Seymour_Ansicht - junges

February 9, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Darstellende Kunst, Theater
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schauspiel – –

SEYMOUR ODER ICH BIN NUR AUS VERSEHEN HIER

ANNE LEPPER

Benedikt greiner, andri schenardi, stéphane maeder, milva stark, mona kloos, pascal goffin

SEYMOUR ODER ICH BIN NUR AUS VERSEHEN HIER

ANNE LEPPER

besetzung regie Dominic Friedel bühne Olga Ventosa Quintana kostüme Senta Amacker licht Christian Aufderstroth musikalische einstudierung Michael Frei dramaturgie Sabrina Hofer regieassistenz und abendspielleitung Claudia Bossard souflage Gabriele Suremann inspizienz Miklos Ligeti bühnenbildassistenz Konstantina Dacheva kostümassistenz Maya Däster regiehospitanz Irina Amstutz bühnenbildhospitanz Nina Nyfeler

leo Benedikt Greiner robert Milva Stark heidi Mona Kloos oskar Stéphane Maeder max Pascal Goffin sebastian Andri Schenardi

technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch

merci

leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm und maske Franziska

Ambühl bühnenmeister Jean-Claude Bögli audio/video Marcel Schneider, Sebastian Hundius requisite Karin Meichtry tapezierer Martin Bieri maske Elke Bardolatzi

Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter tapezierer Daniel Mumenthaler leiter maske Ralph Zaun gewandmeisterinnen Mariette Moser, Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Karl Morawec leiter audio und video Bruno Benedetti

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premiere 14. Dezember 2014, Vidmar 1

dauer der vorstellung ca. 1h 45min, keine Pause

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benedikt greiner, stéphane maeder, mona kloos, andri schenardi, pascal goffin

Die autorin ANNE LEPPER

Anne Lepper stellt in ihren Stücken immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven die Frage nach Zugehörigkeit. Ihre Figuren sind entweder ausgestossen, abgeschoben oder eingesperrt – auf jeden Fall anders. Anders oder, genauer gesagt, ungewöhnlich sind auch die Theatertexte der 36-jährigen in Essen geborenen Dramatikerin, die seit ihrer Entdeckung vor fünf Jahren die deutschsprachigen Bühnen im Sturm erobert. Sie sei «das grösste Dialogtalent seit Werner Schwab» attestierte ihr der Theaterkritiker Peter Michalzik nach ihren ersten Erfolgen. Leppers Theatertexte erzeugen durch ihre nüchterne Sprache eine eigene Poesie. Die Dramatikerin scheut sich nicht davor, Tabuthemen zu beleuchten. Sie tut dies allerdings nicht auf voyeuristische Weise, sondern zeichnet mit viel psychologischem Feingefühl rührende und zerbrechliche Figuren, die niemals hoffnungslos wirken. In der Juryerklärung des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, der ihr 2013 den Dramatikerpreis verlieh, heisst es: «Lepper liefert das Portrait einer Gesellschaft des Selbstbetrugs. Sie zeigt, dass es ohne Wünsche, Träume, Illusionen nicht geht, auch wenn man weiss, dass sie nie wahr werden.»

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Mit ihrem Debütstück «Sonst alles ist drinnen», einem düsteren Familiendrama über Inzest, gewann sie 2009 an den Münchner Kammerspiele den Publikums- und Förderpreis der «Langen Nacht der neuen Dramatik». Ein Jahr später erfolgte die Uraufführung (R: Jessica Glause). Mit ihrem zweiten Stück «Hund wohin gehen wir» wurde sie zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2011 eingeladen und erhielt den Werkauftrag-Preis. Aus diesem Auftrag entstand ihr parabelartiger Kommentar zur Leistungsgesellschaft «Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier», der im Januar 2012 am Schauspiel Hannover (R: Claudia Bauer) zur Uraufführung kam. Im selben Monat wurde dann auch schon ihr drittes Stück «Käthe Hermann» am Theater Bielefeld uraufgeführt (R: Daniela Kranz). Es folgten Einladungen zu den Mülheimer Theatertagen sowie den Autorentheatertagen in Berlin. Ihre beiden Texte «Seymour» und «Hund wohin gehen wir» wurden zudem vom WDR als Hörspiele produziert und ausgestrahlt. Von der Kritikerumfrage des Fachmagazins Theater heute wurde sie zur Nachwuchsdramatikerin 2012 gewählt. Ihr jüngstes Stück, «La Chemise Lacoste», eine bitterböse Komödie über Reichtum, Besitz und die Ängste von PolohemdträgerInnen, wird am Düsseldorfer Schauspielhaus ab Februar 2015 zu sehen sein (R: Alia Luque). Bevor Leppers steile Karriere als Dramatikerin begann, studierte sie Philosophie, Literatur und Geschichte in Wuppertal, Köln und Bonn. Nach Promotionsstudien in Bamberg und Essen schloss sie bis 2010 ein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel (HKB) an. Dort entdeckte sie für sich den Reiz am szenischen Schreiben: «Man kann sich viel mehr erlauben. Ich habe die Freiheit, die Autorenperspektive wegzulassen». Mit der Inszenierung von «Seymour» am Konzert Theater Bern ist zum ersten Mal ein Stück von der erfolgreichen Autorin auf einer Schweizer Bühne zu sehen.

