen und vorgegeben. Die Bundesländer haben eigene Staatsqualität und schließen untereinander und mit dem Bund im Bedarfsfalle Staatsverträge zur Regelung gemeinsamer Belange. Oder sie verweigern den Abschluss einheitlicher Regelungen, wie z.B. Bayern bei der Neuformulierung eines bundeseinheitlich geplanten Altenpflegerausbildungsgesetzes, das alle anderen Bundesländer gemeinsam wollten, Bayern aber mit Hinweis auf die eigene Kulturverwaltungshoheit jedes Landes ablehnte, um eine eigene landesgesetzliche Regelung zu schaffen. Länderangelegenheiten werden von den Ländern in eigener Verantwortung wahrgenommen – und bundesstaatliche Belange werden zunehmend nach parteipolitischen Nützlichkeitserwägungen durch die Länder im Bundesrat blockiert. Für die Organisation staatlicher Gewalt in Deutschland stellt Art. 30 GG "Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt." den Grundsatz auf, dass die Erfüllung der staatlichen Aufgaben und die Ausübung der staatlichen Befugnisse zunächst einmal und im Zweifelsfall in die Länderkompetenz fallen. Art. 70 I GG "Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht." bestimmt Gleiches für die Gesetzgebungskompetenz. Der Bund ist nur dann zuständig, wenn seine Zuständigkeit im Grundgesetz extra angeordnet oder sie ihm von den Ländern übertragen worden ist. Das Grundgesetz stärkt die Eigenstaatlichkeit der Länder, den Föderalismus, über diese generellen Zuweisungen hinaus dadurch, dass es u.a. gemäß Art. 79 II GG das volle Mitbestimmungsrecht (und nicht bloß Mitwirkungsrecht) des Bundesrates als "Länderkammer" bei verfassungsändernden und föderativen Gesetzen, die Mitwirkung der Länder (nicht unbedingt der Landesregierungen) bei der Wahl des Bundespräsidenten gemäß Art. 54 III GG, die Einschaltung des Bundesrates bei einem Gesetzgebungsnotstand gemäß Art. 81 II GG und die notwendige Zustimmung des Bundesrates bei einem Bundeszwang gegen ein renitentes Bundesland gemäß Art. 37 I GG anordnet. Doch die so stark anmutende Position der Länder in unserem Staatsaufbau ist Verfassungstheorie. Der Alltag der Verfassungswirklichkeit sieht dagegen so aus, dass der Bund auf Grund seiner größeren Finanzmasse immer mehr Aufgaben an sich gezogen oder übertragen bekommen hat. Von der politischen Realität her fällt der größte und auch der bedeutendste Teil staatlichen Handelns in die Kompetenz des Bundes, für den die Länder dann die Durchführung dieser Aufgaben übernehmen. Durch die grundgesetzliche Stärkung des Föderalismus sollte ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu der Zentralgewalt des Bundes geschaffen werden – was 1949 durchaus berechtigt gewesen sein mag, 50 Jahre später aber nach der immer weiter fortschreitenden politischen Vereinigung Europas der Logik eines europäischen Staatenbündnisses widerspricht. Wegen der Eigenstaatlichkeit der Länder insbesondere im Polizei- und Justizwesen könnte nicht mehr von der Hauptstadt aus ein Vorgehen gegen eine konfessionelle Minderheit befohlen werden, wie es in der "Reichspogromnacht" praktiziert worden war. Nach 50 Jahren Geltung des Grundgesetzes sieht man in einer in Richtung Europäisierung und Globalisierung veränderten Welt, dass diese den Föderalismus überbetonenden Bestimmungen inzwischen zu einem Hemmschuh der gesamtstaatlichen Entwicklung geworden sind. Unsere Verfassung lässt politische Blockaden zu, von denen andere Länder frei sind. Es geht z.B. nicht mehr an, dass in Opposition zur jeweiligen Bundesregierung stehende Länder, nur weil das Grundgesetz den Ländern 1949 Kompetenzen zuerkannte, die aber schon lange nicht mehr zeitgemäß sind, aus parteipolitischem Ränkespiel heraus in veruntreuender Verantwortungslosigkeit im Bundesrat Gesetzesvorhaben blockieren können, die durchzuführen der jeweiligen Bundesregierung durch EU-Richtlinien zwingend aufgegeben sind. Und was sich aus EU-Notwendigkeiten ergibt, kann auch aus gesamtstaatlichem Interesse geboten sein – und aus partikularem oder Parteiinteresse von Bundesländern verhindert werden. Als Beispiel sei die Zuwanderungsproblematik in unserer vergreisenden Gesellschaft angesprochen: Alle Industrieländer befinden

740

sich in einem Wettbewerb um Zuwanderer. Deutschland braucht nach für alle bedeutenden Industrieländer der Welt von Anfang des Jahres 2000 aus der Abteilung für Bevölkerungsfragen aufgestellten UNO-Berechnungen pro Jahr einen Einwanderungsüberschuss von mindestens 458.000 Menschen, um die Zahl der Erwerbstätigen langfristig auf dem Niveau von 1995 halten und so seine uns alle absichernden Sozialsysteme überhaupt irgendwie aufrecht erhalten zu können, da es in der Bundesrepublik - wie in den anderen untersuchten Industriestaaten - zu wenige im Arbeitsprozess Stehende geben wird, die zu viele Rentner versorgen müssen! Das wäre bis 2050 ein als erforderlich angesehener Einwanderungsüberschuss von insgesamt 30 Mill. Immigranten. Neueste Berechnungen – mit den ihnen anhaftenden Unsicherheitsfaktoren - lauten: Wenn vom Jahre 2000 an bis zum Jahre 2050 pro Jahr nur 200.000 Ausländer mehr in die Bundesrepublik neu zuziehen würden, als Deutsche aus- und Ausländer wieder abwandern, nähme die Bevölkerung in diesem Zeitraum trotzdem um 12 Mill. ab! Das wäre an sich nichts Schlimmes. Die Bundesrepublik ist ein Industrieland mit einer sehr hohen Bevölkerungsdichte, eine der höchsten in Europa. Man vergleiche z.B. Größe und Bevölkerung von Frankreich mit der der Bundesrepublik, deren Bevölkerungsdichte mit ca. 231 Einwohnern/km2 in etwa gleich groß ist wie die von Großbritannien (239 Einwohnern/km2), aber mehr als doppelt so groß wie die von Frankreich mit ca. 107 Einwohnern/km2. Da wären dann in der Bundesrepublik 12 Mill. Einwohner weniger mit ihrem geringeren Wasser- und Energiebedarf, ihren geringeren Schadstoffemissionen u.s.w. eine spürbare Entlastung für die Umwelt! Das Herz des Umweltpolitikers finge an zu jubeln – wenn es nicht zu alt würde. Denn die Sozialpolitiker sehen die Vergreisung der Bevölkerung in der Bundesrepublik im Verhältnis zu ganz Europa und allen anderen bedeutenden Industriestaaten, wie z.B. den USA, Kanada, Japan und Australien, die wie die Staaten Europas ebenfalls in die UNO-Berechnung der Bevölkerungsentwicklung mit aufgenommen worden waren. Alle kämpfen um das Potential gut ausgebildeter Immigranten zur Behebung ihrer eigenen Nöte. Aus solchen Berechnungen ergeben sich erschreckende Zahlen, die schon seit der Mitte der 60-er Jahre in ihrer Tendenz bekannt sind und die seit der Mitte der 80-er Jahre zu wirken beginnen – auch wenn die konservative Regierung der CDU sie bis zu ihrer Ablösung 1998 nicht hatte zur Kenntnis nehmen und nicht in aktive Politik hatte umsetzen wollen. „Eins ist sicher: Die Renten sind sicher“ und „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland!“, hieß es von rechts. Man wollte keinen weiteren Zuzug von Ausländern, und Bayerns jetziger Ministerpräsident Stoiber fürchtete als Innenminister seines Landes eine „Durchrassung der Gesellschaft“. Mit dieser Äußerung belegt er einen Spitzenplatz auf der nach unten offenen NiveaulosigkeitsSkala demokratischer Politiker! Das Problem ist aber noch viel drängender, als das Lesen der vorstehenden Zahlen ahnen lässt. Es hieß eben, dass nach UNO-Berechnungen ein jährlicher Einwanderungsüberschuss von 458.000 Migranten erforderlich ist, um die Zahl der Erwerbstätigen langfristig auf dem Niveau von 1995 halten. Doch selbst nur das Halten dieser Zahl würde unser drängendstes gesellschaftspolitisches Zukunftsproblem nicht lösen. Um ein Gefühl für die Dimension des die jetzt schon lebenden jungen und die zukünftigen, noch ungeborenen Deutschen bedrängenden Problems zu erhalten, muss man sich die Entwicklung der um 1900 noch sehr schön ausgewogenen und ohne jede Bevölkerungsdelle symmetrischen, dann aber auf Grund der Bevölkerungsverluste durch zwei von den Deutschen angezettelte Weltkriege schon bald äußerst kopflastigen Bevölkerungspyramide anschauen, sehen und nachvollziehen, wie der „Atompilz“ der Alterslastigkeit der Bevölkerung Jahr für Jahr nach oben wächst, während unten an der Basis nicht genügend nachkommt. Etwas unanschaulicher in Worten ausgedrückt, als es das Bild der sich beängstigend entwickelnden Bevölkerungspyramide anschaulich vor Augen führen würde, erwartet uns langfristig folgende Entwicklung: Die Gesamtzahl der mittleren Altersgruppe der Zwanzig- bis unter Sechzigjährigen und damit der im Erwerbsleben Stehenden nimmt um 16 Mill. ab. Die Zahl der Sechzigjährigen und Älteren nimmt aber nicht im gleichen Umfang ab! Sie steigt sogar noch um 9,9 Mill.! Die Zahl der Sechzigjährigen und Älteren wird bis 2050 von 17,9 Mill. auf 27,8 Mill. steigen, und die Notwendigkeit ihrer Versorgung wird wegen der Zunahme der Lebensdauer von im Mittelwert sechs bis acht Wochen pro Jahr noch weiter zunehmen. Die Zahl der Zwanzig- bis unter Sechzigjährigen dagegen wird von 46,5 Mill. auf 30,5 Mill. schrumpfen. Im Jahre 2000 waren also „nur“ 17,9 Mill. Versorgungsempfänger von Altersruhegeld von 46,5 Mill. sich im arbeitsfähigen Alter Befindenden – neben deren Ehefrauen und Kindern zu versorgen, wobei von der Gruppe der Zwanzig- bis unter Sechzigjährigen wegen der Massenarbeitslosigkeit ja auch nicht längst alle arbeiten und auch noch zusätzlich versorgt werden müssen. Im Jahr 2050 werden dann aber 27,8 Mill. zu Versorgende aus der Gruppe der Sechzigjährigen und Älteren von nur noch 30,5 Mill. Arbeitenden versorgt werden müssen! Die Relation zwischen den zu versorgenden Rentnern und den arbeitenden Versorgern verschlechtert sich somit von Jahr zu Jahr. Dieser so genannte „Altersquotient“ wird bis 2050 von 38,5 % auf 91,1 % ansteigen! Die zukünftig Arbeitenden können gar nicht so viel von ihrem Gehalt abgezogen bekommen, wie notwendig wäre, um diese Versorgungsleistung entsprechend dem dem Generationenvertrag zu Grunde liegenden Umlageverfahren zu schultern. Um allein die Renten sicher zu machen, benötigt Deutschland von 2003-2050 einen Zuzug von 181 Mill. qualifizierten Einwanderern (ARD 02.04.03 „Das Märchen von der sicheren Rente“). Darum hat die SPD-Grünen-Koalition endlich ab 2002 die

741

Reform der Alterssicherung durch eine zusätzliche eigenständige private Zwangs-Kapitalversicherung eingeführt – eine Reform, um die sich die CDU-geführten Regierungen der letzten 16 Jahre ihrer Regierungszeit immer gedrückt hatten, obwohl auch ihnen die Zahlen der bedrohlichen Bevölkerungsentwicklung bekannt waren. Das war der wohl wichtigste Punkt in dem vielschichtigen Reformstau der vorherigen Bundesregierungen. Vor dem, was unangenehm war, kniff man, weil es hätte Wählerstimmen kosten können, wenn die Abgabenlast weiter erhöht wird und nun jeder Arbeitende in einigen Jahren (zunächst nur?) weitere 4 % von seinem Bruttoarbeitslohn zum Aufbau einer privat finanzierten Altersversorgung abgeben muss. Aber anders als durch Zuwanderung und ein privat finanziertes Renten-Vorsorgemodell lässt sich die wichtigste Folge der ungünstigen Entwicklung unserer Alterspyramide nicht mildern! Der Bevölkerungswissenschaftler Prof. Herwig Brig, der viel Arbeitskraft darauf verwandte, sich den Mund fusselig zu reden, weil insbesondere die CDU-Parlamentarier seine Cassandra-Rufe nicht zur Kenntnis nehmen und möglichst ohne eine einschneidende Reform wie bislang weiterwursteln wollten, obwohl jedes Jahr des Zögerns den dann erforderlichen Einschnitt nur um so schmerzhafter machte, hat vorgerechnet, dass, wenn man den Grad der Versorgung von 1995 für die künftigen, jetzt noch im Arbeitsleben Stehenden ohne die erforderlichen notwendigen Reformen des Sozialsystems aufrecht erhalten wollte und ausschließlich auf Einwanderung setzte, um die negativen Folgen der Bevölkerungsentwicklung für dieses System aufzufangen, bis 2050 insgesamt netto 188(!) Mill. Imigranten in die Bundesrepublik zuziehen müssten, weil ja auch die jetzt einwandernden Ausländer bald im Rentenalter wären und dann auch Rentenversorgungsleistungen erhalten müssen, was nur durch weiter verstärkten Zuzug auflösbar wäre!55 Eine so hohe Zahl an Einwanderern zu gewinnen ist aber illusionär, selbst wenn wir so viele Ausländer hierher kommen lassen wollten, um den unvermeidlichen Anstieg des ungünstigen zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen der Gruppe der Sechzigjährigen und Älteren und der Gruppe der 15-64jährigen durch Einwanderung Jüngerer auszugleichen. Die Bevölkerung der BRD würde unter diesen Annahmen von 82 auf dann 299 Mill. anwachsen! Daher ist vermehrte Einwanderung aus dem Ausland nach den Worten des Demographen Birg angesichts der Dimension der Probleme keine Dauerlösung. Das Ziel kann nur eine durch Einwanderung abgefederte Schrumpfung der Bevölkerung unter größtmöglicher Vermeidung sozialer Grausamkeiten sein! Uns bleibt nichts anderes übrig, als dass wir uns mit schrumpfenden Altersbezügen abfinden müssen. Zuwanderung arbeitsfähiger Ausländer kann das Problem nur mildern. Aber das wäre auch schon eine sehr große Hilfe! Die UNO-Zahlen besagen weiterhin, dass aufgrund der ungünstigen Struktur der kopflastigen deutschen Bevölkerungspyramide mit sehr schmaler Basis ohne einen Zuwanderungsgewinn von 458.000 Ausländern jährlich(!) in der Bundesrepublik der Teil der arbeitenden Bevölkerung erst mit zunächst frühestens 73, dann vielleicht sogar erst 75 Jahren in Rente gehen könnte, wenn nicht unsere sozialen Sicherungssysteme zusammenbrechen sollen. Die vorstehenden Ausführungen sollten die Augen dafür öffnen, dass die - beispielhaft angeführte Zuwanderungsproblematik eine langfristig zu lösende gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die nicht vom sich im Bundes rat austobenden, kurzfristigen Parteizielen unterworfenen Föderalismus verhindert werden dürfte! Die durch unser föderatives System angelegten Reformblockaden führen zur Auszehrung unserer sozialen Kassen. Selbst die Verfassungsrichter beklagen die grundgesetzlich angelegte Steuerungs- und Reformunfähigkeit unserer im Falle gegensätzliche Machtverhältnisse in Bundestag und Bundesrat blockierten Republik, allen voran der Präsident unseres obersten Gerichtes, der Präsident des BVerfGs Papier. Die aktive Rolle der Bundesregierung müsste für gesamtgesellschaftliche Aufgaben gestärkt werden, weil jeder im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat mühsam erarbeitete Konsens eine aufwendig organisierte Verantwortungslosigkeit darstelle. Im Kuhhandel erreichter Konsens sei letztlich Nonsens! Deswegen wird von vielen Seiten die Forderung nach einem Verfassungskonvent erhoben, der die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern effektiver neu regeln sollte. Dieser föderalistische Grundkonflikt war schon bei Schaffung des Grundgesetzes absehbar, denn schon Konrad Adenauer hat als Präsident der das Grundgesetz beratenden und beschließenden Versammlung, des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee, 1948 gesagt: „Den Bundeskanzler möchte ich sehen, der gegen diesen Bundesrat regieren kann.“ Er musste es nicht.

7.14 Abschaffung der Todesstrafe 55

Daten und Material dazu u.a. in dem Artikel: Birg, Herwig: 188 Millionen Einwanderer zum Ausgleich? FAZ 12.04.2000 S. 15

742

a) Die Strafgesetze waren unter der Herrschaft der Nazis, wie wir schon wissen, immer weiter verschärft worden. Wegen Nichtigkeiten war die Todesstrafe verhängt und vollstreckt worden. Nicht einmal aus dem Schlafzimmer seiner Bürger, deren intimstem Bereich, hatten sich die Nazis herausgehalten. Zuletzt handelte es sich bei der Straf(un)rechtsprechung gegenüber politisch Unliebsamen - und darum bis in die Gaskammern oder bis auf das Schafott Verfolgten - oder gegenüber politisch unerwünschtem Verhalten (z.B. Abhören von "Feindsendern") nur noch um die Ausnutzung gerichtlicher Formen zur widerrechtlichen Tötung. b) Um diesen exzessiven Handlungen als mahnende Absage an geschehenes Unrecht einen Riegel vorzuschieben, bestimmt Abschaffun g der Todesstrafe

Art. 102 GG "Die Todesstrafe ist abgeschafft." Trotz dieser klaren bundesgesetzlichen Bestimmung hatte sich, wie schon ausgeführt, in einigen Landesverfassungen die Anordnung der Todesstrafe bis Ende 1996 (Bayerische Verfassung) erhalten. Wegen Art. 31 GG "Bundesrecht bricht Landesrecht.", war sie aber nie durchsetzbar gewesen.

7.15 Äußerst eingeschränktes Selbstauflösungsrecht des Bundestages a) Der Reichstag konnte sich selbst auflösen. Selbstauf lösungsr echt des Bundesta ges

b) Das Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages ist bisher stark - vielleicht sogar zu stark - beschnitten und kann zurzeit nur so in die Wege geleitet werden, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt. Erhält er keine Abstimmungsmehrheit, so kann er dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlagen. Der Bundespräsident ist an den Vorschlag des Bundeskanzlers aber nicht gebunden und kann einen eigenen Kandidaten vorschlagen, bevor eine Neuwahl beschlossen wird. Es ist schon die Vertrauensfrage gestellt worden, obwohl der Kanzler im Parlament die Mehrheit hatte. Dann musste getrickst werden, dass sich wenigstens ein Teil der Mehrheit der Stimme enthielt, damit dem Kanzler nicht von seiner eigenen Parlamentsmehrheit das Vertrauen ausgesprochen wurde. Nach dieser künstlich erzeugten Niederlage in der Parlamentsabstimmung über die gestellte Vertrauensfrage konnte der Kanzler dann die Auflösung des Bundestages beantragen. Um einerseits diese verfassungsumgehende Trickserei abzustellen und weil aber andererseits die Notwendigkeit eines Selbstauflösungsrechtes für das Parlament offensichtlich geworden ist, hatte sich die Gemeinsame Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates darauf geeinigt, dem Bundestag als Verfassungsänderung ein mit Zwei-Drittel-Mehrheit zu vollziehendes Selbstauflösungsrecht vorzuschlagen, bis die liberale Wochenzeitung "Die Zeit" in Wahrnehmung ihres publizistischen Wächteramtes vehement dagegen protestierte: Die starke Stellung des Kanzlers wäre dahin, ein Eckpfeiler des stabilen parlamentarischen Systems würde herausgebrochen und die großen Fraktionen könnten die kleinen »an die Wand drücken«. Obwohl die Kommission ihren gemeinsamen Vorschlag bereits präsentiert hatte, diskutierte sie daraufhin alles noch einmal. Jetzt kommt die Neuregelung aber wohl doch. Die neue Bestimmung soll lauten: "Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder kann der Bundestag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder beschließen, die Wahlperiode vorzeitig zu beenden. Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen." Die Neuwahlen haben dann innerhalb von 60 Tagen nach dem Beschluss stattzufinden.

743

7.16 Gerichtswesen a) Die Weimarer Verfassung hatte einen Staatsgerichtshof für einen Teil der jetzt dem BVerfG übertragenen Aufgaben gegründet. Es gab daneben natürlich die normale ordentliche Gerichtsbarkeit für Zivil- und Straf- und eine Gerichtsbarkeit für Arbeitsgerichtssachen. Außerdem war ein Reichsverwaltungsgericht in der Verfassung von 1919 vorgesehen, das aber erst 1941 von den Nazis eingerichtet wurde. Da hatte es dann der Exekutive gegenüber aber nichts mehr zu sagen. b) Die heutige Gerichtsbarkeit (Rechtsprechungsmonopol des Staates; zum Teil "unterstützt" durch nichtstaatliche Schieds- und Betriebsgerichte, gegen deren Entscheidung ordentliche Gerichte angerufen werden können) ist inzwischen wesentlich differenzierter als zur Zeit der Geltung der Weimarer Verfassung. Sie ist gemäß Art. 92 GG zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Es gibt neben dem Bundesverfassungsgericht und den Verfassungsgerichten der Länder eine Reihe selbständiger Gerichtswes Gerichtszweige, die grundsätzlich in drei Instanzen aufgebaut sind: Eine Unter-, eine Mittel- und eine en Oberinstanz, wobei bei der "ordentlichen" Gerichtsbarkeit in Zivilsachen je nach der Höhe des Streitwertes und bei der in Strafsachen je nach der Schwere des vorgeworfenen Delikts und damit der Straferwartung die Eingangsinstanz eine Stufe höher angesiedelt sein kann als für die Massensachen und Kleindelikte. Die Unterinstanz kann dann sogar entfallen. Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: In den Bereichen der anderen als der ordentlichen Gerichtsbarkeit geht es nicht unordentlicher zu. Dort werden nicht mehr Fehlurteile produziert als in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Bezeichnung als "ordentliche" Gerichtsbarkeit erklärt sich historisch daher, dass früher nur die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit mit über die volle richterliche Unabhängigkeit verfügenden Richtern (ordentlich) besetzt waren und nicht - wie z.B. die Verwaltungsgerichte - mit abhängigen Beamten. Die ordentliche Gerichtsbarkeit umfasst zunächst das, was nach einer früheren Ordnung zur Zeit der Ausbildung des Gerichtswesens vor den Gerichten anhängig gemacht werden konnte: Zivil- und Strafsachen. In Zivilsachen tritt neben die streitige die so genannte "Freiwillige Gerichtsbarkeit" in z.B. Vormundschafts-, Nachlass-, Grundbuch- und Registersachen wie z.B. die Führung eines Vereins- und Handelsregisters. In diesem Bereich gilt nicht der sonst das Zivilrecht prägende "Grundsatz der Parteiautonomie", der es den streitbefangenen Parteien überlässt, was sie in einem Prozess vorbringen. Das Gericht behandelt dann fast ausschließlich das jeweilige Parteivorbringen und muss nicht von sich aus den Sachverhalt erforschen. Anders im Bereich der Freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dort gilt der "Amtsermittlungsgrundsatz", demzufolge das Gericht den bei ihm anhängig gemachten Sachverhalt von Amts wegen auch auf eigene Initiative hin aufzuklären hat. Einen ungefähren Überblick über die wichtigsten Bereiche unseres Gerichtswesens und damit die sachliche Zuständigkeit eines Gerichts in einem Rechtsstreit soll die folgende Aufstellung vermitteln. Der Sitz des jeweiligen Bundesgerichts wurde nach der Wiedervereinigung auf Drängen der ostdeutschen Länder, die den Anspruch auf ausgewogene Berücksichtigung mit Bundesbehörden erhoben hatten, in einem gegenseitigen Geben und Nehmen von der Unabhängigen Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat 1992 festgelegt und am 21.11.97 in einem Gesetz über die obersten Bundesbehörden formell beschlossen.

VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT (Nach einer Aufstellung auf der Basis der Zahlen von 1991: 0,1 % aller Gerichtsverfahren Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (2 Senate in Karlsruhe; für die Vorprüfungen bezüglich Annahme oder Ablehnung des Prüfungsantrages aufgeteilt in 3 und 4 Kammern) 8 Berufsrichter (B), keine Schöffen (S) oder Laienrichter (L) (8 B /- L) pro Senat Zu der sachlichen Zuständigkeit dieses Gerichts gehören alle sich aus den in der Verfassung getroffenen Regelungen ergebenden Streitfälle. Für Fragen bezüglich einzelner Landesverfassungen gibt es die Verfassungsgerichte der Länder mit Besetzungen entsprechend den Regelungen in den einzelnen Landesverfassungen Außer der Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es laut Art. 95 GG fünf verschiedene Gerichtsbarkeiten mit je einem

744

obersten Gerichtshof: Die ordentliche, die Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- und die Sozialgerichtsbarkeit. ORDENTLICHE GERICHTSBARKEIT (insgesamt 59,3 % aller Gerichtsverfahren; davon 48,6 % Zivilrechtsverfahren ohne Familienrechtsverfahren) Es werden alle Rechtsstreitigkeiten aus dem bürgerlichen und dem Handelsrecht verhandelt, soweit sie nicht besonderen Gerichten zugewiesen sind. Bundesgerichtshof (BGH) mit 12 Senaten für Zivilsachen, 5 für Strafsachen, 8 Spezialsenaten und einem übergreifenden Großen Senat in Karlsruhe; mit Ausnahme des nach Leipzig gegebenen 5. Strafsenates und ohne Bundespatentgericht (München) Oberlandesgerichte (OLG); in Bayern zusätzlich ein über den OLGs angesiedeltes Bayerisches Oberstes Landesgericht mit bestimmten Zuständigkeiten Landgerichte (LG) Amtsgerichte (AG als Unterinstanz; grundsätzlich kein Anwaltszwang, außer in Ehe- und Familiensachen vor dem Familiengericht) ORDENTLICHE GERICHTSBARKEIT / ZIVILGERICHTSBARKEIT In Zivilstreitigkeiten bis € 5.000,- und für Mietstreitigkeiten ohne Streitwertbegrenzung lautet die Instanzenkette Eingangs-, Berufungs- und Revisionsinstanz AG LG keine Revisionsmöglichkeit (1 B / - L) (3 B / - L) bei einem Streitwert ab mehr als € 5.000,- dagegen LG OLG BGH (3 B / - L) (3 B / - L) (5 B / - L) Dieser letztere Instanzenzug gilt ohne Rücksicht auf den Streitwert auch bei Schadensersatzklagen gegen den Staat. Die Eingangsinstanz für solche Klagen ist immer - auch bei einem Streitwert unter € 5.000,- - die so genannte "Fiskus-Kammer" des LG. Dieser Instanzenzug gilt zwar bisher, aber eine Zivilprozessreform wird schon beraten. Geplant ist, dass Amtsund Landgerichte als Eingangsinstanz die bei ihnen rechtshängig gemachten Klagen möglichst umfassend abschließend erledigen. Auch die Landgerichte sollen als Regelbesetzung nur noch in einer Einzelrichterbesetzung tagen. Vor den eigentlichen Beginn des Prozesses soll - wie in Arbeitsgerichtsverfahren – wenigstens bei einem Streitwert bis DM 1.200,- zunächst eine „Güteverhandlung“ geschaltet werden. Durch diese vorgeschaltete Verhandlung wird eine Streitschlichtung ohne aufwendigen Prozess angestrebt, um so die Masse der Prozesse vor dem Amtsgericht zu dezimieren, denn rund die Hälfte der Prozesse wird über einen darunter liegenden Streitwert geführt. In Familien- und Kindschaftssachen (10,7 % aller Gerichtsverfahren) gilt abweichend der Rechtsmittelzug AG (in der Form des Familiengerichts; mit Anwaltszwang) - OLG - BGH In der Zivilgerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte gibt es - mit Ausnahme der Kammern für Handelssachen keine Laienrichter als ehrenamtliche Richter, nur Berufsrichter. Während man sich vor dem AG in einem Zivilverfahren normalerweise durch jede vollgeschäftsfähige - auch eine juristisch völlig unerfahrene - Person vertreten lassen kann, geht das vor dem Familiengericht nicht. Will sich ein Ehepaar streitig(!) scheiden lassen, wofür "Antragsteller/in" (in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit ausnahmsweise nicht "Kläger/in" genannt) und "Antragsgegner/in" (auch sie/er nicht "Beklagte/r" genannt) unterschiedliche Anträge einreichen müssen, weil sie z.B. in bezug auf den Vermögensausgleich oder die Aufteilung des Hausrates eine unterschiedliche gerichtliche Entscheidung anstreben, so muss jede Seite zur Einbringung des Antrages durch einen eigenen Anwalt vertreten sein. Das wird wegen der hohen Streitwerte teuer! Darum ein Tipp für die eigene Lebensführung: Eine Scheidung zu Discount-Preisen ist möglich, wenn man sich einverständlich(!) scheiden lässt. Dann nimmt nur der Antragsteller einen Anwalt. Dieser (meist doch ein bisschen mehr auf der Seite seines Mandanten stehende) Anwalt stellt alle einverständlich getroffenen Regelungen der Auseinandersetzungsvereinbarung in einer "Scheidungsfolgenvereinbarung" zusammen, die

745

dann von einem Notar oder - das ist billiger - (z.B. in Berlin, Bremen, Hamburg und Lübeck) der "Öffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle" ("ÖRA") beglaubigt werden muss. Danach stellt der Anwalt vor dem Familiengericht des AG den Scheidungsantrag und die anderen Anträge entsprechend der getroffenen Scheidungsfolgenvereinbarung, denen der Antragsgegner nicht widerspricht. Es ist ja schon alles abgesprochen und beglaubigt. Der Antragsgegner muss so keinen eigenen Antrag stellen - und darum auch nicht durch einen eigenen Anwalt vertreten sein. Das ist der Pfiff. Dadurch werden die Scheidungskosten fast halbiert. Diese und die anderen noch anzusprechenden Regelungen sind alle sehr verwirrend. Darum dient der Rechtsanwalt den Rechtsuchenden als Pfadfinder in den Niederungen des juristischen Unterholzes. Und auch ein Rechtsanwalt lernt zumindest in den ersten Berufsjahren noch in fast jedem Verfahren etwas hinzu - teilweise auf Kosten seiner Mandanten. ORDENTLICHE GERICHTSBARKEIT / STRAFGERICHTSBARKEIT (19,5 % aller Gerichtsverfahren) Es werden alle Strafverfahren mit Ausnahme der Finanzstrafverfahren verhandelt. In Strafverfahren lautet die Instanzenkette bei kleineren Delikten der leichteren Kriminalität mit einer Straferwartung bis zu zwei Jahren: AG (Einzelrichter) (1 B / - S)

-

LG (Kleine Strafkammer) (1 B / 2 S)

-

OLG (Strafsenat) (3 B / - S)

Die 2 Schöffen der Kleinen Strafkammer können den einen Berufsrichter in allen Fragen der Schulderörterung und der Strafzumessung überstimmen. Beim OLG in der Revisionsinstanz, wo es um reine Rechtsanwendungsfragen geht, sind dann die Berufsrichter als juristische Fachleute wieder unter sich. Revisionsinstanzen streben grundsätzlich keine Einzelfallgerechtigkeit an, sondern überprüfen nur die Rechtsanwendung der einschlägigen Gesetze und behandeln Rechtsfragen von grundlegender Bedeutung. Das müssen Fachleute machen. Daher gibt es hier grundsätzlich keine Laienrichter.

