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January 8, 2018 | Author: Anonymous | Category: Sozialwissenschaften, Recht, Vertrag
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Prof. Dr. jur. Günter Reiner

Helmut-Schmidt-Universität - UniBw Hamburg -

Vorlesung Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler Teil II – WT 2004 zu § 18: Anfechtung von Willenserklärungen Die Objektivierung des Tatbestands der Willenserklärung dient dem Schutz des Rechtsverkehrs und bewirkt, dass sich der Erklärende u.U. rechtlich an etwas festhalten lassen muss, was er so nicht gewollt hat. Deshalb räumt ihm das Gesetz in diesen Fällen die Möglichkeit ein, seine Erklärung wegen Irrtums rückwirkend zu vernichten (§§ 119-124, 142-144 BGB). Hierbei trägt der Erklärende das Risiko, dass die Gegenpartei durch ihr Vertrauen auf die Wirksamkeit der Erklärung einen Schaden erleidet. I. „Irrtumsanfechtung“  Anfechtungsgründe Das Gesetz unterscheidet bei der Irrtumsanfechtung drei Anfechtungsgründe: •

Inhaltsirrtum, § 119 I Fall 1 BGB  Irrtum über die Bedeutung des bewusst gewählten Erklärungszeichens (Deutungsfehler)  Verlautbarungsirrtum: Irrtum bei der Wahl des Erklärungszeichens, z.B. irrtümliche Verwendung von Maßen, Gewichten, Fremdwörtern Fall 1: Sie gehen in ein bekanntes Feinschmecker-Lokal. Zu den gebratenen Wachteln wollen Sie Rotwein trinken. Da Sie an den Getränkekosten sparen wollen, bestellen Sie, ohne dieses Produkt zu kennen, eine Flasche „Carola rouge“ für 10 € im Glauben, dies sei ein billiger Rotwein. Tatsächlich ist es ein Mineralwasser mit rotem Etikett. Fall 2: Grundschuldirektor R bestellt 12 Gros Rollen WC Papier im Glauben, es handle sich um 12 große Rollen. In Wirklichkeit ist ein „Gros“ 144 Rollen, so dass 1728 (=12 x 144) Rollen gekauft wurden (vgl. Aufgabe 9).  Individualisierungsfehler: Gegenstand

Verwechslung

des

Geschäftspartners

oder

des

Bsp.: Gastwirt G, der ein großer Boxfan ist, glaubt, in einem seiner Gäste, den Boxer Henry Maske zu erkennen. Er ist hocherfreut und erlässt dem Gast die

Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen

Bezahlung der Rechnung. Der Gast freut sich seinerseits und bedankt sich. Als G anschließend um ein Autogramm bittet, stellt sich heraus, dass es nicht Henry Maske aus Frankfurt/Oder, sondern Helmut Müller aus Konstanz war. Was kann G tun ? •

Erklärungsirrtum, § 119 Fall 2 BGB  Erklärender wollte ein anderes als das verwendete Erklärungszeichen abgeben (Handlungsfehler), z.B. Versprechen, Verschreiben Bsp.: Ein Handwerker vergisst in einem schriftlichen Angebot bei der Angabe des Preises eine „Null“.  Übermittlungsfehler als Sonderfall, § 120 BGB: Hier verspricht sich nicht der Erklärende selbst, vielmehr erfolgt eine Veränderung der Erklärung im Laufe der Übertragung durch einen Dritten (Bsp. Erklärungsbote, Dolmetscher; nicht: Empfangsbote).