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HAUPTSACHE EINE GLATTE OBERFLÄCHE Attraktivere Körper, bessere Jobs, ideale Beziehungen, schlauere Kinder – der Wunsch nach dem perfekten Leben ist zum Credo des 21. Jahrhunderts geworden. Durch den Prozess der Individualisierung wurde Selbstentfaltung zum Leitbild erhoben und verwandelt die rasant gestiegenen Chancen in einer freieren, globalisierten Welt rasch in Pflichten: Schliesslich liegt es nicht an den Möglichkeiten, aus seinem Dasein das Maximum herauszuholen, sondern am Willen und Ehrgeiz, das Potential zu entdecken und zum Blühen zu bringen. Das suggerieren zumindest die unzähligen, Erfolg versprechenden Optimierungscoachings, Lebenshilfe-Apps, SelfTracking und Castingshows. Ob im Beruf, im Studium, in der Beziehung oder auch im alltäglichen Konsum – für Erfolg oder Scheitern ist also der Einzelne ganz alleine verantwortlich. Er wird zum «Unternehmer seiner selbst», der ständig damit beschäftigt ist, die Eigenrendite zu optimieren. Wer dabei nicht mithalten kann oder will, muss damit rechnen, ausrangiert zu werden. Makel, Fehler oder Mangel erinnern gleich wie Alter, Krankheit oder Behinderung an die Fehlbarkeit und Unvollkommenheit des Menschen. Eine Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft will davon nichts wissen und schon gar nicht daran erinnert werden. Für den Einzelnen gilt es also seine Unzulänglichkeiten und Defizite auszumerzen und sich an den gängigen Normen und Idealen zu orientieren, um ins Raster der Schönheit zu passen, damit auf keinen Fall Irritationen oder Funktionsstörungen auftreten, die evtl. Kosten verursachen könnten. Abweichungen, Unangepasstheiten und Hässlichkeiten sind das Gegenteil von perfekt. Sie stören und deuten auf Verletzlichkeit und schliesslich auf die Vergänglichkeit des Lebens hin.

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Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han machte kürzlich in einem Interview in Die Zeit eine interessante Feststellung, als er über Schönheitsideale unserer Epoche sprach: «Das Glatte charakterisiert unsere Gegenwart». Diesen Befund macht er sowohl am Siegeszug von Touchscreens fest, als auch am Trend zu Entfernung von Körperbehaarung an allen möglichen Stellen, sowie am enormen Erfolg des Künstlers Jeff Koons, der seit 2013 mit der Versteigerung einer seiner Balloon Dogs Skulpturen zum Preis von 58,4 Millionen US-Dollar als der teuerste lebende Künstler der Welt gilt. «Heute entsteht eine Kultur der Gefälligkeit», meint Han weiter. Weder provoziere Kunst, noch lasse sich die Politik auf konfliktreiche Debatten ein, aus Angst davor, irgendjemanden zu verletzen oder selber verletzt zu werden. Die «glatte» Politik von heute scheue den Konflikt zu Gunsten des inzwischen zerbrechlich gewordenen neoliberalen Systems und versuche alle Brüche, Risse und Unregelmässigkeiten zu vermeiden, damit das System, das auf Effizienz und Produktivität ausgerichtet sei, nicht ins Stocken geriete. Dieses «Übermass des Positiven» verhindere das Aufkommen von neuen, vielleicht unbequemen Ideen. Durch die fehlenden politischen Ideologien bestimme zunehmend der Markt Ideale und Bedürfnisse: «Das System erschwert es uns, das eigene Glück zu finden. Denn wir wissen ja nicht einmal, was wir wollen. Die Bedürfnisse, die ich als meine Bedürfnisse wahrnehme, sind nicht meine Bedürfnisse. Nehmen Sie den Textildiscounter Primark. Neulich hörte ich von einem Mädchen, dass laut vor Freude schrie: ‹Mein Leben ist perfekt!›, als es erfuhr, dass ein Primark in der Nähe ihres Wohnortes eröffnet wird. Ist dieses Leben wirklich ein perfektes Leben für sie, oder ist es eine Illusion, die diese Konsumkultur erzeugt hat?»