Bei schwereren Delikten der mittleren Kriminalität mit einer Straferwartung von 2 bis zu maximal 4 Jahren lautet die hierfür zuständige Instanzenkette: AG (Schöffengericht) (1 B / 2 S)

-

LG (Große Strafkammer) (3 B / 2 S)

-

OLG (Strafsenat) (3 B / - S)

-

OLG (Strafsenat) (3 B / - S)

Die Jugendgerichtsbarkeit ist ähnlich aufgebaut: AG (Jugendgericht) (1 Jugendrichter / - S)

-

LG (Jugendkammer) (3 B / 2 L)

Bei schwereren Jugendsachen oder Sachen von besonderem Umfang: AG (Jugendschöffengericht) - LG (Jugendkammer) OLG (Strafsenat) (1 B / 2 S) (3 B / 2 S) (3 B / - S) Eine Besonderheit im Bereich der schweren und Schwerstkriminalität (Tötungsdelikte) ist der besondere Instanzenzug: LG (Große Strafkammer, Schwurgericht bei Tötungsdelikten) (3 B / 2 S)

-

keine zweite Tatsacheninstanz !! (5 B / - S)

BGH (Strafsenat)

ARBEITSGERICHTSBARKEIT (BESONDERE ORDENTLICHE GERICHTSBARKEIT) (9,8 % aller Gerichtsverfahren) Verhandelt werden alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie

746

zwischen deren Verbänden, den Tarifvertragsparteien. Bundesarbeitsgericht Landesarbeitsgerichte Arbeitsgerichte

(BAG) (Erfurt, 10 Senate) (LAG) (ArbG)

(3 B / 2 L) (1 B / 2 L; ev. 1 B / 4 L) (1 B / 2 L; ev. 1 B / 4 L)

In allen Instanzen sind hierbei (mindestens) je ein ehrenamtlicher Richter von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite an der Rechtsprechung beteiligt. VERWALTUNGSGERICHTSBARKEIT (4,2 % aller Gerichtsverfahren) Sie dient dem Schutz der Bürger vor unrechtmäßigen Eingriffen der Verwaltung in den grundsätzlich freien Bereich der persönlichen Lebensgestaltung, der Kontrolle der Verwaltung in Fragen des Beamtenrechts und der Klärung von Rechtsstreitigkeiten exekutiver Gewalten untereinander. Bundesverwaltungsgericht (BVG) (Leipzig und Berlin) Oberverwaltungsgerichte (16 OVG) (in jedem Bundesland eines) Verwaltungsgerichte (69 VG)

( 5 B / - L) (3 B / - L; oder: 3 B/2 L ; oder: 5 B/-L) (3 B / 2 L)

SOZIALGERICHTSBARKEIT (BESONDERE VERWALTUNGSGERICHTSBARKEIT) (5,4 % aller Gerichtsverfahren) Verhandelt werden alle Rechtsstreitigkeiten aus den Rechtsgebieten der Sozialversicherung und der Kriegsopferfürsorge Bundessozialgericht Landessozialgerichte Sozialgerichte

(BSG) (Kassel; 14 Senate + Großer Senat)

(3 B / 2 L) (3 B / 2 L) (1 B / 2 L)

FINANZGERICHTSBARKEIT (BESONDERE VERWALTUNGSGERICHTSBARKEIT) (1,7 % aller Gerichtsverfahren) Verhandelt werden alle Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich des Abgabenrechts. Bundesfinanzhof (München) Finanzgerichte auf Landesebene "Unterinstanz" fehlt

(5 B / - L ) (3 B / 2 L)

Man muss kein Liebhaber solcher Zuständigkeitsregelungen werden. Es sollte nur zum Ausdruck kommen, welch kompliziertes juristisches Geflecht geschaffen wurde, um möglichst viel Einzelfallgerechtigkeit durch ein fachlich kompetentes, spezialisiertes Gericht bei möglichst großer Rechtssicherheit herzustellen. Das Gliederungsschema über den Aufbau des Gerichtswesens sieht - hoffentlich - einigermaßen verständlich aus. Das dadurch vermittelte Wissen reicht aber im Ernstfall der Notwendigkeit einer klageweisen Durchsetzung eigener Ansprüche nicht aus. Ein juristischer Laie weiß nun spätestens nach Verarbeitung der vorstehend gegebenen Informationen, dass, wenn er auf dem Weg zur Arbeit von einem beliebigen anderen Verkehrsteilnehmer auf der Straße angefahren wird und sein Schaden einschließlich - Abschlepp- und Reparaturkosten - Kostenpauschale für Telefon und Taxe - merkantilem Minderwert (bei Verkauf Hinweis: "Unfallauto" erforderlich) - Nutzungsausfallentschädigung pro Tag bei Verzicht auf Anmietung eines (wegen der ersparten Abnutzung am eigenen Wagen versicherungstechnisch eine Stufe niedriger eingestuften) Ersatzwagens für die notwendige Zeit des Werkstattaufenthaltes bei Reparatur oder der Neubeschaffung bei Totalschaden - Kosten einer eventuell erforderlichen Abmeldung des Schrottwagens, seiner Verschrottung und der Neuzulassung eines anderen PKW - privater Arztkosten - Schmerzensgeld bei Verletzungen (aber nicht bei Bagatellkratzern)

747 den Betrag von mindestens € 5.000,- erreicht, die klageweise Geltendmachung dieses Schadens vor dem LG erfolgen muss, weil wegen der Höhe des Streitwertes/der Klagforderung ein LG dafür sachlich(!) zuständig ist. Nun gibt es viele LG in der Bundesrepublik, und normalerweise denkt ein Hamburger Autofahrer ja: "Go mi von de Farf.". Welches der vor der Wiedervereinigung schon 93 LGs ist davon aber örtlich(!) zuständig, wenn ein Hamburger Autofahrer von einem Münchner in Hamburg, Frankfurt oder München in einen Verkehrsunfall verwickelt worden ist? Wo muss die Klage eingereicht werden? Auf diese bedeutsame Frage gibt das Schema keine Antwort. Man muss sich den Fragen nach der örtlichen und der sachlichen Zuständigkeit nicht mit der Liebe einer Affenmutter widmen, aber sie sind sehr wichtig und müssen daher beherrscht werden. (Das Beispiel gilt für einen Schaden unter € 5.000,- genauso für die Frage der örtlichen Zuständigkeit eines Amtsgerichtes.) Die Antwort auf die Frage nach der örtlichen Zuständigkeit findet man hoffentlich (mit einigem Glück) in der Zivilprozessordnung (ZPO) oder (mit noch mehr erforderlichem Glück) in Sondergesetzen. Grundsätzlich ist der "allgemeine" Gerichtsstand für alle Klagen gegen jemanden der jeweilige Wohnsitz des Beklagten. (Im Handelsrecht wird von dem Lieferer in seinen Geschäftsbedingungen dieser allgemeine Gerichtsstand zur Erleichterung der Durchsetzung seiner Forderungen aus erfolgter Lieferung üblicherweise abbedungen und der Sitz seiner Firma als zuständiger Gerichtsort vereinbart.) Daneben gibt es mehrere "besondere" Gerichtsstände, z.B. gemäß § 32 ZPO den aus unerlaubter Handlung, was z.B. ein durch Unachtsamkeit verursachter Verkehrsunfall ist, wenn kein offizielles Crash-Rennen veranstaltet wird. Nach dem besonderen Gerichtsstand des Ortes der unerlaubten Handlung kann in vorstehendem Beispiel zur Erlangung des Schadensersatzes wahlweise statt vor dem für den allgemeinen Gerichtsstand (Wohnsitz) des Beklagten zuständigen LG auch vor dem für den Unfallort zuständigen LG geklagt werden, wenn der Schaden mehr als € 5.000,- beträgt. Das ist für einen Hamburger, der in Hamburg von einem Münchner angefahren worden ist, sehr viel bequemer. Er braucht nicht am allgemeinen Gerichtsstand des Deliktschuldners zu klagen und sich darum keinen Rechtsanwalt in München zu suchen. Er kann viel leichter mit seinem Hamburger Rechtsanwalt Kontakt halten und persönlich an der Gerichtsverhandlung (überwiegend nur zuhörend!) teilnehmen. (Wenn er etwas zu sagen wagt, kann es sein, dass er - wie es dem Autor vor seiner Zulassung als Rechtsanwalt passierte - von einem ungnädigen Richter mit der Bemerkung abgebürstet wird: "Sie haben den Mund zu halten. Das ist hier vor dem LG ein Anwaltsprozess." Solche Richter vermitteln einem das Gefühl, eine dumme Gans zu sein, mit der nicht über die kulinarische Gestaltung des Weihnachtsmahles gesprochen werden könne.) Diesen örtlichen Gerichtsstand des § 32 ZPO der unerlaubten Handlung eröffnet dem geschädigten Deliktsgläubiger auch § 20 Straßenverkehrsgesetz (StVG) als spezialgesetzliche Norm für Klagen, die auf Grund des StVG erhoben werden. Wird der Hamburger auf dem Weg ins schöne Bayern von dem seinerseits an die See strebenden Münchner in Frankfurt gerammt, kann Fiete gegen Alois nicht mehr in Hamburg, sondern nur noch entweder in München (allgemeiner Gerichtsstand des Alois) oder in Frankfurt (besonderer Gerichtsstand der unerlaubten Handlung oder nach StVG) klagen. Geschieht dieser Unfall nicht im allgemeinen Straßenverkehr, sondern auf dem Betriebsparkplatz zwischen Arbeitskollegen, so kann der Geschädigte die Klage nicht vor dem LG erheben. Seine Klage würde für ihn in voller Höhe kostenpflichtig als unzulässig abgewiesen, wenn er nicht vorsichtshalber für den Fall, dass das angerufene Gericht seine Zuständigkeit verneinen werde, einen Antrag auf Verweisung an das von dem angerufenen Gericht seinerseits für zuständig erachtete Gericht gestellt hat. (Das zuständige Gericht kann in manchen kniffligen Rechtsfällen durchaus fraglich sein. Erinnert sei an das einen Nachbarn störende Schlagen der Kirchturmsuhr. Bei vorsichtigerweise gestelltem Verweisungsantrag (»Muffenklausel«), dem der Kläger sich dann fügt, braucht er nur die Mehrkosten dafür zu tragen, dass seine Akte durch seine oder des Rechtsanwaltes Dusseligkeit auf dem falschen Schreibtisch gelandet war und von einem unzuständigen Richter zur Hand hatte genommen werden müssen, damit der eine Verweisungsverfügung schreibt.) Der Geschädigte hätte bei einem Unfall auf dem Betriebsparkplatz ohne Rücksicht auf die geltend gemachte Schadenshöhe ("Streitwert") vor dem hierfür gemäß § 2 I Nr. 9 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) zuständigen Arbeitsgericht klagen müssen, das für "9. bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern aus gemeinsamer Arbeit und aus unerlaubten Handlungen, soweit diese mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehen", sachlich zuständig ist; nicht aber wegen der Höhe des Streitwertes vor dem Landesarbeitsgericht (LAG)! Vor dem Arbeitsgericht braucht er dann auch keinen Rechtsanwalt wie vor dem LG. Erst ab LAG besteht wieder

748

Anwaltszwang. Und eine Frage für das juristische Puzzle: Arbeitskollege A stößt kurz vor dem Firmenparkplatz mit dem Betriebskollegen B auf der Straße zusammen. Weil die Schuldfrage strittig sein könnte, möchte A gerne die Rechtsanwaltskosten sparen, die auf ihn zukämen, wenn festgestellt würde, dass ihn ein (eventuell überwiegendes) Verschulden treffe. Kann er gegen seinen Betriebskollegen vor dem Arbeitsgericht unter Verzicht auf einen Rechtsanwalt klagen? Nein, denn A und B hatten als "Jedermann" an dem Verkehrsgeschehen teilgenommen und nicht als Arbeitskollegen. Einer hat den anderen nur zufällig als Arbeitskollegen erwischt. Damit ist ein innerer Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis der beiden zu verneinen. Ein Arbeitsgerichtsprozess scheidet somit aus. Es muss vor dem ordentlichen Zivilgericht geklagt werden. Neben den allgemeinen und den besonderen Gerichtsständen, die eine Wahlmöglichkeit eröffnen, ordnen einige Gesetze für ganz bestimmte Sachverhalte ausschließliche(!) Gerichtsstände an. Diese zwingend angeordneten Gerichtsstände eröffnen kein Wahlrecht mehr. So gilt z.B. gemäß § 29 a ZPO in Mietsachen der ausschließliche Gerichtsstand des Amts(!)gerichts, in dessen Bezirk sich der Wohnraum befindet. Man muss(!) in solchen Fällen auch dann vor dem Amtsgericht klagen, wenn der Streitwert an sich die Zuständigkeitsgrenze für Klagen vor dem AG überschreitet. Das ist wegen der größeren Ortsnähe des AG bei eventuell notwendigen Ortsbesichtigungen praktisch und deshalb auch so geregelt worden. Darüber hinaus besitzt diese Regelung auch den immensen Vorteil, dass vor dem AG kein Anwaltszwang wie vor dem LG besteht. Man darf als "Kläger" oder "Beklagter" seinen Rechtsstreit alleine verlieren und so in Zweifelsfällen das eigene Prozesskostenrisiko beträchtlich minimieren. Dieser vorstehende Exkurs über die gerichtlichen Zuständigkeiten sollte deutlich machen, dass es mit der Kenntnis des "materiellen Rechts", das die Rechte und Pflichten der einzelnen untereinander und gegenüber dem Gemeinwesen regelt (z.B. BGB und StGB), nicht getan ist. Hinzu kommen muss auch das Wissen um das "formelle Recht", das die Durchsetzung des materiellen Rechts regelt, wie es z.B. ZPO, StPO und andere Verfahrensrechte tun. (U.a. deswegen dauert das Jura-Studium auch so lange.) Da gibt es, wie in der gesamten Juristerei, Probleme und Zweifelsfragen, z.B.: Wer hätte im Zivilprozess was und das wie zu beweisen gehabt, obwohl keine Zeugen und keine anderen Beweismittel verfügbar sind? Welche Beweismittel sind im Strafprozess unzulässig erworben und dürfen darum nicht verwandt werden, obwohl aus ihnen ganz eindeutig die Schuld des Angeklagten hervorgeht? "Mordbeweis auf Tonband - aber Mörder bleibt frei Fort Lauderdale - Per Tonband hat in Florida ein Mordopfer seinen Mörder überführt - doch der Täter kann nicht bestraft werden: Die Tonbandaufnahme war illegal! Der bislang einmalige Fall: In seinem Büro bekam Geschäftsmann Earvin Trimble im Juli 1982 Streit mit seinem Partner Anthony Inciarano. Was Inciarano nicht wußte: Trimble ließ bei allen Unterhaltungen heimlich ein Tonband mitlaufen. Auf dem Band hört man, wie Trimble von seinem Geschäftspartner angeherrscht wird: `Du hast das Geschäft doch gemacht, ja oder nein?' Dann fallen fünf Schüsse. Man hört, wie der Kopf des Toten auf die Schreibtischplatte schlägt, der Körper dann auf den Teppich plumpst. Für die beiden Polizisten, die die Leiche und das Band fanden, war der Fall klar. Doch dann kam der Anwalt von Inciarano mit dem Gesetz Nr. 934 des Staates Florida: Ohne Einwilligung des Sprechers darf keine Tonbandaufnahme gemacht oder verwertet werden. Voraussetzung: Inciarano mußte seine Rechte am Mitschnitt geltend machen. So kam es jetzt im Gericht von Fort Lauderdale zu einer paradoxen Situation: Der Staatsanwalt befragte den Mörder: `Ist das Ihre Stimme?' Inciarano: `Ja.' Damit war das Band als Belastungsmaterial wertlos. Andere Beweisstücke aber hatte der Staatsanwalt nicht - der Geschäftsmann kam frei." (Morgenpost 16.08.84)

Welches Gericht welches Gerichtszweiges ist in einem Rechtsstreit überhaupt zuständig? Damit sich in einem Zuständigkeits-Zweifelsfall das Ganze nicht zu einer von hilfsbereiten Richtern, die ihren Schreibtisch leer haben wollen und müssen, lebhaft unterstützten "Gerichts-Ralley" auswachsen kann, muss vor Abschluss des Verfahrens vor dem vielleicht fälschlicherweise angerufenen Gericht der Antrag auf Überweisung an das zuständige Gericht gestellt worden sein, das dann zur Vermeidung der angedeuteten Gerichts-Ralley an diese Verweisung gebunden ist. Es muss den Rechtsstreit selbst dann ausurteilen, wenn es sich selbst ebenfalls für

749

unzuständig hält und den Rechtsstreit am liebsten zurück- oder an noch wieder ein anderes Gericht verweisen würde. Es muss den Rechtsstreit deswegen ausurteilen, weil von "dem Gericht", gemeint ist "jedes" Gericht, erwartet wird, dass es "das Gesetz" selbst dann kenne oder zu kennen habe, wenn es üblicherweise nicht mit dieser Rechtsmaterie befasst ist. Die bisherigen Überlegungen machen deutlich, wie kompliziert es im Extremfall sein kann, den richtigen Gerichtszweig und dann das richtige Gericht zu finden, wenn man nur das eine zuständige Gericht sucht. Bei ein und demselben Lebenssachverhalt können aber auch mehrere Gerichtszweige zur rechtlichen Bewältigung des dem Prozessgeschehen zugrundeliegenden Lebenssachverhaltes erforderlich sein. In dem Beispiel eines einfachen Verkehrsunfalles war das noch nicht der Fall. Da musste der Geschädigte vor entweder dem Zivil- oder dem Arbeitsgericht auf Schadensersatz klagen. Bei einem durch einen (eventuell gravierenden) Fahrverstoß verursachten mindestens erheblichen Sachschaden oder auf jeden Fall bei eingetretenem Personenschaden ist die Angelegenheit nicht mit nur einem Gerichtszweig abgetan. Es meldet sich noch ein anderer Gerichtszweig, denn auch den Strafrichter interessiert, was denn da genau passiert war. Dieses Gericht braucht aber weder der Geschädigte noch der am Unfall schuldige Fahrer zu suchen. Das meldet sich unaufgefordert; normalerweise bei beiden, auf jeden Fall aber bei dem schuldigen Fahrer. Wenn der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zum Termin der Hauptverhandlung erscheint, weil er die rechtliche Bewältigung des Unfalls irrigerweise für erledigt glaubt, da der Schaden durch seine Haftpflichtversicherung schon bezahlt worden ist, schickt ihm das Strafgericht einen Tag vor dem Termin einer neu angesetzten Hauptverhandlung ein grün-weißes oder blau-weißes Taxi. So wird der zum ersten Termin ordnungsgemäß geladene, aber trotzdem nicht erschienene und auch nicht nachträglich hinreichend entschuldigte Angeklagte auf Anordnung des Gerichts mittels eines „Ungehorsams-Haftbefehls“ durch Einschaltung der Polizei im Untersuchungsgefängnis für den nächsten Verhandlungstermin zur Verfügung des Gerichts gehalten und hat noch darüber hinaus die Kosten für die ausgefallene Verhandlung, den Polizeieinsatz und die Logierkosten zu tragen. Rechtzeitig die U-Bahn genommen, ist wesentlich billiger! Ein größerer Unfall hat somit meistens nicht nur eine zivilrechtliche-, sondern auch eine strafrechtliche Seite. Es werden zwei Gerichtszweige eingeschaltet, um den Unfall juristisch vollständig aufzuarbeiten. Es gibt (ganz seltene) Fälle, in denen zur juristischen Aufarbeitung eines Lebenssachverhaltes bis zu vier selbständige Gerichtszweige mit jeweils mehreren Instanzen eingeschaltet werden können. Fall (SPIEGEL 39/85), den es nach der Wiedervereinigung so nicht mehr geben kann: Ein Sportler (= S) hatte durch seinen Sportverein seit 1959 Kontakt zu einer Handballmannschaft in der DDR gehabt und einem in den dortigen ärmlichen Verhältnissen lebenden Sportkameraden (= K) zur Unterstützung ständig Päckchen und Pakete geschickt. Schließlich war es nicht S' Verdienst, dass er nach dem verlorenen Weltkrieg zufällig in dem freien und prosperierenden Teil des geteilten Deutschlands leben konnte, und nicht Ks Verschulden, dass der in dem ärmlichen kommunistischen Zwangsregime leben musste. Deswegen hatte S sich moralisch verpflichtet gefühlt, im kleinen, persönlichen Rahmen durch Teilen die politische Teilung des gemeinsamen Vaterlandes ein bisschen mildern zu helfen. Daraufhin war er von K 1969 zu einem privaten Besuch eingeladen worden, weil sich K für die jahrelange Unterstützung des S persönlich bedanken wollte. Noch bevor der von K am Grenzübergang abgeholte S bei K zu Hause eingetroffen war, hatte sich schon jemand (= J) dort vergeblich eingefunden, der den S gerne sprechen wollte. J kam eine Woche später wieder, stellte sich als Mitarbeiter einer Erwachsenenbildungseinrichtung vor und stellte dem S ganz allgemein Fragen nach seinem Spezialgebiet, dem Bildungssystem der Bundesrepublik, um dessen "InsiderInformationen" als Lehrer mit seinen, durch die kommunistische Propaganda gefilterten eigenen vergleichen zu können. J hatte halt einmal Hintergrundinformationen jenseits der in Broschüren verzeichneten Bildungswege erhalten wollen. S gab freimütig Auskunft und fragte als engagierter Politiklehrer, der für eine Klassenreise etwas besonderes suchte, nach Besuchsmöglichkeiten als Realbegegnung für seine Politikklasse. J antwortete, dass S im nächsten Jahr wiederkommen solle, um die mit dem Besuchswunsch im Zusammenhang stehenden Fragen nach zwischenzeitlicher Rücksprache mit DDR-Stellen detailliert erörtern zu können. S werde dann voraussichtlich von anderen Leuten betreut werden. So geschah es. S lernte noch drei andere Personen A, B und C kennen, die einige Jahre Kontakt zu ihm hielten, ihn wiederholt zu Besuchen einluden, um sich mit dem engagierten Politiklehrer zu unterhalten, und ihn schließlich aufforderten, seine Beamtung aufzugeben, ein Zweitstudium zu absolvieren und hinterher "mit der DDR vertrauensvoll zusammenzuarbeiten". (Sein Junggesellenstatus wurde auch eingeplant, und es wurde ihm einige Zeit später die auf die "Romeo-

750

Arbeitsweise" des MfS abzielende Frage gestellt: "Würdest Du eine Bonner Sekretärin heiraten?") Dem S wurde ein Vorvertrag präsentiert, der ihn - wie über 10.000 andere Bundesbürger - zur Spionage verpflichten sollte. S lehnte eine Unterschriftsleistung ab und unterrichtete nach seiner Rückkehr das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz über die versuchte Anwerbung. Dort wurde S am moralischen Portepee gepackt: Man könne zur Spionageabwehr keine eigenen Leute rüberschicken und sei darauf angewiesen, dass Staatsbürger der Bundesrepublik, die Kontakt zum MfS haben, bereit seien, zum Schein auf das unsittliche Angebot der Gegenseite einzugehen und dann berichten, was an sie herangetragen würde. Mit einer solchen »Doppel«-Agententätigkeit im Interesse des Verfassungsschutzes - Einbruch in die feindlichen Agentenwege und Beobachtung des langjährigen Aufbaus von »Perspektivagenten« - würde S sich "um die Bundesrepublik verdient machen". Diese Offerte traf S' Helfersyndrom und er stieg darauf ein, nachdem er auf die Frage seiner Absicherung bei dieser nicht ungefährlichen Tätigkeit - die DDR-Gefängnisse hatten sich im Westen nicht den Ruf von Sanatorien erworben - zur Antwort erhalten hatte: "Wir können Sie während des angesonnenen Zweitstudiums nicht weiter als Beamten beschäftigen aber dafür sorgen, dass Sie jederzeit wieder in Ihren Beruf zurückkehren können: Hauptsache, Sie geben eine Beamtung auf Lebenszeit für uns auf, damit wir die später immer als Argument verwenden können." Nach seinem "objektiven Empfängerhorizont" (juristische Kategorie aus dem Vertragsrecht bei der Prüfung, wie die eine Seite die Willenserklärung der jeweils anderen Seite nach Treu und Glauben in der konkreten Situation gemäß § 242 BGB verstehen durfte, also die Überprüfung der Frage, was konkret Vertragsinhalt geworden war) fühlte S sich durch diese Antwort des obersten Verfassungsschützers seines Landes hinreichend abgesichert und wurde gemäß dem Kennedy-Wort: "Fragt nicht immer, was der Staat für Euch tun kann, sondern fragt auch einmal, was Ihr für den Staat tun könnt!", zum Schutz der Belange der Bundesrepublik »Doppel«-Agent. Ihm war klar, dass es unter Vieh- und Nachrichtenhändlern nichts Schriftliches gibt. Bei letzteren ist die Entdeckungsgefahr einfach zu groß. Da gelte das Wort von Mann zu Mann - dachte S. Dem MfS war dann 6 Jahre später durch Verrat aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz signalisiert worden, dass der S nicht der vom MfS für die Sache des Proletariats geglaubte Agent sei, sondern nur zum Schein auf das Ansinnen des östlichen Geheimdienstes eingegangen war, um die demokratische Ordnung der Bundesrepublik vor kommunistischer Unterwanderung schützen zu helfen. Das MfS zog darum die hier erkannte "Brieftaube" B, den Reiseagenten, zu dessen eigener Sicherheit als Schutz vor Inhaftierung in der Bundesrepublik aus dem Verkehr und brach den Kontakt zu S ab - ohne ihn bei einem durchaus möglichen nächstem Besuch in der Höhle des Löwen inhaftieren zu wollen, um so die eigene Informationsquelle in den Reihen des bundesdeutschen Verfassungsschutzes, den „Maulwurf“, zu schützen. Nach Abschluss seines juristischen Zweitstudiums wollte S gemäß der vor Aufnahme der »Doppel«Agententätigkeit als "conditio sine qua non" (Bedingung, ohne die »nichts läuft«) vereinbarten Absicherung wieder als beamteter Lehrer in seinem ursprünglichen Beruf beschäftigt werden, den er ja nur für den Staat aufgegeben hatte. Doch die Freie und Hansestadt Hamburg - dankbar wie sie gegenüber einem ihrer im Stillen aus seinem Demokratieverständnis heraus engagiertesten Bürger sein kann - lehnte ab. Unter Verweigerung jeglicher persönlicher Erörterung des gesamten Problemkreises wurde ihm in drei Sätzen schriftlich mitgeteilt, "... daß zu keiner Zeit von einem Mitarbeiter der Behörde für Inneres irgendeine Zusage der Wiederverwendung im öffentlichen Dienst gegeben wurde. Ferner ist es „allein Ihr Wunsch und Ihre Entscheidung gewesen", den ursprünglichen Beruf "... aufzugeben und ein Zweitstudium zu beginnen und hierfür erhebliche finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen." Der die ganze Zeit arbeitslose S versuchte drei Jahre lang eine gütliche Regelung auf der politischen Schiene, und der Petitionsausschuss der Hamburger Bürgerschaft fasste ungewöhnlicherweise zweimal eine Entschließung mit der größtmöglichen Eindringlichkeitsstufe, den S wegen seines selbstlosen Einsatzes für die Bewahrung unserer staatlichen Ordnung vor feindlichen Agenteneinflüssen umgehend wieder einzustellen. Die Landesregierung kam dem zunächst gar nicht, und dann auf Grund des SPIEGEL-Artikels nur sehr unwillig nach, beschäftigte S aber nicht in seinem ursprünglichen Beruf und kündigte ihm in der neuen Tätigkeit innerhalb der Probezeit. S könne nicht mehr damit rechnen, je wieder in Hamburg als Beamter angestellt zu werden. Über einen Mittelsmann wurde ihm von dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei und späteren Regierungschef mitgeteilt: Sollte S sich an die Presse wenden, alles an die große Glocke hängen und so den Landesämtern für Verfassungsschutz die Anwerbung weiterer »Doppel«-Agenten erschweren, so könne er „höchstens noch Straßenfeger in München werden“. S blieb nun keine andere Wahl mehr, als zu klagen. Aber wo?

