Wie friedfertig war und ist \"der Buddhismus\" wirklich?

January 10, 2018 | Author: Anonymous | Category: Kunst & Geisteswissenschaften, Religionswissenschaft, Buddhismus
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Shaolin-Kungfu, Mönchssoldaten, Tyrannenmörder: Wie friedfertig war und ist "der Buddhismus" wirklich?

Prof. Dr. Christoph Kleine Universität München

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Shaolin-Kungfu, Mönchssoldaten, Tyrannenmörder: Wie friedfertig war und ist „der Buddhismus" wirklich?«

Prof. Dr. Christoph Kleine Universität München

Seit d e m 11. S e p t e m b e r 2001 ist selbst dem religionswissenschaftlich weniger informierten Teil der Weltöffentlichkeit mit einem Schlag b e w u ß t geworden, d a ß Religionen sich durchaus nicht i m m e r Frieden und Nächstenliebe auf ihre F a h n e n geschrieben haben. Fast täglich hören w i r von Terroranschlägen, die im N a m e n des Islam M e n s c h e n in den T o d reißen; radikale israelische Juden ste­ h e n ihren Erzfeinden auf palästinensischer Seite dabei an Gewalttätigkeit in nichts nach. Der „wiedergeborene Christ" und gerade wiedergewählte Präsident d e r Vereinigten Staaten hat den von ihm angezettelten Krieg gegen den Irak selbst einmal als „Kreuzzug" bezeichnet, und in der Tat sehen fundamentalisti­ sche Christen in den U S A , die bis zu 25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausma­ chen, in d e m K a m p f gegen den Irak und den Terror eine religiöse Mission. W ä h r e n d d a s Christentum in Europa - allen Sünden der Vergangenheit zum T r o t z - i m m e r noch den Ruf genießt, prinzipiell für den Frieden einzutreten, hat aus Sicht amerikanischer Fundamentalisten ein weltlicher Friedensbegriff mit Christentum rein gar nichts zu tun. Freier Waffenbesitz, die Todesstrafe, ein starkes Militär gehören in den A u g e n der konservativen „church goers" zum Kernbestand des christlichen Wertesystems. Doch nicht nur die großen monotheistischen Religionen inszenieren und legitimieren überall auf der Welt gewalttätige Konflikte: A m 6. Dezember 1992 zerstörten zehntausende fanatisierter Hindus die Babri-Moschee im nordindi­ schen A y o d h y a , w o b e i über 2 0 0 0 Muslime zu Tode kamen. Nachdem man zu­ mindest in E u r o p a jahrzehntelang d e m Irrglauben angehangen hatte, die Welt befinde sich in e i n e m unaufhaltsamen Prozess der Säkularisierung, setzt sich n u n z u n e h m e n d die Einsicht durch, daß die Mehrzahl der gegenwärtigen und zukünftigen Konflikte, die die Welt an den Rand einer atomaren Katastrophe führen könnten, nicht zuletzt aus religiösen Motiven heraus geführt werden.

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Dieser Vortrag und seine schriftliche Fassung basiert zu weiten Teilen auf folgendem Auf­ satz: Christoph Kleine, "Üble Mönche oder wohltätige Bodhisattvas? Über Formen, Gründe und Begründungen organisierter Gewalt im japanischen Buddhismus," Zeitschrift für Re­ ligionswissenschaft Ii, no. 2 (2003).

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Ch. Kleine

N u r eine Religion scheint den meisten M e n s c h e n im W e s t e n w e i t g e h e n d unverdächtig zu sein: der B u d d h i s m u s . Der Erfolg des B u d d h i s m u s i m W e s t e n läßt sich zweifellos auch darauf zurückfuhren, d a ß diese Religion d e n R u f g e nießt, von G r u n d auf friedfertig zu sein, frei v o n D o g m a t i s m u s u n d Fanatismus. W i r wären heute nicht hier, w e n n w i r davon überzeugt w ä r e n , d a ß das Klischee v o m grundguten Buddhismus uneingeschränkt mit der Wirklichkeit korrespondierte. Sie alle werden schon v o n den g r a u s a m e n Konflikten in Sri L a n k a zwischen mehrheitlich hinduistischen T a m i l e n u n d buddhistischen Singhalesen gehört haben, bei denen auch buddhistische M ö n c h e allzu oft eine ziemlich u n rühmliche Rolle gespielt haben. D o c h diese Konflikte betreffen Europa k a u m unmittelbar - in Sri Lanka gibt es kein Öl - u n d w e r d e n daher w e n i g e r deutlich w a h r g e n o m m e n . Sobald Buddhisten Gewalttaten b e g e h e n , w e r d e n diese gern als Einzelfälle, als bedauerliche Entgleisungen gewertet, die d e m grundsätzlich friedfertigen Charakter der Religion des B u d d h a keinen A b b r u c h tun. Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, daß organisierte u n d institutionalisierte G e w a l t an vielen Orten u n d über lange Zeiträume zur Normalität des B u d d h i s m u s g e h ö r ten. Bevor ich mich der Frage z u w e n d e , welche B e g r ü n d u n g e n und Legitimationsstrategien für den Einsatz v o n Waffengewalt im B u d d h i s m u s gefunden w u r den, möchte ich eine kurze historische Bestandsaufnahme m a c h e n . Dabei w e r de ich mich auf den B u d d h i s m u s in China, J a p a n und Tibet konzentrieren.

China In einem chinesischen Geschichtswerk findet sich ein e i n i g e r m a ß e n m e r k w ü r diger Eintrag: A l s die zur Niederschlagung eines Aufstandes in C h a n g ' a n entsandten T r u p p e n des Kaisers T a i w u d i ~fc&M (r. 4 2 4 - 4 5 1 ) v o n der Nördlichen W e i Dynastie (386-534) im J a h r 4 4 6 bei einem buddhistischen Kloster eine Rast einlegten, entdeckten sie durch Zufall ein großes Waffenlager mit B ö gen, Pfeilen, Speeren und Schilden. Die Tatsache, daß die buddhistischen Klöster nicht nur unverschämt reich g e w o r d e n waren, sondern auch noch Waffen horteten, beunruhigte die Regierenden zutiefst und veranlaßte sie zu einer „Reinigung" des Ordens, die als die „ H e i m s u c h u n g des D h a r m a unter d e m W e i Kaiser W u (Weiwu fanan ffcS£?fe!8)" in die A n n a l e n der G e s c h i c h t e e i n g i n g . Die Angst v o r einem bis an die Zähne bewaffneten buddhistischen O r d e n schlug sich auch später noch sowohl in China als auch in J a p a n in G e s e t z e n nieder, die den Mönchen und N o n n e n das A n n e h m e n v o n Waffen als S p e n d e n , s o w i e das Studium müitärischer Traktate untersagten.3 A u c h w e n n die Quellenlage im 2

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K. S. Ch'en, Buddhism in China: A Historical Survey, Princeton 1973,149. „1. Monks and nuns who are guilty of any of the following offences shall be punished by the civil authorities in accordance with the law: — By false reading of omens predicting disasters or making treasonable statements and leading astray the people. Studying military treatises. Commiting murder and robbery [...]". Sansom, „Early Japanese Law," 127; vgl. Singer, The Life of Ancient Japan, 217; Aida Hanji #ffi|§rä, Chükai Yororyo 3£Ä?ft=g

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in A n w e n d u n g geschickter Heils- oder Hilfsmittel * (upaya-kausalya; fangbian

Ch.