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Die Frage danach, wer oder was Bedürfnisse, Sehnsüchte, Wünsche und Träume beeinflusst oder vorgibt, stellen sich in «Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier» auch Heidi, Max, Oskar, Robert und Leo. Auch ihnen, die «vorübergehend» in ein Kurhaus hoch oben in den Bergen verbannt wurden, um ihre Körper in die «richtige» Form zu bringen, wird gedroht: «Was schlecht ist muss ersetzt werden, was fehlerhaft ist, muss ersetzt werden, was kaputt ist, muss ersetzt werden, was alt ist muss ersetzt werden». Zuversichtlich beugen sie sich diesem Diktat und merken dabei nicht, dass sie eigentlich ganz andere Sehnsüchte und Bedürfnisse haben, als in erster Linie abzunehmen: Heidi hadert mit ihrer Identität als Mädchen und hinterfragt dabei so unbescholten, wie es nur Kinder können, die Gender-Normen. Max möchte lieber zur Schule gehen und etwas lernen, anstatt den ganzen Tag über seinen Körper nachzudenken. Oskar geniesst das «Herumbummeln in den Bergen» und ist glücklich darüber, nicht am Leben unten im Tal teilnehmen zu müssen. Robert testet seine Autorität als selbsternanntes Sprachrohr von Doktor Bärfuss, dem abwesenden Leiter des Kurhauses, und sorgt dafür, dass die vorgegebenen Regeln eingehalten werden. Alle zusammen aber sehnen sich, wie alle Menschen, im Grunde eigentlich nach Anerkennung und Liebe. Die Gruppe ist sich zwar selbst überlassen, scheint aber trotz absurder Regeln zu funktionieren. Einziger Hinweis darauf, dass schon länger kein Erwachsener mehr nach den Kindern geschaut hat, ist der dünne Sebastian, der regungslos auf dem Gemeinschaftsdiwan liegt. Er wird für die anderen u.a. wegen seines «goldenen» Armes als wertvoll angesehen und dient ihnen als perfekte Projektionsfläche. Als allerdings Leo, der Neuankömmling, zu der Gruppe stösst, kommen Zweifel über Sinn und Zweck dieser Kur auf. Langsam aber sicher begreifen die

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jungen Patienten, dass sie bereits längst ersetzt wurden und die Gesellschaft im Tal sie ausgeschlossen hat. Im Ausgestossensein verbirgt sich dennoch eine Chance, denn sie müssen sich zumindest nicht mehr dem vorgegebenen Schönheitsideal und Leistungsdiktat beugen. Vielleicht ist das tatsächlich die einzige Möglichkeit, wie man sich der Konsumkultur entziehen kann?

Sabrina Hofer

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«DER ERLÖSER ERSCHEINT ABER NICHT» EIN GESPRÄCH MIT REGISSEUR DOMINIC FRIEDEL Die Figuren in Anne Leppers Stück sind Überflüssige, die in den Bergen entsorgt wurden. Es geht also – ähnlich wie bei deiner letzten Theaterproduktion, die du vor zwei Jahren in Bern inszeniert hast («Das Bekenntnis eines Masochisten» von Roman Sikora) – um Individuen, die nicht in das Raster der gesellschaftlichen Normen passen. Was interessiert dich an solchen Randexistenzen?