751

Für die Klage auf Wiederverbeamtung war die Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig, für die Klage auf Schadensersatz die "Fiskus-Kammer" des Landgerichts. Weil S sich wegen der möglichen Kontrolle seiner Wohnung durch einen Trupp MfS-Agenten all die Jahre hindurch keine Notizen hatte machen dürfen, die Behörde keine Akteneinsicht in ihre Akte gewährte, aber durch einen ihrer Vertreter falsche Tatsachenbehauptungen aufstellen ließ, erstattete S Strafanzeige wegen versuchten Prozessbetruges, um über die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten und einen Strafprozess möglicherweise Einblick in ihn betreffende Behördenunterlagen zu erhalten. Nachdem zwei Verwaltungsgerichtsinstanzen aus formalen Gründen sich für außerstande erklärt hatten, die von dem all die Jahre dauerarbeitslosen S auf dem Wege der Prozesskostenhilfe versuchte Klage auf Wiederverbeamtung anzunehmen, klagte er zusätzlich vor dem Arbeitsgericht auf Wiedereinstellung - als Angestellter. Dort kam es nach insgesamt 8 Jahren zäher juristischer Auseinandersetzungen unter Einschaltung der vier Gerichtszweige Verwaltungs-, Zivil-, Straf- und Arbeitsgerichtsbarkeit zu einem das ganze Prozessgeschehen abschließenden Prozessvergleich: Unter Verzicht auf die Hunderttausende Mark bis dahin entstandenen Gehalts- und zukünftigen Ruhegehaltsschaden für die 15 Jahre wurde S wieder verbeamtet - und denkt heute ganz anders über angebliche Verpflichtungen des Bürgers unserem Staat gegenüber, für den er sich angeblich "verdient gemacht" hat. Wo jetzt das Grundgesetz um eine Aufforderung an die Bürger zu mehr Gemeinsinn erweitert werden soll, hat er seit Jahren das diesem Problemkreis vorgelagerte Problem: Wie kann ein unter Eingehung existenzieller persönlicher Risiken für Freiheit, Gesundheit und Eigentum zum Engagement für dieses Land bereiter Bürger (und Patriot) ausreichend vor eben diesem Staat geschützt werden? Aber ohne die juristische Zweitausbildung hätte er nicht dieses Buch und die „Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten“ schreiben können. Ob das die ersten 7 ½ dem Staat freiwillig gegebenen Jahre und dann die aufgezwungenen weiteren 7 ½ des nachträglichen Kampfes auf politischer und dann gerichtlichen Schienen mit zusätzlich dem Pensionsverlust für diese 15(!) Jahre aufwiegt? Erhebliche Zweifel sind angebracht! Da hilft auch die Weisheit des Konfuzius: „Wer altes Unrecht vergisst, spart sich Klagen über die Welt.“ nicht, denn spätestens an jedem ersten eines Pensionsmonates, wenn die auf Grund des Engagements für unseren Staat geschmälerte Pension ausgezahlt werden wird, werde ich daran erinnert werden! In solchen Fällen kann der Betroffene nachempfinden, was der OLG-Präsident Wassermann in seinem Buch „Die Zuschauerdemokratie“ als ein Fazit zog: „Zu den sozialen Kosten der Verrechtlichung gehört auch die Erfahrung des Bürgers, daß der komplizierte Rechtsweg durch die Instanzen der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit einen beträchtlichen, sich oft über Jahre erstreckenden Aufwand von seelischer Kraft, Zeit und Geld erfordert, aber ihm im Ergebnis nur Steine statt Brot gibt, weil die Gerichte bei aller Kontrolldichte Probleme materieller Gerechtigkeit nicht befriedigend lösen können.“56

7.17 Volksbegehren, Volksentscheid a) In der Weimarer Verfassung waren Volksbegehren und Volkentscheid vorgesehen. b) Weil die Politiker, die den politischen Anfang der Bundesrepublik Deutschland rechtlich gestalteten, ganz hautnah erlebt hatten, wie leicht die Nationalsozialisten die Masse der Wähler verführt hatten, misstraute der Parlamentarische Rat bei der Schaffung des Grundgesetzes dem erst noch vom fanatisierten Jubler mit zum „Hitler-Gruß“ hochgereckten rechten Arm zum „mündigen Bürger“ in von den Alliierten verlangten und initiierten Re-education-Programmen „umzuerziehenden“ Staatsbürger. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes scheuten als gebrannte Kinder das Feuer und lehnten darum jegliche über den reinen Wahlakt hinausgehende Entscheidungsmöglichkeit des von Heinrich Heine sarkastisch als „der große Lümmel“ bezeichneten Volkes auf das politische Geschehen und somit auch jegliches Plebiszit auf Bundesebene - mit einer Ausnahme - generell ab. Carlo Schmid, als eines der Mitglieder des Parlamentarischen Rates einer der Väter unseres Grundgesetzes, 56

Wassermann, Rudolf: Die Zuschauerdemokratie Düsseldorf 1986 S. 31

752 hatte nach den Erfahrungen aus der NS-Zeit das Institut des Plebiszits als „Prämie für Demagogen“ bezeichnet und abgelehnt: „Das Volk“ als oberster Souverän sollte nicht mehr durch das Abstimmungsverhalten der verführbaren Masse entmündigt werden können! Und mehr oder minder große Wählermassen verführende politische Rattenfänger gibt es in jedem Land immer wieder, auch in »alten« Demokratien; das hängt u.a. von der wirtschaftlichen Lage eines Landes und der Ausbalanciertheit der gesellschaftlichen Gegensätze in der jeweiligen Gesellschaft ab. In dem der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 III GG - zusammen mit anderen ausdrücklich genannten Artikeln unterfallenden Art. 20 GG heißt es zwar in dessen zweitem Absatz, dass die Staatsgewalt vom Volk „in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt“ werde, aber diese im Grundgesetz durch seine Nennung als Ergänzung zum parlamentarischen System grundsätzlich angelegte Möglichkeit zu direktdemokratischen sachunmittelbaren Einzelentscheidungen durch das Volk in „Abstimmungen“ ist dann nicht weiter ausgestaltet worden und damit faktisch auf Null reduziert: Wir bisher in olympischem Turnus mehr oder minder nur als Stimmvieh ausschließlich zur Parlamentsneuwahl an die Wahlurnen gerufenen Wahlbürger werden vom Gesetzgeber möglichst unmündig gehalten. Und das Bundesverfassungsgericht hat dabei mitgeholfen: in der relativ bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges geführten Debatte um die Wiederbewaffnung hatte es eine diesbezügliche Volksbefragung mit dem Argument unterbunden, diese würde eine unzulässige Beeinflussung der gesetzgeberischen Organe darstellen. In der Verfassung wurde nur für den Fall der zu Anfang des Buches schon ausführlich abgehandelten Möglichkeit einer Länderneugliederung durch die Bestimmung des Art. 29 I GG eine Volksbefragung unter den Wahlbürgern der betroffenen Bundesländer ausdrücklich zugelassen. Auch nach nunmehr über 60 Jahren demokratischer Tradition in der Bundesrepublik Deutschland haben die – von unserer Zustimmung bei Wahlen abhängigen(!) – Politiker, die als nur zur politischen Geschäftsführung bestellte Sachwalter des Volkes gesehen werden können, ihr Grundmisstrauen gegenüber den letztlich als demokratisch unreif eingeschätzten Wählern und ihrer gemutmaßt fehlenden Gemeinwohlorientierung beibehalten, weil angeblich sonst die konkrete Gefahr bestehe,  dass erstens »die Stammtische« regieren könnten - es wird in diesem Zusammenhang gerne auf die Gefahr der Einführung der Todesstrafe nach einem Sexualmord an einem Kind verwiesen -,  weil zweitens - „Hartz IV“ lässt grüßen - eine anstehende Volksabstimmung sachfremd von vorher durch einschneidende Reformen verärgerte Wähler zu einer Rachehandlung gegenüber der Regierung umfunktioniert werden könnte  und weil es sich drittens so leichter regieren lässt, wenn der für zu verführbar oder für zu dumm gehaltene Staatsbürger möglichst weitgehend von der Wahlurne ferngehalten wird. Die bestehende Regelung der (allerdings alle vier Jahre eingeräumten) einmaligen Zustimmungsmöglichkeit durch einen Wahlakt mit nachträglicher Entmündigung stellt den Wahlbürger (= Souverän!) nach der Wahl so unter die Vormundschaft »der Politiker«, wie vor der vollen rechtlichen Gleichstellung der Frauen mit den Männern heiratende Frauen selbst noch unter der Geltung des Grundgesetzes im niederrangigeren Recht durch den puren Akt der Eheschließung rechtlich entmündigt worden waren. Es gilt auch in dieser Beziehung das Wort des ostdeutschen Bürgerrechtlers Jens Reich, der einige Jahre nach der Wiedervereinigung rückblickend konsterniert festgestellt hatte: „Von was für Pfeifen haben wir Pfeifen uns regieren lassen!“ Aber das sagt sich erst hinterher so leicht, als „die Pfeifen“ nicht mehr auf sowjetische Bajonette gestützt mit den Zwangsmitteln ihrer Polizei, Armee und ihres Geheimdienstes regierten und nicht mehr durch die in politischen Prozessen vorherrschenden Willkürurteile einer ideologieverpflichteten Richterschaft ihre Gefängnisse füllten. Das abgrundtiefe Misstrauen des historischen Verfassungsgesetzgebers gegenüber den von dem herausragenden Demagogen Hitler als zu »gläubig« und zu verführbar erlebten Volksmassen ist in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland sicher berechtigt gewesen; es hatten ja noch viele nicht nur ehemals glühende Anhänger des Nationalsozialismus überlebt, die selbst durch die nationale Katastrophe nicht bekehrt worden waren und dem Nationalsozialismus nicht ehrlichen und reuigen Herzens abgeschworen hatten. Der Gedanke, Abstimmungen nach z.B. Schweizer Vorbild zuzulassen und - sicherheitshalber - die Verbindlichkeit von Volksentscheiden vom Erreichen eines nicht zu niedrig angesetzten Quorums abhängig zu machen, lag dem historischen Verfassungsgesetzgeber darum nach dem hautnahen eigenen Erleben der „dem Führer“ von Zustimmung trunken zugejubelt habenden Volksmassen aus den Nachbeben des Erlebten und Erlittenen völlig fern. Darum wurde unsere Verfassung strikt antiplebiszitär konstruiert und bewusst mit dieser Schieflage austariert: Nach einer abgehaltenen Wahl bleiben (bis zu einer möglichen Änderung) alle politischen Entscheidungen den Parlamentariern vorbehalten – die bei zur Entscheidung anstehenden Sachfragen im Zweifel

753

auch nicht sachverständiger sind als und genauso überfordert sind wie Sie und ich es wären, die bei der teilweisen Kompliziertheit der zu regelnden Sachfragen auch gar nicht sachverständiger als »der Normalbürger« sein können und sich daher auf das verlassen müssen, was ihre Experten unter teilweiser Heranziehung externen Sachverstandes in langen Ausschusssitzungen entscheidungsvorbereitend erarbeitet haben. Doch können die angeführten Gründe den völligen Ausschluss jeglicher Abstimmungsmöglichkeiten des Volkes auf Bundesebene auch heute noch in hinreichendem Maße legitimieren? Einsehbar ist er ja u.a. bei komplizierten Haushalts-, bei Abgaben-, Beamten- und Besoldungsgesetzen. Aber sonst? Weitere grundlegende zielführende Frage in diesem Zusammenhang: Warum kommen die genannten Befürchtungen z.B. bezüglich möglicher Rachehandlungen der von »den Politikern« gequälten Wahlbürger in der Schweiz nicht so zum Tragen, dass von dort ein permanentes Wehgeschrei der von dem „großen Lümmel“ ständig in den Hintern getretenen Politiker zu hören wäre? Dort gilt der auch bei uns seit den Bauernkriegen aufgestellte aber bisher nicht hinreichend weit geltende Grundsatz: "Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Mann". Aus der Schweiz wird nur von einer aus einem gewissen Abnutzungseffekt heraus erklärbaren permanenten Unlust der Wahlbürger berichtet, permanent zu Entscheidungen aufgerufen zu werden, woraus eine üblicherweise geringe Teilnahme an den meisten Abstimmungen resultiert. Aber in sehr gewichtigen Fragen würden die Bürger, dessen bin ich sicher, zu den Abstimmungsurnen gehen; auf jeden Fall haben sie die uns verwehrte Möglichkeit! Dort haben dann auch die Wahlbürger - ähnlich wie in einigen us-amerikanischen Bundesstaaten - per Volksentscheid verständigerweise eine „Schuldenbremse“ in ihre Verfassung eingebaut, um eine ausufernde Neuverschuldung und die dadurch drohende Überschuldung des Staates mit ihren negativen Auswirkungen für künftige Generationen zu unterbinden. Das Beispiel zeigt, dass auch grundsätzliche Finanzfragen von den Wahlbürgern, denen ihr Geld von »den Politikern« aus der Tasche gezogen werden soll, verständig entschieden werden können! Eine erneute ernsthafte Debatte um die Einführung der Möglichkeit von Volksabstimmungen in der Bundesrepublik in Bundesbelangen nach ihrer generellen Ablehnung durch den Parlamentarischen Rat kam erst wieder 2004 auf, als die Ratifizierung der neu geschaffenen EU-Verfassungsvorlage anstand: Warum dürfen die Bürger in zumindest den westlichen Nachbarländern der Bundesrepublik über die geplante Einführung der (sehr umfangreichen und darum von kaum einem dieser Wähler gelesenen) EU-Verfassung abstimmen, nicht aber die zwar laut PISA-Untersuchung in Bezug auf Schulleistungen dümmeren, ansonsten oder politisch wohl doch gleich intelligenten Deutschen? "Plebiszite sind nicht geeignet, den komplizierten Fragestellungen unserer Zeit und insbesondere dem europäischen Verfassungsvertrag gerecht zu werden", sagte der CDU-Außenpolitiker Friedbert Pflüger der WELT in einem Interview zu dieser Problematik. Volksabstimmungen bereiteten "Demagogen Bühnen für Agitation", weswegen ein Referendum über die EU-Verfassung "weder mehr Demokratie noch mehr Rationalität schaffen würde". So die Gegenargumente. Ohne jede falsche Bescheidenheit an meinem persönlichen Beispiel verdeutlicht: Ich kann sicher einigen Mitgliedern des Deutschen Bundestages nicht das Wasser reichen; dafür fehlt mir neben gleich herausragender intellektueller Kompetenz auch die durch Mitarbeit durchaus erlernbare notwendige praktische Erfahrung in der konkreten Mitarbeit in politischen Gremien. Wieso jedoch sollte ein (dummer und/oder) nicht hinreichend ausgebildeter Bundestagsabgeordneter – die gibt es leider (beide), aber ich werde selbstverständlich keine Berufe und erst recht keine Namen nennen, verweise zur Illustration nur auf den längst verstorbenen Dorfgastwirt und ehemaligen CSU-MdB Unertl, über den die Wochenzeitung DIE ZEIT geurteilt hatte, dass man ihn in unserem Parlament nur in dem Bewusstsein ertragen könne, dass es in einer großen Berufsgruppe eben auch solche unbedarften Menschen gebe – wieso also sollte ein »Bundestagsabgeordneter mittlerer Art und Güte« über eine größere Beurteilungskompetenz hinsichtlich politischer Belange verfügen als ich, der ich mich in 20 Semestern Studium und zwei Referendariaten in zwei akademischen Berufen erfolgreich habe ausbilden lassen und als Historiker, Fachlehrer für Politik und Jurist gearbeitet habe? Im Zweifel liegt die größere Sachkompetenz für politisch-juristische Fragen bei mir und nicht bei einem »MdB mittlerer Art und Güte«, der von seinem beruflichen Werdegang her gar nicht in der Lage ist, solche Fragen zu entscheiden und darum Stimmvieh seiner Parteioberen ist! Ich gestehe aber gerne zu, dass Sie, meine Leser, und ich nicht das Maß aller Dinge sind – schließlich gibt es wesentlich dümmere Leute als uns, die sich nie mit den grundlegenden Fragen unseres Zusammenlebens befassen und darum dieses Buch nie lesen würden. Vielleicht ist es darum eine zwar undemokratische, jedoch weise Entscheidung, ausschließlich die Parlamentarier und nicht auch Sie und mich über wichtige Fragen unseres politischen Zusammenlebens in einem Plebiszit abstimmen zu lassen, da dann die Millionen anderen, die sich den nicht nur »geistigen Dünnschiss« der schwachsinnigen Belanglosigkeiten in »Spaßunkultursendungen« mit der angeblichen Semiprominenz der „nervigsten Deutschen“ als angeblich halbwegs prominente Kretis und Pletis in der Funktion gut honorierter »Fernsehaffen« antun, die unerträglicherweise immer wieder zu meist

754

ebenso unerträglichen Sendungen herangezogen werden - die unerträgliche mediale Präsenz mancher unerträglicher Zeitgenossen gründet auf der geistigen Armut ihrer Bewunderer -, über die dann auch noch zusätzlich als Aufmacher am nächsten Tag in schreiend großen Lettern und mit unerträglichen Bildern in genauso unerträglichen Zeitungen genauso unerträglich berichtet wird, wie sie in Ekel-Camps in forciertem Krawall zwischen den Teilnehmern eklige Aufgaben zu erfüllen haben oder wie z.B. ein ehemaliges Party- und Event-Highligt von »Hirnis«, die „Busenwitwe“, nun auf der „Ekel-Alm“ unter der fernsehenden Anteilnahme der geistig zu Bedürfnislosen zwar nicht ihre durch den verstorbenen Ehemann modellierten Brüste, sondern ihre unmodellierten Füße in einen Kübel mit Kuhscheiße steckt – fast ist man geneigt genervt zu schreiben: »böckt«; aber dieser Unsägliche war bei dieser Fernsehscheiße dieses Mal ungewöhnlicherweise nicht mit von der Partie und dann so beschissen herumläuft (was dann einen 61-jährigen Hohenzollernprinzen, einen Nachfahren aus unserem ehemaligen Kaiserhaus und Patensohn von Papst Pius XII., veranlasste, seine Ehefrau „endgültig zu den Akten zu legen“ und über die Medien verbreiten zu lassen, dass er die 33-jährige heiraten wolle, nachdem er gleich bei der ersten Begegnung mit dieser Frau „in drei Nächten insgesamt nur sechs Stunden geschlafen habe“, was den Kaiser in seinem Grab zum Routieren gebracht haben muss), da dann diese von mir nicht ganz liebevoll charakterisierten Leute das gleiche Recht beanspruchen könnten, über grundlegende Fragen unseres Zusammenlebens gleichberechtigt mit abzustimmen. Man kann sich ja nicht darauf verlassen, dass »Dumm« aus Einsicht in die eigene geistige Armut Plebisziten fernbleiben würde. [Als Lehrer habe ich leider zu oft erlebt, dass die Dümmsten einer Klasse ständig das größte Maul riskierten und die geistvolleren Zurückhaltenderen dominierten! „Die Dummen haben das Pulver nicht erfunden, aber sie schießen damit“ (Uhlenbruck).] Die MdBs, die die Verfassung absegnen werden, segnen damit auch die zuletzt auf der Konferenz von Nizza vorgenommenen sachfremden Kungeleien ab, die zu der konkreten Form der Verfassungsvorlage geführt hatten, die die Bundesrepublik nicht nur beim Wahlakt in der mangelnden Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen, sondern auch in vielen anderen Punkten teilweise eklatant benachteiligt. Etwas anderes sei (angeblich) nicht durchsetzbar gewesen, wenn man sich auf eine gemeinsame Verfassung für die EU habe einigen und das Projekt nicht habe scheitern lassen wollen. Ich bezweifle sehr, dass die Mehrheit der Abgeordneten im Detail weiß, welchen Regelungen genau sie zustimmen werden! Die sind ja nicht alle vom Schwerpunkt ihrer Tätigkeit her beurteilt Verfassungsrechtler (was auch ich nicht bin; ich finde das Strafrecht wesentlich spannender). Die Parlamentarier sind in ihrer Zusammensetzung nicht wesentlich klüger als das Gros der Bürger! (Aber wesentlich interessierter und informierter! Und das ist schon sehr viel wert.) Beweis für »Ungerechtigkeiten« in dem wohl bald Verfassung für Europa werdenden Entwurf: Man stelle sich vor, dass das Wahlgesetz für die Bundestagswahlen vorsehen würde, dass die Stimmen in einigen kleineren Bundesländern anders gewichtet würden als in den größeren. Das würde jedermann als nicht hinzunehmende Ungerechtigkeit des Wahlsystems empfinden. Der mit „One man – one vote“ prägnant umschriebene Wahlrechtsgrundsatz der Wahlgleichheit der Stimmen umfasst nicht nur den gleichen Zählwert, sondern auch den gleichen Erfolgswert einer abgegebenen Stimme! Es würde sonst sofort die Parallele zum undemokratischen Dreiklassenwahlrecht bemüht. Bei der Wahl zum EU-Parlament aber werden solche Ungerechtigkeiten des ungleichen Erfolgswertes bei der Verrechnung der in den einzelnen Ländern erzielten Stimmen hingenommen! Weil von den deutschen Repräsentanten - aus bei dieser prinzipiellen Frage unangebrachter Harmoniebedürftigkeit heraus? - nicht entschieden prinzipiell genug verhandelt worden war. Und so ist es in vielen Punkten gelaufen. Wegen der äußerst negativen Erfahrungen mit der leichten Verführbarkeit der den Nazis fanatisch zugejubelt habenden Deutschen – man braucht auch jetzt noch nur die Rede Goebbels schon nach der Niederlage von Stalingrad und der sich abzeichnenden Niederlage in Afrika am 18.02.43 im Berliner Sportpalast zur „Abstimmung“ über den „totalen Krieg“ zu hören: „Ich frage Euch: Wollt Ihr den totalen Krieg? Wollt Ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?“ „Ja! Sieg Heil, Heil, Heil“!, und ein Gruseln geht den Rücken runter! – wurden sämtliche auf die direkte Beteiligung des Volkes abzielenden Bestimmungen der Weimarer Verfassung aus dem Grundgesetz ferngehalten, denn: „Geistlose kann man nicht begeistern, aber fanatisieren kann man sie.“ (Marie von Ebner-Eschenbach) Inzwischen sieht man aber ein, dass man, wenn man den „mündigen Bürger“ will - und alle Parteien umschmeicheln ihn spätestens vor Wahlen mit solchen und ähnlichen Vokabeln -, in dieser Beziehung der Bürgerentmündigung doch wohl des Guten zu viel getan hat. Wegen der zu geringen Einflussmöglichkeiten und Mitwirkungsrechte wenden sich zu viele Bürger desinteressiert vom Staat ab - und der »Zerstreuungs(un)kultur« zu. Die insbesondere bei Kommunal- und Landtagswahlen erschreckend abgesunkenen Zahlen für die Wahlbeteiligungen liefern ein beredtes Zeugnis für das zunehmende Desinteresse der Wahlbürger an der Gestaltung ihres Gemeinwesens – und letztlich an der Demokratie.

755

Darum ist es wieder im politischen Gespräch, die Bürger durch den Ausbau des Petitionsrechts und durch Möglichkeiten für Volksbegehren und Volksentscheid stärker in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden und so ihr Interesse am staatlichen Geschehen wach zu halten, wie es inzwischen in allen EUStaaten mit den beiden Ausnahmen Belgien und Bundesrepublik Deutschland geregelt ist. Allerdings ist das bei uns mit einer Verfassungsänderung verbunden, für die im Deutschen Bundestag eine – wegen der grundsätzlichen Ablehnung dieser Offerte an die Bürger als durch die Union so diffamiertes „populistisches Scheinangebot“ nicht erreichbare - Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt wird. So gibt es Volksinitiativen, -begehren und -entscheide weiterhin nur in einigen Bundesländern und auf mancher kommunalen Ebene. Der Vorschlag der rosa-grünen Bundesregierung ging dahin, dass Bürgern, die sich an den Bundestag wenden, das Recht zugestanden werden sollte, ihr jeweiliges Anliegen persönlich vorzutragen. Bei Massenpetitionen mit mindestens 50.000 Unterschriften sollte das Anliegen auch direkt im Plenum des Bundestages behandelt werden können. Volksinitiativen mit mindestens 400.000 Unterschriften sollten es ermöglichen, aus der Mitte der Bevölkerung heraus einen Gesetzesentwurf in den Bundestag einzubringen, was bisher nur dem Bundestag, Bundesrat und der Bundesregierung zusteht. Wenn der Bundestag diese Initiative innerhalb von acht Monaten nicht aufgreife, hätte ein Volksbegehren eingeleitet werden können. Bei einem einzurichtenden Volksbegehren muss ein Gesetzesantrag von 5 % der Wahlberechtigten (ca. drei Millionen Wahlbürger) unterstützt werden, damit er nach Überwindung dieser Hürde in einem Volksentscheid zur Abstimmung gestellt werden kann. Ein „normaler“ Volksentscheid sollte dann angenommen sein, wenn a) mindestens 20 % der Stimmberechtigten an der Abstimmung teilnehmen und b) davon die Mehrheit zustimmt. Bei verfassungsändernden Gesetzen sollten höhere Hürden zu überwinden sein: Zur Vermeidung einer „Stimmungsdemokratie“ sollte a) das Beteiligungsquorum auf 40 % verdoppelt werden und b) wenigstens eine Zwei-Drittel-Mehrheit zustimmen müssen. Weiterhin ausgeschlossen bleiben von einem Volksentscheid durch Volksabstimmung sollten Haushalts-, Steuer- und Abgabengesetze, das Besoldungsrecht, die Rechte der Bundestagsabgeordneten und die Einführung der Todesstrafe. Dieses Vorhaben der rosa-grünen Regierungskoalition, dem „mündigen Bürger“ eine größere Beteiligung an der Regelung der staatlichen Angelegenheiten zu ermöglichen, ist von der Opposition – zunächst - verhindert worden. Für den Spezialfall der Abstimmung über die EU-Verfassung deutete sich dann aber eine mögliche Kehrtwende in der Beurteilung der von uns in ihre Ämter gewählten Politiker hinsichtlich der von ihnen grundsätzlich so gesehenen politischen Dummheit der Wahlbürger an. An dieser Kehrtwende fand die Union umso mehr Gefallen, je mehr die Frage einer möglichen Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU Ende 2004 in das Bewusstsein der Union und der Bevölkerung rückte und die von den Politikern bisher »bewusst verschlafene«, bis dahin bewusst vermiedene Debatte hoch kochte: Soll die asiatische Türkei, die an der über mehr als ein Jahrtausend erfolgten europäischen Identitätsbildung zu keiner Zeit beteiligt gewesen war und mit der europäischen Identitätsfindung die letzten 500 Jahre nur insofern etwas zu tun hatte, als sie als identitätsstiftende gesamteuropäische Gemeinschaftsaufgabe der Türkenabwehr einer der Kristallisationspunkte für die Identitätsfindung der sich ansonsten untereinander zerfleischenden Europäer gewesen war, soll diese asiatische Türkei in den sich bildenden europäischen Staatenbund mit aufgenommen werden?57 Da zu befürchten war, dass die europäischen Politiker zu geschichtsvergessen entscheiden würden, fand die Union, der eine mögliche Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU contre ceur ging, doch Gefallen an Volksentscheiden; auch für grundsätzliche internationale Fragen! Und die Regierung wollte sich nicht darin übertreffen lassen, dem wenigstens vor Wahlen hofierten Staatsbürger diese Möglichkeit zu eröffnen: „Rot-Grün macht Weg für Volksentscheide frei Gesetzentwurf soll im Herbst verabschiedet werden - SPD-Rechtsexperten suchen Gespräch mit der Union von Peter Dausend Berlin - SPD und Grüne haben einen gemeinsamen Gesetzesentwurf zur Einführung von 57

Diese Problematik wird abgehandelt in dem über den Sucheintrag „Hans-Uwe Scharnweber“ bei Google zu findenden Internetbeitrag „EU-Beitritt Türkei? EU-Erweiterungsdebatte Türkei: Warum die Türkei nicht in die EU gehört“

756

Volksentscheiden auf den parlamentarischen Weg gebracht. Der Geschäftsführende Fraktionsvorstand der SPD beriet den neunseitigen Entwurf, der der WELT vorliegt, und legte einen Zeitplan für das weitere Vorgehen fest. Demnach soll das Gesetz noch in diesem Herbst verabschiedet werden. Kernpunkt der Initiative ist, daß das Volk künftig sowohl über einfache Gesetze als auch über Verfassungsänderungen und völkerrechtliche Verträge selbst entscheiden darf, wobei jedoch unterschiedliche Regeln und Quoren gelten sollen. Ein Volksentscheid über einfache Gesetze geht dabei stets aus einem Volksbegehren hervor, bei dem, wie es in dem Entwurf heißt, ‘400 000 Wahlberechtigte beim Bundestag eine mit Gründen versehene Gesetzesvorlage einbringen’. Geschieht dies, steht innerhalb von sechs Monaten ein Volksentscheid an. ‘Ein Gesetzesentwurf ist angenommen, wenn die Mehrheit der Abstimmenden zugestimmt hat, sofern diese Mehrheit mindestens ein Zehntel der Wahlberechtigten umfaßt’, so die Regelung im Wortlaut. Mit diesem Zehn-Prozent-Quorum soll verhindert werden, wie in den Erläuterungen zum Gesetzestext steht, ‘daß sich partikulare Sonderinteressen einer kleinen Minderheit durchsetzen können.’ Das Quorum wird bei Volksentscheidungen über Verfassungsänderungen und internationale Verträge im Gesetzentwurf entscheidend erhöht. Beide benötigen eine Mehrheit der Abstimmenden, die mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten umfaßt (25-Prozent-Quorum). Völkerrechtliche Verträge sollen zudem nur dann durch Volksentscheide ratifiziert werden können, wenn sie das Parlament mit Zweidrittelmehrheit zur Abstimmung stellt. Dies soll auch mit jenen Verträgen geschehen, die ‘wichtige außenpolitische Weichenstellungen darstellen und nach Auffassung des Parlaments von breiten Bevölkerungskreisen direkt inhaltlich mitgetragen werden sein sollten.’ Im Gesetzgebungsverfahren ist Rot-Grün auf Stimmen von Union und FDP angewiesen, da die notwendige Grundgesetzänderung nur mit Zweidrittelmehrheit erfolgen kann. Der Gesetzentwurf dient daher zugleich als Diskussionsgrundlage mit den Oppositionsparteien. ‘Dabei wird mehr als nur das Fundament übrig bleiben müssen, damit das Gesetz in Kraft treten kann’, sagte ein Mitglied der SPD-Fraktionsführung. Die SPD-Rechtsexperten werden in den kommenden Tagen mit ihren Kollegen aus der Unionsfraktion erste Gespräche führen, um die Möglichkeiten einer Einigung auszuloten. Sie signalisierten bereits Bereitschaft, das Quorum bei einfach Gesetzen von zehn auf 15 Prozent Zustimmung zu erhöhen. Bisher lehnten CDU und CSU Volksentscheide ab. Nach den Diskussionen über ein Referendum über die EU-Verfassung und einen möglichen EU-Beitritt der Türkei setzt die SPD nun auf eine geänderte Einstellung bei ihrem Konkurrenten. ‘Da hat sich eine Eigendynamik entwickelt, der sich auch die Unionsführung nicht mehr widersetzen kann’, sagte einer der SPDGesetzesinitiatoren. In der FDP traf der rot-grüne Vorstoß auf unterschiedliche Resonanz. Der Bundestagsabgeordnete Daniel Bahr steht der Idee ‘grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber’. Er werde den Gesetzentwurf ‘wohlwollend prüfen’, sagte er der WELT. Die FDP-Spitzenfrau im Europaparlament, Silvana Koch-Mehrin, nennt den Entwurf dagegen ‘scheinheilig, weil Rot-Grün direkte Demokratie mit dem Holzhammer einführen will’. Dafür gebe es im Bundestag nicht die nötige Zweidrittelmehrheit. Statt dessen sollte es eine Grundgesetzänderung geben, die ein Referendum über die EU-Verfassung vorsieht. ‘Das wäre ein Probelauf für mehr direkte Demokratie’, sagte Koch-Mehrin. Eine Einzelregelung lehnt die Bundesregierung jedoch kategorisch ab. Mitarbeit: mdl“ (DIE WELT 19.10.04) Man könnte die Eröffnung von Volksbegehren und Volksentscheiden an verschiedenen Stellen im GG »anbinden«. Favorisiert wird nach den Vorstellungen der Koalition, im Anschluss an den Artikel 78 des Grundgesetzes (Zustandekommen der Gesetze) die Einzelheiten der Möglichkeiten direkter Demokratie in neuen Artikeln (78a bis 78 d) zu regeln. Nicht alles soll zur Abstimmung des Wahlbürgers gestellt werden können: „Ausgeschlossen sind Volksinitiativen über das Haushaltsgesetz, über Abgabengesetze sowie über eine Wiedereinführung der Todesstrafe.” Falls der Bundestag nicht innerhalb von acht Monaten den Gesetzentwurf einer Volksinitiative beschließt, kann nach dem Entwurf „ein Volksbegehren auf Durchführung eines Volksentscheids” eingeleitet werden. Das Volksbegehren sei zustande gekommen, wenn ihm innerhalb von sechs Monaten fünf Prozent der Wahlberechtigten zugestimmt hätten. Für den Fall, dass die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages das beantragte Gesetz für verfassungswidrig hielten, sei die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Nach einem erfolgreichen Volksbegehren soll nach den Vorstellungen der Koalition innerhalb von sechs Monaten ein Volksentscheid stattfinden, es sei denn, dass zuvor das beantragte Gesetz durch Entscheidungen von Bundestag und Bundesrat beschlossen worden sei.