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Leider hatte es der Buddha versäumt zu sagen, welche Regeln von marginaler Bedeutung sind.

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Damien Keown, The Nature of Buddhist Ethics, Houndmills; Basingstoke; London 1992,

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Zum Konzept der „geschickten Hilfsmittel" siehe Michael Pye, Skilful Means: A Concept in Mahayana Buddhism (London: Duckworth, 1978).

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in Weisheit

(prajna)

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und aus Mitgefühl (karuna) 3°

A s a n g a (ca. 3.-4. Jh.) stellt in s e i n e m für die E n t w i c k l u n g d e r M a h a y a n a - E t h i k äußerst einflußreichen Bodhisattva-bhümi-äastras* fest, d a ß es e i n e m B o d h i sattva durchaus erlaubt sei, j a geradezu g e b o t e n , einen M e n s c h e n zu töten, der im Begriff ist, fühlende W e s e n zu e r m o r d e n b z w . einen M ö n c h , einen pratyekabuddha oder einen Bodhisattva zu verletzen. Da diese T a t e n d e n Übeltäter in die „Hölle d e s unablässigen Leidens" (avici) gestürzt hätten, galt seine T ö t u n g v o r Tatausführung nicht zuletzt als mitleidiger A k t g e g e n ü b e r d e m Getöteten selbst. Die T ö t u n g s h a n d l u n g zieht in diesem Fall also k e i n e negativen k a r m i schen K o n s e q u e n z e n nach sich, sondern bringt großes V e r d i e n s t e Ein b e r ü h m t e s Beispiel für einen solchen „ M o r d aus Mitleid" mit d e m Ü beltäter bietet die tibetische Geschichte: Der Überlieferung zufolge e r m o r d e t e ein buddhistischer M ö n c h i m Jahr 842 den tibetischen König L a n g d a r m a , u m diesen v o n w e i t e r e n M a ß n a h m e n g e g e n den buddhistischen O r d e n abzuhalten. Dieser T y r a n n e n m o r d w u r d e zumindest i m Nachhinein als M i t l e i d s h a n d l u n g zugunsten des Ermordeten gedeutet u n d legitimiert. Bis heute ist die E r m o r d u n g L a n g d a r m a s A n l a ß für ein alljährlich stattfindendes Maskentanzritual.33 30 3»

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Z.B. nach Prajnakaramatis Kommentar zu Santidevas Bodhicaryavatara; zitiert in Keown, The Nature, 151-52. Ich beziehe mich hier auf die einflußreiche Übersetzung des Yogacara-bhümi-s'astra Xuanzangs £ 9 1 (602-664) von 646-648 {Yujia shidi lun J&{ÖQÖfii&l6; T30, no. 1579). Bemerkenswerterweise fehlt in der früheren, 421 von Dharmaksema fertiggestellten Übersetzung der Bodhisattva-bhümi (Pusa dichijing ^ ^ i t ä ^ f ü ; T30, no. 1581) der gesamte Abschnitt über die Legitimität von Regelverstößen auf der Grundlage der Anwendung „geschickter Hilfsmittel" (upaya; durch Bodhisattvas. Der Text lautet in etwa: „So ist das gesinnungsfrohe Denken des Bodhisattvas. Nachdem er im Bezug auf jenes Lebewesen diesen Sachverhalt mit einer heilsamen Gesinnung oder einer neutralen Gesinnung erkannt hat und daher hinsichtlich der Zukunft [des Lebewesens] tiefes Mitleid entwickelt, beendet er in einer mitleidigen Geisteshaltung also jenes Leben. Aufgrund dieser Bedingung wird im Bezug auf die Bodhisattva-Regeln gegen nichts verstoßen, [sondernl es entsteht viel Verdienst. ftUiSÄÄ&SItfc föfo&£¥cJa#'k#& 0

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fft {Yujia shidi lun JMSfiJ≪ T30, no. 1579, p. 5i7bi3-5i7bi7). Für eine englische Übersetzung des tibetischen Textes siehe Mark Tatz, Asanga's Chapter on Ethics. With the Commentary of Tsong-kha-pa, New York; Ontario 1986, 214-215. Schmithausen deutet die Möglichkeit an, daß die überlieferten Sanskrit-Manuskripte dahingehend interpretiert werden könnten, daß es nicht der Bodhisattva sei, dessen Geisteshaltung heilsam oder neutral sein sollte, sondern der Übeltäter. Wäre der Geisteszustand des Übeltäters in dem Moment, in dem er vom Bodhisattva aus Mitleid getötet wird, unheilsam, hätte dies gravierende negative Folgen für seine Wiedergeburt. Lambert Schmithausen, „Zur Frage, ob ein Bodhisattva in bestimmten Situationen mit einer neutralen Geisteshaltung (avyakrta-citta) töten darf (unveröffentlichtes Manuskript). In Xuanzangs Übersetzung scheint jedoch die Geisteshaltung des Bodhisattvas gemeint zu sein, worauf die Verwendung der instrumentalen Präposition „yi j^T hindeutet. Ganz eindeutig ist die Sache jedoch nicht, suggeriert doch der nachfolgende Inhalt der Passage, daß der Bodhisattva eben nicht mit einer neutralen, sondern mit einer mitleidigen Gesinnung tötet. Für mein Argument ist diese Frage jedoch weitgehend irrelevant. Jens Schlieter, „Tyrannenmord als Konfliktlösungsmodell?" Zeitschrift für Religionswissenschaft 11.2 (2003).

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Wie friedfertig war und ist "der Buddhismus" wirklich?