Vielleicht beschäftige ich mich zu meiner Beruhigung damit. Ist es nicht so, dass wir, die wir uns gefühlt in der Mitte der Gesellschaft befinden, eine enorme Angst davor haben, plötzlich an den Rand gedrängt zu werden, weil wir in irgendeiner Form nicht «richtig» sein könnten oder nicht mehr gebraucht werden? Dies hat zur Folge, dass man partout nicht an die Ränder schauen möchte. Mich interessiert an solchen Aussenseiterfiguren, dass ihre Abweichungen «normal» werden, je näher man sie beleuchtet. Indem man die Perspektive wechselt, merkt man, dass die gängigen Normen ziemlich willkürlich sind. Gerade Fehler machen uns doch menschlich. Sie definieren uns sogar. Daher glaube ich, solange man Angst vor seinen eigenen Schwächen hat, wird man nie zu seinen Stärken finden. Menschen haben immer Mängel, so gesehen sind wir also alle «dicke Kinder».

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Die Autorin legt unterschiedliche Fährten in ihrem Text. Die Bezüge zu Jean-Paul Sartres Drama «Geschlossene Gesellschaft» oder Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» sowie einer Verfilmung von «Dr. Mabuse» aus den Sechziger jahren sind offensichtlich. Wie bist du mit diesen Hinweisen und Zitaten umgegangen?

Es war tatsächlich sehr spannend, diesen Hinweisen nachzugehen. Die unterschiedlichen Anspielungen von Georg Büchner über J. D. Salinger, Ernst Jünger, Samuel Beckett bis Slavoj Žižek etc. habe ich als Einladung verstanden, die unsere Phantasie anregen und uns auf weitere Bilder oder grössere Zusammenhänge stossen lassen sollen. Für die ZuschauerInnen ist es aber nicht wichtig, diese Bezüge zu erkennen. Wir haben auch nicht versucht, sie weiter kenntlich zu machen. Darum geht es meiner Meinung nicht. Es ist vielmehr eine Veranschaulichung, wie Wissensaneignung funktioniert. Für den Sprechgestus der SchauspielerInnen allerdings hat das Zitieren eine grosse Relevanz. Ähnlich wie die Kinder in Leppers Stück nicht immer ihre eigenen Texte sprechen, sondern Floskeln, die offensichtlich von Erwachsenen stammen, übernommen haben, liegen hier die Verweise auf psychoanalytische Theorien oder literarische Werke als Folie über der gesamten Handlung. Bereits mit dem Zitat im Prolog «Desire is a wound of reality» führt uns die Spur über Slavoj Žižek zum Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem Begriff der «symbolischen Ordnung», also jener Ordnung der Sprache und des Diskurses sowie auch der Macht. Wenn bei diesen Kindern die Künstlichkeit der Sprache in der Art, wie sie sprechen, deutlich wird, kann die symbolische Ordnung bzw. das Konstrukt der Sprache kenntlich gemacht werden. Für mich war klar, dass dieses Stück auch als Modell für die Theorie Lacans gelesen werden kann und nicht 1:1 bebildert werden muss. Die Figuren Sebastian und der abwesende Dr. Bärfuss geben klare Hinweise dafür.

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«Die Hölle, das sind die anderen» heisst es bei Sartre. Wer oder was wird in deiner Inszenierung für wen zur Hölle?

Zweifellos sind diese dicken Kinder in erster Linie von den Ideologien geprägt, nach denen sich die Menschen unten im Tal richten, also von den Normen und Idealen ihrer Eltern und Erzieher oder eben von denen des Dr. Bärfuss. Weil sie auf Grund ihres Dickseins aus der Gesellschaft gefallen sind, wollen sie alle dünner werden, um wieder aufgenommen zu werden oder nach Hause gehen zu können. Das ist natürlich eine Illusion. Es ist nicht sicher, dass alles besser wird, wenn sie dünn sind, und schon gar nicht, dass sie nach Hause dürfen und wieder geliebt werden. Diese Selbstoptimierungsideologie ruft die falschen Wünsche hervor. Die Hölle oder der fatale Irrtum liegt an ihrem «falschen» Begehren, denn sie wollen etwas, das vielleicht gar nicht unbedingt ihrem Naturell oder ihrem wirklichen Wesen entspricht. In gewisser Weise werden sie sich selber zur Hölle.