Eigenschaftsirrtum, § 119 II BGB  grds. Irrtum im Bereich der Willensbildung als bloßer Motivirrtum unbeachtlich  bei verkehrswesentlichen Eigenschaften des Vertragspartners oder Vertragsgegenstands ist aber ein Schutz des Rechtsverkehrs nicht erforderlich  „verkehrswesentliche Eigenschaften“ sind auf natürlichen Beschaffenheiten beruhende Merkmale sowie tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse und Beziehungen zur Umwelt, soweit sie nach der Verkehrsanschauung für die Wertschätzung oder die Verwendbarkeit der Vertragsleistung von Bedeutung sind  Bsp.: Bank B gewährt Kredit an langjährigen Kunden K in der Annahme, dieser sei nach wie gut verdienender vor leitender Angestellter einer Firma. Tatsächlich ist K arbeitslos und hoch verschuldet. Hier ist eine Anfechtung wegen Irrtums über die Kreditwürdigkeit möglich.



unbeachtlicher Motivirrtum  Irrtum im Bereich der Willensbildung, nicht der Willenserklärung  Motive für die Abgabe einer Willenserklärung sind, sofern sie nicht selbst zum Inhalt der Erklärung gemacht werden, grds. rechtlich irrelevant → enttäuschte Erwartungen können i.d.R. keine Anfechtung rechtfertigen.



Ausführung der Anfechtung •

Anfechtungserklärung, § 143 BGB  formfreie Willenserklärung, die erkennen lässt, dass der Erklärende das Geschäft wegen eines Willensmangels nicht gelten lassen will

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Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen

Bsp.: „Ich trete vom Vertrag zurück, das habe ich mir anders vorgestellt.“  gegenüber dem Anfechtungsgegner •

Anfechtungsfrist  unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern nach Erlangung der Kenntnis vom Anfechtungsgrund, § 121 BGB



Rechtsfolgen der Anfechtung •

Nichtigkeit der Willenserklärung, § 142 BGB  rückwirkende Nichtigkeit der Erklärung, § 142 I BGB (Wirkung „ex tunc“)  Wegfall des gesamten Vertrags mit den (gegenseitigen) Leistungsverpflichtungen; ggf. Pflicht zur Rückabwicklung bereits erbrachter Leistungen



Schadensersatzpflicht des Anfechtenden, § 122 BGB  bei rechtzeitiger Anfechtung braucht der Erklärende sich den objektiven Inhalt seiner Erklärung nicht entgegenhalten zu lassen, sein tatsächlicher Wille setzt sich durch (Grundsatz der Privatautonomie)  jedoch Haftung für den Schaden, der dem Geschäftspartner im Vertrauen auf die falsch ausgedrückte Erklärung entstanden ist (Vertrauensschaden)  Verschulden ist für diesen Schadensersatzanspruch nicht erforderlich  Mitverschulden des Erklärungsempfängers führt (entgegen § 254 BGB) zum Ausschluss des Schadensersatzanspruchs, § 122 II BGB Bsp.: Fall der Hotelreservierung, Empfangsdame ist nicht schwerhörig, der Telefonanschluß des Hotels ist aber defekt.  das Vertrauensinteresse ist der Höhe nach auf das Erfüllungsinteresse begrenzt (§ 122 a.E. BGB) → Vertrauensschaden: der Geschädigte wird so gestellt, wie er stehen würde, wenn sich der Erklärende korrekt ausgedrückt hätte und der Vertrag daher wegen fehlender Einigung erkennbar nicht zustande gekommen wäre Bsp. (Carola-Fall): Ersatz der Selbstkosten für die bereits geöffnete und nicht mehr veräußerbare Sprudelflasche. → Erfüllungsschaden: Geschädigter wird so gestellt, wie er stehen würde, wenn ordnungsgemäß erfüllt worden wäre Bsp.: Ersatz des Kaufpreises der Sprudelflasche im obigen Fallbeispiel

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Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen

II. Arglist- und Drohungsanfechtung  arglistige Täuschung, § 123 I Alt. 1, II BGB





Täuschung: Hervorrufen, Unterhalten oder Bestätigen eines Irrtums durch positives Tun oder Unterlassen (Verschweigen)



Arglist: Täuschung mit dem Vorsatz, dass der andere die Willenserklärung sonst so nicht abgegeben hätte; Erklärung „ins Blaue“ genügt