U n d der amtierende 14. Dalai Lama bestätigt - nicht ohne sich ein wenig zu w i n d e n - die prinzipielle Gültigkeit der Theorie v o m mitleidigen Töten.34 Bemerkenswert ist, daß meines Wissens niemals das Mitgefühl gegenüber den Opfern eines Übeltäters dessen Tötung legitimiert, sondern stets das Mitleid geg e n ü b e r d e m Übeltäter selbst. Grundsätzlich m u ß j e d e Handlung eines Bodhisattva nach mahayanistischer Auffassung unter d e m Vorbehalt der upäya-Theorie beurteilt werden, d.h. j e d e s scheinbar moralisch noch so verwerfliche Tun könnte einem höheren Z w e c k dienen, der v o m normalen Durchschnittsmenschen nicht immer erkannt wird. S o erklärt Santideva (7. Jh.) in seinem berühmten Bodhicaryavatara CV.84), daß selbst Verbotenes d e m Mitleidigen gestattet sei, der den Nutzen erkennte Technisch gesprochen wurde dem Prinzip der unbedingten Regeltreue, wie es im älteren B u d d h i s m u s galt, im M a h ä y a n a das Konzept der „drei Aspekte der reinen Disziplin" {sanju jingjie H ^ r f Ä ) entgegengestellt. Bei den drei Aspekten der reinen Disziplin handelt es sich namentlich u m folgende: 1. Die Disziplin, die alle Verhaltensregeln des Vinaya einschließt {she lüyi jie W&i&ifc', Skt. samvara-sila), d.h. die rein auf das Vermeiden von Regelübertretungen bedachte Form der Disziplin, wie sie von den sieben verschiedenen Gruppen innerhalb des Sangha {bhiksus, bhiksünis, siksamanas, sramaneras, sramaneris, upasakas und upasikas) jeweils unterschiedlich praktiziert wird. 2. Die Disziplin, die alles Gute einschließt {she shanfa jie kusaladharma-samgrahaka-sila), d.h. die aktive A u s ü b u n g ethisch guter Taten, w i e sie v o n einem Bodhisattva unabhängig von seinem Status verlangt wird. 3. Die Disziplin, die alle fühlenden W e s e n einschließt {she zhongsheng jie S $ c £ $ c ; auch: raoyi youqing jie ^ ^ W 1 f sattvartha-kriya-sila), d.h. das aktive Bestreben, durch das eigene T u n alle Lebewesen zur Befreiung zu führen, wie es das Ziel und die Verpflichtung eines jeden Bodhisattvas i s t > Diese Doktrin begegnet uns bereits in indischen Mahayana-Texten, wurde insbesondere in China durch die von Vinaya-Meister Daoxuan J ü t (596-667) geJens Schlieter, „Tyrannenmord als Konfliktlösungsmodell?" Zeitschrift für Religionswissenschaft 11.2(2003): 179. E. Steinkellner (Übers.), Santideva: Eintritt in das Leben zur Erleuchtung, Dusseldorf; Köln 1981,59. „ j ., . Eine ausfuhrliche Darstellung der „drei Aspekte der reinen Disziplin findet sich in Xuanzangs Übersetzung des Yogacara-bhümi-sostra folfllOÖÜifeH (T30, no. 1579.J> 5nai4511C10) ebenso wie in Dharmaksemas Übersetzung der Bodhisattva-bhumi l ^ f l ^ l l (T30, no. 1581, p. 9iob05-9iocio). Vgl. auch: Pusa yingluo benye jing ^MW&^Mla. (T24, no. 1485, p. I020b28-i020c03), Pusajie jiemo wen ^8l#c$j«§£ (T24, no. 1499, p. 1105822-1105023), Pusajie ben (Übersetzung Dharmaksemas: T24, no. 1500, p. iiioai6-nioai9), Pusajie ben H f g $ # (Übersetzung Xuanzangs: T24, no. 1501, p. 1115CI8-1115C20), in Asangas Mahayana-samgrahafäX^ilfa(T31, - 592, p. 107021I07b27) it

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gründete N a n s h a n L ü z o n g SJI-WWK aufgegriffen^ u n d v o r allem v o n d e r T i a n tai-Schule - meist unter Berufung auf das Pusa yingluo benye jing Wl&Mi&~fc H # S zur G r u n d l a g e der Bodhisattva-Ethik e r k l ä r t e M i t d e m K o n z e p t der „drei Aspekte der reinen Disziplin" versuchten die A n h ä n g e r d e s G r o ß e n Fahrzeugs, die komplizierte Beziehung der Ethik d e s M a h a y a n a z u m R e g e l w e r k d e s „ H i nayana" zu klären. Dies gelang, i n d e m m a n die im Vinaya formulierten Regeln z w a r nicht für grundsätzlich ungültig erklärte, sie aber w e i t g e h e n d relativierte. Das bloße Einhalten der Ordensregeln b z w . der Regeln für L a i e n a n h ä n g e r zur V e r m e i d u n g v o n Übel galt fortan nur noch als ein A s p e k t , u n d z w a r als d e r g e ringste, der drei A s p e k t e der reinen Disziplin. A u s Sicht der M a h a y a n a Apologeten C h i n a s sollten die Bodhisattvas alle drei A s p e k t e der Disziplin praktizieren, w ä h r e n d die S a h g h a - A n g e h ö r i g e n des HInayana dafür kritisiert w e r den, daß sie rein passiv u n d ohne altruistische Intention die R e g e l n einhielten, also nur den ersten A s p e k t praktizierten. Gutes zu tun u n d die L e b e w e s e n zu erretten, gelten nach der Mahayana-Ethik d e m n a c h als h ö h e r w e r t i g g e g e n ü b e r der reinen Regeltreue. Verhinderte die Einhaltung der Regeln - A s p e k t l - die A u s ü b u n g guter Taten - A s p e k t 2 - oder die Errettung v o n L e b e w e s e n - A s p e k t 3 -, dann sollte m a n gegen die Vorschrift verstoßen. Die logische Folge dieser Doktrin war, d a ß die Ordensregeln ihre Verbindlichkeit verloren, insofern ihre Einhaltung v o l l k o m m e n v o n den Handlungsmotiven der M ö n c h e und N o n n e n u n d den U m s t ä n d e n der Tatausführung abhängig g e m a c h t w u r d e . Diente also ein Verstoß selbst gegen die grundlegendsten der Ordensregeln einer guten Sache, wie der V e r m e i d u n g von Unheil für einen potentiellen Übeltäter, so w a r dieser automatisch legitimiert. Für die moralische B e w e r t u n g des T ö t e n s eines Lebewesens sind die Intention und die Geisteshaltung des T ä t e r s entscheidend. Diese kann gut, schlecht oder neutral (Ch. wuji Ü$Iß; Skt. avyakrta) sein. So lesen wir in Übereinstimmung mit d e m Bodhisattvabhümi in der Nagarjuna zugeschriebenen „Abhandlung über die G r o ß e V o l l k o m m e n h e i t der Einsicht" (*Mahaprajnaparamita-upadesa-sastra; Dazhidu lun X^JSM)' „Weiterhin ist es so, daß nicht nur das Töten und Peinigen eines Lebewesensa? [an sich] eine Sünde begründet, sondern die üble Geisteshaltung schafft die Ursache für die Sünde. 37