757

Im Falle eines Volksentscheids soll der Bundestag die Möglichkeit erhalten, dem Entwurf der Volksinitiative einen eigenen Gesetzentwurf zur Abstimmung entgegenzustellen. Anders als in dem - damals an der erforderlichen Zweidrittelhürde gescheiterten - Gesetzentwurf der vergangenen Legislaturperiode fügten die Spitzen der Koalitionsfraktionen nun die Möglichkeit von Volksbefragungen (Referendum) ein.

8 Reform-Ideen zur Umgestaltung unserer durch Verschmelzung in der EU und Globalisierungsherausforderungen neuen Erfordernissen anzupassenden Verfassung Die Formulierung der Grundrechte – die Schmuckstücke unserer Verfassung, die auch schon anderen Ländern wie Griechenland nach der Obristen-Diktatur, Spanien nach Ende der Franco-Diktatur, der Südafrikanische Union nach Beendigung des Apartheidsystems als Vorlage für ihre Verfassungen gedient haben – ist bei diesen Überlegungen außen vor. In einer Artikelserie listete der SPIEGEL (12.-26.05.03) als in der politisch-rechtlichen Diskussion befindlichen hauptsächlichen Änderungsbedarf bezüglich einer nach einem halben Jahrhundert dringlich vorzunehmenden Anpassung des Grundgesetzes an die geänderten Verhältnisse auf: 1. Die Ministerpräsidenten dürfen im Bund nicht mehr mitregieren. Der Bundesrat muss abgeschafft werden oder neue Aufgaben bekommen. 2. Das Kartell der Länder muss gebrochen werden. Absprachen und Konsens-Pflege bringen Stillstand. Stattdessen müssen die Länder, durch Neugliederung gestärkt, miteinander und mit den europäischen Nachbarn in Konkurrenz treten. 3. Die Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern müssen neu aufgeteilt werden. Vor allem über ihre Steuern sollen die Länder selbst bestimmen dürfen. 4. Der Bund bekommt ganz neue Vermittlungsaufgaben zwischen Europa und den Regionen. 5. Politiker werden in wichtige Ämter direkt vom Volk gewählt. Das macht sie unabhängiger. 6. Mit Plebisziten können Gesetzesbeschlüsse des Parlaments erzwungen oder rückgängig gemacht werden. 7. Die Parteien sind vom Grundgesetz mit zu viel Macht ausgestattet, sie müssen sich mehr um Meinungsbildung und politische Programme kümmern. 8. Die Macht der Verbände beruht auf einem veralteten Pluralismus-Konzept. Der häufig rücksichtslos genutzte Einfluss von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und anderen Interessengruppen muss grundgesetzlich eingeschränkt werden. 9. Der Rechtsstaat behindert die Bürger, statt sie zu schützen. Gesetze müssen einfacher werden, ihre Zahl sollte zurückgehen. Die gesetzlichen Handlungsspielräume für die Regierung müssen größer werden. 10. Die Rechtsweggarantie des Grundgesetzes geht zu weit. Mit weniger Justiz und weniger Richtern werden Staat und Gesellschaft beweglicher. All diese Forderungen – die man nicht teilen muss – seien von Verfassungsexperten in Reformkommissionen seit langem diskutiert und immer wieder beschrieben worden. Verändert habe sich bisher nichts.

758

V. TEIL DAS GESETZ ZUM SCHUTZ DER JUGEND IN DER ÖFFENTLICHKEIT (JÖSCHG) ALS BEISPIEL FÜR DIE SCHWIERIGKEITEN KONKRETER GESETZESABFASSUNG, -ANWENDUNG UND MÖGLICHER -VERBESSERUNG Die bisher behandelten Gesetze waren für die Erlebniswelt der Zielgruppe Schüler sehr entfernt gewesen. Es wird für sie zum Teil mehr ein Geschichtsunterricht mit aktuellen Bezügen an Hand von Presseberichten gewesen sein. Um die Schüler selber erleben zu lassen, - dass Gesetze Kompromisse sind, - welche Schwierigkeiten bei Gesetzesabfassung, -anwendung und möglicher Reform zu überwinden sind, - dass dabei manchmal Entscheidungen gefällt werden müssen, für deren getroffene oder als Änderung angestrebte Normierung es letztlich keine rational zwingenden Maßstäbe gibt (in diesem Fall z.B. Festsetzung der Altersschutzgrenzen, wobei der Unfug der 2002 erwogenen Herabsetzung der Altersgrenze für DiscoBesuche von 16 auf 14 Jahre im letzten Augenblick gestoppt wurde und darum gar nicht hier erscheint) und somit unangreifbare gesetzliche Problemlösungen unmöglich sind, - dass "Neben"-Gesetze aus Unwissenheit relativ folgenlos übertreten werden - welche Eltern haben z.B. nicht schon einmal ihren noch relativ jungen Kindern anlässlich eines gemeinsamen Gaststättenaufenthaltes erlaubt, einen dort aufgehängten Geldspielautomaten auszuprobieren wird ein in dem Buch Schönitz, B.: Recht; ein Thema politischer Bildung Unterrichtserfahrungen aus der Sekundarstufe 1 Colloquium Verlag Berlin 1977 ausführlich dargestellter Unterrichtsvorschlag aufgegriffen. Schönitz wählte als Einstieg ein bei der Berliner Landeszentrale für politische Bildung (jedenfalls damals) ausleihbares 30-minütiges Hörspiel "Jugendschutz in der Öffentlichkeit" mit folgendem Inhalt, der eventuell ohne Hörspielmöglichkeit als "Papierfall" angeboten werden könnte: Eine Gruppe 15-17-Jähriger versucht, sich hochprozentigen Alkohol (Branntwein) zu beschaffen. In einem Lokal können sie sich aus Altersgründen keinen Schnaps bestellen, aber in einem Supermarkt erhalten sie - unerlaubterweise - den Alkohol, den sie anschließend in einer Privatwohnung trinken. In angetrunkenem Zustand verunglückt einer der Jungen mit dem Moped, ein Mädchen aus der Gruppe wird dabei schwer verletzt. Die Schüler erhielten den damals geltenden Wortlaut des Jugendschutzgesetzes - der vor der Neufassung 1985 wesentlich mehr Zündstoff für Auseinandersetzungen enthielt - mit dem Auftrag, sich in Gruppen zusammenzufinden, den Text durchzusprechen und konkrete Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Dafür war die zweite Unterrichtsstunde vorgesehen. In der dritten Stunde wurden die Ergebnisse in einem Rundgespräch zusammengetragen, das von einem Schüler geleitet worden ist. Die Schüler mussten ihre jeweils abweichenden Meinungen zu begründen suchen. Sie waren natürlich mehrheitlich gegen Bewahrung und für geregelte(!) Konfrontation mit Gefahren i.S.d. Jugendschutzgesetzes. Da Schönitz nicht Jurist war, hatte er wohl nicht gesehen - jedenfalls findet sich kein Hinweis darauf -, dass wegen § 12 JÖSchG das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) mitgedacht und darum mitgelesen werden muss, wenn über die Sanktionen gegen Eltern und Betriebsinhaber gesprochen wird. Die in diesem Zusammenhang erforderlichen Vorschriften werden - u.a. wegen ihres Anklanges an das Strafrecht - in der damals gültigen Form mit abgedruckt. Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit in der Fassung vom 27. Juli 1957 (Jugendschutzgesetz - JÖSchG) § 1 [Begriffsbestimmungen; Aufenthalt an jugendgefährdenden Orten].

759

(1) Kinder und Jugendliche, die sich an Orten aufhalten, an denen ihnen eine sittliche Gefahr oder Verwahrlosung droht, sind durch die zuständigen Behörden oder Stellen dem Jugendamt zu melden. (2) Sie sind außerdem zum Verlassen eines Ortes anzuhalten, wenn eine ihnen dort unmittelbar drohende Gefahr nicht unverzüglich beseitigt werden kann. Wenn nötig, sind sie dem Erziehungsberechtigten zuzuführen oder, wenn dieser nicht erreichbar ist, in die Obhut des Jugendamtes zu bringen. (3) Kind im Sinne dieses Gesetzes ist, wer noch nicht vierzehn, Jugendlicher, wer vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist. (4) Erziehungsberechtigter im Sinne dieses Gesetzes ist, wer das Recht und die Pflicht hat, für die Person des Kindes oder Jugendlichen zu sorgen. In den Fällen der §§ 2 bis 4 stehen den Erziehungsberechtigten Personen über 21 Jahre gleich, die mit Zustimmung des Sorgeberechtigten (Satz 1) das Kind oder den Jugendlichen zur Erziehung, Ausbildung, Aufsicht oder Betreuung in ihre Obhut genommen haben. § 2 [Aufenthalt in Gaststätten]. (1) Der Aufenthalt in Gaststätten darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nur gestattet werden, wenn ein Erziehungsberechtigter sie begleitet. (2) Dies gilt nicht, wenn die Kinder oder Jugendlichen 1. an einer Veranstaltung teilnehmen, die der geistigen, sittlichen oder beruflichen Förderung der Jugendlichen dient, 2. sich auf Reisen befinden oder 3. eine Mahlzeit oder ein Getränk einnehmen, solange dazu der Aufenthalt in der Gaststätte erforderlich ist. § 3 [Alkoholische Getränke]. (1) Kindern und Jugendlichen darf in Gaststätten und Verkaufsstellen Branntwein weder abgegeben noch sein Genuß gestattet werden. Das gleiche gilt für überwiegend branntweinhaltige Genußmittel. (2) Andere alkoholische Getränke dürfen in Gaststätten und Verkaufsstellen zum eigenen Genuß nicht abgegeben werden 1. Kindern, 2. Jugendlichen unter sechzehn Jahren, die nicht von einem Erziehungsberechtigten begleitet werden. § 4 [Öffentliche Tanzveranstaltungen]. (1) Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren darf die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen nicht gestattet werden. (2) Jugendlichen von sechzehn Jahren oder darüber darf die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen bis 24 Uhr gestattet werden, jedoch ab 22 Uhr nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. (3) Ausnahmen von Absatz 1 und 2 können auf Vorschlag der in § 2 des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt vom 9. Juli 1922 (Reichsgesetzblatt I S. 633) vorgesehenen Organe (Landesjugendamt, Jugendamt) zugelassen werden. § 5 [Varieté, Kabarett, Revue]. (1) Die Anwesenheit bei Varieté-, Kabarett- oder Revueveranstaltungen darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. (2) § 4 Abs. 3 gilt entsprechend. § 6 [Filmveranstaltungen]. (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen darf Kindern unter sechs Jahren nicht gestattet werden. (2) Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen darf gestattet werden 1. Kindern, die sechs, aber noch nicht zwölf Jahre alt sind, wenn die vorgezeigten Filme zur Vorführung vor Kindern dieses Alters freigegeben sind und die Vorführung bis spätestens 20 Uhr beendet ist, 2. Kindern und Jugendlichen, die zwölf, aber noch nicht sechzehn Jahre alt sind, wenn die vorgezeigten Filme zur Vorführung vor Kindern und Jugendlichen dieses Alters freigegeben sind und die Vorführung bis spätestens 22 Uhr beendet ist,

760

3. Jugendlichen, die sechzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt sind, wenn die vorgezeigten Filme zur Vorführung vor Kindern und Jugendlichen dieses Alters freigegeben sind und die Vorführung bis spätestens 23 Uhr beendet ist. (3) Filme, die geeignet sind, die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur leiblichen, seelischen oder gesellschaftlichen Tüchtigkeit zu beeinträchtigen, dürfen nicht zur Vorführung vor diesen freigegeben werden. (4) Das Recht der Freigabe von Filmen für Kinder und Jugendliche steht der obersten Landesbehörde zu. Sie kennzeichnet die Filme gemäß Absatz 2 Nr. 1 mit "Freigegeben ab sechs Jahren", Nr. 2 mit "Freigegeben ab zwölf Jahren", Nr. 3 mit "Freigegeben ab sechzehn Jahren" und alle übrigen Filme mit "Freigegeben ab achtzehn Jahren". (5) Die Absätze 1 bis 4 gelten auch für Werbeprogramme und Beiprogramme. § 7 [Spielhallen, Glücksspiele]. (1) Kindern und Jugendlichen darf nicht gestattet werden, 1. in öffentlichen Spielhallen oder ähnlichen, vorwiegend dem Spielbetrieb dienenden Räumen anwesend zu sein, in denen Glücksspiele veranstaltet werden oder in denen mit mechanischer Vorrichtung ausgestattete Spielgeräte aufgestellt sind, oder 2. in der Öffentlichkeit an Glücksspielen teilzunehmen oder öffentlich aufgestellte Spielgeräte mit mechanischer Vorrichtung zu benutzen, welche die Möglichkeit eines Gewinnes bieten. (2) § 4 Abs. 3 gilt entsprechend. (3) Absatz 1 gilt nicht für die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an Spielen mit Gewinnmöglichkeiten bei Volksbelustigungen unter freiem Himmel und von vorübergehender Dauer, wenn als Gewinne nur Waren von geringem Wert verabfolgt werden. § 8 [Veranstaltungen mit verrohendem Einfluß]. (1) Der Bundesminister für Familie und Jugend ist ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Veranstaltungen zu bezeichnen, die ihrer Art nach geeignet sind, auf Kinder und Jugendliche einen verrohenden Einfluß auszuüben. (2) Kindern und Jugendlichen darf die Anwesenheit bei Veranstaltungen nicht gestattet werden, die in einer auf Grund des Absatzes 1 ergangenen Rechtsverordnung bezeichnet sind. § 9 [Rauchen in der Öffentlichkeit]. (1) Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren darf der Tabakgenuß in der Öffentlichkeit nicht gestattet werden. § 10 [Bekanntmachung der Beschränkungen]. (1) Veranstalter und Gewerbetreibende haben die nach den §§ 2 bis 9 für ihre Betriebseinrichtungen und Veranstaltungen geltenden Vorschriften in einer deutlich erkennbaren Form bekanntzumachen. Zur Bekanntmachung der Freigabe von Filmen dürfen sie nur die Kennzeichnung des § 6 Abs. 4 Satz 2 verwenden. § 11 [Keine Geltung für verheiratete Jugendliche]. Dieses Gesetz gilt nicht für verheiratete Jugendliche. § 12 [Maßnahmen des Jugendamtes]. Bei Kindern und Jugendlichen, die 1. gemäß § 1 gemeldet werden, 2. bei dem Aufenthalt in Räumen, der Teilnahme an Veranstaltungen oder bei Betätigungen entgegen den Vorschriften der §§ 2 und 4 bis 8 angetroffen werden oder 3. bei einem nach den §§ 3 und 9 verbotenen Genuß von alkoholischen Getränken oder Tabak betroffen werden, leitet das Jugendamt die auf Grund der bestehenden Vorschriften zulässigen Maßnahmen ein. Der Vormundschaftsrichter kann auf Antrag des Jugendamtes oder von Amts wegen Weisungen erteilen. § 13 [Strafbestimmungen]. (1) Wer als Veranstalter oder Gewerbetreibender

761

1. einer der in den §§ 2 bis 9 enthaltenen Vorschriften zuwiderhandelt und dadurch wenigstens leichtfertig ein Kind oder einen Jugendlichen in seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet oder 2. Zuwiderhandlungen gegen die §§ 2 bis 9 beharrlich wiederholt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. § 14 [Ordnungswidrigkeiten] (1) Ordnungswidrig handelt, wer 1. als Veranstalter oder Gewerbetreibender vorsätzlich oder fahrlässig einer der in den §§ 2 bis 10 enthaltenen Vorschriften zuwiderhandelt oder 2. als Person über einundzwanzig Jahren ein Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen herbeiführt oder fördert, das durch die §§ 1 bis 9 verhindert werden soll. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden. § 15 [Strafvorschriften des GjS]. Die Strafbarkeit verbotener Filmvorführungen vor Kindern oder Jugendlichen nach § 21 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften bleibt unberührt.

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 1975 (Auszüge) Erster Abschnitt. Geltungsbereich § 1 Begriffsbestimmung. (1) Eine Ordnungswidrigkeit ist eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, die den Tatbestand eines Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße zuläßt. (2) Eine mit Geldbuße bedrohte Handlung ist eine rechtswidrige Handlung, die den Tatbestand eines Gesetzes im Sinne des Absatzes 1 verwirklicht, auch wenn sie nicht vorwerfbar begangen ist. § 2 Sachliche Geltung. Dieses Gesetz gilt für Ordnungswidrigkeiten nach Bundesrecht und Landesrecht. § 3 Keine Ahndung ohne Gesetz. Eine Handlung kann als Ordnungswidrigkeit nur geahndet werden, wenn die Möglichkeit der Ahndung gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. § 7 Ort der Handlung. (1) Eine Handlung ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter tätig geworden ist oder im Falle des Unterlassens hätte tätig werden müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. (2) Die Handlung eines Beteiligten ist auch an dem Ort begangen, an dem der Tatbestand des Gesetzes, das die Ahndung mit einer Geldbuße zuläßt, verwirklicht worden ist oder nach der Vorstellung des Beteiligten verwirklicht werden sollte. Zweiter Abschnitt. Grundlagen der Ahndung § 8 Begehen durch Unterlassen. Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand einer Bußgeldvorschrift gehört, handelt nach dieser Vorschrift nur dann ordnungswidrig, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. § 10 Vorsatz und Fahrlässigkeit. Als Ordnungswidrigkeit kann nur vorsätzliches Handeln geahndet werden, außer wenn das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Geldbuße bedroht.

762

§ 11 Irrtum. (1) Wer bei Begehung einer Handlung einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Möglichkeit der Ahndung wegen fahrlässigen Handelns bleibt unberührt. (2) Fehlt dem Täter bei der Begehung der Handlung die Einsicht, etwas Unerlaubtes zu tun, namentlich weil er das Bestehen oder die Anwendbarkeit einer Rechtsvorschrift nicht kennt, so handelt er nicht vorwerfbar, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. § 12 Verantwortlichkeit. (1) Nicht vorwerfbar handelt, wer bei Begehung einer Handlung noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Ein Jugendlicher handelt nur unter den Voraussetzungen des § 3 Satz 1 Jugendgerichtsgesetz vorwerfbar. (2) ... Dritter Abschnitt. Geldbuße § 17 Höhe der Geldbuße. (1) Die Geldbuße beträgt mindestens fünf Deutsch Mark und, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens tausend Deutsche Mark. (2) Droht das Gesetz für vorsätzliches und fahrlässiges Handeln Geldbuße an, ohne im Höchstmaß zu unterscheiden, so kann fahrlässiges Handeln im Höchstmaß nur mit der Hälfte des angedrohten Höchstbetrages der Geldbuße geahndet werden. (3) ... (4) Die Geldbuße soll den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat, übersteigen. Reicht das gesetzliche Höchstmaß hierzu nicht aus, so kann es überschritten werden. Zweiter Teil. Bußgeldverfahren Erster Abschnitt. Zuständigkeit zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten § 35 Verfolgung und Ahndung durch die Verwaltungsbehörde. (1) Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten ist die Verwaltungsbehörde zuständig, soweit nicht hierzu nach diesem Gesetz die Staatsanwaltschaft oder an ihrer Stelle für einzelne Verfolgungshandlungen der Richter berufen ist. (2) Die Verwaltungsbehörde ist auch für die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten zuständig, soweit nicht hierzu nach diesem Gesetz das Gericht berufen ist. Dritter Abschnitt. Vorverfahren I. Allgemeine Vorschriften § 56 Verwarnung durch die Verwaltungsbehörde. (1) Bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten kann die Verwaltungsbehörde den Betroffenen verwarnen und ein Verwarnungsgeld erheben, das mindestens zwei und, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens zwanzig Deutsche Mark beträgt. Sie soll eine solche Verwarnung erteilen, wenn eine Verwarnung ohne Verwarnungsgeld unzureichend ist. Vierter Abschnitt. Bußgeldbescheid § 65 Allgemeines. Die Ordnungswidrigkeit wird, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, durch Bußgeldbescheid geahndet.

Nachdem der Ausgangsfall nach dem alten JÖSchG abgehandelt worden war und sich vielleicht die Aufregung der Jugendlichen wegen der "Gängelung" durch den Gesetzgeber etwas gelegt hatte, sollten sie Vorschläge unterbreiten, an welcher Stelle sie das JÖSchG aus welchem Grund durch welche andere Bestimmung ändern würden. Anschließend konnte dann der behandelten alten Fassung die danach erlassene Neufassung des JÖSchG

763

gegenübergestellt werden. Die Jugendlichen konnten sehen, inwieweit der Gesetzgeber ihren Vorstellungen, Wünschen und Forderungen nachgekommen ist und wie sich die Vorstellungen des Gesetzgebers über die Stellung der Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft gewandelt haben. Das wird u.a. an dem im BGB verwandten Begriff der "elterlichen Sorge für" statt der "elterlichen Gewalt über" die eigenen Kinder deutlich. Diese veränderte Sichtweise hat ihren Niederschlag auch in der Neufassung des JÖSchG gefunden. Weitere Neufassungen erfolgten. Es müßte auch möglich sein, nach der im Klassen- oder Kursverband vorgenommenen Gegenüberstellung der verschiedenen Gesetzesfassungen einen Vertreter des Jugendamtes als "Sachverständigen" einzuladen und die im Zusammenhang mit dem JÖSchG stehenden Probleme zu erörtern.

Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (Jugendschutzgesetz - JÖSchG) in der Neufassung vom 25.02.85, in Kraft getreten ab 01.04.85 §1 Halten sich Kinder oder Jugendliche an Orten auf, an denen ihnen eine unmittelbare Gefahr für ihr körperliches, geistiges oder seelisches Wohl droht, so haben die zuständigen Behörden oder Stellen die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wenn nötig, haben sie die Kinder oder Jugendlichen 1. zum Verlassen des Ortes anzuhalten, 2. einem Erziehungsberechtigten zuzuführen oder, wenn kein Erziehungsberechtigter erreichbar ist, in die Obhut des Jugendamtes zu bringen. In schwierigen Fällen haben die zuständigen Behörden oder Stellen das Jugendamt über den jugendgefährdenden Ort zu unterrichten. §2 (1) Kind im Sinne dieses Gesetzes ist, wer noch nicht vierzehn, Jugendlicher, wer vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist. (2) Erziehungsberechtigter im Sinne dieses Gesetzes ist 1. jede Person, der allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches die Personensorge zusteht, 2. jede sonstige Person über achtzehn Jahre, soweit sie auf Grund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten Aufgaben der Personensorge wahrnimmt oder soweit sie das Kind oder den Jugendlichen im Rahmen der Ausbildung oder mit der Zustimmung des Personensorgeberechtigten im Rahmen der Jugendhilfe betreut. (3) Soweit es nach diesem Gesetz auf die Begleitung durch einen Erziehungsberechtigten ankommt, haben die in Absatz 2 Nr. 2 genannten Personen ihre Berechtigung auf Verlangen darzulegen. Veranstalter und Gewerbetreibende haben in Zweifelsfällen die Berechtigung zu überprüfen. (4) Soweit nach diesem Gesetz Altersgrenzen zu beachten sind, haben Kinder und Jugendliche ihr Lebensalter auf Verlangen in geeigneter Weise nachzuweisen. Veranstalter und Gewerbetreibende haben in Zweifelsfällen das Lebensalter zu überprüfen. (5) Dieses Gesetz gilt nicht für verheiratete Jugendliche. §3 (1) Der Aufenthalt in Gaststätten darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nur gestattet werden, wenn ein Erziehungsberechtigter sie begleitet. Dies gilt nicht, wenn Kinder oder Jugendliche 1. an einer Veranstaltung eines anerkannten Trägers der Jugendhilfe teilnehmen, 2. sich auf Reisen befinden oder 3. eine Mahlzeit oder ein Getränk einnehmen. (2) Jugendlichen ab sechzehn Jahren ist der Aufenthalt in Gaststätten ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten bis 24 Uhr gestattet. (3) Der Aufenthalt in Gaststätten, die als Nachtbar oder Nachtclub geführt werden, und in vergleichbaren Vergnügungsbetrieben darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. §4 (1) In Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit dürfen 1. Branntwein, branntweinhaltige Getränke oder Lebensmittel, die Branntwein in nicht nur

764

geringfügiger Menge enthalten, an Kinder und Jugendliche, 2. andere alkoholische Getränke an Kinder und Jugendliche unter sechzehn Jahren weder abgegeben noch darf ihnen der Verzehr gestattet werden. (2) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn Jugendliche von einem Personensorgeberechtigten (§ 2 Abs. 2 Nr. 1) begleitet werden. (3) In der Öffentlichkeit dürfen alkoholische Getränke nicht in Automaten angeboten werden. Dies gilt nicht, wenn ein Automat in einem gewerblich genutzten Raum aufgestellt und durch Vorrichtungen oder durch ständige Aufsicht sichergestellt ist, daß Kinder und Jugendliche unter sechzehn Jahren alkoholische Getränke nicht aus dem Automaten entnehmen können. § 20 Nr. 1 des Gaststättengesetzes bleibt unberührt. §5 (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nicht und Jugendlichen ab sechzehn Jahren längstens bis 24 Uhr gestattet werden. (2) Abweichend von Absatz 1 darf die Anwesenheit Kindern bis 22 Uhr und Jugendlichen unter sechzehn Jahren bis 24 Uhr gestattet werden, wenn die Tanzveranstaltung von einem anerkannten Träger der Jugendhilfe durchgeführt wird oder der künstlerischen Betätigung oder der Brauchtumspflege dient. (3) Ausnahmen von Absatz 1 können auf Vorschlag des Jugendamtes zugelassen werden. §6 (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen darf Kindern und Jugendlichen nur gestattet werden, wenn die Filme von der obersten Landesbehörde zur Vorführung vor ihnen freigegeben worden sind. Kindern unter sechs Jahren darf die Anwesenheit nur gestattet werden, wenn sie von einem Erziehungsberechtigten begleitet sind. (2) Filme, die geeignet sind, das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen, dürfen nicht zur Vorführung vor ihnen freigegeben werden. (3) Die oberste Landesbehörde kennzeichnet die Filme mit 1. "Freigegeben ohne Altersbeschränkung", 2. "Freigegeben ab sechs Jahren", 3. "Freigegeben ab zwölf Jahren", 4. "Freigegeben ab sechzehn Jahren", 5. "Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren". Kommt in Betracht, daß ein nach Satz 1 Nr. 5 gekennzeichneter Film den Tatbestand des § 131 oder des § 184 des Strafgesetzbuches erfüllt, ist dies der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen. (4) Im Rahmen der Absätze 1 und 3 Satz 1 darf die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten nur gestattet werden 1. Kindern, wenn die Vorführung bis 20 Uhr, 2. Jugendlichen unter sechzehn Jahren, wenn die Vorführung bis 22 Uhr, 3. Jugendlichen über sechzehn Jahren, wenn die Vorführung bis 24 Uhr beendet ist. (5) Die Absätze 1 bis 4 gelten für die öffentliche Vorführung von Filmen unabhängig von der Art der Aufzeichnung und Wiedergabe. Sie gelten auch für Werbevorspanne und Beiprogramme. (6) Die Absätze 1 bis 4 gelten nicht für Filme, die zu nichtgewerblichen Zwecken hergestellt werden, solange die Filme nicht gewerblich genutzt werden. (7) Auf Filme, die von der obersten Landesbehörde nach Absatz 3 Satz 1 gekennzeichnet worden sind, finden die §§ 1 und 11 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften keine Anwendung. §7 (1) Bespielte Videokassetten, Bildplatten und vergleichbare Bildträger dürfen Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit nur zugänglich gemacht werden, wenn die Programme von der obersten Landesbehörde für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind. (2) Für die Freigabe und Kennzeichnung findet § 6 Abs. 2 und 3 Satz 1 und Abs. 6 entsprechende Anwendung. Auf die Alterseinstufung ist mit einem fälschungssicheren Zeichen hinzuweisen. Das Zeichen ist vom Inhaber der Nutzungsrechte auf dem Bildträger und auf der Hülle in einer deutlich