Spezialfall des Motivirrtums zum Schutz der Freiheit der Willensbildung

widerrechtliche Drohung, § 123 I Alt. 2 BGB •

Drohung: in Aussicht stellen eines Übels, auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt



widerrechtlich: verwerfliche Zweck-Mittel-Relation



kein Irrtum, aber Schutz der Freiheit der Willensbildung



keine Schadensersatzpflicht des Erklärenden



einjährige Anfechtungsfrist, § 124 BGB

III. Exkurs: Fehlen bzw. Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB Das Fehlen bzw. der Wegfall der Geschäftsgrundlage betrifft Fälle des beiderseitigen Irrtums über bestimmte bei Vertragsschluss bestehende oder nachträglich eintretende Umstände, die zumindest aus der Sicht einer der Vertragsparteien für das Interesse am Vertrag entscheidend sind. 

Beispiele: •

Fall 1: V verkauft K ein Bild, das einem Schüler von Claude Monet zugeschrieben wird, für DM 10.000. Später stellt sich heraus, dass dieses Bild von Monet selbst ist und dass der Marktpreis mindestens 10 Mal so hoch ist. K freut sich über sein Schnäppchen. V fordert eine Nachzahlung.



Fall 2: K bestellt eine Motor-Yacht bei der Bodensee-Werft W. Ziel ist die Verwendung dieser Yacht auf dem Bodensee. Danach Erlass eines behördlichen Verbots von Motor-Yachten dieser Größe auf dem Bodensee.



Fall 3: V und K schätzen eine Halde Altmetall, die K kaufen will, auf 40 Waggonladungen. Auf der Grundlage des Tagespreises berechnen sie den Kaufpreis. Beim Verladen stellt sich heraus, dass die Halde 80 Waggonladungen entspricht. V fordert eine Nachzahlung.

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Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen



Fall 4: Rosenmontagsumzug in Düsseldorf. Ein Hotel, welches unmittelbar an der Umzugsstrecke liegt, vermietet Ihnen einen Stehplatz auf seiner großen Terrasse, den Sie eine Woche vorher reservieren. Der Umzug wird kurzfristig abgesagt, weil wegen des 2. Golfkrieges Trauer angesagt ist. Müssen Sie den Stehplatz dennoch bezahlen ?



Fall 5: Im Jahre 1988 gewährt A dem B (beide wohnhaft in Dresden) ein Darlehen in Höhe von 10.000 Mark (DDR), das 1992 zur Rückzahlung fällig wird. Mit der deutschen Wiedervereinigung haben beide bei Vertragsschluss nicht gerechnet. Kann B im Jahre 1992 das Darlehen mit alten DDR-Mark zurückbezahlen, die er noch in einer Schublade findet ?



Das Fehlen bzw. der Wegfall der Geschäftsgrundlage wird seit der Schuldrechtsreform von 2002 in § 313 BGB geregelt. Der Gesetzgeber hat damit eine langjährige, auf § 242 BGB gestützte Rechtsprechung („Lehre vom späteren Wegfall oder anfänglichen Fehlen der Geschäftsgrundlage“) kodifiziert.



Lehre vom späteren Wegfall oder anfänglichen Fehlen der Geschäftsgrundlage betrifft Fälle des beiderseitigen Motivirrtums





Umstände sind nicht Vertragsinhalt geworden



Umstände sind für beide Parteien von Bedeutung (sonst bloß einseitiger Motivirrtum, s.o.)



Bsp. Rosenmontagsumzug: Für beide Parteien ist klar, dass der Umzug stattfinden wird. Der Umzug selbst ist aber nicht Vertragsbestandteil, insbesondere nicht Teil der geschuldeten Leistung. Bsp. Yachtfall: Die Parteien reden beim Vertragsschluss darüber, wie toll es doch sein muss, mit dem bestellten Boot auf dem Bodensee zu fahren.