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Bemerkenswerterweise hat Daoxuan selbst sich - soweit ich sehen kann - kaum mit dem Konzept der „dreifach reinen Disziplin" beschäftigt. Allein das ihm möglicherweise fälschlich zugeschriebene Shimen guijing yi föHffiWLWt thematisiert dieses Konzept explizit. Vgl. Shimen guijing ^Hfcf T45, no. 1896, p. 856D27-856CO3). Daß die Lehre von der „dreifach reinen Disziplin" jedoch zu einem Kernbestand der Regelauffassung der Nanshan Lüzong geworden war, zeigt Gyonens (1240-1321) Darstellung der Lehren dieser Vinaya-Schule. Vgl. Gyonen, The Essentials of the Vinaya Tradition, trans. Leo M. Prüden, BDK English Tripitaka 97-I, II (Berkeley: Bukkyo Dendo Kyokai and Numata Center, 1995).. 26. Siehe z.B. Zhiyis &jgß (538-597) Pusajie yishu (T40, no. 1811, p. 563b24563C06; p. 566c24-567a02; p. 568b24-568b26), Yuanzhaos JtM (auch Zhanran 1048-1116) Sifenlü xingshi chao zichi ji 29##?7^i4>i£$Ia (T40, no. 1805, p. 220aos22oao8; p. 4i8b05-4i8bio), Mingkuangs H/jfg| Tiantai pusajie shu ^teW&foM (T40, no. 1812, p. 583ai4-583boi), Die Phrase „$tf$3££ kann auf zweierlei Weise interpretiert werden: (1) das Töten leidender Lebewesen oder (2) das Töten und Peinigen von Lebewesen. Nachdem ich zunächst Variante (1) den Vorzug gegeben hatte, neige ich nun doch dazu, Schmithausen zuzustimM

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Warum ist das so? Wenn man zwar ein Lebewesen tötet, dies aber in einer neutralen Geisteshaltung tut, dann ist dies keine Sünde."* 0

In d e r Praxis stellt sich nun aber das Problem, daß Handlungsabsichten und Geisteshaltungen eines A n d e r e n von A u ß e n k a u m sicher zu beurteilen sind. D a m i t verloren aber das Regelwerk des Vinaya und die sogenannten Bodhisattv a - R e g e l n ihre verbindliche Gültigkeit, konnte doch theoretisch jeder behaupmen, der die zweite Interpretation favorisiert. Für den Inhalt der Aussage spielt diese Frage allerdings keine Rolle. Dazhidu lun X^fäM (T25, no. 1509, p. 168002-168004); vgl. T. Skorupski, The Six Perfec­ tions, Tring 2002, 60. Professor Schmithausen hat mir dankenswerterweise ein Manu­ skript zukommen lassen, in dem er meine Interpretation dieser Textstelle kritisiert. Nach Schmithausens Auffassung ist mit einer „neutralen Geisteshaltung (wuji foIö) hier ledi­ glich ein Zustand der Unbewußtheit oder Absichtslosigkeit gemeint. Es gehe dem Text also lediglich um die Feststellung, daß „eine unabsichtliche Handlung weder karmisch noch ri­ tuell relevant ist" (2). Die Frage ist nicht eindeutig zu entscheiden. Allerdings ist zu belegen, daß der Begriff „wuji MM" im buddhistischen Schrifttum tatsächlich auch zur Anwendung kommt, um Handlungen einzustufen, die zwar bewußt, aber ohne karmisch wirksame mentale Disposition ausgeführt werden. Als Belegstelle ließe sich hier z.B. die chinesische Übersetzung des Sarvastivada-vinaya nach Punyatrata anführen. Im Zusam­ menhang mit dem Problem von ordensinternen Streitigkeiten über Lehrfragen lesen wir: „Zum Thema Disput und Streit [P. kalaha-vivada]: Es gibt guten [bzw. heilsamen], schlechten [bzw. unheilsamen] und neutralen [Streit]. Er ist entweder gut [bzw. heilsam] oder schlecht [bzw. unheilsam] oder neutral. Was heißt gut [bzw. heilsam]? [Angenommen] da gibt es Bhiksus, die mit guter Gesinnung streiten [und sagen] dieses oder jenes sei dharma[-gemäß] oder es sei nicht dharma[-gemäß], es sei vinaya[-gemäß] oder es sei nicht vinaya[-gemäß]; dann spricht man von gutem [bzw. heilsamem Streit]. Was heißt schlecht [bzw. unheilsam]? [Angenommen] da gibt es Bhiksus, die mit schlechter Gesinnung stre­ iten [und sagen] dieses oder jenes sei dharma[-gemäß] oder es sei nicht dharma[-gemäß], es sei vinaya[-gemäß] oder es sei nicht vinaya[-gemäß]; dann spricht man von schlechtem [bzw. unheilsamem Streit]. Was heißt neutral? [Angenommen] da gibt es Bhiksus, die weder mit guter Gesinnung noch mit schlechter Gesinnung streiten [und sagen] dieses oder jenes sei dharma[-gemäß] oder es sei nicht dharma[-gemäß], es sei vinaya [-gemäß] oder es sei nicht vinaya[-gemäß]; dann spricht man von neutralem [Streit]." liff ^ S ü ^ ^ l l ^ M

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• %&\tB?F&m>L^&b&w • m&mm • mwmtm • S ^ f t i s (shisong m T23, no. 1435, p. 252aio-252ai6). Es ist zwar, wie Schmithausen betont, durchaus denkbar, unabsichtlich ein Lebewesen zu töten, womit diese Tat moralisch als neutral zu werten wäre. Es ist aber wohl kaum vorstellbar, daß jemand unabsichtlich oder unbewußt über Lehrfragen streitet. Es findet sich weiter unten im Text sogar das Beispiel, daß Mönche mit neutraler Gesinnung formalisierte Rechtshandlungen {karrna; jiemo MW und sogar Posadha-Zeremonien {busatfiM)durchführen. Es scheint mir daher evident, daß auch be­ wußte Handlungen als „wuji eingestuft werden können, sofern der Akteur mit seiner Handlung weder gute noch üble Absichten verfolgt. Wie man sich konkret einen ab­ sichtlichen Akt der Tötung vorzustellen hat, der weder aus guter noch aus übler Absicht heraus erfolgt, ist eine andere Frage. Daß es sich bei Taten, die als „wuji ^ i B " eingestuft werden, auch um unabsichtliche handeln kann, wird aus einer Passage weiter unten im Text deutlich, in der Vergehen gegen Bestimmungen des Buddha erörtert werden. Diese können nur entweder schlecht bzw. unheilsam oder neutral sein. Ersteres ist der Fall, wenn wissentlich und absichtlich gegen die Bestimmung verstoßen wird. Letzteres ist der Fall, wenn die Verletzung der Vorschrift unabsichtlich erfolgt (ebda. p. 252a29-252bo2)