765

sichtbaren Form anzubringen, bevor der Bildträger an den Handel geliefert oder in sonstiger Weise gewerblich verwertet wird. (3) Bildträger, die von der obersten Landesbehörde nicht oder mit "Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren" gekennzeichnet worden sind, dürfen 1. einem Kind oder Jugendlichen nicht angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden, 2. nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden. (4) In der Öffentlichkeit dürfen bespielte Bildträger nicht in Automaten angeboten werden. (5) Auf Bildträger, die von der obersten Landesbehörde nach Absatz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 gekennzeichnet worden sind, finden die §§ 1 und 11 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften keine Anwendung. (6) § 6 Abs. 3 Satz 2 findet entsprechende Anwendung. §8 (1) Die Anwesenheit in öffentlichen Spielhallen oder ähnlichen vorwiegend dem Spielbetrieb dienenden Räumen darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. (2) Die Teilnahme an Spielen mit Gewinnmöglichkeit in der Öffentlichkeit darf Kindern und Jugendlichen nur auf Volksfesten, Schützenfesten, Jahrmärkten, Spezialmärkten oder ähnlichen Veranstaltungen gestattet werden, wenn der Gewinn in Waren von geringem Wert besteht. (3) Elektronische Bildschirm-Unterhaltungsspielgeräte ohne Gewinnmöglichkeit dürfen zur entgeltlichen Benutzung 1. auf Kindern und Jugendlichen zugänglichen öffentlichen Verkehrsflächen, 2. außerhalb von gewerblich oder in sonstiger Weise beruflich oder geschäftsmäßig genutzten Räumen oder 3. in deren unbeaufsichtigten Zugängen, Vorräumen oder Fluren nicht aufgestellt werden. (4) Das Spielen an elektronischen Bildschirm-Unterhaltungsspielgeräten ohne Gewinnmöglichkeit, die zur entgeltlichen Benutzung öffentlich aufgestellt sind, darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten nicht gestattet werden. (5) Unterhaltungsspielgeräte, mit denen sexuelle Handlungen oder Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Tiere dargestellt werden oder die eine Verherrlichung oder Verharmlosung des Krieges zum Gegenstand haben, dürfen in der Öffentlichkeit an Kindern und Jugendlichen zugänglichen Orten nicht aufgestellt werden. §9 Das Rauchen in der Öffentlichkeit darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nicht gestattet werden. § 10 Geht von einer öffentlichen Veranstaltung oder einem Gewerbebetrieb eine Gefährdung im Sinne des § 1 Satz 1 aus, die durch Anwendung der §§ 3 bis 8 nicht ausgeschlossen oder wesentlich gemindert werden kann, so kann die zuständige Behörde anordnen, daß der Veranstalter oder Gewerbetreibende Kindern und Jugendlichen die Anwesenheit nicht gestatten darf. Die Anordnung kann Alters- oder Zeitbegrenzungen enthalten, wenn dadurch die Gefährdung ausgeschlossen oder wesentlich gemindert wird. § 11 Veranstalter und Gewerbetreibende haben die nach den §§ 3 bis 10 für ihre Betriebseinrichtungen und Veranstaltungen geltenden Vorschriften sowie die Alterseinstufung von Filmen durch deutlich sichtbaren und gut lesbaren Aushang bekanntzumachen. Zur Bekanntmachung der Alterseinstufung von Filmen und Bildträgern dürfen sie nur die Kennzeichnungen des § 6 Abs. 3 Satz 1 verwenden. Für Filme und Bildträger, die von der obersten Landesbehörde nach § 6 Abs. 3 Satz 1 gekennzeichnet worden sind, darf bei der Ankündigung und bei der Werbung weder auf jugendgefährdende Inhalte hingewiesen werden noch darf die Ankündigung oder die Werbung in jugendgefährdender Weise erfolgen. § 12

766

(1) Ordnungswidrig handelt, wer als Veranstalter oder Gewerbetreibender vorsätzlich oder fahrlässig 1. entgegen § 3 einem Kind oder einem Jugendlichen den Aufenthalt in einer Gaststätte gestattet, 2. entgegen § 4 Abs. 1 ein alkoholisches Getränk oder Lebensmittel an ein Kind oder einen Jugendlichen abgibt oder ihm den Verzehr gestattet, 3. entgegen § 4 Abs. 3 Satz 1 ein alkoholisches Getränk in einem Automaten anbietet, 4. entgegen § 5 Abs. 1 einem Kind oder einem Jugendlichen unter sechzehn Jahren die Anwesenheit bei einer öffentlichen Tanzveranstaltung gestattet, 5. entgegen § 6 Abs. 1 oder 4 einem Kind oder einem Jugendlichen unter sechzehn Jahren die Anwesenheit bei einer öffentlichen Filmveranstaltung gestattet, 6. entgegen § 7 Abs. 1 einem Kind oder einem Jugendlichen einen bespielten Bildträger, der nicht für seine Altersstufe freigegeben ist, zugänglich macht, 7. entgegen § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 ein Zeichen nicht, nicht in der dort bezeichneten Form oder in einer der Alterseinstufung durch die oberste Landesbehörde nicht entsprechenden Weise anbringt, 8. entgegen § 7 Abs. Nr. 2 einen nicht freigegebenen Bildträger anbietet oder überläßt, 9. entgegen § 7 Abs. 4 einen bespielten Bildträger in einem Automaten anbietet, 10. entgegen § 8 Abs. 1 einem Kind oder einem Jugendlichen die Anwesenheit in einer öffentlichen Spielhalle oder einem dort bezeichneten Raum gestattet, 11. entgegen § 8 Abs. 2 einem Kind oder einem Jugendlichen die Teilnahme an einem Spiel mit Gewinnmöglichkeit gestattet, 12. entgegen § 8 Abs. 3 oder 5 ein Unterhaltungsspielgerät aufstellt, 13. entgegen § 8 Abs. 4 einem Kind oder einem Jugendlichen unter sechzehn Jahren die Benutzung eines Unterhaltungsspielgerätes gestattet, 14. entgegen § 9 einem Kind oder einem Jugendlichen unter sechzehn Jahren das Rauchen in der Öffentlichkeit gestattet oder 15. einer vollziehbaren Anordnung nach § 10 zuwiderhandelt, 16. entgegen § 11 Satz 1 die für seine Betriebseinrichtung oder Veranstaltung geltenden Vorschriften nicht durch den dort bezeichneten Aushang bekanntmacht, 17. entgegen § 11 Satz 2 nicht die Kennzeichnungen des § 6 Abs. 3 Satz 1 verwendet, 18. entgegen § 11 Satz 3 bei der Ankündigung oder bei der Werbung auf jugendgefährdende Inhalte hinweist oder in jugendgefährdender Weise ankündigt oder wirbt. (2) Ordnungswidrig handelt auch, wer als Person über achtzehn Jahre ein Verhalten eines Kindes oder eines Jugendlichen herbeiführt oder fördert, das durch ein in Absatz 1 Nr. 1 bis 14 bezeichnetes oder in § 7 Abs. 3 Nr. 1 enthaltenes Verbot oder durch eine vollziehbare Anordnung nach § 10 verhindert werden soll. Hinsichtlich des Verbots in § 7 Abs. 3 Nr. 1 gilt dies nicht für den Personensorgeberechtigten. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu dreißigtausend Mark geahndet werden. (4) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer als Veranstalter oder Gewerbetreibender 1. eine in Absatz 1 bezeichnete vorsätzliche Zuwiderhandlung begeht und dadurch wenigstens leichtfertig ein Kind oder einen Jugendlichen in seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet oder 2. eine in Absatz 1 bezeichnete vorsätzliche Zuwiderhandlung beharrlich wiederholt.

Die aus dem Internet heruntergeladene ab 1994 gültige Version dieses Gesetzes lautet: G E S E T Z Z U M S C H U T Z E D E R J U GE N D IN D E R Ö FFE N T LIC H KE IT ( A R T IKE L 1 D E S G E S E T Z E S Z U R N E U R E GE LU N G D E S J U GE N D S C H U T Z E S IN D E R Ö FFE N T LIC H KE IT ) S T AN D : Ä N D E R U N G D U R C H A R T . 1 6 A B S . 2 G V . 2 8 .1 0 .1 9 9 4 I 3 1 8 6 §1 Halten sich Kinder oder Jugendliche an Orten auf, an denen ihnen eine unmittelbare Gefahr für ihr körperliches, geistiges oder seelisches Wohl droht, so haben die zuständigen Behörden oder Stellen die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wenn nötig, haben sie die Kinder oder Jugendlichen 1. 2.

zum Verlassen des Ortes anzuhalten, einem Erziehungsberechtigten zuzuführen oder, wenn kein Erziehungsberechtigter erreichbar ist, in die Obhut des Jugendamtes zu

767 bringen. In schwierigen Fällen haben die zuständigen Behörden oder Stellen das Jugendamt über den jugendgefährdenden Ort zu unterrichten. §2 (1) Kind im Sinne dieses Gesetzes ist, wer noch nicht vierzehn, Jugendlicher, wer vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist. (2) Erziehungsberechtigter im Sinne dieses Gesetzes ist 1. jede Person, der allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches die Personensorge zusteht, 2. jede sonstige Person über achtzehn Jahre, soweit sie auf Grund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten Aufgaben der Personensor gewahrnimmt oder soweit sie das Kind oder den Jugendlichen im Rahmen der Ausbildung oder mit Zustimmung des Personensorgeberechtigten im Rahmen der Jugendhilfe betreut. (3) Soweit es nach diesem Gesetz auf die Begleitung durch einen Erziehungsberechtigten ankommt, haben die in Absatz 2 Nr. 2 genannten Personen ihre Berechtigung auf Verlangen darzulegen. Veranstalter und Gewerbetreibende haben in Zweifelsfällen die Berechtigung zu überprüfen. (4) Soweit nach diesem Gesetz Altersgrenzen zu beachten sind, haben Kinder und Jugendliche ihr Lebensalter auf Verlangen in geeigneter Weise nachzuweisen. Veranstalter und Gewerbetreibende haben in Zweifelsfällen das Lebensalter zu überprüfen. (5) Dieses Gesetz gilt nicht für verheiratete Jugendliche. §3 (1) Der Aufenthalt in Gaststätten darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nur gestattet werden, wenn ein Erziehungsberechtigter sie begleitet. Dies gilt nicht, wenn Kinder oder Jugendliche 1. 2. 3.

an einer Veranstaltung eines anerkannten Trägers der Jugendhilfe teilnehmen, sich auf Reisen befinden oder eine Mahlzeit oder ein Getränk einnehmen.

(2) Jugendlichen ab sechzehn Jahren ist der Aufenthalt in Gaststätten ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten bis 24 Uhr gestattet. (3) Der Aufenthalt in Gaststätten, die als Nachtbar oder Nachtclub geführt werden, und in vergleichbaren Vergnügungsbetrieben darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. §4 (1) In Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit dürfen 1. Branntwein, branntweinhaltige Getränke oder Lebensmittel, die Branntwein in nicht nur geringfügiger Menge enthalten, an Kinder und Jugendliche, 2. andere alkoholische Getränke an Kinder und Jugendliche unter sechzehn Jahren weder abgegeben noch darf ihnen der Verzehr gestattet werden. (2) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn Jugendliche von einem Personensorgeberechtigten (§ 2 Abs. 2 Nr. 1) begleitet werden. (3) In der Öffentlichkeit dürfen alkoholische Getränke nicht in Automaten angeboten werden. Dies gilt nicht, wenn ein Automat in einem gewerblich genutzten Raum aufgestellt und durch Vorrichtungen oder durch ständige Aufsicht sichergestellt ist, daß Kinder und Jugendliche unter sechzehn Jahren alkoholische Getränke nicht aus dem Automaten entnehmen können. § 20 Nr. 1 des Gaststättengesetzes bleibt unberührt. §5 (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nicht und Jugendlichen ab sechzehn Jahren längstens bis 24 Uhr gestattet werden.

768

(2) Abweichend von Absatz 1 darf die Anwesenheit Kindern bis 22 Uhr und Jugendlichen unter sechzehn Jahren bis 24 Uhr gestattet werden, wenn die Tanzveranstaltung von einem anerkannten Träger der Jugendhilfe durchgeführt wird oder der künstlerischen Betätigung oder der Brauchtumspflege dient. (3) Ausnahmen von Absatz 1 können auf Vorschlag des Jugendamtes zugelassen werden. §6 (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen darf Kindern und Jugendlichen nur gestattet werden, wenn die Filme von der obersten Landesbehörde zur Vorführung vor ihnen freigegeben worden sind. Kindern unter sechs Jahren darf die Anwesenheit nur gestattet werden, wenn sie von einem Erziehungsberechtigten begleitet sind. (2) Filme, die geeignet sind, das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen, dürfen nicht zur Vorführung vor ihnen freigegeben werden. (3) 1. 2. 3. 4. 5.

Die oberste Landesbehörde kennzeichnet die Filme mit "Freigegeben ohne Altersbeschränkung", "Freigegeben ab sechs Jahren", "Freigegeben ab zwölf Jahren", "Freigegeben ab sechzehn Jahren", "Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren".

Kommt in Betracht, daß ein nach Satz 1 Nr. 5 gekennzeichneter Film den Tatbestand des § 130 Abs. 2, des § 131 oder des § 184 des Strafgesetzbuches erfüllt, ist dies der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen. (4) Im Rahmen der Absätze 1 und 3 Satz 1 darf die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten nur gestattet werden 1. Kindern, wenn die Vorführung bis 20 Uhr, 2. Jugendlichen unter sechzehn Jahren, wenn die Vorführung bis 22 Uhr, 3. Jugendlichen über sechzehn Jahre, wenn die Vorführung bis 24 Uhr beendet ist. (5) Die Absätze 1 bis 4 gelten für die öffentliche Vorführung von Filmen unabhängig von der Art der Aufzeichnung und Wiedergabe. Sie gelten auch für Werbevorspanne und Beiprogramme. (6) Die Absätze 1 bis 5 gelten nicht für Filme, die zu nichtgewerblichen Zwecken hergestellt werden, solange die Filme nicht gewerblich genutzt werden. (7) Auf Filme, die von der obersten Landesbehörde nach Absatz 3 Satz 1 gekennzeichnet worden sind, finden die §§ 1 und 11 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften keine Anwendung. §7 (1) Bespielte Videokassetten, Bildplatten und vergleichbare Bildträger dürfen Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit nur zugänglich gemacht werden, wenn die Programme von der obersten Landesbehörde für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind. (2) Für die Freigabe und Kennzeichnung findet § 6 Abs. 2 und 3 Satz 1 und Abs. 6 entsprechende Anwendung. Auf die Alterseinstufung ist mit einem fälschungssicheren Zeichen hinzuweisen. Das Zeichen ist vom Inhaber der Nutzungsrechte auf dem Bildträger und auf der Hülle in einer deutlich sichtbaren Form anzubringen, bevor der Bildträger an den Handel geliefert oder in sonstiger Weise gewerblich verwertet wird. (3) Bildträger, die von der obersten Landesbehörde nicht oder mit "Nicht freigeben unter achtzehn Jahren" gekennzeichnet worden sind, dürfen 1. 2.

einem Kind oder Jugendlichen nicht angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden, nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden.

(4) In der Öffentlichkeit dürfen bespielte Bildträger nicht in Automaten angeboten werden. (5) Auf Bildträger, die von der obersten Landesbehörde nach Absatz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 gekennzeichnet worden sind, finden die §§ 1 und 11 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender

769

Schriften keine Anwendung. (6) § 6 Abs. 3 Satz 2 findet entsprechende Anwendung. §8 (1) Die Anwesenheit in öffentlichen Spielhallen oder ähnlichen vorwiegend dem Spielbetrieb dienenden Räumen darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. (2) Die Teilnahme an Spielen mit Gewinnmöglichkeit in der Öffentlichkeit darf Kindern und Jugendlichen nur auf Volksfesten, Schützenfesten, Jahrmärkten, Spezialmärkten oder ähnlichen Veranstaltungen gestattet werden, wenn der Gewinn in Waren von geringem Wert besteht. (3) Elektronische Bildschirm-Unterhaltungsspielgeräte ohne Gewinnmöglichkeit dürfen zur entgeltlichen Benutzung 1. 2.

auf Kindern und Jugendlichen zugänglichen öffentlichen Verkehrsflächen, außerhalb von gewerblich oder in sonstiger Weise beruflich oder geschäftsmäßig genutzten Räumen oder 3. in deren unbeaufsichtigten Zugängen, Vorräumen oder Fluren nicht aufgestellt werden. (4) Das Spielen an elektronischen Bildschirm-Unterhaltungsspielgeräten ohne Gewinnmöglichkeit, die zur entgeltlichen Benutzung öffentlich aufgestellt sind, darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten nicht gestattet werden. (5) Unterhaltungsspielgeräte, mit denen sexuelle Handlungen oder Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Tiere dargestellt werden oder die eine Verherrlichung oder Verharmlosung des Krieges zum Gegenstand haben, dürfen in der Öffentlichkeit an Kindern und Jugendlichen zugänglichen Orten nicht aufgestellt werden. §9 Das Rauchen in der Öffentlichkeit darf Kindern und Jugendlichen unter sechzehn Jahren nicht gestattet werden. § 10 Geht von einer öffentlichen Veranstaltung oder einem Gewerbebetrieb eine Gefährdung im Sinne des § 1 Satz 1 aus, die durch Anwendung der §§ 3 bis 8 nicht ausgeschlossen oder wesentlich gemindert werden kann, so kann die zuständige Behörde anordnen, daß der Veranstalter oder Gewerbetreibende Kindern und Jugendlichen die Anwesenheit nicht gestatten darf. Die Anordnung kann Alters- oder Zeitbegrenzungen enthalten, wenn dadurch die Gefährdung ausgeschlossen oder wesentlich gemindert wird § 11 Veranstalter und Gewerbetreibende haben die nach den §§ 3 bis 10 für ihre Betriebseinrichtungen und Veranstaltungen geltenden Vorschriften sowie die Alterseinstufung von Filmen durch deutlich sichtbaren und gut lesbaren Aushang bekanntzumachen. Zur Bekanntmachung der Alterseinstufung von Filmen und Bildträgern dürfen sie nur die Kennzeichnungen des § 6 Abs. 3 Satz 1 verwenden. Wer einen Film für öffentliche Filmveranstaltungen weitergibt, ist verpflichtet, den Veranstalter auf die Alterseinstufung hinzuweisen. Für Filme und Bildträger, die von der obersten Landesbehörde nach § 6 Abs. 3 Satz 1 gekennzeichnet worden sind, darf bei der Ankündigung und bei der Werbung weder auf jugendgefährdende Inhalte hingewiesen werden noch darf die Ankündigung oder die Werbung in jugendgefährdender Weise erfolgen. § 12 (1) Ordnungswidrig handelt, wer als Veranstalter oder Gewerbetreibender vorsätzlich oder fahrlässig 1. 2. 3. 4. 5.

entgegen § 3 einem Kind oder einem Jugendlichen den Aufenthalt in einer Gaststätte gestattet, entgegen § 4 Abs. 1 ein alkoholisches Getränk oder Lebensmittel an ein Kind oder einen Jugendlichen abgibt oder ihm den Verzehr gestattet, entgegen § 4 Abs. 3 Satz 1 ein alkoholisches Getränk in einem Automaten anbietet, entgegen § 5 Abs. 1 einem Kind oder einem Jugendlichen die Anwesenheit bei einer öffentlichen Tanzveranstaltung gestattet, entgegen § 6 Abs. 1 oder 4 einem Kind oder einem Jugendlichen die

770 Anwesenheit bei einer öffentlichen Filmveranstaltung gestattet, entgegen § 7 Abs. 1 einem Kind oder einem Jugendlichen einen bespielten Bildträger, der nicht für seine Altersstufe freigegeben ist, zugänglich macht, 7. entgegen § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 ein Zeichen nicht, nicht in der dort bezeichneten Form oder in einer der Alterseinstufung durch die oberste Landesbehörde nicht entsprechenden Weise anbringt, 8. entgegen § 7 Abs. 3 Nr. 2 einen nicht freigegebenen Bildträger anbietet oder überläßt, 9. entgegen § 7 Abs. 4 einen bespielten Bildträger in einem Automaten anbietet, 10. entgegen § 8 Abs. 1 einem Kind oder einem Jugendlichen die Anwesenheit in einer öffentlichen Spielhalle oder einem dort bezeichneten Raum gestat tet, 11. entgegen § 8 Abs. 2 einem Kind oder einem Jugendlichen die Teilnahme an einem Spiel mit Gewinnmöglichkeit gestattet, 12. entgegen § 8 Abs. 3 oder 5 ein Unterhaltungsspielgerät aufstellt, 13. entgegen § 8 Abs. 4 einem Kind oder einem Jugendlichen unter sechzehn Jahren die Benutzung eines Unterhaltungsspielgeräts gestattet, 14. entgegen § 9 einem Kind oder einem Jugendlichen unter sechzehn Jahren das Rauchen in der Öffentlichkeit gestattet oder 15. einer vollziehbaren Anordnung nach § 10 zuwiderhandelt, 16. entgegen § 11 Satz 1 die für seine Betriebseinrichtung oder Veranstaltung geltenden Vorschriften nicht durch den dort bezeichneten Aushang bekanntmacht, 17. entgegen § 11 Satz 2 nicht die Kennzeichnungen des § 6 Abs. 3 Satz 1 verwendet, 17a. entgegen § 11 Satz 3 einen Film für eine öffentliche Filmveranstaltung weitergibt, ohne den Veranstalter auf die Alterseinstufung hinzuweisen, 18. entgegen § 11 Satz 4 bei der Ankündigung oder bei der Werbung auf jugendgefährdende Inhalte hinweist oder in jugendgefährdender Weise ankündigt oder wirbt. 6.

(2) Ordnungswidrig handelt auch, wer als Person über achtzehn Jahre ein Verhalten eines Kindes oder eines Jugendlichen herbeiführt oder fördert, das durch ein in Absatz 1 Nr. 1 bis 14 bezeichnetes oder in § 7 Abs. 3 Nr. 1 enthaltenes Verbot oder durch eine vollziehbare Anordnung nach § 10 verhindert werden soll. Hinsichtlich des Verbots in § 7 Abs. 3 Nr. 1 gilt dies nicht für den Personensorgeberechtigten. (3) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu dreißigtausend Deutsche Mark geahndet werden. (4) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer als Veranstalter oder Gewerbetreibender 1.

eine in Absatz 1 bezeichnete vorsätzliche Zuwiderhandlung begeht und dadurch wenigstens leichtfertig ein Kind oder einen Jugendlichen in sei ner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet oder 2. eine in Absatz 1 bezeichnete vorsätzliche Zuwiderhandlung aus Gewinnsucht begeht oder beharrlich wiederholt.

Und so ergibt sich der durchaus gewünschte Nebeneffekt, dass nach der Lektüre der vorstehenden Gesetzestexte die erwachsenen Leser nunmehr sehenden Auges und wissenden Geistes ihren minderjährigen Kindern bei deren Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz nicht mehr nonchalant, sondern hoffentlich leicht beunruhigt zusehen und ihre eigenen Verstöße als Erziehungsberechtigte und –verpflichtete erkennen können. Aber wie viel Einsicht will man von Eltern verlangen, die anlässlich eines Essens im Restaurant dem Quängeln ihrer gelangweilten Sprösslinge nachgeben und die kleinen Nerver »nur mal so« an den Daddelautomaten ein paar Cent verspielen lassen, wenn der Gesetzgeber mehrheitlich einen Anfall von Wahnsinn zeigte? Diese Formulierung halten Sie für übertrieben? Ich aber habe an einen kollektiven Ausbruch von BSESeuchesymptomen in Abgeordnetenhirnen geglaubt, als 2002 eine Änderung des Jugendschutzgesetzes geplant wurde, der zufolge auch schon die Feier des 14. Geburtstages von kaum der Mutterbrust Entwöhnten ohne elterliche Begleitung und bis 23.00 Uhr in einer öffentlichen Disco erlaubt werden sollte! Sie sehen: Bei den

771

Befürwortern der ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 2002 in die Diskussion gebrachten Gesetzesinitiative war der Wahnsinn ausgebrochen! Eltern hätten dann schon für ihre Vierzehnjährigen wochenendliche Fahrdienste einrichten müssen! Diskothekenbetreiber ließen zum Glück sofort verlauten, dass die »Babies« dort nicht gerne gesehen sein werden: Sie dürften ja nur Säfte trinken, was nicht viel Gewinn abwirft, und ältere Jugendliche, die sich schon sooo erwachsen wähnen und auf jeden Fall schon wesentlich erwachsener sind, werden sich von „Baby-Discoabenden“ so abgestoßen fühlen, dass sie „Kinder-Discos“ meiden werden - was ebenfalls den Umsatz mindert. Wir haben aber nicht abwarten müssen, dass eine vermutlich mit Blick auf die Gewinnung der ein paar Jahre später umworbenen Jungwählerstimmen durch zu frühzeitige, zu großzügig erlaubende »Sympathiebindung« angedachte Gesetzesänderung vielleicht durch die Lobby der Disco-Betreiber verhindert worden wäre. Das beschämende Schauspiel eines sich zu permissiv anbiedernden Gesetzgebers blieb uns erspart. Die völlig unangebrachte weitere Lockerung des Jugendschutzgesetzes u.a. in Richtung „Baby-Discos“ fast bis Mitternacht und die von einigen befürwortete Freigabe so behaupteter „weicher“ Drogen wurde dann durch ein anderweitiges schlimmes Ereignis verhindert: Nach den Lehrer- Schüler- und Sekretärinermordungen durch einen Schüler in Erfurt wurden die überzogenen Änderungsvorstellungen wie heiße Kartoffeln fallen gelassen, das Jugendschutzgesetz sogar verschärft und ganz schnell durch die parlamentarischen Gremien gebracht. Weil dieser mit seiner Pumpgun Amok laufende Schüler sich in seiner Freizeit mit Vorliebe Computerspiele »reinzog« und von dorther seine Allmachtsphantasien bezogen haben mag, wurde das Jugendmediengesetz gleich in das „Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit“ (JuSchG) den früheren Gesetzesrahmen beträchtlich erweiternd eingearbeitet. Neu ist u.a., dass das unabhängige Gremium „Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle“ (USK) neben den oder im Auftrag der obersten Landesbehörden mit der Prüfung von Computer- und Videospielen beauftragt ist und die Altersgrenzen für die Einstufung der Spiele für den Handel nunmehr – auch für die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ (BPjM), die frühere „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“, die vordem die Möglichkeit einer nachträglichen Indizierung hatte - verbindlich festlegt; die Angaben sind also keine reinen Empfehlungen mehr wie bisher. Wer solche Spiele verkauft, muss sich – wie beim bisher schon beim Verkauf alkoholischer Getränke - von dem Alter des Käufers überzeugen; Verstöße gegen die Altersfestsetzung für die Abgabe von Computer- oder Videospielen können mit einem Bußgeld bis zu 50.000 € geahndet werden! Kids dürfen in Läden auch nicht mehr Computer- oder Videospiele spielen, die für ihr Alter noch nicht zugelassen sind.