Die Tragik dieser Figuren liegt also darin, dass sie nicht imstande sind, ihrem Gegenüber ihr wirkliches Wesen zu vermitteln. Es sind aber Kinder. Kinder, so könnte man denken, sind doch noch unbedarft?

Natürlich sind Kinder noch unbeschrieben, und gerade wegen dieses Kunstgriffes funktioniert dieser Text so toll. Lepper generiert einen Widerspruch, indem sie die Ideologien oder die Logik der Erwachsenen von Kindern sprechen lässt. Das hört sich zum Teil wie nachgeplappert an. Für die LeserIn oder ZuschauerIn wird der Unterschied zwischen den eigenen und den übernommenen Gedanken so überhaupt erst nachvollziehbar. Kinder suchen nach Erklärungen, haben Fragen und versuchen ständig, sich bei ih-

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rem Gegenüber zu bestätigen. Sie können ihre Individualität oder Subjektivität nur über die anderen wahrnehmen. Die Herausforderung für uns ist nun, dass die Figuren von erwachsenen SchauspielerInnen gespielt werden. Es ist eine Gratwanderung, denn die SchauspielerInnen sollen nicht Kinder spielen, sondern vielmehr offen und direkt wie Kinder sein. Sie sollten mit einer gewissen Hoffnung und Zuversicht ausgestattet sein, umso schrecklicher ist es dann nämlich, dass im Laufe des Abends allen nach und nach diese Hoffnung genommen wird.

Und die Erwachsenen, welche Funktion haben sie?

Über die Erwachsenen wie die Eltern oder Dr. Bärfuss wird zwar gesprochen, aber sie tauchen in der Inszenierung nie als Figuren auf. Trotz ihrer Abwesenheit üben sie enorme Macht auf die Kinder aus. Sie repräsentieren die Regeln, an die sich die Kinder halten, weil sie daran glauben. Komplett alleine gelassen warten sie auf den Doktor und darauf, dass er endlich für die Generaluntersuchung kommt. Der Erlöser erscheint aber nicht.

Welche Rolle spielt der Glaube?

Der Glaube an das von Dr. Bärfuss konzipierte Kurprogramm und die daran geknüpfte Hoffnung prägt das Leben der Kinder in dieser Anstalt vor allem zu Beginn. Im Laufe des Stücks wird ihnen dieser Glaube genommen. Sie verlieren den ursprünglichen Lebenssinn (den des Abnehmens) und stehen somit vor der Notwendigkeit, frei von der Bärfussschen Ideologie eigene Ideale und Sehnsüchte für sich zu bestimmen. Nicht alle Figuren kommen klar mit dieser nihilistischen Weltsicht, es überfordert die meisten und für einige ist es sogar der pure Albtraum. Aber ab jenem Zeitpunkt, an dem

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die Kinder begreifen, dass sie niemals mehr abgeholt werden, also dann, wenn die «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei», angedeutet wird, ist das Mündigwerden oder Erwachsenwerden im Grunde das Einzige, was ihnen übrig bleibt.

Was ist das für ein Ort, an den diese Kinder verbannt wurden?

Im Stück ist es ein Kurhaus in den Bergen, vielleicht ein ähnlicher Ort wie die Tuberkulose-Sanatorien aus dem letzten Jahrhundert. Also eigentlich etwas Altmodisches, was ich auch wieder als einen schönen Widerspruch empfinde – denn die Kinder werden schliesslich dorthin gebracht, um Fortschritte zu machen. Unsere Bühnenbildnerin Olga Ventosa Quintana hat dafür eine relativ abstrakte Übersetzung gefunden und packt die SpielerInnen in einen sterilen, trichterförmigen Raum mit sehr, sehr hohen Mauern. Mir war wichtig, dass die Unentrinnbarkeit physisch sichtbar wird. Es ist fast unmöglich, die hohen Seitenwänden zu erklimmen. Die überdimensionierten Kostüme von Senta Amacker und noch weitere Hindernisse erschweren es den SchauspielerInnen zusätzlich. Allerdings könnten sie ganz einfach vorne über die offene Seite zum Zuschauerraum die Bühne verlassen, dies aber entdecken die Figuren erst viel später.