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ten, aus lauteren M o t i v e n heraus diese o d e r j e n e Regel übertreten z u h a b e n . Doch die Flexibüität der raahayanistischen Regelauffassung w u r d e n o c h da­ d u r c h gesteigert, daß m a n behauptete, selbst unbestreitbare S ü n d e n seien durch eine erneute Bodhisattva-Weihe zu tilgen. N a c h j e d e m E m p f a n g der Bodhisattva-Regeln galt m a n w i e d e r als rituell gereinigt. Wie sehr die Verhaltensvorschriften i m M a h a y a n a relativiert w u r d e n , wird z.B. bei der Lektüre der Upalipariprcchav deutlich. Hier w i r d in Ü b e r e i n s t i m ­ m u n g mit den ethischen Grundsätzen d e s Bhodisattvabhümi festgestellt, d a ß der „Körper d e r Disziplin" (jieshen) eines Praktizierenden d e s BodhisattvaFahrzeugs unversehrt bleibt, selbst w e n n er g e g e n eine Regel verstößt, solange er nicht seinen W u n s c h nach umfassender Einsicht aufgibt.« W e i t e r heißt es, ein Bodhisattva k ö n n e o h n e weiteres für die D a u e r zahlloser Weltzeitalter den Sinnesgelüsten nachgeben. Solange er nicht seine Entschlossenheit verliere, Erleuchtung zu erlangen (putai zhi xiri), spreche m a n nicht d a v o n , d a ß er die Regeln v e r l e t z e . ^ G a n z in diesem Sinne, aber v o m Standtpunkt d e s tantrischen Buddhismus aus, argumentiert der einflußreiche j a p a n i s c h e T e n d a i - D e n k e r A n n e n (841-889?), w e n n er behauptet, d a ß ein A n h ä n g e r d e r Tendai-Esoterik (taimitsü) j e d e r z e i t s o w o h l die Vorschriften d e s „ H i n a y a n a " als auch d e s M a ­ hayana b r e c h e n k ö n n e , solange er (1) sich nicht v o m W a h r e n D h a r m a a b w e n ­ det, (2) nicht d a s Streben nach Erleuchtung aufgibt, (3) sich nicht w e i g e r t , ernsthaft Interessierten die buddhistische Lehre darzulegen u n d (4) d e n L e b e ­ wesen dient.44 2

W a s den fundamentalen Unterschied z w i s c h e n den Regeln für die „Hörer" (sravakas) d e s Hinayana u n d den Bodhisattva-Regeln des M a h a y a n a angeht, äußert sich die Upalipariprccha folgendermaßen: W a s für einen A n g e h ö r i g e n des Fahrzeugs der Hörer eine reine u n d u n b e d i n g t einzuhaltende V e r h a l t e n s ­ vorschrift ist, k ö n n e für einen Bodhisattva ein g r o b e s V e r g e h e n b e d e u t e n und umgekehrt.« D a die Bodhisattvas sich a m W o h l d e r L e b e w e s e n zu orientieren



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Youpoli hui ein von Bodhiruci übersetzter und in der Maharatnaküta-Samnuung enthaltener Text; nicht zu verwechseln mit dem Youpoli wen/o jing fjf &JKfql0M® (T24, no. 1466) oder dem „Kapitel über die Fragen Upalis" (Youpoli wenbu WLi&Mfni) im Sarvastivoda-vinaya (Shisong lü "Hif^; T23, no. 1435, p. 379305-409^18). Die Fragen Upalis bil­ den fast so etwas wie ein eigenes Genre der ergänzenden Vinaya-Literatur. Vgl. auch V. Stache-Rosen, Upalipariprcchasütra: Ein Text zur buddhistischen Ordensdisziplin. Aus dem Chinesischen übersetzt und den Pali-Parallelen gegenübergestellt (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen; Philologisch-Historische Klasse; Dritte Folge; Nr. 140), Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1984. Dabaojijing-R%W$.(Tu, no. 310(61-120), p. 517307-517317); für eine englische Über­ setzung siehe Chang Chen-chi (Hg.), A Treasury of Mahayana Sütras: Selections from the Maharatnakuta Sütra, Delhi 1991,269. Dabaojijing (T11, no. 310(61-120), p. 517324-517326); vgl. Chang, A Treasury, 269. Diese vier Regeln nannte Annen die Sanmaya-Regeln. Groner bemerkt hierzu ganz richtig: „Tendai monks consequently had no set of rules that they were absolutely required to fol­ low other than the idealistic and vague principles of the sanmaya precepts." P. Groner, „The Fan-wang ching and Monastic Discipline in Japanese Tendai: A Study of Annen's Futsüjubosatsukaikoshaku, in: R. E. Buswell (Hg.), Chinese Buddhist Apocrypha, Hono­ lulu 1990,265. Dabaojijing (T11, no. 310(61-120), p. 510C20-516C22); vgl. Chang, A Treasury, 268. u

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hätten, m ü ß t e n sie im Gegensatz zu den Hörern die Regeln nicht unbedingt einhalten.^ Es ist w o h l k a u m zu bezweifeln, daß der Relativismus und die Flexibüität der Regelauffassung im M a h a y a n a maßgeblich mit dazu beitrugen, daß es Mah a y a n a - M ö n c h e n relativ leicht gemacht wurde, gegen die Verhaltensvorschriften zu verstoßen, zumal w e n n sie für das Wohlergehen des Buddhismus kämpften, also untadelige Motive geltend machen konnten. Jede Bedrohung des B u d d h i s m u s u n d seiner Vertreter mußte um der unerlösten W e s e n willen mit j e d e m Mittel a b g e w e n d e t werden. So argumentiert auch ein Text der Tendaishu, in dem die Funktion der M ö n c h s k r i e g e r des Hieizan folgendermaßen erläutert wird. Der berühmte Abt d e s 9. Jahrhunerts, Ryogen, h a b e die M ö n c h s a r m e e aufgebaut, damit diese die Ländereien des Klosters v o r Rebellen und Eindringlingen schützen und die w a h r e buddhistische Lehre in diesen Zeiten des Niedergangs vor den falschen Ritualen und ü b e r s p a n n t e n Praktiken anderer Orden bewahren. Also werde m a n unter den M ö n c h e n diejenigen auswählen, die stumpf und unbegabt sind, damit diese sich g a n z der Kriegskunst widmen.«? Ein weiterer wesentlicher Faktor bei der Entwertung der Ordensregeln war zweifellos die für das M a h a y a n a zentrale Theorie von der Leerheit (sünyata). Konsequent zu Ende gedacht, mußte die postulierte Leerheit aller Existenz dazu führen, daß sich das moralische Subjekt in der Analyse ebenso verflüchtigte wie das Objekt seiner Handlung und die Tat selbst. So heißt es in der bereits zitierten „ A b h a n d l u n g über die Große Vollkommenheit der Einsicht": „Also sind die fühlenden Wesen in Wirklichkeit nicht existent. Wenn nun die fühlenden Wesen nicht existent sind, gibt es auch nicht das Vergehen des Tötens. Wenn es das Vergehen des Tötens nicht gibt, dann gibt es auch keine Regel [gegen das Töten], die einzuhalten wäre. Wenn man fernerhin eingehend die fünf [das Dasein konstituierenden] Aggregate (Skt. skandha) betrachtet, so erkennt man, daß diese leer sind wie ein Traum oder wie das Bild, daß man in einem Spiegel sieht. Wenn man etwas im Traum tötet oder ein Bild in einem Spiegel, dann ist dies kein Tötungsdelikt. Man tötet die leere Erscheinung der fünf Aggregate. Und genau so [d.h. leer wie Traum- oder Spiegelbilder] sind auch die fühlenden Wesen."« 8