Jugendschutzgesetz (JuSchG) vom 23.Juli 2002 Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen: Abschnitt Allgemeines

1

§ 1 Begriffsbestimmungen (1) Im Sinne dieses Gesetzes 1. sind Kinder Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind, 2. sind Jugendliche Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind, 3. ist personensorgeberechtigte Person, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht, 4. ist erziehungsbeauftragte Person, jede Person über 18 Jahren, soweit sie auf Dauer oder zeitweise aufgrund einer Vereinbarung mit der personensorgeberechtigten Person Erziehungsaufgaben wahrnimmt oder soweit sie ein Kind oder ein jugendliche Person im Rahmen der Ausbildung oder der Jugendhilfe betreut. (2) Trägermedien im Sinne dieses Gesetzes sind Medien mit Texten, Bildern oder Tönen auf gegenständlichen Trägern, die zur Weitergabe geeignet, zur unmittelbaren Wahrnehmung bestimmt oder in einem Vorführ- oder Spielgerät eingebaut sind. Dem gegenständlichen Verbreiten, Überlassen, Anbieten oder Zugänglichmachen von Trägermedien steht das elektronische Verbreiten, Überlassen, Anbieten oder Zugänglichmachen gleich, soweit es sich nicht um Rundfunk im Sinne des § 2 des Rundfunkstaatsvertrages handelt. (3) Telemedien im Sinne dieses Gesetzes sind Medien, die durch elektronische Informations- und Kommunikationsdienste nach dem Gesetz über die Nutzung von Telediensten (Teledienstgesetz, TDG) und nach

772

dem Staatsvertrag über Mediendienste der Länder übermittelt oder zugänglich gemacht werden. Als Übermitteln oder Zugänglichmachen im Sinne von Satz 1 gilt das Bereithalten eigener oder fremder Inhalte. (4) Versandhandel im Sinne dieses Gesetzes ist jedes entgeltliche Geschäft, das im Wege der Bestellung und Übersendung einer Ware durch Postversand oder elektronischen Versand ohne persönlichen Kontakt zwischen Lieferant und Besteller oder ohne dass durch technische oder sonstige Vorkehrungen sichergestellt ist, dass kein Versand an Kinder und Jugendliche erfolgt, vollzogen wird. (5) Die Vorschriften der §§ 2 bis 14 dieses Gesetzes gelten nicht für verheiratete Jugendliche. § 2 Prüfungs- und Nachweispflicht (1) Soweit es nach diesem Gesetz auf die Begleitung durch eine erziehungsbeauftragte Person ankommt, haben die in § 1 Abs. 1 Nr. 4 genannten Personen ihre Berechtigung auf Verlangen darzulegen. Veranstalter und Gewerbebetreibende haben in Zweifelsfällen die Berechtigung zu überprüfen. (2) Personen, bei denen nach diesem Gesetz Altersgrenzen zu beachten sind, haben ihr Lebensalter auf Verlangen in geeigneter Weise nachzuweisen. Veranstalter und Gewerbetreibende haben in Zweifelsfällen das Lebensalter zu überprüfen. § 3 Bekanntmachung der Vorschriften (1) Veranstalter und Gewerbetreibende haben die nach den §§ 4 bis 13 für ihre Betriebseinrichtungen und Veranstaltungen geltenden Vorschriften sowie bei öffentlichen Filmveranstaltungen die Alterseinstufung von Filmen oder die Anbieterkennzeichnung nach § 14 Abs. 7 durch deutlich sichtbaren und gut lesbaren Aushang bekannt zu machen. (2) Zur Bekanntmachung der Alterseinstufung von Filmen und von Film- und Spielprogrammen dürfen Veranstalter und Gewerbetreibende nur die in § 14 Abs. 2 genannten Kennzeichnungen verwenden. Wer einen Film für öffentliche Filmveranstaltungen weitergibt, ist verpflichtet, den Veranstalter bei der Weitergabe auf die Alterseinstufung oder die Anbieterkennzeichnung nach § 14 Abs. 7 hinzuweisen. Für Filme, Film- und Spielprogramme, die nach § 14 Abs. 2 von der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 gekennzeichnet sind, darf bei der Ankündigung oder Werbung weder auf jugendbeeinträchtigende Inhalte hingewiesen werden noch darf die Ankündigung oder Werbung in jugendbeeinträchtigender Form erfolgen. Abschnitt Jugendschutz in der Öffentlichkeit

2

§ 4 Gaststätten (1) Der Aufenthalt in Gaststätten darf Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren nur gestattet werden, wenn eine personensorgeberechtigte oder erziehungsbeauftragte Person sie begleitet oder wenn sie in der Zeit zwischen 5 Uhr und 23 Uhr eine Mahlzeit oder ein Getränk einnehmen. Jugendlichen ab 16 Jahren darf der Aufenthalt in Gaststätten ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person in der Zeit von 24 Uhr und 5 Uhr morgens nicht gestattet werden. (2) Absatz 1 gilt nicht, wenn Kinder oder Jugendliche an einer Veranstaltung eines anerkannten Trägers der Jugendhilfe teilnehmen oder sich auf Reisen befinden. (3) Der Aufenthalt in Gaststätten, die als Nachtbar oder Nachtclub geführt werden, und in vergleichbaren Vergnügungsbetrieben darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden. (4) Die zuständige Behörde kann Ausnahmen von Absatz 1 genehmigen. § 5 Tanzveranstaltungen (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person darf Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren nicht und Jugendlichen ab 16 Jahren längstens bis 24 Uhr gestattet werden. (2) Abweichend von Absatz 1 darf die Anwesenheit Kindern bis 22 Uhr und Jugendlichen unter 16 Jahren bis 24 Uhr gestattet werden, wenn die Tanzveranstaltung von einem anerkannten Träger der Jugendhilfe durchgeführt wird oder der künstlerischen Betätigung oder der Brauchtumspflege dient. (3) Die zuständige Behörde kann Ausnahmen genehmigen. § 6 Spielhallen, Glücksspiele (1) Die Anwesenheit in öffentlichen Spielhallen oder ähnlichen vorwiegend dem Spielbetrieb dienenden Räumen darf Kindern und Jugendlichen nicht gestattet werden.

773

(2) Die Teilnahme an Spielen mit Gewinnmöglichkeit in der Öffentlichkeit darf Kindern und Jugendlichen nur auf Volksfesten, Schützenfesten, Jahrmärkten, Spezialmärkten oder ähnlichen Veranstaltungen und nur unter der Voraussetzung gestattet werden, dass der Gewinn in Waren von geringem Wert besteht. § 7 Jugendgefährdende Veranstaltungen und Betriebe Geht von einer öffentlichen Veranstaltung oder einem Gewerbebetrieb eine Gefährdung für das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern oder Jugendlichen aus, so kann die zuständige Behörde anordnen, dass der Veranstalter oder Gewerbetreibende Kindern und Jugendlichen die Anwesenheit nicht gestatten darf. Die Anordnung kann Altersbegrenzungen, Zeitbegrenzungen oder andere Auflagen enthalten, wenn dadurch die Gefährdung ausgeschlossen oder wesentlich gemindert wird. § 8 Jugendgefährdende Orte Hält sich ein Kind oder eine jugendliche Person an einem Ort auf, an dem ihm oder ihr eine unmittelbare Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl droht, so hat die zuständige Behörde oder Stelle die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wenn nötig, hat sie das Kind oder die jugendliche Person 1. zum Verlassen des Ortes anzuhalten, 2. der erziehungsberechtigten Person im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 6 des Achten Buches Sozialgesetzbuch zuzuführen oder, wenn keine erziehungsberechtigte Person erreichbar ist, in die Obhut des Jugendamtes zu bringen. In schwierigen Fällen hat die zuständige Behörde oder Stelle das Jugendamt über den jugendgefährdenden Ort zu unterrichten. § 9 Alkoholische Getränke (1) In Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit dürfen 1. Branntwein, branntweinhaltige Getränke oder Lebensmittel, die Branntwein in nicht nur geringfügiger Menge enthalten, an Kinder und Jugendliche, 2. andere alkoholische Getränke an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren weder abgegeben noch darf ihnen der Verzehr gestattet werden. (2) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn Jugendliche von einer personensorgeberechtigten Person begleitet werden. (3) In der Öffentlichkeit dürfen alkoholische Getränke nicht in Automaten angeboten werden. Dies gilt nicht, wenn ein Automat 1. an einem für Kinder und Jugendliche unzugänglichen Ort aufgestellt ist oder 2. in einem gewerblich genutzten Raum aufgestellt und durch technische Vorrichtungen oder durch ständige Aufsicht sichergestellt ist, dass Kinder und Jugendliche alkoholische Getränke nicht entnehmen können. § 20 Nr. 1 des Gaststättengesetzes bleibt unberührt. § 10 Rauchen in der Öffentlichkeit, Tabakwaren (1) In Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit dürfen Tabakwaren an Kinder oder Jugendliche unter 16 Jahren weder abgegeben noch darf ihnen das Rauchen gestattet werden. (2) In der Öffentlichkeit dürfen Tabakwaren nicht in Automaten angeboten werden. Dies gilt nicht, wenn ein Automat 1. an einem für Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren unzugänglichen Ort aufgestellt ist oder 2. durch technische Vorrichtungen oder durch ständige Aufsicht sichergestellt ist, dass Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren Tabakwaren nicht entnehmen können.

Abschnitt Jugendschutz im Bereich der Medien

3

Unterabschnitt Trägermedien § 11 Filmveranstaltungen (1) Die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen darf Kindern und Jugendlichen nur gestattet werden, wenn die Filme von der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 zur Vorführung vor ihnen freigegeben worden sind oder wenn es sich

774 um Informations-, Instruktions- und Lehrfilme handelt, die vom Anbieter mit „Infoprogramm“ oder „Lehrprogramm“ gekennzeichnet sind. (2) Abweichend von Absatz 1 darf die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen mit Filmen, die für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren freigegeben und gekennzeichnet sind, auch Kindern ab sechs Jahren gestattet werden, wenn sie von einer personensorgeberechtigten Person begleitet sind. (3) Unbeschadet der Voraussetzungen des Absatzes 1 darf die Anwesenheit bei öffentlichen Filmveranstaltungen nur mit Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person gestattet werden 1. Kindern unter sechs Jahren, 2. Kindern ab sechs Jahren, wenn die Vorführung nach 20 Uhr beendet ist, 3. Jugendlichen unter 16 Jahren, wenn die Vorführung nach 22 Uhr beendet ist, 4. Jugendlichen ab 16 Jahren, wenn die Vorführung nach 24 Uhr beendet ist. (4) Die Absätze 1 bis 3 gelten für die öffentliche Vorführung von Filmen unabhängig von der Art der Aufzeichnung und Wiedergabe. Sie gelten auch für Werbevorspanne und Beiprogramme. Sie gelten nicht für Filme, die zu nichtgewerblichen Zwecken hergestellt werden, solange die Filme nicht gewerblich genutzt werden. (5) Werbefilme oder Werbeprogramme, die für Tabakwaren oder alkoholische Getränke werben, dürfen unbeschadet der Voraussetzungen der Absätze 1 bis 4 nur nach 18 Uhr vorgeführt werden. § 12 Bildträger mit Filmen oder Spielen (1) Bespielte Videokassetten und andere zur Weitergabe geeignete, für die Wiedergabe auf oder das Spiel an Bildschirmgeräten mit Filmen oder Spielen programmierte Datenträger (Bildträger) dürfen einem Kind oder einer jugendlichen Person in der Öffentlichkeit nur zugänglich gemacht werden, wenn die Programme von der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind oder wenn es sich um Informations-, Instruktions- und Lehrprogramme handelt, die vom Anbieter mit „Infoprogramm“ oder „Lehrprogramm“ gekennzeichnet sind. (2) Auf die Kennzeichnungen nach Absatz 1 ist auf dem Bildträger und der Hülle mit einem deutlich sichtbaren Zeichen hinzuweisen. Die oberste Landesbehörde kann 1. Näheres über Inhalt, Größe, Form, Farbe und Anbringung der Zeichen anordnen und 2. Ausnahmen für die Anbringung auf dem Bildträger oder der Hülle genehmigen. Anbieter von Telemedien, die Filme, Film- und Spielprogramme verbreiten, müssen auf eine vorhandene Kennzeichnung in ihrem Angebot deutlich hinweisen. (3) Bildträger, die nicht oder mit „Keine Jugendfreigabe“ nach § 14 Abs. 2 von der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 oder nach § 14 Abs. 7 vom Anbieter gekennzeichnet sind, dürfen 1. einem Kind oder einer jugendlichen Person nicht angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden, 2. nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden. (4) Automaten zur Abgabe bespielter Bildträger dürfen 1. auf Kindern oder Jugendlichen zugänglichen öffentlichen Verkehrsflächen, 2. außerhalb von gewerblich oder in sonstiger Weise beruflich oder geschäftlich genutzten Räumen oder 3. in deren unbeaufsichtigten Zugängen, Vorräumen oder Fluren nur aufgestellt werden, wenn ausschließlich nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 gekennzeichnete Bildträger angeboten werden und durch technische Vorkehrungen gesichert ist, dass sie von Kindern und Jugendlichen, für deren Altersgruppe ihre Programme nicht nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 freigegeben sind, nicht bedient werden können. (5) Bildträger, die Auszüge von Film- und Spielprogrammen enthalten, dürfen abweichend von den Absätzen 1 und 3 im Verbund mit periodischen Druckschriften nur vertrieben werden, wenn sie mit einem Hinweis des Anbieters versehen sind, der deutlich macht, dass eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle festgestellt hat, dass diese Auszüge keine Jugendbeeinträchtigungen enthalten. Der Hinweis ist sowohl auf der periodischen Druckschrift als auch auf dem Bildträger vor dem Vertrieb mit einem deutlich sichtbaren Zeichen anzubringen. § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 gilt entsprechend. Die Berechtigung nach Satz 1 kann die oberste Landesbehörde für einzelne Anbieter ausschließen. § 13 Bildschirmspielgeräte (1) Das Spielen an elektronischen Bildschirmspielgeräten ohne Gewinnmöglichkeit, die öffentlich aufgestellt sind, darf Kindern und Jugendlichen ohne Begleitung einer personensorgeberechtigten oder erziehungsbeauftragten Person nur gestattet werden, wenn die Programme von der obersten Landesbehörde oder

775

einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach § 14 Abs. 6 für ihre Altersstufe freigegeben und gekennzeichnet worden sind oder wenn es sich um Informations-, Instruktions- oder Lehrprogramme handelt, die vom Anbieter mit „Infoprogramm“ oder „Lehrprogramm“ gekennzeichnet sind. (2) Elektronische Bildschirmspielgeräte dürfen 1. auf Kindern oder Jugendlichen zugänglichen öffentlichen Verkehrsflächen, 2. außerhalb von gewerblich oder in sonstiger Weise beruflich oder geschäftlich genutzten Räumen oder 3. in deren unbeaufsichtigten Zugängen, Vorräumen oder Fluren nur aufgestellt werden wenn ihre Programme für Kinder ab sechs Jahren freigegeben und gekennzeichnet oder nach § 14 Abs. 7 mit „Infoprogramm“ oder „Lehrprogramm“ gekennzeichnet sind. (3) Auf das Anbringen der Kennzeichnungen auf Bildschirmspielgeräten findet § 12 Abs. 2 Satz 1 und 2 entsprechende Anwendung. § 14 Kennzeichnung von Filmen und Film- und Spielprogrammen (1) Filme sowie Film- und Spielprogramme, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen, dürfen nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden. (2) Die oberste Landesbehörde oder eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach Absatz 6 kennzeichnet die Filme und die Film- und Spielprogramme mit 1. „Freigegeben ohne Altersbeschränkung“, 2. „Freigegeben ab 6 Jahren“, 3. „Freigegeben ab zwölf Jahren“, 4. „Freigegeben ab sechzehn Jahren“, 5. „Keine Jugendfreigabe“. (3) Hat ein Trägermedium nach Einschätzung der obersten Landesbehörde oder einer Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach Absatz 6 einen der in § 15 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 bezeichneten Inhalte oder ist es in die Liste nach § 18 aufgenommen, wird es nicht gekennzeichnet. Die oberste Landesbehörde hat Tatsachen, die auf einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 schließen lassen, der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen. (4) Ist ein Programm für Bildträger oder Bildschirmspielgeräte mit einem in die Liste nach § 18 aufgenommenen Trägermedium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich, wird es nicht gekennzeichnet. Das Gleiche gilt, wenn die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Liste vorliegen. In Zweifelsfällen führt die oberste Landesbehörde oder eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle im Rahmen des Verfahrens nach Absatz 6 eine Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien herbei. (5) Die Kennzeichnungen von Filmprogrammen für Bildträger und Bildschirmspielgeräte gelten auch für die Vorführung in öffentlichen Filmveranstaltungen und für die dafür bestimmten, inhaltsgleichen Filme. Die Kennzeichnungen von Filmen für öffentliche Filmveranstaltungen können auf inhaltsgleiche Filmprogramme für Bildträger und Bildschirmspielgeräte übertragen werden; Absatz 4 gilt entsprechend. (6) Die obersten Landesbehörden können ein gemeinsames Verfahren für die Freigabe und Kennzeichnung der Filme sowie Film- und Spielprogramme auf der Grundlage der Ergebnisse der Prüfung durch von Verbänden der Wirtschaft getragene oder unterstützte Organisationen freiwilliger Selbstkontrolle vereinbaren. Im Rahmen dieser Vereinbarung kann bestimmt werden, dass die Freigaben und Kennzeichnungen durch eine Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle Freigaben und Kennzeichnungen der obersten Landesbehörde aller Länder sind, soweit nicht eine oberste Landesbehörde für ihren Bereich eine abweichende Entscheidung trifft. (7) Filme, Film- und Spielprogramme zu Informations-, Instruktions- oder Lehrzwecken dürfen vom Anbieter mit „Infoprogramm“ oder „Lehrprogramm“ nur gekennzeichnet werden, wenn sie offensichtlich nicht die Entwicklung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigten. Die Absätze 1 bis 5 finden keine Anwendung. Die oberste Landesbehörde kann das Recht zur Anbieterkennzeichnung für einzelne Anbieter oder für besondere Film- und Spielprogramme ausschließen und durch den Anbieter vorgenommene Kennzeichnungen aufheben. (8) Enthalten Filme, Bildträger oder Bildschirmspielgeräte neben den zu kennzeichnenden Film- oder Spielprogrammen Titel, Zusätze oder weitere Darstellungen in Texten, Bildern oder Tönen, bei denen in Betracht kommt, dass sie die Entwicklung oder Erziehung von Kindern oder Jugendlichen beeinträchtigen, so sind diese bei der Entscheidung über die Kennzeichnung mit zu berücksichtigen. § 15 Jugendgefährdende Trägermedien (1) Trägermedien, deren Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien nach § 24 Abs. 3 Satz 1 bekannt gemacht ist, dürfen nicht

776

1.

einem Kind oder einer jugendlichen Person angeboten, überlassen oder sonst zugänglich gemacht werden, 2. an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, ausgestellt, angeschlagen, vorgeführt oder sonst zugänglich gemacht werden, 3. im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die Kunden nicht zu betreten pflegen, im Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, 4. im Wege gewerblicher Vermietung oder vergleichbarer gewerblicher Gewährung des Gebrauchs, ausgenommen in Ladengeschäften die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und von ihnen nicht eingesehen werden können, einer anderen Person angeboten oder überlassen werden, 5. im Wege des Versandhandels eingeführt werden, 6. öffentlich an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, oder durch Verbreiten von Träger- oder Telemedien, außerhalb des Geschäftsverkehrs mit dem einschlägigen Handel angeboten, angekündigt oder angepriesen werden, 7. hergestellt, bezogen, geliefert, vorrätig gehalten oder eingeführt werden, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 6 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen. (2) Den Beschränkungen des Absatzes 1 unterliegen, ohne dass es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf, schwer jugendgefährdende Trägermedien, die 1. einen der in § 86, § 130, § 130 a, § 131 oder § 184 des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalte haben, 2. den Krieg verherrlichen, 3. Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, in einer die Menschwürde verletzenden Weise darstellen und ein tatsächliches Geschehen wiedergeben, ohne dass ein überwiegendes berechtigtes Interesse gerade an dieser Form der Berichterstattung vorliegt, 4. Kinder oder Jugendliche in unnatürlicher, geschlechtsbetonter Körperhaltung darstellen oder 5. offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schwer zu gefährden. (3) Den Beschränkungen des Absatzes 1 unterliegen auch, ohne dass es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf, Trägermedien, die mit einem Trägermedium, dessen Aufnahme in die Liste bekannt gemacht ist, ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich sind. (4) Die Liste der jugendgefährdenden Medien darf nicht zum Zweck der geschäftlichen Werbung abgedruckt oder veröffentlicht werden. (5) Bei geschäftlicher Werbung darf nicht darauf hingewiesen werden, dass ein Verfahren zur Aufnahme des Trägermediums oder eines inhaltsgleichen Telemediums in die Liste anhängig ist oder gewesen ist. (6) Soweit die Lieferung erfolgen darf, haben Gewerbetreibende vor Abgabe an den Handel die Händler auf die Vertriebsbeschränkungen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 6 hinzuweisen. Unterabschnitt Telemedien § 16 Sonderregelung für Telemedien Regelungen zu Telemedien, die in die Liste jugendgefährdender Medien nach § 18 aufgenommen sind, bleiben Landesrecht vorbehalten.

Abschnitt Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien

4

§ 17 Name und Zuständigkeit (1) Die Bundesprüfstelle wird vom Bund errichtet. Sie führt den Namen „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“. (2) Über eine Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien und über Streichungen aus dieser Liste entscheidet die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. § 18 Liste jugendgefährdender Medien (1) Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, sind von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in eine Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen. Dazu

777

zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien. (2) Die Liste ist in vier Teilen zu führen. 1. in Teil A (Öffentliche Liste der Trägermedien) sind alle Trägermedien aufzunehmen, soweit sie nicht den Teilen B, C oder D zuzuordnen sind; 2. in Teil B (Öffentliche Liste der Trägermedien mit absolutem Verbreitungsverbot) sind, soweit sie nicht Teil D zuzuordnen sind, Trägermedien aufzunehmen, die nach Einschätzung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien einen in § 86, § 130, § 130 a, § 131 oder § 184 Abs. 3 oder 4 des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalt haben; 3. in Teil C (Nichtöffentliche Liste der Medien) sind diejenigen Trägermedien aufzunehmen, die nur deshalb nicht in Teil A aufzunehmen sind, weil bei ihnen von einer Bekanntmachung der Aufnahme in die Liste gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2 abzusehen ist, sowie alle Telemedien, soweit sie nicht Teil D zuzuordnen sind; 4. in Teil D (Nichtöffentliche Liste der Medien mit absolutem Verbreitungsverbot) sind diejenigen Trägermedien, die nur deshalb nicht in Teil B aufzunehmen sind, weil bei ihnen von einer Bekanntmachung der Aufnahme in die Liste gemäß § 24 Abs. 3 Satz 2 abzusehen ist, sowie diejenigen Telemedien aufzunehmen, die nach Einschätzung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien einen in § 86, § 130, § 130 a, § 131 oder § 184 Abs. 3 oder 4 des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalt haben. (3) Ein Medium darf nicht in die Liste aufgenommen werden 1. allein wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts, 2. wenn es der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient, 3. wenn es im öffentlichen Interesse liegt, es sei denn, dass die Art der Darstellung zu beanstanden ist. (4) In Fällen von geringer Bedeutung kann davon abgesehen werden, ein Medium in die Liste aufzunehmen. (5) Medien sind in die Liste aufzunehmen, wenn ein Gericht in einer rechtskräftigen Entscheidung festgestellt hat, dass das Medium einen der in § 86, § 130, § 130 a, § 131, oder § 184 des Strafgesetzbuches bezeichneten Inhalte hat. (6) Telemedien sind in die Liste aufzunehmen, wenn die zentrale Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz die Aufnahme in die Liste beantragt hat; es sei denn, der Antrag ist offensichtlich unbegründet oder im Hinblick auf die Spruchpraxis der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien unvertretbar. (7) Medien sind aus der Liste zu streichen, wenn die Voraussetzungen für eine Aufnahme nicht mehr vorliegen. Nach Ablauf von 25 Jahren verliert eine Aufnahme in die Liste ihre Wirkung. (8) Auf Filme, Film- und Spielprogramme, die nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 gekennzeichnet sind, findet Absatz 1 keine Anwendung. Absatz 1 ist außerdem nicht anzuwenden, wenn die zentrale Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz über das Telemedium zuvor eine Entscheidung dahin gehend getroffen hat, dass die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien nach Absatz 1 nicht vorliegen. Hat eine anerkannte Einrichtung der Selbstkontrolle das Telemedium zuvor bewertet, so findet Absatz 1 nur dann Anwendung, wenn die zentrale Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien nach Absatz 1 für gegeben hält. § 19 Personelle Besetzung (1) Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien besteht aus einer oder einem von dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ernannten Vorsitzenden, je einer oder einem von jeder Landesregierung zu ernennenden Beisitzerin oder Beisitzer und weiteren von dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu ernennenden Beisitzerinnen oder Beisitzern. Für die Vorsitzende oder den Vorsitzenden und die Beisitzerinnen oder Beisitzer ist mindestens je eine Stellvertreterin oder ein Stellvertreter zu ernennen. Die jeweilige Landesregierung kann ihr Ernennungsrecht nach Absatz 1 auf eine oberste Landesbehörde übertragen. (2) Die von dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu ernennenden Beisitzerinnen und Beisitzer sind den Kreisen 1. der Kunst, 2. der Literatur, 3. des Buchhandels und der Verlegerschaft, 4. der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien, 5. der Träger der freien Jugendhilfe, 6. der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, 7. der Lehrerschaft und

778

8.

der Kirchen, der jüdischen Kultusgemeinden und anderer Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, auf Vorschlag der genannten Gruppen zu entnehmen. Dem Buchhandel und der Verlegerschaft sowie dem Anbieter von Bildträgern und von Telemedien stehen diejenigen Kreise gleich, die eine vergleichbare Tätigkeit bei der Auswertung und beim Vertrieb der Medien unabhängig von der Art der Aufzeichnung und der Wiedergabe ausüben. (3) Die oder der Vorsitzende und die Beisitzerinnen oder Beisitzer werden auf die Dauer von drei Jahren bestimmt. Sie können von der Stelle, die sie bestimmt hat, vorzeitig abberufen werden, wenn sie der Verpflichtung zur Mitarbeit in der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien nicht nachkommen. (4) Die Mitglieder der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien sind an Weisungen nicht gebunden. (5) Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien entscheidet in der Besetzung von zwölf Mitgliedern, die aus der oder dem Vorsitzenden, drei Beisitzerinnen oder Beisitzern der Länder und je einer Beisitzerin oder einem Beisitzer aus den in Absatz 2 genannten Gruppen bestehen. Erscheinen zur Sitzung einberufene Beisitzerinnen oder Beisitzer oder ihre Stellvertreterinnen oder Stellvertreter nicht, so ist die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auch in einer Besetzung von mindestens neun Mitgliedern beschlussfähig, von denen mindestens zwei den in Absatz 2 Nr. 1 bis 4 genannten Gruppen angehören müssen. (6) Zur Anordnung der Aufnahme in die Liste bedarf es einer Mehrheit von zwei Dritteln der an der Entscheidung mitwirkenden Mitglieder der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. In der Besetzung des Absatzes 5 Satz 2 ist für die Listenaufnahme eine Mindestzahl von sieben Stimmen erforderlich. § 20 Vorschlagsberechtigte Verbände (1) Das Vorschlagsrecht nach § 19 Abs. 2 wird innerhalb der nachfolgenden Kreise durch folgende Organisationen für je eine Beisitzerin oder einen Beisitzer und eine Stellvertreterin oder einen Stellvertreter ausgeübt: 1. für die Kreise der Kunst durch Deutscher Kulturrat, Bund Deutscher Kunsterzieher e.V., Künstlergilde e.V., Bund Deutscher Grafik-Designer, 2. für die Kreise der Literatur durch Verband deutscher Schriftsteller, Freier Deutscher Autorenverband, Deutscher Autorenverband e.V., PEN-Zentrum, 3. für die Kreise des Buchhandels und der Verlegerschaft durch Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V., Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler, Bundesverband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftengrossisten e.V., Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V., Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V., Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. – Verlegerausschuss, Arbeitsgemeinschaft der Zeitschriftenverlage (AGZV) im Börsenverein des Deutschen Buchhandels, 4. für die Kreise der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien durch Bundesverband Video, Verband der Unterhaltungssoftware Deutschland e.V., Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V., Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V., Deutscher Multimedia Verband e.V., Electronic Commerce Organisation e. V., Verband der Deutschen Automatenindustrie e.V., IVD Interessengemeinschaft der Videothekare Deutschlands e.V., 5. für die Kreise der Träger der freien Jugendhilfe durch Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Deutscher Bundesjugendring, Deutsche Sportjugend, Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ) e.V., 6. für die Kreise der Träger der öffentlichen Jugendhilfe durch Deutscher Landkreistag, Deutscher Städtetag, Deutscher Städte- und Gemeindebund, 7. für die Kreise der Lehrerschaft durch Gewerkschaft Erziehung u. Wissenschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund, Deutscher Lehrerverband, Verband Bildung und Erziehung, Verein Katholischer deutscher Lehrerinnen und 8. für die Kreise der in § 19 Abs. 2 Nr. 8 genannten Körperschaften des öffentlichen Rechts durch Bevollmächtigter des Rates der EKD am Sitz der Bundesrepublik Deutschland, Kommissariat der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin, Zentralrat der Juden in Deutschland. Für jede Organisation, die ihr Vorschlagsrecht ausübt, ist eine Beisitzerin oder ein Beisitzer und eine stellvertretende Beisitzerin oder ein stellvertretender Beisitzer zu ernennen. Reicht eine der in Satz 1 genannten Organisationen mehrere Vorschläge ein, wählt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Beisitzerin oder einen Beisitzer aus. (2) Für die in § 19 Abs. 2 genannten Gruppen können Beisitzerinnen oder Beisitzer und stellvertretende Beisitzerinnen und Beisitzer auch durch namentlich nicht bestimmte Organisationen vorgeschlagen werden. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fordert im Januar jedes Jahres im Bundesanzeiger dazu auf, innerhalb von sechs Wochen derartige Vorschläge einzureichen. Aus den fristgerecht eingegangenen Vorschlägen hat es je Gruppe je eine zusätzliche Beisitzerin oder einen zusätzlichen Beisitzer und eine stellvertretende Beisitzerin oder einen stellvertretenden Beisitzer zu ernennen. Vorschläge von Organisationen,

779

die kein eigenes verbandliches Gewicht besitzen oder eine dauerhafte Tätigkeit nicht erwarten lassen, sind nicht zu berücksichtigen. Zwischen den Vorschlägen mehrerer Interessenten entscheidet das Los, sofern diese sich nicht auf einen Vorschlag einigen; Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. Sofern es unter Berücksichtigung der Geschäftsbelastung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien erforderlich erscheint und sofern die Vorschläge der innerhalb einer Gruppe namentlich bestimmten Organisationen zahlenmäßig nicht ausreichen, kann das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auch mehrere Beisitzerinnen oder Beisitzer und stellvertretende Beisitzerinnen oder Beisitzer ernennen; Satz 5 gilt entsprechend. § 21 Verfahren (1) Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien wird in der Regel auf Antrag tätig. (2) Antragsberechtigt sind das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die obersten Landesjugendbehörden, die zentrale Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz, die Landesjugendämter, die Jugendämter sowie für den Antrag auf Streichung aus der Liste auch die in Absatz 7 genannten Personen. (3) Kommt eine Listenaufnahme oder eine Streichung aus der Liste offensichtlich nicht in Betracht, so kann die oder der Vorsitzende das Verfahren einstellen. (4) Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien wird von Amts wegen tätig, wenn eine in Absatz 2 nicht genannte Behörde oder ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe dies anregt und die oder der Vorsitzende der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien die Durchführung des Verfahrens im Interesse des Jugendschutzes für geboten hält. (5) Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien wird auf Veranlassung der oder des Vorsitzenden von Amts wegen tätig, 1. wenn zweifelhaft ist, ob eine Medium mit einem bereits in die Liste aufgenommenen Medium ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleich ist, 2. wenn bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Aufnahme eines Mediums in die Liste nach § 18 Abs. 7 Satz 1 nicht mehr vorliegen, oder 3. wenn die Aufnahme in die Liste nach § 18 Abs. 7 Satz 2 wirkungslos wird und weiterhin die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste vorliegen. (6) Vor der Entscheidung über die Aufnahme eines Telemediums in die Liste hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien der zentralen Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz Gelegenheit zu geben, zu dem Telemedium unverzüglich Stellung zu nehmen. Die Stellungnahme hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien bei ihrer Entscheidung maßgeblich zu berücksichtigen. Soweit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien eine Stellungsnahme der zentralen Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz innerhalb von fünf Werktagen nach Aufforderung nicht vorliegt, kann sie ohne diese Stellungnahme entscheiden. (7) Der Urheberin oder dem Urheber, der Inhaberin oder dem Inhaber der Nutzungsrechte sowie bei Telemedien dem Anbieter ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. (8) Die Entscheidungen sind 1. bei Trägermedien der Urheberin oder dem Urheber sowie der Inhaberin oder dem Inhaber der Nutzungsrechte, 2. bei Telemedien der Urheberin oder dem Urheber sowie dem Anbieter, 3. der antragsstellenden Behörde, 4. dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den obersten Landesjugendbehörden und der zentralen Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz zuzustellen. Sie hat die sich aus der Entscheidung ergebenden Verbreitungs- und Werbebeschränkungen im Einzelnen aufzuführen. Die Begründung ist beizufügen oder innerhalb einer Woche durch Zustellung nachzureichen. (9) Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien soll mit der zentralen Aufsichtsstelle der Länder für den Jugendmedienschutz zusammenarbeiten und einen regelmäßigen Informationsaustausch pflegen. § 22 Aufnahme von periodischen Trägermedien und Telemedien (1) Periodisch erscheinende Trägermedien können auf die Dauer von drei bis zwölf Monaten in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen werden, wenn innerhalb von zwölf Monaten mehr als zwei ihrer Folgen in die Liste aufgenommen worden sind. Dies gilt nicht für Tageszeitungen und politische Zeitschriften. (2) Telemedien können auf die Dauer von drei bis zwölf Monaten in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen werden, wenn innerhalb von zwölf Monaten mehr als zwei ihrer Angebote in die Liste aufgenommen worden sind. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend.