Geschäftsgrundlage: Nach der bisherigen Rechtsprechung gehören zur Geschäftsgrundlage die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, aber bei Vertragsschluss zutage getretenen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die dem Geschäftspartner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, auf denen der Geschäftswille der Partei sich aufbaut (sog. subjektive Geschäftsgrundlage). Es genügt, wenn sich die Parteien besondere Umstände als selbstverständlich ansehen, ohne sich diese bewusst zu machen (sog. objektive Geschäftsgrundlage). Kontrollfrage: Durfte die Vertragspartei davon ausgehen, dass sich der Geschäftspartner sinnvollerweise darauf eingelassen hätte, den fraglichen, für die eine Vertragspartei wichtigen Umstand zum Vertragsinhalt zu machen ? •

Äquivalenzstörung: Umstände, die für das vertragliche Gleichgewicht bedeutsam sind Bsp. Darlehensfall: Die deutsche Wiedervereinigung führt dazu, dass der Inhalt der Rückzahlungsverpflichtung (10.000 DDR-Mark) nicht mehr dem damaligen Wert der Auszahlungsverpflichtung entspricht, obwohl der Nennwert derselbe ist

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Reiner, Privatrecht für Wirtschaftswissenschaftler, § 18: Anfechtung von Willenserklärungen



Zweckstörung: Umstände, die für das Erreichen des mit dem Vertrag verfolgten persönlichen Zwecks von Bedeutung sind Bsp. Yachtfall: Trotz Erlass des behördlichen Verbots ist die Yacht nach wie vor ihren Kaufpreis wert. Das Problem liegt aber darin, dass K seine Yacht nicht mehr, wie vorgesehen, auf dem Bodensee benutzen darf



schwerwiegende Veränderung der Umstände (§ 313 I BGB) oder Herausstellen wesentlicher Vorstellungen als falsch (§ 313 II BGB)



Parteien hätten bei Kenntnis der Sachlage den Vertrag so nicht geschlossen



Festhalten am unveränderten Vertrag ist unzumutbar



Rechtsfolge: primär Vertragsanpassung, § 313 I BGB; sofern dies unmöglich oder unzumutbar ist Rücktritt bzw. Kündigung, § 313 III BGB Bsp. Rosenmontags-Fall: Eine Vertragsanpassung ist nicht möglich. Die Zweckstörung aus Ihrer Sicht (Hotelgast) kann nicht etwa damit gelöst werden, dass Sie dem Hotel für den gemieteten Terrassenplatz nur noch die Hälfte bezahlen müssen. Das Gericht wird dem Gast deshalb die Möglichkeit gewähren, vom Vertrag zurückzutreten. Zum Schutz des Vertragspartners wird hier § 122 BGB analog angewandt. Danach hat der Gast dem Hotel den Vertrauensschaden zu ersetzen (z.B. nutzlose Aufwendungen). Bei Störungen der Geschäftsgrundlage, die ihre Ursache in grundlegenden Änderungen der wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Rahmenbedingungen haben (zB Krieg, Revolution, Naturkatastrophen) - der sog. „großen“ Geschäftsgrundlage -, kann § 313 BGB durch Spezialregelungen des Gesetzgebers verdrängt werden (Fall 5: Gesetz zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland vom 18. Mai 1990).



Abgrenzung zur ergänzenden Vertragsauslegung: •

ergänzende Vertragsauslegung: betrifft Fälle, wo eine Regelungslücke besteht; die Parteien haben einen bestimmten Punkt überhaupt nicht bedacht



Lehre von der Geschäftsgrundlage: kommt zum Einsatz, wenn eine Regelung bzgl. des streitigen Punktes (i.d.R. der vertraglichen Hauptpflichten) vorhanden ist, diese aber angesichts der veränderten Umstände als unbillig empfunden wird



die ergänzende Vertragsauslegung ist gegenüber der Lehre von der Geschäftsgrundlage vorrangig (planwidrige Unvollständigkeit)

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