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Dabao jijing (Tu, no. 310(61-120), p. 517203-517306); vgl. Chang, A Treasury, 268-69. Tsuji, Nihon bukkyoshi, 24-25; P. Demieville, „Le bouddhisme et la guerre: Post-scriptum ä YHistoire des moines-guerriers du Japan de G. Renondeau," Melanges publics par {'Institut des Hautes Etudes Chinoises 11 (1957), 377- Das berühmte Kriegsepos Taiheiki- etwa gegen Ende des 14. Jahrhunderts verfaßt - zitiert die große Mönchsversammlung auf dem Hieizan, die sich im Jahr 1333 zur Beratung zusammengefunden hatte, mit den folgenden Worten: „... suddenly after the abbotship of the monk reformer Jie [Ryogen], we girded on the autumn frost of forged weapons over our garments of forbearance, that we might conquer interfering demons therewith."Helen Craig McCullough, The Taiheiki: A Chronicle of Medieval Japan, Rutland; Tokyo ^992, 217-18; vgl. Goto Tanji '&Mftfe Goto, Kamata Kisaburo, and Okami Masao, eds., Taiheiki ^ I B , 3 vols., Nihon koten bungaku taikei ß 34-36 (Tokyo: Iwanami Shoten, 1960-62)., Bd. 1: 256.

mmmum^fö • %m**m%Rm*&mG&n • ®TLfe&m£.ttm\m. Dazhidu lun ^ J t l f t (T25, no. 1509, p. 164819-164323). Es war wohl kaum Nagarjunas (oder wer immer der Autor war) Absicht, mit diesen Überlegungen Mord zu rechtfertigen. An anderer

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G a n z in d i e s e m S i n n e äußert sich (angeblich) der B u d d h a in e i n e m V e r s in der zuvor e r w ä h n t e n *Upalipariprccha: „Ich preise stets die Befolgung der reinen Vorschriften, doch kein fühlendes Wesen verletzt die Vorschriften, denn das Verletzen der Vorschriften ist seinem Wesen nach leer. Und ebenso ist es das lautere Einhalten der Vorschriften.''«* Die *Susthitamatipariprccha (Ch. Shanzhuzitianzi hui # f t E ^ ^ # ) , ein T e x t aus der gleichen S a m m l u n g , bezieht eine g a n z ähnliche Position: N a c h d e m d e r B u d d h a z u m Schein v o m Bodhisattva M a n j u i r i mit s e i n e m S c h w e r t der W e i s heit attackiert w u r d e , erklärt der B u d d h a den v e r w u n d e r t e n A n w e s e n d e n : „Alle dharmas [d.i. die Gegebenheiten oder Daseinskonstituentenl sind ohne Substanz und ohne Wirklichkeit. Sie sind nicht-existierend und nicht-wirklich. Sie sind substanzlos und trügerisch, leer wie Trugbilder. Daher gibt es in diesem Kontext keine Menschen, die eine Verfehlung begehen könnten, und keine Verfehlung, die man begehen könnte. Wer sollte da die Strafe für den Mord erhalten?"*«* Mit der Leerheitsdoktrin - o d e r genauer: mit der dieser z u g r u n d e l i e g e n d e n Auffassung v o n der Ichlosigkeit (anatmari) - w i r d auch in D h a r m k s e m a s ( 3 8 5 4 3 3 ) Ü b e r s e t z u n g des Mahaparinirvana-sütra v o m B u d d h a g e g e n ü b e r einem König auf recht spitzfindige W e i s e argumentiert: „Großer König, höre wie ich nun erkläre, daß es in Wirklichkeit keinen Mord gibt. Angenommen, es gäbe ein substantielles Ich, dann gäbe es tatsächlich keinen Mord. Angenommen, es gäbe kein substantielles Ich, dann gäbe es ebenfalls keinen Mord. Warum ist das so? Wenn es ein substantielles Ich gäbe, dann wäre dies auf ewig unwandelbar, und da es ewig verweilte, könnte es nicht getötet werden. Es würde nicht zerbrochen, nicht zerstört, nicht gebunden, nicht gefesselt, nicht verärgert, nicht erfreut; genau wie der leere Raum. Wie sollte es da das Vergehen des Mordes geben? Angenommen, es gäbe kein substantielles Ich, dann implizierte dies, daß alle dharmas unbeständig sind, und in ihrer Unbeständigkeit vergehen sie von einem Augenblick zum nächsten. Da sie von einem Augenblick zum nächsten vergehen, vergehen auch der Mörder und

Stelle bezeichnet er Mord als das schlimmste Vergehen. Er selbst begründet sein ontologische Dekonstruktion der Verhaltensvorschriften damit, daß jemand, der von Regelübertretungen abgestoßen ist und danach trachtet, niemals Regeln zu verletzen, dazu neigt, auf diejenigen herabzusehen, die die Regeln nicht einhalten. Eine solche Geisteshaltung würde ihrerseits leicht zur Ursache für moralische Verfehlungen. Insofern könnte man mir vorwerfen, Zitate aus dem Kontext zu reißen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß buddhistische Exegeten mit besonderer Vorliebe Passagen aus autoritativen Schriften unter völliger Mißachtung des Kontextes zu zitieren, kann man das tatsächliche Gefährdungspotential solcher Äußerungen wohl ermessen.

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; T u , no. 310(61-120), p. 5i8b28-5i8b29); vgl. Chang, A Treasury, 274. f§ • 3£B38:#ffiif&§& {Dabaojijing *Ä8t*I; T u , no. 310(61-120), p. 590C02-590C04).