780

§ 23 Vereinfachtes Verfahren (1) Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien kann im vereinfachten Verfahren in der Besetzung durch die oder den Vorsitzenden und zwei weiteren Mitgliedern, von denen eines den in § 19 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 genannten Gruppen angehören muss, einstimmig entscheiden, wenn das Medium offensichtlich geeignet ist, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden. Kommt eine einstimmige Entscheidung nicht zustande, entscheidet die Bundprüfstelle für jugendgefährdende Medien in voller Besetzung (§ 19 Abs. 5). (2) Eine Aufnahme in die Liste nach § 22 ist im vereinfachten Verfahren nicht möglich. (3) Gegen die Entscheidung können die Betroffenen (§ 21 Abs. 7) innerhalb eines Monats nach Zustellung Antrag auf Entscheidung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in voller Besetzung stellen. (4) Nach Ablauf von zehn Jahren seit Aufnahme eines Mediums in die Liste kann die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien die Streichung aus der Liste unter der Voraussetzung des § 21 Abs. 5 Nr. 2 im vereinfachten Verfahren beschließen. (5) Wenn die Gefahr besteht, dass ein Träger- oder Telemedium kurzfristig in großem Umfange vertrieben, verbreitet oder zugänglich gemacht wird und die endgültige Listenaufnahme offensichtlich zu erwarten ist, kann die Aufnahme in die Liste im vereinfachten Verfahren vorläufig angeordnet werden. Absatz 2 gilt entsprechend. (6) Die vorläufige Anordnung ist mit der abschließenden Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, jedoch spätestens nach Ablauf eines Monats, aus der Liste zu streichen. Die Frist des Satzes 1 kann vor ihrem Ablauf um höchstens einen Monat verlängert werden. Absatz 1 gilt entsprechend. Soweit die vorläufige Anordnung im Bundesanzeiger bekannt zu machen ist, gilt dies auch für die Verlängerung. § 24 Führung der Liste jugendgefährdender Medien (1) Die Liste jugendgefährdender Medien wird von der oder dem Vorsitzenden der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien geführt. (2) Entscheidungen über die Aufnahme in die Liste oder über Streichungen aus der Liste sind unverzüglich auszuführen. Die Liste ist unverzüglich zu korrigieren, wenn Entscheidungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien aufgehoben werden oder außer Kraft treten. (3) Wird ein Trägermedium in die Liste aufgenommen oder aus ihr gestrichen, so ist dies unter Hinweis auf die zugrunde liegende Entscheidung im Bundesanzeiger bekannt zu machen. Von der Bekanntmachung ist abzusehen, wenn das Trägermedium lediglich durch Telemedien verbreitet wird oder wenn anzunehmen ist, dass die Bekanntmachung der Wahrung des Jugendschutzes schaden würde. (4) Wird ein Medium in Teil B oder D der Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen, so hat die oder der Vorsitzende dies der zuständigen Strafverfolgungsbehörde mitzuteilen. Wird durch rechtskräftiges Urteil festgestellt, dass sein Inhalt den in Betracht kommenden Tatbestand des Strafgesetzbuches nicht verwirklicht, ist das Medium in Teil A oder C der Liste aufzunehmen. Die oder der Vorsitzende führt eine erneute Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien herbei, wenn in Betracht kommt, dass das Medium aus der Liste zu streichen ist. (5) Wird ein Telemedium in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen und ist die Tat im Ausland begangen worden, so soll die oder der Vorsitzende dies den im Bereich der Telemedien anerkannten Einrichtungen der Selbstkontrolle zum Zweck der Aufnahme in nutzerautonome Filterprogramme mitteilen. Die Mitteilung darf nur zum Zweck der Aufnahme in nutzerautonome Filterprogramme verwandt werden. § 25 Rechtsweg (1) Für Klagen gegen eine Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, ein Medium in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen oder einen Antrag auf Streichung aus der Liste abzulehnen, ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben. (2) Gegen eine Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, ein Medium nicht in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen, sowie gegen eine Einstellung des Verfahrens kann die antragstellende Behörde im Verwaltungsrechtsweg Klage erheben. (3) Die Klage ist gegen den Bund, vertreten durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, zu richten. (4) Die Klage hat keine aufschiebende Wirkung. Vor Erhebung der Klage bedarf es keiner Nachprüfung in einem Vorverfahren, bei einer Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 23 ist jedoch zunächst eine Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in der Besetzung nach § 19 Abs. 5 herbeizuführen.

781

Abschnitt Verordnungsermächtigung

5

§ 26 Verordnungsermächtigung Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Näheres über den Sitz und das Verfahren der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und die Führung der Liste jugendgefährdender Medien zu regeln.

Abschnitt Ahndung von Verstößen

6

§ 27 Strafvorschriften (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. entgegen § 15 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 oder 6, jeweils auch in Verbindung mit Abs. 2, ein Trägermedium anbietet, überlässt, zugänglich macht, ausstellt, anschlägt, vorführt, einführt, ankündigt oder anpreist, 2. entgegen § 15 Abs. 1 Nr. 7, auch in Verbindung mit Abs. 2, ein Trägermedium herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält oder einführt, 3. entgegen § 15 Abs. 4 die Liste der jugendgefährdenden Medien abdruckt oder veröffentlicht, 4. entgegen § 15 Abs. 5 bei geschäftlicher Werbung einen dort genannten Hinweis gibt oder 5. einer vollziehbaren Entscheidung nach § 21 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 zuwiderhandelt. (2) Ebenso wird bestraft, wer als Veranstalter oder Gewerbetreibender 1. eine in § 28 Abs. 1 Nr. 4 bis 18 oder 19 bezeichnete vorsätzliche Handlung begeht und dadurch wenigstens leichtfertig ein Kind oder eine jugendliche Person in der körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet oder 2. eine in § 28 Abs. 1 Nr. 4 bis 18 oder 19 bezeichnete vorsätzliche Handlung aus Gewinnsucht begeht oder beharrlich wiederholt. (3) Wird die Tat in den Fällen 1. des Absatzes 1 Nr. 1 oder 2. des Absatzes 1 Nr. 3, 4 oder 5 fahrlässig begangen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu hundertachtzig Tagessätzen. (4) Absatz 1 Nr. 1 und 2 und Absatz 3 Nr. 1 sind nicht anzuwenden, wenn eine personensorgeberechtigte Person das Medium einem Kind oder einer jugendlichen Person anbietet, überlässt oder zugänglich macht. Dies gilt nicht, wenn die personensorgeberechtigte Person durch das Anbieten, Überlassen oder Zugänglichmachen ihre Erziehungspflicht gröblich verletzt. § 28 Bußgeldvorschriften (1) Ordnungswidrig handelt, wer als Veranstalter oder Gewerbetreibender vorsätzlich oder fahrlässig 1. entgegen § 3 Abs. 1 die für seine Betriebseinrichtung oder Veranstaltung geltenden Vorschriften nicht, nicht richtig oder nicht in der vorgeschriebenen Weise bekannt macht, 2. entgegen § 3 Abs. 2 Satz 1 eine Kennzeichnung verwendet, 3. entgegen § 3 Abs. 2 Satz 2 einen Hinweis nicht, nicht richtig oder nicht rechtzeitig gibt, 4. entgegen § 3 Abs. 2 Satz 3 einen Hinweis gibt, einen Film oder ein Film- oder Spielprogramm ankündigt oder für einen Film oder ein Film- oder Spielprogramm wirbt, 5. entgegen § 4 Abs. 1 oder 3 einem Kind oder einer jugendlichen Person den Aufenthalt in einer Gaststätte gestattet, 6. entgegen § 5 Abs. 1 einem Kind oder einer jugendlichen Person die Anwesenheit bei einer öffentlichen Tanzveranstaltung gestattet, 7. entgegen § 6 Abs. 1 einem Kind oder einer jugendlichen Person die Anwesenheit in einer öffentlichen Spielhalle oder einem dort genannten Raum gestattet, 8. entgegen § 6 Abs. 2 einem Kind oder einer jugendlichen Person die Teilnahme an einem Spiel mit Gewinnmöglichkeit gestattet, 9. einer vollziehbaren Anordnung nach § 7 Satz 1 zuwiderhandelt, 10. entgegen § 9 Abs. 1 ein alkoholisches Getränk an ein Kind oder eine jugendliche Person abgibt oder ihm oder ihr den Verzehr gestattet, 11. entgegen § 9 Abs. 3 Satz 1 ein alkoholisches Getränk in einem Automaten anbietet,

782

12. entgegen § 10 Abs. 1 Tabakwaren abgibt oder einem Kind oder einer jugendlichen Person unter 16 Jahren das Rauchen gestattet, 13. entgegen § 10 Abs. 2 Satz 1 Tabakwaren in einem Automaten anbietet, 14. entgegen § 11 Abs. 1 oder 3, jeweils auch in Verbindung mit Abs. 4 Satz 2, einem Kind oder einer jugendlichen Person die Anwesenheit bei einer öffentlichen Filmveranstaltung, einem Werbevorspann oder einem Beiprogramm gestattet, 14a. entgegen § 11 Abs. 5 einen Werbefilm oder ein Werbeprogramm vorführt, 15. entgegen § 12 Abs. 1 einem Kind oder einer jugendlichen Person einen Bildträger zugänglich macht, 16. entgegen § 12 Abs. 3 Nr. 2 einen Bildträger anbietet oder überlässt, 17. entgegen § 12 Abs. 4 oder § 13 Abs. 2 einen Automaten oder ein Bildschirmgerät aufstellt, 18. entgegen § 12 Abs. 5 Satz 1 einen Bildträger vertreibt, 19. entgegen § 13 Abs. 1 einem Kind oder einer jugendlichen Person das Spielen an Bildschirmgeräten gestattet oder 20. entgegen § 15 Abs. 6 einen Hinweis nicht, nicht richtig oder nicht rechtzeitig gibt. (2) Ordnungswidrig handelt, wer als Anbieter vorsätzlich oder fahrlässig 1. entgegen § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, auch in Verbindung mit Abs. 5 Satz 3 oder § 13 Abs. 3, einen Hinweis nicht, nicht richtig oder nicht in der vorgeschriebenen Weise gibt, 2. einer vollziehbaren Anordnung nach § 12 Abs. 2 Satz 2 auch in Verbindung mit Abs. 5 Satz 3 oder § 13 Abs. 3 oder nach § 14 Abs. 7 Satz 3 zuwiderhandelt, 3. entgegen § 12 Abs. 5 Satz 2 einen Hinweis nicht, nicht richtig, nicht in der vorgeschriebenen Weise oder nicht rechtzeitig anbringt oder 4. entgegen § 14 Abs. 7 Satz 1 einen Film oder ein Film- oder Spielprogramm mit „Infoprogramm“ oder „Lehrprogramm“ kennzeichnet. (3) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig 1. entgegen § 12 Abs. 2 Satz 3 einen Hinweis nicht, nicht richtig oder nicht in der vorgeschriebenen Weise gibt oder 2. entgegen § 24 Abs. 5 Satz 2 eine Mitteilung verwendet. (4) Ordnungswidrig handelt, wer als Person über 18 Jahren ein Verhalten eines Kindes oder einer jugendlichen Person herbeiführt oder fördert, das durch ein in Absatz 1 Nr. 5 bis 8, 10, 12, 14 bis 16 oder 19 oder in § 27 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 bezeichnetes oder in § 12 Abs. 3 Nr. 1 enthaltenes Verbot oder durch eine vollziehbare Anordnung nach § 7 Satz 1 verhindert werden soll. Hinsichtlich des Verbots in § 12 Abs. 3 Nr. 1 gilt dies nicht für die personensorgeberechtigte Person und für eine Person, die im Einverständnis mit der personensorgeberechtigten Person handelt. (5) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu fünfzigtausend Euro geahndet werden.

Abschnitt Schlussvorschriften

7

§ 29 Übergangsvorschriften Auf die nach bisherigem Recht mit „Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren“ gekennzeichneten Filmprogramme für Bildträger findet § 18 Abs. 8 Satz 1 mit der Maßgabe Anwendung, dass an die Stelle der Angabe „§ 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 5“ die Angabe „§ 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 4“ tritt. § 30 Inkrafttreten, Außerkrafttreten (1) Dieses Gesetz tritt an dem Tag in Kraft, an dem der Staatsvertrag der Länder über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien in Kraft tritt. Gleichzeitig treten das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit vom 25. Februar 1985 (BGBl. IS. 425), zuletzt geändert durch Artikel 8 a des Gesetzes vom 15. Dezember 2001 (BGBl. IS. 3762) und das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Juli 1985 (BGBl. IS. 1502), zuletzt geändert durch Artikel 8 b des Gesetzes vom 15. Dezember 2001 (BGBl. IS. 3762) außer Kraft. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gibt das Datum des Inkrafttretens dieses Gesetzes im Bundesgesetzblatt bekannt. (2) Abweichend von Absatz 1 Satz 1 treten § 10 Abs. 2 und § 28 Abs. 1 Nr. 13 am 1. Januar 2007 in Kraft. Das vorstehende Gesetz wird hiermit ausgefertigt. Es ist im Bundesgesetzblatt zu verkünden.

783

Berlin, den 23 Juli 2002 Der Bundespräsident Johannes Rau Der Bundeskanzler Gerhard Schröder Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Christine Bergmann

784

VI. TEIL TABELLARISCHER ÜBERBLICK ÜBER DIE WICHTIGSTEN RECHTLICHEN ENTWICKLUNGSSTUFEN (RECHT UND LEBENSALTER) Lebensalter

Rechtsfolge

"Nasciturus";

Um Rechtsperson zu sein, braucht man noch nicht einmal geboren zu sein. Das BGB erkennt dem Nasciturus/der Leibesfrucht trotz der noch fehlenden „Mensch“-Qualität schon eine eingeschränkte Rechtsfähigkeit zu. Das die Ansprüche des Erzeugten aber noch nicht Geborenen auslösende Ereignis kann schon vor der Geburt liegen, muss sich aber durch die Geburt konkretisiert haben: Wer z.B. durch eine Bluttransfusion im Mutterleib mit Aids infiziert worden ist, hat ab Geburt Schadensersatzansprüche. Der Nasciturus kann also schon - eingeschränkt - Rechte erwerben. Beispiele:

der noch zu Gebärende; der Erzeugte, aber noch nicht Geborene

1) § 844 II 2 BGB "Die Ersatzpflicht [des Deliktschuldners bei Tötung des an sich zum Unterhalt verpflichteten Vaters zur Leistung des angemessenen Unterhalts; d. Verf.] tritt auch dann ein, wenn der Dritte zur Zeit der Verletzung erzeugt, aber noch nicht geboren war." 2) § 1923 BGB "Erbe kann nur sein, wer zur Zeit des Erbfalls lebt. Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits erzeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren." (Das war auch schon Anfang des 13. Jahrhunderts im Sachsenspiegel so geregelt.) Und kann damit andere von der Erbfolge ausschließen! Da können niedere Instinkte wach werden, die in den Bereich des Strafrechts gehören. "Gilt" bedeutet hier eine Fiktion: Der Gesetzgeber weiß, daß er (in diesen Falle gegen die Naturgesetze) schwindelt, aber wegen des angestrebten Ergebnisses will er es so. 3) aus dem Bereich des § 823 BGB, für den die vorgenannte gesetzliche Fiktion nicht ausdrücklich angeordnet worden ist und durch Urteile ("Richterrecht") im Wege der Analogie oder Auslegung gewonnen wird. Obwohl § 823 BGB einem "anderen" - gemeint ist gemäß § 1 BGB aber erst ein Mensch mit Vollendung der Geburt - Schadensersatzansprüche für u.a. eine Körperverletzung, schädigung oder Gesundheitsschädigung zuerkennt, konnten die schon vor ihrer Geburt und damit vor Erreichen ihrer „Mensch“-Qualität durch Tabletteneinnahme der Mutter geschädigten "Nascituri" nach ihrer Geburt als sog. "Contergan-Kinder" Schadensersatzansprüche geltend machen. Mit der Geburt waren sie rechtsfähig (hatten z. B. Erb- und Schadensersatzrechte) und parteifähig (in ihrem Namen konnte geklagt werden auf z.B. Leistung des Schadensersatzes). Sie waren selber aber noch nicht prozessfähig (konnten selber noch keinen Prozess führen). Darum klagt in solchen Fällen das parteifähige Kind, vertreten durch seine gesetzlichen Vertreter (die Eltern), gegen den Schädiger oder einen anderen, der ihm Rechte vorenthält.

Beginn des Geburtsaktes

"Mensch" i.S.d. StGB ist jemand mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen oder dem Kaiserschnitt vor Vollendung der Geburt. Das ergibt sich aus § 217 StGB, wo eine Tötung eines Menschen angenommen wird, wenn eine Mutter ihr nichteheliches "Kind" "in" oder gleich nach der Geburt tötet.

785

Konsequenz: Vorher Schutz des werdenden Lebens durch §§ 218 ff StGB Schwangerschaftsabbruch notwendig, da bis zur Vollendung der Geburt noch keine für die Anwendung von Tötungsdelikten vorausgesetzte „Mensch“-Qualität im Sinne des StGB erreicht ist.

Vollendung der Geburt

§ 1 BGB: "Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt." Erst ab diesem Zeitpunkt besteht zivilrechtliche „Mensch“-Qualität. So kann z.B. eine werdende Mutter kein zusätzliches Wohngeld für ihre Embryonen geltend machen. OVG Münster (Az.: 14 A 2268/99): „Die Leibesfrucht zählt nicht zu den lebenden Familienmitgliedern.“ Mit der ab diesem Zeitpunkt beginnenden Rechtsfähigkeit ist der kleine "Brüll" Träger von Rechten (z.B. Anspruch auf Unterhalt/Alimente/“Stütze“, Erbfähigkeit) und Pflichten (z.B. Zahlung der eventuell anfallenden Erbschaftssteuer). Das Geborene hat Grundrechtsfähigkeit, und im Gegensatz zu früher seit 2000 auch bei uns durch das „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ das Recht auf körperliche Unversehrtheit. (Außer der Tatsache, dass Eltern, die ihre Kinder schlagen, bestraft werden können, sollten Sie immer daran denken: Schlagen Sie Ihre Kinder nicht, denn die suchen später das Altersheim für Sie aus.) Beginn der Parteifähigkeit, aber noch keine Prozessfähigkeit. Geschäftsunfähigkeit des Aufwachsenden: Rechtswirksam für das gemäß § 104 BGB bis zum Alter von 7 Jahren noch nicht geschäftsfähige Kind können nur seine gesetzlichen Vertreter, im Normalfall die Eltern, handeln. "Schieter" darf ohne Erlaubnis der Eltern noch kein Eis kaufen.

Vollendung des 6. Lebensjahres = Ab 6. Geburtstag

wird den Kindern nun der bisher hoffentlich meist schöne Vormittag verdorben: Im Regelfall beginnt die Schulpflicht mit dem folgenden Schuljahr. Es ist ein Besuch der für diese Altersstufe vorgesehenen Filme ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten möglich. "Schieter" darf "Susi und Strolch" ohne Eltern sehen, vorher aber (seit der Neufassung des JÖSchG) schon mit ihnen. Bis einen Tag vor dem nächsten Geburtstag noch Deliktsunfähigkeit gemäß § 828 I BGB: "Winnetou" hat "Schleichendem Panther" auf dem Kriegspfad nicht den Skalp abgenommen, der saß zu fest, aber ein Auge ausgeschossen. Er muss für den Schaden zunächst einmal nicht aufkommen, aber unter Umständen sein Häuptling oder dessen Squaw (oder beide), wenn denen eine Verletzung der Aufsichtspflicht nachgewiesen werden kann. Hoffentlich hatten sie eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen! Ist von den aufsichtspflichtigen Dritten (den Eltern) nichts zu holen, muss "Winnetou" gleichwohl u.U. gemäß § 829 BGB aus Billigkeitsgründen (ev. mit seinem Erbe von einem verblichenen Verwandten) Ersatz leisten.

Ab 7. Geburtstag

Beschränkte Geschäftsfähigkeit Minderjähriger gemäß § 106 BGB. Geschäftsfähigkeit ist die Fähigleit, durch eine Willenserklärung Rechtsfolgen herbeizuführen. Nun greift die Regelung des "Taschengeld-Paragraphen" § 110 BGB ein. "Rotznäschen" darf rechtswirksam im Rahmen seines monatlichen Taschengeldes (aber nicht in Höhe zusammengesparter Beträge!) einkaufen. Der Kauf von Naschereien bei "Tante Emma" ist möglich, aber noch lange kein Mofa. Bei "Tante Emma" können die Eltern nicht mehr die Rückabwicklung des ohne ihre Zustimmung erfolgten Kaufs der von ihnen abgelehnten Süßigkeiten verlangen. Kaufverträge über höherwertige Anschaffungen sind "schwebend unwirksam", bis sie

786

gemäß § 108 BGB von dem gesetzlichen Vertreter genehmigt werden. "Rotznäschen" darf nun ohne Zustimmung in Form der zuvor zu erteilenden Einwilligung oder in Form der nachträglich absegenden Genehmigung der Eltern Geschenke annehmen, da sie lediglich einen rechtlichen Vorteil bedeuten, es darf sich aber noch nicht für irgend etwas zu einer Gegenleistung verpflichten, da sich daraus ein rechtlicher Nachteil ergeben könnte. Beschränkte zivilrechtliche Deliktsfähigkeit gemäß § 828 II BGB bei Einsichtsfähigkeit – durch eine Neuregelung ab 2003 in Verkehrsunfällen erst ab 10 Jahren -, aber bis zum 14. Geburtstag noch keine (und dann erst einmal eingeschränkte) Strafmündigkeit. Der Staatsanwalt interessiert sich noch nicht für "Winnetou" oder die Autoknacker-Kids. (Auf die wartet er aber schon. Die kommen bestimmt!) Eventuell wird bei wiederholten schwerwiegenden Verstößen trotz noch fehlender Strafmündigkeit der Vormundschaftsrichter unangenehm und ordnet Mittel der öffentlichen Erziehung (in einigen Bundesländern bis hin zum zwangsweisen Aufenthalt in einem geschlossenen Heim bis zum Erreichen der Volljährigkeit) an. So kann wenigstens das Autoknacken und die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer unterbunden werden, wenn ein Bundesland nicht so knieweich wird, wie z.B. Hamburg es geworden war, das unter der jahrzehntelangen SPD-Regierung die geschlossenen Heime abgeschafft hatte.

Ab 12. Geburtstag

Gemäß § 21 I Nr. 1 a StVO darf "Michael Schumacher jun." jetzt auf dem Beifahrersitz neben einem Elternteil sitzen; vorher musste er nach hinten, wenn hintere Sitze vorhanden und nicht mit anderen Kindern besetzt waren. Filme für Kinder ab 12 Jahren kann er nun im Kino anschauen. Unter der Geltung des "Gesetzes über die religiöse Kindererziehung" hätten Maria und Joseph (der wegen der gemäß § 1591 II BGB widerleglich vermuteten Vaterschaft, die er gemäß § 1594 I BGB nur innerhalb von zwei Jahren hätte anfechten können, zum Erziehungsberechtigten geworden war) den jungen Jesus nicht mehr gegen seinen Willen zum (noch nicht vorhandenen) Christentum umerziehen können, nachdem sie ihn 12 Jahre lang in ihrem eigenen jüdischen Glauben erzogen hatten. Gemäß § 5 dieses Gesetzes kann ein Kind dieses Alters nicht mehr gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden - was für die Kinder wichtig ist, deren Eltern einem Sekten(ver)führer anheimfallen. Das Kind ist jetzt "beschränkt religionsmündig".

Ab 14. Geburtstag

hätte Jesus gegen den Willen seiner Eltern zu dem von ihm erst noch zu gründenden Christentum übertreten können, denn mit dem am 14. Geburtstag vollendeten 14. Lebensjahr erlangt das bisherige Kind als nun Jugendlicher die volle Religionsmündigkeit. Bis gestern hätte "Winnetou" noch ohne Angst vor dem Staatsanwalt und dem Jugendrichter mit Freude oder Haß im Herzen auf "Schleichenden Panther" schießen dürfen. Ab heute wird auf der Geburtstagsparty von ihm die Einsicht erwartet, daß man auf seine Feinde nicht schießen darf, weil das gefährlich für die Gegner ist. Wenn die seit 2002 geplante Änderung des Jugendschutzgesetzes – hoffentlich nicht! durchkommt, dann darf der 14. Geburtstag auch schon von den kaum der Mutterbrust Entwöhnten bis 23.00 Uhr und ohne elterliche Begleitung in einer öffentlichen Disco gefeiert werden. Die Diskothekenbetreiber ließen sofort verlauten, daß die „Babies“ dort nicht gerne gesehen sein werden: Sie dürften ja nur Säfte trinken, was nicht viel Gewinn abwirft, und ältere Jugendliche, die sich schon so erwachsen wähnen und auf jeden Fall

787 schon wesentlich erwachsener sind, werden sich von „Baby-Discoabenden“ so abgestoßen fühlen, daß sie „Kinder-Discos“ meiden werden. "Rabauke" muss nun aufpassen, denn nun ist er als Jugendlicher gemäß § 3 JGG bedingt strafmündig. Besitzt er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung die Reife, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, so kann es jetzt zu einem "Gespräch" mit dem Jugendstaatsanwalt und/oder dem Jugendrichter kommen. Wenn er z.B. einem Klassenkameraden gewaltsam etwas wegnimmt oder sich von ihm unter Androhung von Prügel jeden Tag Geld "aushändigen" läßt, so muss er dafür noch nicht wie ein Erwachsener mindestens ein Jahr ins Gefängnis, aber bei Raub und anderen Delikten wird ein Jugendrichter auch schon unangenehm und verhängt Sanktionen aus dem Katalog des JGG. Und Lars und die anderen Autoknacker-Kids wurden kurz nach ihrem 14. Geburtstag geschnappt. Die notwendige Einsicht bezüglich ihrer Untaten wurde nach den vielen polizeilichen Belehrungen angenommen, und Lars wanderte in U-Haft in einer Jugendstrafanstalt. (Verständlicher Dankesseufzer eines Polizisten: "Daß ich diesen Tag noch erleben durfte!") In gewichtigen persönlichen Angelegenheiten wie z.B. der Frage nach einer angemessenen Schulbildung - oder etwas später der zu ergreifenden Lehre - hat ein Jugendlicher nun ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters ein selbständiges Antrags- und Beschwerderecht beim Vormundschaftsgericht, um eine ablehnende Haltung der Eltern überprüfen zu lassen.

Ab 15. Geburtstag

darf ein Jugendlicher "Kleinkrafträder bis 25km/h bauartbedingter Höchstgeschwindigkeit" ("Mofa") fahren. Wird das Mofa "frisiert", erlischt automatisch die Betriebserlaubnis und damit auch der Versicherungsschutz. Es wird eine Geldbuße verhängt, und oft wird das Mofa als Tatwerkzeug entschädigungslos eingezogen. Bei einem durch den Fahrer des "frisierten" Mofas verschuldeten Unfall muss der Fahrer wegen des erloschenen Versicherungsschutzes für alle Kosten des Unfallgegners alleine geradestehen - bei Rentenansprüchen des Opfers sein Leben lang! Die Möglichkeit, mit 18 einen PKW-Führerschein zu erwerben, kann er dann u.U. auch erst einmal vergessen!