Das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe wurde in deiner Inszenierung zum zentralen Thema. Was war dir dabei wichtig?

In diesem Kurhaus hat sich eine Gemeinschaft gebildet, die nach ganz eigenen Regeln funktioniert, die zum Teil ziemlich absurd sind. Das vermeintliche Ziel ist, abzunehmen, und doch tun die Kinder nichts, damit sie das Ziel erfüllen können. Statt Sport machen sie Liegekuren, statt Diät feiern sie regelmässig Kuchenorgien. Die Ordnung scheint am Anfang noch in Takt zu sein. Der Chor funktioniert harmonisch. Mit der Ankunft von Leo kommt der Zweifel auf, das System bekommt langsam Risse. Er sprengt durch seine Verweigerung die Ordnung. Der Chor löst sich in einzelne Individuen mit unterschiedlichen Wünschen und Sehnsüchten auf. Robert, der Dr. Bärfuss vertritt, versucht, seine Autorität durch ein Angstregime aufrecht zu erhalten, wodurch er aber immer mehr das Vertrauen der anderen verliert, bis er schliesslich gestürzt wird oder auch entlarvt. Ob Dr. Bärfuss eine Erfindung von ihm selbst ist, um seinen Machtanspruch zu legitimieren, das bleibt in unserer Inszenierung absichtlich offen.

Wer ist Seymour?

Seymour ist nicht nur der Cousin von Leo, der ihn während seines Kuraufenthaltes zu Hause ersetzt, sondern er ist auch ein Bild für das, was klüger, leistungsfähiger, schöner etc. ist. Ein besseres Ich vielleicht. Er ist der konkrete Auslöser für diese diffuse Angst, plötzlich ersetzt oder ausgewechselt zu werden. Ja und dann ist er auch noch aus England …

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andri schenardi

nachweise Impressum

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TEXTNACHWEISE Die biografische Notiz zur Autorin und der Artikel «Hauptsache eine glatte Oberfläche» wurden für diese Programmheft geschrieben. Als Grundlage für die Recherche diente folgende Sekundärliteratur: Zeit-online Nº 38/2012 «Verlorene Kinder – eine Begegnung mit der Dramatikerin Anne Lepper» von Peter Michalzik. | «Tut mir leid, aber das sind Tatsachen» Byung-Chul Han im Gespräch mit Niels Boeing und Andreas Lebert In: DIE ZEIT Wissen Nr. 05/2014. | Klaus Werle: Die Perfektionierer, Frankfurt am Main 2010. Das Interview mit Dominic Friedel führte Sabrina Hofer am 18. November 2014.

bildnachweise Portrait der Autorin © Bettina Knoth | Probefotos 08.12.2014: Annette Boutellier

konzert Theater bern intendant Stephan Märki schauspieldirektorin Iris Laufenberg spielzeit 2014.2015 redaktion Sabrina Hofer konzept & gestaltung formdusche, Berlin layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf

redaktionsschluss 08. Dezember 2014 | Änderungen vorbehalten.

der zerbrochne Krug heinrich von kleist «Die schauspielerischen Leistungen in Schönsees Inszenierung sind formidabel. Selten wurde eine Klage um einen zerbrochenen Gegenstand so unterhaltsam vorgebracht, wie dies Sophie Hottinger in der Rolle als Marthe tut.» Der Bund «Die Inszenierung pendelt zwischen dem Offensichtlichen und den Zwischentönen, die für Spannung sorgen: Sünde – und wie sich die Fehlbaren die Haut retten wollen. Einmal mehr ein tadelloser Auftritt des Schauspielensemble von Konzert Theater Bern.» Berner Zeitung regie Mathias Schönsee – mit Henriette Blumenau, Sophie Hottinger, Mona Kloos, Corinne Steudler, Pascal Goffin, Benedikt Greiner, Stefano Wenk, Jürg Wisbach Stadttheater 10., 18., 31. Jan | 07., 28. Feb | 13., 20., 25. Mrz 2015

Preise: Einzelheft: chf 3,– im Vorverkauf und an der Abendkasse

Weitere Termine finden Sie im Monatsleporello sowie auf www.konzerttheaterbern.ch

inserat ziggerli iff

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