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der Getötete von einem Augenblick zum nächsten. Wenn sie von einem Augenblick zum nächsten vergehen, wem soll dann das Vergehen [des Mordes] angelastet werden."^ Das Perfide u n d irgendwie Unlautere an den genannten Positionen ist m.E., daß hier ontologische A r g u m e n t e zur Begründung moralischer Standpunkte angeführt w e r d e n - m a n c h m a l auch umgekehrt. Den gleichen Fehler haben die Vord e n k e r der chinesischen Tiantai-Schule begangen, und damit k o m m e n wir zum dritten doktrinären Faktor, der die Etablierung der Mönchs-Armeen ideologisch vorbereitete, nämlich z u m ethischen Relativismus der Tiantai-Philsophie. Zhiyi (538-597) der Gründer dieser enorm einflußreichen Schule, die in Japan unter d e m N a m e n Tendai-shü firmierte und dort über lange Zeit die mächtigste M ö n c h s - A r m e e unterhielt, wurde nicht müde zu betonen, daß v o m Standpunkt der für ihn maßgebenden Madhyamika-Philosophie jegliche Unterscheidung v o n „gut" und „böse" - so wie jede andere unterscheidende Wertung - aufzugeben sei. A u c h w e n n man sündhafte Taten begehe, könne einen dies nicht auf d e m W e g behindern; und umgekehrt behindere der W e g nicht das Böse.** Gezeigt wird dies v o n Tiantai-Denkern immer wieder am Beispiel des legendären M a s s e n m ö r d e r s Arigulimala, der - wie sein N a m e sagt - im Auftrag seines Lehrers eine Halskette aus den Fingern von 999 Menschen herstellte. N a c h seiner B e k e h r u n g durch den Buddha wurde er z u m erleuchteten Arhat. W ä h r e n d m a n i m Hinayana die Legende lediglich als eine erfolgreiche Bekehrungsgeschichte betrachtet, gehen die Interpreten des Mahayana einen Schritt weiter. A h g u l i m ä l a avanciert z u m Bodhisattva, der - so Zhiyi - j e mehr er tötete, u m s o m e h r Mitgefühl" entwickeltem Der große Tiantai-Restaurator Zhanran (711-782) w i e d e r u m w a r der Meinung, daß Angulimäla durch sein Beispiel „ M o r d als Lehrmethode z u m Nutzen anderer" praktizierte.54 Für den bereits erwähnten A n n e n schließlich war Ahgulimäla schon deshalb rehabilitiert, weil er aus G e h o r s a m gegenüber seinem Lehrer tötete. Daher seien seine Taten nicht als V e r s t o ß g e g e n die Ordensvorschriften zu betrachten.55 Natürlich verwahrten sich die Tiantai-Denker gegen jede antinomistische Interpretation ihrer Thesen, die sie in einem ganz konkreten philsophischen o d e r meditationspraktischen Z u s a m m e n h a n g gesehen haben wollten. Und dennoch habe ich meine Zweifel, ob sie nicht doch auch auf eine Legitimation grober Regelverstöße abzielten oder eine solche wenigstens als Option billigend in

mmM&mm • • it^M^mmm^M • ^ ^ ü t w n (Daban niepan jing ; T12, no. 374, P- 476bo2-476bo8). Siehe z.B. Miaofa lianhuajing yuanyi 1&&MWIa£& CT33. no. 1716, p. 743C26-744ao3); vgl. B. Ziporyn, Omnicentrism, Intersubjectivity, and Value Paradox in Tiantai Buddhist Thought, Cambridge; London 2000, 242; siehe auch N. Donner; D. B. Stevenson, The Great Calming and Contemplation: A Study and Annotated Translation of the First Chapter ofChi-i's Mo-ho chih-kuan, Honolulu 1993,309-10. Mohe zhiguan W J ± R (T46, no. 1911, p. 17C13-*7C17); Donner; Stevenson, The Great Calming, 308-09. Zhiguanfuxingzhuan hongjue ± « f f ffllftfc (T46, no. 1912, p. 205010-205016). Futsü jubosatsukai koshaku 8 ! l & « g t f ü f f f * 0 7 4 , no. 2381, p. 777b); Groner, „The Fanwang ching, 274. u

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Kauf n a h m e n . A u c h hier gilt nämlich w i e gesagt, d a ß o h n e j e d e N o t ontologische, aussagenlogische und meditationspraktische P r o b l e m e a n h a n d heikler Beispielen aus d e m Bereich der Ethik v e r h a n d e l t w e r d e n u n d a u f diese W e i s e ein radikaler Werterelativismus begründet w i r d . Folgt m a n den Vertretern des „kritischen B u d d h i s m u s " {hihan bukkyo Jft#J #&$Ü, wie er in den letzten Jahrzehnten in J a p a n für A u f s e h e n sorgte, s o ist für den „moralischen Niedergang" des j a p a n i s c h e n B u d d h i s m u s in erster Linie die sogenannte „Doktrin v o m Ursprünglichen Erwachtsein" (hongaku homon ffiPD verantwortlich zu m a c h e n d Dieser Lehre zufolge, die v o r allem innerhalb der Tendai-shu zwischen d e m 12. und d e m 14. J a h r h u n d e r t b e s t i m m e n d w u r d e , sind alle L e b e w e s e n (ja sogar unbelebte Dinge) v o n A n b e g i n n an erleuchtet bzw. erwacht, weshalb im G r u n d e jegliches Streben nach einer besseren Existenz überflüssig sei. In den zunächst mündlich überlieferten (kuden • $ ? ) u n d später auf kleinen Papierschnipseln {kirigami #J9£ft) w e i t e r g e g e b e n e n Lehräußerungen w u r d e i m m e r wieder betont, daß samsara nichts anderes sei als nirvana (shoji soku nehan £5EßP§5&), Leidenschaften nichts anders als Erleuchtung (bonno soku bodai jRISJiPSöl), G e w ö h n l i c h e s nichts anderes als Heiliges (bon soku sho FiMlW) usw.s? W e n n ich es richtig sehe, w e r d e n in der /longafai-Doktrin eigentlich nur ältere mahayanistische Auffassungen (insbesondere die A b l e h n u n g unterscheidender Urteile der M a d h y a m i k a - P h i l o s o p h i e , der Glaube an die i m Lotus-Sütra postulierte ewige Existenz d e s B u d d h a u n d die Tathagatagarbha-Lehre) zusammengeführt u n d auf die Spitze getrieben. Insofern gilt für den Anteil der hongaku-Doktvin an der geistigen V o r b e r e i t u n g monastischer Gewalt in etwa das Gleiche wie für die Theorie v o n der Leerheit u n d den Werterelativismus der Tiantai-Lehre. Daß eine T h e o r i e , die keinerlei