Ab 16. Geburtstag

darf er - nach Erhalt einer diesbezüglichen Fahrerlaubnis der Klasse 4 und 5 – mit seiner Disco-Queen auf dem Kleinkraftrad mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h(!) (Kl. 4) zur Disco fahren und bis 24.00 Uhr ohne seine Mami an einer öffentlichen Tanzveranstaltung teilnehmen. Jugendliche dieses Alters dürfen sich ohne Erziehungsberechtigten auch bis 24.00 Uhr in Gaststätten - aber noch nicht in Nachtbars, denn dort lauert die Sünde - aufhalten und dort schwach alkoholische Getränke (auf jeden Fall aber noch nicht Branntwein und anderes Hochprozentiges) bestellen und zu sich nehmen. Die Jugendlichen dürfen jetzt auch in der Öffentlichkeit rauchen und sind nicht mehr unbedingt auf das Schulklo angewiesen. Sie haben die Pflicht zum Besitz eines Personalausweises (mit dem sie u.a. ihre Rauchberechtigung in der Öffentlichkeit nachweisen können). In manchen Bundesländern wird nun das aktive Kommunalwahlrecht zuerkannt. Sie sind ohne Wissen und Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters vor einem Notar beschränkt testierfähig. Eine vor dem Notar abgegebene und von ihm aufgenommene Erklärung: "Wenn ich falle, erbt Fidel alles“, ist rechtswirksam. Der Notar soll den größten Unfug verhindern. Darum wird er bis zum Erreichen der vollen Testierfähigkeit zwischengeschaltet.

788

Jugendliche ab 16 können gemäß § 1 Ehegesetz auf Antrag vom Vormundschaftsgericht für ehemündig erklärt werden, wenn sie mit ihren eigenen Kindern groß werden wollen, und der andere Ehepartner schon volljährig und damit voll geschäftsfähig ist. Gelegenheiten zum Meineid, die mit der nun bestehenden "Eidesfähigkeit" gemäß § 60 Nr. 1 StPO gegeben sein können, sollte "Drei-Finger-Karl" ungenutzt verstreichen lassen und nicht aus falsch verstandener Kameradschaft einen Kumpel aus einer Klemme „herausschwören“ wollen. »Gefälligkeitsaussagen« auf Grund des sozialen Drucks der Gang sind ein häufiges "Kameradschafts"-Delikt unter Jugendlichen und manchmal schon schlimm genug. Da muss es nicht noch ein Meineid sein, denn ein Meineid ist ein Verbrechen wie Raub. Dafür erhält ein Erwachsener mindestens 1 Jahr Freiheitsstrafe. Meist wird der Wahrheitsdruck irgendwann größer als die Gruppenloyalität, einer plaudert und dann ist der »Meineider« ganz alleine dran: da kann ihm keiner aus der Gruppe mehr helfen! Ab 18. Geburtstag

Eintritt der Volljährigkeit und damit volle Geschäftsfähigkeit und nun auch Prozessfähigkeit, Ehemündigkeit, volle Testierfähigkeit durch rechtsgültige Abfassung eines eigenhändig geschriebenen (nicht maschinenschriftlichen) Testaments, Ende der Schulpflicht - die Teilnahme an Rechtskundekursen ist spätestens ab jetzt freiwillig -, aktives und passives Wahlrecht, Stufenführerschein der Klasse 1 (Motorräder) und Klasse 3 (PKW), Besuch aller Film-, Tanz-, Varietéveranstaltungen, "Daddelhallen" und Nachtbars, Branntweingenuß in der Öffentlichkeit, Ehemündigkeit, Wehr- oder Ersatzdienstpflicht oder statt dessen eventuell Entwicklungshelferdienst, volle Deliktsfähigkeit und damit uneingeschränkte zivilrechtliche Haftung für unerlaubte Handlungen, volle Strafmündigkeit mit der Wohltat, bei Unreife oder typischer Jugendverfehlung weiterhin als Heranwachsender bis zum 21. Geburtstag die Gnade der Anwendung des JGG erfahren zu können - ohne darauf einen Rechtsanspruch zu haben! Nur ca. 3/4 aller Fälle werden für die 18-21-Jährigen nach dem sie begünstigenden JGG abgeurteilt, ¼ nicht. Wer einen ihm unlieben Verwandten oder Bekannten umbringen will, sollte das in einer norddeutschen Großstadt eines SPD-regierten Bundeslandes tun, denn dort wird prozentual am häufigsten das mildere JGG auf straffällig gewordene Heranwachsende angewandt.

Ab 21. Geburtstag

Nun kann man Trucker werden, denn nun steht dem Erwerb des Führerscheins zum Führen von LKWs - wenn nicht beim Militär abgestaubt - nur noch die zu bestehende Prüfung entgegen. Uneingeschränkte Anwendung des Erwachsenen-Strafrechts.

Ab 65. Geburtstag (ab 2010 langsam auf 67 Jahre ansteigend)

Altersrente, wenn nicht schon vorher als "Frührentner" anerkannt.

789

I NDEX a limine .............................................................. 670 Abhängigkeit der Richter ................................... 624 Abwägung .......................................................... 107 Abwägung der ...................................................... 98 Abwehrrechte ............................................... 57, 733 Aids.................................................................... 398 Allgemeinverbindlichkeitserklärung .................. 407 Amtsermittlungsgrundsatz ......................... 672, 755 Analogiebildungen ............................................. 263 Antrags- und Beschwerderecht beim Vormundschaftsgericht, selbständiges ........... 800 Arbeitsgerichte................................................... 758 Arbeitsgerichtsbarkeit ................................ 636, 758 Arbeitsrecht ....................................................... 405 Asylrecht ............................................................ 153 Aufstachelung zum Rassenhaß............................. 59 Ausbürgerung .................................................... 618 Auseinandersetzungen im Namen der Religion . 302 Auslegung .......................................................... 291 Auslegung von "Recht"...................................... 284 Auslegung von Grundrechtsbestimmungen........ 155 Auslegungsregeln............................................... 264 Ausnahmegerichte.............................................. 695 Bausoldat ........................................................... 710 Beamtenverhältnis ............................................. 100 Bedingtheit des Rechts, historische ................... 550 Befriedungsfunktion des Rechts ........................ 172 Befruchtung ....................................................... 374 Begnadigungen .................................................. 410 Bekleidungsverbot ............................................... 97 Benachteiligung ................................................. 153 Benachteiligung der Frauen ................................. 94 Benachteiligung von Frauen .............................. 123 Benachteiligung, sachfremde ............................. 153 Benachteiligungsverbot ................................. 57, 61 Berufsbeamtentum ............................................. 100 Berufung .................................................... 516, 520 Berufungsbegründung ........................................ 520 Berufungsfrist .................................................... 520 Berufungsinstanz ....................................... 520, 756 Bestandsgarantie .................................................. 53 Bestimmtheit einer Strafbestimmung ................. 295 Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes ............. 295 Bestimmungen im Grundgesetz, staatsorganisatorische .................................... 729 Beweis des ersten Anscheins ............................. 748 Bhagwan ...................................................... 97, 102 Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates .... 101 Bindung der Justiz ............................................. 626 Bindungswirkung ............................................... 530 Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG ....................................................................... 669 Blastozyste ......................................................... 375 Bleiberecht ......................................................... 331 Blutsonntag, Altonaer ................................ 527, 582

Bluttabu .............................................................. 672 Bluttransfusionsfall .................................... 678, 683 Bonus-Regelung ................................................. 406 Brett des Karneades ........................................... 174 Bundesarbeitsgericht .......................................... 758 Bundesfinanzhof ................................................ 758 Bundesrat ........................................................... 751 Bundessozialgericht ........................................... 758 Bundesverfassung............................................... 523 Bundesverfassungsgericht .......................... 669, 756 Bundesversammlung .......................................... 749 Bundesverwaltungsgericht ................................. 758 Bundeszwang ..................................................... 751 Case Law ............................................................ 529 Case-Law............................................................ 531 Chimären ............................................ 234, 375, 386 closed-shop-system ............................................ 405 Continental Law ................................................. 529 Deliktsfähigkeit, beschränkte zivilrechtliche ...... 799 Deliktsfähigkeit, volle ........................................ 802 Deliktsunfähigkeit .............................................. 799 Demokratie ......................................................... 371 Demokratie, abwehrbereite, wehrhafte ............... 736 Demokratie, streitbare ........................................ 737 Diandrie.............................................................. 253 Dienst- und Treueverhältnis ............................... 101 Dienst- und Treueverhältnisses .......................... 101 Dienstpflichten, Konkretisierung der ................. 102 Dienstpflichten, Verstoß gegen .......................... 101 Dienstvertrag ...................................................... 641 Differenzierungsklausel...................................... 406 Digynie ............................................................... 253 Diskontinuitätsgrundsatz ...................................... 78 Diskriminierung von Ausländern ......................... 59 Diskriminierungsverbot des (speziellen) Gleichheitssatzes .............................................. 58 Dominanzstreben.......................................... 94, 414 Doppelfunktion des Rechts ................................ 627 Drittwirkung, mittelbare ....................................... 57 Drittwirkung, mittelbare des Gleichheitssatzes im Arbeitsrecht .................................................... 137 Ehe, wilde........................................................... 429 Ehemündigkeit ................................................... 802 Ehemündigkeit auf Antrag ................................. 801 Ehenamensrecht ................................................. 128 Ehepartner .......................................................... 640 Eheschließung .................................................... 639 Eidesfähigkeit..................................................... 801 Eigenstaatlichkeit der Länder ............................. 751 Eingangsinstanz.......................................... 516, 756 Einrede der Verjährung ...................................... 544 Einrichtungsgarantie........................................... 734 Einwilligung des gesetzlichen Vertreters ........... 645 Einzelfallentscheidungen.................................... 516 Einzelfallgerechtigkeit ....................... 519, 521, 545

790

Einzelfall-Gesetze .............................................. 265 Einzelfallprüfung ............................................... 697 Einzelrichter....................................................... 757 Embryonen. 251, 300, 347, 349, 415, 416, 651, 657 Entwicklungshelferdienst ................................... 802 Ermächtigungsgesetz ................. 524, 580, 582, 586 Ermessensentscheidung ..................................... 101 Eröffnungsbeschluß ........................................... 697 Ersatzschule ....................................................... 734 Erziehungsrecht der Eltern........................... 98, 101 Erziehungsurlaub ............................................... 137 EU-Norm ........................................................... 634 Euthanasie .......................................................... 596 Ewigkeitsgarantie............................... 744, 751, 764 Ewigkeitsgarantie............................................... 571 Exekutive ........................................... 515, 571, 586 Fallbeiljustiz des Volksgerichtshofes................. 592 Fallrecht ............................................................. 529 Fatwa ........................................................... 98, 301 Faust"recht" ....................................................... 549 Fehlurteil............................................................ 520 Feiertagsruhe ..................................................... 189 Finanzgerichte.................................................... 758 Finanzgerichtsbarkeit ......................................... 758 Fiskus-Kammer .................................................. 756 Fitra ..................................................................... 94 Fitra, überlegene des Mannes .............................. 94 Fitra, unterlegene der Frau ................................... 94 Flaggenverordnung ............................................ 584 Föderalismus ...................................................... 751 Föderalismusprinzip ............................................ 53 Föten, anenzephale ............................................ 257 Fötus .................................................................. 384 Freiheitsentziehung ............................................ 696 Führerstaat ......................................................... 750 Garantenstellung des Staates.............................. 734 Garantiefunktion der Strafgesetze ...................... 696 Garantiefunktion der Straftatbestände ............... 588 Gebundenheit des Rechts ................................... 301 Gehorsam, vorauseilender ................................. 671 Geltung der supranationalen EuGHRechtsprechung in Grundrechtsfragen ........... 146 Geltungsbereich des GG, räumlicher ................... 49 Gen-Diskriminierung ................................... 24, 381 Generalstreik ...................................................... 744 Gerechtigkeit ..... 169, 280, 412, 515, 518, 519, 546 Gerechtigkeit, parteiliche ................................... 627 Gerechtigkeit, soziale .......................................... 13 Gerechtigkeitsgefühl .......................................... 280 Gerichtsbarkeit, freiwillige ................................ 755 Gerichtsbarkeit, ordentliche ............................... 755 Gerichtsstand, allgemeiner ................................. 759 Gerichtsstände, ausschließliche ......................... 760 Gerichtsstände, besondere ................................. 759 Gerichtswesen .................................................... 755 Gerichtszweige .......................................... 664, 755 Geschäftsfähigkeit Entmündigter, beschränkte .. 645

Geschäftsfähigkeit Minderjähriger, beschränkte ............................................................... 644, 799 Geschäftsfähigkeit, volle .................................... 802 Geschäftsunfähigkeit .................................. 644, 799 Gesetz................................................... 40, 183, 514 Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit .... 580 Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr...... 491, 579 Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe ..................................................... 524 Gesetz und Recht........................................ 165, 167 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich ....................................................................... 583 Gesetzesbindung ................................................ 165 Gesetzesinterpretationen .................................... 263 Gesetzespositivismus ......................................... 558 Gesetzesrang durch private Vereinbarungen ...... 405 Gesetzesverwerfungskompetenz ........................ 670 Gesetzesvorbehalt ................................................ 99 Gesetzgebung des Bundes .................................. 219 Gesetzgebung, konkurrierende ........................... 219 Gesetzgebungskompetenz .......................... 219, 751 Gesetzgebungsnotstand ...................................... 751 Gesetzlichkeit ..................................................... 627 Gesetzlichkeit, sozialistische .............................. 625 Gesinnungsjustiz ........................................ 293, 581 Gestapo .............................................................. 563 Gewalt, vierte ..................................................... 412 Gewaltenteilung ................. 518, 571, 579, 585, 601 Gewaltmonopol .................................. 110, 173, 316 Glaubens- und Gewissensfreiheit ....... 165, 616, 699 Gleichbehandlung im Unrecht ............................ 142 Gleichberechtigung .................................... 117, 151 Gleichheitsgrundsatz .......................................... 723 Gleichheitssatz, allgemeiner ......................... 61, 137 Greueltaten im Namen des christlichen Rechts .. 302 Großen Strafkammer .......................................... 520 Grundannahmen, diffamierende ........................... 94 Grundgesetz ........................................... 40, 47, 730 Grundrechte........................................ 294, 569, 685 Grundrechte, freiheitssichernde Wirkung der ...... 99 Grundrechte, jederzeit gerichtlich einklagbar .... 731 Grundrechte, justizielle ...................................... 694 Grundrechte, soziale ........................................... 733 Grundrechte, sozialistische................................. 627 Grundrechtsabwägung ................................ 107, 685 Grundrechtseinschränkungen durch Art. 48 II WV ....................................................................... 571 Grundrechtsfähigkeit .................................. 675, 799 Grundrechtskonflikt ........................................... 103 Grundrechtsschranken, ungeschriebene ............. 681 Grundrechtsverletzung ....................................... 734 Grundsatz der Parteiautonomie .......................... 755 Grundstückskauf................................................. 639 Gültigkeit von Normen....................................... 670 Gummiparagraphen ............................................ 295 Habeas-Corpus-Act ............................................ 695 Habeas-Corpus-Akte .......................................... 696

791

Haftgrund Flucht- und Verdunkelungsgefahr .... 697 Haploidisierung ................................................. 253 Haustürwiderrufsgesetz...................................... 643 Heranwachsender ............................................... 802 Herrschaft des Rechts ........................................ 283 Hexenverbrennungen ......................................... 302 Holocaust ........................................................... 503 Hybridwesen .............................................. 234, 386 Instanz, Vierte. ................................................... 735 Instanzenkette .................................................... 756 Irrtum, richterlicher............................................ 520 Islamismus, politischer ...................................... 103 Judikative ................................... 220, 515, 571, 586 Jugendgericht ..................................................... 757 Jugendgerichtsbarkeit ........................................ 757 Jugendkammer ................................................... 757 Jugendlicher ....................................................... 800 Jugendschöffengericht ....................................... 758 Juristen, furchtbare ............................................ 556 Justizterror ................................................. 561, 563 Kainsmal der Widerrechtlichkeit ....................... 733 Kanzler-Demokratie........................................... 748 Kassationsverfahren ........................................... 630 Kaufvertrag ........................................................ 638 Kernbereich ....................................................... 685 Kessel, Hamburger ............................................ 714 Kidnapping, staatliches ...................................... 623 Kindererziehung, Recht zur ............................... 101 Kinderraub, staatlicher ....................................... 623 Kindesentziehung............................................... 623 Kirchenasyl ........................................................ 180 Kirchenrecht ...................................................... 393 Klagforderung .................................................... 759 Klonen, therapeutisches ..................................... 416 Koalitionsfreiheit, negative ................................ 405 Koalitionsfreiheit, positive................................. 405 Kontrahierungs- und Lieferzwang ....................... 57 Kontrolle der öffentlichen Gewalt ..................... 412 Kopftuch ............................................................ 102 Kopftuch-Lehrerin ............................................... 92 Kopftuch-Verbot .................................................. 93 Kreise, weiße ..................................................... 610 Kreuzzüge .......................................................... 302 Kriegsdienstverweigerung ................................. 698 Kriegsinvaliden .................................................... 86 KSZE-Folgetreffen ............................................ 609 Kulturverwaltungshoheit ...................................... 98 Länderkammer ................................................... 751 Länderkompetenz ...................................... 219, 751 Länderneugliederung ........................................... 49 Landesarbeitsgerichte ........................................ 758 Landesgesetzgeber ............................................... 98 Landesliste ......................................................... 745 Landessozialgerichte.......................................... 758 Landesstaatsgewalt ............................................ 102 Landesverfassungen ........................................... 523 Lauschangriff, großer......................................... 676 Leben, lebensunwertes ....................................... 597

Legaldefinition ................................................... 748 Legislative .................................. 220, 515, 571, 586 Lehrer ................................................................. 101 Leihmutterschaft................................................. 647 Leistungsrechte .................................................. 733 Leistungsverweigerungsrecht ............................. 544 Listenmandate .................................................... 745 Lohndumping ..................................................... 408 Machtelite .......................................................... 282 Machtergreifung ................................................. 576 Machtfragen ....................................................... 297 Mahnbescheid .................................................... 547 Mahnbescheidsverfahren .................................... 547 Mäßigungs- und Neutralitätsgebot ....................... 99 Mehrheitsprinzip ........................................ 368, 629 Mehrheitswahl .................................................... 745 Meinungs- und Versammlungsfreiheit ............... 616 Mensch ............................................................... 798 Menschenhändler der (Ex-)DDR und SED ........ 609 Menschenrechte.......................................... 413, 468 Menschenrechte, Ablehnung der Charta der ...... 469 Menschenwürde .. 11, 153, 154, 180, 181, 223, 242, 247, 248, 249, 250, 287, 348, 373, 376, 384, 410, 468, 489, 555, 568, 620, 656, 683, 694, 700, 724, 729 Mensch-Qualität 258, 328, 374, 375, 376, 377, 468, 798 Mensch-Qualität, zivilrechtliche ........................ 799 MfS .................................................................... 620 Minderheitenschutz ............................................ 387 Mindestlohn ....................................................... 408 Minimum, verfassungsfestes .............. 571, 695, 744 Mißbrauchsgebühr.............................................. 734 Mißtrauen, institutionalisiertes ........................... 413 Mißtrauensvotum, konstruktives ........................ 748 Monopol ............................................................... 57 Mörder in der Robe ............................................ 592 Morula ................................................................ 375 Nasciturus........................................................... 798 Nazi-Diktatur ....................................................... 40 Neutralität, weltanschaulich-religiöse ................ 680 Neutralitätspflicht ....................................... 101, 680 Neutralitätspflicht des Staates .............................. 92 Neutralitätspflicht eines Beamten....................... 101 Normenkontrollverfahren, konkretes.. 129, 133, 169 Notar .................................................................. 639 Notstandsverfassung........................................... 749 Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat 583 Numerus-clausus-Urteil...................................... 733 Oberverwaltungsgerichte.................................... 758 Ordensverleihungen ........................................... 410 Ordnung, verfassungsmäßige ............................. 681 Organentnahme .................................................. 257 Organspende....................................................... 196 Parteiengesetz..................................................... 738 Parteienirrtumsprivileg ....................................... 742 Parteienprivileg .......................................... 737, 741 Parteifähigkeit ............................................ 798, 799

792

Parteilichkeit der Rechtsprechung ..................... 625 PDS ............................................................ 605, 726 Personalausweis ................................................. 801 Personenstand .................................................... 639 Persönlichkeitsrecht, allgemeines ...................... 685 PID............................................................. 251, 378 Plebiszit ............................................................. 764 Pluralität .............................................................. 98 Pluralität, religiöse ............................................... 98 Polenstrafrechtsverordnung ............................... 564 Präambel .............................................................. 41 Präimplantationsdiagnostik ................................ 378 Pressefreiheit ..................................................... 617 Prime-facies-Beweis .......................................... 748 Privatrecht.................................................. 636, 638 Privatschulsubventionierung .............................. 734 Prognoseentscheidung ....................................... 101 Prozeßfähigkeit .................................. 798, 799, 802 Rangordnung unter den Rechtsnormen im öffentlichen Recht .......................................... 665 Rassenschande ................................................... 563 Recht ............ 40, 179, 280, 413, 515, 548, 659, 725 Recht, formelles ................................................. 760 Recht, materielles .............................................. 760 Recht, öffentliches ..................................... 636, 659 Rechte, subjektiv-öffentliche ............................. 569 Rechtsanalogien ................................................. 290 Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle, öffentliche ....................................................................... 757 Rechtsbegriffe, offene ................................ 567, 654 Rechtsbeugung ........................................... 293, 593 Rechtsempfinden ............................................... 281 Rechtsfähigkeit .................................................. 798 Rechtsfrieden ..................................................... 515 Rechtsgeschäft, sittenwidriges ........................... 652 Rechtsgeschäfte ................................................. 638 Rechtskraft ................................................. 516, 520 Rechtskraftwirkung ............................................ 546 Rechtsmittel ....................................................... 520 Rechtsnischen .................................................... 410 Rechtsprechungsmonopol des Staates................ 755 Rechtsreform...................................................... 515 Rechtssicherheit . 516, 518, 519, 521, 545, 546, 548 Rechtssicherheit durch Fristablauf ..................... 546 Rechtsstaat ......................................................... 580 Rechtsstaatlichkeit ............................................. 519 Rechtsstaatsprinzip .................................... 516, 713 Rechtsverständnis .............................................. 295 Rechtsweg .......................................................... 664 Rechtsweg-Garantie" des Art. 19 IV 1 GG ........ 155 Regelungbedarf .................................................. 219 Regelungbedarf, juristischer .............................. 219 Regelungsbedarf, juristischer ............................. 220 Regierungsgesetz ............................................... 579 Regierungsgesetzgeber ...................................... 586 Rehabilitationsverfahren .................................... 630 Reichskristallnacht ............................................. 750 Reichsprogromnacht .......................................... 752

Reichstagsbrandverordnung ............... 523, 574, 583 Religionsfreiheit ............................................. 94, 98 Religionsfreiheit, negative.................................... 98 Religionsmündigkeit, beschränkte...................... 800 Religionsmündigkeit, volle................................. 800 Revision ..................................................... 516, 521 Revisionsinstanz ................................................. 756 Revolutionen ...................................................... 366 Schächten ........................................................... 672 Scheidungsfolgenvereinbarung .......................... 757 Schoa .................................................................. 503 Schöffen ............................................................. 757 Schöffengericht .................................................. 757 Schulpflicht ................................................ 686, 799 Schulpflicht, Ende der ........................................ 802 Schürer-Papier .................................................... 726 Schutzfunktion des Rechts ................................. 282 Schwangerschaftsabbruch, § 218 StGB ............. 462 Schwangerschaftsurlaub ..................................... 137 Schwurgericht ............................................ 520, 758 Schwurgerichts ................................................... 520 SED ............................................................ 605, 726 SED-Justiz.......................................................... 607 SED-Parteidiktatur ............................................. 608 Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages ....................................................................... 754 Selbstbestimmung, informationelle ................ 31, 32 Selbstbindung der Verwaltung ............................. 62 Sicherheitsdienst ................................................ 563 Sittengesetz ........................................................ 681 Solange-II-Entscheidung .................................... 146 Sondergerichte ........................................... 566, 695 Sonderrechtsverhältnis ......................................... 93 Sonderurlaub zur Geburt eines Kindes ................. 87 Souveränitätsvorbehalt des BVerfGs ................. 147 Sozialgerichte ..................................................... 758 Sozialgerichtsbarkeit .......................................... 758 Sozialpflichtigkeit des Eigentums ...................... 733 Sperrklausel........................................................ 745 Sperrklausel, 5% ................................................ 745 Stammzellen ............................................... 356, 383 Stammzellen, adulte ................................... 277, 426 Stammzellen, embryonale .. 220, 235, 278, 348, 416 Standesbeamter .................................................. 640 Standgerichte der Sicherheitspolizei .................. 569 Stiefkindadoption ............................................... 456 Strafgerichtsbarkeit .................................... 638, 757 Strafkammer, Große ........................................... 520 Strafkammer, Große ........................................... 757 Strafkammer, Kleine .......................................... 757 Strafmündigkeit .................................................. 799 Strafmündigkeit, bedingte .................................. 800 Strafmündigkeit, volle ........................................ 802 Strafsenat............................................................ 757 Streitwert ............................................................ 759 Stufenführerschein ............................................. 802 Tag von Potsdam................................................ 576 Tarifverträge ...................................................... 405

793

Tatbestandssperre des Wortlauts ....................... 291 Tatverdacht ........................................................ 697 Teilhaberechte ................................................... 733 Testierfähigkeit .................................................. 802 Testierfähigkeit, beschränkte ............................. 801 Todesstrafe ........................................................ 754 Toleranzgebot ...................................................... 92 Totalverweigerer ................................................ 721 Treu und Glauben ................................................ 57 Trittbrettfahrer ................................................... 405 Überalterung ...................................... 431, 433, 434 Überbau, ideologischer ...................................... 613 Überhangmandate .............................................. 745 Übermaßverbot .................................................. 713 Überwältigungsverbot .......................................... 93 Umbrüche im Rechtssystem ............................... 364 Umweltschutz .................................................... 369 Unabhängigkeit, richterliche .............................. 626 Universitätszugang............................................. 733 Unrecht .............................................................. 279 Untersuchungshaft ............................................. 697 Urteile ................................................................ 516 Verbandsgerichtsbarkeit .................................... 388 Verbindlichkeit der EuGH-Rechtsprechung in Grundrechtsfragen unter der Geltung des Grundgesetzes ................................................ 146 Verbot rückwirkender Straffestsetzung .............. 523 Verbot rückwirkender Strafgesetze .................... 565 Verbot, gesetzliches ........................................... 644 Verdunkelungshandlungen................................. 541 Verfassung ..................................................... 40, 48 Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung ......................................................................... 40 Verfassungsänderung ......................................... 153 Verfassungsbeschwerde ............................. 516, 734 Verfassungsfolklore ............................................. 94 Verfassungsgerichte der Länder......................... 756 Verfassungsgerichtsbarkeit ................................ 756 Verfassungsgrundsätze ...................................... 736 Verfolgungsverjährung ...................................... 541 Verhalten, asoziales ........................................... 623 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz .......... 697, 713, 735 Verhältniswahl ................................................... 745 Verhältniswahl, personalisierte .......................... 745 Verjährung ................................................. 541, 544 Verjährungsbeginn, deliktsbezogener ................ 542 Vermutung, widerlegliche .................................. 543 Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit .......................... 576 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat ........................................ 523 Versammlungsfreiheit ........................................ 617 Versäumnisse der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz, gewollte ............................. 593 Versäumnisurteil ................................................ 547 Verteidigungspflicht .......................................... 710 Vertrag, zweiseitiger .......................................... 638 Vertragsfreiheit .................................................... 57

Vertrauensfrage .................................................. 754 Verwaltungsakt................................................... 662 Verwaltungsgerichte........................................... 758 Verwaltungsgerichtsbarkeit ........................ 636, 758 Verwaltungshandeln, vorgängiges ........................ 62 Verwaltungs-Unrecht ......................................... 714 Verweisung ........................................................ 665 Verwerfungskompetenz mit Gesetzeskraft ......... 133 Verwirkung von Grundrechten ........................... 735 Verzahnung von zivilem und öffentlichem Recht ....................................................................... 663 Volkentscheid..................................................... 764 Volksbefragung .................................................. 764 Volksbegehren ........................................... 764, 767 Volksdemokratien .............................................. 620 Volksentscheid ................................................... 767 Volksgerichtshof ................................ 555, 556, 695 Volksinitiativen .................................................. 767 Volksschädlinge ................................................. 563 Volksschädlingsverordnung ............................... 566 Volljährigkeit ..................................................... 802 Vollstreckungsbescheid ...................................... 547 Vollstreckungsverjährung .................................. 544 Vorbehalt, verfassungsmäßiger .......................... 616 Vorrang der Rechtsprechung des BVerfGs vor der des EuGH? ..................................................... 146 vote, dissenting................................................... 725 Wächteramt der Presse ....................................... 412 Wahlen ............................................................... 614 Wahlfälschungen ................................................ 614 Wahlkreismandat................................................ 745 Wahlrecht, aktives und passives ......................... 802 Wahlsystem ........................................................ 745 Wehr- oder Ersatzdienstpflicht........................... 802 Wehrpflicht ........................................................ 698 Wehrpflicht, allgemeine ..................................... 699 Weimarer Republik .............................................. 40 Weimarer Verfassung ........................................... 40 Werklieferungsvertrag ........................................ 639 Wertewandel ...................................................... 346 Wertungsfragen .................................................. 297 Wertungswidersprüche durch verschiedene eventuell ungenau formulierte - Gesetze ........ 259 Wesensgehaltssperre .................................. 154, 572 Widerstandsrecht ................................................ 743 Wiederaufnahmeverfahren ......................... 521, 523 Willenserklärungen, übereinstimmende ............. 638 Willkürkontrolle ................................................. 101 Willkürverbot ....................................................... 62 Würde des Menschen 217, 242, 266, 314, 316, 333, 340, 348, 487, 555, 568, 629, 684, 700 Zivilgerichtsbarkeit ............................................ 756 Zivilgerichtsbarkeit, ordentliche ........................ 636 Zivilrecht ...................................................... 57, 638 Zivilsachen ......................................................... 755 Zuständigkeit, örtliche ........................................ 759 Zuständigkeit, sachliche ..................................... 755 Zuständigkeitsregelungen ................................... 759

794

Zwangsadoptionen ............................................. 623 Zwangschristianisierung .................................... 302

Zygote ................................................................ 374

View more...

Comments

Copyright � 2017 NANOPDF Inc.
SUPPORT NANOPDF