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Die kritischen Buddhisten vertreten ein stark normatives, am frühen Buddhismus orientiertes Buddhismusbild und kommen daher zu dem Schluß, der japanische Buddhismus sei v.a. wegen seiner nongrafoi-Lehre zu weiten Teilen schlichtweg heterodox. Siehe z.B. Hakamaya Noriaki Hongaku shiso hihan &1&Bfäfftffl (Tokyo: Daito Shuppan, 1989).; ders. Noriaki fö&M/ffl Hakamaya, Hihan bukkyo Jft#|{/4& (Tokyo: Daito Shuppan, 1990h Matsumoto Shiro l&fc&ßB^, Engi to ku: Nyoraizo shiso hihan H f ö 1£03fc Ä©$#fc#i (Tokyo: Daito Shuppan, 1989); ders., Zen shiso no hihanteki kenkyü fäfäfäO) #fc#]ÖOT3£ (Tokyo: Daito Shuppan, 1994).; P. L. Swanson, Review of Hakamaya Noriaki, Hongaku shiso hihan. Japanese Journal of Religious Studies 17.1 (1989), 89-91; ders. „Zen is not Buddhism": Recent Japanese critiques of Buddha-nature, Numen 40 (1993): 115-49. Einen sehr guten Überblick über die kontroversen Positionen des „kritischen Buddhismus" in einer westlichen Sprache liefert der von J. Hubbard und P. L. Swanson herausgegebene Band Pruning the Bodhi Tree: The Storm over Critical Buddhism, Honolulu 1997. Die Gleichsetzung dieser Antonyme ist natürlich nicht erst in Japan vorgenommen worden. An prominenter Stelle wird deren Identität bereits von Zhiyi nachdrücklich behauptet, so etwa in seinem Miaofa lianhua xuanyi $>7£jl^!§!:£^: „Weiter ist [die Behauptungl .Nirvana ist nichts anderes als Leben-und-Tod [d.i. samsara] die Reinheit der Wahrheit vom Leiden. »Erleuchtung ist nichts anderes als Leidenschaften' ist die Reinheit der Wahrheit vom Zustandekommen [des Leidens]. .Leidenschaften sind nichts anderes als Erleuchtung' ist die Reinheit der Wahrheit vom Weg [zur Aufhebung des Leidens]. .Leben-und-Tod ist nichts anderes als Nirvana' ist die Reinheit der Wahrheit von der Aufhebung [des Leidens]." 5imm±K%mtmi • mmmwmmmi • mmmm • m m m . • ±K • W.WW&fe (T33, no. 1716, p. 8i2bi5-8i2bi8; vgl. 701D03-701D08; 739aio; 779ci6-779ci9; 788C03-788C04)

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Unterschiede als wirklich anerkennt und selbst größtes Unrecht und Elend auf ein W a h r n e h m u n g s p r o b l e m verblendeter W e s e n reduziert, ist ersichtlich bestens geeignet, alle erdenklichen Verhaltensweisen zu legitimieren, auch wenn dies vielleicht nicht der Intention ihrer Protagonisten e n t s p r a c h t

Schluß Ein W o r t z u m S c h l u ß : Bei einem Gespräch mit Dr. Maithrimurthi in Leipzig w a r e n wir u n s beide einig, d a ß m a n vermeiden sollte, das Kind mit dem Bade auszuschütten. In den letzten Jahren wird vermehrt - mitunter leider auf recht unseriöse W e i s e - auch auf die Schattenseiten des Buddhismus hingewiesen, w a s zunächst ein überfälliger Schritt zur Korrektur der verbreiteten Klischees war. M a n m u ß aber aufpassen, daß positive Vorurteile nun nicht einfach durch negative ersetzt w e r d e n . M o m e n t a n sehe ich diese Gefahr allerdings nicht, denn das positive I m a g e des B u d d h i s m u s ist zumindest im W e s t e n recht stabil. G r ö ß e r ist die Gefahr, als A u t o r oder Referent der Einseitigkeit und Böswilligkeit bezichtigt zu w e r d e n . D a h e r ist es mir wichtig darauf hinzuweisen, daß die Beschäftigung mit einem bestimmten, w e n i g erbaulichen Aspekt in einem A r tikel oder V o r t r a g nicht impliziert, daß man diesen einen Aspekt nun für repräsentativ hielte. Mir ist durchaus bewußt, daß i m Großen u n d Ganzen die S t i m m e n , die sich gegen G e w a l t aussprechen, im Buddhismus dominieren. Und dennoch sollte m a n auch die anderen Stimmen zur Kenntnis nehmen, u m nicht d e m T r u g s c h l u ß zu verfallen, der Buddhismus sei von seinen normativen G r u n d l a g e n - u n d hierzu zähle ich als Religionshistoriker natürlich nicht nur die m u t m a ß l i c h ältesten Schichten buddhistischer Ethikentwürfe, sondern auch spätere m a h a y a n i s t i s c h e Ideen - her v o l l k o m m e n eindeutig und unverdächtig. A u c h m a ß g e b e n d e buddhistische Denker arrangierten sich mit den herrs c h e n d e n Verhältnissen, dachten pragmatisch und schufen Hintertürchen, die einen flexiblen U m g a n g mit den Vinaya-Vorschriften oder den Laienregeln er-

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Andere haben sich eingehender mit dem Zusammenhang zwischen hongaku-Doktrin und Ethik beschäftigt, weswegen ich es an dieser Stelle mit einem Verweis auf die entsprechenden Studien bewenden lassen will. Siehe z.B. J. Stone, Original Enlightenment and the Transformation of Medieval Japanese Buddhism, Honolulu 1999; dies., „Medieval Tendai Hongaku Thought and the New Kamakura Buddhism," Japanese Journal of Religious Studies 22.1-2 (1995); R. L. F. Habito, „The Logic of Nonduality and Absolute Affirmation: Deconstructing Tendai Hongaku Writings," Japanese Journal of Religious Studies 22.1-2 (1995), 83-101; ders., „The New Buddhism of Kamakura and the Doctrine of Innate Enlightenment," The Pacific World (new series) 7 d99i), 26-35; Sueki Fumihiko, „Two Seemingly Contradictory Aspects of the Teaching of Innate Enlightenment (hongaku) in Medieval Japan," Japanese Journal of Religious Studies 22.1-2 (i995)> 3-*6; Yoshiro Tamura, „Critique of Original Awakening Thought in Shoshin and Dogen," Japanese Journal of Religious Studies 11.2-3 (1984), 243-266. Über den Zusammenhang zwischen der hongaku-Doktrin und den Mönchskriegeren siehe auch Akamatsu Toshihide , "'Akuso' no shinjo to Kamakura Bukkyo £ f g j
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